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Jacques Picard

Die Schweiz
und die Juden
1933-1945

CHRONOS
Das flüchtlingspolitische Kapitel der Schweizer
Geschichte im Zweiten Weltkrieg ist von der
Geschichtsforschung bereits aufgehellt worden.
Die Studie von Jacques Picard bringt eine andere
Dimension in den Blick: den Zusammenhang von
schweizerischer Judenpolitik und internationaler
Migrationspolitik.
Das Verhältnis der Schweiz zu ihren eigenen wie
zu den fremden Juden wird anhand eines Drei-
Kreise-Modells erörtert: im äussersten Kreis die
internationale Szene, vorab das Dritte Reich, das
faschistische Italien und die westlichen Alliierten;
in einem mittleren Kreis die Schweiz, geprägt
von judenfeindlichen Haltungen und einer
aussenpolitischen Strategie der Anpassung und
Beschwichtigung; und in einem inneren Kreis die
jüdische Minderheit, die diesem doppelten Druck
standzuhalten versucht und wiederum ihre eige-
nen Flüchtlinge zu versorgen und zu disziplinie-
ren gezwungen ist.
Picard • Die Schweiz und die Juden
jacques Picard

Die Schweiz
und die Juden
1933-1945

Schweizerischer Antisemitismus,
jüdische Abwehr und
internationale Migrations-
und Flüchtlingspolitik

CHRONOS
Dritte Auflage März 1997
Umschlag: Fritz Ritzmann
© 1994 Chronos Verlag Zürich
ISBN 3-905311-22-4
5

INHALT

Vorwort zur zweiten Auflage 11


Verzeichnis der Abkürzungen 13
Einleitung 15

TEIL 1: DIE SCHWEIZ, DIE JUDEN UND EUROPA

1. MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN.


DIE SCHWEIZ UND DIE ANTISEMITISCHE <dUDENFRAGE"
IN EUROPA 25

Emanzipation und Antisemitismus in Europa:


Psychologische, soziale und politische Aspekte 27

Die Verschweizerung des Antisemitismus:


Zur Genesis und Funktion der Judenfeindschaft im Kleinstaat 34

Antisemitismus als Ausdruck der kulturellen und politischen Krise:


Stilisierung und Tabuisierung der «Judenfrage» 41

Die antisemitische Dynamik des Frontismus:


Ideologische Komponenten und politisches Umfeld 51

«Numerus clausus» und die Kunst der Aufspaltung:


Die «Judenfrage>> als Fremden- und Flüchtlingsfrage der Behörden 59

Die Versuchung des Antisemitismus:


Judenfeindschaft, Gleichgültigkeit und Abwehr in den Kirchen 70
6

2. STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN.


JÜDISCHE ABWEHR UND AUFKLÄRUNG 1933-1941 85

Pestalozzis Schweiz:
Entsorgung einer antisemitischen Politik 86

Jüdische Abwehr und Aufklärung:


Veränderungen in der Abwehrstrategie angesichts nazistischer Bedrohung 93

Integration der Kräfte und interne Abwehrorganisation 105

Lob und Preis der Aufklärung:


Abwehr als Organisation von Loyalität und Demokratieschutz 110

Liberales Empfmden und sozialdemokratische Heimat:


Bündnisprobleme, Sozialstruktur und politische Orientierung 122

Die JUNA und die publizistische Verteidigung:


Politische Praxis jüdischer Medien zwischen Zensur und Selbstzensur 129

Menschenrechte oder Minderheitenschutz?


Jüdischer Positionswandel im völkerrechtlichen Denken.
Ein Exkurs über die Genesis der Grund- und Gruppenrechte 138

3. VON FALL ZU FALL


DER BUNDESRAT UND DIE SCHWEIZER JUDEN
IM IN- UND AUSLAND 145

Im Reich der Kopfjäger:


Der Ludwig-Bericht und seine Auftraggeber 147

Die inverse Seite des I-Stempels:


Schutz oder Diskriminierung der Schweizer Juden? 157

Schwache Diplomaten, starke Gerichte:


Zur deutschen Politik der «Arisierung» in der Schweiz 169

Jüdische Uhren made in Switzerland:


Rüstungspolitik am Beispiel der «Tavannes Watch Co.» 176
7

Angesichts von Farcen und Revanchen:


Die Schweizer Juden in Italien und Frankreich 1940 bis 1943 183

Preisgabe der Schweizer Juden?


Bundesrat Pilet-Golaz und eine verschwiegene Affäre 194

Doppelt diskriminierte Frauen:


Fremde Jüdinnen oder jüdische Schweizerinnen? 208

TEIL II: DIE JUDEN IN DER SCHWEIZ

4. POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUNDLAGEN. 221


DIE JÜDISCHEN ORGANISATIONEN IN DER SCHWEIZ

Von den Milieu- zu den Einheitsgemeinden:


West- und osteuropäisches, orthodoxes und liberales, religiöses und säkulares
Judentum in der Schweiz seit 1918 222

Unter doppeltem Druck:


Jüdisch-schweizerische Verbände mit nationaler Bedeutung 229

Zwischen Politik und Philantropie:


Jüdische Kräfte und Konflikte im Kongressland Schweiz 242

Die politischen und religiösen Bewegungen:


Zionisten, Bundisten, Agudisten und Weltkongress in der Schweiz 250

Philantropische Organisationen: «Russen» und «Amerikaner>> in der Schweiz. 270


JDC, HICEM, HIAS, ORT, OSE
8

5. MINHAG SUISSE.
SCHWEIZERISCHE FLÜCHTLINGSPOLITIK, INTERNATIONALE
MIGRATION UND JÜDISCHE TRANSMIGRATIONSPOLITIK
1938-1945 279

Ursache, Planung und Wirklichkeit in der Migration-


mit einigen Bemerkungen zur Wanderungsforschung 281

Ein seltsames Paar- oder Evian und die Folgen:


Jüdische und schweizerische Transmigrationspolitik 294

Zionistische Auswanderung, legal und illegal:


«Schweizer» Transmigration während der vierten Alija 308

Gescheiterte Hoffnungen in Übersee:


Die Projekte für Massenwanderung und Agrarkolonien 319

Arbeit, Berufsbild und soziale Umschichtung:


Zwischen Selbsthilfe und Disziplinierung der Flüchtlinge 330

Jüdische Flüchtlinge wohin?


Die Frage der Rück- oder Weiterwanderung zwischen
Bevormundung und Selbstbestimmung 344

Eine Befragung der andem Art:


Die Flüchtlings-Enqueten 1944 und 1946 zu Zielen und Zukunft 356

Summa und Exkurs: Point d'argent- pointdes Suisses.


Warum und wie die Juden die Flüchtlingspolitik finanzierten 364
9

6. DIE BOTEN DES HOLOCAUST. 387


JÜDISCHE HILFE INS AUSLAND, KONFLIKTE UND
KRISEN IM INNERN

Lublin, Schanghai...
Die Hilfe für die notleidenden Juden von der Schweiz aus 390

... und Gurs:


Die Hilfe ins Ausland und die Lage im Innem 1940-1942 396

Insel der Wissenden:


Die Schweiz und die Juden im Angesicht des Holocaust 406

Ein schwarzer August 1942 und seine Folgen.


Die Schweiz, der Holocaust und die Krise im SIG 415

Kinder im Krieg ...


Jüdische und christliche Hilfe für Kinder und Waisen 428

... und ein Krieg um Kinder?


Rivalitäten und Hoffnungen, Missionsgefahr und Zukunftspläne 440

Schwarze Rivalitäten und weisse Westen:


Ausblick auf die Verhandlungen mit der SS von neutralen Ländern aus 455

ANHANG

Anmerkungen 463
Quellen- und Literaturverzeichnis 519
Verzeichnis der Tabellen und Kastentexte 545
Namenregister 547
11

VORWORT ZUR DRITTEN AUFLAGE

Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um nachrichtenlose Vermögen und natio-


nalsozialistisches Raubgut, antisemitische oder antinazistische Haltungen, geleistete
oder unterlassene Flüchtlingshilfe zeigen, dass die Rolle der Schweiz im Rahmen der
europäischen Geschichte der Jahre 1933-1945 noch längst nicht erschöpfend analy-
siert ist. Zunächst standen die unterschiedlichen Abwehrfaktoren - angefangen bei der
«militärischen und geistigen Landesverteidigung» bis hin zu den «zivilen Trümpfen»
der alpinen Verkehrswege, der kriegswirtschaftlichen Zudienerfunktion gegenüber
dem «Dritten Reich» sowie den Serviceleistungen des Finanzplatzes Schweiz - im
Zentrum des Diskurses. Doch nun richtet sich der Blick vermehrt nach aussen, genau-
er: auf das Verhältnis der Schweiz zur Welt und der Welt zur Schweiz. Die Schweiz
war nicht allein der aus eigener Kraft verschonte Sonderfall, als den sie sich gerne
stilisierte, sondern Teil eines Geschehens, das teilweise ausserhalb ihres
Einflussbereiches lag. Aufstieg, Aggression und Agonie des Nazi-Staates spielten sich
im Kräftefeld der europäischen und bald globalen Mächte ab. Seit Ende des Krieges
kam der geteilte Kontinent schliesslich unter amerikanische und sowjetische Hegemo-
nie zu stehen.
Was Debatten und Diskurs heute ins Bewusstsein heben, ist deshalb nicht allein die
Rolle, die das Land während der nationalsozialistischen Bedrohung gespielt hatte.
Vielmehr geraten - am Ende des sogenannten Kalten Krieges - die politische Kultur
und das historische Konstrukt, mit denen das Nachkriegsestablishment der Schweiz
sich real wie argumentativ in die Nachkriegsordnung einzufädeln wusste, ins Zwie-
licht. Die heutige Debatte muss einem nüchternen Beobachter als intensiv nachgeholte
Bewusstwerdung erscheinen, bei der die Auslassungen, Verdrängungen und Verfeh-
lungen, aber auch die gewissermassen mythenhaft geformten Gedächtnisprodukte der
Nachkriegsperiode befragt werden. Anstelle der bislang geübten Kontinuitätslinien
werden im Selbst- und Fremdverständnis der Schweiz die Bruch- und Wundstellen
hervorgehoben. Dieser Vorgang ist schmerzvoll, aber notwendig und heilsam.
Einige Beispiele: Die amtlichen Entsorgungen und die wissenschaftlichen und
journalistischen Darstellungen der Flüchtlingspolitik sind jetzt ebenso von Interesse
wie die erschütternden flüchtlingspolitischen Vorgänge aus der Zeit vor, während und
nach dem Zweiten Weltkrieg selbst. Auch würde sich eine Geschichte der versuchten,
12

abgewehrten und wieder aufgenommenen Rehabilitation des St. Galler Polizei-


hauptmann Grüninger genauso spannend lesen wie der Vorgang seiner Rettungstat,
Absetzung und Verfemung. In ähnlicher Weise wird heute nicht nur die Rolle des
Finanz- und Wirtschaftsplatzes Schweiz im Zeichen nationalsozialistischer Interessen-
politik zu analysieren sein, sondern auch die vermutlich recht unterschiedlichen Hal-
tungen der verantwortlichen Eliten, als es darum ging, die Erbschaften und Verflech-
tungen in den Jahrzehnten danach zu klären. Dass bei der heutigen Klärung auch auf
internationale Vergleichbarkeit hinzuweisen sein wird, mindert die Bedeutung und
Verantwortlichkeiten der Rollenträger seit 1945 in keiner Weise.
Jede Generation reflektiert das Erbe auf ihre Weise, indem sie sich kratzt, wo es sie
juckt. Ein Blick auf die historiografischen Leistungen der letzten zwei Jahrzehnte
zeigt, dass die Arbeiten zur Rolle der Schweiz während der Jahre 1933-1945 und
danach bereits zahlreiche Themen zum Gegenstand einer Analyse gemacht haben.
Diese oft stillschweigend hingenommenen oder gar als Störung empfundenen Beiträge
erweisen sich heute als eine erste wertvolle Grundlage, neue und unbeantwortete
Fragen zu erkennen (vgl. meinen Essay in: traverse 1996/2). Einige dieser Arbeiten
werden endlich oder wieder zur Kenntnis genommen, und dies wird hoffentlich die
Wirkung haben, dass jüngere Historiker und Historikerinnen nochmals neue und
unbeantwortete Fragen aufgreifen werden. Auch das Interesse an diesem Buch (1994)
sowie an meiner kleinen Vorstudie über die Schweiz und die Vermögen jüdischer
Nazi-Opfer (1993) kann ich ausserhalb der tagespolitischen Ereignisse nur so deuten,
dass im Rahmen einer anderen Erinnerungspolitik ein tieferes Berdürfnis erwacht ist,
die Schweiz neu zu verstehen und verständlich zu machen. Dabei geht es nicht nur um
das historische Bild, sondern um die durch den Erinnerungsprozess ausformulierte
Vorstellung einer eigenen Zukunftsgestaltung.

31. Januar 1997


EINLEITUNG 13

VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN VON


AMTSSTELLEN UND ORGANISATIONEN
(Abkürzungen für die Archive und deren Signaturen werden im Quellenverzeichnis
aufgeführt)

AA Abteilung für Auswärtiges des EPD


AI Agudath Israel
AJB Association des Juifs de Belgique
AJC Arnerican Jewish Committee
ARCC Aide aux Refugies du Camps de Cours (Fondation
Suisse du Comite de Secours aux Refugies)
BIF Bund Schweizerischer Israelitischer Frauenvereine
BSF Bund Schweizerischer Frauenorganisationen
BSJ Bund Schweizer Juden
BUND Allgemeiner Jüdischer Arbeiter Bund
CAR Comite d' assistance aux refugies
cc Central-Comite des SIG
CCA Comite centrat d'assistance
CCOJA Commission centrate des organisations juives d'assistance
CDJ Comite de defense des juifs
CGJ Council of German Jewry
CNDJ Comite national de defense des juifs
CRIF Conseil representatif des israelites de France
DORSA Dominican Republic Settlement Association
DV Delegiertenversammlung des SIG
EDI Eidgenössisches Departement des Innem
ElF Eclaireurs israelites de France
EJPD Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement
EPD Eidgenössisches Politisches Departement
FSJ Federation des societes juives
Hafjp Hilfsaktion für die notleidenden Juden in Polen
HA Hilfs-Aktion (für Gurs; für die notleidenden Juden in Frankreich; usw.)
RIAS Hebrew Sheltering and Immigrant Aid Society
HICEM Hias-Ica-Emigdirect
HIJEFS HUfsverein für jüdische Flüchtlinge in Schanghai; später: Schweizerischer
Hilfsverein für Flüchtlinge im Ausland
ICZ Israelitische Cultusgemeinde Zürich
1GB Israelitische Gemeinde Basel
IGCR Intergovemmental Committee on Refugees
IKB Israelitische Kultusgemeinde Bern (Jüdische Gemeinde Bern)
14

IKRK Internationales Komitee vom Roten Kreuz


IMT International Military Tribunal
IRG Israelitische Religionsgesellschaft Zürich
JA Jewish Agency (Agence juive)
JCA Jewish Colonisation Association
JDC American Jewish Joint Distribution Committee
JTA Jewish Telegraphie Agency
JUS Jüdische Unterstützungsstelle
MBF Militärbefehlshaber
MJS Mouvement de la jeunesse sioniste
OKW Oberkommando Wehrmacht
ORT Organisation, Reconstruction, Travail;
Organization for Rehabilitation and Training
OSE Oeuvre secours aux enfants
RE LI CO Committee for Relief of the War-Stricken Jewish Population
RSHA Reichssicherheitshauptamt
SD Sicherheitsdienst
SGAD Schweizerische Gesellschaft der Freunde einer autoritären Demokratie
SHEK Schweizerisches Hilfswerk für Emigrantenkinder
SIG Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund
SJUF Schweizerischer Jüdischer Unterstützungsfond für Flüchtlinge
SOCOBO Sociedad Colonizadora de Bolivia
SRK Schweizerisches Rotes Kreuz
SZF Schweizerische Zentralstelle für Flüchtlingshilfe
(später: Schweizerische Flüchtlingshilfe)
TOZ Towardzystwo Ochrony Zdrowia
UGIF Union generale des israelites de France
UJA United Jewish Appeal
UNRRA UN Relief and Rehabilitation Administration
Vaadat Vaadat Ezra veHatzalah (Budapest)
VH Va'ad HaHatzalah, Emergency Committee of the Union of Orthodox Rabbis
of the U.S.A. and Canada
VPOD Verband des Personals öffentlicher Dienste
VSIA Verband Schweizerischer Israelitischer Armenpflegen (später VSJF)
VSJF Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen I Flüchtlingshilfen
vv Schweizerischer Vaterländischer Verband
WJC World Jewish Congress (Jüdischer Weltkongress)
WIZO Women's International Zionist Organisation
YMCA Young Men's Christian Association
WRB War Refugee Board
zo Zionistische Organisation
15

EINLEITUNG

Im Norden das «Dritte Reich», im Süden das faschistische Italien, im Osten das von
Hitler 1938 «angeschlossene» Österreich und im Westen das zu einem grossenTeil
von Deutschland und Italien besetzte Frankreich - die Schweiz rang angesichts solch
ungemütlicher Nachbarschaft um ihr Überleben. Am 25. Juli 1940 gab der von den
Achsenmächten eingekreiste und als «Stachelschwein» verspottete Kleinstaat dem
deutschen Diktator den Tarif für eine Invasion bekannt. Auf der symbolträchtigen
Wiese des Rütli versammelte der General Henri Guisan die höheren Offiziere und
verkündete den unbeugsamen Widerstandswillen des Alpenstaates, dessen Armee im
befestigten Reduit ausharren wollte. Gleichzeitig hatte die Schweiz zwei Drittel ihrer
unter Waffen stehenden Truppen demobilisiert und konzentrierte sich nun mit den
150'000 noch im Felde stehenden Soldaten auf die engen Täler und luftigen Höhen der
Alpenfestung. Der Schweizer General gab auf dem Rütli Hitler und seinen Generälen
ein Abwehrsignal, das in der Sprache von Schillers «Wilhelm Tell» jedem Deutschen
verständlich sein musste. Zum andem motivierte er gleichzeitig Armee und Bevölke-
rung zum kompromisslosen Widerstand.
Die mentale Verfassung wehrtüchtiger Abwehr tat sich kund in der «geistigen
Landesverteidigung», indem beispielsweise die Armee mit der Sektion «Heer und
Haus» diesem Bedürfnis entsprach oder ein privater Eliteverband unter dem Namen
«Gotthardbund» das Ideal der Alpenfestung verinnerlichen wollte - beide übrigens
nicht gefeit vorjudenfeindlichen Äusserungen. Die Mobilisierung und Integration der
Kräfte im Innem war gerechtfertigt durch die umfassende Gefährdung, die von
Nazideutschland ausging. Dazu nahm man gerne in Kauf, dass die Presse ihre Zunge
hüten musste, um den nördlichen Nachbar nicht zu reizen. Die Schweiz erschien
allegorisch gesprochen als ein einsamer Fels inmitten eines wüsten und an die
Klippen der Freiheit brandenden Meeres. Und so wurde das Land auch von jenen
wahrgenommen, die vom anderen Ufer des Bodensees her dem Terror des Diktators
zu entkommen suchten.
In den Stuben vieler Schweizer blieb das gerahmte Porträt des Generals noch lange
hängen. Am gesamten Bild, das es symbolisierte, jenes einer militärisch eingeschlos-
senen, aber wehrhaft eingeigelten und freiheitlich gefestigten Schweiz, stimmt zu-
gleich sehr viel und sehr wenig. Risse erhielt das Bild unter anderem, als anfangs der
16

sechziger Jahre der britisch-jüdische Journalist John Kimche mit seinem Buch «Spying
for Peace, General Guisan and Swiss Neutrality» (1961) Zweifel an der schweizeri-
schen Haltung den Alliierten und der Achse gegenüber anmeldete. Bereits 1954 war
indes, wie wir noch eingehend sehen werden, mit dem vom Bundesrat in Auftrag
gegebenen Bericht von Carl Ludwig über die schweizerische Flüchtlingspolitik das
Bild der Schweiz im Weltkrieg etwas augekratzt worden. Doch dies konnte den
soliden Lack wehrhaften Widerstands eher bestätigen, auch wenn nun der Mythos der
schweizerischen Asyltradition einigen Schaden nahm.
Doch dann legte Alice Meyer ihre schon im Titel vereinfachend urteilende Studie
«Anpassung oder Widerstand» vor, die mit Blick auf die Schweiz im Weltkrieg unter
den verschiedenen Protagonisten von Armee und Politik zahlreiche Licht- und Schatten-
figuren ausmachte. Sie konnte als Auftakt gelesen werden, den Zweiten Weltkrieg
historiografisch mit zunehmender kritischer Distanz aufzuarbeiten.
Zahlreiche Fragen drängten sich auf, als da und dort weitere Einzelheiten über die
politischen und militärischen Eliten bekannt wurden. Dazu gehörten einige rechtslastige
Gestalten aus Armee und Politik, die für eine deutschlandnahe Politik eintraten,
ordnungspolitische Hierarchien forderten oder unter dem Deckmantel einer Ärzte-
mission an die deutsche Ostfront weibelten. Unter den umstrittenen Figuren befanden
sich mehrere Bundesräte, also auch einzelne Mitglieder der Schweizer Regierung.
Giuseppe Mottas Freundschaftsbezeugungen für Mussolini, Eduard von Steigers Asyl-
und Flüchtlingspolitik, Jean-Marie Musys und Phillipp Etters Liebäugeln mit
korporativen Staatsideen und besonders Marcel Pilet-Golaz' zweideutige Aussenpolitik
schoben Frage um Frage in den Raum. Man suchte nach Köpfen und Schuldigen, die
dem Rest des Landes bestätigen konnten, dass es sich um Ausnahmegestalten, wenn
auch um hohe und höhere, gehandelt habe. Das Dutzend kleine Spione indessen, die
als Landesverräter erschossen wurden, konnten aber kaum darüber hinwegtäuschen,
dass die mehr oder weniger heimlichen Nazikollaborateure in unanfechtbaren Positio-
nen unbeschadet blieben- ein Umstand, auf den der literarische Chronist der jüngeren
Schweizer Geschichte, der schweizerisch-jüdische Schriftsteller Kurt Guggenheim,
schon 1946 in seinem Roman «Wir waren unser vier» im zwölften Kapitel wohl als
erster hingewiesen hat.
Die Forschung tat das ihr Zustehende im Alleingang. Mit Edgar Bonjours umfang-
reicher «Geschichte der schweizerischen Neutralität» (1973) schien eine erste Antwort
gegeben, die in Bundesrat Pilet-Golaz den Hauptverantwortlichen für eine Politik der
Anpassung an Deutschland ausmachte. Ihr hat Erwin Bucher neuerdings mit seinem
Werk «Zwischen Bundesrat und General» (1992) zu widersprechen versucht, während
Willi Gautschi in seiner Biographie über General Guisan (1990) dessen offene und
heimliche Politik als widersprüchliche Handlungsweisen in Zweifel zog. Alle diese
Optiken, die um das politisch-militärische Überleben der Schweiz kreisen, sind wiederum
ergänzt, erweitert und teilweise radikal revidiert worden. Dabei rückte man von der
EINLEITUNG 17

Fixierung auf einzelne Personen ab und argumentierte mit den Faktoren, die «aus-
schlaggebend» waren für das dissuasive Potential gegenüber Deutschland und ebenso
für die innenpolitische Stabilität.
Die Frage, warum und wie die Schweiz, nach innen wie nach aussen, den Welt-
krieg unversehrt überstanden hat, wird heute zunehmend mit anderen, in erster Linie
zivilen Trümpfen beantwortet. Die Arbeiten von Daniel Bourgeois («Die Schweiz und
das Dritte Reich», 1974), von Georg Kreis («Zensur und Selbstzensur. Die schweizeri-
sche Pressepolitik im Zweiten Weltkrieg», 1973), von Werner Rings («Raubgold aus
Deutschland», 1985), schliesslich Jakob Tanners «Bundeshaushalt, Währung und
Kriegswirtschaft» (1985) über den schweizerisch-deutschen Warenaustausch zeigen
vielfältige Begründungen für das Verschontbleiben auf. Komplementäre Mehrfach-
strategien in der schweizerischen Abschreckung ergeben ein nicht grundlegend ande-
res, aber doch buntes und schwierig zu bewertendes Bild. In der mehr nach innen
gerichteten Diskussion kommen, wie dies etwa Hans Ulrich Jost als «Bedrohung und
Enge» in der «Geschichte der Schweiz und der Schweizer}} (1983) thematisiert, auch
das enge Klima, die autoritären Wesenszüge oder der politische Diskurs der extremen
Rechte zur Sprache.
Es ist hier nicht der Ort, diese unterschiedlichen Tendenzen in der schweizerischen
Historiographie zu diskutieren. Sie können uns nur die Kernfrage verdeutlichen,
warum die Schweiz im kriegserschütterten Europa eine verschonte Insel blieb, die
beispielsweise zu vergleichen wäre mit dem ebenfalls neutralen Schweden, das aber
am geopolitischen Nordrand Nazideutschlands lag. Zusammenfassend kann gesagt
werden, dass neben dem nicht allzu hohen militärischen Abschreckungspotential vor
allem die militärisch gesicherten Verkehrslinien durch die Alpen, der für die deutsche
Rüstung wichtige Industrie- und Handelsplatz Schweiz sowie der Finanz- und Banken-
platz von Bedeutung waren. Kaum angeführt wird die Tatsache, dass letztere Gründe
für das Inseldasein überhöht erscheinen durch die Bedeutung der Schweiz für die
internationale politische Szene, auch wenn das nazistische Völkerrecht jeder interna-
tionalen Ordnung spottete. Soweit ich sehe, wird dies in der schweizerischen Historio-
graphie kaum in Erwägung gezogen, ganz im Gegensatz zur reellen Bedeutung, die
den verschiedenen dissuasiven Faktoren zukommt. Dies hat auch mit dem helvetischen
Selbstbild zu tun, insofern als die Schweiz als Standort der internationalen Organisa-
tionen und des Völkerbundes nach 1939/45 teilweise an Bedeutung verlor und sich im
Zeitalter des Kalten Krieges politisch noch mehr in der gesuchten Neutralität abkapsel-
te und statt dessen die diskrete Politik der «guten Dienste» zu Ende kultivierte.
Gerade die internationale Dimension, und dies im Zusammenhang mit den
dissuasiven Strategien, spielt für das Thema «Die Schweiz und die Juden» eine zentrale
Rolle. Aus schweizerischer Sicht handelte es sich nicht um einen nur negativen Faktor,
der mehr Unannehmlichkeiten als Vorteile bringen musste- wie beispielsweise 1938 im
erfolgreichen Drängen Berns, die internationale Konferenz über die Flüchtlinge von Genf
18

ins französische Evian zu verlegen. Als gesamtes aber stellte die internationale Dreh-
scheibe, mit ihren von Bem beargwöhnten Diensten und Organisationen, einen weiteren
Pfeiler für die Sicherheit des Landes dar. Hier war ein Ort, dessen neutraler Boden sich für
informelle und offizielle Verständigung bestens anbot. Man wird die internationale
Bedeutung der Drehscheibe Schweiz also genauer lesen müssen. Dies macht nicht nur die
jüngste Kontroverse um die Rolle des Internationalen Roten Kreuzes deutlich, das
übrigens in der jüdischen Historiographie schon längstens und dauernd ein Thema
gewesen ist. Die «Internationalität» der Schweiz hatte seit dem späten 19. Jahrhundert
Tradition. Die Schweiz war auch Gründungsort, Hauptsitz oder Standbein von zahlrei-
chen international und interterritorial tätigen Organisationen, seien dies auf zwischen-
staatlichen Abkommen beruhende oder privatrechtliche Institutionen und Hilfswerke.
Aus jüdischer Sicht verbindet sich die freie und gefährdete Schweiz mit der eigentli-
chen Machtlosigkeit der Juden, die auf dieser Insel eine Nische für ihre Tätigkeiten
fanden. Dies gilt auch für die privaten jüdischen Organisationen lange vor Hitlers
Versuch einer «Neuordnung Europas». Für die Periode von 1938 bis 1945 kommt
spezifisch hinzu, dass der Schweizer Boden als verschonte Insel für die Geschichte der
jüdischen Migranten und Flüchtlinge, dann des Holocaust und des Wissens darüber,
schliesslich der jüdischen Rettungsversuche sowie insgesamt der Finanzierung vieler
Tätigkeiten eine wichtige Rolle spielte. Dies ist auch abtesbar an der Archivsituation: Wer
etwas über die Schweiz hinsichtlich ihrer <~üdischen Bedeutung» wissen will, tut gut
daran, nach Israel oder in die Vereinigten Staaten zu fahren. Allein, dass das Archiv des
SIG-Präsidenten, Saly Mayer, in New York liegt, sagt etwas über das hier behandelte
Thema aus.
Ebenso wird dies deutlich bei der Frage, wieweit die jüdische und schweizerische
Historiographie sich gegenseitig zur Kenntnis nehmen. Es macht viel Sinn, einem
Leser nichtschweizerischer Herkunft die Situation des Kleinstaates zu erklären und
auch, wie oben kurz angetönt, auf die Diskussion hinzuweisen. Das zuweilen idylli-
sche Bild der Schweiz in den jüdischen Augen von heute korrespondiert, wie ich
festgestellt habe, oft genug mit dem historischen Eigenbild, das die Schweiz 1939 bis
1945 sich erfolgreich geschaffen hat. Das gleiche gilt umgekehrt von Schweizern,
wenn sie von der jüdischen Geschichte oft ahnungslos sprechen. Kollektive Ströme
und Vorstellungen beleben eben auch die Historiographie, die sich in aufklärender
Intention den Spuren der vergessenen Vergangenheit widmet. Nicht zuletzt an der
Behebung dieses Mankos, wenn auch bestimmt mit einem unvollständigen Beitrag, ist
mir mit dieser Studie gelegen, die für das'immer noch heikle Thema einer schweizeri-
schen Judenpolitik und ihrer Umstände sensibilisieren will.
Was für die schweizerische Geschichtsschreibung schon längere Zeit als selbstver-
ständlich gilt, nämlich von einem mythen- oder gar heroenbeladenen Bild der Schweiz
im Weltkrieg abzurücken, hat in der jüdischen Historiographie seine Entsprechung.
Salo W. Baron hat auf die «lackrymose» Neigung, auf die «weinerliche» Weise in
EINLEITUNG 19

einem Teil der jüdischen Geschichtsschreibung hingewiesen. Eine solche ist ange-
sichts einer jahrhundertelangen Leidensgeschichte und der Ungeheuerlichkeit von
Auschwitz zwar verständlich, aber kaum nachahmenswert. Apologetischen Bedürfnis-
sen ist nach 1945 in Prozessen und Kontroversen, in der jüdische Repräsentanten sich
gegenseitig lobten oder beschuldigten, zur Genüge nachgelebt worden. Die Schweiz
ist mit Gestalten wie Saly Mayer oder Isaak und Recha Sternbuch auch diesbezüglich
Schauplatz geworden - was auch zwei Bundesräte als Entlastung in eigener Sache
nutzten. Historiker, die sich mit diesen jüdischen Themen beschäftigen, sind schon
länger zu solcher Bewältigung innerer Schuldgefühle auf Distanz gegangen. Einen
letztlich rnythisierenden Einmaligkeitsanspruch des Holocaust lehnen gerade die jüdi-
schen Historiker unter den Holocaust-Forschern ab.
Kommen wir zu den Juden in der Schweiz. Die pragmatisch gerneinte Bezeich-
nung «Juden in der Schweiz» schliesst im wesentlichen alle drei Gruppen ein, wenn
man als Kriterium der Unterscheidung das allgernein gültige Bürgerrecht nehmen will:
Erstens die jüdischen Schweizer Staatsbürger und zweitens die fest niedergelassenen
ausländischen Juden in der Schweiz, die zwei ungefähr gleich grosse Teile der insge-
samt 19'000 Schweizer Juden bildeten; drittens die jüdischen Flüchtlinge in der
Schweiz, die insgesamt aufrund 29'000 Menschen zu beziffern waren und sich kürzer
oder länger im Land aufhielten. Sowohl bei den Flüchtlingen wie bei den Schweizer
Juden handelte es sich herkunftsgeschichtlich jeweils zur Hälfte um West- und Ost-
juden. Hier ist anzumerken, dass einer enormen Fülle von jüdischen Organisationen
nur eine sehr kleine Bevölkerungsgruppe von Juden in der Gesarntgrösse einer Klein-
stadt gegenübersteht. Die kleine Zahl der jüdischen Bevölkerung - die übrigens
regelrnässig weit überschätzt wurde und wird - birgt das Problem, dass eine jüdische
Organisation oft nur aus wenigen Personen bestand, wenn sie nicht gar ein Einrnann-
unternehrnen war. Auch wenn ich aus diesen Gründen meine Darstellung oft auf
Personen zentrieren muss, repräsentieren sie dennoch bestimmte Gruppen und Über-
zeugungen in der ausserordentlich heterogenen Szene des «Schweizer Judentums».
Wir werden noch sehen, dass dessen Spektrum in unterschiedlichsten Überschneidungen,
Allianzen und Gegensätzen säkulare und religiöse, liberale und sozialistische,
zionistische und assirnilationistische, west-und ostjüdische, eingesessene und zugezo-
gene, schweizerische und ausländische, einer jüdischen Gemeinde angehörige und
nichtangehörige Teile umfasst. Hier muss genügen, einmal die besondere Schwierig-
keit für die Historiographie zu benennen.
Wir können uns die Situation der Juden in der Schweiz im Zeitalter des Nazismus
grundlegend als ein Drei-Kreise-Modell vor Augen halten. Im äussersten Kreis der
aggressiv wirkende Nazistaat, der seit 1935 mit effizienter Propaganda seine
antisemitische Dynamik in die europäischen Länder zu exportieren hofft und dann als
kriegführende Grassmacht enormen Druck auf die Schweiz erzeugt. Im mittleren
Kreis steht die Schweiz, die sich nun noch enger gegen alles Fremde einigelt und ihre
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Kräfte sammelt, wenngleich die Atmosphäre seit dem Zusammenbruch Frankreichs


auch von depressiven Stimmungen gekennzeichnet erscheint. Im innersten Kreis
schliesslich sind die Juden, die in diesem Modell ein Kalkül für die anderen darstellen.
Sie sollen keinen Anlass bieten, den Nazistaat zu reizen, und gleichzeitig müssen sie
die eidgenössische Politik stillschweigend befolgen, um, so das Argument, keinen
Antisemitismus zu provozieren.
Die jüdischen Mitbürger des Landes waren also einem doppelten Druck ausgesetzt.
Der Jude in der Schweiz ging zugleich als loyaler Schweizer Bürger und als fremder Jude
seinen Pflichten nach. Trotz allem oft ängstlichen und überangepassten Verhalten, das
die jüdische Minderheit kennzeichnete, bewies man doch einigen Mut. Jede Geschichte
der Schweizer Juden muss von vier konstitutiven Momenten ausgehen, die voneinander
abhängen und zugleich im erwähnten Kreismodell zu verstehen sind.
An erster Stelle stand die Verteidigung der bürgerlichen Rechte als Ausdruck, dass
man die Errungenschaften der Emanzipation durch Nazismus und Frontismus gefähr-
det sah. Die Schweizer Juden haben ihren Abwehrkampf unter dem Motto «Abwehr
und Aufklärung» mit wechselhaften Strategien und empfindlicher Nervosität geführt,
was unter anderem auf den fehlenden Rückhalt in Bem hinweist. Die zunehmend
geübte Strategie der Vermeidung und des Niedrigprofils in dieser Verteidigung
signalisiert den zunehmenden Druck von aussen. Umgekehrt steht die jüdische Ab-
wehr nach aussen in einem dialektischen Bezug zur eigenen Stärke und inneren
Standhaftigkeit, um glaubhaft zu bleiben.
So drängt sich zweitens die Frage nach den inneren Konflikten auf. Moralisches
Ansehen und politische Glaubwürdigkeit und zum anderen innere Krisen und politische
Kultur bilden die Pole des Dilemmas. Es bestand darin, eine Politik zu verfolgen, die den
bedrohten und flüchtenden Juden einen Hort sicherte, ohne dabei den eidgenössischen
Erwartungen mit Kritik «in den Rücken zu fallen». Die Solidarität mit den Opfern und die
Gefährdung der eigenen Stellung sind Vektoren in einer Gratwanderung, die 1942 in eine
schwere innere Krise und zum Vertrauensbruch mit den Behörden führte.
Drittens waren, wie schon erwähnt, in der Schweiz eine Reihe jüdischer Organisa-
tionen und Hilfswerke internationalen Zuschnitts tätig, die sich in unterschiedlicher
Akzentliierung mit den Flüchtlingen in der Schweiz und den leidenden Juden unter
deutscher Herrschaft beschäftigten. Die Finanzierung der eidgenössischen Flüchtlings-
politik durch jüdische Organisationen ermisst die Bedeutung, die diesen interterritorialen
Hilfswerken zukommt. Ebenso ist daran die als heikel empfundene Frage geknüpft,
wie weit die Schweizer Juden sich aus eidgenössischer Sicht diesen Organisationen
anschliessen konnten. Politik oder Philanthropie ist die Frage, Hilfe und Rettung die
Antwort in dieser Situation gewesen. Ein besonderes Moment bildete die Uneinigkeit
der jüdischen Organisationen nationalen wie internationalen Zuschnitts, wenn sie nicht
sogar gegeneinander wirkten und dabei letztlich die verzweifelte Ohnmacht der jüdi-
schen Minderheit spiegelten.
EINLEITUNG 21

Viertens schliesst sich der Kreis, indem diese inneren jüdischen Fragen als die
deutsche und schweizerische «Judenfrage» der internationalen Flüchtlingspolitik er-
scheinen. Die Logik offenbart die Vermeidungsstrategie noch einmal von anderer
Seite: Die Schweiz als Asylland, das imperativ nur Transitland sein wollte - dies
bedeutete für die Schweizer Juden, dafür zu sorgen, dass die Flüchtlinge weiter-
wandern konnten, um damit das Tor zur Schweiz weiterhin offenzuhalten. Die Schweizer
Juden setzten - um dem eigenen Staat die ständig angedrohte antisemitische «Juden-
frage» nicht zu bescheren - alles daran, die jüdischen Flüchtlinge mit Hilfe der
international tätigen jüdischen Organisationen so schnell als möglich «weiterzubringen».
Ausserdem konnten die Schweizer Juden 1936 oder 1940 nicht wissen, wie sicher die
Schweiz sei, oder ob man selbst dem Zwang folgen würde, nach Übersee zu gehen. So
war auch hier die Frage nach Standhalten oder Fliehen gegeben.
Eine letzte, mir wichtige Bemerkung: Die Geschichte der schweizerischen und der
internationalen Judenpolitik sowie des Antisemitismus in der Schweiz und in Buropa
ist nicht gleichzusetzen mit der Geschichte der Juden in der Schweiz oder der Juden
und des Judentums überhaupt. Dies wird als methodische und prinzipielle Vorausset-
zung immer wieder zu betonen sein, sowohl für den schweizerischen wie für den
jüdischen oder irgendeinen anderen Leser. Gerade wenn es darum geht, die viel-
schichtigen Bezüge von Mehr- und Minderheiten und die dissimilatorische Dynamik
darin zu beschreiben, muss diese Unterscheidung im Kopf behalten werden.
Die sogenannte Judenfrage war ein antisemitisches Konstrukt und damit das
Problem der europäischen bzw. schweizerischen Geschichte in der Durchsetzung und
Infragestellung der Emanzipation. Als Problem einer eigentlichen Geschichte der
Juden kann nur sekundär von der antisemitischen «Judenfrage» gesprochen werden,
nämlich insofern der Antisemitismus die Betroffenen zur Abwehr des Antisemitismus
nötigte. Schliesslich wird man tertiär von einer jüdischen Frage auch reden können, wo
es um den psychischen oder sozialen Zwiespalt von Identität und Zugehörigkeit, wie
ihn die emanzipierten Juden im Prozess der Assimilierung selbst empfanden, gegan-
gen ist.
Aus diesen Gründen der unterschiedlichen Perspektive in einem vielschichtigen
Bezug ist die vorliegende Studie in zwei Teilen gehalten. Teil I, «Die Schweiz und die
Juden», widmet sich dem Verhältnis der Schweiz zur europäischen «Judenfrage» und
zu den Juden selbst, seien dies die Schweizer Juden im In- und Ausland, die «fremden»
Juden in der Schweiz (Stichwort: Einbürgerung) oder die jüdischen Flüchtlinge als
internationale «Transitmasse» in der schweizerischen Politik. Es handelt sich also
darum, zu fragen, wie einzelne Träger von Politik und Kultur den Juden gegenüber
dachten oder handelten.
Ein erstes Kapitel über die Schweiz und die «Judenfrage» thematisiert den
Antisemitismus unter dem Aspekt der nazideutschen Bedrohung und stellt daher die
breiten Tabuisierung der «Judenfrage» und die versuchte Dynamisierung durch die
22

faschistischen Fronten einander gegenüber. Ich verwende für dieses Phänomen die
Bezeichnung «Verschweizerung» des Antisemitismus. Dies kann auch deutlich ma-
chen, dass anstelle des negativen Judenbildes zunehmend der Flüchtling trat, der unter
dem verkehrten Argument der Antisemitismusgefahr quasi «stellvertretend» den un-
vergleichbar realeren Bedrohungsfaktor Nazideutschland ins Bewusstsein hob. Einen
wesentlichen Indikator für den Antisemitismus in der Schweiz bildet die jüdische
Abwehr selbst, insofern deren Strategien die Veränderungen in der gesamten Situation
spiegeln. Im dritten Kapitel schliesslich kommt die faktische Politik zur Darstellung,
diejenige des Bundesrats und der Schweizer Juden im In- und Ausland- die späteren
Versuche einer Entsorgung dieser Politik eingeschlossen.
Teil II ist eine Geschichte der «.Juden in der Schweiz». Auch dies stellt ein eigentli-
ches Stück Schweizer Geschichte dar, insofern sie im Spiegel eines bestimmten
Bevölkerungsteils erscheint. In dieser Geschichte treten darum sowohl judenfeindlich
agierende Kreise wie an hochherzigen Unterstützungsaktionen beteiligte Menschen auf.
Vor allem kann hier deutlich werden, dass die Juden nicht nur opferbereit warteten,
sondern selbst agierten, wenn auch in einem enggesteckten Rahmen. Um zu zeigen, wer
sie waren und wie sie aufgrund ihrer eigenen Prägung handelten, aber auch um klarzuma-
chen, was die offizielle Schweiz von einzelnen jüdischen Organisationen erwartete, wird
als erstes ein Überblick der politischen und institutionellen Grundlagen geschaffen. Dies
schliesst eine Art «Glossar» von einzelnen nationalen und internationalen Organisationen
ein, um auch verbandsgeschichtliche Strukturen kennenzulemen. Danach folgt in zwei
Kapiteln die Beschreibung der ji,idischen Politik- natürlich im Rahmen der internationa-
len und schweizerischen Juden- und Flüchtlingspolitik- angefangen bei äusseren und
inneren Zwängen, Kalkülen und Konflikten bis hin zu den Hilfstätigkeiten und Rettungs-
versuchen für die notleidenden und sterbenden Juden im nazibesetzten Europa.
Nicht behandelt werden hier die Vorgänge um die Rettung der ungarischen Juden, in
die 1944-1945 auch die schweizerische Diplomatie eng verwickelt war. Die direkt und
indirekt geführten Verhandlungen zwischen jüdischen Kreisen in der Schweiz und
Repräsentanten von Himmlers SS berühren zwar jene Personen und Organisationen, die
in dieser Studie eingehend zur Sprache kommen. Doch sind diese Verhandlungen wie die
Aktivitäten der Schweizer Gesandtschaft in Ungarn nur auf dem weiten Hintergrund des
Geschehens in Budapest und Berlin sowie in London und Washington zu verstehen. Ich
werde am Schluss lediglich einen Ausblick geben und Überlegungen zu diesem Thema
anstellen, muss mir aber die genauere Darstellung andernorts vorbehalten.
Die einzelnen Kapitel meines Buches sind themenzentriert und nicht chrono-
logisch angelegt. Ebenfalls wird in zwei Fällen auch die spätere Verarbeitung von
Konflikten, so in den Fällen Pestalozzi und Rothmund, vorweggenommen und reflektiert.
Daher sind Vor- und Rückverweise, gelegentliche Wiederholungen, die erneute Auf-
nahme eines Aspekts oder Exkurse in spezielle Bereiche beabsichtigt, auch wenn dies
zuweilen den Textablauf etwas beeinträchtigen mag.
TEIL I
DIE SCHWEIZ,
DIE JUDEN
UND EUROPA

Wie viele Juden ist auch Rosenbaum eine zutiefst konservative Natur. Das hat mit
politischen Stellungnahmen nicht viel zu tun. Es ist ein instinktiver, lebenserhaltender
Konservativismus. Das Judentum hätte die zweitausend Jahre Diaspora nicht überlebt,
wenn es nicht in seinem tiefsten Wesen bewahrenden Sinnes gewesen wäre ...

J. R. von Salis, Notizen eines Müssiggängers, 1983, S. 189

Vorläufig habe ich noch meinen Dienst zu leisten als Bürger dieses Landes.

Kurt Guggenheim, Wir waren unser vier, 1948 (im 17. Kapitel)
25

1. KAPITEL
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN.
DIE SCHWEIZ UND DIE ANTISEMITISCHE
<dUDENFRAGE» IN EUROPA

Die sogenannte Judenfrage ist ein begriffliches Konstrukt, mit dem die Emanzipation
der Juden von ihrer nichtjüdischen Umgebung als Problem gekennzeichnet wurde. Als
antisemitisches Herbeireden seit 1870 zielte die Formel «Judenfrage» auf das
Rückgängigmachen der bürgerlichen Gleichstellung der Juden in Recht und Gesell-
schaft. Dabei spielten halb- und unbewusste Qualifizierungen im öffentlichen und
privaten Alltag eine Begleitrolle für das falsche und dämonisierende Judenbild in Politik
und Publizistik. So verweist das Wort «Judenfrage» auch auf das antisemitische «Mei-
nen», worunter wir alljene Vorurteile und Zerrbilder, unter denen das angebliche
Judenproblem herbeigeredet wurde, verstehen können. Als Phänomen erschien die
Frage indessen ungleich viel früher: einmal als theologisches Problem der christlichen
Kirchen und als soziale Aussonderung im mittelalterlichen Ständestaat und danach als
eigentliche Emanzipationspolitik im Zuge der revolutionären und reformerischen Um-
gestaltungen an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert. Das Wort «<udenfrage» regte
also zu verschiedensten Vorstellungen und Konnotationen an. Im politischen Sinn wird
man den Begriff im Form- und Wertwandel, dem er unterlag, beobachten und seinen
Gebrauch unterscheiden müssen. Insbesondere die Auffassungen des emanzipatorischen
Optimismus oder die Anerkennung von minderheitenrechtlichen Eigenständigkeiten
sind von einer antisemitischen Verwendung des Wortes zu unterscheiden. So war die
Emanzipation der Juden durch die Grundsätze der Französischen Revolution auch in der
Schweiz an die Erwartung ihrer Assimilation geknüpft. Demgegenüber wollten Ansätze
zu einem Recht der Minderheiten in der <~üdischen ·Frage» die Möglichkeit einer
gewissen kollektiven Autonomie in kultureller Hinsicht erkennen.
Heute will man aber, mit einem gewissen Recht, in der Vokabel «<udenfrage» vor
allem den antisemitischen Wahn sehen. Die jahrhundertealte Judenfeindschaft wurde
damit in neuen Formen und Funktionen instrumentalisiert und unter diesem Schlag-
wort bis zur mörderischen «Endlösung» weitergeführt. Das darf aber nicht dazu
verführen, aus dem Begriffspaar «Judenfrage» und «Antisemitismus» zum vomherein
eine Folge von Ursache und Wirkung zu konstruieren, wie es dies der Nazismus getan
hat. Erst dem rassistischen Denken und seinen politischen Erben ist es gelungen,
zahlreiche Menschen davon zu überzeugen, dass für eine Reihe von allgemeinen
Problemen die Juden, und nur die Juden schuld seien. Die «Judenfrage» war damit von
26 1. KAPITEL

einem emanzipatorischen Anspruch restlos zu einer Sache des Antisemitismus gewor-


den. Der moderne Antisemitismus wollte, im Gegensatz zu den hergebrachten Losun-
gen der Emanzipation und im Unterschied zum christlich-kirchlichen Antijudaismus,
als etwas Neues, als eine moderne Idee Gültigkeit erlangen. Das Ziel seiner Verun-
glimpfungen sah der Antisemit nicht im traditionellen Juden, sondern im emanzipier-
ten oder assimilierten Juden. Von daher wurde die «Judenfrage» neu interpretiert und
mit pseudowissenschaftlichen Begründungen unterlegt. 1
In der Schweiz erscheint die sogenannte Judenfrage nicht in isolierter Eigen-
ständigkeit, sondern abhängig von Form und Wandel der Judenemanzipation, Juden-
diskriminierung oder Judenfeindschaft, die von den europäischen Entwicklungen be-
stimmt wurden. Dass die schweizerische Emanzipation der Juden nur unter erhebli-
chem Druck Frankreichs sowie der Vereinigten Staaten und Grossbritanniens zustande
kam, deutet die Flexibilität einer schweizerischen Judenpolitik seit ihrem Entstehen
an. Zugleich werden aber darin die gesellschaftlichen Integrationskrisen im Inland
zum Ausdruck gebracht. Die Judenfeindschaft erscheint auch als Abwehrreflex im
inneren Bedrohungsbild der Schweiz. Es wäre einseitig, den Zusammenhang zwischen
Emanzipation und Antisemitismus in der Schweiz lediglich mit dem Hinweis auf den
Import judenfeindlicher Argumente zu erklären. Dennoch bleibt der Antisemitismus in
der Schweiz vorerst von den ausländischen Entwicklungen und Eingebungen abhän-
gig, sowohl im ideologischen Bereich wie im parteipolitischen Profil der hochstilisierten
«Judenfrage». Die Anleihen und der Import antisemitischer Ideologien aus dem Aus-
land verweisen auf die besonderen Bedingungen, unter denen eine schweizerische
«Judenfrage» historisch Profil gewinnt.
Einleitend ist daher ein Abriss über die historischen Verbindungslinien von Eman-
zipation und Antisemitismus, wie sie sich in den gesellschaftlichen Realitäten der
europäischen Nationalstaaten zeigen, zu skizzieren. Das bedeutet nicht, dass sich keine
besonderen Stereotypen antisemitischer Haltungen in der Schweiz formiert hätten. Der
schweizerische Antisemitismus darf nicht als begrenzte, unter dem Eindruck ausländi-
scher Ideologien stehende Episode verstanden werden. Es wird dann genauer abzu-
messen sein, wieweit er Ausdruck der geistigen und politischen Krise ist, die schon am
Ende des Ersten Weltkrieges und erst recht im Zeichen des faschistischen Aufstiegs
die «Judenfrage» zu einem angeblichen Kampf für schweizerische Ordnung und
Tradition erklärte. Der Blick auf Frankreich, Deutschland sowie die osteuropäischen
Staaten bietet sich indessen zur Beschreibung der «Judenfrage» und des Antisemitismus
aus dem notwendigen Grund an, weil sich dort auch ein Stück weit die Strukturen und
Funktionen des Antisemitismus, wie er in der Schweiz in verschiedener, noch zu
bestimmender Hinsicht einfliessen musste, beobachten lassen.
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN 27

EMANZIPATION UND ANTISEMITISMUS IN EUROPA:


PSYCHOLOGISCHE, SOZIALE UND POLITISCHE ASPEKTE

In Westeuropa war die Emanzipation der Juden aus der diskriminierenden Isolierung,
in der sie von der christlichen Ständegesellschaft bis ins 18. Jahrhundert gehalten
worden waren, ein verbindliches Element der Ausbildung des modernen Verfassungs-
staates. Die Aufklärung versprach, die Menschen aus ihren Grenzen herauszuführen,
und mit den Revolutionen in England, den Vereinigten Staaten und Frankreich gelang-
ten Ideen und politische Prinzipien zur Herrschaft, die es nach ihrer DurchsetZling
ausschlossen, dass einer ethnisch bestimmten Gruppe von Bürgern die Gleichstellung
grundsätzlich verweigert würde. Die sogenannte Judenfrage ist im ausgehenden 18.
und anhebenden 19. Jahrhundert zuerst als Emanzipationsfrage gestellt worden. Unter
Emanzipation wurde bald die Beseitigung aller Rechtsungleichheiten und die Integra-
tion der Juden als Bürger in die moderne Gesellschaft verstanden. 2 Angesichts der
religiösen und wirtschaftlichen Verhältnisse konnte der Integrationsprozess in Ablauf
und Tempo allerdings nicht so einfach vonstatten gehen, wie es sich die Theoretiker
der Emanzipation vorgestellt hatten. Vor allem in Zeiten wirtschaftlicher Krisen und
politischer Reaktionen, in denen Gewerbe und Handwerk sich dem aggressiven Poten-
tial der Industrialisierung schmerzhaft ausgesetzt fanden, zeigte sich Verschiedenenorts
die Abhängigkeit der Judenemanzipation vom gesamten Prozess der Ausformung der
modernen Gesellschaft.
Hinzu kamen die alten Vorurteile und negativen Vorstellungen von «den Juden»
als einem fremden Kollektiv, dessen Mitglieder zuerst nützliche Mitglieder der Gesell-
schaft werden mussten, um als gleichwertig angesehen zu werden. Die Juden sollten
als Individuen, nicht als Volk, in die Gesellschaft aufgenommen werden, sofern sie nur
die politischen Prinzipien übernehmen und die kulturellen Werte verinnerlichen wür-
den, die für die Nation, in der sie lebten, konstitutiv waren. Entsprechend unterschied-
lich erfolgte daher die DurchsetZling der bürgerlichen Gleichstellung der Juden in den
einzelnen europäischen Staaten. Insbesondere in den frisch sich formierenden National-
staaten erfuhr die Emanzipation eine deutliche Färbung durch die ideologischen Strö-
mungen und klassenspezifischen Interessen, die in die innenpolitischen Auseinander-
setzungen einflossen. Die emanzipatorische «Judenfrage» blieb in den einzelnen Län-
dern gekoppelt an die Programme und Tendenzen, welche die Etablierung von politi-
schen Ordnungen garantierten oder in Frage stellten.
In seinen Erscheinungen verschieden, doch in der Ursache von vergleichbarer
Konfliktlage bestimmt, erwies sich im 19. Jahrhundert das nachmalige Infragestellen
der Judenemanzipation als Problem der nationalistisch geprägten bürgerlichen Gesell-
schaft. Die optimistische Diktion, die den aufklärerischen Geist hinsichtlich der Eman-
zipation geprägt hatte, war in den Realitäten des tiefgreifenden Wandels, der das
28 1. KAPITEL

spätere 19. Jahrhundert gesellschaftlich umgestaltete, zwar nicht ganz verklungen.


Aber es zeigten sich spürbare Risse, wenn antiliberale Reaktionen wucherten. Mit dem
Wechsel von der vorbürgerlichen zur bürgerlichen Gesellschaft änderte auch die
Judenfeindschaft ihr Gesicht. Die antisemitische «Judenfrage», wie sie von den Geg-
nern der Judenemanzipation erst nach deren Verwirklichung herbeigeredet wurde, war
vor allem Ausdruck eines ökonomisch-politischen Krisenbewusstseins. Als innen-
politische Waffe diente sie den antiliberalen Kräften zur Ableitung des eigenen Unbe-
hagensam Wandel der industriegesellschaftlichen Strukturen und den damit einher-
gehenden kulturellen Umwertungen. 3
Der moderne Antisemitismus war zwar mit dem Judenhass der vorindustriellen
Zeit verknüpft, insofern auch macht- und wirtschaftspolitisch die Zwangsläufigkeiten
der alten Gesellschaften als Kontinuitäten in der emanzipatorischen Zeit nachwirkten.
Dazu gehörte zum Beispiel, dass schon die christliche Herrschaft die Juden gerne als
Opfer designiert und den Judenhass als Verschiebungsmöglichkeit affektiver Hand-
lungen benutzt hatte. Wie einleitend schon gesagt, am modernen Antisemitismus der
siebzigerund späterer Jahre war aber nicht nur die unerhellte Schuldzuweisung für
gesellschaftliches Unbehagen ausschlaggebend, sondern der Umstand, dass er sich
gegen die emanzipierten Juden als den vermeintlichen oder tatsächlichen Repräsentan-
ten des Neuen wandte. Die Durchsetzung oder der Abbau der antisemitischen «Juden-
frage» auf dem Gebiet der nationalen Innen- und Sozialpolitik war deshalb nicht mehr
vom weiteren Gelingen der bürgerlichen Emanzipation selbst abhängig.4
Daher lässt sich das Problem, warum der Antisemitismus die gesellschaftlichen
Bedingungen, aus denen er entstand, überdauerte und sich verselbständigte, nur aus
mehrdimensionalen Ursachen verstehen. Einmal tritt im wirtschaftlichen Verkehr der
sich formierenden modernen Industriegesellschaft das Leben unter den Aspekt
versachlichter Beziehungen. Dass hier der Jude als Fremder eine personifizierte «Er-
klärung» für die Krisen und Entfremdungen dieser Gesellschaft abgab, zeigt, wie die
Vorstellung von der Rolle und der Macht des Geldes in der Person des Juden in einer
unbewussten Form von neuem manifest werden konnte. Zum andern sind es die
psychischen Qualitäten, die Ambivalenz des gesellschaftlichen Individuums, die in
affektiver Weise ein vorgefasstes und personifizierendes Bild des Juden malen, das mit
den faktischen Gegebenheiten und Ursachen wenig gemein hat. 5 Das prekäre Verhält-
nis zwischen gesellschaftlichen Realitäten und emotionalem Meinen kommt beispiels-
weise, gerade auch in der Schweiz, in den antisemitischen Argumenten zum Vor-
schein, die mit der Aufspaltung in «gute» und «schlechte Juden» den Charakter des
Fremden ausdrücken.
Der soziale und psychologische Doppelcharakter weist im weiteren auf eine daraus
resultierende dritte Komponente hin, die zur eigentlichen geschichtlichen Bühne des
Antisemitismus erhoben wurde. Die Popularisierung des neuen Weltbildes erhielt als
Programm des sozialen Kampfes oder der gruppenmässigen Diskriminierung nachhal-
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN 29

tige Wirksamkeit erst auf dem Feld der politischen Umsetzung. Es ist mehrfach gesagt
worden, dass der moderne Antisemitismus erst durch die Funktion, die er im politi-
schen und öffentlichen Leben als organisierte Form sozialer Bewegungen und politi-
scher Parteien einnahm, wichtig geworden ist. Zählen wir einige Funktionen und die
Träger von Antisemitismus beispielhaft auf: Konservative Eliten aus Militär und
Wirtschaft nutzten Antisemitismus zur Durchsetzung oder Erhaltung von Macht;
Bauernbünde und Heimatwehren artikulierten den zunehmenden Stadt-Land-Gegen-
satz; christliche Kreise sekundierten die Antisemiten, weil sie in den Juden die kultu-
relle Modeme repräsentiert sahen; die politische Rechte verknüpfte antisemitische
Argumente und antikommunistische Doktrin; und extreme Linke kennzeichneten den
Juden als besonders übles Exemplar des kapitalistischen Ausbeuters. Der Antisemi-
tismus diente wiederholt und im Argument austauschbar dazu, wirtschaftliche Kon-
junkturlagen zu erklären, von Krisenursachen abzulenken, politische Machtkämpfe
auszutragen, soziale Benachteiligungen zu rechtfertigen, religiöse Existenzängste zu
verdrängen oder volkskundliche Traditionen mit neuen Nutzwerten aufzupolieren.
Diese Funktionen des Antisemitismus sind je nach Epoche und Ort ausgefallen und
von der Forschung auch methodisch unterschiedlich beschrieben worden. 6
Uns interessiert indes, wie hier der Antisemitismus als eine autochthone, das heisst
eigenständige Bewegung formiert und zu einem tragenden Element totalitären Den-
kens wurde. Denn die antisemitische Dynamik ist gespiesen von einem ständigen
Aktionismus, mit dem die Bewegung sich von einer Phase in die nächste steigern kann.
Am Ende wird dann der Genozid stehen, die Schoa, die faktische Vernichtung. Der
dynamische Charakter der aktionistischen Ideologie ist zwar als ein Element totalitärer
Herrschaft auf dem Weg zur Macht gesehen worden. Marxistische wie nichtmarxi-
stische Theorien des Faschismus und verschiedene Konzepte zur Beschreibung totali-
tärer Herrschaftssysteme sehen im rassistischen Antisemitismus ein Instrument der
Herrschaftslenkung, auch wenn die Erklärungen der Ursachen voneinander abwei-
chen. Diese Interpretationen des Antisemitismus im Blickfeld unterschiedlicher An-
sätze stossen aber dort an ihre Grenze, wo die rassistische Propaganda die Juden-
feindschaft in politische Handlungsanweisungen übersetzt und die faktische Vernich-
tung vorbereitet und durchführt. Die Inbetriebnahme der Gaskammern, zur Zeit als der
Nazismus im Zenit seiner Macht stand, entkräftet als Realität die Theorie des rein
funktionalen Charakters von Rassismus und Antisemitismus.7
Die Schwäche einiger Theorien des Totalitarismus entbindet das Bewusstsein
allerdings nicht davon, Ideologie, Entstehung und Herrschaftsausübung zu reflektieren.
Allein der Umstand, dass es den meisten Zeitgenossen kaum möglich war, das «totali-
täre System» als politisches Phänomen und gesellschaftlichen Vorgang zu durch-
schauen, wirft ein Licht auf die Vorstellung, wie man sich die Verfolgung der Juden
und später den millionenfachen Mord im Zeichen dieser Herrschaft erklären mochte -
auch und gerade in der Schweiz. Ohne den Antisemitismus als Phänomen durch die
30 1. KAPITEL

Geschichte nationalistischer Entwicklungen auflösen zu wollen, ist es sinnvoll, die


angesprochenen Ursachen und die Herkunft der antisemitischen «Judenfrage» auch in
der Geschichte der Nationalbewegungen in Europa gerrauer zu orten. Denn es bleibt
unbestritten, dass in den einzelnen Nationalstaaten erhebliche Unterschiede bestanden
hinsichtlich der politischen Durchsetzung der Emanzipation wie auch der Artikulation
und Träger antisemitischer Propaganda.
Dies ist für die spätere Geschichte der schweizerischen «Judenfrage» ebenso von
erheblicher Bedeutung wie die gesellschaftlichen Momente und psychischen Ambi-
valenzen. Gerade die Schweiz, die sich kulturell verschiedenen sprachlichen Identitä-
ten zurechnet, musste sichangesichtsdes sich formierenden Nationalbewusstseins in
Deutschland oder Frankreich diesem Sog stellen. Der Eintritt des Antisemitismus in
die Massenpolitik in West- und Mitteleuropa und in die autoritäre Regierungspolitik in
Osteuropa gehört mit zum spezifischen Charakter der antisemitischen Ideologien, die
auf den Strukturwandel der Modeme Antworten suchten. Soziale Konflikte und Lö-
sungen, wie sie auch die Schweiz betrafen, erschienen bei den Nachbarn überall mit
nationalistischen Reaktionen verbunden. Was in den europäischen Nationen politisch
und mental vor sich ging, betraf letztlich auch die Schweiz.

Frankreich

Blicken wir von der Schweiz aus zuerst nach Westen. In Frankreich gab die Juden-
feindschaft seit 1789 zwar viel zu reden, vermochte aber politisch nicht durchzubre-
chen. In den öffentlichen Debatten diskreditierte eine kritische Publizistik und das
liberale Empfinden den Antisemitismus behördlicher, militärischer und rechts-
katholischer Eliten als Lügengewebe. Vor allem sah die Mehrheit der Franzosen in den
Ideen von 1789 den traditionellen Kern des französischen Nationalgefühls. Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit schienen zugleich Eigenschaften der nationalistischen und
chauvinistischen Emotionen zu sein, die keine Zurücknahme der Emanzipation der
Juden erlaubten. Dass Frankreich der Entstehungsort jenes biologistischen Anti-
semitismus war, in welchem Graf Artbur de Gobineau und Edouard Drumont die
Rassenlehre zum Schlüssel der Geschichte erklärten, weist auf diesen heftig ausgetra-
genen Kampf um emanzipatorische und nationalistische Werte hin. Damit kommt
einerseits der binnenmässige Ursprung des Rassismus in Frankreich in den Blick, der
dort als Mode heftig umstritten war. Zum andern aber wird auch seine Rezeption in
Deutschland nach 1871 bedeutsam, wenn auch merkwürdigerweise in übereinstim-
mendem Kontrast zum negativen Rollenbild Deutschlands im französischen Denken.
Der französische Nationalismus als Abwehrreaktion gegen das siegreiche Deutschland
gelangte gerade mit Antisemiten wie Maurras zu seinem vehementen publizistischen
Ausdruck. 8
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN 31

Dennoch blieb der Antisemitismus als Teil jener Kräfte, die den Fortschritt insge-
samt verwarfen, in Frankreich auf der Strecke. Ob nun der antisemitische Rassismus
im Munde antiliberaler Katholiken, antirepublikanischer Monarchisten oder schliesslich
als Aspekt der 1898 von Charles Maurras gegründeten Sammlung der Action Franfaise
auftauchte, er wurde letztlich als Speerspitze gegen die Werte jenes französischen
Nationalismus empfunden, der sich auf die Prinzipien von 1789 bezog. Die Affäre
Dreyfus spaltete Frankreich in eine republikanisch-liberale Mehrheit und eine Koaliti-
on antiliberaler und antirepublikanischer Kräfte mit der katholischen Kirche, die ihren
eigenen Antisemiten sekundierte.9 Die Aufspaltung in zwei gegnerische Lager mit
ihren jeweiligen Idealen ist von allen Chronisten der Affare notiert worden. Die
Rehabilitierung von Dreyfus und der Regierungsantritt von Clemenceau erschienen als
Sieg über die antisemitischen Demokratiefeinde. Auf diese Weise konnte sich Frank-
reich den europäischen Staaten, und damit auch der Schweiz, wiederum als Garant des
Liberalismus und der Emanzipation empfehlen. 10 Dies musste freilich nicht bedeuten,
dass damit die französische Rechte endgültig disqualifiziert blieb. Doch es war vorläu-
fig ein fester Sieg über den drohenden Widerruf der Emanzipation, der auch nach
aussen Zeichen setzte. 11
Unter dem jüdischen Ministerpräsidenten Uon Blum und seiner Linksregierung
schien die während der zwanziger Jahre gefestigte Stellung auch für die dreissiger
Jahre konsolidiert zu sein. Hingegen ermöglichten Krisenängste und Fremden-
feindlichkeit von neuem das Erstarken der antisemitischen Action unter Maurras.
Diese Basis nutzten die Nazis und fandenwährend der Besatzung in den französischen
Antisemiten tatkräftige Kollaborateure. 1941 wurde an den eigenen Juden bittere
«Revanche» durch das Vichy-Regime geübt, was wiederum die Schweiz und die
Schweizer Juden bedeutend tangieren sollte. Wir werden darauf eingehend im Kapitel
über den «Ordre public» von 1941 zu sprechen kommen. Darüber hinaus zeigt die
gesamte Entwicklung im Westen, was auch für die Schweiz seit 1918 und erst recht
nach 1933 von historischem Interesse wird, nämlich die Anfalligkeit einzelner behörd-
licher Kreise für die antisemitische Argumentation. Ebenso wird am französischen
Beispiel von 1893 die Bedeutung einer kritischen Debatte klar.

Osteuropa

In Ost- und Mitteleuropa und im Balkan hingegen, wo es im 19. Jahrhundert nicht zur
Ausbildung nationaler und liberaler Verfassungsstaaten kam, nahmen die nationalen
Bewegungen eine Form an, die sich im Hinblick auf Minderheiten erheblich von der
westlichen Emanzipation unterschied. Rechtlosigkeit, Isolierung und sporadische
Pogrome bestimmten das Leben der Juden in Osteuropa und Russland, die in den
aufkommenden zionistischen und sozialistischen Bewegungen eine Antwort auf die
32 1. KAPITEL

judenfeindliche Aggressivität ihrer Umgehungen suchten oder eine menschenwürdige


Zukunft durch Auswanderung in westliche Staaten zu finden hofften. Die Nationalis-
men osteuropäischer Staaten transportierten eine Judenfeindschaft ins 20. Jahrhundert,
welche die Gewinne an wirtschaftlicher Bewegungsfreiheit und politischer Betätigung
als äusserst unsicher erscheinen Hessen.
Wie gefährdet die rechtliche und politische Gleichstellung war, zeigt nicht nur die
krasse rumänische Weigerung von 1878, die Judenemanzipation zu verwirklichen,
sondern ein halbes Jahrhundert später die heikle Lage und Stimmung in den bisherigen
wie neu begründeten Staaten Osteuropas, wo die Juden seit 1918 endlich emanzipiert
schienen. Auch in den unabhängig gewordenen Staaten nach dem Ersten Weltkrieg ist
das Thema unvermindert aktuell. Die Rechte der Juden in diesen Staaten blieben von
aussengesehen eingebunden in die Garantien der Grossmächte in den Pariser Verträ-
gen, waren in Wirklichkeit aber vom Integrationspotential im jeweiligen Staat abhän-
gig. Merkwürdig ist, dass die mittel- und osteuropäischen Juden im gesamten
Neuerungsprozess während des 19. Jahrhunderts und dann nach 1918 in der Rekon-
struktion einer nationalen Geschichte jeweils eine wichtige Rolle gespielt haben. Dies
ist freilich auch nach 1945 von der Historiographie dieser Länder weitgehend verschleiert
und erst in jüngster Zeit untersucht worden.U

Deutschland

In grösstem Kontrast zur Erfolgsgeschichte jüdischer Emanzipation und Blüte im


Westen stand der Antisemitismus in Deutschland, der seit 1870 mehr und mehr
Anhänger gewinnen konnte und zur Zeit der Weimarer Republik zum dynamisierenden
Arsenal des Nazismus wurde. 13 Die ideologischen Reaktionen auf napoleonische
Fremdherrschaft in der politischen Romantik, die spezifischen Verwerfungen der
deutschen Nationalbewegung und der emotionale Einbruch in das deutsche National-
bewusstsein prägten eine besondere Disposition für die Entstehungsgeschichte der
Judenemanzipation und des Antisemitismus in den deutschen Staaten und des Wilhel-
minischen Reichs. Was sich unter romantischen Einflüssen und als Stereotypen des
bürgerlichen wie frühen sozialistischen Judenbildes verfestigt hatte, erhielt eine pseudo-
wissenschaftliche Endgültigkeit durch den rassenbiologisch begründeten Antisemi-
tismus. 14 Der deutsche Antisemitismus beruhte noch gründlicher auf rassenbiologischen
Behauptungen als seine französischen Vorbilder und glorifizierte gewissenhaft ein
mythisches Geschichtsbild, aus dem sich der Gegensatz von «arisch» und <~üdisch»
im Sinne eines manichäischen Kampfes ableiten liess. Sein politischer Durchschlag ist
erklärbar angesichts der erfolgreichen Domestizierung der demokratischen Reform-
kräfte in einem intensiv gesteigerten Nationalismus. Die Gefährdung der Juden ergab
sich daraus, dass im deutschen Nationalismus gesell~chaftspolitische Leitbilder über-
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN' 33

handnahmen, die geschichtliche und zeitgenössische Probleme in metaphysischen


Kategorien und bald in biologischen Begriffen von «gesund» oder «krank» beurteil-
ten.15 Die Juden wurden in eine Rolle gedrängt, in der sie aus der Sicht einer antimodernen
Reaktion die vermeintlichen Urheber einer Infizierung der Gesellschaft mit zersetzen-
den Ideen waren. Die willkürliche, angeblich wissenschaftliche Terminologie der
Antisemiten tarnte die Gefahrlichkeit emotionaler Aufrührung mit der scheinbaren
Objektivität biologischer Gewissheiten.
Auch die Geisteswissenschaften verhalfen der antisemitischen Gossenpolitik zu
einem öffentlich akzeptierten Ansehen. Im Berliner Antisemitismusstreit charakteri-
sierte der einflussreichste Historiker der wilhelminischen Ära, Heinrich von Treitschke,
den seelenlosen und unschöpferischen «Materialismus» als das Ergebnis des
zerstörerisch wirkenden jüdischen Einflusses auf das deutsche Gemüt. 16 Treitschke
war kein Gegner der Emanzipation, doch seine Stimme als akademische Autorität
schien geneigt, wie Theodor Mommsen in seiner bekannten Entgegnung anmerkte, die
«Judenfrage» zu einem quasi wissenschaftlichen Problem und die antisemitische
Bewegung «anständig» zu machen. Übrigens ist es ein interessantes Detail der Ab-
wehrgeschichte, dass 1933 Mommsens «Wort über das Judentum» von der jüdischen
Presse in der Schweiz in voller Länge nachgedruckt wurde. 17
Was an Universitäten erlaubt schien, konnte im politischen und publizistischen
Alltag nur billig sein. Bereits 1873 hatte Wilhelm Marr- in einem Berner Verlag-
eine Schrift herausgebracht, die schon im alarmierenden Titel deutlich machte, dass es
um eine säkularisierte Behandlung und Bekämpfung der Judenheit als Rasse ging,
wofür er den Begriff «Antisemitismus» verwendete. 18 Bugen Dühring lieferte der
antisemitischen Bewegung acht Jahre später die naturwissenschaftliche Aufrüstung
nach und forderte mit «wissenschaftlichen» Argumenten aus der Medizin und Biolo-
gie die Bekämpfung der Emanzipation, um die «Einimpfung» und die «Einstreuung
von Racejuden in die Fugen und Spalten unserer nationalen Behausungen» abzuhal-
ten.19 Von Dühring führte der Weg über eine ganze Reihe von Rassenaposteln zu der
Heilsbotschaft des Nazismus, der nun in einem neuen Mythos von der «Verunreinigung»
des arischen Blutes sprach. Die Zeit schien günstig für den Auftritt Hitlers, als der
zunehmende Zerfall der Gesellschaft mit der deutschen Kriegsniederlage sinnfallig
wurde. 20 Die nazistischen Propagandisten machten von Anfang an klar, dass im
Antisemitismus nicht nur die einfache Erklärung für wirtschaftliche Nöte und die
deutsche Niederlage im Weltkrieg zu sehen sei, sondern eine quasi biologische und
politische Handlungsanleitung zur «reinlichen Scheidung» von deutsch und nicht-
deutsch im Sinne der «Ausrottung der Fäulnisherde semitischer Unmoral und
Rasseverderbnis». 21
In unzähligen Versammlungen und Publikationen suchten die Nationalsozialisten,
die aktionistisch ihre Rassentheorien als Antrieb für eine Massenbewegung zu nutzen
verstanden, ihre simplen Erklärungen in das Bewusstsein der Wählerschaft zu bren-
34 1. KAPITEL

nen. Ihre Botschaft richtete sich nicht mehr allein an die alte Oberschicht und an
kleinbürgerliche wie bäuerliche Kreise, denen die Kampagnen gegen Freimaurer,
Marxisten und Jesuiten als Kampf gegen die vom «Weltjudentum» angeblich gesteu-
erten «internationalen Mächte» vorgeführt wurden. Mit der Aussicht auf konkrete
gesellschaftliche Interessenbefriedigung boten Hitler und seine Bewegung der deut-
schen Familie das Heilmittel zur «Gesundung}} aus Hilflosigkeit und Verwirrung an.
Die Propaganda koppelte eine Überwindung der wirtschaftlichen Nöte und der politi-
schen Krisenstimmung an die Lösung des vermeintlichen Grundübels: der «Jude}}
schlechthin war schuld. Diese irrationale Erklärung und die damit verbundenen
Verheissungen hörten sich attraktiv genug an, dass damit die Aufhebung der Emanzi-
pation und Assimilation als politisches Ziel akzeptierbar erschienen.
Dass dies ausgerechnet in jenem Land möglich sein würde, dem sich im Westen
die französische Garantie der Emanzipation und im osteuropäischen Raum ihre Infrage-
stellung offenbart hatte, ermisst den Einschlag, den der Sieg der Antisemiten in
Deutschland bedeutete. Deren nationalistische Argumentation pflegte denn auch die
künftige «Raumpolitib im Osten und die «Lösung der J udenfrage>} in einem Atemzug
zu nennen. In den zehn Jahren, nachdem Hitler Reichskanzler geworden war, wurde
dieses Ziel in einer zunehmend sich verselbständigenden Dynamik schrittweise und
konsequent verwirklicht: zuerst durch die Aufhebung der Emanzipation in der Nürn-
berger Gesetzgebung und die gesellschaftliche Isolierung der deutschen Juden, dann
mit der wirtschaftlichen Enteignung im Kleid der «Arisierung}} und der Vertreibung
aus dem Land, schliesslich in der Annäherung an den Genozid mittels Pogromen und
der Durchführung des organisierten Völkermordes.

DIE VERSCHWEIZERUNG DES ANTISEMITISMUS:


ZUR GENESIS UND FUNKTION DER JUDENFEINDSCHAFT
IM KLEINSTAAT

Die Schweiz war einer der letzten Staaten Europas, der den Juden die Gleichberechti-
gung gewährte. Die Emanzipation gelang unter Druck des Auslandes, das den libera-
len Kräften in der Schweiz zum Durchbruch verhalf, als durch die Volksabstimmung
von 1866 allen Schweizer Bürgern das Recht der freien Niederlassung und die Gleich-
heit vor dem Gesetz gewährt wurde. Die schweizerische Regierung war damit einer
unangenehmen Mittlerstellung entledigt worden, in welcher der Bundesrat zwischen
ausländischen und kantonalen Ansprüchen gestanden war. Viele Kantone waren den
Forderungen Frankreichs und der übrigen ausländischen Mächte nach Gleichberechti-
gung ihrer jüdischen Bürger ablehnend gegenübergestanden. Nach der bundesweiten
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN 35

Gewährung der Niederlassungsfreiheit folgte 1874 im Zuge der erneuerten Bundes-


verfassung auch die allgemeine Garantierung der Kultusfreiheit, die freilich in einigen
Kantonen weiterhin unvollständig blieb. 22 Bedeutsam war bei diesen Vorgängen, dass
die rechtliche Stellung der ausländischen Juden in der Schweiz Frankreich zu den
Interventionen veranlasste. Wenn dies auch nicht der einzige Grund für die volle
Emanzipation war, so liess der ausländische Druck doch eine Verwirklichung der
Gleichstellung der Juden als geraten scheinen. Diplomatische Schritte Grossbritanniens,
der USA und wiederum Frankreichs, dann das Scheitern des schweizerisch-niederlän-
dischen Handels- und Niederlassungsvertrages vor dem niederländischen Parlament
machten deutlich, dass die ausländischen Mächte eine Diskriminierung der Schweizer
Juden nicht hinnehmen würden. Mit den 1864 ausgehandelten französisch-schweizeri-
schen Verträgen standen handelspolitisch äusserst vitale Interessen im Raum, wobei
Frankreich von Anfang an klarmachte, dass eine Übereinkunft abhängig von der
Beseitigung der alten antijüdischen Massnahmen bleibe.
Die schweizerische <Judenfrage» ist somit von den zwischenstaatlichen Wirtschafts-
beziehungen her aufgerollt und im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs seit der
Jahrhundertmitte vom Tisch gewischt worden. Politisch vermochte der Bund 1866 die
Emanzipation der Juden in allen Kantonen, von denen viele die Gleichstellung inzwi-
schen schrittweise eingeführt hatten, durchzusetzen. Nachaussen konnte der Bundes-
rat damit der zwischenstaatlichen Reziprozität, das heisst dem Prinzip der Gegen-
seitigkeit, genügen. In den Augen der Schweizer Juden selbst wurde damit Frankreich
zum indirekten Garanten der Emanzipation auch in der Schweiz. 1882 unterzeichneten
die Schweiz und Frankreich endlich einen Niederlassungsvertrag, der ohne Vorbehalt
nur noch von Schweizern und Franzosen sprach. 23 Er wurde 1918, im Zuge der
illiberalen Ausländerpolitik und polizeilichen Fremdenkontrolle, zwar vorsorglicher-
weise gekündigt, blieb aber auf Zusehen hin weiter in Geltung. Gerade dieser Vertrag
sollte 1941/42 Bezugspunkt für den Konflikt zwischen Schweizer Juden und Bundes-
rat um den «Ordre public» werden, was eingehend darzustellen sein wird.
Das zwischenstaatlich durchgesetzte Gleichheitsprinzip drohte bereits 1878 wieder
unterlaufen zu werden. Bem unterzeichnete eine Handelskonvention mit jenem Land,
dessen Regierung ein klassisches Beispiel für einen fremde Gruppen aggressiv aus-
grenzenden Nationalismus lieferte. Rumänien vermochte sich in diesem und den folgen-
den Jahren der von den west- und mitteleuropäischen Mächten auf dem Berliner
Kongress gestellten Forderung nach rechtlicher und politischer Gleichstellung der Juden
mit allen erdenklichen Taktiken zu entziehen. 24 Die Konvention beschränkte sich dann
auf kommerzielle Aspekte und klammerte das heikle Thema der Niederlassung aus. Dies
macht nicht nur deutlich, wie gefährdet der Bestand verfassungsrechtlicher Gleichheiten
für den eigenen Bürger im Ausland sein kann. Es gibt zugleich den Blick frei auf die
Akzeptanz politischer Vorgänge im Ausland und darauf, wieweit man sich für die
eigenen Juden gegenüber rassistischen Argumenten einsetzen wollte oder nicht.25
36 1. KAPITEL

Auch in der Schweiz wurden in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg «die Juden» in
der öffentlichen Diskussion zuweilen für wirtschaftliche Entwicklungen verantwort-
lich gemacht. Bereits in den frühen siebziger Jahren und dann während der
Verstaatlichung der in Konkurs geratenen Eisenbahnen erscheinen «die Juden» als
Argument oder als Grund für die Schuldzuweisung in Fragen, mit denen sie offensieht-
lieh wenig zu tun hatten. 26 Eine besondere Designation der Juden für Probleme und
Delikte findet sich in jenen Berufen, zu deren Ausübung die Juden durch alte Be-
schränkungen gezwungen waren und worin sie unentbehrlich blieben, etwa in den
Schneiderberufen oder im ViehhandelY Nach 1900 und dann im Ersten Weltkrieg ist
eine Zunahme judenfeindlicher Argumente zu beobachten. Markantes Beispiel: Für
die Lebensmittelteuerung während der massiven Inflation der Kriegskonjunktur wur-
den in Basel «die Juden», die einen vergleichsweisen hohen Anteil im Konsumhandel
aufwiesen, als Hauptschuldige angesehen. Im Verlaufe eines Ehrverletzungsprozesses
(1917) zwischen Friedrich Schneider, «Vorwärts»-Redaktor sowie Gross-und späterer
Nationalrat, auf der einen und Staatsanwalt Paul Siegfried und Untersuchungsrichter
Carl Ludwig auf der anderen Seite wurde in Basel der Stellungsbezug zwischen
sozialistischen und liberalen Kräften in dieser Frage deutlich sichtbar.28 Dass es gerade
Carl Ludwig sein würde, der vierzig Jahre später mit dem Ludwig-Bericht die
eidgenössische Flüchtlingspolitik seit 1933 untersuchen sollte, erhebt nachträglich
diesen sonst eher unerheblichen Prozess zu einem Hinweis von Belang.
In die sozial motivierten oder psychisch strukturierten Judenfeindschaften spielten
weltanschauliche Begründungen, religiöse Vorgaben oder politische Taktiken hinein.
Dies wurde 1892/93 offenkundig in der Kampagne von Schweizer Tierschutzvereinen
für das Schächtverbot, das verfassungsrechtlich eine Betäubungspflicht vorschrieb,
deren genauere gesetzliche Auslegung bis heute keine Harmonisierung mit der
rabbinischen Auslegung der Schechita erlauben konnte. Der politische Erfolg der
Initiative von 1893, gegen die sich Bundesrat wie National- und Ständerat ausgespro-
chen hatten, liess sich nicht allein mit den redlichen Motiven der Tierschützer erklären.
Immerhin waren an der europäischen Tierschutzbewegung auch zahlreiche und nam-
hafte Juden, von Lewis Gompertz bis Max Horkheimer, beteiligt.29 Selbst in der
talmudischen und rabbinischen Tradition des Judentums, die dem allgemeinen Ver-
ständnis der christlichen Umwelt archaisch vorkam, war der Tierschutzgedanke von
Anfang an eingeschrieben.30 Doch der Ton der eidgenössischen Tierschützer blieb bar
jeden Verständnisses, und die rigorose Forderung wirkte judenfeindlich in der gesam-
ten Absicht. In die Diskussionen und das deutliche Abstimmungsresultat gesellten sich
zahlreiche Stimmen, welche mit einem Ja zum praktischen Schächtverbot ihrer juden-
und fremdenfeindlichen Einstellung Ausdruck geben konnten. Zu einem ähnlichen
Urteil ist ein für jüdische Belange zwar aufgeschlossener, aber in politischen Interpre-
tationen sehr vorsichtiger Rechtsexperte wie William E. Rappard gekommen.31
Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund war 1904 vornehmlich als Instru-
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN 37

ment gegründet worden, mit dem das Schächtverbot in einheitlicher Breite auf Bundes-
ebene bekämpft werden sollte. Doch droht eine auf die inneren Vorgänge verkürzte
Abwehr von der Dialektik abzulenken, die einen geschärften Blick für die Aussenpolitik
verlangen würde. Denn die Schächtkampagne ist als antisemitische Äusserung nur
verständlich, wenn sie im Rahmen der allgemeinen Judenfeindschaft gesehen wird.
Was dahinter steckte, hat Friedrich Külling in seiner Analyse als eigentliches Ziel
hervorgehoben, nämlich den Einwanderungsstop für die Juden, insbesondere die
Ostjuden. Weitere Forschungen haben diesen Befund bestätigt.32 Auch im Ausland ist
die Schächtfrage als Fremdenfrage interpretiert und als schweizerische~ Ausdruck
antisemitischer Politik verstanden worden.33 In den meisten Ländern, die eine juden-
diskriminierende Politik praktizierten, diskutierte oder beschloss man Schächtverbote
oder erschwerte Einbürgerungen, das heisst Methoden, sich dem Risik oder Kritik von
andern Staaten durch indirekte oder versteckte Massnahmen zu entziehen.
Einen Schritt weiter ging man nach dem Ersten Weltkrieg, als die meisten Staaten
mit fremdenpolizeilichen Regimes zur Kontrolle der Ausländer einen deutlichen Vor-
behalt gegenüber der früheren und vom Liberalismus geprägten Freiheit der Niederlas-
sung setzten. Auch hier wird in keinem Fall eine historische Betrachtung die Dialektik
von Innen- und Aussenpolitik vernachlässigen dürfen. Die Schweiz lag ganz im
europäischen Trend. Die Abwehr des Juden, zumal des fremden Juden, als Leitmotiv
des eidgenössischen Antisemitismus ist auch der Bezugspunkt für die judenfeindliche
Flüchtlingspolitik seit 1933. Nichts könnte den Zusammenhang zwischen antisemitisch
bestimmter Fremdenfeindlichkeit und Flüchtlingspolitik besser verdeutlichen als die
Begründung, mit der die Justizbehörde beim Bundesrat im März 1938 Massnahmen
beantragte: «Wenn wir einer unseres Landes unwürdigen antisemitischen Bewegung
nicht berechtigten Boden schaffen wollen, müssen wir uns mit aller Kraft und wenn
nötig mit Rücksichtslosigkeit der Zuwanderung ausländischer Juden erwehren, ganz
besonders von Osten her.» 34 In dieser Begründung wird der verquere Charakter eines
verschweizerten Antisemitismus sichtbar: Nicht der «ausländische» Antisemitismus
ist zu bekämpfen, sondern die fremden Juden sind abzuwehren. Von Interesse ist hier
auch die Beobachtung, dass nach 1935, angesichts der zunehmenden Propaganda und
Druckversuche des Nazistaates auf die Schweiz, an die Stelle des Juden das Bild des
nazistischen Deutschen rücken konnte. Der Unterschied bestand darin, dass das Dritte
Reich ein wirklicher Bedrohungsfaktor war, während das schweizerische Judenbild
ein verzerrtes Phantom darstellte.
Das Nebeneinander von Gleichzeitigem und Ungleichzeitigem, das in der liberalen
Bürgerwelt als Kampf zwischen Fortschritt und Reaktion artikuliert wurde, existierte
in der Schweiz durchaus, wie in den grossenbenachbarten Industrienationen West-
europas. Jedoch war die politische Funktion des Antisemitismus, im Unterschied zu
Frankreich oder Deutschland, anders akzentuiert. Erstens entwickelte die Schweiz
keinen autochthonen oder originär schweizerischen Antisemitismus, der eine eigen-
38 1. KAPITEL

ständige Ideologieleistung dargestellt hätte. Dann stand der anfangliehen Stilisierung


von Judenfeindschaft zum Zweck sozialpolitischer Instrumentierung bald die dringli-
che Tabuisierung der «Judenfrage» entgegen, die im Interesse kleinstaatlicher
Vermeidungspolitik alles daran setzte, nach aussen als gesellschaftlich intakt zu gelten.
Der Wechsel von der Stilisierung zur Tabuisierung, diebeideein negatives Judenbild
produzieren, ist markant an der Wende von den frühen zu den späteren dreissiger
Jahren, als Folge von Hitlers Machtergreifung und Herrschaftsentfaltung. Aus diesen
Gründen wohnt aller Stilisierung des schweizerischen Antisemitismus ein Hauch von
imitierender und verklemmter Nachäffung des Auslandes inne. Hingegen ist die
Tabuisierung der Juden wie der «Judenfrage» der genuinste Ausdruck einer klein-
staatlich gemilderten Judenfeindschaft, indem eben der Kleinstaat selbst sich vor dem
Geist des grossen Nachbarn fürchten muss.
Verschweizerung des Antisemitismus bezeichnet daher einen doppelten und
gegenläufigen Vorgang, der in den dreissiger und vierziger Jahren zum Vorschein
kommt. Einerseits wurden die antisemitischen Mythen, wie die rassenmässig begründete
Fremdartigkeit oder die angebliche Weltverschwörung der Juden, in stilisierter
Zuschneidung übernommen und weiterentwickelt. Zum andern mussten angesichts der
ausländischen Bedrohung die judenfeindlichen Regungen in neutrale, gemilderte Formen
gelenkt werden. Dieser doppelte Zug resultierte in einer ständigen Beschwichtigung, die
judenfeindliche Politik als angebliche Abwehr des Antisemitismus betrieb. Die klein-
staatliche Spielform erlaubte nur gerade soviel an antisemitischem Wunschtraum, wie in
der vom Ausland begrenzten Enge verträglich war, um dem Land zu dienen. Die Angst
vor einer «Nazifizierung» der Schweiz ist stets als Hintergrund vor Augen zu halten,
wenn von der «Verjudung» der Schweiz die Rede war. Je mehr dies hervortrat, um so
eher war Schweigen zu bewahren, um den Tücken nazistischer Propaganda nicht
Vorschub zu leisten. Dann aber erschien der deutsche Antisemitismus als fremde Angele-
genheit, die sich gar als nützlich den eigenen und flüchtenden Juden gegenüber erwies,
um Druck auszuüben und sich Emigranten vom Leibe zu halten.
Doch wäre es falsch, im Antisemitismus der dreissiger Jahre nur eine kurzfristige
Episode im Zeitalter des Faschismus sehen zu wollen. Die fremdenfeindliche Einstel-
lung gegen jüdische Zuwanderer, aber auch gegen die niedergelassenen Juden, zeigte
sich in der Schweiz bereits seit 1910 auf kommunaler, kantonaler und eidgenössischer
Ebene. Aaron Kamis-Müller und Mare Perrenoud haben Materialien vorgelegt, die
eine Kontinuität judenfeindlicher Vorurteile in Teilen der Bevölkerung und in behörd-
lichen Haltungen seit 1910 belegen.35 Der Antisemitismus ist nicht bloss importierte
Ideologie nach Bedarf, sondern entspringt tatsächlich eigenem Bedürfnis. In Haltun-
gen und Richtlinien von Behörden wurden Juden, als kollektive Erscheinung, durch
einzelne Massnahmen auf eine Weise diskriminiert, der durchaus etwas von einer
schweizerischen Eigenleistung anhaftet. Oft genug geschah dies auch in der immer
wieder gern geäusserten «guten Meinung», damit den Antisemitismus zu verhindern.
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN 39

In zahlreichen öffentlichen Äusserungen, in Presse, Broschüren und Vorträgen, die


das Thema der «Judenfrage» als Problem der Ausländer und ihrer Einbürgerung
anschlugen, taucht diese Argumentation auf. Auf diese Weise liess sich das Judenbild,
unter dem Hinweis auf einen drohenden Antisemitismus in der Öffentlichkeit, in die
Politik der Überfremdungsbekämpfung seit 1910 einbauen. Hier liegt die Genesis der
verschweizerten Spielart, den Antisemitismus als Abwehrinstrument sowohl gegen
das gefährliche Ausland wie gegen dessen Opfer zu verwenden. Am weitesten kulti-
vierten die eidgenössischen Behörden diese geschickte Instrumentierung des Anti-
semitismus als Argument gegen die fremden und flüchtenden Juden. Sie nutzten die in
Teilen der Öffentlichkeit eingeimpften Vorurteile und die von rechtspatriotischen
Kreisen verbreitete Stimmung. Vor allem aber ist es von Bedeutung, weil sich das
Argument nahtlos in die Politik gegenüber den Juden als Flüchtlinge übertragen liess.
Die Mechanismen der Abwehr enthielten also die Dialektik des antisemitischen
Meinens selbst: In die Abwehr des fremden Rassismus ist auch die angeblich fremde
«Rasse» einbezogen. Die Ignorierung des nazistischen Rassismus lief parallel zur
Ignorierung seiner Opfer. Wie man diese ungleiche und widersprüchliche Symmetrie
auch wendet- die Verschiebungen der Frage ziehen immer unangenehme Perspektiven
nach sich. Ob der Antisemitismus fremd sei, blieb eine Frage, die von der Auffassung
abhing, dass auch die Juden schlechthin es sein könnten. Man konnte nicht den
Antisemitismus bekämpfen und den Juden bewundern. Erst der politische Nutzen
oder, im Gegenteil, der innere Widerstand legen dem Meinen eine Unterscheidung
nahe. Weil ein solcher Widerspruch nicht sein darf, bietet sich die Konstruktion einer
hilfreichen Aufspaltung an. In immer wieder neuen Varianten zeigt sie ihr Doppel-
gesicht: derwestliche und der osteuropäische Jude, die fremden und eigenen Juden, die
getauften und ungetauften, assimilierten und unangepassten, guten und schlechten
Juden.
Diese Phantasiefiguren des anständigen und schlechten Juden, die in entfernter
Ähnlichkeit
I
an den barbarischen und edlen Wilden erinnern, erhielten sogar in der
Schweiz handfeste juristische Grundlagen. Wir werden sehen, dass einige Verordnun-
gen über die Einbürgerungen die Osljuden besonders diskriminierten. Entscheidend
aber konnte werden, ob die Schweizer Juden fürchten mussten, dass damit auch die mit
dem Bürgerrecht verbundenen Garantien der Gleichbehandlung aufgerissen würden.
Hier musste der Blick auf staatsbürgerliche und rechtliche Fragen formale Hülle
bleiben, wenn man die gesellschaftlichen und machtpolitischen Realitäten ignorierte.
Der Schweizer Jude fand sich während den zwanziger und dreissiger Jahren in den
Meinungsbildern, vorab in der frontistischen Presse, als nur schlecht assimilierter
Schweizer verunglimpft oder überhaupt als Staatsbürger unerwünscht. Politisch erhielt
die Judenfeindlichkeit dort die grösste Wirksamkeit, wo aussen- und innenpolitische
Risse einander entgegenliefen. Von der antisemitisch geprägten Fremden- und
Flüchtlingspolitik führte die Linie zur gefährlichen Kumulation in einer als eigentliche
40 1. KAPITEL

Judenpolitik anmutenden Haltung des Bundesrates den schweizerischen Juden gegen-


über. Diese haben sich selbst als Opfer der eidgenössischen Innen- und Aussenpolitik
empfunden. Zunehmend drohten ihnen die Begriffe als austauschbar zu erscheinen:
Der Fremde konnte ebensogut der ausländische Jude sein wie der Jude mit schweizeri-
schem Bürgerrecht.
Die antisemitische «Judenfrage» in der Schweiz während den dreissiger und
vierziger Jahren ist letztlich das Resultat der kulturellen Krise seit der Zäsur von 1918.
Als latentes antisemitisches Potential wurzelt der Antisemitismus aber in einer Zeit
weit vor 1918- und wirkte auch über die Schwelle von 1945 hinaus. Erst in der
Stunde, in der der Frontismus seine Chance ergriff, nahm diese Diskussion Formen des
ungefilterten Judenhasses an, insbesondere in den Weltbildern von faschistischen oder
nationalistischen Organisationen, von Bürgerwehren, vaterländischen Aktionen und
frontistischen Bünden, die offen mit judenfeindlichem Anstrich auftraten. Der Wandel
von Mentalitäten dauert lange und weist auf Entstehungszeiten hin, während denen der
Sprung von lange anhaltenden Regungen zu den scheinbar plötzlichen Ausschlägen
der geschichtlichen Stunde vorbereitet wird. Gerade ein jüdischer Schriftsteller wie
Kurt Guggenheim hat in seiner Chronik der Schweiz mit der Romanfigur des Histori-
kers Karl Gebhardt diese Spannung zwischen Stimmung und Ereignis, zwischen
Wandel und Umschlag zum Ausdruck gebracht.36
Chronologische und diachrone Momente kumulierten am Vorabend des Zweiten
Weltkrieges. Die über mehrere Jahrzehnte unterschwelligen Windungen und die bald
laut geäusserte Juden- und Fremdenfeindschaft wirkten nun wie eine eiternde Beule.
Unter der zunehmenden Bedrohung von aussen dämmerte einem Teil der Öffentlich-
keit die Gefahr des eigenen Antisemitismus endlich als eine Infragestellung der
nationalen Identität und moralischen Integrität herauf. Das zeigen auch die politischen
Ernten der Fronten, die nach Anfangserfolgen in kantonalen Wahlen auf nationaler
Ebene einbrachen. Die Mehrheit der Bevölkerung hielt, so lässt sich gesamthaft
urteilen, an einem mehr oder weniger liberalen Menschenbild fest und liess sich an den
Urnen nicht zu einer antisemitischen Partei ziehen. Die bürgerlichen Parteien nutzten
das Protestpotential der Fronten für ihren Rechtskurs. Und die Sozialdemokraten
festigten im Zuge ihrer politischen Neuorientierung während den dreissiger Jahren die
Abwehr des Antisemitismus. Die deutliche Ablehnung des Antisemitismus war zahl-
reichen mutigen Köpfen und beherzten Bürgern zu verdanken, auch wenn man eine
anhaltende Debatte gerne vermied. Nicht zuletzt betonte die jüdische Abwehr und
Aufklärung immer wieder die Gefahr für das demokratische Erbe, das von 1933 bis
1945 herausgefordert wurde. Die antisemitischen Gefühle und Argumente aber leb-
ten - trotz den allzu schnell entsorgten Affären über Frontismus oder Flüchtlings-
politik- noch weit über 1945 hinaus im Innenraum der Mentalitäten weiter.
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN 41

ANTISEMITISMUS ALS AUSDRUCK DER KULTURELLEN UND


POLITISCHEN KRISE:
STILISIERUNG UND TABUISIERUNG DER <dUDENFRAGE>>

Die antisemitische Mentalität von einzelnen Beamten und Politikern, die erst im
nachfolgenden Abschnitt beschrieben wird, entsprach einem Krisenbewusstsein, das
in der Öffentlichkeit latent vorhanden war oder publik geäussert wurde. Was fremd
oder neu oder ungewohnt erschien, wurde in Teilen der Bevölkerung schnell beargwöhnt.
Man fürchtete in einer Welt, die wirtschaftlich unsicher war und kulturell Auflösungs-
erscheinungen zeigte, um die eigene Identität. Die Skepsis gegenüber der Modeme
wurde nicht laut, aber doch deutlich geäussert. Auch der Antisemitismus als neue
Erscheinung erschien meist diskret und in sicheren Grenzen. Wenn gewisse Kreise
wiederum eine «Judenfrage» auch für die Schweiz herbeiredeten, so offensichtlich
deshalb, weil sie eine «Judenfrage» stilisieren wollten. Denn gemessen an den Tatsa-
chen, das heisst der marginalen Zahl der Juden in der Schweiz, war hier der
Antisemitismus noch mehr als andernorts auf Konstruktionen angewiesen. Die «Juden-
frage» der Antisemiten wie ihrer Claqueure und Nachschwätzer war ein Produkt, das
nur durch Stilisierung der «Judenfrage» existieren konnte. Erst dies hauchte der
geistigen Provinz eine Wichtigkeit ein, die den Antisemiten eine Legitimierung zu
verschaffen schien. Das Produkt selbst blieb bar jeder Originalität.
Auf der andem Seite war dem Schweizer solche Stilisierung fremd und verdächtig,
besonders wenn sie aus dem bedrohlich gewordenen Ausland stammte. Dies hiess
keineswegs, dass Ambivalenzen gegenüber dem Juden oder auch Judenfeindschaft
nicht existierten. Aber über das negative Judenbild hinaus legte die nüchterne Skepsis
gegenüber den deutschen Mythen oder französischen Moden eine Tabuisierung der
«Judenfrage» nahe. Hinter der Folie der «Judenfrage» erschien zum Beispiel bald
einmal das deutseh-nationale «Germanentum», dem einige Intellektuelle in der Schweiz
auch eine alpine Variante abzugewinnen suchten. Das Gefühl, man habe es in Deutsch-
land mit einer Kultur von romantischer Unergründlichkeit und geistiger Überlegenheit
zu tun, liess aber den eigenen Holzboden als viel sicherere Grundlage erscheinen. Die
eigene «Judenfrage» wurde in den klein- oder grossbürgerlichen Sack gesteckt, wo
man sie immer noch herausziehen konnte, wenn sie sich als richtig oder nützlich
herausstellen sollte. GleichZeitig legte die aggressive Instrumentierung des Antisemi-
tismus der deutschen Aussenpolitik nahe, möglichst keine «Judenfrage» in der Schweiz
zuzulassen. So sind also Stilisierung und Tabuisierung konstitutiv für den schweizeri-
schen Antisemitismus.
42 1. KAPITEL

Kulturelle Polarisierung

Hinsichtlich der Tabuisierung beschreibt in einem Aufsatz Golo Mann den


Antisemitismus der Schweizer als überaus diskret und in sicheren Grenzen gehalten.
Sein Vater Thomas Mann soll, nach Auskunft von J. R. von Salis, im bürgerlichen
Zürich nicht eingeladen worden sein, weil seine Frau Jüdin war. 37 Kurt Guggenheim
hat mit der Sensibilität des literarischen Chronisten diese feindlich schweigende Dis-
kretion weniger auf den bürgerlichen Antisemitismus allein bezogen. Er beschreibt ihn
als einen Fehlschluss, als psychisches Muster hergebrachter Tradition, indem der
Kleinbürger in fremden Erscheinungen eine Gefährdung des Eigenen wahrnimmt. An
anderer Stelle, im Roman Wir waren unser vier, beobachtet Guggenheim den Charak-
ter dieser Abwehrhaltung genauer. 38 Es ist gerade die Figur des jüdischen Biologen
Glanzmann, der die diskrete oder verborgene Seite der Judenfeindschaft entdeckt und
umschreibt. «Nicht dergleichen tun» meint im Roman den Ausdruck jener inneren
Ambivalenz, mit der auch die gefährliche Versuchung und der zersetzende Einfluss
des Nazismus abgewehrt wird. Diese Bannformel des Älplers, die Guggenheim dem
Umer Sagenforscher Karl Renner entlehnt, kann freilich gegen alles Unangenehme
gerichtet sein und ist damit politisch deutungsbedürftig. Friedrich Dürrenmatt teilt uns
die gleiche Ambivalenz und Schweigsamkeit mit, diesmal aus der Welt des bäuerlich-
gewerblichen Milieus, das sich im dörflichen Ernmental fest in der christlichen
Ordnungswelt verankert weiss. «Der Antisemitismus wurde nicht besprochen, man
war zwar nicht antisemitisch, aber auch nicht judenfreundlich», heisst es bei einer
sonntäglichen Diskussion um die Frage, ob Hitler Christ sei oder nicht, «am Anti-
semitismus waren die Juden selber schuld, und im übrigen geisterte auch in der
Schweiz das Schlagwort vomjüdischen Bolschewismus herum». 39
Über unausgesprochen ambivalente oder judenfeindliche Haltungen berichten aber
nicht nur so unterschiedliche Schriftsteller wie Mann, Guggenheim und Dürrenmatt
aus ihren Lebenswelten. Die Literatur selbst ist zur Genüge als Trägerin antisemitischer
Haltungen verstanden worden. Kulturelle Produktionen der dreissiger und vierziger
Jahre sind mehrfach nach dem Kriterium antisemitischer Motive befragt worden.
Romane wie der Schweizerspiegel von Meinrad Inglin oder Eine deutsche Wander-
schaft von Jakob Schaffner enthalten antisemitischen Leim auf unterschiedlichem
Grund. Sie sind auch nicht die einzigen Werke aus dem Jahrzehnt von 1929 bis 1939,
die judenfeindliche Regungen vortragen. Die Romane von weniger bedeutenden Au-
toren wie Cecile Loos und Otto Wirz oder, in der französischen Schweiz, von Rene de
Weck, Bemard Barbey, Lucien Marsaux, Uon Savary, Uon Bopp, Pierre Girard und
Robert de Traz, enthalten teilweise antisemitische Züge oder ambivalente Motive auf
unterschiedlichem Hintergrund. 40 Unterschwellig geäusserter oder offensichtlicher
Antisemitismus ist auch in Stereotypen von Filmrollen oder Filmproduktionen als
Ganzes ausgemacht worden. 41
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN 43

Es würde den Rahmen dieser Untersuchung bei weitem sprengen, hier den
Antisemitismus in den einzelnen Medien oder Kulturinstitutionen zu analysieren.
Angemerkt werden kann nur, dass in kulturelle Identitäten und Produktionen sehr
verschiedene Fragen hineinspielen. Berufsneid und innere Überzeugungen können
ebenso Ursache sein, dass das kulturelle Malaise oder Unbehagen an Technik und
Gesellschaft auf den Juden abgeleitet wurde. Dazu kommt das Judenbild in Leistungen
von Schweizer Kulturschaffenden, aber auch das Selbstbild von kulturschaffenden
Schweizer Juden, die mit Edmond Fleg, Albert Cohen, Josue Jehouda und Kurt
Guggenheim einiges Gewicht besassen. Wissenschaftliche Leistungen, die oft zu
populären und auch negativen Erklärungen des jüdischen Erfolges führten, müssten
genauer auf die sozialen Bedingungen zurückgeführt werden. Die jüdischen Urheber
von kulturellen, publizistischen oder wissenschaftlichen Produktionen bedurften allein
durch ihre berufliche Existenz einer öffentlichen Legitimierung und setzten sich
natürlich mit ihrer Arbeit der allgemeinen Kritik aus. Gründe und Nenner, dass in der
Kultur die jüdische Gruppe sich als Objekt besonders eigne, latente gesellschaftliche
Unlust und Feindseligkeit anzuziehen, sind von Eva Reichmann beschrieben worden. 42
Die kulturelle Polarisierung, wie sie in Deutschland und Frankreich um die
Jahrhundertwende zu beobachten ist, lebte in der Schweiz mit der üblichen Verspätung
in den zwanziger und dreissiger Jahren auf. Judenfeindschaft äusserte sich nicht mehr
unterschwellig, sondern suchte das Tabu laut zu brechen, wenn auch diese Heftigkeit
nur kurzatmig war. In den dreissiger Jahren äusserten die Fronten in Form eines
Radau-Antisemitismus ein seit langem angelegtes Unbehagen, nicht zuletzt gegen die
angeblichen «internationalen Kulturjuden» in freien und akademischen Berufen. Wir
werden noch genauer darstellen, dass nicht wenige junge Intellektuelle sich vom
Frontismus oder den dahinterstehenden ideologischen Angeboten angezogen fühlten.
Doch auch hier wieder die merkwürdige Mischung von Tabuisierung und Stilisierung:
Für den kulturell gehobenen Schweizer galt es nicht als fein, für den patriotischen
Geist gar als «unschweizerisch», sich mit den lärmigen Radau-Antisemiten einzulas-
sen. Man hatte feinere und bedeutsamere Codes: Antisemitismus war also beileibe
kein Kompliment, doch dies brauchte nicht zu bedeuten, dass in Gesprächen über
Juden nicht die vertrauten und handlichen Symbole der Ablehnung assoziiert wurden.
Ob nun offen debattiert oder sorgsam verdrängt, ob stilisiert oder tabuisiert - die
Judenfeindschaft oder ihre Ablehnung war als Thema angeschlagen. Das Bekenntnis
zur Judenfeindschaft kann mit Shularnit Volkov dahingehend gedeutet werden, dass
der Antisemitismus zu «einem Signum kultureller Identität, der Zugehörigkeit zu
einem spezifischen kulturellen Lager» wurde. 43
Bemerkenswerte Beispiele der kulturellen Polarisierung auf dem Hintergrund der
nazistischen Begünstigung bieten uns die Schweizer Psychologen und Psychiater.
Gerade hier wurde mit sehr viel weniger feinen Mitteln gefochten als in den politisch
orientierten Kreisen, die sich angesichts der «Judenfrage» nur in Andeutungen und
44 1. KAPITEL

Rücknahmen unterhielten. Der bekannte Zürcher C. G. Jung faselte offen von einer
deutschstämmigen Psychotherapie und forderte eine Unterscheidung zwischen
«arischer» und jüdischer Psychologie. Die Juden hätten, psychologisierte der Psycho-
loge, als physisch schwächere eine Eigentümlichkeit mit den Frauen gemein, indem
sie auf die Lücken in der Rüstung des Gegners zielen müssten. Das «arisch Unbewusste»,
als kostbares Geheimnis des germanischen Menschen, hingegen assoziierte er mit dem
schöpferisch Männlichen. Jungs Flirt mit dem Nazismus fand seinen Höhepunkt in
seinem berühmt-berüchtigten Aufsatz «Zur gegenwärtigen Lage der Psychotherapie»,
1934 erschienen im Organ der neuorganisierten und von Juden «gereinigten» deut-
schen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie, deren internationalen
Dachverband Jung präsidierte. 44 Jung edierte noch bis 1940, während sieben Jahren
also, das von Hermann Görings Bruder Mattbias Heinrich kontrollierte Zentralblatt für
Psychotherapie und ihre Grenzgebiete. 1934 kritisierten ihn die Schweizer Psychiater
Gustav Bally und sein Schüler Gerhard Adler dafür massiv, unter anderem in der
Neuen Zürcher Zeitung. Jung reagierte mit einer öffentlichen Erwiderung und in
privaten Briefen. Dies alles fand in der jüdischen Presse, die neue Disziplinen wie
Psychologie oder Soziologie gerne als jüdische Pionierwissenschaften auswies und
zugleich eine antisemitische Reaktion fürchtete, eingehend Beachtung. Im gleichen
Jahr hatten die Freudianer, die Jung offensichtlich als Anhänger einer «minderen
jüdischen Psychologie» verunglimpfte, in Luzern ihren 13. Internationalen Kongress
abgehalten. 45
Hier ist nicht der Ort, über Jung zu urteilen, schon gar nicht über seine Analytische
Psychologie als eigenständige Leistung. Auch seine Beziehung zu Sigmund Freud,
über die schon viel gesagt und geschrieben worden ist, kann nicht erörtert werden. Die
Spaltungen innerhalb der mehrheitlich von Juden getragenen psychoanalytischen Be-
wegung, das gesamte Schisma also, das mit den Namen von Freud, Jung und Alfred
Adler verbunden ist, richtete sich gegen die Betonung der Sexualität und der Neurosen-
lehre im Freudschen Menschen- und Kulturbild. Im Bruch zwischen Jung und Freud
spielte zudem auch die Affäre Jungs mit seiner russisch-jüdischen Klientin und Ge-
liebten Sabina Spielrein eine Rolle. Jungs spätere Erklärungen, die wohl viele als
Rationalisierungen bezeichnen würden, sind allgemein zugänglich; daraus erhellt sich,
dass Jung kein Antisemit im üblichen Sinne des Wortes war, wenn er beispielsweise
von einem ethnisch vererbten «kollektiven Unbewussten» sprach. 46 Doch über alle
diese persönlichen Zwiste und psychologischen Lehren hinaus kommt man bei grösster
Zurückhaltung in der Beurteilung nicht darum herum, Jungs Äusserungen und Hand-
lungen auf dem zeitgeschichtlich-politischen Hintergrund sowie dem negativen Juden-
bild der christlich-abendländischen Kultur zu sehen. Der Skandal von 1934 ist ein
prominentes Dokument für den in der Schweiz besonders tabuisierten und nun aus
dem gesellschaftlichen «Unbewussten» hervortretenden Antisemitismus, der hier auf
dem Hintergrund des städtisch-protestantischen Milieus von Zürich erscheint. Im
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN 45

weiteren werden übrigens Jungs «kollektives Unbewusstes» und die damit zusammen-
hängenden Momente der mythologischen Projektion sowie der analytischen Situation
selbst zum Gegenstand der sozialgeschichtlichen und psychologischen Analyse.47
Zum Fall Jung gesellte sich der medizinisch-biologische Ansatz von Psychiatern, die
seit 1900 schon auf der Vererbungslehre aufbauenden Theorien anhingen oder sie
massgeblich förderten. Hier erscheint die kulturelle Polarisierung naturwissenschaftlich
legitimiert. Bekannte Forscher, wie Auguste Forel, Eugen Bleuler oder Ernst Rüdin,
postulierten eine zweigeteilte Gesellschaft aus gesunden und kranken, nützlichen und
gefährlichen Elementen. Eugenische und rassenhygienische Ansätze stammen also nach-
weislich aus der Schweiz. Dabei wäre es einem Mann wie Forel, der mit Louis Ruchonnet
gegen das Schächtverbot von 1893 sowie gegen die antisemitischen Pogrome in
Russland aufgetreten war, selbst nie eingefallen, sich als «antisemitisch» zu verstehen.
Die biologistische Sicht in der psychiatrischen Diagnostik führte dazu, dass Schweizer
Psychiater von deutschen Rassenpsychologen gerne zitiert wurden oder auch persönliche
und institutionelle Beziehungen zu ihnen unterhielten.48 All dies signalisiert, dass im
Bereich der positivistischen Wissenschaften das kulturelle Malaise in der Schweiz,
besonders die Angst vor «Überfremdung» oder eine kleinstaatliche Resignation, empfun-
den wurde und nach «eugenischeD> Korrektur und anderen Ableitungen rief.

Presse und Publizistik

Werfen wir nun einen Blick auf die Presse, die in der Schweiz damals noch sehr viel
mehr aus «Meinungspresse» und Parteizeitungen bestand als fünfzig Jahre später. Für
Schweizer Blätter stellt sich die Frage, wieweit sie der Stilisierung einer «<udenfrage»
erlagen und sie unbedacht oder gar mit Absicht verbreiteten. Dies ist aber wiederum
mit dem Auslandbild verknüpft, das heisst mit der deutschen «Judenfrage», wie sie in
der Schweiz wahrgenommen und kommentiert wurde. Hier kam die Tabuisierung voll
zum Zuge. Nicht nur hatten Schweizer Zeitungen zur «Judenfrage» oft gar keine
Meinung, indem sie Nachrichten kommentarlos im Raum stehen Hessen, sondern sie
suchten auch möglichst ohne Einfluss auf das antisemitische Meinen selbst zu sein.
Wenn der Lärm der Tagesereignisse verklungen war, Überliessen viele Zeitungen ihren
Lesern die Diskussion jenseits der gedruckten Mitteilung. Die «<udenfrage» und der
damit kaunotierte Nazismus war weniger eine Angelegenheit der gedruckten Argu-
mente als vielmehr des gesprochenen Wortes. Er mochte an Stammtischen, während
Arbeitspausen oder in intellektuellen Zirkeln nachwirken, nicht aber eine Debatte für
Zeitungen abgeben, selbst wenn man sich als volksnaher Meinungsträger verstand.
Wo die über mehr als ein Jahrzehnt aktuelle «Judenfrage» in den Zeitungen
thematisiert erscheint, spricht aus den spärlichen Kommentaren ein völlig falsches
Bild, bei dem Ursachen und Folgen verwechselt werden.
46 1. KAPITEL

Eric Dreifuss hat auf die unangemessenen Kommentare der liberalen, konservati-
ven und mittelständischen Presse in den dreissiger Jahren hingewiesen. 49 Die Ein-
schätzungen waren kaum geeignet, die antisemitischen Stilisierungen und den Charak-
ter der Schlagworte zu durchschauen. Kennzeichnend war insgesamt, dass im Verlauf
des Jahrzehnts, als der Nazismus und Frontismus den Antisemitismus zum Politikum
erhoben, die schweizerische Presse sich zur «Judenfrage» nur gedämpft äussem woll-
te. Die spärliche Missbilligung der Formen deutscher Judenpolitik in den Jahren vor
1938 brauchte aber nicht zu bedeuten, dass man dem «Problem» keinen Sinn abgewin-
nen konnte und über die «Judenfrage» im eigenen Land nicht nachdachte. Nur tat man
dies nicht laut, um Parallelen zwischen der deutschen und schweizerischen «Juden-
frage» zu vermeiden. Zum andem drückte das Schweigen weitgehende Verlegenheit
aus oder sogar stille Genugtuung über das Schicksal der Juden im Ausland. Dies muss
Vermutung bleiben. Die öffentliche Meinung in Leserbriefen oder gar Leserbefragungen
spiegelte aber Auffassungen, die teilweise ein Judenproblem in der Schweiz als
gegeben betrachteten, selbst in der liberalen Presse.
Eine öffentliche Befragung der Leserschaft ergab 1936 im ländlichen Ernmental
ein Verhältnis von 5: 1 zugunsten einer antisemitischen Parteinahme.50 Entgegen dieser
vereinzelt gebliebenen Thematisierung fehlt überall in der Tagespresse, selbst als die
frontistische Hetze dies nahegelegt hätte, eine deutlich fassbare Stellungnahme. Die
Widerlegung der Existenz einer schweizerischen «Judenfrage» als künstliche Stili-
sierung, wie es in der Basler National-Zeitung mit statistischen Materialien versucht
wurde, war in diesem Umfang eine Ausnahmeerscheinung. Andeutungsweise wurden
die Ursachen für den Antisemitismus ins nahe Ausland verschobenY
Erst die Wucht der nationalsozialistischen Judenverfolgungen machte eine Bericht-
erstattung unumgänglich, ohne dass aber eine Kommentierung zwingend geworden
wäre. Mit andem Worten, die Beurteilung des Antisemitismus im Inland hinkte im
Bewusstsein der Öffentlichkeit hinter den Tatsachen und Gefühlslagen nach, selbst
wenn diese nebensächlich schienen. Immerhin hätte man erwarten können, dass der
kurzlebige Aufschwung der Fronten und die zunehmende Propagierung eines
helvetischen Antisemitismus mehr Stellungnahmen nahegelegt hätten. Erst der soge-
nannte Berner Prozess vermochte in der Presse ein grösseres Echo auszulösen, aber
auch hier werden wir (im Kapitel über die jüdische Abwehr) sehen, dass nach 1936
zunehmend die Karte der Tabuisierung gespielt wurde.
Im Gegensatz zu den Zeitungen scheinen Broschüren und Pamphlete antisemitischen
Zuschnitts das Bedürfnis nach Aussagen über die «Judenfrage» eingehender befriedigt
zu haben. Nach Carl Albert Loosli, der sich als Kämpfer gegen die Judenfeindschaft
einen Namen machte, wurden in den zwanziger Jahren die judenfeindlichen Schriften
ziemlich eifrig gelesen. Loosli wie die jüdische Presse merkten aber anfangs der
dreissiger Jahre an, dass sie sich nicht zu öffentlichen Kundgebungen oder Tat-
handlungen verdichten konnten. 52 Die judenfeindliche Stimmung kumulierte anfangs
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN 47

der dreissiger Jahren in einzelnen Taten, und die propagandistische Hetze führte zu
Pöbeleien, Friedhofschändungen und Petardenanschlägen auf Synagogen. Auch hier
wieder erscheinen Stilisierung und Tabuisierung verschränkt: Beunruhigend waren
weniger die einzelnen Taten als die Indifferenz gegenüber den Tathäufungen. An ihren
Versammlungen und Tagungen mussten die Schweizer Juden wiederholt feststellen,
dass einzelne Behörden und die Presse die Fälle von Beschädigungen, Bedrohungen,
Belästigungen und Verleumdungen ignoriert hatten. In der Alarmierung der Öffent-
lichkeit fühlten sie sich oft allein gelassen. 53 Erst das spätere Verbrechen von Payeme,
als der jüdische Viehhändler Artbur Bloch ermordet wurde, summierte 1942 die
langjährigen antisemitischen Hetzen im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu einer
Schreckenstat.
Nochmals muss festgehalten werden, dass die antisemitische Propaganda der
dreissiger Jahre weiter zurückreicht Zum ersten Mal nachhaltige Publizität hatten
antisemitische Argumente bereits in den zwanziger Jahren erlangt: mit dem
publizistischen Machwerk Der internationale Jude, das der amerikanische Auto-
industrielle Henry Ford in seinen Blättern verbreitet hatte und das nun in deutscher
Ausgabe durch den Leipziger Hammer-Verlag des bekannten Antisemiten Theodor
Fritsch vertrieben wurde. Es erörterte im ersten Band ein anderes antisemitisches
Machwerk, die Protokolle der Weisen von Zion, welche nach 1933 Gegenstand des
Berner Prozesses bilden sollten. Der Bemer Schriftsteller und Journalist Carl Albert
Loosli suchte die Verleumdungen dieser beiden antisemitischen Bücher in seiner
aufklärerisch und kämpferisch angelegten Schrift Die schlimmen Juden zu enthüllen.
Die Kritik hatte aber einen unerwünschten Werbeeffekt Fords Buch fand in Buch-
läden und Bahnhofkiosken der Schweiz reissenden Absatz, nachdem der SIG bei den
Bundesbahnen ein Verkaufsverbot verlangt, aber lediglich ein Auslegeverbot erwirkt
hatte. Während die bürgerliche Presse über diesen Entscheid uneinig blieb, veröffent-
lichten die Schweizerischen Republikanischen Blätter eine Zusammenfassung des
Internationalen Juden in Serie. Damit fanden Argumente aus Fords Buch im Organ
der Schweizerischen Republikanischen Vereinigung, die sich selbst in ihren Richt-
linien einen judenfeindlichen Anstrich verpasst hatten, Gehör bei einer respektablen
Leserschaft. Fords Buch lieferte ihnen die Bestätigung in einem Meinungsbild, das
bereits den Landesstreik und die «Überfremdung» auf die finanzielle Beherrschung
durch eine fremde Rasse zurückgeführt hatte. Danach drängten die Juden, wie die
Republikaner ausführten, in ein internationales und antinationales Fahrwasser.54
Im weiteren taucht, wie dies Aaron Kamis schon anschneidet, hier die Frage nach
der Übereinstimmung von importiertem ausländischen und deutlich schweizerischem
Antisemitismus auf. 55 Zwischen dem importierten und autochthonen Antisemitismus
besteht, meiner Meinung nach, ein viel engerer Zusammenhang als dies erscheinen
mag. Die Rezeption ausländischer Produkte und Aktionsformen beflügelte eigene
Stile und förderte ideologische Nuancen. Vor allem aber stellte der Import keine
48 1. KAPITEL

helvetische Besonderheit dar. Vielmehr finden sich gegenseitigeKopier-und Rezept-


ionsvorgänge in allen europäischen Ländern, in denen sich Antisemitismus verbreiten
konnte. Die antisemitischen Ideen und ihre Begründungen waren viel «internationa-
ler», als dies den nationalistisch gestimmten Antisemiten hätte lieb sein müssen.
Konkret sichtbar war dies in Programmen und Publikationen, in Bücherangeboten und
Schauauslagen, in Kundgebungen und Versammlungen. Es waren nicht bloss deut-
sche, sondern überhaupt ausländische Erzeugnisse, zu denen sich nicht wenige schwei-
zerische Broschüren gesellten. Die Tatsache, dass diese Publikationen in der Schweiz
angepriesen, ausgestellt, vertrieben, gekauft und gelesen wurden, wies auf das offene
Ohr und ein empfängliches Gemüt hin. Beides, Produktion und Rezeption im Ausland
und Inland, hielt die Besorgnis aufmerksamer Geister über den antisemitischen
Broschürenhandel wach, weil er leicht zum Instrument der Politik werden konnten.
Was entscheidend bleibt, sind die Funktionen des Antisemitismus.
Dies wird besonders sinnfällig, wenn wir einige biographische Profile verfolgen.
Die Subjekte und die Funktionen des Antisemitismus sind aufeinander bezogen und
wandelbar. Anstelle der Juden treten, im schlechtesten Fall, andere «Fremde» als
Objekte der Diskriminierung. Oder aus erklärten Antisemiten können, im extremen
Fall, aufgrund sich veränderter Situationen und Einschätzungen auch Philosemiten
werden. Wache Kämpfer gegen die ·Judenfeindschaft haben, im besten Fall, ihre
eigenen Ambivalenzen registriert und sie aussprechen können. So gab Carl Albert
Loosli, der mit Aufklärungsschriften hervortrat, selbst an, in der Kindheit antisemitische
Gefühle gehegt zu haben. 56 Carl Lutz, Schweizer Vizekonsul in Budapest und Dreh-
scheibe bei der Rettung der ungarischen Juden 1944/45, äusserte sich vor 1940
wiederholt in deutschfreundlichen und antijüdischen Tönen, die pietistisch motiviert
waren. 57 Für den inneren Wandel noch illustrativer ist das Beispiel von Johann Baptist
Rusch, Herausgeber der Republikanischen Blätter, die lange nach 1945 wieder eine
«Überfremdung» der Schweiz befürchteten. Rusch, der 1923 eine eigene Serie Über
die Judengefahr geschrieben und sie in einem Sonderdruck publiziert hatte, soll sich
unter dem Einfluss von Loosli aus der antisemitischen Befangenheit gelöst haben.
Rusch verknüpfte in seiner antisemitischen Phase die bekannten Vorurteile des religiö-
sen Antijudaismus, insbesondere der katholischen Spielart, mit Elementen des sozia-
len und politischen Antisemitismus. 58 Zu dieser Verknüpfung eignete sich der
Konspirationsmythos natürlich in besonderer Weise. Nach der nationalsozialistischen
Machtergreifung und später angesichts der Flüchtlingsdebatten in der Schweiz wan-
delte sich Rusch von einem Anhänger zu einem entschiedenen Gegner der
antisemitischen Bewegung. Den antisemitischen Mythos der jüdischen Welt-
verschwörung erachtete er als die «grösste Fälschung des Jahrhunderts», und während
des Prozesses um das Attentat auf den NSDAP-Landesleiter Gustloff in Davos nahm
er einen betont «schweizerischen Standpunkt» ein. Er erachtete den Antisemitismus in
der Schweiz als eine rein deutsche Sache, der im eigenen Land «nie aus dem Volk
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN 49

gewachsen» sei. Von der jüdischen Seite, die Rusch als durchweg «mittelständisch»
einschätzte, ist sein Engagement bald für die Abwehrarbeit des SIG benutzt worden,
und Rusch trat gar als Redner in jüdischen Vereinen auf. 59 Im August 1942 forderte
Rusch dann dezidiert die breite Aufnahme von Flüchtlingen. Er sah darin eine «Ehre
für die Schweiz», weil die Flüchtlinge in einer verrohten Welt mit dem Überschreiten
der Grenze den Glauben an die Humanität des Landes bezeugen würden, eine
Argumentationsweise, die auch der protestantische Theologe Karl Barth vorbrachte. 60
Fassen wir die angeführten Beobachtungen zusammen: Antisemitismus, besonders
in der religiösen und sozialen Spielart, schien in der politischen Öffentlichkeit der
zwanziger und dreissiger Jahre eine durchaus legitime Meinung gewesen zu sein, über
die sich in aller Ehre disputieren liess. Erst im Verlauf der späten dreissiger Jahre
zeigte der judenfeindliche Geist in der helvetischen Flasche das drohende Gesicht mit
den Zügen des Nazismus. Der Antisemitismus begann als Treibmittel eine Sache des
feindlich auftretenden Auslandes zu werden und als solches angesehen zu werden. Die
Ambivalenz den Juden gegenüber, der latente und anfangliehe Antisemitismus, die
scheinbare Ehrbarkeit des Arguments oder eine verheimlichte Judenfeindschaft, die
vorgab, nicht antisemitisch zu sein - all dies schuf ein Bedürfnis, sich angesichts des
aus Deutschland vorgetragenen Antisemitismus abzugrenzen. Die Beschleunigung der
antisemitischen Agitation von aussen verlagerte das Bild des Juden entsprechend von
innen nach aussen: Der «Jude» verschwand aus dem V0rdergrund des Feindbildes, in
den vermehrt der «Emigrant» und «Flüchtling» rückt. Die deutschen und anti-
demokratischen Elemente im politischen Bild der Schweizer und Schweizerinnen
wurden nun als reale Gefahr erkannt. Der Berner Prozess um die Protokolle der
Weisen von Zion und das Fehlschlagen einer Freimaurerverbotsinitiative sind Indikatoren
dieser Trendwende. 61
Freilich bedeutete der neue Bedrohungsfaktor «Deutsches Reich» für die patrioti-
schen Kräfte nicht automatisch, dass man der Erscheinung des Antisemitismus auf die
Spur gekommen oder gar für die jüdische Lage sensibler geworden wäre. Von der
Fähigkeit, die Funktionen des Antisemitismus zu durchschauen oder gar theoretisch zu
analysieren, waren die Träger der Kultur weit entfernt. Bewusst und mit aller intellek-
tuellen Deutlichkeit haben - von der Schweiz aus - nur die international oder kosmo-
politisch orientierten Vereinigungen und Bewegungen den Antisemitismus als
demokratiefeindlich und kulturwidrig verurteilt. Die Resolutionen dieser Versamm-
lungen, von der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit oder den Orts-
gruppen der Schweizerischen Völkerbundsbewegung bis hin zu den Minderheiten-
kongressen in Genf sind von der jüdischen Presse genau beachtet, von der Schweizer
Presse teilweise registriert worden. Selbst Ausführungen aus den Heften der in Bern
und Zürich initiierten Internationalen Panidealistischen Vereinigung wurden in der
jüdischen Presse wiedergegeben. 62
Antisemitismus und Demokratie wurden erst durch die Erfahrung der Jahre 1938-
so 1. KAPITEL

1945 als endgültig unvereinbar und gegensätzlich empfunden. Dass mit Hitler eine
antisemitische Bewegung ans Ruder gekommen war, erschien der Schweizer Presse
zunächst keineswegs als anstössig. Der deutsche Judenboykott vom April1933 wurde
als demonstrative Aktion unterschätzt, hingegen der jüdische Gegenboykott in seiner
Wirkung weit überschätzt. Der gleiche Dualismus, den wir schon in der kulturellen
Polarisierung angetroffen haben, trübte auch das Bild bei der Beurteilung der deut-
schen «Judenfrage». Der bürgerlichen und konservativen Presse erschien in den ersten
Stunden der Nazidiktatur der Judenboykott als Kampfzweier angeblich ebenbürtiger
Gegner, als «Ausschwinget zwischen dem neuen, Deutschland beherrschenden Wesen
und dem internationalen Judentum», was mit dem Titel «Der jüdische Krieg» in
verfehlter Opferphysiognomie gekennzeichnet wurde. 63 In den weiteren Reaktionen
auf die «Judenfrage» des nazistischen Deutschlands wurden gar für eine Reihe ungelöster
Fragen die Juden, und nur die Juden, verantwortlich gemacht. Doch sehr bald
entschwindet in der Presse die «Judenfrage» wieder aus dem Tagesbewusstsein. Wohl
hatte die deutsche Judenverfolgung eine ausführliche Berichterstattung unumgänglich
gemacht. Aber eine grundsätzliche Erörterung, was die vermeintliche «Judenfrage»
bedeute, auch für die Schweiz, fand kaum statt. Der Antisemitismus erschien zuerst
einfach als eine respektable Grösse, dann wie ein respektabler Irrtum, den man
unterschlug. Der Antisemitismus als eine «deutsche Wirklichkeit» hat die Frage nach
den eigenen Möglichkeiten, wie sie in der Tat bestanden, nur verdrängen können.
Im Wahn eines antisemitischen Einzelgängers, wie ihn der über all diese Jahre
hartnäckig aktive Adolf Alt darstellt, zeigt sich das Judenbild ohne die Mechanismen
einer Verdrängung. 64 Alt mischte die Bilder des Juden als Urheber der Revolution in
Ungarn oder als kapitalistische Weltherrscher in seine Suche nach einem inneren
Feind der Schweiz, wo die Eidgenossen am Scheideweg stünden. Er stellt den Fall
eines Antisemiten dar, der die sich ablösenden Tendenzen in der Öffentlichkeit igno-
rierte und mit manischer Eindringlichkeit die alten Stereotypen wiederholte. Aber erst
mit Organisationen judenfeindlichen Charakters, die auf propagandamässige Verbrei-
tung antisemitischer Parolen und Argumente abstellten, erlangten neue Taktiken Ein-
gang in die schweizerische Öffentlichkeit. Sie sind Ausdruck des gleichen geistigen
Wahns, doch die Möglichkeit, dass ein Teil der Gesellschaft jener Jahre dies als
Normalität zu akzeptieren bereit war, bot einen gefährlichen Nutzen. Die frontistischen
Bewegungen entdeckten die Judenfeindschaft als parteipolitisches KampfmitteL
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN 51

DIE ANTISEMITISCHE DYNAMIK DES FRONTISMUS:


IDEOLOGISCHE KOMPONENTEN UND POLITISCHES UMFELD

Die schweizerischen Spielarten des Faschismus entfalteten erstmals eine breitere


Wirkung unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise und des Aufstiegs der deut-
schen und italienischen Faschisten. Diese Ereignisse im Ausland verhalfen den Er-
neuerungsbewegungen der dreissiger Jahre, allgemein als «Fronten» bezeichnet, zu
einer sozial breiter abgestützten Wirkung, der auch die traditionellen Parteien und die
intellektuellen wie politischen Eliten teilweise zu erliegen begannen. Doch der Fa-
schismus in der Schweiz darf nicht als eine zeitlich begrenzte Erscheinung betrachtet
werden, die lediglich von konjunkturellen oder aussenpolitischen Entwicklungen be-
günstigt gewesen wäre. Der Antisemitismus in der Schweiz bildet eine Konstante,
dessen Formenwandel erkennen lässt, dass der Frontismus in seinem Ursprung Teil
der geistigen und politischen Krise zur Zeit des Ersten Weltkriegs war. Die Juden- und
Fremdenfeindlichkeit, die seit 1910 und vermehrt nach 1918 in behördlichen und
öffentlichen Äusserungen festzustellen ist, kann durchaus als Indiz für die faschistischen
Tendenzen gelten. Im Frontismus der dreissiger Jahre entfaltet der Antisemitismus, als
zeitliche und ideologische Konstante, ein neues Gesicht. Es ist der Versuch, den
Antisemitismus als aktionistische Speerspitze nutzbar zu machen. Zugleich wohnt der
Propaganda eine selbsttätige Seite inne, indem die frontistische Ideologie den Anti-
semitismus auch zu einem eigenständigen weltgeschichtlichen Wert erklärt.
Erstmals ist ein gewisser Aktionismus zehn Jahre vor dem «Frontenfrühling»
festzustellen. Eine frühe antisemitische Welle hatte schon im Winter 1923/24 ver-
schiedene Städte der Schweiz erfasst und verebbte im Herbst wieder. Diese sogenann-
te Hakenkreuzwelle von 1923/24 bescherte dem öffentlichen Raum eine Reihe von
Plakaten und Flugzetteln, Schmierereien sowie Belästigungen von jüdischen Passan-
ten. Organisationen, die als Propagandisten einer Judenfeindschaft in Frage gekom-
men wären, lehnten diese Formen als unkontrollierbare Agitation ab. Der Vaterländische
Verband und der Volksbund für die Unabhängigkeit der Schweiz sahen sich jedenfalls
gedrängt, eine Urheberschaft an der antisemitischen Welle zu dementieren. Die
Meinungsmedien brauchten sich weniger zu zieren. Der katholisch-konservativen
Presse missfiel die Form der antisemitischen Welle, sie referierte aber auch eingehend
über angeblich tieferliegende Ursachen, die in den «ostjüdischen Schiebern und Wu-
cherern» ausgemacht wurden. In den Schweizer Monatsheften stritt sich aus gleichem
Anlass Eduard Bioeher mit Leonhard Ragaz über die angebliche «Gier der heutigen
Juden nach Besitz und Macht, ihren Materialismus und Mammonismus, ihren gehässi-
gen Gewaltsozialismus, ihre ätzende und zersetzende Verneinungsarbeit». Die liberale
Presse qualifizierte die Hakenkreuzwelle als ein gefährliches Spiel, dem jede politi-
sche Würde fehle. Die sozialistischen Blätter lehnten Antisemitismus ohnehin ab, und
52 1. KAPITEL

die jüdische Presse verschwieg die ostjudenfeindliche Haltung und interpretierte die
Ereignisse als Ausläufer des deutschen Antisemitismus. 65
Was sich in den Köpfen von zahlreichen Intellektuellen und im Abseits wirkenden
Gruppen um 1918 zusammenbraute und was sporadisch aufflackerte, floss als ideolo-
gisches Gemisch in die Argumente der frontistischen Bewegung der dreissiger Jahre
ein. Hier wurde es als definitive Antwort auf alle drängenden Zeitfragen angeboten.
Der junge Mensch, der in den verfestigten Partei- und Meinungsstrukturen eine
Alternative zum herrschenden Liberalismus suchte, fand sich vor die Wahl zwischen
bolschewistischem Aufbruch und vielversprechender «Erneuerung» im Sinne der
späteren Fronten gestellt. Was in den zwanziger Jahren zum inneren Motivbestand
gehörte, wurde nun als Erwachen einer vermeintlich dritten Kraft deklariert und zudem
durch die Haltung auch etablierter Kreise genährt. Die radikale Rechte hatte bereits seit
1900 Fremdenfeindlichkeit und Antisozialismus verknüpft. Noch während des Landes-
streiks hatten sich örtliche Bürgerwehren oder rechtsstehende Bünde gebildet, aus
denen sich, in einem kaum überblickbaren Wechselspiel, die Erneuerungs- und Fronten-
bewegungen formierten. Diese Fronten verstanden sich als politische und ideologische
Barriere gegen« Weltrevolution und Internationalismus».66
Der Frontismus, wie man diese Opposition retrospektiv nannte, gedieh in den
dreissiger Jahren: Begünstigt durch die soziale und wirtschaftliche Verschlechterung,
die im Vergleich mit dem nahen Ausland freilich sehr gedämpft ausfiel, vermochten
sich die Fronten bis Mitte der dreissiger Jahre zu kleineren, aber koalitionswürdigen
Parteien aufzuschwingen. 67 Ihrem schnellen Verfall in den Jahren vor dem Krieg und
einem erneuten Aufleben im Sommer 1940 folgten nach Ende des Kriegs eine Reihe
peinlicher Prozesse und Abrechnungen. Der Fähigkeit einzelner frontistischer Gruppie-
rungen, sich bis zu höchsten Autoritäten hinauf bemerkbar zu machen, trugen der
Bundesrat und die Bundesanwaltschaft bereits vor und dann während des Kriegs mit
der Amalgamierung autoritärer Ansätze Rechnung. Dies war einerseits als Schutz der
Demokratie gedacht, der von bürgerlichen Kreisen gefordert wurde, andererseits ent-
sprach es der Tendenz zu autoritärer Herrschaft. In der Nachkriegszeit suchten sich
Staat und Öffentlichkeit mit der späten Verstossung von letzten und unangenehmen
Anhängseln des Faschismus zu distanzieren. Dass dabei der Antisemitismus nur
marginaler Vorwurf wurde, trübt das positive Bild der späten Ankläger. 68
Zu den wenigen Gemeinsamkeiten der frontistischen Programme gehörten die
Kritik an der parlamentarischen Demokratie und die Vorliebe für Führerprinzipien.
Korporative anstelle liberaler Wirtschaftsordnungen schienen sowohl den frontistischen
wie einigen katholisch-konservativen Kreisen attraktiv. In der Mystifikation «alt-
eidgenössischer Tugenden» schwelgten nicht wenige Gruppen und ihre Führer. Bünde
aus der militärischen und industriellen Elite bevorzugten die Bestrebungen für eine
rechtskonservative Stabilisierung und die gegenseitige informelle Vernetzung. Andere
Kreise hingen einer nihilistischen Philosophie nach und waren faschistischen Gedanken-
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN 53

gängen zugeneigt. In diesem Mosaik der W erterelativierungen und Erneuerungs-


bedürfnisse war man einfachen Erklärungen der politischen und kulturellen Krise
zugetan, zumal in der wirtschaftlichen Stagnation der Jahre 1929-1936 die
Wirtschaftssubjekte besonders empfanglieh für massenpsychologische Effekte waren.
Um Zukunftsängste zu nutzen oder einfach Stimmung zu machen, boten sich als
Negativfolie die bereits sehr viel früher aufgetischten Anti-Argumente an. Das «inter-
nationale» Denken, zu dem man neben Kommunismus, Liberalismus oder Völker-
bund auch das Judentum zählen wollte, war aus solcher Sicht der diffuse Gegner, auf
den man schon seit 1918 eingeschossen war. Der sozial und wirtschaftlich argumentie-
rende Antisemitismus der zwanziger Jahre erhielt nun eine aggressive Note.
Auch wenn die politischen und programmatischen Grundsätze der verschiedenen
Gruppen differierten und in der sogenannten Frontenbewegung eine Unzahl von
Fraktionen zusammenfanden, so waren doch Antisozialismus und Antisemitismus ihr
verbindendes Kennzeichen. In der frontistischen Rhetorik, mit der man der schweizeri-
schen Nüchternheit die neue Ideologie nahebringen und eingängig machen wollte,
bildete der rassische und soziale Antisemitismus ein wirksames Schwungrad. Die
Fronten brachten die antisemitische «Judenfrage» in neuer Auflage aufs Tapet. Dass
sie die traditionellen Antisemiten mit einem unerwarteten Radau-Antisemitismus über-
holten, ist weniger bedeutungsvoll als die ideologische Gründlichkeit ihrer Behauptun-
gen. Denn viele Zeitgenossen, auch ausserhalb des Frontismus stehende, nahmen die
einleuchtende Interpretation der sozialen und beruflichen Stellung der Juden in der
Schweiz ernst. Hier liess sich angeblich und leicht der behauptete Internationalismus
der Juden anhand schweizerischer Gegebenheiten anprangern. Die frontistische Propa-
ganda gründete auf der systematischen Verwendung gängigen und neuen Redens von
der angeblichen Verjudung des Landes, dem autoritäres Durchgreifen und völkische
Resistenz einer gesunden Schweiz politisch und wirtschaftlich die Stirn zu bieten
hätten. Auf das Argument der beruflichen «Verjudung» wird noch wiederholt einzuge-
hen sein. Dagegen hinterliess der offensichtliche Hetzantisemitismus im Radaustil
beim Publikum einen zunehmend ambivalenten Eindruck, in welchem sich Gefühle
der Befriedigung und Verabscheuung mischen konnten. 69
Zum Umfeld der radikalen Rechten zählen insbesondere der Vaterländische Ver-
band und die Schweizerische Heimatwehr. Sie waren sozial und organisatorisch ver-
schieden, aber beide neigten zu Varianten des Antisemitismus, die ihrem gross- bzw.
kleinbürgerlichen Milieu entsprachen. Zu ihrem ideologischen Mantel gehörte, dass
sie einen antisozialistisch und fremdenfeindlich gefärbten Patriotismus verkündeten
und für eine hierarchische Politik in der Führung des Landes plädierten. So betrachtet
können sie als protofaschistische Gruppen angesehen werden. Sie haben zumindest
den Frontismus begünstigt. Der Vaterländische Verband setzte sich aus militärischen
und wirtschaftlichen Eliten zusammen, die seit dem Landesstreik der Arbeiterschaft in
allen sozial und demokratisch bewussten Regungen eine nationale Gefahr witterten.
54 1. KAPITEL

SCHWEIZERISCHER VATER-
LÄNDISCHER VERBAND (VV):
DIE ANTISEMITISCHE «JUDEN-
FRAGE» ALS WAFFE GEGEN DIE
JUDEN

Der W ging aus militärischen und wirt- drohte der W bei Bundesrat, Armeespitzen
schaftliehen Eliteschichten hervor, die dem und kantonalen Behörden die Frage der
Generationendenken des Ersten Weltkriegs Flüchtlinge und Emigranten zu einer
verpflichtet waren und ihr Hauptaugenmerk <<Judenfrage» zu machen. Der
auf das <<staatsfeindliche Denken>> marxi- Antisemitismus wurde als Waffe gegen die
stischer Organisationen ausrichteten. In Juden selbst genutzt, die Juden als für ihr
antibolschewistischer Fixierung verharrte Unglück selbst verantwortlich bezeichnet. In
der W auch in den dreissiger Jahren, der Öffentlichkeit suchte der W seit 1933
richtete sich während des Kriegs auf die gegen die Flüchtlinge mit unverhohlen
Achse aus und reihte sich nach 1945 im antisemitischen Anspielungen Stimmung zu
Kalten Krieg in die antisowjetische Linie erzeugen. Man stellte einen Zusammenhang
ein. 1947 fand sich der Verband auf die her zwischen linkem Antimilitarismus, den
Anklagebank des Zürcher Bezirksgerichtes Flüchtlingen als <<Landesgefahr>> und der
versetzt, weil die Spitzen des VVüber einen- ---Realität einerschweizerischen-<<Juden~
Verbindungsmann in der Stadtpolizei Zürich frage>>. Die unter patriotischer Bemäntelung
während zwanzig Jahren politische Akten abgedeckte Verknüpfung von <<Judenfrage>>
kopiert und daraus systematisch Namens- und Flüchtlingspolitik stiess 1942 bei
listen und Verdächtigtendossiers angelegt Bundesrat von Steiger auf verständnisvolles
hatten. Im Kampf gegen Kommunismus und Interesse. Als von Steiger im Sommer 1944
Sozialstaat wähnte der W im eigenen sich eine zurückhaltendere Haltung an-
Verständnis, auch gleichzeitig gegen das bequemte, stiess der W bei ihm nochmals
nazistische Deutschland aufgetreten zu sein. wegen angeblichen Belästigungenjunger
Über Jahre mit Rührigkeit zur Spitze der Mädchen durchjüdische Emigranten vor. Er
radikalen Rechten gewachsen, amalgamierte nahm auch einen antisemitischen Vorfall im
der W einzelne Elemente aus der totalitären Lager Sierre zum Anlass, sich über die
Ideologie. W-Gründer Eugen Bircher, Arzt <<Kehrseite der Flüchtlingsfrage>> zu verbrei-
und Militär, huldigte einem vulgären ten.
Sozialdarwinismus und der Idee einer vom
Parlamentarismus gereinigten autoritären Quellen: AFS: 4001 C 1. Nr. 253, Audienzen VV
Demokratie. Als Leiter der schweizerischen bei von Steiger v. 17. 10. 1942 u. 15. 2. 1943:
Ärztemissionen an die Ostfront übersah er dort auch Korrespondenzen zur <<1 udenfrage>> des
aktiv die Vernichtung der Juden. VV mit von Steiger. SIG: Dossier VV der JUNA
Die Bedeutung des W lag im Gewicht (besonders zu den gerichtlichen Prozessen nach
seiner leitenden Gestalten, in der Struktur dem Krieg). Schweiz. Vaterländischer Verband,
seiner Verbandsorganisation mit zahlreichen Aufklärung zur Flüchtlingsfrage, Aarau 1942,
Diensten, in seinem Einfluss weit hinauf in und Lagebericht v. 28. 4. 1945. Über Bircher
die Kommandohöhen ziviler und staatlicher vgl. D. Heller. Eugen Bircher, Zürich 1988, und
Macht und in den Verbindungen zur radika- W. Gautschi, Geschichte des Kantons Aargau,
len Rechten in Deutschland. Wiederholt Baden 1978, Bd. 3, S. 412 ff.
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN 55

Auf den Verband, besonders auf dessen Gründer Eugen Bircher (1882-1956), wird bei
der Behandlung der Flüchtlingspolitik hinzuweisen und die wirkungsvolle Taktik zu
vennerken sein, den Juden die Schuld am Antisemitismus in die Schuhe zu schieben.
Im Gegensatz zu diesem sehr einflussreichen Honoratiorenclub war die politisch
weniger bedeutende Heimatwehr im gewerblich-bäuerlichen Milieu angesiedelt. Als
Gruppe, die bereits in den zwanziger Jahren judenfeindliche Stimmungen aufgriff und
in ihre Ideologie einbaute, war diese kleinbürgerliche Gruppe hartnäckig antisemitisch.
1925, ein Jahr nach der Hakenkreuzwelle gegründet, zielte die Heimatwehr in ihrem
Publikationsorgan Schweizerbanner gegen die jüdischen Viehhändler und glaubte die
Juden als Schuldige für die Bauernnot ausmachen zu müssen. Als Fixpunkte der
Argumentation erscheinen die Juden- und Freimaurerhetzen, die dem deutschen Vor-
bild entstammen, mit einem Beigemisch von Anti-Gefühlen, die Liberalen, Marxisten
und Fremden gleichennassen galten. Wirtschaftliche Neuerungen konnten genausogut
Zielscheiben des Vorurteils sein wie die traditionellen Berufsrollen von Juden. Sogar
drogenpolitische Motive waren darin enthalten, wenn eingehend geschildert wird, wie
im Güter- und Viehhandel die Juden ihre Opfer betrunken machen würden, um sie
dann zu betrügen. 70
In Genf formierte sich, nach zahlreichen Vorspielen in den zwanziger Jahren, die
vorerst auf die Stadtrepublik beschränkte Union Nationale unter der Führung von
Georges Oltramare. Diese aus Wirtschaftsleuten und faschistischen Intellektuellen
fonnierte Partei spielte den Sturmbock gegen die kommunistische Regierung unter
Uon Nicole, der auch 1936 zu Fall gebracht wurde. Danach zerfiel die Union ziemlich
rasch, doch wirkten in der gesamten Westschweiz verschiedene Erneuerungs-
bewegungen weiter, die eine antisemitische Linie erkennen liessen. Im Waadtland
ging aus dem Mouvement du nationalisme vaudois, von Marcel Regamey 1926
gegründet, dieLigue Vaudoise von 1934 hervor, die eine vollständige Souveränität des
Kantons im Auge hatte. Unter dem Banner von Ordnung und Tradition bildeten sich
weitere namhafte Gruppen mit einem stark nationalistischen Einschlag, so die im März
1932 von Nationalrat Henry Valloton gegründete Association Patriotique Vaudoise.
Mitte Juli des gleichen Jahres entstanden in Lausanne und danach sehr bald in weiteren
Städten Sektionen des Front National. Im Oktober 1934 begründete Artbur Fonjallaz
in Lausanne seine Federation Paseiste Suisse, der zwei Jahre später die erweiterte
UnionNationale unter der Führung von Oltramare und Philippe Lugrin Konkurrenz zu
machen begann. 71
Die Ideologie der westschweizerischen Gruppen und Parteien stützte sich auf die
Propagandastücke des bereits erwähnten Charles Maurras, der den Antisemitismus zur
Speerspitze seiner nationalen Aktion gemacht hatte. Maurras als Lehnneister legte
eine ideologische Verbindung von Antikapitalismus, Antimarxismus und Antisemi-
tismus nahe, und seine Schüler akzentuierten dies in ihren nationalistischen Program-
men in der Gegnerschaft zum «Internationalismus», hinter dem die Juden vermutet
56 1. KAPITEL

wurden. Auch die gängige rassenbiologische Begründung des Antisemitismus war in


der Westschweiz bereits rezipiert worden und fand in den Publikationen von Grass
und Oltramare Verbreitung. Zudem war in diese Ideologie die Fremdenabwehr einge-
baut, die in allen Einbürgerungsfragen vorgetragen wurde. Dies alles musste die
angefeindeten Juden im Waadtland beunruhigen.72
Der in Lausanne als Westschweizer Sektion formierte Front National stellte den
namhaftesten Versuch dar, in der ganzen Schweiz eine faschistische Partei aufzubauen.
Vorgängig war 1930 an der Universität Zürich die sogenannteNeue Front entstanden,
eine Studentengruppe aus jungliberalen Kreisen, die sich im März 1933 mit anderen
faschistischen Zirkeln zu einem Kampfbund vereinigte. Diese Nationale Front ging im
September mit den bürgerlichen Parteien eine Koalition für die Wahlen ein. Als gefahr-
liehe Allianz mobilisierte sie auf jüdischer, linker und liberaler Seite eine erhebliche
Abwehr. Die Beunruhigung der antifaschistischen Kräfte blieb auch nach den glanzlo-
sen Wahlen in der Stadt Zürich bestehen, weil nun das Zusammengehen mit rechts-
konservativen und westschweizerischen Kreisen zu Befürchtungen Anlass gaben. Doch
weder in den Wahlen noch mit einer Initiative zur Revision der Bundesverfassung
vermochte die Front gesamtschweizerisch Fuss zu fassen, zumal nun Sozialdemokraten,
Gewerkschaften und Bürgerliche in der Ablehnung der frontistischen Revision auf eine
gemeinsame Linie einschwenkten. Die föderalistische Struktur des Landes, die ambi-
valente Haltung bürgerlicher Parteien sowie die innere Zersplitterung, Intrigen und eine
befremdliche Nachahmung ausländischer Führergestalten liessen die Front nach 1935
abflauen. Zudem entzog die Überwindung der konjunkturellen Stockungsperiode den
faschistischen Bewegungen den wirtschaftspolitischen Boden. Die Rückkehr zu tradi-
tionellen Parteien sowie die neue oppositionelle Sammlung im Landesring der Unab-
hängigen liessen den Frontismus verfallen.
In allen Gruppen artikulierte sich ein agitatorischer Antisemitismus, der auch nach
dem Zerfall ein beunruhigendes Moment für die Schweizer Juden darstellte. Die
Genfer Blätter Homme de droit, unter der Redaktion von Henri-Louis Servettaz, und
Reaction, redigiert von Jules-Emest Grass, bezeichneten sich im Untertitel ausdrück-
lich als «antisemitische» Organe, was ihnen 1935 gerichtlich verboten wurde. 73 In
ihrem Kampfblatt Der Eiserne Besen hatte auch die Nationale Front von Anfang an
den Antisemitismus erstrangig hervorgekehrt und judenfeindlichen Tönen insgesamt
ständig publizistische Präsenz verschafft. Die antisemitische Propaganda dieser Blätter
erblickte im Sozialismus und Kommunismus die gefährlichsten Staatsfeinde und
stilisierte das Judentum zur Triebfeder dieser «internationalen Mächte». In Variatio-
nen erscheinen der «Judeomarxismus>>, der <<jüdische Kapitalismus» oder die <<jüdi-
sche Weltverschwörung» als Sündenböcke für die Probleme der Gegenwart. Tages-
ereignisse wurden mit antisemitischen Klischees für die politischen Ziele nutzbar
gemacht. Willkommene Gelegenheiten zu antisemitischer Agitation boten der Front
auch jüdische Tagungen, die in der Schweiz abgehalten wurden, so der Jüdische
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN 57

Weltkongress von 1936 in Genf und insbesondere die zionistischen Kongresse von
1937 in Luzern und 1939 in Zürich.
Auf dem Platz Zürich erprobten die Fronten ihren Agitationsstil erstmals im
November 1934, als zwei antifaschistische Kulturveranstaltungen über den nazistischen
Terror in Deutschland aufzuklären suchten. Die Aufführungen von Erika Manns
Kabarett Pfeffermühle, in dem Therese Giehse Regie führte, und von Friedrich Wolfs
antifaschistischem Theaterstück «Professor Mannheim», im Schauspielhaus urauf-
geführt, gaben der Front und ihrer Presse Gelegenheit, die deutschen Kampfparolen
aufzugreifen und in aggressiver Weise zu verbreiten. Die Front erprobte den aktionisti-
schen Radau-Antisemitismus, den sie auch während jüdischen Tagungen und sehr
bald gegenüber den jüdischen Emigranten betrieb. Krawalle, Strassenkundgebungen,
Aufmärsche, Schmierereien, nächtliche Telefonanrufe und Flugblätter kennzeichneten
die Agitation, die indessen auf die Wähler keinen Eindruck machte. 74 Die jüdische
Seite wehrte sich mit einem Plakataufruf des SIG gegen die «unschweizerische,
· undemokratische und vor allem ungeistige Weise» des politischen Kampfes und
verlangte ein Verbot antijüdischer Kundgebungen. Die faschistischen Blätter nahmen
dies wiederum zum Anlass, in zynischer Weise als angebliche Verteidiger der freien
Meinungsäusserung aufzutreten. Gleichzeitig fiel das Schlagwort «Juda verrecke». 75
Der lautstarke Antisemitismus der Front stützte sich auf die gängigen ideologi-
schen Konstruktionen, für die sich als Vorbilder die Taktiken des deutschen und
italienischen Faschismus anboten. Die Juden als Ursache aller Übel zu bezichtigen
gelang mit zahlreichen «Belegen»: der «zersetzende» Einfluss des Liberalismus mit
seinen jüdischen Literaten und der Psychoanalyse, der «Kulturbolschewismus» an
Hochschulen und in Massenmedien oder die «sozialistisch» inspirierte Einbürgerungs-
praxis, die mit ausländischen Juden die «alte und gutschweizerische» Tradition zerstö-
re. Die Front konnte für alle diese Themen auf unterschwellig vorhandenen Ambi-
valenzen zurückgreifen, wie sie in halblauten Äusserungen oder öffentlich greifbaren
Publikationen seit 1918 längstens vorlagen. Ihre Methode zielte auf die Dynami-
sierung solcher Stimmungen und eine aktionistische Handlungspublizität ab.
In der Propaganda rührte eine Behauptung, die als vermeintlich objektives Argu-
ment schon in den beiden Jahrzehnten zuvor verwendet worden war, besonders
nachhaltig an. Die Front betonte immer wieder die angebliche wirtschaftliche Sonder-
stellung der Juden, um die offensichtliche Bedeutungslosigkeit des zahlenmässigen
Anteils der Juden in der Schweiz wettzumachen. Das «internationale Judentum» liess
sich auf geschäftlicher Ebene mit der Anrüchigkeit des Profits und der «Verjudung»
von Berufen anprangern, zumal damit der Komplexität weltwirtschaftlicher Vorgänge
ein einfaches Erklärungsmuster unterlegt werden konnte. 76 Besonders wirkungsvoll
setzten sich die Fronten in Szene, als es um die Einbürgerung ausländischer Juden
ging, so eines Direktors der Braun-Warenhäuser. Moritz Bachenheimer, seit 1912 in
der Schweiz und mit der Deutschen Irrngard Sommer verheiratet, wollte sich 1935 im
58 1. KAPITEL

urnerischen Sisikon für gutes Geld «einkaufen», wie man in der Schweiz umgangs-
sprachlich die Einbürgerung bezeichnete. Auf einen gehässigen Artikel in einer Front-
zeitung beschwerte sich der Regierungsrat des Kantons Zürich beim Bundesrat gegen
diese Einbürgerung, wurde aber von Bern belehrt, dass Uri souverän handle. Die
Innerschweizer Gemeinde war auf Geld angewiesen. 77
Mit wirtschaftlichen Argumenten liess sich erfolgreich gegen die «Judeneinbürge-
rung» und besonders gegen die Immigration ausländischer Juden polemisieren. Rigo~
ros führten die frontistischen Parlamentarier und Propagandisten den Kampf gegen die
Einbürgerung und Einwanderung, ja selbst gegen den Aufenthalt jüdischer Ferien-
kinder in der Schweiz. Nicht verschwiegen wurde von der Frontenpresse, dass der
Chef der eidgenössischen Polizeiabteilung die jüdischen Emigranten auf «Zehntaus-
ende» bezifferte. Mit einer angekündigten, aber nie realisierten Verfassungsinitiative
beabsichtigte die Front, die angebliche «Verjudung» der Schweiz zu verhindern.
Dieses monströse Wort fand schliesslich auch Eingang in den Sprachgebrauch der
Behörden, insbesondere der eidgenössischen Fremdenpolizei, die in argumentativer
Übereinstimmung oder stillem Arrangement mit dem frontistischen Antisemitismus
zu sein beliebte. 78 Wir werden noch sehen, dass sogar auf nationaler Ebene ein
«Numerus clausus» für jüdische Einbürgerungsbewerber existierte.
Ohne die gefährliche Dynamik und intellektuelle Potenz der Front, die aus
Akademikerkreisen hervorgegangen war, betrieben weitere Sprösslinge des Faschis-
mus den rassischen Antisemitismus in ideologisch weitreichender Verblendung. Der
von der Frontenpartei im Herbst 1933 abgespaltene Volksbund (VB) orientierte sich
eng am deutschen Nazismus und verstand sich auch als Nationalsozialistische Schwei-
zerische Arbeiterpartei. Aus diesem Honoratiorenclub rechtsbürgerlicher und deutsch-
freundlicher Kreise spaltete sich wiederum die noch kurzlebigere Volksfront ab. Nach
langen Intrigen zwischen einzelnen Führergestalten und angesichts einer sich abzeich-
nenden Zwangsauflösung des Volksbundes durch den Bundesrat erklärte der VB-
Führer Ernst l..eonhardt (1886-1945) den VB als aufgelöst. Nur zwei Tage danach, am
12. Dezember 1938, ging aus dessen Anhängerresten die Schweizerische Gesellschaft
der Freunde einer autoritären Demokratie (SGAD) hervor, die illegale Tätigkeiten
trieb, die Bildung eines der Waffen-SS ähnlichen Korps versuchte und im März 1943
zerschlagen wurde. Mit Ausbürgerungen und Prozessen schloss 1948 das Kapitel
dieser zahlenmässig ungewichtigen, aber militanten Gruppierung. 79
Der Antisemitismus der VB-Gruppen glich in allen Teilen den rassenbiologischen
Begründungen und den daraus abgeleiteten Forderungen des Nazismus: nordische
Rassenzüchtung, Ariergesetzgebung, Vertreibung und Vernichtung der Juden. Dabei
entlehnte der VB, dem es an denkerischer Originalität noch mehr gebrach als seinen
deutschen Vorbildern, alles aus den Lehren von Gobineau, Chamberlain und andern.
Auch die von Oberstdivisionär Emil Sonderegger (1868-1934), Zürcher Kommandant
beim Landesstreik und nun profiliertes Mitglied des VB, bereits früher vorgetragenen
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN 59

antisemitischen Weltanschauungen evozierten ein altes Muster. Seine ideologische


Aufrüstung suchte die hierarchische Ordnung im schweizerischen Staat mit einem
kulturellen Manichäismus zu begründen. In Anlehnung an Oswald Spenglers Theorie
einer zyklisch verlaufenden Geschichte reduzierte Sonderegger das Weltgeschehen
auf den Kampf der «uralten jüdischen und der unsrigen, viel jüngeren» Kultur. Die
«Judenfrage» erschien als grösstes und ungelöstes Menschheitsproblem. Seinen simp-
len Einsichten in die Weltgeschichte schloss Sonderegger dann die Forderungen nach
einem Einbürgerungsverbot für Juden an. 80
Ohne in der breiten Bevölkerung Fuss fassen zu können, wirkte sich die antisemi-
tische Verhetzung durch die frontistischen Agitationen doch bei einzelnen Individuen
oder Gruppen aus. Unter dem Eindruck der Erfolge des Nazismus in Europa kam dies
im Verbrechen von Payerne zum Ausdruck. Dort war im April1942 der Viehhändler
Artbur Bloch von fünf Bürgern, die einer illegalen Gruppe von Frontisten angehörten,
in einen Stall gelockt, erschlagen, ausgeraubt und zerstückelt worden. Die Täter
wurden im Februar 1943 zu lebenslänglichen Zuchthausstrafen verurteilt; ein nazis-
tischer Drahtzieherwurde 1947 mit 20 Jahren Gefängnis bestraft. Die geheime Gruppe
des verbotenen Mouvement national wähnte sich als Scharfrichter an den Juden und
hatte den Mord als Auftakt zu flächendeckenden Terroraktionen gegen Juden und
Synagogen geplant. Über ihren Mord und den illusionären Plan hinaus signalisierte
diese Gruppe mehr als die Existenz einer terroristischen Zelle, die aus deutschen
Quellen mitfinanziert worden war. Das Verbrechen von Payerne war das Ergebnis des
antisemitischen Fiebers, das einen Teil der schweizerischen Öffentlichkeit in verschie-
densten Graden erfasst hatte. Das antisemitische Meinen, in Wort und Schrift während
zweier Jahrzehnte verbreitet, platzte in Payeme auf der Oberfläche eines rassistischen
Antisemitismus, der in jedem Juden die Inkarnation des Fremden sah.81

«NUMERUS CLAUSUS» UND DIE KUNST DER AUFSPALTUNG:


DIE <dUDENFRAGE" ALS FREMDEN- UND FLÜCHTLINGSFRAGE DER
BEHÖRDEN

Im Bundesstaat der Jahre nach der Emanzipation von 1866 war ein antisemitischer
Ton unerwünscht. In der innen- und wirtschaftspolitische Szenerie der Schweiz waren
liberale Prämissen massgebend. Die Schweiz stand in Fragen der Einbürgerungen
nicht bloss unter dem Druck des Auslandes, das ungehinderten Verkehr pflegte,
sondern sie wollte selbst als offenes und fortschrittliches Land gelten. Latente Juden-
feindschaft, besonders bei einzelnen Gruppen, vermochtetrotz Vorbehalten und Vor-
urteilen kaum zu greifen. Vor der Jahrhundertwende konnte sich die Eingliederung der
60 1. KAPITEL

Juden problemlos vollziehen. Die bisher in Dörfern lebenden Juden hatten in der
Schweiz erst begonnen, in die städtischen Zentren zu ziehen. Die «Gründerzeit» des
Schweizer Judentums hinkte dem Aufstieg der Juden in Deutschland und Frankreich
zeitlich nach, lief aber um so schneller ab. 82
Antisemitische Tendenzen, aus denen eine Infragestellung der Emanzipation ge-
sprochen hätte, waren nicht auszumachen. Die verspätete Gleichstellung und Ein-
ordnung und der geringe Anteil der jüdischen an der gesamten Bevölkerung gaben
kaum Anlass, die Juden als Zielscheibe zu wählen. Dies brauchte freilich nicht zu
bedeuten, wie es in der Eisenbahnfrage aufschien, dass eine Instrumentalisierung der
«Juden» zu Zwecken politischer Argumentation oder Demagogie unmöglich schien.
Aber erst die Zuwanderung fremder Juden liess eine antisemitische Haltung rege
werden. Wie bereits erwähnt, war das eigentliche Ziel der Schächtfrage von 1894 die
Abschreckung von einwanderungswilligen Juden. Die Kombination von Immigration
und Urbanisierung schuf eine neue Situation. Die Gleichzeitigkeit oder zumindest
zeitliche Nähe der Einwanderung osteuropäischer Juden und der raschen Migration
der Juden in die Städte weckte antisemitische Tendenzen. Diese nisteten sich in die
allgemeine Fremdenfeindlichkeit ein, wie sie nach der Jahrhundertwende sichtbar
wurde. Die Bevölkerungsentwicklung bot einzelnen Behörden einen vermeintlichen
Anlass, die Frage der «Überfremdung» auch als «Judenfrage» zu profilieren.
Die demografische und bald auch institutionelle Struktur des schweizerischen
Judentums war indes schon immer von Mobilität bestimmt gewesen. 83 Die jüdische
Bevölkerung in der Schweiz setzte sich schon lange vor der Zuwanderung ost-
europäischer Juden aus zwei Gruppen zusammen: aus den Juden der alteingesessenen
Dorffamilien und aus der elsässisch-alemannischen Verwandtschaft. Erst ein Jahr-
zehnt nach der Emanzipation und im Zuge der Entwicklungen in Osteuropa selbst
setzte dann der Zustrom von jüdischen Familien osteuropäischer Herkunft ein. Rund
5000 osteuropäische Juden fanden Aufnahme in der Schweiz und trugen zur schnellen
Urbanisierung der jüdischen Bevölkerung bei. Seit der Jahrhundertwende stellten die
ausländischen Juden die knappe Mehrheit, nach 1930 beinahe die Hälfte aller Juden in
der Schweiz. Dieser hohe Ausländeranteil blieb jedoch bedeutungslos, wenn man den
sehr geringen Anteil der jüdischen an der gesamten Bevölkerung der Schweiz berück-
sichtigt (siehe Tabelle 1). Die Zahl aller in der Schweiz lebenden Juden erreichte selten
fünf Promille der Gesamtbevölkerung. Noch mehr relativiert wird der jüdische Anteil
bei einem Blick auf die gesamte ausländische Bevölkerung (Tabelle 2). Die Zahl der
ausländischen Juden folgte nicht nur den Schwankungen der allgemeinen demogra-
phischen Entwicklung, sondern die ausländischen Juden stellten verglichen mit der
Gesamtzahl aller Ausländer für die Schweiz kaum eine «bedrohliche» Gruppe dar.
Von Interesse ist auch ein Vergleich mit andern europäischen Staaten. In Russland,
Polen und den Balkanländern betrug der Anteil der jüdischen Bevölkerung 35 bis 60
Promille, und auch bei den Anteilen der jüdischen Bevölkerung in westeuropäischen
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN 61

Tab. 1: Jüdische Bevölkerung der Schweiz 1900-1950

Jahr Schweizer Ausländer Total Anteil an


(100%) der Gesamt-
bevölkerung

1900 4'972 40,5% 7'292 59,5% 12'264 0,49%


1910 6'275 34,0% 12'187 66,0% 18'462 0,49%
1920 9'428 44,9% 11'551 55,1% 20'979 0,54%
1930 9'803 54,5% 8'170 45,5% 17'973 0,44%
1941 10'279 52,9% 9'150 47,1% 19'429 0,46%
1950 10'735 56,4% 8'313 43,6% 19'048 0,40%

Tab. 2: Ausländer und ausländische Juden in der Schweiz 1910-1950

Jahr Alle davon:


Ausländer Juden Deutsche Franzosen Italiener

1910 552'011 12'187 219'530 63'695 202'809


1920 402'385 11'551 149'833 57'196 134'628
1930 355'522 8'170 134'561 37'303 127'093
1941 223'554 9'150 78'274 24'396 96'018:
1950 285'446 8'313 55'437 27'470 140'280

Quellen: Statistisches Jahrbuch der Schweiz, 1951. Die Zahlen für deutsche Ausländer im Jahr
1941 schliessen die Österreicher mit ein. Der Anteil Juden, die zugleich als französische oder
deutsche Staatsbürger galten, ist nicht ausgeschieden.

Staaten stand die Schweiz nicht an der Spitze, sondern hinter Holland und Gross-
britannien. Hinzu kommt, dass im Zuge einer wachsenden Überseewanderung der
Anteil der Juden in Buropa abnahm, auch wenn die absolute Zahl der jüdischen
Bevölkerung noch wuchs. Selbst als Durchgangsstation hatte die Schweiz wenig Grund
zur Befürchtung, dass migrierende Juden im Lande bleiben würden. Die Schweiz
spielte als Transmigrationsland für die osteuropäischen Juden zwar eine gewisse Rolle,
doch lief der Hauptstrom jener Auswanderer, die nach Übersee gelangten, vor allem
über die Häfen an der Nordsee und der Kanalzone. Die Massenmigration verstärkte also
die Bedeutung des amerikanischen Judentums gegenüber dem alten jüdischen Zentrum
in Europa. Erst die Zerstörung während der Nazizeit setzte diesem weit früher angelau-
fenen Prozess einjähes und unvorhersehbares Ende.84
62 1. KAPITEL

Ähnlich wie für die europäischen und insbesondere osteuropäischen Juden lässt
sich auch für die schweizerische Bevölkerung eine Überseeauswanderung feststellen,
die den gesamteuropäischen Massenemigrationen entsprach. Parallel zur Überseeab-
wanderung der Schweizer verlief die ältere und in Niederlassungsverträgen gesicherte
Austauschbewegung zwischen der Schweiz und den europäischen Staaten. Stellte
insgesamt im 19. Jahrhundert die Einwanderung von Ausländern in die Schweiz
statistisch noch das Gegenstück zu einer Abwanderung von Schweizern dar, so verän-
derte sich das Verhältnis nach der J ahrhundertwende, vor allem zugunsten der Bürger
aus den vier Nachbarstaaten. 1914 machten die Ausländer mehr als 17 Prozent der
Wohnbevölkerung der Schweiz aus. Vor allem die deutschen und italienischen Kolo-
nien waren genügend gross, um auch ihre nationale Identität zu wahren und zu
betonen.

Antisemitische Einbürgerungspolitik 1918-1938

Dem Gefühl einer «Überfremdung» suchten politische Kreise mit einer rascheren
Assimilation und der Koordination der Einbürgerungspraxis zu begegnen, was auf den
Widerstand der Kantone und einzelner Gemeinden stiess. Auch wenn der ausbrechen-
de Krieg einen deutlichen Rückgang der Ausländer bewirkte, so liess sich auf der
Ebene der Mentalitäten der Konflikt um Integration und Dissimilation nicht verwischen.
In der Publizistik treten fremdenfeindliche Spuren seit 1900 in einer Form hervor, die
stark von antijüdischen und antisemitischen Tonlagen beherrscht erscheinen. Amtliche
Dokumente bei der Einbürgerung tragen Kennzeichen, die den gleichen Antisemitismus
verraten, so mit Bleistift oder Tinte gezeichnete J-Zeichen oder rot gestempelte Davids-
sterne, um jüdische Kandidaten kenntlich zu machen. Dabei äusserte sich die Juden-
und Fremdenfeindlichkeit am offensichtlichsten in der Einbürgerungspraxis einzelner
Kantone, wie es Mare Perrenoud für den Kanton Neuenburg aufgezeigt hat. Man blieb
aber dabei stets auf Bern und die Meinung der neu eingerichteten eidgenössischen
Fremdenpolizei bezogen. Nach Aaron Kamis-Müller war diese gerade gegen die
Einwanderer aus dem Osten gerichtet, besonders aus Russland und Polen, weil es sich
um Juden handelte. Gerald Arlettaz hat darauf hingewiesen, dass eine falsch interpre-
tierte Statistik, eine «fausse conscience statistique», zu einer fremdenfeindlichen Men-
talität bei Behörden und Politikern führte. 85
Der sehr geringe Anteil der jüdischen an der gesamten Bevölkerung spielte eine
geringere Rolle als «qualitative}} Argumente. Ausschlaggebend war die Überzeugung,
die wenigen ausländischen Juden würden spezifische Eigenschaften besitzen, die eine
Assimilierung nicht möglich oder unerträglich erscheinen lassen würden. Dies rückte
die Kriterien der Auswahl gefährlich nahe an biologische oder mentale Erklärungen,
die im Rassismus wurzeln. Zum andern nutzten Behörden und politische Kreise die
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN 63

Bewahrung einer helvetischen Identität dazu, die Juden als Negativform zu kennzeich-
nen. Zur Ausweisung der Angehörigen von benachbarten Staaten und Grassmächten
hätte man kaum den Mut aufgebracht. In den dreissiger Jahren, im Zeichen des
Nazismus und Frontenfrühlings, hat die jüdische Aufklärung mehrfach auf diese
Verhältnisse aufmerksam gemacht, indem sie beispielsweise vorrechnete, dass «in der
Stadt Zürich mehr Reichsdeutsche als in der ganzen Schweiz Israeliten leben». Dabei
wurde aus jüdischer Sicht deutlich gemacht, dass die gesamte Zahl aller Ausländer von
1914 bis 1934 immer noch zwanzig Mal so hoch blieb wie die Zahl aller Juden in der
Schweiz, die Schweizer Bürger eingeschlossen.86
Die behördliche Haltung zur Einwanderung von Juden zeigt sich besonders deut-
lich im Raum Zürich, wo 1914 mit rund 6'800 Personen ein Drittel aller in der Schweiz
lebenden Juden niedergelassen waren, von denen drei Viertel Ausländer waren. In der
Stadt Zürich wurden bereits 1905 einige jüdische Flüchtlinge, die vor den Pogromen in
Russland Schutz gesucht hatten, willkürlich ausgewiesen. 1912 wurden besondere
Vorschriften für die Einbürgerung von «Ostjuden» erlassen, die 1920 im Grossen Rat
mit deutlichen Mehr befürwortet wurden. Diese Regelung erhöhte nicht nur die
Niederlassungsdauer für alle Bürgerrechtsbewerber auf 10 Jahre, sondern verlangte
ungleich von Ostjuden 15 Jahre ununterbrochener Niederlassung in der Schweiz.
Gegen den Erlass der judendiskriminierenden Bestimmungen stimmten nur die Sozia-
listen, während die vier Sozialdemokraten in der Exekutive dafür eingetreten waren.
Die bürgerlichen Parteien wollten darin nur eine Massnahme gegen die Überfremdung
sehen und folgten dem Willen des Industriellen Hans Kern. Die Begründung der
Behörden führte eine Reihe von Vorurteilen auf, welche die spezifisch judenfeindliche
Diskriminierung rechtfertigen sollten, so den «tiefen Kulturstand» und das «ausge-
sprochene Fremdtum», den angeblich wirtschaftsschädigenden Klein- und Zwischen-
handel, die «starren Satzungen ihrer Religion» und die Weigerung, sich nicht «in
steigender Zahl» durch Mischehen auflösen zu wollen. Ausdrücklich wurde auf die zu
erwartende Wende in der Aufnahmebereitschaft Amerikas hingewiesen und die politi-
sche Ungunst der Herkunftsländer angeführt. 87
Neben der Assimilationserwartung und der Aussicht auf Weiterwanderung nach
Übersee ist in der stadtzürcherischen Begründung auch die Antisemitismus-Argumen-
tation bemerkenswert. Mit judenfeindlichen Massnahmen gab man vor, die Juden-
feindlichkeit eindämmen zu wollen. Der Logik der Antisemiten entsprechend betrach-
tete der Stadtrat die Ostjuden als für die Judenfeindschaft selbst verantwortlich und
brachte damit bereits jene verkehrte Designation ins Spiel, wonach die Juden an ihrem
Unglück selbst schuld seien. Zur Taktik der Behörden gehörte die versuchte Auf-
spaltung der jüdischen Gemeinschaft in die alteingesessenen Juden und niedergelasse-
nen Ostjuden, wobei sich der Stadtrat für seine Massnahmen gegen Ostjuden eine
informelle «Mitarbeit» der Schweizer Juden selbst erhoffte. Deutlicher konnte man
den Versuch, unter den Juden eine Dynamik der Dissimilation zu begründen, nicht
64 1. KAPITEL

formulieren. Er steht in deutlicher Parallele zu ähnlichen und voranlaufenden Taktiken


im Ausland. Bereits im Wilhelminischen Deutschland hat man alle Juden für die Taten
der «Schnorrer» aus dem Osten haftbar machen wollen und argumentiert, dass die
staatsbürgerliche Respektabilität der einheimischen Juden gefährdet sei. 88 Wie in
Deutschland hielt auch in Zürich der Zustrom von Ostjuden das alte Stereotyp vom
fromm-orthodoxen Juden und dem kleinen Spekulanten lebendig. Im weiteren zeich-
nete sich in der zürcherischen Leistung die antisemitische Erklärung der Judenfeind-
schaft ab, die unter dem Druck der nazistischen Machtentfaltung auch bei den
eidgenössischen Behörden Eingang finden wird.
Die Zürcher Juden Hessen sich aber nicht in «Krawatten»- und «Kaftan»-Juden
aufspalten. Mit seinen Stereotypen und Absichten erreichte der Zürcher Stadtrat das
Gegenteil, nämlich eine Überbrückung der innerjüdischen Gegensätze, die tatsächlich
auch aus Herkunftsunterschieden rührten. Zur Mobilisierung der Abwehr schlossen
sich die drei jüdischen Gemeinden, die in der Stadt sehr verschiedene Milieus reprä-
sentierten, über ihre religiösen und herkunftsmässigen Voraussetzungen hinweg zu-
sammen. Dies bedeute nicht, dass nach innen kein Anpassungsdruck ausgeübt worden
wäre. So forderten die etablierten Juden, dass «die eingewanderten Juden sich den
hiesigen Juden anschmiegen und sich recht bald in unsere politischen und kulturellen
Verhältnisse hinein finden mögen». Die innere Kluft zwischen West- und Ostjuden,
die Dynamik der Dissimilation, bestand also auf der Ebene der sozialen Beziehungen
und der innerjüdischen Rollenbilder weiter. 89 Doch dies ist mit dem Antisemitismus
als einem äusserlichen Hindernis so wenig hinlänglich zu erklären wie mit einer sozial
motivierten westjüdischen Abneigung gegenüber den Ostjuden, die heute oft vermerkt
wird, wenn das reich befrachtete Thema des Ostjudentums behandelt wird. Zur
komplexen Dynamik konnte auch hinzukommen, dass der innerjüdische Gegensatz
kulturell geprägt war, indem sowohl die westlichen wie besonders die östlichen Juden
ihre sprachliche, religiöse oder kulturelle Tradition wahren wollten. Wir kommen bei
der Darstellung der institutionellen Grundlagen darauf zurück. Gerade die Wahrung
eigener Identität aber musste einzelnen Behörden wiederum ein Dorn im amtlichen
oder christlichen Auge sein.
Die jüdische Abwehr hielt ihren Kampf gegen die Zürcher Regelung bis in die
dreissiger Jahre aufrecht. Die Zürcher Juden signalisierten, dass die judenfeindliche
Praxis der Einbürgerung nicht gegen die Ostjuden, sondern gegen alle Juden gerichtet
war. 90 Diese konsequente Haltung erwies sich als völlig richtig, als die antisemitische
Amtsregelung mit Blick auf das Ausland beschwichtigend abgebremst werden musste.
1936 wurde die zürcherische Einbürgerungsfrage, und zwar im Sinne einer allgemei-
nen Verlängerung der Karenzzeit, erneut aufgeworfen. Die umkämpfte Bestimmung
gegen die Ostjuden wurde schon gar nicht mehr vorgeschlagen und damit der
judendiskriminierende Beschluss von 1920 stillschweigend aufgehoben. Von bürgerli-
cher Seite war seit den Nürnberger Gesetzen die zunehmende Gefahr eines Einbruches
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN 65

der «verfassungsrechtlichen Errungenschaften» erkannt worden, wie die jüdische


Abwehr lobte. 91 Anstelle der «Stilisierung~~ der «Juqenfrage» mit einer Erschwerung
der Einbürgerung in einem amtlichen Text trat nun die «Tabuisierung», um mit dem
behördlichen Antisemitismus nicht den falschen Leuten einen Hebel in die Hand zu
drücken. Das deutsche Generalkonsulat hatte 1934 dem Auswärtigen Amt die Zürcher
Regelung immerhin als Vorbild für die «Behandlung der Ostjuden in Deutschland~~
empfohlen. 92 Angesichts der Politik Nazi-Deutschlands schien nun auch den Zürcher
Liberalen die judenfeindliche Regelung ihrer Einbürgerungspolitik ein allzu heisses
Eisen geworden zu sein. Einzig das Mitglied der Nationalen Front trat im Kantonsrat
für deren Beibehaltung ein. 93
Was auf kommunaler und kantonaler Ebene in Zürich, aber auch in Basel oder
Genf seit dem Ersten Weltkrieg auf die Tagesordnung gesetzt worden war, entsprach
einer allgemeinen Stimmung im Land. Bürgerliche Zeitungen und patriotische Verei-
ne forderten Massnahmen gegen das «Einsickern~~ von neuen Schweizer Bürgern. Seit
1917 war in vielen Gemeinden und Kantonen eine Politik der Assimilation und der
Einbürgerung von Juden nicht mehr genehm. Der Schweizerische Städteverband
rannte auch beim Bundesrat offene Türen ein, als er anfangs 1919 mit einer Eingabe
auf eidgenössischer Ebene vorstellig wurde und den jüdischen Kleinhändler als «schwer
assimilierbares Element» von der Einwanderung abhalten wollte. 94 Die judenfeindliche
Haltung fand Eingang bei der Organisation zur Kontrolle der ausländischen Wohn-
bevölkerung. Mit der Einrichtung einer eidgenössischen Fremdenpolizei während des
Krieges konnten bald die Zuwanderung von Ausländern kontrolliert, die Einbürgerungen
erschwert oder auf genehme Kandidaten beschränkt werden. Dies entsprach der Politik
aller Staaten, die mit solchen fremdenpolizeilichen Massnahmen gegenüber dem
weitgehenden Liberalismus aus dem 19. Jahrhundert einen wirksamen «landes-
rechtlichen Vorbehalt» schufen, der in den Nachkriegsjahren allmählich zur Dauer-
institution und schliesslich in die ordentliche Gesetzgebung aufgenommen wurde. In
der Schweiz wurde der Schritt 1931 mit der Annahme eines entsprechenden Bundes-
gesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer vollzogen. 95
So warnte zum Beispiel die Fremdenpolizei die kantonalen Polizeidirektoren vor
den polnischen Juden und forderte gleichzeitig schweizerische Gesandtschaften auf,
Einreisegesuche von «diesen uns äusserst unerwünschten Elementell» vorsichtig zu
behandeln. Dem SIG gegenüber wurde von der Fremdenpolizei bedeutet, die ausländi-
schen Juden aus Polen und Galizien Iiessen sich kaum assimilieren und wären daher
nicht gleich zu behandeln wie andere Ausländer. Auch das Politische Departement
glaubte - nach einer Debatte im Deutschen Reichstag über die Einwanderung von
polnischen Juden- im Sommer 1920 feststellen zu müssen, der Moment sei gekom-
men, diese Frage auch für die Schweiz zu studieren. Ostjudenfeindschaft ist seit 1915
auch für die Beamten der schweizerischen Gesandtschaften und Konsulate zu beob-
achten. Kein Wunder also, dass Heinrich Rothmund als Chef der Fremdenpolizei
66 1. KAPITEL

bereits 1919 erstmals ein Ersuchen ablehnte, sich in Wien aufhaltende Flüchtlinge und
Kriegsopfer aufzunehmen, wobei die Rückweisung mit der Begründung erfolgte, die
Flüchtlinge seien unassimilierbare Ostjuden. Selbst vom Krieg betroffene Ferien-
kinder, die vorübergehend für einen Erholungsaufenthalt einreisen wollten, waren als
Juden diskriminiert. 96 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die antisemitischen
Schatten in der Flüchtlingspolitik von 1938 bis 1945 bereits lange zuvor in der
Fremdenpolizei und Diplomatie als Eigenleistung einer schweizerischen Judenpolitik
vorhanden waren.
Ebenso lässt sich hier bereits das Spiel beobachten, das 1938 das Verhältnis
zwischen Bundesrat und Beamten in der Flüchtlingspolitik charakterisiert und das im
sogenannten Rothmund-Skandal von 1954 deutlich wird. Das Zuschieben von Verant-
wortung und vermeintlichen Kompetenzen, mit der sich nach 1938 halbe Wahrheiten
öffentlich rechtfertigen lassen, begann bereits im Herbst 1926 mit der eidgenössischen
Adoption der judenfeindlichen Einbürgerungspraxis der Stadt Zürich. Die städtische
Regelung wurde von Rothmund als Richtlinie für die Fremdenpolizei ohne Verfügung
des Bundesrates in Kraft gesetzt. Die Fremdenpolizei betrachtete wiederholt das
fünfzehnjährige Domizil für Juden als ein Minimum und schloss sogar eine Einbürgerung
für Ostjuden der ersten Generation aus. Das eigenmächtige Vorgehen des eid-
genössischen Chefbeamten rief einen erstaunten Jules Dufour, Waadtländer Chef des
kantonalen Justiz- und Polizeidepartementes auf den Plan, der den Bundesrat auf die
prinzipiellen Folgen solcher Richtlinien hinwies. Bundesrat Heinrich Häberlin deckte
jedoch in seiner Antwort die antisemitische Massnahme Rothmunds und entsprach
damit dem Druck aus Kreisen der Diplomatie und des Parlamentes. 97
Im politischen Versteckspiel um die ausländischen Juden, das im Herbst 1926
erstmals als Einbürgerungsfrage vorgeführt wurde, erscheint die Dynamik der Diskri-
minierung noch undeutlich. Die Durchlöcherung gleicher Voraussetzungen geht nicht
intentional vor sich, das heisst als politisch beschlossene Diskriminierung. Vielmehr
entwickelt sich ein funktionaler Vorgang, bei dem eine behördliche Massnahme eine
nächste nach sich zieht, um nachträglich in eine beschlussähnliche Sanktionierung
auszumünden. Eine gesonderte Erschwerung der Einbürgerung von Juden, namentlich
von Ostjuden, musste in den Augen der Betroffenen als eine Verletzung des Gleichheits-
prinzips gelten, das den Schweizer Juden seit der Emanzipation garantiert war. Der
SIG intervenierte bei der Fremdenpolizei oder kantonalen Behörden in einzelnen
Fällen, wo er eine Benachteiligung in der Einbürgerungspraxis festzustellen meinte.
Im Verlauf der dreissiger Jahre beobachtete er noch keine zunehmende Erschwerung
bei den Einbürgerungen, fürchtete aber den zunehmenden Druck der antisemitischen
Propaganda in der Öffentlichkeit, wo das Thema «Überfremdung und Einbürgerung)>
tendenziös behandelt wurde. Insbesondere sorgte man sich, der aggressive Schwung
der Frontisten würde auf kantonaler und lokaler Ebene die Einbürgerungspraxis nach-
teilig beeinflussen.
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN 67

Im Jahresbericht 1938 des SIG wurde rückblickend diese Tendenz, wie man sie
von jüdischer Seite wahrnahm, in vorsichtigen Worten zusammengefasst: «Auch
Parteien und gesetzgebende Behörden (Kantonsräte) widmen denselben reiche Auf-
merksamkeit und die Bestimmungen werden immer schärfer gefasst. Soweit sich
Gelegenheit bietet, vertritt der SIG den Standpunkt der Wahrung der Gleichberechti-
gung und Ausschaltung von Exklusivität und Willkür.»98 Dem SIG mussten besonders
statistische Belege willkommen sein, um die propagandistische Behauptung einer
zunehmend «veijudeten» Schweiz zu widerlegen, gerade weil man deren Missbrauch
durch judenfeindliche Kreise kannte. In der ersten Hälfte der dreissiger Jahre war der
jüdische Anteil an der Gesamtzahl aller ins Bürgerrecht Aufgenommenen völlig
bedeutungslos. In Genf und Basel betrugen er je 3,5 Prozent, in Zürich 5 Prozent aller
Eingebürgerten. Wenn die Schweizer Juden am Vorabend des Weltkrieges auf die
Einbürgerungen der letzten 50 Jahre zurückblickten, stellten sie fest, dass ihre eigene
Zahl nicht einmal fünf Prozent aller seit 1890 Eingebürgerten ausmachte.

Der geheime «Numerus clausus» von 1941

Die Schweizer Juden bemühten sich in den dreissiger Jahren, die Einbürgerungen zu
intensivieren, um dem Vorwurf zu entgehen, an der «Überfremdung» Schuld zu
tragen. Es machte viel Sinn, sich vor allem um jene niedergelassenen Juden zu
bemühen, die seit einem oder zwei Jahrzehnten in der Schweiz ansässig waren. Den in
der Schweiz geborenen oder aufgewachsenen Ausländern, die hier die Schulen be-
sucht und sozialisiert worden waren, würden die Behörden, so hoffte man, die Einbür-
gerung nicht erschweren wollen, weil die vielgeforderte Assimilierung erfüllt schien.
Von der zweiten Generation der im Lande ansässigen ausländischen Juden glaubte der
SIG, dass ihre Bewerbung in «natürlicher Weise» die eidgenössischen Qualitätskon-
trollen bestehen würden. Gegen die falschen statistischen «Gewissheiten» und zur
Erfüllung der gesellschaftlichen Assimilierung konnten mit einer schnellen Einbürge-
rung der Jugend Beweise und Tatsachen geschaffen werden. Ziel und Grundlage
dieser Politik war und blieb in jüdischen Augen das in der Emanzipation verwirklichte
Prinzip der Gleichheit, dem jedes abgeleitete Recht zu folgen hatte.99
Seit dem Ausbruch des Krieges und angesichts der deutschen Erfolge an Ost- und
Westfront stand aber gerade diese vom SIG vertretene liberale These in Frage. Tief
beunruhigt teilte Erwin Haymann, Genfer Mitglied des Central-Comites des SIG,
dessen Präsidenten Saly Mayer seine Beobachtung mit: Die Fremdenpolizei verweige-
re nicht nur den Emigranten die Arbeitsbewilligung, was noch hinzunehmen wäre,
sondern zusehends auch gerade jenen jungen Juden, die in der Schweiz geboren und
aufgewachsen, aber noch nicht Schweizerbürger geworden seien. Haymann fürchtete
eine schleichende «Emigrierung» von in der Schweiz geborenen Juden, die als Auslän-
68 1. KAPITEL

der riskierten, schriftenlos oder staatenlos zu werden. Ausserdem würden sie als
Arbeitslose bald der jüdischen Sozialfürsorge anheimfallen. Mayer intervenierte rasch
und legte Haymanns Brief bei Rothmund und Ruth in Bem auf den Tisch. Dort hielt
man ihm indessen vor, der Kampf gegen die Überfremdung werde ohne Rücksicht auf
die Konfession durchgeführt. Mayer konnte angesichts der harten Haltung, die sich
formal auf die gleiche Behandlung aller Ausländer berief, nicht durchdringen. Der
SIG-Präsident befürchtete eine düstere Zukunft ohne Möglichkeiten zur Einbürgerung;
die Alternative werde eine erzwungene Auswanderung sein. 100 So drohten langjährig
niedergelassene Juden, die sich als Landsleute fühlten, in einen Status zu geraten, der
dem des Flüchtlings glich.
Der grosse Teil dieser Juden war osteuropäischer Herkunft. Es ist schwer zu
ermessen, wie viele junge Juden der zweiten Generation infolge dieser Praxis wirklich
ausgewandert sind. Die meisten hatten das Land ihrer Herkunft, dessen Staatsbürger
sie waren, nie gesehen und sprachen oft nicht einmal dessen Sprache. Als polnische
oder rumänische Staatsbürger hatten sie keine Lust, in ihr antisemitisch gestimmtes
Ursprungsland zurückzukehren. Für russische Juden war eine Rückkehr in die Sowjet-
union kaum aussichtsreich, für ehemalige Tschechen oder Österreicher war sie nicht
mehr möglich. In der Folge konnte man staatenlos oder schriftenlos werden. Die Logik
der Fremdenpolizei lief auf eine stille Mehrung der auf Weiterwanderung verpflichte-
ten Flüchtlinge hinaus. Sie richtete sich gegen schweizerische Juden, die noch nicht
Bürger dieses Landes hatten werden können, und dass die Einbürgerung noch nicht
erfolgt war, resultierte aus den besonderen Erschwernissen, die nur Juden betrafen.
Die antisemitische Praxis bei derErteilungeidgenössischer Bewilligungen zur Einbür-
gerung findet sich in den späteren dreissiger Jahre in keiner Verordnung fixiert. Was
aber in den dreissiger Jahren praktiziert wurde, konnte im Zuge des Vollmachten-
regimes definitiv ausformuliert werden. Die internen Richtlinien wurden nochmals
verschärft, indem für erwachsene Personen gar zwanzig Jahre Mindestdomizil ver-
langt und Juden unter einen «Numerus clausus» gestellt wurden. Nur maximal zwölf
Juden pro Jahr sollten für das gesamte Gebiet der Schweiz genehm sein, sofern sie
natürlich «angepasst» waren oder sich um das Land «verdient» gemacht hatten. Im
Vergleich dazu hatten in den Kriegsjahren die Einbürgerungen von Nichtjuden einen
Höhepunkt erreicht: 3'800 Niedergelassene erwarben das Bürgerrecht, nachdem noch
1937 die Zahl der Eingebürgerten weit unter der Hälfte jener von 1942 geblieben war.
Der «Numerus clausus» für Juden wurde 1941 auf Antrag von Max Ruth, dem
Spezialisten für Einbürgerungsfragen, aufgestellt und war departementsintern als
«Ruthsche Kategorie)) bekannt. Erst nach 1946 hatte man Zweifel am «Numerus
clausus)>, ohne dass eine schnelle Beseitigung der antisemitischen Massnahme in
Aussicht stand. Entsprechend hat sich auch die Sprache der Beamten an den Wertun-
gen <<jüdisch>) und «arisch)> orientiert. So hiess es noch anfangs 1948 über einen
Einbürgerungskandidaten, er sei «rein arischen> Abstammung. 101
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN 69

Die Verschärfung der Einbürgerungspraxis nach den «Ruthschen Kategorien}}


berührte zwei besondere Aspekte, die hier kurz erwähnt werden müssen. Einmal
waren «Judem} und «Frauen}} als Kategorien konnotiert. «Bis auf weiteres wird die
eidg. Bewilligung an männliche Bewerber zwischen 16 und 60 Jahre nur erteilt, wenn
diese in der Schweiz aufgewachsen sind und dazu entweder eine Schweizerin zur
Mutter oder eine Schweizerin zur Frau und von dieser Kinder haben [ ... ]. An Juden
und Jüdinnen sind pro Jahr nicht mehr als 12 Bewilligungen zu erteilem}, steht im
Text. 102 Wir werden später den Faden dazu zweimal aufnehmen: Erstens wenn es um
die fremdenpolizeilich besonders angeführte Kategorie der weiblichen Hausangestell-
ten und Krankenschwestern geht, die «nach langem Aufenthalt und bei gesicherter
Assimilatiom} gerne bevorzugt wurden; zweitens hatte die doppelte K"'nnotation bei
der Wiedereinbürgerung ehemaliger Schweizerinnen eine bittere Auswirkung. So
konnten als Schweizerinnen geborene Jüdinnen, die einst einen Ausländer geheiratet
hatten, als Ausländerinnen und als jüdische «Flüchtlinge}} doppelt benachteiligt und
gefaludet sein. 103
Der andere Aspekt betrifft die «Koryphäen der Wissenschaft, Kunst oder Technik,
deren Einbürgerung unserem Lande entweder zu Ehren oder zum Nutzen gereichb}.
Dabei schienen Juden von dieser bevorzugten Kategorie der Einbürgerung ausge-
schlossen zu sein, obwohl ihre erfolgreiche Beteiligung am akademischen oder kultu-
rellen Leben in der Schweiz unbestritten bleibt. 104 Eine Zusammenstellung jüdischer
Beiträge auf etwa 40 Gebieten kultureller Betätigung im ganzen deutschen Sprach-
raum hätte man 1934 einem umfangreichen Manuskript entnehmen können, wenn dies
nicht prompt von der deutschen Zensurbehörde untersagt worden wäre. Nicht wenige
Namen weisen in die Schweiz, und Richard Willstätter, der als Chemiker an der ETH
Zürich gewirkt hatte und 1942 in Locarno verstarb, schrieb auch das Vorwort zu dieser
mehr als tausend Seiten zählenden «Apologetik}}. 105 Einer dieser «Juden im deutschen
Kulturbereich}}' der uns als Fallbeispiel und Kronzeuge einer hintertriebenen Ein-
bürgerung dienen kann, war Edgar Salin, 1892 in der Goethe-Stadt Frankfurt geboren,
seit 1927 als Ökonom an der Universität Basellehrend und 1974 in Montreux gestor-
ben_HJ6 Salin wirkte als Universalgelehrter und Volkswirtschaftler, der nach 1948 in
das Schussfeld der Ordo-Liberalen kam, weit über die Universität Basel hinaus, der er
1961 als Rektor vorstand. Er kann auch ohne Zweifel als vollständig «assimilierter}}
Jude gelten, selbst aus der Sicht fremdenpolizeilicher Gesinnungsprüfung. Seine
Einbürgerung scheiterte während der Kriegsjahre, nachdem er 1941 nach deutschem
Reichsgesetz ausgebürgert worden war. Er blieb auch nach dem Krieg staatenlos,
wobei er sich 1951 schweren Vorwürfen gegen seine Person ausgesetzt fand. Vergeb-
lich bemühte er sich 1945 auch in Bem um die Aufnahme des deutsch-jüdischen
Dichters Karl Wolfskehl und dessen Rückreise aus Neuseeland in die Schweiz. 107 Der
«Numerus clausus}} war also im Fall Salin bestimmender als die fremdenpolizeiliche
Bevorzugung von «Koryphäem}.
70 1. KAPITEL

Zusammenfassend bewertet verschiebt der versteckt geübte oder «tabuisierte»


Antisemitismus in der eidgenössischen Einbürgerungspraxis die historische Interpre-
tation. Der «Judenfrage» kann nicht beiläufig ein Platz am Rande der Fremdenpolitik
oder der Flüchtlingspolitik zugewiesen werden. In der administrativen Judenfeindschaft
wird gleichzeitig die schweizerische Variante einer staatlichen Judenpolitik sichtbar,
die gleichennassen bestimmend wird für die Fremden- und Flüchtlingspolitik. Auch
davon wird bei der Darstellung, wie die Flüchtlingspolitik 1954 und später entsorgt
wurde, noch einmal zu sprechen sein. Hier sei festgehalten, dass der «Numerus
clausus» ein Resultat der Verschweizerung des Antisemitismus darstellt, wie wir dies
oben theoretisch begründet haben.
Im internationaen Vergleich wandte die Schweiz von 1918 bis 1945 mit ihrer
judenfeindlichen Fremden- und Einbürgerungspraxis einen erträglichen, wenn auch
engen und illiberalen Massstab an. Zahlreiche Staaten praktizierten mit ihren fremden-
polizeilichen Regimes sehr viel schneller und oft ungleich rigoroser eine antisemitische
Politik. Nicht abzusprechen bleibt eine entfernte Ähnlichkeit mit einigen antisemitischen
Methoden, wie sie in osteuropäischen Staaten praktiziert wurden. In Polen, Ungarn
oder Rumänien versuchte man verschiedentlich die Grundsätze der Emanzipation und
der Schutzbestimmungen für die Minderheiten gernäss den Pariser Verträgen in der
Praxis zu unterlaufen. Dabei bedienten sich diese Staaten versteckter und administrativer
Methoden, ohne liberale Grundsätze dem Schein nach zu verletzen. 108 Die Schweiz
gehörte aber - und dies beschränkt den Vergleich - als westlicher «Kulturstaat» zum
Kreis jener Nationen, die als «Sieger» von 1918 die Minderheitenbestimmungen nicht
auf sich selbst angewendet wissen wollten. Die liberalen Grundsätze waren und
blieben dem Buchstaben von Verfassung und Gesetz nach intakt. Und nur selten
wurde den Bürgern auf dem Papier sichtbar, dass man im administrativen Vollzug die
ausländischen Juden diskriminierte und den Juden als ganzes meinte. Der neutrale
Kleinstaat hatte als «Sonderfall Schweiz» eben seine sonderbaren Methoden.

DIE VERSUCHUNG DES ANTISEMITISMUS:


JUDENFEINDSCHAFT, GLEICHGÜLTIGKEIT UND ABWEHR IN DEN
KIRCHEN

Der Haltung der Kirchen zur antisemitischen «Judenfrage», zur deutschen Judennot
und gegenüber den Juden insgesamt kommt eine besondere Bedeutung zu. Die soge-
nannte Judenfrage war in ihrem Ursprung immer auch eine christliche «Judenfrage»
gewesen. Erst die Entwicklungen der Neuzeit hatten sie zu einem emanzipatorischen
Problem gemacht, dem sich dann die Antisemiten auf ihre Weise annahmen. Die
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN 71

Vorgaben zu Juden und Judentum waren über Jahrhunderte hinweg von theologischen
Implikationen und historischen Erfahrungen belastet. Theologen und Historiker der
Gegenwart weisen heute auf die intensive antisemitische Rezeption hin, die das
kanonische und nachkanonische christliche Schrifttum zu einer wirksamen Quelle des
negativen Judenbildes und seiner Verankerung in der abendländischen Geschichte
gemacht haben. Daher ist eine Behandlung oder gar Wertung, wie christliche und
. kirchliche Kreise sich der Versuchung des modernen Antisemitismus stellten, beson-
ders heikel, da sie in gegebener Verknüpfung auch eigene Erbschaften berühren. Man
wird diese Voraussetzungen, die christliche Judenfeindschaft, im Auge behalten müs-
sen, aber auch den Formwandel des Antisemitismus schlechthin, um die Haltung der
Kirchen zu verstehen. Bereits der europäische Liberalismus verkannte den unaus-
gesprochen christlichen Charakter seiner kulturellen Utopie, wenn er den emanzipier-
ten Juden im Bilde eines deistisch verdünnten Sonntagschristentums konzipierte und
so vermeintlich «universalistisch» assimilieren wollte. 1119
Im Grunde ist es in der Frage der Judenemanzipation die Moderne selbst, als einer
nachchristlichen Erscheinung, der sich die Kirche gegenüber sieht. Mit Blick auf den
modernen Antisemitismus wird man das christliche Judenbild als ideologischen Nähr-
boden für eine politische Reaktion verstehen müssen, selbst wenn sich die Kirchen
angesichts nazistischer Diktatur und Krieg dann auf eine «unpolitische» Haltung
zurückzogen. Die Gefahrdungen, die aus der säkularen Gegenwart für die Stellung der
Kirche im liberalen Staat und im modernen Gesellschaftsleben wirksam wurden,
gerannen zu Projektionen und Feindbildern. Der «Jude» als Stereotyp konnte von
neuem verwendet werden als Erklärung für die als antichristlich und antikirchlich
empfundene Moderne. Der emanzipierte und weltlich auftretende Jude erschien im
christlichen Rollenbild kongruent mit Materialismus, Liberalismus, Marxismus, kultu-
reller Avantgarde, Zersetzung usw. Das Frankreich der Dreyfus-Affare, der polnische
Katholizismus, der deutsche Amtskirchenprotestantismus, die christlich-sozialen Par-
teien verschiedener Provenienz sind Orte solcher Funktion, die auch in den schweizeri-
schen Kirchen teilweise zu beobachten ist. In der Schweiz wird dies sowohl für Teile
der Katholiken, die sich nach dem Kulturkampf zwischen politischer Isolation und
gesellschaftlicher Integration befanden, wie für den rechten Flügel der evangelischen
Kirchen, die den Bundesstaat zu repräsentieren glaubten, festzustellen sein. Die
innerkirchlichen Konflikte um Zustimmung oder Opposition gegenüber dem moder-
nen Antisemitismus sind damit in Grad und Motiven ein Indiz für die Frage nach
Erstarrung oder Verantwortung der Kirchen, nach Fixierung eines Vorurteils oder
schrittweiser Öffnung.
Der latente wie manifeste Antisemitismus in den Kirchen der Schweiz ist noch
nicht Gegenstand eingehender Untersuchungen geworden. Hingegen ist verschiedent-
Iich auf die Rezeption der deutschen «Judenfrage», die innerkirchliche Opposition zur
Judenfeindschaft und Flüchtlingspolitik sowie die Haltungen der schweizerischen
72 1. KAPITEL

Landeskirchen zur nazistischen Ideologie hingewiesen worden. 110 Dabei erscheint


nicht nur eine Wurzel der Judenfeindschaft, der religiös motivierte Antijudaismus, ein
Motiv gewesen zu sein, sondern auch soziale oder fremdenfeindliche Argumente aus
dem kirchenpolitischen Umfeld spielten eine Rolle. Die theologischen Dimensionen
erlauben uns also keine Abstraktion von den politischen Bedingungen, in denen die
Kirchen wirkten. Gerade in der kontroversen «Judenfrage» überlagern sich politische
und ideologische Prämissen. Zwar bemühen sich die Kirchen als das Gegenteil zu
erscheinen, nämlich vorrangig als unpolitische Anstalten des Glaubens. Doch Vor-
geschichte und Entwicklung der antisemitischen «Judenfrage» machen deutlich, dass
der alte christlich-kirchliche Antijudaismus auch im Zeitalter des bürgerlichen Libera-
lismus aus gesellschaftlichen Wurzeln neue Triebe ausschlagen lassen konnte. Ob-
wohl sie vom religiösen Antijudaismus nicht abzutrennen sind, erscheinen Beiträge
über die Juden aus dem kirchlichen Umfeld mit einem eigenen thematischen Gewicht,
indem sozial, wirtschaftlich, national oder fremdenpolitisch argumentiert wird. Wie-
weit damit religiöse Motive aufpoliert und mit vermeintlich sachlichen Inhalten alte
Schläuche nachgefüllt wurden, kann hier nur als Frage aufgeworfen werden.
Im schweizerischen Katholizismus, der selbst lange in eine gettoähnliche Situation
abgedrängt worden war, finden sich genügend Zeugnisse eines sozialen Antisemitismus.
Freilich kann dies nicht allein aus der konfessionellen Subkultur erklärt werden. Auch
in den protestantischen Kirchen weist das Auftreten von Pfarrern gegen die juden-
feindlichen Regungen in der eigenen Kirche auf ähnliche Vorgänge in den zwanziger,
dreissiger und selbst vierziger Jahren hin. In der innerkirchlichen Abwehr des Anti-
semitismus werden politische Voraussetzungen sichtbar, indem einzelne engagierte
christliche Persönlichkeiten mit einer schweigenden Mehrheit und judenfeindlichen
Äusserungen frommer Publizistik und kirchlicher Indifferenz kontrastieren. Wir be-
fassen uns zuerst mit den Schweizer Katholiken und gehen dann zur protestantischen
Welt über. In einem dritten Teil wird schliesslich die Haltung der beiden Kirchen kurz
resümiert. Abschliessend ist auch die jüdische Wahrnehmung der Kirchen zu
thematisieren.

Schweizer Katholizismus

Ein Beispiel für den sozialen Antisemitismus in katholischen Gemeinden kann die
Weihnachtsbotschaft einer Pfarrei in der Stadt Zürich sein, also aus jenem Milieu, wo
die Katholiken noch selbst als eine im Wachsen begriffene Diaspora galten und sich
mit zunehmendem Erfolg als Sektorenkirche in die Gesellschaft einbrachten. Der
Leitartikel zur frohen Botschaft im Kirchenanzeiger nahm nicht nur die evangelischen
Fakultäten aufs Korn, sondern auch die «ausgeklügelten Fragesteller» in den Synago-
gen und den «Tageblättern des Judas». Vor allem aber glaubte man die heilige Familie
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN 73

vor der weihnachtlichen Betriebsamkeit, in der man den wirtschaftlichen Zugriff


jüdischer Geschäfte und Warenhäuser erblickte, schützen zu müssen. Einen vergleich-
baren Erguss lieferte der katholische Pfarrer von Altstätten im Rahmen einer sozialen
Woche in der Beilage zum Pfarrblatt, was übrigens von der jüdischen Seite als
«Entgleisung» und «vereinzelter Zwischenfall» taxiert wurde. 111
Eine solche Aussage des sozialen Antisemitismus ist nicht repräsentativ für das
Judenbild in der katholischen Kirche der Schweiz insgesamt. Dazu müssten die
gegenläufigen Tendenzen in den Strömungen des politischen Katholizismus, mit
seinen konservativen, traditionalistischen und rechtskatholischen Gruppen, mit-
berücksichtigt werden. Den modernen Katholizismus reihte ein reformierter Beobach-
ter gar in die Ablehnungsfront gegen den Antisemitismus ein. 112 Eine Häufung negati-
ver Ausfälle ist, soweit ich sehe, nicht festzustellen, und judenfeindliche Äusserungen
finden sich in der Schweizerischen Kirchenzeitung, dem wichtigsten Organ der Katho-
liken, nur sehr vereinzelt in den zwanziger Jahren. 113 Umgekehrt blieben Erklärungen
der Bischöfe zum Antisemitismus äusserst selten und an die Vorstellung geknüpft,
dass die Lösung der «Judenfrage» letztlich in der «Konversion des jüdischen Volkes»
bestehe - eine Auffassung, die bekanntennassen in der offiziellen Erklärung der
Kommission des Heiligen Stuhles vom 25. September 1928 nachzulesen war. Bei aller
vornehmen Zurückhaltung kirchlicher Würdenträger prägten negative Judenbilder
aber eine Reihe von publizistischen Äusserungen.
So liess sich zum Beispiel eine als Bedrohung empfundene christliche Konkurrenz
wie die Zeugen Jehovas, damals unter dem Namen «Bibelforscher» bekannt, mit der
schlagendenden Behauptung verleumden, dass es sich um eine vom Judentum finan-
zierte Sekte handle. Die Juden hätten allen Grund zu ihrer Verschwörerischen Unter-
stützung, weil die Lehre des Talmuds den Sturz der christlichen Kirche herbeiführen
wolle, Iiessen katholische wie protestantische Stimmen verlauten. In zwei Prozessen
vor dem Bezirksgericht St. Gallen, wo sich auch der katholisch-konservative National-
rat Johannes Duft als Anwalt hervortat, blieb die antisemitische Seite den Beweis für
ihre Behauptungen schuldig, wurde aber nicht verurteilt. 114 Solch volksfromme Juden-
feindschaft, mit Motiven der Satanisierung angereichert und aus Verschwörungs-
mythen, wirkte als religiöse Demagogie noch lange nach. Selbst nach dem Zweiten
Weltkrieg publizierte die Redaktion eines katholischen Wochenblattes einen Artikel,
dessen Autor im Judentum eine tierische und materialistische Macht erblickte und das
Christentum zum Kampf gegen die dunkle jüdische Verschwörung der «Bibelforscher»
mobilisieren wollte. 115 Wie stark dabei der fromme Aberglaube unter der Bemäntelung
geistlicher Kreise spriessen konnte, ist schwierig zu ermessen.
Was in theologischen Vorurteilen und Projektionen zur Sprache kam, war als
Erscheinung weder eine spezifisch schweizerische Angelegenheit noch nur während
der Zwischenkriegszeit zu finden. Das zeigt ein Blick zurück auf die Zeit nach dem
Kulturkampf von 1870, in deren Schatten der katholische Landesteil noch lange lebte.
74 1. KAPITEL

Weit mehr als die übrige Publizistik der Schweiz widmeten katholische Geister sich
der modernen «Judenfrage». Die zwiespältige Haltung in der katholischen Publizistik
war antijüdisch mit antiliberal und antikapitalistisch vermengten Begründungen, die
sich seit derJahrhundertwende im In- und Ausland bemerkbar machten. Repräsentativ
für das politische Denken vieler Katholiken war eine vorwiegend sozial gefärbte,
wirtschaftlich argumentierende Judenfeindschaft, wie sie seit Ende des 19. Jahrhun-
derts zu belegen ist. In Urteilen aus den Schriften des vielgelesenen Apologeten Albert
M. Weiss 0. P. in Fribourg finden sich solche Zeugnisse auch auf schweizerischem
Boden. Er warf den Juden Ausbeutung der Armen vor, beklagte die Emanzipation,
welche den Orient nach Europagebracht habe, und hielt dem liberalen Reformjudentum
vor, alle modernen Gegenreligionen befördert zu haben. 116
Der soziale Antisemitismus, der in diesen heftigen Äusserungen gegen Liberalis-
mus und Intellektualismus auftrat, war von den kulturkämpferischen Ereignissen in
der Schweiz und in Deutschland nachhaltig überschattet und ist im 20. Jahrhundert
weiterhin in den einzelnen Zeugnissen belegt. In säkularer Fortsetzung tauchte auch
das Erbe der katholischen Judenfeindschaft Frankreichs wieder auf, indem das be-
kannte Motiv einer jüdisch-freimaurerischen Verschwörungsbeschuldigung von den
Fronten übernommen wurde und so eine unvorhergesehene weltliche Auferstehung
feierte. Die gerüchteweise Verbindung von Judentum und Freimaurerei war von
katholischen Kreisen in Frankreich, wo beide mit dem Protestantismus als Feinde von
Kirche und Nation galten, lange zuvorpropagiert worden und fand über die Dreyfus-
Affäre, die Propaganda der zwanziger Jahre und den deutschen Antisemitismus Ein-
gang in die Schweiz. 117
Die katholische Judenfeindschaft vermochte aber keine tiefen Wurzeln auf dem
Feld der politischen Schweiz zu schlagen. Andererseits erhielt aus den gleichen
Gründen der Kampf gegen den Antisemitismus in der Schweiz nie jene Schärfe, wie er
in der deutschen Zentrumspartei und in einzelnen Zeitschriften wie dem Hochland
ausgefochten wurde. In der Zwischenkriegszeit haben insgesamt hervorragende katho-
lische Politiker im nahen Ausland der Versuchung des Antisemitismus, wie er in
vielen rechtskatholischen und kleinbürgerlichen Milieus gärte, widerstanden. Zum
andern frischten diese Kreise und einige grundsätzlich antisemitisch eingestellte Theo-
logen die Judenfeindschaft immer wieder auf. 118 Auch in den katholischen
Enzyklopädien der Zeit zwischen 1918 und 1933, die einem Schweizer Katholiken
Orientierung boten, schlug sich der gesamte Zwiespalt in «moderat» vorgetragenen
Judenfeindschaften nieder. 119
Die Gründe für die fehlende Dauer und Schärfe einer Auseinandersetzung mit dem
Antisemitismus sind für den schweizerischen Katholizismus vermutlich im Struktur-
wandel zu suchen, in dem die katholische Minderheit im Kleinstaat sich von der
gettoisierten Milieukirche zur breiteren Sektorenkirche entwickelte. Im ganzen gese-
hen, das heisst im Einfluss des zentraleuropäischen Kulturkreises, durchzog die
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN 75

Ambivalenz der katholischen Haltung gegenüber den Juden zwar weiterhin die späten
Stellungnahmen im Sinne einer Gegnerschaft zum kulturkämpferischen Liberalismus,
mit dem sich auch viele Juden verbündet wussten. Doch blieb der politische Katholi-
zismus in der Schweiz hinsichtlich der «Judenfrage>> gemildert durch den Willen zur
Integration der katholischen Bevölkerungsteile in den föderalistischen Bundesstaat
und die gesellschaftlichen Realitäten der Modeme. 120 In diesem Prozess waren die
Katholiken sehr viel weniger Opponenten des liberalen Staates als zunehmend dessen
partizipierende Träger. Zumindest in den städtischen Zentren konnten sie sich kaum
dem Sog entziehen, der durch Wachstum, Migration und städtischen Lebensstil neue
Kräfte förderte. Die Kirche entwickelte sich gesellschaftlich von ihrem hergebrachten
Milieudasein, das in den katholischen Stammlanden noch weiter prägend blieb, zur
tragfahigen Sektorenkirche, die in den wirtschaftlichen Zentren Fuss fasste. In den
Reaktionen auf die Modeme und als Begleiterscheinungen des Integrationsprozesses
werden dann die antisemitischen Ausfalle sichtbar. Sie können als Versuche gelten,
mit dem alten Muster nochmals gegen die unabwendbaren Veränderungen zu fechten.
Die Abneigung gegen den wirtschaftlichen Liberalismus, von dem man selbst Nutzen
zog, profilierte sich manchmal in gegen die Juden gerichteten Polemiken.
Bereits seit 1918 und natürlich nach 1933 sah sich der politische Katholizismus,
bzw. seine Intellektuellen, vermehrt mit den rassenantisemitischen Theorien und Paro-
len der nazistischen und frontistischen Propaganda konfrontiert. Eine Abgrenzung auf
katholischer Seite bedeutete noch kein Umdenken in der Beurteilung der Juden, sondern
spaltete vorerst nur die Meinungen über die <<.Tudenfrage» und das Wesen des neuen
Antisemitismus. Aus einer Osterbetrachtung des Jahres 1933, im Organ des Schweizeri-
schen Studenten-Vereins publiziert, spricht die Mühe, mit der man die verwirrende
Verschiebung der Begriffe verarbeitete. 121 Der Autor, der in Fribourg lehrende
Soziologieprofessor Jacob Lorenz, seit 1933 Herausgeber der Zeitschrift Das Aufgebot
und namhafter Berater katholischer Bundesräte, wendet sich darin zwar entschieden
gegen das «primitiv Barbarische» des Rassenantisemitismus. Er redet aber einem «Christ-
liehen Antisemitismus», der nicht auf Hass und Rache beruhe, das Wort. Mit einem
Auszug aus der Zürcher Steuerstatistik von 1929 wird die Sendung der rastlosen Juden
im liberalen und kapitalistischen Geist ausgemacht und die eigene Umkehr in Gebet und
Konversion empfohlen- auch «pro perfidis Judaeis», wie im Wortlaut der Karfreitags-
liturgie die abgefallenen Juden eingeschlossen werden. Diese Heilswendung würde in
Wirklichkeit dem Bedürfnis einer «Rückkehr zu anderen Wirtschafts- und Gesellschafts-
formen» entsprechen, wie sie von den Nationalsozialisten gefordert sei. Es gehe aber
nicht darum, das Unglück den Juden zuzuschreiben, sondern zu erkennen, dass «man
selber jüdisch geworden ist im Denken und Werten und Wägen».
Lorenz' Texte räumen der angeblich «gewaltigen Macht» des Judentums und
anderen antisemitischen Klischees breiten Raum ein und verkennen weitgehend die
Gefahr des Nazismus, wobei betont wird, dass man «nicht zu den Rassegläubigen und
76 1. KAPITEL

Antisemiten» gehöre. 122 Seine Betrachtungen zu Ostern wie Weihnachten dokumen-


tieren die Absicht, den faschistischen Antisemitismus abzulehnen, ohne die eigenen
Vorbehalte gegenüber liberalen oder sozialdemokratischen Maximen aufgeben zu
müssen. Der gesellschaftliche Antiliberalismus bleibt in diesem Antisemitismus ohne
Antisemiten unüberhörbar. Der Hang zu «anderen» Ordnungen, sprich ständestaatliehen
Hierarchien, ist aus dem konservativen Wunsch zu erklären, die «Zersetzung» des
christlichen Klimas aufzuhalten. Die Juden dienten auch hier als Negativfolie der
katholischen Angst, in der Modeme an religiösem Marktwert zu verlieren.
Aus einer vergleichbaren Motivation, doch noch deutlicher theologisch verkürzt,
argumentierte der Autor einer Veröffentlichung im Auftrag des Apologetischen Insti-
tuts des Schweizerischen Katholischen Volksvereins. Auch diese umfangreichere Schrift
lehnte die marxistischen, liberal-assimilatorischen, zionistischen und faschistischen
«Lösungsversuche» der Judenfrage ab, rettete sich aber zur Formulierung eines katho-
lischen Sozialstandpunktes in theologische Prämissen, die der geistigen und materiel-
len «Hemmungslosigkeit» der Juden das Ecce-Homo-Motiv und die Selbstverteidigung
des Staates entgegenhielten. Schliesslich mündet man dann in die Deutung des ewigen
Juden als dem negativen Zeichen göttlicher Wunder. 123 Diese Interpretation der «Juden-
frage», die den Juden den Weg aus der Erb- und Geschichtssünde weisen will, war
letztlich nicht besonders originell und in bester katholischer Tradition gedacht. Man
benötigte die Juden weiterhin in der heilsgeschichtlichen Rolle als negative Zeugen zur
Erlösungsgewissheit Dem Juden war in stereotyper Verfestigung ein genauer und
unrühmlicher Platz im katholischen Weltverständnis angewiesen, den er nicht verlas-
sen durfte, weil man auf diese heilsgeschichtliche Versicherungsprämie angewiesen
blieb. Diese Spielart der katholischen Judenfeindschaft hat, so paradox dies klingen
mag, den Juden auch einen gewissen «Schutz)) bieten können.
Zu den theologisch-historischen Vorgaben kommt wiederum die besondere Situa-
tion im eidgenössischen Rahmen hinzu. Für die schweizerischen Katholiken bestand
wenig Interesse, die <Judenfrage)) hochzuspielen, gerade weil man als politisch und
verfassungsrechtlich unterprivilegierter Teil der staatlichen Gemeinschaft auf eine
Atmosphäre der Toleranz angewiesen blieb. Konfessionelle Ausnahmebestimmungen
in der Bundesverfassung von 1874, welche die Jesuiten aus dem Land bannten, legten
eine antisemitische Haltung in der Politik nicht nahe. 124 Diese Interessenlage wurde im
Zuge der geistigen und militärischen Landesverteidigung stark untermauert. Der poli-
tisch einflussreiche National- und Regierungsrat Heinrich Watther versicherte 1937
die Schweizer Juden, als Minderheiten hätten Juden und Katholiken in der Schweiz
«innert gewissen Grenzem) gemeinsame Interessen, weshalb die Katholiken ihren
politischen Kampf um einen Platz im Staat «konsequenterweise auch auf die Juden
ausdehnen)) müssten. 125
Andererseits ermutigten Hitlers Aufstieg und Sieg auf dem Hintergrund der wirt-
schaftlichen Not weit mehr die Rechtskatholiken als alle jene Kräfte, die eine potenti-
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN 77

eile Verständigung mit den Juden hätten anstreben können. Der Antisemitismus blieb
in einem von Enge geprägten Milieu weiterhin gegeben oder populär, vor allem wenn
er sich mit antikommunistischen oder gegen die Freimaurer gerichteten Haltungen
verknüpfen liess. Wenn auch eine katholische Judenfeindschaft in der Schweiz nicht
den radikalen Äusserungen rechtsgerichteter Kreise im benachbarten Deutschland
folgte, so argumentierten doch einzelne katholische Politiker in gefährlicher Nähe zu
Vorstellungen, die im Nazismus und Faschismus eingängig propagiert wurden. Theo-
logisch begründete, sozial motivierte und politisch oder wirtschaftlich argumentieren-
de Judenfeindschaft konnte dann Hand in Hand gehen. Als Beispiel für die Kurz-
sichtigkeit im politischen Katholizismus kann der Obwaldner Volksfreund gelten.
Redigiert wurde das katholisch-konservative Blatt vom späteren Bundesrat Ludwig
von Moos, der nach seiner Wahl in den Bundesrat (1959) eine Justiz- und Polizei-
politik betrieb, die im Zeichen des Kalten Kriegs stand. Unter der Redaktion von
Moos' fischte der Obwaldner Volksfreund im trüben und giftigen Brunnenwasser
judenfeindlicher Vorurteile. Das Blatt druckte wiederholt antisemitische Artikel selbst
übelster Art, verherrlichte die SS als eine ausgesuchte Polizeitruppe und drängte mit
den ständisch-korporativ gesinnten Jungkonservativen auf die Umgestaltung der De-
mokratie im Sinne des Frontismus. 126 Doch mit der Person von Moos' ist noch wenig
erklärt. Er entstammte einem Umfeld, das diese Haltung erst ermöglichte. Als einziger
Kanton stimmte Obwalden der frontistischen Vorlage zu, die Bundesverfassung total
zu revidieren. In ähnlicher Weise ist später von Moos als Bundesrat von der Block-
stimmung, die den bürgerlichen Staat zur Zeit des West-Ost-Konflikts bestimmte,
getragen worden. Im weiteren wird man darauf hinweisen müssen, dass der Volks-
freund nicht die Publizistik des politischen Katholizismus insgesamt repräsentierte.
Die ambivalente, doch weit indifferentere Haltung des konservativen Vaterlands
zur «Judenfrage» war in den Jahren 1933-1942 von grösserem Gewicht. Das Blatt
liess sich aufrichtig von jener kontrolliert angelegten Judenfeindschaft leiten, welche
der jahrhundertealten kirchlichen Tradition entsprach. Das Verhältnis des Vaterlands
zu den Juden war ambivalent schon aus religiöser Überzeugung und dem katholischen
Konservativismus auf den Leib geschnitten. Für die Anwürfe gegen die Juden gab ein
antiliberaler Kurs den Ausschlag, der seine Vorhaltungen der Aufklärung und Moder-
ne gegenüber an die Adresse des <<jüdischen Geistes» richtete. Den nationalsozialisti-
schen Antisemitismus und den biologischen Rassismus lehnte man als eine falsche
und unwürdige Methode ab. So war das wenige, was im Vaterland zur <<jüdischen
Frage» zu sagen war, geistig von der konfessionellen Gewichtung Roms inspiriert und
politisch von der Kritik am Liberalismus bestimmt. 127
Die Vorstellung einer ständestaatlich organisierten Gesellschaft mit Korporationen
gab konservativen Kreisen das ideologische Gerüst, die antiliberale mit einer
antikommunistischen Haltung zu verbinden. In der Schweiz ist diese Haltung als eine
späte Revanche des politischen Katholizismus am Freisinn empfunden worden, weil
78 1. KAPITEL

der liberale Staat nun auf die Katholiken angewiesen war. Der moderne Staat im
liberalen Kleid erschien einem Repräsentanten dieser Richtung, Jean-Marie Musy, als
der Vorreiter des Bolschewismus schlechthin. Im Gegensatz zum jungen von Moos
huldigte Musy, der sich nach dem Rücktritt als Bundesrat mit faschistischen Kreisen
der Schweiz zusammentat, indessen nicht einer rassistischen Ideologie. Judenfeindschaft
spielte bei diesem katholisch-konservativen Aristokraten, der im katholischen
Traditionalismus fusste und einen autoritär-korporativen Kurs steuerte, als politische
Haltung keine Rolle, was auf jüdischer Seite 1933, nach Hitlers Machtergreifung,
beruhigend angemerkt wurde. 128 Dies erlaubte ihm seine Tätigkeit zur Rettung von
Juden am Ende des Krieges, und zwar im Auftrag orthodoxer jüdischer Kreise. In
Musys Haltung in den dreissiger Jahren und dem nachträglichen Versuch, sich mit
dem Einsatz für die Juden eine weisse Weste zu verschaffen, spiegelt sich ein Stück
weit die gesamte politische Tendenz der Kirche. Dies umfasste die Annäherung des
Katholizismus an die faschistischen Bewegungen, was durch die bekannten Arrange-
ments des Vatikans mit Mussolini und Hitler abgedeckt wurde, doch zugleich bedeute-
te es keine ausgesprochene Anerkennung der antisemitischen Bewegung.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die katholische Schweiz so wenig gegen
die emanzipatorische Gleichberechtigung der Juden eingestellt war, wie sie gegen
deren Entrechtung im faschistischen Ausland auftrat. Es gehört zum Bild, dass
schliesslich das christlich-konservative Element sich angesichts der aufziehenden
Bedrohung in die patriotische Schweiz integrieren liess. Die militärische und geistige
Landesverteidigung wurde unterstützt, den Gläubigen ein sittlicher Lebenswandel
angemahnt und das Gebet intensiviert, besonders zu Maria und Bruder Klaus, das
nationale Symbol, das 1947 auch heilig erklärt wurde. 129 Politisches Einlenken und
moralische Aufrüstung zur Abwehr bedeuteten natürlich noch lange nicht das Ver-
schwinden jener Motive, die zur emotionalen Nahrung gehören. Der alte Manichäismus
von Gut und Böse, wie er in den volksfrommen Äusserungen auftauchte, floss nach
wie vor in den christlichen Antisemitismus ein, wenn das «Judentum» mit einer
anderen unerwünschten Gruppe verknüpft und als dunkle Macht satanisiert wurde.
Wie differenziert auch die tatsächliche Stellung der Juden in den innerkirchlichen
Konflikten zwischen katholischer Hierarchie und Volksreligion, zwischen Recht und
Politik reflektiert wurde, so blieben die theologische Grundhaltung und das christliche
Bild der vom Fluch behafteten Juden doch präsent.

Reformierte Kirche

Die andere Konfessionsgruppe der Schweiz, die evangelisch-reformierten Kirchen,


wurde hinsichtlich der «Judenfrage» unter anderen Voraussetzungen herausgefordert,
zumal sie sich als reformierte Landeskirchen oft in der Rolle eines Mitträgers des
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN 79

liberalen Bundesstaates sahen. Die innerkirchliche Opposition gegen antisemitische


Erscheinungen in der eigenen Kirche, zum anderen die Indifferenz während der
Judennot in Deutschland weisen gleichermassen darauf hin, wie schwer man sich im
Verhältnis zu den Juden überhaupt tat. Bei den Reformierten ist zunächst der Hinweis
auf theologische Voraussetzungen angebracht, wenn von der Politik die Rede ist.
Dabei ist als erstes ein Blick über die nördliche Grenze der Schweiz naheliegend, dann
aber auch die Vergegenwärtigung, dass die französischsprachige Schweiz ein grosses
Gewicht in der evangelisch-reformierten Kirche besass.
In der Weimarer Republik und während des nazistischen Aufstiegs waren nicht nur
die Parteien, sondern besonders auch die Kirchen antijüdisch voreingenommen. In der
protestantischen Universitätstheologie herrschte das völlig falsche Bild eines zur
Gesetzesreligion erstarrten Judentums, das unter dem Fluch der Schuld heimatlos und
zerstreut existiere. Im theologischen Antijudaismus wurden auch die Blüten eines
Doppellebens auf der vornehmen Ebene der deutschen Gelehrsamkeit kultiviert. Viele
Intellektuelle übten eine gegen das Judentum argumentierende Aufspaltung zwischen
theologischer Gewissheit und historischer Bedingtheit der christlichen Entstehungs-
geschichte. Der Antijudaismus der christlichen Theologie, insbesondere jener aus dem
deutsch-protestantischen Kulturbereich, war weitgehend eine Verdrängungsleistung.
Man schämte sich des historischen Jesu, der als Jude sich so plötzlich unter den
Schichten zeigte, die von der kirchengeschichtlichen Forschung selbst seit der
Jahrhundertwende weggeräumt wurden. In diesem geistigen Dilemma blieben die
Reaktionen nicht aus. In Deutschland konnten die konservativ und national eingestell-
ten Pfarrer mit ihren das Judentum verunglimpfenden Äusserungen auf die Nachsicht
einer breiten Öffentlichkeit zählen. Die Verschärfung des religiösen Antisemitismus
nach 1919 und die Radikalisierung deutsch-christlicher Kreise kennzeichneten die
antisemitische Agitation innerhalb der protestantischen Kirche bereits vor 1933. Nach
der Machtübernahme Hitlers stellte die Errichtung der Nazidiktatur das protestantische
Denken vor konkrete Entscheidungen. In diesem Verhängnis wurde dann die «Juden-
frage» kaum weiter wahrgenommen. Die evangelisch-kirchlichen Stellungsnahmen
enthielten weder vor noch nach 1933 ein wirkungsvolles Wort gegen die antisemitische
Verfemung der Juden. Einzelne Christen oder getaufte Juden bezogen zwar klar
Stellung, konnten aber die Passivität und Anpassungstendenz der protestantischen
Kirchenleitungen nicht aufbrechen. Der Protest Dietrich Bonhoeffers gegen die
nazistische Judenpolitik war eine Ausnahme mit nur wenig Resonanz in Theologie
und Kirche. 130
In die Schweiz sind die antisemitischen Wendungen aus deutschen Kirchenkreisen
nur abgeschwächt vorgedrungen und erlangten auch nicht den Rang einer antijüdischen
Polemik. Sie waren auf der Ebene ambivalenter Gefühlslagen vorhanden, was
publizistisch angedeutet wurde oder oft ungeäussert blieb. Der Zurückhaltung gegen-
über den antisemitischen Agitationen im protestantischen Deutschland entsprach zu-
80 1. KAPITEL

gleich eine gewisse Tabuisierung der jüdischen Not und Verständnislosigkeit der
jüdischen Existenz und dem Judentum gegenüber. Beide Momente sieht der jüdische
Philosoph Hans Jonas auf der geistigen Ebene bei Karl Barth wirken, dem «Schweizer
Theologen deutscher Zunge», der während einem Vierteljahrhundert führenden Figur
im europäischen Protestantismus. Nicht der Christ, sondern der Schweizer in Barth
habe im Wirbel des Tatsächlichen das Augenmass für die Proportionen der deutschen
Vorgänge erhalten. Der jüdische Leser finde bei Barth zwar viel politische Klarheit
und geistige Sicherheit mit Blick auf die deutschen Hintergründe, doch andererseits
eine «bei allem humanen Mitgefühl durchaus schemenhafte Anschauung ihres tatsäch-
lichen Opfers, der Juden», die bei Barth zu einer metaphysischen und damit bloss
symbolischen Existenz würden. Ähnlich zustimmend und dankbar in politischer Hin-
sicht, aber theologisch und konkret mit kritischer Distanz äusserte sich schon 1943 der
Basler Rabbiner Arthur Weil. 131
Im Gefolge der sich etablierenden Diktatur in Deutschland fand der Nazismus auf
seitender reformierten Kirchen der Schweiz kaum Verständnis oder Zustimmung. Man
sah aber auch die zunehmende jüdische Not nicht oder wollte sie lange nicht sehen.
Bestenfalls interessierte man sich für das Ergehen der Kirche im nördlichen Nachbar-
land oder fasste eine Hilfe für die bereits getauften Juden, die sogenannten Juden-
christen, ins Auge, als diese unter den auch auf die Kirchen übertragenen «Arier-
paragraphen» im deutschen Beamtengesetz vom 7. April 1933 gerieten. Hermann
Kocher und Ursula Leisibach stellen gleichermassen fest, dass hinsichtlich Anti-
semitismus und NS-Judenpolitik ein weitgehendes Schweigen die Schweizer Protestan-
ten während der Jahre 1933 bis 1942 kennzeichnete. 132 Das kirchliche Denken war an
theologische Vorgaben und an ein politisches Umfeld geknüpft, die nicht frei waren von
antijudaistischen und selbst antisemitischen Einschlägen. Die Hirngespinste der «deut-
schen Christen» mit ihrem völkisch-ideologischen Hintergrund tauchen in der schweize-
rischen theologischen Landschaft der dreissiger Jahre aber nicht auf.
Im Lager der kirchlichen Rechten, den sogenannt Positiven des Protestantismus,
wurde die antijudaistische Deutung des «Volkes Israel», das in einem göttlichen
Strafgericht wegen seiner Verwerfung Jesu Christi sitze, in oft stereotyper Hartnäckig-
keit aufrechterhalten. Der Antisemitismus wurde als Misslingen eines eigenmächtigen
Versuchs, diesem Gericht durch «Assimilierung» zu entgehen, aufgefasst und die
einzige Lösung der «<udenfrage» in der Missionierung des Judentums erblickt. In der
zunehmenden Entrechtung der Juden und in den europäischen Vorgängen erblickte die
Judenmission noch 1939 die «Zuchtrute» in der «verborgenen Hand Gottes». Einer
solchen Sicht hatten sich selbst die freien Evangelisten der Westschweiz immerhin
noch zu entziehen vermocht. 133 Auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde
die Polemik zwischen rechtskirchlichen Kreisen und der jüdischen Abwehr des
Antisemitismus noch fortgesetzt, als Walter Hoch mit einem «Judenkompass» die
alten Vorurteile neu aufbrühte. 134
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN 81

Solche theologische Spekulation fand sich im anderen Lager des schweizerischen


Protestantismus nicht. Die theologische Richtung der «Liberalen» gab sich in religiö-
ser Hinsicht tolerant, liess jedoch in Argumente zu fremdenfeindlicher Angst und
wirtschaftliche Überlegungen Antisemitismus einfliessen. Vor allem ertönten solche
Worte bezüglich der «Üstjuden», eines jüdischen «Wucher- und Ausbeutertums>> oder
den angeblichen Plänen für eine «Weltbeherrschung» mit Hilfe der bolschewistischen
Bewegung. Der soziale Antisemitismus, der hier zum Vorschein kommt, verlagerte
seine Rede gegen den einsetzendenjüdischen Flüchtlingsstrom. Das bürgerliche Leit-
bild zur Flüchtlingspolitik korrespondierte dann mit dem Fehlen des kirchlichen
Verantwortungsbewusstseins in der «Judenfrage» überhaupt.

Abwehr antijudaistischer und antisemitischer Haltungen in den Kirchen

Der dogmatische Antijudaismus und der soziale Antisemitismus in beiden Kirchen


werfen die Frage auf, ob diese die passive Haltung gegenüber dem Nazismus und
besonders das Schweigen angesichts des jüdischen Schicksals begünstigt oder ob die
Kirche gar stillschweigend zugestimmt haben. Die Stimmen in protestantischen und
katholischen Kreisen, darunter Pfarrer und Priester, die das Judentum mit «Frei-
maurerei», «Parasitentum», «Bolschewismus» oder «Zersetzung» gleichsetzten, sind
unüberhörbar. Theologische Stereotypen scheinen hier noch fester zu sein als in den
weltlichen Varianten.
Wie auch immer, die offiziellen Haltungen beider Landeskirchen gegenüber der
nazistischen Rassenideologie und der konkreten rechtlichen, wirtschaftlichen und
moralischen Eliminierung der Juden lassen sich wie folgt resümieren. Der Schweizeri-
sche Evangelische Kirchenbund verhielt sich bei Stellungsnahmen nicht so passiv wie
das katholische Episkopat. Aber abgesehen von einem Schreiben an den deutschen
Bischof Hecket (1934), einer Fürbitte (1938) und einem Communique im August 1942
nahm der Kirchenbund öffentlich keine Stellung zu Rassenideologie, Judennot und
Flüchtlingsfrage. Das gilt auch für die meisten Kantonalkirchen. 135 Selbst nach dem
Reichspogrom vom November 1938, mit seinen sichtbar brennenden Synagogen,
blieben die Äusserungen zur Judennot in Deutschland wie zur antisemitischen «Juden-
frage» von indifferent anmutender Unverbindlichkeit geprägt. 136 Geradezu mutig wirkt
als Ausnahme eine Botschaft des St. Galler Bischofs, die an einer von der jüdischen
Abwehr organisierten und der Zürcher Vereinigung für den Völkerbund präsentierten
Kundgebung verlesen wurde- wobei freilich der Bischof selbst nicht anwesend war. 137
Auf der katholischen Seite kommt hinzu, dass es doch notwendig blieb, die
Stimme Roms in Erinnerung zu rufen, vor allem angesichts der sozialen Motivierun-
gen, die auch in der Schweiz die antisemitische Tendenz zu beflügeln drohte. Die
katholische Haltung den Juden gegenüber, wie es eine Denkschrift führender Katholi-
82 1. KAPITEL

ken im April 1937 international bekundete, legte entschieden die Distanzierung von
einem Antisemitismus nahe, der Elemente antisemitischer Parteitheorien, gar national-
sozialistischer Spielart, enthielt. Diese theologische und praktische Verdammung des
Antisemitismus ist auch von zwei französischsprachigen Professoren der Universität
Fribourg unterzeichnet worden. Die im März 1938 vom Papst erlassene Encyclika
«Mit brennender Sorge» wurde schliesslich von der Action catholique auch in der
Schweiz vorgetragen, wenn auch nur in der Westschweiz, um deutlich in Erinnerung
zu halten, dass die Kirche «nicht rassistisch, nicht nationalistisch und nicht separatistisch,
sondern katholisch und universell» denkt. 138 Die jüdische Presse hat sorgsam alle
Äusserungen von katholischen und protestantischen Würdenträgern weltweit, von
Australien bis Kanada, die den Antisemitismus verurteilten, wiedergegeben, um sich
auch in der Schweiz der Universalität und Gültigkeit des katholischen Diktums gewiss
sein zu können. ·
Die negative Haltung der deutschen Geistlichkeit rief in der Schweiz evangelische
Pfarrer auf den Plan, von. denen vor allem Leonhard Ragaz (1869-1945) und Her-
mann Kutter (1863-1931) als frühe Kämpfer gegen den theologischen und politi-
schen Antisemitismus auftraten. 139 Diese beiden Wortführer der religiös-sozialen
Bewegung in der Schweiz, denen es um eine Aussöhnung mit dem Judentum ging,
standen in einer Traditionslinie, die durch die aufgeschlossene Haltung von Theolo-
gen der französischen Schweiz geprägt war. Diese nehmen deutlich eine liberale
Position ein, die Professoren, Advokaten und Politiker teilen. Allen voran sind die
frühen Voten des Neuenburger Franz Petavel und des Genfer Emile Guers im 19.
Jahrhundert zu nennen. Merkwürdig genug, dass selbst der erwähnte Psychiater
Auguste Forel mit anderen Professoren und Bundesrat Louis Ruchonnet einen Appell
gegen die Pogrome in Lernberg und Galizien unterzeichnete. In den zwanziger Jahren
haben die Pfarrer Gustave Naymark und Franz Burnand, zusammen mit den
Nationalräten Paul Maillefert und Charles Naine sowie dem Advokaten Charles
Secretan, das Feld gegen den Antisemitismus angeführt. In den dreissiger Jahren sind
es Ernest Jomini, Spitalkaplan in Lausanne, die Pfarrer Edouard Platzhoff-Lejeune
und Theophil Grin sowie der Dominikaner Hilaire Duesberg, die zusammen mit den
Professoren Henri-Louis Mieville, Maurice Muret und weiteren zur Allianz der
liberalen und christlichen Abwehr gegen den Antisemitismus gehören. 140 Der Waadt-
länder Historiker David Lasserre führte eine regelrechte Kampagne gegen den anti-
semitischen Einfluss in der protestantischen Welt. Ähnlich argumentierte ein um-
fangreicher Artikel im Organ der waadtländischen Landeskirche, in dem Paul Metraux,
abgestützt auf eine in Paris von Daniel Rops und Denis de Rougemont herausgege-
bene Sammlung, den Antisemitismus als unchristlich brandmarkte. 141
Offensichtlich machte sich in der Westschweiz der kulturelle Einfluss Frankreichs
bemerkbar, wenn in doppelter Hinsicht, von der modernen Emanzipationsgeschichte
her wie von der stark alttestamentlich ausgerichteten Frömmigkeit des Kalvinismus
MEINEN, AUFSPALTEN, BESCHWICHTIGEN 83

geprägt, die bürgerliche Gleichstellung mit dem Glauben an den einen Gott verbunden
wurde. So sind für den französischen Protestantismus keine antijüdische Belege nach-
weisbar; und im belgiseh-holländischen Kalvinismus finden sich ebenfalls kaum
Spuren. 142 Den Anteil der französischen Schweiz an der protestantischen Abwehr
gegen den kirchlichen Antisemitismus aus Deutschland dokumentieren die Leitartikel
in der jüdischen Presse in den zwanziger und dreissiger Jahren, die wiederholt den
Pfarrern aus der Westschweizer Platz einräumen. Platzhoff-Lejeune, Pfarrer im
waadtländischen Le Brassus, zum Beispiel vertrat dabei eine betont liberale Linie und
geisselte scharf den Antisemitismus der christlichen Geistlichkeit in Deutschland. 143
Sehr bald und in teilweise kontroverser Form erlangte das Flüchtlingsproblem die
Aufmerksamkeit der religiösen Presse der Westschweiz, seitdem im Juli 1937 die
Ökumenische Bewegung von den Regierungen verlangt hatte, die Aufnahme von
jüdischen Flüchtlingen zu begünstigen. In gewisser Weise war diese Erklärung bereits
Ausfluss einer veränderten Sichtweise, die in der ökumenischen Bewegung .sich
anzubahnen begann. 144
In der deutschen Schweiz hämmerten indessen die Familie Ragaz und der Kreis
der «Religiös-Sozialen» den Lesern der Neue Wege unermüdlich ein, dass Juden oder
Sozialisten der Schweiz willkommen sein müssten. Sie standen damit eher am Rande
des kirchlichen Establishments. Auf der Ebene der Kirchenleitungen bildete der
Alttestamentler Ludwig Köhler eine Ausnahme. Angesichts der antisemitischen Ak-
tionen in Deutschland forderte Köhler in einer Interpellation 1933 den Kirchenrat des
Kantons Zürich zu klaren Worten und Kundgebungen auf und verlangte eine Hilfe für
die verfolgten Judenchristen. Der vorsichtig formulierte Text an das Zürcher Kirchen-
volk, die Zurückhaltung in der Frage einer Kundgebung sowie die Vorbehalte zu
getauften Juden als Christen zweiter Garnitur sind Vektoren der zögerlichen Haltung
der Kirche gegenüber dem Antisemitismus. 145 Köhler ist als Rektor der Universität und
als christlicher Theologe, der das Judentum als Gabe an die Menschheit pries, von
jüdischer Seite ausserordentlich geachtet und gar zu Vorträgen über das Judentum
eingeladen worden. 146
Dankbar für den temperierten Aufruf an das Zürcher Kirchenvolk, hellhörig für die
Vorgänge in der ökumenischen Bewegung in Genf und insgesamt angewiesen auf alle
Bemühungen um eine angemessene Sicht des Judentums, waren die jüdischen Ge-
meinden und Kreise dringend auf Stützung und Verständnis angewiesen. Sie über-
schätzten aber die Bedeutung der kirchlichen Signale. Es hatte durchaus seine Richtig-
keit, die Judenfeindschaft als das Problem der Nichtjuden zu verstehen. Aber als
Betroffene standen die Juden allein. Und doch waren für die jüdische Abwehr und
Aufklärung kirchliche Kreise in der Schweiz ebenso gesuchte Koalitionspartner im
Kampf für Recht und Menschlichkeit wie der Liberalismus.
Bereits im Juli 1933 hatten orthodoxe Juden in der Neuen Zürcher Zeitung in einer
Einsendung unter dem Titel «Gegen die Gottlosenbewegung» eine einheitliche christ-
84 1. KAPITEL

lieh-jüdische Front aller drei Konfessionen gefordert und vorgeschlagen, einen schwei-
zerischen Kongress einzuberufen. Aus einer solchen interreligiösen Allianz von Juden
und Christen, die an die ökumenischen Bemühungen in Genf hätte anschliessen
können, war nichts geworden. Bereits fünf Jahre früher waren aus dem angelsächsisch-
amerikanischen Raum solche Signale von den liberalen Flügeln in Judentum und
Christentum gesetzt worden; in den Vereinigten Staaten bemühten sich christlich-
jüdische Konferenzen um Verständigung und Zusammenarbeit. 147 Von den Schweizer
Juden sind alle diese in- und ausländischen Bemühungen genauestens registriert und in
der jüdischen Presse veröffentlicht worden. Man betonte mit Nachdruck die gemeinsa-
men Quellen jüdischer und christlicher Ethik und erhoffte sich vergeblich Gehör und
breite Unterstützung bei den schweizerischen Kirchen. 148
Selbst wenn die Juden äusserst empfindlich für die negativen Vorurteile und
missionarischen Tendenzen des Christentums blieben, suchten sie die Möglichkeit
einer Verständigung, auf die sie angewiesen waren. Zugleich begleitete ein Gefühl der
Ambivalenz und Vorsicht die jüdische Seite, welche sich auf die christliche Solidarität
in der Abwehr des Faschismus einzulassen begann und dabei mit der munteren
Weitertradierung antijüdischer Vorurteile rechnen musste. Die protestantische und die
katholische Kirche sind erst spät von den antijudaistischen Behinderungen und der
schweigenden Reserviertheit abgerückt und in ihre kirchliche Verantwortung hinein-
gewachsen. Die Faktoren des Umschwungs zwischen 1938 und 1944, zwischen dem
«Kristallnacht» genannten Reichspogrom und den Rettungsversuchen für die ungari-
schen Juden, werden in den Abschnitten über die jüdischen Flüchtlinge und die
Internalisierung des Massenmords zu erwähnen sein. Vor allem Gertrud Kurz und Paul
Vogt sind nach dem Krieg zu Symbol- oder Ausnahmegestalten der historiographischen
Würdigung erhoben geworden.
Der christlich-jüdische Dialog ist nach dem Krieg aus einer «Christlich-jüdischen
Vereinigung gegen den Antisemitismus» entstanden, an der neben Pfarrer Vogt und
weiteren christlichen Gründem auch der Zürcher Rabbiner Zwi Taubes teilnahm. 149
Die Gründungswehen, begleitet von einer noch deutlich apologetischen Publizistik auf
beiden Seiten, waren Ausdruck für das Schuldbewusstsein nach dem langen kirchli-
chen Schweigen. Mit Mühe suchte man auch den völlig verfehlten christlich Missions-
anspruch zu überwinden. Anstelle des antijudaistischen Vorurteils trat zunehmend das
christliche SelbsturteiL
85

2. KAPITEL
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN.
JÜDISCHE ABWEHR UND AUFKLÄRUNG
1933-1944

Im Mai 1944 hiess der Zürcher Kantonsrat stillschweigend eine Motion des frei-
sinnigen Hans Pestalozzi gut, nachdem der Zürcher Finanzdirektor Hans Streuli sich
im Rat zur Entgegennahme dieses unverdächtig patriotisch klingenden Anliegens
bereit erklärt hatte. Die Motion forderte schlicht die Besteuerung von Personen, die
früher im Kantonsgebiet niedergelassen waren, in Erwartung des Krieges ins Ausland
gezogen waren und nun wieder nach Zürich zurückkehren würden. Begründet wurde
die Motion mit der gerecht anmutenden Absicht, man wolle verhindern, dass in
nahender Friedenszeit «Leute in den Kanton Zürich zurückkehren, die bei Kriegs-
beginn, als sie glaubten, dass unserem Land Gefahr drohe, geflohen sind». Dem
Motionär schien es unerträglich, dass sich eben diese Leute in besseren Zeiten wieder
im wirtschaftlichen und kulturellen Leben breitmachen würden, «ohne wenigstens
einen Teil von dem nachzuholen, was wir alle in diesen Jahren für unser Land geleistet
haben», insbesondere an öffentlichen Steuerlasten, aber auch an persönlichen Diensten
in Militär- und Zivilbereich. Stichdatum für die Anwendung dieser Rückwanderer-
steuer sollte der 1. Januar 1939 sein. 1
Die vom Rat ohne grosse Diskussion überwiesene Motion Pestalozzi, unter der
Bezeichnung «Drückeberger-SteueD> gehandelt, löste den vehementen Protest jüdischer
Kreise und Gemeinden aus, denen sich sehr bald die Sozialdemokraten anschlossen. Von
den vermeintlichen Drückebergern waren nämlich ein grosser Teil Juden, sowohl Schwei-
zer wie niedergelassene ausländische Juden, die in den späten dreissiger und anfangs der
vierziger Jahre die Schweiz verlassen hatten. Die Gründe dieser Abwanderung lagen in
jüdischen Augen nicht in der Absicht, wie sie der Zürcher Regierungsrat vermutete, durch
«Ausreise unserem Vaterlande in schweren Zeiten der Gefahr» ihre finanziellen Leistun-
gen und ihren persönlichen Einsatz zu entziehen. Vielmehr sah die jüdische Seite das
Motiv dieser Abwanderungen im schweizerischen Antisemitismus und, sofern es Nieder-
gelassene ohne Schweizer Pass betraf, als Ergebnis einer judenfeindlichen Fremden- und
Einbürgerungspolitik Die Zürcher Juden betrachteten daher die Motion Pestalozzi als
Auftakt zu einer «Generalabrechnung» auf Kosten der Juden insgesamt.
Die jüdische Abwehr wurde in dieserneuen «Affäre», wie man diesen Vorstoss
zurecht bezeichnete, im letzten Kriegsjahr noch einmal massiv mobilisiert. In der
Auseinandersetzung um die Motion Pestalozzi und die angeblichen «Drückeberger»
86 2. KAPITEL

wird nachträglich ein Grundthema der Situation der Schweizer Juden sichtbar: Waren
sie als kleine Minderheit erwünscht oder nicht, und welche Juden in der Schweiz betraf
es im besonderen? Wie sollte man den Antisemitismus abwehren? Auf wen konnte
man sich bei dieser Abwehr verlassen? Wie lange würde man standhalten können, und
wann flüchten müssen?
Eine kurze Darstellung der Motion Pestalozzi, die am Ende jüdischer Abwehr und
Aufklärung seit 1933 steht, erlaubt es, einige wesentliche Fragestellungen zu schil-
dern, zumal sie auch den Zeitgenossen die Problematik noch einmal bewusst gemacht
hat. Dann wird zurückgeblendet und an markanten Fallbeispielen der Wandel der
Einschätzungen und Strategien der Abwehrarbeit der Schweizer Juden dargestellt.
Dazu gehört auch der Vergleich mit der jüdischen Abwehrgeschichte anderer Länder.
All dies gibt auch Aufschluss über das Klima und einzelne Momente in der
eidgenössischen Haltung zur «Judenfrage», was wiederumjüdische Empfindlichkeiten
besser verständlich werden lässt.

PESTALOZZIS SCHWEIZ:
ENTSORGUNG EINER ANTISEMITISCHEN POLITIK

Hans Pestalozzi stammte aus einer traditionsreichen Familie. Er war promovierter


Jurist, amtete als Zunftmeister, brachte es militärisch zum Brigadier, wirkte als Mit-
glied der Steuergesetzgebungskommission, präsidierte den Verwaltungsrat der Emser
Werke und weiterer Industriebetriebe, war jahrzehntelang Präsident der gemeinnützigen
Pestalozzi-Gesellschaft Zürich, sass im Verwaltungskomitee der NZZ- kurz: es war
zu erwarten, dass eine Motion von diesem Herkommen politisch und öffentlich von
einigem Gewicht sein würde. Was man damals nicht wissen konnte, waren die Ver-
dächtigungen und Anlastungen seitens der amerikanischen Botschaft in Bern, die
Pestalozzis Anwaltstätigkeit mit hundert anderen, zum Teil renommierten Anwalts-
kanzleien, auf einer Schwarzen Liste fichierte. Die vom US-Department of State
aufgelisteten Rechtsanwälte verdächtigte man einer wirtschaftlichen Kollaboration
oder der Hilfeleistung als Strohmänner für deutsche Vermögensinteressen, die anfangs
1945 eine US-Mission auf dem Finanzplatz Schweiz schnell zu liquidieren wünschte. 2
Die jüdische Abwehr wurde indessen weder angesichts des politischen Standes des
Motionärs noch der unbekannten Verdächtigungen gegenüber Pestalozzi mobilisiert,
sondern weil sich hier die Logik einer sattsam bekannten politischen Instrumentierung
anmeldete. Die in der Motion Pestalozzi geforderte steuerliche Bestrafung von Aus-
wanderern rührte ein Stück weit an ein altes antisemitisches Muster: Die Juden wurden
beschuldigt, selbst am Antisemitismus schuld zu sein. Sie sollten nun die Rechnung
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN 87

dafür bezahlen müssen, dass sie in einem solchen Klima weggetrieben worden waren.
Die jüdische Abwehr sah sich in der soeben abklingenden Gefahr von neuem heraus-
gefordert, politische und moralische Rechte zu verteidigen. Diesmal betraf es die
jüngste Vergangenheit, die in verkehrter Schuldaufrechnung auf Kosten der Opfer
entsorgt werden sollte.
Wen betraf die Motion, und wie war die Situation der Betroffenen in den anvisierten
Jahren? Soweit die Motion unausgesprochen oder aus Unkenntnis die Juden meinte,
betraf sie sowohl schweizerische Juden, wie auch niedergelassene Juden, also jene
Ausländergruppe, die immer noch ungern gesehen und unerwünscht war. Die jüdi-
schen Flüchtlinge und Emigranten waren ohnehin von staatlichen Stellen wiederholt
auf ihre Migrationspflicht hingewiesen worden, da bekanntlich die offizielle Flüchtlings-
politik eine möglichst eilige Weiterwanderung zur Auflage machte. Aber auch den
niedergelassenen Juden legten die massgebenden behördlichen Stellen durch ihre
Einbürgerungspraxis die Auswanderung nahe. Mündlich waren Vertreter des SIG vor
und während des Krieges wiederholt darauf hingewiesen worden, dass Auswanderung
die, wenn auch bittere Alternative zur zunehmend erschwerten Einbürgerung von
niedergelassenen Juden darstellen müsse. So klar das konstitutionelle Recht den Schwei-
zer Bürger auch schützen mochte, Bern wollte sich in Fragen der Niederlassungs-
verträge von jüdischen Bürgern nicht drängen lassen. Ende 1940 vermerkte der SIG-
Präsident, dass «auch neutrale und sogar uns wohlgesinnte Kreise, die sich mit Emi-
granten, auch Juden überhaupt befassen, sie als eine Gefahr anzusehen beginnen». Den
Schweizer Juden wurde bedeutet, dass sie, unter dem Druck der gegebenen Verhältnis-
se, zwar den Pflichten nachzuleben hätten, aber keine «unerwünschte Schwierigkeit»
bereiten sollten. Konkret meinte dies etwa Forderungen, die Flüchtlinge finanziell aus
dem eigenen Sack zu unterstützen, zugleich keine politischen Ansprüche anzumelden
und jede Kritik an einer nazigenehmen Auslandspolitik zu unterlassen. 3
Die Motion Pestalozzi rief nun die doppelbödige behördliche Praxis und das damit
verbundene jüdische Dilemma aus einer andern Perspektive wieder in Erinnerung. Der
SIG hatte bisher auf der klaren Ausschöpfung aller Möglichkeiten der demokratischen
Institution bestanden, um sämtliche Juden vor antisemitischen Anfechtungen zu schüt-
zen. Zum andern wurde aus der eigenen Schwäche heraus die Erfüllung der schweize-
rischen Pflichten gefordert, selbst um den Preis, dass der langjährig niedergelassene
Jude gegenüber anderen Ausländern deutlich benachteiligt wurde. Einerseits war eine
erfolgreiche Auswanderung von Juden ohne Schweizer Pass, insbesondere der Flücht-
linge, offenbar ein legitimierendes Rückgrat einer erfolgreichen Antisemitismusabwehr,
weil sie die Diskussion über Juden und Fremde in der Öffentlichkeit zu dämpfen
geeignet schien. Zum andern drohte der Antisemitismus selbst die in der Schweiz
Geborenen und langjährig Niedergelassenen aus dem Land zu treiben, sofern sich eine
Möglichkeit in Übersee ergab. Selbst jüdischen Schweizer Bürgern schien eine für
antisemitische Ideologien anfällige Schweiz Grund, eines Tages das Land verlassen zu
88 2. KAPITEL

müssen. Und nun warf man, im nachhinein, «Drückebergerei» und Steuerflucht jenen
Juden vor, die zu einem ansehnlichen Teil an der Einbürgerung gehindert worden
waren oder das Land aus Angst vor Antisemitismus verlassen hatten.
Damit warf die Motion Pestalozzi in wohl unfreiwilliger Weise die Frage auf, wie
antisemitisch die Stimmung in der Schweiz der späteren dreissiger Jahren gewesen
war. Ein Text im Israelitischen Wochenblatt, als «Leserbrief» bald nach der Ratsein-
gabe Pestalozzis veröffentlicht, stellte erstmals laut die aus jüdischer Erfahrung formu-
lierten Fragen. Er redete nach lang geübter Vorsicht in der jüdischen Pressepolitik
erstmals wieder eine deutliche Sprache. Er schildert die Situation der Juden in der
Schweiz, die bürgerlichen Koalitionen mit den Frontisten, den Meinungsdruck auf die
jüdische Existenz im Land, die antisemitischenVorhalte über Berufs- und Vermögens-
lagen sowie die vielen Anpassungshaltungen angesichts des siegreichen Nazismus:
«Wäre es nicht denkbar, dass der eine oder andere die Schweiz gar nicht aus Furcht vor
dem Krieg, sondern vielmehr aus Furcht vor einem <friedlichen> Arrangement, wie es
damals Mode zu werden schien, verlassen hat, oder, um mit dem Volksrecht zu
sprechen, aus Furcht vor der recht grossen Bereitschaft in gewissen, <heute tapferen>
Kreisen, sich nicht <wegen ein paar Juden> mit dem Ausland zu verfeinden? Gab es
nicht gewisse Wahlbündnisse und einen gewissen Empfang, die diese Furcht nicht
ganz unbegründet erscheinen lassen konnten? Gab es damals nicht auch mehr oder
weniger freundliche Einladungen an jüdische Firmeninhaber, Hand zur <Arisierung>
zu bieten, so dass diese das Gefühl erhalten konnten, man lege auf ihre Anwesenheit
und ihr weiteres Wirken gar nicht so übermässig grosses Gewicht, wie man es heute
glauben könnte, wenn man hört, wie sie beschuldigt werden, die Schweiz in einer Zeit
verlassen zu haben, wo alles <vom Zusammenstehen> abhängt?»4
Tatsächlich hatte seit dem 1. Januar 1939 eine kaum erhebliche Anzahl von Schwei-
zern und Niedergelassenen den Kanton Zürich in Richtung Ausland verlassen, die sich
die abgebremste Einwanderung in den Überseeländern wirtschaftlich erlauben konnten.
Der grösserere Teil bestand aus Niedergelassenen, aus Nichtschweizern also, unter denen
sich viele Juden fmden. Insgesamt reisten 308 Personen aus, die zusammen ein Vermö-
gen von 42 Millionen Franken besassen und insgesamt ein jährliches Einkommen von
fast acht Millionen Franken erwirtschafteten. Zwei Drittel waren nach Übersee, vor allem
in die Vereinigten Staaten, ausgewandert. Unter die Bestimmung der «Rückwanderer-
Besteuerung» wären 235 Personen gefallen, die insgesamt ein Vermögen von 28 Millio-
nen Franken und ein durchschnittliches Einkommen von 26'000 Franken auswiesen.5
Von Interesse sind auch die Verhältnisse im ländlichen Kanton Bern, wo nach Zürcher
Vorbild mit einer einfachen Anfrage an den bernischen Regierungsrat ähnliche politische
Forderungen gestellt wurden, aber nur acht Personen mit 3,75 Millionen Franken Vermö-
gen und 75'000 Franken Durchschnittseinkommen unter eine allfällige Rückwanderer-
steuer gefallen wären. 6 Dabei bezogen sich alle diese Angaben aus beiden Kantonen auf
die Zeit seit dem ersten Kriegsjahr.
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN 89

Die Auswanderung von Juden aus der Schweiz hatte aber bereits im Vorjahr einge-
setzt. Neben Anwälten und Kaufleuten zogen Textiluntemehmer, Uhrenfabrikanten,
Spirituosenhersteller und Warenhausbesitzer wie die Familie Brann nach Übersee. Aber
auch mittelständische Familien, die im Zielland eine Verwandtschaft hatten, zogen weg.
Unter den jüdischen Auswanderern figuriert etwa die Familie der späteren Gouvemeurin
des US-Bundesstaates Vermont, Madeleine Kunin, die als Mädchen die Schweiz verliess.
Auch Ferdinand Riser, jüdischer Weinhändler und Gründer des Schauspielhauses Zürich,
emigrierte nach den Vereinigten Staaten. Andererseits hielten viele bestsituierte Familien,
wie zum Beispiel diejenigen der Bankhäuser Bär in Zürich und Dreyfus in Basel, dem
ungünstigen Klima stand und blieben in der Schweiz. Illustrativ sind auch gelegentliche
Inserate von Anwälten, die ihren Wohnsitz nach New York verlegten und für die
Übernahme von Aufträgen warben, oder umgekehrt sich als Schweizer Vertretung der
Interessen von nunmehr in Übersee wohnhaften Juden anboten. 7
Des jüdischen Anteils an Auswanderern war man sich in den jüdischen Gemeinden
1938-1940 durchaus bewusst. Der Wegzug bereitete dem Gemeindevorstand der
Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ) und dem SIG Sorgen, nicht in erster Linie
wegen eines möglichen Vorwurfs der Drückebergerei; im Gegenteil, eine Auswande-
rung der Niedergelassenen musste man als den Erwartungen der Behörden entspre-
chend sehen - selbst wenn dieser Umstand nach dem Krieg aus Ängstlichkeit gerne
unterschlagen wurde. Nicht nur staatsbürgerliche Loyalität, in der sonst Schweizer
Juden rührende Beweise erbrachten, sondern die finanziellen Auswirkung der Abrei-
sen waren 1940 Grund zur Besorgnis. Die grösste Gemeinde in Zürich schloss ihre
ordentliche Jahresrechnung 1939 zwar mit einem knappen Überschuss ab, bilanzierte
jedoch ein bedenkliches Defizit in den Fürsorgeleistungen. Dabei waren 1939 nicht
nur der Unterhalt von 837 Emigranten und 1042 Flüchtlingen mitzutragen, sondern es
figurierten auch 62 Notfälle von zurückgekehrten jüdischen Auslandschweizern, die
reintegriert werden mussten, auf der Abrechnung. Im folgenden Jahr machten dann der
Wegzug steuerkräftiger Mitglieder und die gleichzeitigen finanziellen Belastungen
durch die Flüchtlingshilfe das Budget 1941 zum Hauptthema. Der ICZ-Vorstand
verlangte im Februar 1941 nach einer Steuererhöhung, mit der die in den letzten Jahren
kontinuierlich steigenden Abgänge an Mitgliedern wettgemacht werden sollte: «Die
Auswanderung einer nicht unbedeutenden Anzahl Mitglieder der höheren Steuerklas-
sen bedeutet für die Gemeinde eine erhebliche Schwächung ihres Finanzhaushaltes.
Der Vorstand muss daher einschneidende Spannassnahmen in die Wege leiten, um das
Budget im Gleichgewicht zu halten.» Der Mitgliederbestand war von 1113 Personen
im Jahr 1938 auf 1089 Mitglieder 1942 gefallen. In dieser kleinen Abnahme waren vor
allem die vermögenden Juden enthalten, die sich eine Emigration leisten konnten und
deren Steuerausfall wettzumachen war. Mit einer beinahe diskussionslos genehmigten
Steuererhöhung von 33,3 Prozent fiel das Defizit der ordentlichen Rechnung von 1942
relativ gering aus und hielt sich auf Vorjahreswerten.8
90 2. KAPITEL

Die fmanziellen Folgen beschäftigten auch den SIG, dem von seinen Mitglied-
gemeinden weniger oder sehr zögerlich Verbandsbeiträge überwiesen wurden. Gleich-
zeitig hatte der Zürcher Regierungsrat Robert Briner auf inoffiziellem Weg den SIG
wissen lassen, im Regierungsrat habe eine Diskussion über die Schrumpfung des
jüdischen Steuerkapitals stattgefunden. Die kantonale Finanzdirektion hatte 1940 fest-
gestellt, dass beinahe ein Drittel des jüdischen Steuerkapitals des Kantons abgewandert
war und in der Folge zu befürchten sei, dass die Flüchtlinge nicht mehr den Zürcher
und Schweizer Juden, sondern Bund und Kantonen zur Last fallen würden. Die
Finanzdirektion behielt sich im Rat Anträge zur Sicherstellung des Kantons vor,
worunter man eine Art Bundesfluchtsteuer verstehen konnte. Das Wort von einer
möglichen Fluchtsteuer, auch wenn diese nur als hintergründig geäusserte Drohung
gemeint war, wurde im SIG als Anfang einer Judengesetzgebung interpretiert.9 Für die
Schweizer Juden war Solidarität mit den Flüchtlingen eine bislang selbstverständlich
geübte Sache, der man schon aus traditioneller Gebotserfüllung nachkam. Daher
führte der Wink mit einer Sondersteuer die «Arglist der Zeit» vor Augen, was den
Juden politisch besonders bitter schmeckte. Mitgrossen Anstrengungen, und das hiess
mit Druck auf die eigenen Reihen, suchte man daher den abfallenden Sammlungs-
plafonds zu stabilisieren.
Es wird im Kapitel über die Finanzierung der Flüchtlingspolitik noch eingehend
darüber zu sprechen sein, wer eigentlich die eidgenössische Humanität den jüdischen
Flüchtlingen gegenüber bezahlt hat. Die enorme Finanzleistung des JDC und anderer
jüdischer Organisationen war damals weitgehend bekannt und auch offiziell zur Kennt-
nis genommen worden. An dieser Stelle muss aber erwähnt sein, dass auch jene
Schweizer Juden, denen man 1945 die Flucht ins Ausland vorwarf, von 1938 bis 1945
in den Vereinigten Staaten in mehreren «Drives» erhebliche Summen zusammenbrach-
ten, die in die Schweiz überwiesen wurden. Allein die Schweizer Juden in New York,
die als kleine Landsmannschaft von rund 200 Familien organisiert waren und sich in
einer speziellen Swiss Division des United Jewish Appeal zusammenfanden, brachten
seit 1941 bis Kriegsende 175'000 US-Dollar auf, was 750'000 Schweizer Franken
entsprach. Die Schweizer Sammlung in den USA belief sich mit über 100'000 Franken
im Jahr 1941 auf einen Siebtel der in den jüdischen Gemeinden der Schweiz gesammel-
ten Flüchtlingsbeiträge und ergänzte die Subventionen des JDC um einen weiteren
Fünftel. Merkwürdigerweise ist 1944/45 diese Charity-Tätigkeit der Schweizer Juden
in den USA der jüdischen Abwehr in der Schweiz nicht bewusst genug geworden oder
aus Angst, erst recht als Beweis für die Landesflucht zu gelten, ignoriert worden.
Jedenfalls wurde sie nicht als Argument in der Auseinandersetzung um die Motion
Pestalozzi verwendet und fand auch in der Zeit davor keine Erwähnung. Der ICZ-
Jahresbericht von 1941 hingegen erwähnt dankbar, dass «von den nach dem Ausland
verzogenen Mitgliedern ein Teil seine Mitgliedschaft beibehielt» und damit auch aus
Übersee Steuern bezahle, was als Zeichen der Verbundenheit gewertet wurde. 10 Die New
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN 91

Yorker Juden beschwerten sich beim SIG über «die rudimentäre, ungenügende Kennt-
nis über die von unserem inneren Pflichtgefühl diktierten Leistungen» und stellten fest,
dass «nach wie vor in gewissen Kreisen eine unangebrachte Entrüstung über die
angebliche Pflichtvergessenheit der Schweizer Juden in New York» vorherrsche. 11
Als die Motion Pestalozzi 1944 im Kantonsrat von Hans Streuli, damals Regie-
rungsrat und später Bundesrat, entgegengenommen wurde, schien der Zürcher Regie-
rung dieser Zusammenhang kaum einer Überlegung wert - obwohl die eigene
regierungsrätliche Politik der vorangegangenen Jahre die angeprangerten Sachverhalte
mitverschuldet hatte. Dem Finanzdirektor war nicht aufgefallen, dass die grosse Mehr-
heit seiner Steuerflüchtigen Juden sein könnten, die nicht nur aus äusserer Gefahr und
kriegsmässiger Bedrohung, sondern auch wegen dem antisemitischen Klima der Schweiz
ihre Haut retten wollten. Der Regierungsrat äusserte in seiner Antwort lediglich
verfassungsrechtliche Bedenken, fürchtete ausländische Retorsionsmassnahmen und
bezweifelte die praktische Durchführbarkeit der auf Zürich beschränkten kantonalen
Regelung. Die Zürcher Regierung strebte daher forsch eine eidgenössische Regelung
an, um sie als Waffe «für das ganze Land wirksam» zu machen. Die Motionsautwort
wurde deshalb dem Bundesrat zugestellt, was aussergewöhnlich erscheinen musste,
und die Regierung in Bem ersucht, eine Rückwandererbesteuerung für die Schweiz zu
prüfen und allenfalls mit einem Vollmachtenbeschluss einzuführen. 12
Die Eidgenossenschaft hatte freilich am 3. Januar 1941 mit einem Bundesrats-
beschluss bereits einen Auswandererwehrbeitrag erhoben, der dem Zürcher Regie-
rungsrat aber nur als «unbedeutender Tribut» erscheinen wollte. Ausserdem gab später
das Justiz- und Polizeidepartement auf eine Kleine Anfrage im Nationalrat bekannt,
eine Vorsorge gegen Drückeberger sei wohl wünschenswert, aber kaum durchführbar,
selbst mittels Entzug der bürgerlichen Ehren und Rechte nicht. 13 Seit Kriegsausbruch
waren bis Ende 1943 gesamtschweizerisch 6'865 Schweizerbürger ausgereist, davon
mehr als 5 '000 Militärdienstpflichtige. 14 Aus den genannten Zahlen des Bundes ist der
Anteil jüdischer Schweizer Bürger nicht herauszulesen, doch dürfte der Anteil sehr
gering sein. Die jüdischen Auswanderer, die zum entscheidenden Punkt in der
zürcherischen Auseinandersetzung wurden, hatten gesamtschweizerisch nicht nur aus
einer geringen Anzahl, sondern oft aus Niedergelassenen bestanden, die als Nicht-
schweizer ohnehin nicht militärdienstpflichtig waren. Wie auch immer, der Vorstoss
zu einer eidgenössischen Regelung verlief im Sand.
In Zürich indessen braute sich ein Gewitter zusammen, das den Charakter einer
Abrechnung für die Nachkriegszeit trug, die auf Kosten der Juden geführt zu werden
drohte. Doch nun drehten die Schweizer Juden den Spiess um und klagten die
antisemitische Stimmung um 1938 an, die im Zeichen des europäischen Antisemitismus
und Hitlers Erfolgen einen Teil der Elite in der Schweiz beflügelt hatte. «Es ist damals
in jüdischen Kreisen wohlverstanden worden, dass viele Schweizer in führender
Stellung die Anpassung sich vor allem so gedacht haben, dass man die Juden nach und
92 2. KAPITEL

nach ausschaltete und zur Auswanderung veranlasste», wie das Israelitische Wochen-
blatt der Neuen Zürcher Zeitung vorhielt. Insbesondere wurden die Anpassungs-
tendenzen detailliert gebrandmarkt, die Rede von Pilet-Golaz im Jahr 1940 erwähnt
und die Verunsicherung bedauert, die beispielsweise von der Haltung der NZZ als
«Organ des regierenden Freisinns» ausgegangen sei. Die Motion Pestalozzi betrachte-
te man als Verlängerung jener frontistischen Boykottforderungen, mit der auch das
Bundessekretariat des antisemitisch eingestellten Gotthardbundes die Juden zu treffen
suchte. Der geistige Terror gegen die angeblich «treulosen Schweizer» richte sich im
Grunde gegen die Schweizer Juden und entpuppe sich als späte Fortsetzung antisemiti-
scher und nazistischer Ambitionen. 15 In der Tat frohlockte auch das Deutsche General-
konsulat über die Motion Pestalozzi, wenn es in offenkundiger Verdrehung telegra-
fisch an das Auswärtige Amt in Berlin berichtete, in Zürich hätte sich aus «Vertretern
aller Volkskreise ein schweizerisches Aktionskomitee gebildet», was in Öffentlichkeit
und Presse lebhaft begrüsst werde, da es sich bei den Drückebergern und Neubürgern
fast ausschliesslich um jüdische Emigranten handle. 16
Im Kantonsrat Zürich kam die Motion Pestalozzi Ende Januar 1945 zur Behand-
lung, ohne Chancen zur Überweisung zu haben. Bereits in der kantonsrätlichen Kom-
mission, welche zuvor die Rückwanderersteuer beraten hatte, brachte die jüdische
Abwehr durch den Sozialdemokraten Max Gurny zwei Rechtsgutachten des Staats-
rechtsprofessors Zaccaria Giacometti ein, in denen die Verfassungsmässigkeit der
Sondersteuer erörtert wurde. 17 Die Kommission wurde sich mit der Regierung und mit
Pestalozzi selbst einig, dass die Motion chancenlos und daher abzuschreiben sei.
Gurny analysierte dann im Kantonsrat öffentlich den Hintergrund, der die Motion zu
einer Aufbereitung der «<udenfrage» werden liess. Das löste eine eigentliche
Antisemitismusdebatte aus, bei der die Fraktionen ihre oft peinlich wirkenden Vorur-
teile zum besten gaben. Der Rat beschloss nach heftig geführter, ausgedehnter Debatte,
die Motion Pestalozzi abzuschreiben. 18
Die gerraue Lektüre der öffentlichen Polemiken und kantonsrätlichen Debatten lohnt
den Aufwand. Denn das eigenmächtige Vorprellen der Zürcher Regierung im Bundes-
haus gaben Gumy und der jüdischen Abwehr Anlass, einige Aspekte eidgenössischer
Judenpolitik erstmals darzulegen. Unter den vielen Hinweisen auf Faschismus und
Aussenpolitik traten die innenpolitischen Widersprüche hervor, die eine weitergehnde
Beschäftigung mit der schweizerischen «<udenfrage» sehr wohl gelohnt hätten. Gurny
nannte deutlich einige Sorgen, die bislang von jüdischer Seite selbst nicht gerne erwähnt
worden waren: den behördlichen Druck, keine Schwierigkeiten zu machen, die «Erleich-
terungen» und Empfehlungen für eine jüdische Auswanderung, dann die Mithilfe bei
«Arisierungen» und selbst die Preisgabe von Schutz und Gleichstellung jüdischer
Schweizer Bürger im Ausland, wie sie in der verschwiegenen Affare um den Ordre
public 1941 zum Vorschein kommt. Gurny hätte noch die Finanzierung der
eidgenössischen Flüchtlingspolitik durch die Juden selbst anfügen müssen.
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN 93

Im wesentlichen war hier die Exposition des Themas vorgeführt, das uns in den
nächsten Kapiteln dieser Untersuchung beschäftigen wird. Die Debatte im Zürcher
Kantonsrat liest sich daher auch als eine frühe Spurensicherung der schweizerischen
Judenpolitik im Zeichen judenfeindlicher Versuchungen und Mfären. Als Lektion
vorzeitig und unwillkommen heraufbeschworener Gegenwartsgeschichte war sie zu-
gleich ein letztes jüdisches Abwehrgefecht gegen eine erneute und späte Sonder-
gesetzgebung, die den Charakter einer schlecht geübten Entsorgung des schweizeri-
schen Antisemitismus annahm. Sie schien zu beweisen, was der von Gottlieb Duttweiler
und Regierungsrat Streuli attackierte Max Gurny selbst vermerkte, nämlich dass Kritik
und Aufarbeitung des V ergangenen an dieser Stelle kaum erwünscht waren.

JÜDISCHE ABWEHR UND AUFKLÄRUNG:


VERÄNDERUNGEN IN DER ABWEHRSTRATEGIE ANGESICHTS
NAZISTISCHER BEDROHUNG

Es ist weder sinnvoll noch beabsichtigt, hier sämtliche öffentlich bekannt gewordenen
Ereignisse, gerichtlich ausgetragenen Fälle und publizistisch verbreiteten Produkte der
Abwehr von Antisemitismus in den Jahren von 1933 bis 1945 darzustellen. Vielmehr
wird versucht, eine vorsichtige Bewertung der Abwehr vorzunehmen, die der
Komplexität der Situation gerecht wird. Einige markante Fallbeispiele in chronologi-
scher Folge sollen vor allem Hinweise vermitteln, die eine Charakterisierung der
politischen Orientierungen und der taktischen Verlagerungen erlauben.
Massgeblich für das Zustandekommen einer jüdischen Abwehrorganisation waren
zwei Faktoren: die Machtübernahme Hitlers in Deutschland und das gleichzeitige
Aufkommen des Frontismus in der Schweiz. Diese äusseren Ereignisse in den frühen
dreissiger Jahren überlagerten indessen zwei bekannte Vorgaben, welche die jüdische
Abwehr bereits zuvor geprägt hatten. Erstens war bereits die Gründung des SIG im
Jahr 1904 dem Bedürfnis entsprungen, das 1893 in die Bundesverfassung aufgenom-
mene antisemitische Schächtverbot zu bekämpfen. 19 Schächtverbot und Fleisch-
versorgung waren in den ersten zwanzig Jahren die Haupttraktanden in den Verhand-
lungen der SIG-Gremien gewesen und sollten nach 1925 auch weiterhin einen wichti-
gen, wenn auch nicht mehr den dominierenden Platz einnehmen. Jedenfalls wurde das
Schächtverbot als unerträglich empfundener Einbruch in die bürgerliche Freiheit
· betrachtet, die mit der Emanzipation und Kultusfreiheit seit 1866 erreicht worden war.
Zweitens provozierten die antisemitischen und fremdenfeindlichen Töne in der Öf-
fentlichkeit, die nach dem Ende des Ersten Weltkrieges festzustellen waren, erstmals
die zaghafte Herausbildung einer organisatorischen Struktur für die Abwehr, die
94 2. KAPITEL

programmatisch diesen Namen trug und in den zwanziger Jahren als Traktandum auf
den Tagesordnungen erschien.
Mit der Bekämpfung der judenfeindlichen Einbürgerungspraktiken war die Aufga-
be der späteren Abwehrorganisation in Umrissen bereits skizziert. Getragen wurde die
Abwehr von orthodoxen und liberalen Juden in gleicher Weise, nachdem noch bei der
Schächtfrage das Interesse der Liberalen mehr in der prinzipiellen Beseitigung einer
Beeinträchtigung verfassungsrechtlicher Gleichheit und dasjenige der Orthodoxen
mehr in einer Gewissensnot gelegen hatte. 2° Für beide Ziele, die Aufhebung des
Schächtverbots wie insbesondere die Abwehr von fremdenfeindlich bestimmtem
Antisemitismus, erschien bereits in dieser frühen Zeit eine Reihe von Problemen
vorgezeichnet, die ein grundsätzliches Dilemma der jüdischen Abwehr darstellten: die
Gefahr einer innerjüdischen Aufspaltung, die Schwäche apologetischer Methoden, das
Bedürfnis nach Koalitionspartnern und die Angst vor dem Hervorkehren einer jüdi-
schen Sonderpolitik Doch erst die Ereignisse in den dreissiger Jahren verlangten eine
stärkere Ausformung der Abwehr und machten auch die rechtlichen und situations-
bedingten Unzulänglichkeiten einer aus der Position des Minderheitendasein geführ-
ten Selbstverteidigung schmerzlich bewusst.
In einer ersten Phase, von 1932 bis 1935, zeigte sich der SIG noch offensiv und
publikumsorientiert, sowohl durch seine politischen und rechtlichen Vorstösse wie
durch seine taktischen Prämissen, die auf breite Wirkung in der Öffentlichkeit zielten.
Während der zweiten Phase, unter dem Eindruck internationaler Entwicklungen und
innenpolitischer Stabilisierung, blieb zwar das dezidierte Beharren auf rechtlich-de-
mokratischen Normen zur Bekämpfung des Antisemitismus, doch zog man sich auf
eine Taktik zurück, allen öffentlich und laut ausgetragenen Kampf zu vermeiden. In
einer dritten Phase, von 1938 bis 1940, folgt die Abwehr angesichts der sich
dynamisierenden Ereignisse im In- und Ausland einer aus der Enge loyaler Verpflich-
tung vorgezeichneten Linie: die deutsche Machtpolitik, der Ausbruch des Krieges und
der damit verbundene Siegeszug nazistischer Gewaltherrschaft in Europa setzte den
SIG schockartig unter Zwänge, die politische Beschwichtigung der eigenen Reihen
und Rücksichten auf die Interessen des Staates erheischten. Als Höhepunkt und vierte
Phase einer nervös geführten Abwehr kann die Zeit von 1940/42 gelten, die durch
starke innere Spannungen und Konflikte gekennzeichnet ist, insbesondere wegen eines
drohenden Verlustes rechtlichen Terrains und der antisemitischen Flüchtlingspolitik in
der Schweiz.
Als nach dem März 1933 die ersten jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland eintra-
fen, im Sommer die frontistische Agitation intensiviert wurde und im Herbst mit den
Gemeindewahlen in Zürich, Basel-Stadt, Genf und Aargau erstmals die <<Judenfrage»
zu einem bevorzugten Thema in der politischen Diskussion geriet, fand sich der SIG
überrollt und in eine Rolle gestossen, die grosse Mühe bereitete. In den Jahren vor
1930 lag das Hauptgewicht der SIG-Arbeit in der Konsolidierung der erreichten
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN 95

Positionen. Man war darangegangen, die sozialen Aufgaben zusammen mit privaten
Initiativen zu fördern und widmete sich der Stärkung und vorsichtigen Ausdehnung
der nunmehr zahlreicher werdenden Verbandsaktivitäten. Die Schweizer Juden be-
schäftigten sich mit der Gestaltung einer Friedhofanlage in Davos, der Gründung einer
gemeindeübergreifenden Pensionskasse, der Wohlfahrtsförderung, der Regelung des
Bestattungswesens, der Jugenderziehung, einer Edition über die Geschichte der Schwei-
zer Juden, der Idee einer übergreifenden Konvention für die Mitgliederaufnahmen und
mit weiteren Projekten und Aufgaben. Anstelle dieser Bemühungen hatte man sich
nun vorwiegend der Abwehr von Verleumdungen und Angriffen zu widmen, die
gleichzeitig und an verschiedensten Orten mit gewitterhafter Wucht auftraten. 21 Vor
allem die Judenhetze als Methode der politischen Auseinandersetzung und des Wahl-
kampfes, die lokalen Listenverbindungen bürgerlicher Parteien mit den Frontisten und
die «Selbstverständlichkeit>>, den Antisemitismus scheinbar «demokratiefähig» zu
machen, verunsicherten die Schweizer Juden zutiefst.
Bereits im Mai 1932 hatte sich der SIG in einem Schreiben beim Bundesrat über
die «groben Entstellungen und schweren Verleumdungen» des Judentums beklagt,
was im September Bundesrat Giuseppe Motta in seiner Festrede zur Luzemer Jahrhun-
dertfeier veranlasste, die Geringschätzung von· Mitbürgern wegen ihrer Konfession,
Sprache oder Abstammung zu verurteilen. 22 Im Frühjahr 1933, als die antisemitische
Hetze zunahm, verschärften der SIG und die jüdischen Gemeinden ihre Proteste. Eine
ausserordentliche Delegiertenversammlung signalisierte am 3. Mai 1933 die Kampf-
bereitschaft der jüdischen Abwehr und forderte den Bundesrat zu Stellungnahme und
Massnahmen auf, um der Hetze ein Ende zu bereiten. Die Schweizer Regierung nahm
von dieser Resolution zwar Kenntnis, beantwortete aber das SIG-Schreiben nicht, da
man die Gleichberechtigung aller Schweizerbürger als selbstverständlich erachtete. 23
Im Klartext hiess dies, dass es an den Juden lag, diese Errungenschaft der Emanzipati-
on als Recht des individuellen Bürgers zu beanspruchen und allenfalls gegen kollekti-
ve Schmähungen zu verteidigen. Die Schweizer Juden sahen sich genötigt, die Ab-
wehr des Antisemitismus als eigene Aufgabe zu betreiben, was im Grunde Sache des
Staatswesens gewesen wäre. Die Abwehr fand sich daher von Anfang an auf den Weg
gewiesen, nicht nur publizistisch über die kaum belehrbaren Antisemiten aufzuklären
und dem Bürger die jüdische Situation verständlich zu machen, sondern auch in
mühsamen Prozessen vor Amtsgerichten ihre Rechte zu verteidigen.
Hinzu kam die anfängliche Blindheit vieler Politiker, Intellektueller und eines Teils
der Presse. Diese vermochten den antisemitischen Kampf gegen das «Judentum» nicht
als Speerspitze einer antidemokratischen Ideologie zu durchschauen. Man empfand
dies mit Beunruhigung in zahlreichen Gemeinden und leitete daraus für den SIG die
weitreichende Notwendigkeit ab, sich jetzt «in erster Linie mit politischen Fragen» zu
beschäftigen. 24 Im Verlauf der Jahre 1934/35 bestätigten die antisemitischen Agitatio-
nen die Dringlichkeit einer intensiven Abwehr, als die Juden sich mit Einbrüchen und
96 2. KAPITEL

Beschädigungen von Synagogen und Friedhöfen, Verleumdungen in Literatur, Flug-


blättern und Anklebezetteln, kurz mit den Auswüchsen des frontistischen Radau-
Antisemitismus im nazistischen Aktionismusstil konfrontiert sahen. 25 Von Anfang an
erkannte die Abwehr in alldiesen Verletzungen der demokratischen Kultur die Aus-
strahlung des «Dritten Reichs», das seine diktatorische Macht im nördlichen Nachbar-
land festigte. Die Schweizer Juden sahen bereits Mitte der dreissiger Jahre den schwei-
zerischen Kleinstaat vor die Alternative von Anpassung oder Widerstand gestellt.
Bereits früh, aber erst recht mit dem Nürnberger Parteitag, richtete sich der Blick der
jüdischen Abwehr auf das Deutsche Reich, von dem eine gleichzeitige Bedrohung
jüdischen Lebens überhaupt wie auch der dies garantierenden demokratischen Einrich-
tungen ausging.
Den Schweizer Juden war bereits 1933 daran gelegen, Gewissheit über die in der
Verfassung gewährleistete Gleichberechtigung zu haben. In den deutschen Juden-
gesetzen witterte man auch eine mögliche Vorschubleistung für die frontistischen
Machenschaften in der Schweiz. Freilich enthalten die Protokolle des Central-Comites
über methodische Gewichtung und taktisches Vorgehen der Abwehr eine Reihe erheb-
licher und interessanter Meinungsverschiedenheiten. Denn man bewegte sich hier auf
einem Feld mit unterschiedlichsten Konfliktebenen: jüdisch-schweizerische, deutsch-
jüdische, schweizerisch-deutsche und selbst international angelegte Interessen- und
Konflitpotentiale diktierten wirtschaftliche und diplomatische Rücksichtnahmen. Das
zeigt das Beispiel des mehrfach diskutierten jüdischen Gegenboykotts, den der vorbe-
reitende Jüdische Weltkongress (damals noch Comite des Delegations J uives) gegen
die deutschen «Judenboykotte» international durchzuführen beabsichtigte. Insbeson-
dere der Genfer SIG-Vertreter Armand Brunschvig verfolgte eine Linie, die sich an der
Ausrichtung orientierte, wie sie vom Weltkongress, aber auch Kreisen der Genfer
Universität und einzelnen Vertretern im Völkerbund eingeschlagen wurde. Sie betonte
den öffentlichen Charakter des Protestes, die international auszudehnende Verteidi-
gung demokratischer Grundrechte, die Wichtigkeit von ständigen Interventionen bei
Schweizer Behörden und Völkerbund und die Opportunität eines Deutschland-
Gegenboykotts. Zu diesem Zeitpunkt wollte man einer Beschwichtigung von Behör-
den und diplomatisch gepflogenen Rücksichten nichts abgewinnen. 26
Die Haltung des SIG in allen diesen Fragen der rechten Massnahme stand immer
wieder zur Diskussion. So erachtete im Sommer 1935 die Gemeinde von La Chaux-
de-Fonds in einem Vorstoss den Warenboykott als wirksame Waffe, mit dem die
«Juden in allen Ländern zusammen etwas erreichen» würden. Als Standpunkt eines
Verbandes, dem von aussen gesehen eine quasi «offizielle» Repräsentation zukam,
schälte sich aber im SIG eine Zustimmung zu antideutschen Massnahmen nur mühsam
heraus. Selbst die Nürnberger Rassengesetze, die einhellig als «Bruch mit den Errun-
genschaften der französischen Revolution» gewertet wurden, Hessen einen Protest
wenig ratsam erscheinen. Einen Boykott Deutschlands auszurufen, betrachtete der SIG
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN 97

aus Rücksichtnahme auf die Juden in Deutschland als riskant. Doch enthalten die
Voten auch Stellungnahmen, die sich ganz auf den Bundesrat verlassen wollten, nach
der farblosen Neutralität der Eidgenossenschaft verlangten und gar die touristischen
und volkswirtschaftlichen Interessen des Lande& vorschoben. Die Angst vor öffentli-
cher Unliebsamkeit und der Druck amtlicher Stellen sind in der Abdämpfung eines
resoluten Tones nicht zu überhören. Letztlich verblieben dieSIG-Delegierten 1935 in
der Boykottfrage, trotz zahlreicher örtlicher Vorstösse und Aufrufe, bei einem «Votum
mit Acclamation zur Erreichung eines moralischen· Eindruckes». Man verzichtete
sogar auf eine offizielle Protestresolution, und von einem nach aussen getragenen
Appell zum Boykott deutscher Waren war schon gar nicht mehr die Rede. Über die
praktische Wirkung eines solchen Aufrufes auf die schweizerische Wirtschaft machte
man sich ohnehin keine grossen Illusionen. 27
Auf einer anderen Ebene als der Wirtschaftsboykott stand der öffentliche Protest
gegen die Entrechtung der Juden in Deutschland, die 1935 mit den Nürnbergern
Rassengesetzen einen ersten Höhepunkt erreichte. Ein öffentlicher SIG-Protest gegen
die Rassengesetze wurde aber im Central-Cornite abgelehnt. Dieser hätte gernäss dem
Antrag des ICZ-Vertreters Saly Braunschweig in zwei Richtungen zielen sollen.
Einmal sollte ein Signal an die Mitgliedgemeinden gegeben werden, mit Vorträgen
und Veranstaltungen über die Entrechtung der Juden in Deutschland aufzuklären- was
dann auch ohne SIG tatsächlich vielerorts geschehen ist. Zum andern verlangte Braun-
schweig eine Eingabe an die Völkerbundkommission für Minderheitenschutz, von der
erwartet wurde, dass sie ihre Stimme zugunsten der Juden in Deutschland erheben
würde. Präsidiert wurde diese Kommission zur Zeit der Nürnberger Gesetzgebung von
Bundesrat Motta, wobei man sich von dessen Stellvertreter in der Kommission,
William Rappard, starke Einflussnahme erhoffte.
In der Diskussion wog aber die Angst, die schweizerische Neutralität zu unterlau-
fen, weit gewichtiger als eine entschiedene Unterstützung der weltweiten jüdischen
Solidarität. Vor allem fürchtete der scheidende SIG-Präsident, Jules Dreifus-Brodsky,
ein erneutes Aufrollen der Judenfrage im eigenen Land, was angesichts der anstehen-
den Nationalratswahlen unerwünscht sein musste. Ausserdem meinte man, der «Fall
Jacob» habe gezeigt, dass Bern mit Deutschland auf gutem Fuss stehen möchte. Ein
Votant erachtete es gar als gefährlich, ohne Zustimmung des Bundesrates «in die
gesetzgeberischen Massnahmen eines Landes sich einzumischen». Letztlich war man
sich im klaren, dass «etwas geschehen müsse», ohne vorerst zu wissen, wie ein Kampf
zu führen sei gegen den drohenden Widerruf der Emanzipation und für die Wahrung
der von Deutschland vor aller Welt mit Füssen getretenen Gleichheitsprinzipien. Das
an Motta gesandte kurze Schreiben verwies schliesslich auf die bürgerliche Gleichbe-
rechtigung und auf die in Bern so gern beschworene kommunistische Gefahr, indem
der SIG sich gegen alle «Unterstellung als sei Judentum identisch mit Bolschewismus
und das Judentum der Träger der Volkszersetzung» verwahrte. 28
98 2. KAPITEL

Diese nach aussen lau wirkende Haltung des SIG signalisiert den deutlichen
taktischen Wechsel von der ersten zur zweiten Phase der jüdischen Abwehr in der
Schweiz. Einer offensiven, nach aussen gerichteten Haltung gegen Frontismus und
Nazismus folgten Vorsicht, Rücksichtnahmen und eine Vermeidungsstrategie, die aus
der Einsicht genährt war, dass dieser Kampf nun einer Ideologie galt, die ganz als
staatliche Macht auftrat, Gesetze erliess und auf die Schweiz diplomatisch und bald
militärisch Druck ausüben konnte. Die Haltung, einen öffentlichen Kampf gegen den
Antisemitismus zu vermeiden, lässt sich gerade an jenem Prozess ablesen, der noch bis
1935 vorrangig dem Ziel diente, die Verleumdungen vor aller Welt zu entlarven: Vor
den Berner Gerichtsschranken fand zwischen dem November 1933 und dem Novem-
ber 1937 der Prozess um die «Protokolle der Weisen von Zion» statt, der weit über die
Landesgrenzen hinaus beachtet wurde.29

Der Berner Prozess 1933-1937

Bekanntlich gibt es keine antisemitische Veröffentlichung, die grössere Resonanz


gefunden hat als die sogenannten Protokolle. Im zaristischen Russland erstmals er-
schienen, durch Emigranten nach der Revolution von 1917 nach Westeuropa gebracht,
dann in nahezu alle Länder der Welt verbreitet, galt diese Fälschung den Antisemiten
als «Kronzeugendokument}} für eine angebliche jüdische Weltverschwörung. Beson-
ders perfid mutet der Vorwurf des angeblichen «Verrates}} an, wenn man sich die
geradezu rührenden Loyalitätsbezeugnisse der jüdischen Bürger zu ihren Stataten vor
Augen führt. In der Schweiz wirkte besonders die konstruierte Verbindung einer
jüdisch-freimaurerischen Verschwörung als zugkräftiges Argument, was gar zu einer
Freimaurerverbots-Initiative führte, die freilich in der Volksabstimmung von 1937
unterlag. Durch die schweizerischen Frontisten wurden die «Protokolle}} in einer
Ausgabe des deutschen Antisemiten Theodor Fritsch verkauft. Hitler selbst kannte die
«Protokolle}} bereits seit 1920, und im «Dritten Reich}} wurde der Mythos einer
jüdischen Weltverschwörung Teil der Staatsideologie und offizielle Unterrichts-
grundlage, mit dem die ideologische Ankündigung für die «Vernichtung der jüdischen
Rasse in Europa}} erfolgte. Wirkungsgeschichtlich haben sich die «Protokolle}}, die
kein authentisches Dokument, sondern eine zusammengestückelte und mehrfach um-
geschriebene Erfindung darstellen, durch das 20. Jahrhundert untergründig oder gar als
anerkanntes Propagandainstrument halten können. Bis heute sind sie immer wieder in
stalinistischen, neofaschistischen, panarabischen oder religiös-fundamentalistischen
Varianten aufgetaucht. 30
Im Sommer 1933 reichte der SIG in Zusammenarbeit mit den lokalen jüdischen
Gemeinden sowohl in Basel wie in Bern gerichtliche Klagen ein, mit denen eine
weitere Verbreitung der «Protokolle}} unterbunden werden sollte. Aufgrund griffiger
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN 99

gesetzlicher Voraussetzungen, die im Kanton Bern mit einem Gesetz über das Licht-
spielwesen und gegen die Schundliteratur besser gegeben schienen, konzentrierte sich
die Prozessführung bald auf Bern. Dabei klagten der SIG und die Israelitische
Kultusgemeinde Bern nicht nur den Verkauf der «Protokolle» ein, sondern auch einen
inkriminierenden Zeitschriftenartikel mit dem Titel «Schweizermädchen, hüte Dich
vor schändenden Juden», der ganz im Stil des deutschen «Stürmer» diese antisemitischen
Motive von Sexual- und Geldgier verbreitete. 31 Erklärtes Ziel der Kläger in diesem
Verfahren gegen verschiedene Mitglieder derNationalen Front und des Bundes national-
sozialistischer Eidgenossen war es, zum einen ein Verbreitungsverbot, zum andern
eine Strafverfolgung von Amtes wegen zu erwirken. Taktisch indessen suchten, wie es
auch eine Aufklärungsschrift der beiden Anwälte Georges Brunschvig und Emil Raas
zum Ausdruck brachte, die Kläger den Nachweis der Fälschung der berüchtigten
«Protokolle» zu erbringen. 32
Die jüdische Abwehr erreichte vor dem erstinstanzliehen Richter im Mai 1935 alle
diese Ziele, insbesondere die Anerkennung, dass die «Protokolle» eine Fälschung dar-
stellten. Hingegen fanden sich SIG und IKB im Urteil des Appellationsgerichtes vom
November 1937 aus formaljuristischen Erwägungen um Strafverurteilung und Verbrei-
tungsverbot der frontistischen Pamphlete gebracht, indem der Oberrichter in den Proto-
kollen ein zwar perfides, doch «politisches Kampfrnittel» erblickte, das daher nicht unter
den Schundliteraturartikel fallen könne. Inzwischen war der international beachtete
Prozess selbst zu einem politischen Kampfmittel geworden, was auch die zunehmende
Nervosität von Bundesrat und Behörden gegenüber deutschen Druckversuchen zeigt.
Antisemitisch veranlagte Schweizer und deutsche Staatsbürger in der Schweiz nahmen
den Prozess gerne zum Anlass, um bei der deutschen Gesandtschaft Stimmung zu
machen. 33 Die jüdische Welt im Ausland rezipierte das Ergebnis als «Hotel-Justiz», als
formalistische Behinderung des Rechts und als politische Schwäche, erblickte aber im
Urteil wenigstens einen moralischen Sieg über die gefälschten Protokolle. Die Nazis
lobten indessen im Völkischen Beobachter die sprichwörtliche «Sauberkeit der Schwei-
zer Justiz». 34
Der Berner Prozess war also während der ersten Runde taktisch stark davon
bestimmt, öffentlich den fiktiven Charakter der «Protokolle» vorzuführen, selbst wenn
dies publizistisch längstens geleistet war. 35 Ein beeindruckendes und internationales
Aufgebot an prominenten Zeugen, darunter mehrere russische Historiker und Juristen,
dann eine Reihe jüdischer Persönlichkeiten, schliesslich zwei bekannte Experten,
verschafften den Verhandlungen weltweit Achtung und Publizität. Die Erledigung vor
den öffentlichen Schranken der Justiz bestimmte das Bild dann in allen weiteren
Phasen. Bereits vor und erst recht während dem Appellationsverfahren drohte aber die
angestrebte Wirkung in das Gegenteil umzuschlagen. Noch 1934 war eine Vertagung
der Verhandlungen, die den überrumpelten schweizerischen Antisemiten Gelegenheit
zum Beizug eines deutschen Experten geben sollte, von der jüdischen Seite als
100 2. KAPITEL

willkommene Gelegenheit betrachtet worden, dass sich die Judenhetzer damit selbst
eine Grube graben würden. 1937, im Vorfeld der zweitinstanzliehen Appellations-
verhandlungen, befürchtete die jüdische Abwehr nur noch das politische Aufbauschen
zu einem agitatorischen Instrument des «Dritten Reiches}}. Die deutsche Tendenz,
Gelegenheiten zur Provokation zu suchen, hat bekanntlich in der Tat bestanden, was in
der Schweiz mit wachsendem Unbehagen registriert wurde. Viele Zeitungen, insbe-
sondere die dem Mittelstand und der BGB-Partei nahestehende Presse, gaben sich
unangenehm berührt, dass ein bernisches Gericht als Forum für einen «internationa-
lem} Streit diene. Damit war Öffentlichkeit herzustellen aus der SIG-Sicht kaum mehr
gefragt, und jedes Aufsehen war einzudämmen, um kontraproduktiven Wirkungen zu
entgehen. Aus diesen Überlegungen haben die Schweizer Juden auf eine staats-
rechtliche Beschwerde, womit der Prozess weitergezogen worden wäre, verzichtet. 36
Dies bringt deutlich den besprochenen taktischen Wechsel zum Ausdruck, der von der
Einsicht geleitet war, dass deutsche Macht und Ideologie eine unmittelbare Bedrohung
für die Schweiz geworden waren, die nicht durch moralische Fragen verstärkt werden
durfte.

Der Davoser Prozess 1936

Wie richtig diese Einschätzung der nazistischen Infiltration war, aber auch wie
heterogen die Schweizer Juden in der Frage der rechten Massnahmen waren, zeigt
auch der Prozess gegen David Frankfurter von 1936. Am 4. Februar dieses Jahres
hatte der jugoslawische Medizinstudent Frankfurter in Davos den präsumptiven
Leiter der NSDAP-Landesgruppe Schweiz, Wilhelm Gustloff, erschossen und war
dafür vom Bündner Kantonsgericht zu achtzehn Jahren Zuchthaus verurteilt wor-
den. Die Nazis nahmen den Prozess zum Anlass, vor den Churer Gerichtsschranken
mit guten Anwälten und einem Tross von Nazijournalisten wie Mitankläger aufzu-
treten oder durch genaue Analysen der Schweizer Presse festzustellen, wie weit eine
«gereizte Stimmung gegen Deutschland}} durch die Judenfrage beeinflusst werde
odernichtY
In Deutschland selbst erwogen Nazigrössen,wie Wilhelm Frick, sein Staatssekretär
Wilhelm Stuckart oder Hermann Göring, die «Judensondersteuen} mit dem Gustloff-
Attentat zu begründen. Laut Anweisung Hitlers wollte man diese zum Abschluss des
Prozesses gegen Frankfurter verkünden - was dann aber aus Rücksicht auf die Roh-
stoff- und Devisenlage nicht geschah. 38 Die Nazis nahmen zwar das Attentat noch
nicht zum Anlass für eine organisierte Provokation, mit der sich im In- und Ausland
die Judenhetze als politisches Instrument aufziehen liess. Doch zeigt das zweieinhalb
Jahre später erfolgte Attentat Herschel Grünspans auf den deutschen Gesandtschaftsrat
vomRathin Paris, welches die Nazis zur Auslösung der Reichspogromnacht benütz-
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN 101

ten, dass dem politischen Mord aus Sicht des Reiches eine instrumentelle Möglichkeit
zu politischer Auswertung und aktionistischer Propaganda innewohnte. Aus Schwei-
zer Sicht zeigte sich die Gefahrdung des Landes durch eine fünfte Kolonne, was mit
dem deutschen Tross im Churer Gerichtssaal offensichtlich wurde.
Die Nachricht der Davoser Tat löste innerhalb der jüdischen Kreise und Gemein-
devorstände markant auseinandergehende Reaktionen aus. Der neue SIG-Präsident
Saly Mayer schlug eine Abwehrlinie des Niedrigprofils ein und suchte jeden Eindruck
zu vermeiden, mit dem ein Zusammenhang zwischen der persönlichen Tat Frankfur-
ters und der offiziellen Schweizer Judenschaft sich hätte herstellen lassen. Die gleiche
Haltung nahm auch das Zentrale Jüdische Informationsbüro in Amsterdam ein. Diese
Reserve des SIG gab intern zu einer Reihe von Missverständnissen Anlass, und mit der
in Paris operierenden Liga gegen Antisemitismus scheint Mayer gar auf Kriegsfuss
gestanden zu haben. Auf dem Hintergrund der eidgenössischen Freimauererverbots-
Initiative war der SIG-Präsident auch besorgt, es könnte bekannt werden, dass Frank-
furters Bruder im jugoslawischen Subotica Mitglied einer Freimauererlage war. Trotz
einem Verständnis für die Tatmotive oder gar politischer Sympathie für Frankfurter ist
die Furcht vor einer nazistischen Auswertung des Vorfalls in allen Dokumenten
ablesbar. Andererseits musste sich der SIG bemühen, die gesamte jüdische Publizität
des Prozesses unter straffe Kontrolle zu nehmen, um penible Situationen und Anlässe
zu Vorwürfen zu vermeiden. Der innerjüdische Führungsanspruch und die disziplinierte
Koordination korrespondierten daher mit dem Konzept des Niedrigprofils nach aussen. 39
Unmittelbar nach der Tat suchte der SIG auch die Wahl des Anwalts des Ange-
klagten zu steuern, den man sich als einen rechtsstehenden Nichtjuden vorstellte, der
den nazistischen Vorwürfen einigen Wind aus den Segeln nehmen würde. Frankfurter
erhielt mit Bugen Curti einen respektierten und gut fundierten Juristen nichtjüdischer
Herkunft zum Anwalt. Von jüdischer Seite assistierte Veit Wyler, auf den aus den
eigenen Reihen zunächst Druck ausgeübt worden war, ein Mandat für Frankfurter
nicht anzunehmen. Wyler und seine sozialistisch und zionistisch gesinnten Freunde
haben sich auf ein solches Spiel diplomatischer Erwägungen allerdings nicht eingelas-
sen. Auch Mayer und der SIG stellten sich diskret und entschieden hinter dieses
Verteidigungsgespann, liessen sich aber nicht zu einer öffentlichen Geldsammlung für
den Prozess bewegen, wie es dies kämpferisch gestimmte Naturen am liebsten gesehen
hätten.
Illustrativ sind die Tagebuchnotizen des sonst sehr loyalen Georges Brunschvig,
der als Anwalt der Jüdischen Gemeinde Bern im «Berner Prozess» aufgetreten war. Er
verzeichnete die eigene ambivalente Stimmung, wenn er sich zwischen taktischem
Kalkül und moralischer Integrität hin und her gerissen fühlte. «Die Familie des
Angeklagten hat einen hochangesehenen Juristen als Anwalt herbeigezogen. Trotz-
dem ich all das Positive, das ein solcher Verteidigerkraft seiner Persönlichkeit mit sich
bringt, anerkenne, zweifle ich doch stark daran, ob ein Mensch, der die Taktik des
102 2. KAPITEL

Gegners nicht aus Erfahrung kennt, das genügende Rüstzeug besitzt, um allen
Eventualitäten gewachsen zu sein. Wenn ich mal alle politischen und taktischen
Überlegungen beiseite lasse, so komme ich als Mensch, als Bürger eines freien Staates
und als Jude zu der vollendeten Überzeugung, dass wir Juden selber offen und frei
gegen die Angriffe Stellung nehmen müssen, die gegen uns gemacht werden. Die
Judenfrage ist aufgerollt und wird nicht wieder so rasch verebben. 40
Die Schweizer Juden wurden durch das Davoser Attentat also erheblich aufge-
schreckt, zumal ein Teil der Schweizer Presse in scheinbar objektiver Betrachtung
Hiebe austeilte, die selbst linksgerichtete Zeitungen als nicht-antisemitisch qualifizier-
ten.41 Dass die Regierungsstellen in Bem und Graubünden durch das Attentat unter
Druck gerieten und dass in der Öffentlichkeit einem vermeintlichen jüdischen Komplott
das Wort geredet wurde, liess die Sache aus jüdischen Augen um so heikler erscheinen
und hat erst durch den sehr harten Urteilsspruch Entlastung gefunden. Dabei brachte
die jüdische Seite angesichts der unentwegten Beschimpfungen und Verhöhnungen in
der nationalsozialistischen Propaganda für die psychologischen Momente der Tat
durchaus Verständnis auf. Und sie wurde im gleichen Jahr von der Verzweiflung
gerührt, die einen tschechischen Juden, Stephan Lux, in Genf auf der Tribüne der
Völkerbundsversammlung zum Selbstmord trieb, um die Welt an das Unglück der
deutschen Juden zu erinnern.

Die Frage der jüdischen Warenhäuser

Jahrelang wiederholte und variierte Verleumdungen durch die frontistische Bewe-


gung, dann das Gefühl der Schutzlosigkeit und eine zunehmende innenpolitische
Verunsicherung, schliesslich der Druck nazistischer Wucht und Demagogie - all dies
erklärt die strategische Veränderung der jüdischen Abwehr, die am Vorabend des
Krieges zu einer zuweilen übervorsichtigen Vermeidungstaktik überging. Diese Hal-
tungist in den ersten Kriegsjahren, angesichtsder deutschen Erfolge, immer konse-
quenter geübt worden. 1937-1939, auf der Suche nach dem Mass und der Linie des
eigenen Verhaltens, das die moralische Integrität berücksichtigen musste, barg der
zunehmende Rückzug aus der Öffentlichkeit auch die Gefahr einer auflösenden Wir-
kung in den eigenen Reihen. Würde nicht ein allzu vorsichtiges Taktieren als Schwä-
che verstanden, das den SIG fortgesetzten Verlust an Vertrauen und Legitimität kosten
würde? Durfte man sich überhaupt in ein Getto des Schweigens zurückziehen oder gar
Terrain in der Abwehrangesichts behördlicher Verständnislosigkeit preisgeben? Deut-
lich brachen die inneren Konflikte aus, als die jüdische Haltung zu den Wirtschafts-
kämpfen um das umstrittene Einheitspreisgeschäfte die Gemüter beschäftigte.
Bereits in den zwanziger Jahren war die Behauptung, die Warenhäuser seien ganz
in jüdischer Hand, weitverbreitet und wurde in der Folge zum unerschöpflichen
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN 103

Dauerbrenner der antisemitischen Äusserungen und dann der frontistischen Propagan-


da. Das Warenhaus wurde als «neue jüdische Wirtschaftsmethode» angeprangert,
ohne dass man auch deren zumeist fortschrittliche Personal- und Sozialeinrichtungen
genannt hätte. Gernäss einer Dissertation von Erwin Dennenberg aus dem Jahre 1937
waren 1930 in der Tat von 32 männlichen Warenhausbesitzern die Hälfte Juden; dieser
Anteil, vom Autor ausdrücklich ohne Anspruch auf Vollständigkeit beziffert, reduzier-
te sich, wenn man die Warenhäuser aus weiteren sechzehn Ortschaften mit-
berücksichtigt.42 Die Warenhäuser galten immer noch als Einzelhandelsbetriebe, in-
dem sie zwar unter dem gleichen Dach die verschiedensten Waren verkauften, die
zueinander keinen warenspezifischen Zusammenhang aufwiesen, aber noch zu Prei-
sen gehandelt wurden, die aufgrund des tatsächlichen Produktionsaufwandes errechnet
wurden. 1930 wurde in Zürich die Einheitspreis-Aktiengesellschaft (EPA) gegründet,
die als Tochtergesellschaft des deutschen Karstadt-Konzerns auftrat, der zwar nicht in
jüdischem Besitz war, aber zahlreiche Juden in Aufsichts- oder Kaderpositionen
beschäftigte. An der EPA selbst wie im gesamten Umfeld der am Einheitspreis-
geschäft interessierten Warenhäuser waren wiederum einige Schweizer Juden mit-
beteiligt.43
Die EPA gab nun den Anstoss zum bisher unbekannten Einheitspreisgeschäft, das
sich vom bisherigen Warenhaus insofern unterschied, als der Verkaufspreis eines
einzelnen Warenartikels nicht mehr aufgrund des Produktionsaufwandes berechnet,
sondern einheitlich kalkuliert und als zugkräftiges Angebot angepriesen wurde. Diese
Verkaufspraxis, die man als weiteres Zeichen grossstädtischen und modernen Lebens
wertete, wurde in den wirtschaftlichen Krisenjahren mit heftiger politischer und öko-
nomischer Kritik bedacht. Die EPA wurde bald auch designiertes Objekt juden-
feindlicher Anschuldigungen und Zielscheibe unentwegter Verhetzung durch die Fron-
ten. Die Freisinnigen des Kantons Zürich nahmen den EPA-Streit zum Anlass, sich
gegenüber den Fronten deutlich abzugrenzen. Sie betrachteten das Warenhaus und die
neue Verkaufspraxis als Ausdruck moderner Wirtschaftsformen, was ganz der auf
Export angewiesenen schweizerischen Volkswirtschaft entspreche, die «ein vitales
Interesse an der Rückkehr zu liberalen Grundsätzen im internationalen Güteraustausch
hat>>·44 Der Bundesrat versuchte, die Ängste des Mittelstandes, die sich die Fronten
zunutze machten, mit Kriseninterventionen aufzufangen und 1933 mit einem
Bundesbeschluss der Vergrösserung und weiteren Verbreitung der Warenhäuser ent-
gegenzuwirken.
Bereits nach der Gründung der EPA hatte sich die jüdische Abwehr mit den
judenfeindlich gefarbten Kritiken an der Praxis der Einheitspreise beschäftigt und die
frontistischen Lügen und Übertreibungen zurückgewiesen. Der SIG hatte es seit jeher
abgelehnt, zu wirtschaftlichen Fragen in der Öffentlichkeit Stellung zu nehmen, be-
mühte sich aber wiederholt um eine Verständigung zwischen Detaillisten und
Warenhausbesitzern. Dabei standen nicht nur, wie dies der bundesrätliche Inter-
104 2. KAPITEL

ventionsbeschluss auferlegte, die Begrenzung weiterer Ausdehnung oder eine mögli-


che Aufgabe von Lebensmittelabteilungen zur Diskussion. Der SIG meinte, auch zu
einem Einstieg von ortsansässigen Gewerbekreisen in einzelne Warenhäuser, sei es
mit Platzhalterangeboten, durch besitzmässige Beteiligungen oder gar Übernahmen,
amegen zu können. Diese Empfehlungen wurden nur als persönliche Bemühungen
angesehen, die an die Grenze des Erlaubten stiessen. 45 Im April1937, seit die Fronten
von neuem Auftrieb erhalten hatten und die Wirkung der Argumente nachhallte,
drohte diese bisher konsequente Haltung der Nichteinmischung des SIG einzubrechen.
Dessen Mitgliedgemeinde Vevey kündete im Central-Comite eine Resolution an, die
sie im Mai den Delegierten in Bern vorzulegen gedachte. Auch Basel trug sich mit der
Absicht, beim SIG wegen der deutschen Methode, das umstrittene Einheitspreis-
geschäft als Vehikel des Antisemitismus zu benützen, vorzusprechen. Im Vorstoss aus
Vevey wurde nun vom SIG verlangt, er solle die EPA unter Druck setzten, alle ihre
Warenhäuser in Städten von weniger als hunderttausend Einwohnern zu schliessen,
und allenfalls den Bundesrat auffordern, Einheitspreisgeschäfte mit einem Verbot zu
belegen. Der Zweck sei, «die Verbreitung des Antisemitismus im Mittelstande zu
verhindern», indem in den betroffenen Städten Vevey, Lausanne, Winterthur,
Schaffhausen und St. Gallen der SIG gegen die EPA auftrete. Damit wäre allerdings
vor Behörden und Öffentlichkeit das Schauspiel eines Kampfes von Juden gegen
Juden geboten worden.
Im Central-Cornite erhielt SIG-Präsident Saly Mayer breiten Sukkurs, als er das
Ansinnen aus Vevey rundweg ablehnte, und dies nicht wegen der praktischen
Wirkungslosigkeit, mit der bei einer Resolution zu rechnen war. Mayer fürchtete mit
Saly Braunschweig und Armand Brunschvig die Aufspaltung der Schweizer Juden
und vor allem die Gefahr einer antisemitischen Instrumentierung der wirtschafts-
politischen Auseinandersetzungen. Die Vevey-Resolution hätte zu beidem das Signal
gegeben. Angefangen beim Einheitspreisgeschäft rolle der Stein weiter gegen das
Warenhaus, dann gegen das jüdische Konfektionsgeschäft und schliesslich überhaupt
gegen die von Juden ausgeübten Berufe, wie verschiedene Votanten ausführten. Im
Einheitspreisgeschäft gebe es auch genug Nichtjuden, und es sei nicht einzusehen,
warum aus einer wirtschaftlichen Frage eine jüdische gemacht werde. Auch scheute
man grundsätzlich davor zurück, einer Verwirtschaftlichung der Politik des SIG Raum
zu geben, weil dies die Prämisse des rechtsstaatliehen Ordnungsdenkens, das der
Gemeindebund als legitime Grundlage für seine Vertretung gemeinsamer Interessen
betrachtete, unterlaufen hätte. Dennoch gab es genügend Stimmen, die eine Behand-
lung der Angelegenheit wünschten, wenn auch nicht in der imperativen Weise, wie es
Vevey verlangt hatte. Die tatsächliche Lage zeige angesichts des Antisemitismus in
Deutschland, dass es sich in der Schweiz nicht um eine wirtschaftliche Frage, sondern
den Beginn eines Politikums handle. So kam es im Central-Comite zu einem
Kompromiss, aus eigenem Ermessen bei den massgebenden Leitern der Einheitspreis-
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN 105

geschäftevorzusprechen und gleichzeitig nach aussen zu protestieren, dass die öffent-


liche Diskussion statt mit sachlichen Argumenten mit antisemitischen Schlagworten
bestritten werde. Trotz dieser taktisch klugen Vermittlung fasste aber die Geschäftslei-
tung an der nachfolgenden Delegiertenversammlung den verpflichtenden Auftrag, mit
der EPA-Leitung und den Behörden zu verhandeln. 46
Die hier ausgiebig zitierten Passagen vermitteln den Eindruck, dass der Gemeinde-
bund, seinen Verhältnissen entsprechend, sich vor einem unlösbaren Dilemma befand.
Jedes antisemitische Aufbauschen von wirtschaftlichen Fragen in der Öffentlichkeit,
wie es vom westschweizerischen Comite d'action gegen die Warenhäuser betrieben
wurde, musste mit Blick auf die nazistischen Erfolge bedrohlich erscheinen. Zum
andem musste der SIG, ohne überhaupt Kompetenz oder Möglichkeiten zu besitzen,
«etwas unternehmen, bevor es zu spät ist», was nur bedeuten konnte, dass man die
EPA auf die immer schwieriger werdende Lage der Juden hinwies. Hinzu kam die
Ausdehnung antisemitischer Argumente auf die gesamte Branche, die angeblich veljudet
sei. Am Vorabend des Krieges zeigte der strategische Wechsel zur Defensive, dass die
Schweizer Juden, gerade auch in der Rolle als loyale Staatsbürger, sich bedroht fühlten
und von den Behörden vergeblich erwarteten, dass diese sich endlich gegen die
Methoden antisemitischer Verunglimpfungen stellen würden.

INTEGRATION DER KRÄFTE UND INTERNE ABWEHRORGANISATION

Aus der nervös geführten Diskussion innerhalb des schweizerischen Judentums geht
nicht nur hervor, dass die Abwehr im Zeichen des nazistischen Erfolges strategisch
zunehmend defensiv ausgerichtet wurde. Die «Realpolitik» oder Beschwichtigungslinie
war in den Augen vieler Juden immer eine fragwürdige Sache geblieben, die nur allzu
fest der opportunistischen Angleichung aus Not gehorchte. Die Hoffnung, den Status
quo mit taktischen Kompromissen verteidigen zu können, erschien einigen jüdischen
Zeitgenossen im besten Fall als Illusion. Diese Situation brachte in den jüdischen
Reihen einige markante Gestalten auf den Plan, vorab Sozialisten und Zionisten, die in
der Beschränkung auf einen statischen Liberalismus eine naive Schwäche erkannten.
Dies war eine von mehreren Ursachen für die inneren Konflikte, die den SIG und
einzelne seiner Gemeinden 1941-1943 erschüttert haben. In den frühen dreissiger
Jahren ging es zunächst aber einmal darum, überhaupt die Abwehrorganisation wir-
kungsvoll zu formieren. Dazu musste der SIG alle Kräfte zu binden und bündeln
versuchen. Dann waren auch die Instrumente zu schaffen, mit der die Abwehr wirksam
werden konnte. Schliesslich waren auch die Emigranten im Sinne des Niedrigprofils
106 2. KAPITEL

der Abwehr möglichst zu disziplinieren. Die Abwehr und die Flüchtlingsaufgaben


haben dem SIG, dem VSJF und den Gemeinden einen erheblichen institutionellen
Ausbau abverlangt.
Der institutionelle Ausbau des SIG Mitte der dreissiger Jahre brachte dem kleinen
Verband ein ständiges Sekretariat und eine zunächst provisorisch eingerichtete
Informationsstelle, die in erster Linie der Abwehr diente. Die Agentur JUNA, «Jüdi-
sche Nachrichten», war zwar in Zürich bereits 1932 als lokal initiiertes SIG-Projekt im
Zusammenhang mit einer verbandseigenen Zeitung zur Diskussion gestanden, erhielt
dann aber 1936 die Funktion und Form einer Agentur- und Pressestelle, die dem
Central-Comite des SIG unterstellt wurde. Zeitlich fiel die Schaffung dieses Instru-
mentes mit dem Wechsel im SIG-Präsidium zusammen, als Jules Dreifus-Brodsky aus
Basel vom St. Galler Saly Mayer abgelöst wurde. Die Abwehrleistung ist heute in der
wertvollen JUNA-Sammlung von Presseausschnitten über antisemitische Publizistik
von Fronten und der radikalen Rechten dokumentiert. Die Abwehr hatte aber bereits
früher begonnen, unter dem Decknamen VIA Materialien zu frontistischen Organisa-
tionen zusammenzustellen. Besuche von frontistischen Versammlungen brachten ge-
naueren Aufschluss über die einzelnen Gruppen und deren Führergestalten. Insbeson-
dere an der Universität Zürich, aus deren Studentenkreis ein Teil der faschistischen
Eliten hervorgegangen war, besorgte die jüdische Abwehr eingehende Informationen.
Umgekehrt veranlasste die VIA auch den Verzicht auf einen besonderen Verein
jüdischer Studenten, um sich nicht gezielten Provokationen auszusetzen. 47
Die Stärkung des SIG als zentraler Verband und repräsentative Instanz wurde
zuweilen begleitet von der Kritik an der Uneinigkeit der jüdischen Bestrebungen, aber
auch von inneren Auseinandersetzungen um die angemessene Taktik. Hinzu kam, dass
die dem SIG angeschlossenen Gemeinden manchmal allzu eifersüchtig ihre Autonomie
hüteten. Von lokalen SIG-Abwehrkomitees in den Gemeinden erhoffte man sich
nützliche Synergien, aber zugleich eine Anhindung an die vom SIG geführte Abwehr-
koordination. Die Arbeit im einzelnen wurde in den Lokalkomitees meistens von den
SIG-Delegierten dieser Gemeinden geleistet. In den Gemeinden selbst betonte man
indessen die örtliche Zusammenfassung des jüdischen Lebens und den Dienst an der
Gemeinschaft als traditionelles Ideal der Solidarität, mit dem die gesellschaftlichen
und herkunftsmässigen Unterschiede überbrückt werden sollten.
Ablesbar sind diese Veränderungen auch im finanziellen Mitteleinsatz. Im Früh-
ling 1933, nach der Errichtung der nazistischen Diktatur in Deutschland, hatte der SIG
in seinen Resolutionen die Mitglieder seiner Gemeinden aufgerufen, ausserordentliche
Mittel zur «moralischen und materiellen Bekämpfung des Antisemitismus und für die
Wahrung der verfassungsmässigen Rechte der Juden in der Schweiz, ferner für die
Fürsorge zugunsten deutscher Flüchtlinge» zu sammeln. 48 Hatte vier Jahre zuvor der
SIG noch geglaubt, auf eine weitere Bekämpfung des Antisemitismus verzichten zu
können, so deckte 1933 die ausserordentlice Sammlung einen Drittel des gesamten
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN 107

Gemeindebudgets. Ende 1935, am Schluss dieser ersten Phase im Kampf gegen den
Antisemitismus und der einsetzenden Flüchtlingsnot, war mit Ausnahme zweck-
gebundener Fonds das Vermögen aufgebraucht. 49 Ursache dieses schnellen Verzehrs
an finanziellen Mitteln war nicht allein der Beitrag zur Milderung des Flüchtlings-
elends, sondern auch die aufwendige Abwehrarbeit, die mit teuren Prozessen und
Kampagnen geführt worden war. Bereits in den ersten sechs Monaten des Jahres 1933,
als die Abwehr erst anlief, wurden 5000 Flüchtlinge betreut, davon die Hälfte unter-
stützt; zugleich wurden in sechs Städten lokale Abwehrsekretariate errichtet, wofür
insgesamt 103'000 Franken aufgewendet wurden. Dieser Betrag wurde bereits als
Belastung aussergewöhnlichen Ausmasses empfunden, stellte aber nur den bescheide-
nen Auftakt dar zu dem, was folgen sollte.
Mehrfach ist aus Kreisen der Abwehr der Umstand beklagt worden, dass nahezu
die Hälfte aller Juden keiner jüdischen Gemeinde angehören würden. Diese Schätzung
und Mutmassung beruhte auf Vergleichs- und Erfahrungswerten, weil man keinen
Zugang zu staatlichen Registern besass und viele Juden dort auch nicht entsprechende
Angaben über ihre Religionszugehörigkeit gemacht haben dürften. In einem Aufruf
von Georg Guggenheim, der massgeblich in der Abwehrarbeit tätig war und damals
als zweiter ICZ-Vizepräsident die Zürcher Verhältnisse im Blick hatte, ist diese Sorge
vernehmbar. 5° Dort wird auch das leise Bedauern spürbar, dass die jüdischen Gemein-
den, im Gegensatz zu den Landeskirchen, keinen öffentlich-rechtlich anerkannten
Status hatten und damit auch keinen Zugriff auf Verwaltungsbereiche, zum Beispiel
Einwohnerkontrollen oder Steuerregister, beanspruchen konnten. Er bemängelt diesen
Nachteil als Mitursache für die fehlende Zusammenfassung aller Kräfte, deren die
Gemeinden in Zeiten der Not dringend bedurften.
Gleichzeitig erachtete Guggenheim das jüdische Selbstverständnis als etwas weit
Umfassenderes als die im Zeitalter des Liberalismus geübte Beschränkung auf eine
reine Glaubensgemeinschaft. Nach der Aufzählung politischer, rechtlicher, sozialer,
kultureller und erzieherischer Aufgaben kommt er zum Schluss, dass die Zeit vorbei
sei, wo man sich «Vor seinem Gewissen mit dem Freidenkerturn von den Verpflichtun-
gen der jüdischen Gemeinden gegenüber freisprach». Die Gemeinde habe längstens
aufgehört, allein das Gotteshaus und die Friedhöfe zu hüten und sei zu einer selbst-
verwalteten Körperschaft im staatsbürgerlichen Sinn herangewachsen. Die Wahrung
der jüdischen Interessen ganz allgemein, insbesondere der bürgerlichen Rechte und
Pflichten der gesamten Schweizer Judenheit, erfordere in der grundlegend geänderten
Situation den Beitritt jedes Mitbürgers zu einer Gemeinde. Die neu zu gewinnende
Einheit und die «seelische Wehrhaftigkeit» wurden als Zuwachs von Autorität ver-
standen, und die «sorgfältige Disziplinierung» aller jüdischen Mitbürger wurde betont.
Die Akzentverschiebung von den einst konfessionalisierten Cultusgemeinden zu
den gesellschaftlich orientierten Kommunalgemeinden mit breiter Aufgabenstellung
wird auch deutlich beim Bau des neuen Gemeindehauses der ICZ. Anstelle des lange
108 2. KAPITEL

geplanten Projektes einer neuen Synagoge im Stil der architektonischen Modeme


wurde während der dreissiger Jahre ein Gemeindehaus realisiert, das 1938 eingeweiht
werden konnte. Es diente den multifunktionalen Aufgaben weit mehr als das auf den
Kultus beschränkte Projekt einerneuen Synagoge.51 Wir werden auf den institutionellen
Wandel noch eingehender zurückkommen.
Die Abwehr des Antisemitismus in der Schweiz und sehr bald auch die geistige
Landesverteidigung des Kleinstaates gegenüber Deutschland erzeugten einen erhebli-
chen psychischen Druck nach innen. Die innetjüdische Sammlung aller Kräfte mobili-
sierte den «Gemeinschaftsgeist» und die gesteigerte Bereitschaft, in den Gemeinden
an die Bewältigung der massiv erweiterten Aufgaben beizutragen. Aber dies legte
auch eine zunehmende Enge und gruppendynamische Selbstkontrolle nahe. Was im
Abwehrkampf der richtige Weg und das angemessene Verhalten der Umwelt gegen-
über sein würde, war nun eben nicht mehr eine Frage der freien Wahl, die einst
Konfessionalisten, Assimilationisteil und Zionisten ihre eigenen Wege hatte gehen
lassen. Die jüdische Situation, das Schicksal einer Gemeinschaft, verlangte nach
disziplinierter Erfüllung jener Erwartungen, die man aus der Umwelt wahrzunehmen
meinte. Dazu gehörte nicht bloss die staatsbürgerliche Pflichterfüllung, auf die im
nächsten Abschnitt über die Organisation von Loyalitäten eingegangen wird. Viel-
mehr ist in vielen Meinungsäusserungen eine Art schuldhafte Selbstzurücknahme
festzustellen, deren inneres Gesetz es ist, nicht auffallen zu dürfen. Damit entspricht
der Angehörige dem falschen und drückenden Vorurteil der Umwelt seiner Gruppe
gegenüber mit einem symmetrischen Muster, das in eigener Prägung innerlich aus-
geformt wird. 52
Das operative psychische Verhalten angesichts der wirklichen und vermuteten
Ablehnung durch die Umwelt war «Schah! Still!» und hat vermutlich eine ganze
Generation nachhaltig geprägt. Das Judentum, zu dem man stand, ohne der Assimilation
das Wort zu reden, war dank dem antisemitischen Klima eine ständige Quelle der
Ängstlichkeit und des Unwohlseins geworden. Es schien eine Situation zu produzie-
ren, aus der unbesehen davon, was man tat oder nicht tat, ohnehin kein Gewinn zu
ziehen war.
Abwehr hiess in diesem Fall, auch nach innen die möglichen Folgen von «Fehl-
verhalten» einzudämmen. Erst recht wurde das «Schah! Still!» weitergegeben, wo
Zugehörigkeit und Fremdheit zugleich gegeben waren. Am deutlichsten wurde von
den Emigranten und Flüchtlingen, die als zugehörige Juden und fremde Bürger in einer
doppelten Rolle erschienen, Anpassung verlangt. Auffälliges Verhalten von jüdischen
Emigranten entzweite die innetjüdische Diskussion oft genug, wenn es auch für den
Mut der jüdischen Abwehr spricht, dass sie in den allgemeinen Anfechtungen der
Flüchtlinge nur einen weiteren antisemitischen Stachel erkannte. Selbst Ende 1942, zu
einem Zeitpunkt erheblichen Aussendrucks und innerer Verunsicherung, gipfelte eine
Versammlung der Israelitischen Gemeinde Basel in der empörten Zurückweisung
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN 109

eines Einzelredners, der heftig gegen Emigranten und Flüchtlinge im öffentlithen


Erscheinungsbild polemisiert hatte. Die jüdische Abwehr hat sich durch den gängigen '
Vorwurf, die Flüchtlinge würden den Antisemitismus produzieren, nicht irre machen
lassen. Dennoch war die Beteiligung der Emigranten und Flüchtlinge an öffentlichen
Angelegenheiten auch aus jüdischer Sicht sehr bald unerwünscht und wurde politisch
als Risiko für die eigene Vermeidungslinie eingeschätzt. Im April 1938 wies zum
Beispiel ein Leitartikel in der Jüdischen Presszentrale die «Allüren einer gewissen
Emigrantenliteratur» als Richtlinie für jüdisch-journalistisches Wirken zurück und
empfahl, der «Psychologie der Emigranten» möglichst keinen Weg in die Öffentlich-
keit zu bahnen. Gerechtfertigt wurde die geforderte Disziplinierung der jüdischen
Emigranten vor allem seit einer Demarche Deutschlands beim Bundesrat gegen einen
reichsfeindlichen Artikel in der sozialdemokratischen Berner Tagwacht. 53
Aus der inneren Selbstkontrolle wie der jüdischen Abwehr des Nazismus resultierte
eine eigene Organisation unter dem Namen Bund Schweizer Juden, dessen Stossrichtung
die SIG-Abwehr nach 1936 übernahm und neutralisierend milderte. Der BSJ wurde im
Juni 1933 in der Folge der frontistischen Radauhetzen gegründet und forderte eine
Intensivierung des Abwehrkampfes auf der Linie bürgerlicher Parteien. Die Intention
des BSJ, der sich statutarisch weder religiösen noch parteipolitischen Zielen verpflich-
ten wollte, lag ganz auf der patriotischen Linie der «alteingesessenen Schweizer
Juden». Entschlossenes Eintreten für die Wehrhaftigkeit, vaterländischer Standpunkt
und Abgrenzung gegenüber einem kulturellen Modemismus und linken Sozialideologien
prägten das Bild des Bundes. Der BSJ verstand sich als Pendant zum schweizerischen
Bund für Volk und Heimat, der ähnliche Ziele verfolgte, aber auch für die «Erhaltung
der christlichen Kultur» kämpfte. Die Gründungsversammlung des Bundes für Volk
und Heimat hatte ausdrücklich erklärt, dass man diese Bestimmung keinesfalls als
antisemitische Spitze verstehen dürfe. Mit dem BSJ kam «Volk und Heimat» zu einem
Abkommen, wonach dort keine Juden aufgenommen, sondern an den BSJ weitergelei-
tetwurden.
Diese für die kantonalzürcherische Sektion getroffene Lösung und Koalition wur-
de im BSJ damit begründet, dass «eine energische Bekämpfung von Landesschädlingen,
wie sie im jüdischen Lager so gut wie in andem Lagern vorkommen, durch den Bund
der Schweizer Juden vorgenommen werden kann, ohne dass dadurch die Rassen-
gesetze verschärft werden, wie dies der Fall sein müsste, wenn die Bekämpfung
kultur-bolschewistischer Einflüsse aus jüdischen Kreisen nicht spezifisch jüdischen
oder sogar antisemitischen Organisationen allein überlassen bliebe».54 Sein erstes und
letztes Abwehrgefecht hat der BSJ vier Jahre später freilich nicht gegen die politische
Linke im Lande führen müssen, sondern gegen einen christlichen Bundesgenossen auf
der Rechten. Zu einer kulturpolitischen Schrift über die «Judenfi:age» von Rene
Sonderegger, der altbekannte Unwahrheiten zu diesem Thema auftischte, musste der
BSJ auf Distanz gehen. 55
110 2. KAPITEL

Weitere Versuche ausserhalb des SIG, eine Abwehrarbeit nach eigenen Vorstel-
lungen zu installieren, hat es nicht gegeben. Der Vorschlag von religiös-orthodoxer
Seite an die Adresse der Kirchen, eine interkonfessionelle Einheitsfront zur Bekämp-
fung der «immer stärker werdenden gottesfeindlichen Strömungen ins Leben zu
rufen», war ohne Echo geblieben. 56 Nur die zionistischen Initiativen und die Gründung
des Jüdischen Weltkongresses in Genf gaben Impulse, die sich später in der Abwehr-
arbeit auswirkten, besonders in den drückenden Jahren am Vorabend und im Verlaufe
des Krieges. Der SIG führte indessen seit 1932 einen Abwehrkampf, dessen Kern das
eigene schweizerisch-jüdische Verständnis ausmachte.

LOB UND PREIS DER AUFKLÄRUNG: ABWEHR ALS ORGANISATION


VON LOYALITÄT UND DEMOKRATIESCHUTZ

Die Abwehrarbeit des SIG ruhte auf zwei Säulen, dem schweizerischen Selbstverständnis
einer liberalen Rechtsordnung und den humanistischen Prämissen des Judentums selbst.
Die Abwehr, die sonst nichts weiter gewesen wäre als eine gegen den Antisemitismus
gerichtete Apologetik, erhielt durch beide Orientierungsbezüge ein überragendes Ziel,
das die Ideale der Emanzipation in Erinnerung rief. Grundsätzlich ist im SIG immer die
«Aufklärung» im gleichen Atemzug wie die «Abwehr» genannt worden. Die Verbindung
beider Begriffe propagierte und konnotierte eine Vorstellung, die optimistisch an eine
Heilung der antisemitischen Irrtümer glauben wollte. Dieser grossartige und zugleich
naive Fortschrittsglaube an die Beseitigung des Antisemitismus ist selbst später nicht in
Zweifel gezogen worden, sei es angesichts von Rissen in der behördlichen Haltung im
Inland oder im Bewusstsein von Verfolgung und Vernichtung in den europäischen
Ländern. Jedenfalls hat die «Abwehr und Aufklärung» ganz auf die Garantien gesetzli-
cher Rechte und Mittel gesetzt, an denen die antisemitischen Lügen und Schmähungen
zerbrechen würden.57 Zum andem war das Beharren auf «Aufklärung» eine kraftvolle
Quelle gewesen, die demokratische Rechtsordnung gegen alle politischen Anfechtungen
in der Schweiz selbst zu verteidigen.
Unter dem Begriff «Aufklärung» liess sich nicht nur an die bürgerliche Tradition
anschliessen, wie sie mit dem Bild der europäischen Humanitätsideale verbunden
wurde, sondern auch aus Werten schöpfen, die aus dem Judentum selbst stammten.
Die rationalistische Interpretation des Judentums aus der Sicht der liberalen Bewegung
gründete in der Haskala, der jüdischen Aufklärung, deren zentrales Thema die innere
Umgestaltungjüdischer Lebensführung und Tradition war. Bürgerliche Emanzipation
und jüdische Beteiligung an der Modeme wurden als Aktivitäten verstanden, die in der
jüdischen Zivilisation selbst lagen. Die Botschaft des Judentums als einer universalen
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN 111

Ethik und das Verständnis einer liberalen und offenen Schweiz Iiessen sich so im
Begriff der «Aufklärung» subjektiv in Übereinstimmung bringen. Die Abwehr des
Antisemitismus war zu deuten als Verteidigung und Erziehung zu Werten aufgeklärter
Moral und Gesetzlichkeit.

Politische Symbole, historische Mythen, ethische Prinzipien

Die Schweizer Juden verspürten daher das Bedürfnis, sich der übereinstimmenden
Symbole zu erinnern, um sich mit der Interpretation der jüdischen und schweizeri-
schen Geschichte einer gemeinsamen kollektiven Identität zu vergewissern. Die jüdi-
sche Presse begann seit 1932 systematisch, aus dem Nachlass bedeutender Persönlich-
keiten und historischer Gestalten der Schweizer Geschichte ausgewählte Zeugnisse
abzudrucken, aus denen der Respekt des Judentums und die Sicherung der
emanzipatorischen Werte sprachen. Zu den in Wort und Schrift zitierten Gestalten
gehörten Heinrich Pestalozzi, Johann Caspar Lavater, Heinrich Zschokke, Henri Dunant,
Paul Usteri, Augustirr Keller, Emil Welti, Gottfried Keller, C. F. Meyer, Carl Spitteler
und Auguste Forel, das heisst also Gestalten, die tatsächlich sehr unterschiedliche und
im einzelnen auch ambivalente Haltungen gegenüber Juden hatten. 58 Wie auch immer,
es ging darum, sich der historischen Repräsentanten des liberalen Bundesstaates zu
vergewissern.· Die Parallelen zwischen gesetzlich verbürgter Freiheit und Gleichheit
sowohl in der Schweiz wie im Judentum wurden mehrfach beschworen, etwa anlässtich
des eidgenössischen Buss- und Bettags, wobei man auch ähnliche Betrachtungen
seitens christlicher Persönlichkeiten zitierte.59
In den eidgenössischen Buss- und Bettagen, die eigentlich zur Verständigung der
beiden christlichen Konfessionen der Schweiz gedacht waren, sahen die Schweizer
Juden eine Einrichtung, die mit der Buss-und Fastenzeit der hohenjüdischen Feiertage
in Übereinstimmung stand. Im Jahr 1936 fiel die eidgenössische Feier mit dem
jüdischen Neujahr zusammen, wie jüdischerseits herausgestrichen wurde. Eine solche
Wahl der Themen und historischen Symbole entsprach natürlich den Dringlichkeiten
der zeitgenössischen Entwicklungen, die zuerst nach Vergewisserung und Verteidigungs-
bereitschaft, später nach Trost und Hoffnung verlangten. Bereits in den dreissiger
Jahren, dann aber insbesondere nach dem Kriegsausbruch, intensivierte sich der Ge-
brauch von kollektiven Symbolen, wobei die Universalistischen Komponenten etwas
zurücktraten und nationaler Sinnstiftung Platz machten. Diese Verschiebung der Ak-
zente folgte den Erfordernissen einer heimatlich-patriotischen Selbstbeschränkung
und kultureller Integration in der Schweiz.
Freilich trat man mit solchen Loyalitätsakten nur sehr vorsichtig nach aussen oder
zog es vor, gar nicht aufzufallen. Die jüdische Kultur durfte im vaterländischen Geist
weder eine Rolle spielen und schien im eidgenössischen Patriotismus überhaupt nicht
112 2. KAPITEL

daseins- und erwähnenswert. Dies passte auch in das Konzept des niedrigen Profils,
das bereits erwähnt wurde. Während nach innen die wissenschaftlichen und kulturel-
len Leistungen von Juden gerne betont wurden, spielte man sie in öffentlichen Veran-
staltungen zusehends hinunter. Die bemühte Zurückhaltung ist zum Beispiel ab lesbar
an einer Ende November 1938 durchgeführten Veranstaltung der Association des
intellectuels pour la defense de la culture, zu deren Mitgliedern viele angesehene
Genfer gehörten, die weitgehend Nichtjuden waren. Die gutbesuchte Versammlung
unter dem Motto «Was wir den Juden verdanken» entsprach durchaus der Linie der
jüdischen Abwehr, die in Genf gut organisiert war. Man betonte zwar die künstleri-
schen und wissenschaftlichen Leistungen und somit die allgemeine Kulturfähigkeit
der europäischen Juden, wollte diese aber in das statistische Mittelmass gesetzt wissen.
Der berühmte Dirigent Ernest Ansermet bekräftigte die Untertreibung gar mit dem
Hinweis, dass die Juden auf dem Gebiet der Musik, von Ausnahmen abgesehen, keine
produktiven Talente hervorgebracht hätten. Im Journal de Geneve wurde dies mit
einer eingehenden Besprechung von Carl Brüschweilers statistischen Untersuchungen
abgestimmt. Das präsentierte Bild fiel im ganzen zur Befriedigung der jüdischen
Abwehr aus. Nur das Deutsche Konsulat in Genf, das die Veranstaltung bespitzelte,
beargwöhnte das Ergebnis und bedauerte gegenüber seiner Gesandtschaft in Bern,
dass die Rolle der Juden in der Entwicklung von Handel und Finanzwesen ganz unter
den Tisch gekehrt worden sei. 60
Eine besondere Form der Selbstvergewisserung war das Einbringen und Aufeinan-
derbeziehen von historischen Mythen, was ebenfalls den allgemeinen Tendenzen in
der Schweiz entsprach. Die 650-Jahr-Feiern der Eidgenossenschaft (1941) boten
vielerorts Möglichkeiten, die potentielle Gefahr einer Ausgrenzung mit der Betonung
von Gleichstellung und Zugehörigkeit wettzumachen. Man verwies publizistisch und
während der Feierakte in den Synagogen auf den Bund auf dem Rütli und den Bund in
der Wüste, auf das «Wunder der Alpen und das Wunder am Sinai», aber auch auf die
Emanzipation als einem «Bund der Gleichstellung» und auf die Bundesverfassung von
1874. Auch der Primat der jüdischen Nächstenliebe und der solidarischen Verpflich-
tung, der Behörden und Volk in schweren Zeiten leite, wurden aufeinander bezogen.
Oft wurden Namen in Beziehung miteinander gebracht, um die Zugehörigkeit von
Judentum und Schweizerturn zu unterstreichen, wie beispielsweise Rabbi Meier von
Rotenburg und Niklaus von der Flüe im 13. Jahrhundert. Treuegelöbnisse und Vater-
landsgebete erschienen nachdrücklich gekoppelt mit der Betonung von Gleichstellung
in der schweizerischen und jüdischen Rechtsidee oder der Vielfalt des politischen
Systems. In solchen Bezeugungen patriotischer Gesinnung unterschieden sich liberale
und orthodoxe Tendenzen lediglich in der Akzentuierung. 61
Ebenfalls weckte das Wort von der «altisraelitischen Eidgenossenschaft» Vorstel-
lungen von Zugehörigkeit, wenn es auch kaum zur Erhellung für den wirklichen
Zusammenhang gedacht war. 62 Für den jüdischen Schweizer, dessen Brüder und
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN 113

Schwestern rings um sein Vaterland der Entrechtung, Vertreibung und Vernichtung


entgegengingen, erhielten die schweizerischen Freiheiten, die demokratische Gleich-
heit vor dem Gesetz, der politische Widerstand und die militärische Wehrbereitschaft
einen geradezu mythischen Stellenwert. Dies macht das Evozieren von historisc;:hen
Mythen und die Parallelsetzung von schweizerischen und jüdischen Vermächtnis-
gestalten verständlich. Besonders galt dies nach Ausbruch des Krieges und der
Mobilisation im Land. Die Rhetorik des jüdischen Patriotismus wurde dabei nicht
müde, die historische Anpassung an die helvetische Umgebung in einem Atemzug mit
der geschichtlichen Verwirklichung der modernen Menschen- und Bürgerrechte zu
nennen. 63
Zusammenfassend zeigt dieses Bedürfnis, eigene traditionelle Werte zu erinnern
und zugleich das liberale Prinzip demokratischer Gleichheit zu betonen, ohne sich
öffentlich allzu starkhervorzutun, in allen einzelnen Äusserungen sehr genau die
Spannung auf, die den einzelnen Schweizer Juden bewegte. Die Abwehrarbeit des SIG
ruhte daher einerseitsauf der Bündelung von traditionellen und emanzipatorischen
Idealen des Judentums und andererseits auf demokratisch-liberalen Werten der schwei-
zerischen Bundesstaatsordnung. Der jüdische Bürger des Landes war als Mitglied
einer Minderheitengruppe darauf angewiesen, als durch und durch loyaler Schweizer
zu gelten. Ob er dies mit dem im Wesen des Judentums begründeten Selbstverständnis
auswies oder auf die prinzipiellen Rechte und Pflichten aller Schweizer hinwies, war
letztlich eine taktische Frage. Der jüdischen Mentalität entsprach keine militante
Verteidigung, weil die Schweizer Juden auch keinen gesellschaftlichen Sektor dar-
stellten, der im schweizerischen Rahmen bedeutsam war. Das wichtigste Ziel sah die
Abwehr in der Verteidigung der Gleichberechtigung der jüdischen Minderheit und der
ihre Existenz garantierenden Bundesverfassung. Aktionen gegen den «Staat» oder
Kritik an staatlichen Werten waren konsequenterweise bei den jüdischen Eliten ver-
pönt. Ein Hervorkehren jüdischer Besonderheiten, die mit schweizerischen Kollektiv-
werten in Widerspruch zu stehen schienen, musste vermieden, untertrieben oder
notfalls mit Gegenbeweisen abgetan werden. Abwehrarbeit bedeutete in diesem Fall,
moralisch ein besserer Bürger zu sein und nach aussen hin eine stärkere Loyalität zu
organisieren, was letztlich auch die Frontisten und Antisemiten als schlechte Schwei-
zer enttarnen musste.

«Patriotismus» und «Internationalismus»

Der betont patriotische Charakter des Abwehrprofils bedingte aber ein vorsichtige Bezie-
hung zu den international und politisch ausgerichteten Organisationen der Juden welt-
weit. Die demagogischen Angriffe der Fronten bezichtigten wiederholt die Juden insge-
samt, mit «internationalen Mächten» zu paktieren, und nahmen den Zionistenkongress
114 2. KAPITEL

von 1937 in Zürich als Zielscheibe für antisemitische Agitation. Auch in unverdächti-
geren Kreisen gaben die oft in der Schweiz stattfindenden Kongresse und die dort
anwesenden osljüdischen Delegierten zu Spottkarikaturen und Missbilligungen Anlass. 64
Beim Zionismus handelte es sich natürlich nicht um eine internationale Angelegenheit,
wie dies öffentlich erscheinen mochte, sondern im Gegenteil um eine national gesinnte
Befreiungsbewegung, die als Antwort auf den modernen Antisemitismus zu verstehen
war und zudem den Assimilationismus der Juden in Frage stellte. Gerade damit wurde
aber dem auf Emanzipation bedachten SIG kaum Hand geboten, die Sache eines patrio-
tisch gesinnten und betont schweizerischen Judentums herauszustreichen. Dass der
Zionistenkongress 1937 wiederum in der Schweiz stattfand, veranlasste einige Votanten
im Central-Comite des SIG zur besorgten Erwägung, angesichts der Fronten behördli-
chen Schutz anzufordern und darauf zu bauen, es werde eine Zeit kommen, da der
Kongress in Palästina stattfinden könne.
Ähnlich brachte 1936 die Gründungsveranstaltung des Worldlewish Congress den
SIG zunächst in Verlegenheit, und zwar sowohl hinsichtlich des Tagungsorts Genf wie
der Frage, ob man dem Kongress beitreten wolle oder nicht. Insbesondere wurde der
WJC brieflich ersucht, «der Schweiz mit Bezug auf Kongresse, Tagungen etc., eine
Pause zu gewähren», um nicht den Antisemiten Vorwände zur Agitation zu bieten.65
Zum genaueren Verhältnis des SIG zum WJC wie zur Zionistischen Organisation, die
beide unterschiedlich akzentuiert den Antisemitismus interpretierten und bekämpften,
wird ein gesonderter Abschnitt kurz Auskunft geben. Hier kann nur festgestellt wer-
den, dass die jüdische Abwehr, hinsichtlich des Vorwurfs der doppelten Loyalität, zu
einer äusserst vorsichtigen Haltung neigte. An der jüdischen Abwehr in der Schweiz
waren indessen Zionisten, Nichtzionisten und Antizionisten gleichermassen beteiligt,
wenn auch anfanglieh die nichtzionistische Seite das tragende Element war. Mehr und
mehr ist schliesslich der W eltkongress, insbesondere sein Kampf gegen Hitler und den
Antisemitismus, selbst zur Richtschnur der SIG-Abwehrarbeit geworden.
In diesem Zusammenhang wurde gegen Ende der dreissiger Jahre die Transmigration
der ausländischen jüdischen Flüchtlingen implizit ein Rückgrat der Abwehr. Wollten
die Schweizer Juden als loyale Staatsbürger angesehen werden, so hatten sie nicht nur
die Finanzen für die jüdischen Flüchtlinge in der Schweiz zu besorgen, sondern
indirekt Garantie zu bieten, dass die Flüchtlinge weiterwandern würden. Die Abwehr
war also auch mit der Tatsache einer schleichenden Erpressbarkeit konfrontiert. Es
wird mehrfach darauf hinzuweisen sein, dass Behörden und rechtsstehende Kreise
denn auch den «Antisemitismus» als Argument gegen die jüdischen Flüchtlinge
benutzten und das Gespenst der «Judenfrage» an die Wand des SIG malten. Hier muss
der Hinweis genügen, dass die von SIG und VSJF organisierte Weiterwanderung der
jüdischen Flüchtlinge und Emigranten auch eine Art Beweislast bildete, um die eigene
Loyalität glaubwürdig erscheinen zu lassen. Die Schweizer Juden haben nach 1938 die
Finanzierung und Transmigration der Flüchtlinge, die sie bis anhin freiwillig leisteten,
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN 115

als von den Behörden auferlegte Verpflichtung hinnehmen müssen. Die eigene morali-
sche Glaubwürdigkeit, welche die Abwehr innerlich zu Standhalten antrieb, war
wiederum an die Solidarität mit den jüdischen Flüchtlingen geknüpft. SIG und VSJF
waren damit auf die Hilfe der internationalen jüdischen Organisationen geradezu
angewiesen, was ihnen die Antisemiten wiederum zum Vorwurf machten. In der
Logik dieses Dilemmas, das unter dem Druck der internationalen Spannungen und
Ereignisse stand, bildete die jüdische Transmigrationspolitik bereits in den zwanziger
Jahren und erst recht nach 1933 einen wichtigen Zahn im Getriebe von «Abwehr» und
«Loyalität».
Umgekehrt erwarteten die Schweizer Juden von ihren Behörden eine klare Haltung
den antisemitischen Bewegungen gegenüber. Sie erblickten in der behördlichen Ab-
lehnung politischer Reaktion ein «loyales Verhalten der eidgenössischen Regierung
ihren jüdischen Mitbürgern gegenüber», und darunter verstand man eine Definition
schweizerischer Nationalität, in der autoritäre Führerprinzipien, Blut- und Boden-
ideologien und die Hochstilisierung einer angeblichen schweizerischen Judenfrage
keine Chance erhielten. 66 Gelegentliche Verurteilungen der Judenhetze, wie sie im
deutschen Entscheidungsjahr 1932/33 von Bundesrat, den Kirchen oder der Neuen
Helvetischen Gesellschaft geäussert wurden, wirkten ermutigend und wurden in ihrer
tatsächlichen Bedeutung eher überschätzt. 67 Die zunehmende Verwirtschaftlichung
der Politik, wie die Politisierung des Rechtsempfindens insgesamt, erschienen der
jüdischen Abwehr als schleichende Zersetzung der Ideale konstitutioneller Freiheit
und Gleichheit. In Predigten, Vorträgen, Ansprachen und Protokollen schimmern
zunehmend solche Befürchtungen und Erwartungen an die offizielle Schweiz in
unterschiedlichsten Variationen und Tonlagen durch. Immer wieder mahnten die
Schweizer Juden, an den liberalen Grundsätzen, an den rechtsstaatliehen Werten und
Normen festzuhalten. Das frontistischen und rechtsbürgerlichen Lager, aber auch
einzelnen Justiz- und Polizeibehörden nahmen den Schweizer Juden übel, dass sie sich
dazu berufen fühlten, als Retter und Verteidiger der schweizerischen Staatsidee aufzu-
treten.68

Fehlender Schutz der Demokratie und dieSIG-Forderungennach einem


Antirassismusgesetz

Konsequente Stossrichtung der jüdischen Abwehr bildete die Frage nach dem behörd-
lichen Schutz und den rechtlichen Mitteln, um gegen die Flut von Schmähungen
vorzugehen, wie sie von Antisemiten und Fronten verbreitet wurden. Für polizeiliche
Massnahmen oder administrative Erlasse fehlten nach Auskunft der zuständigen Be-
hörden weitgehend die verfassungsrechtlichen Grundlagen, um den Druck und Ver-
kauf antisemitischer Pamphlete zu verbieten oder sie beschlagnahmen zu lassen. Auf
116 2. KAPITEL

eidgenössischer wie auf kantonaler Ebene hörten sich die Stellungnahmen der Regie-
rungen entmutigend an. Der Bundesrat betrachtete sich im November 1935 als
ausserstande, den Schutz des Religionsfriedens wie der öffentlichen Ordnung wahrzu-
nehmen und wich auf die Anmerkung aus, es handle sich beim Antisemitismus oft
nicht um eine Infragestellung des konfessionellen Friedens. In der gleichen Erklärung,
die als Antwort auf eine Eingabe des SIG gedacht war, wurde im Bundeshaus auf die
kantonale Zuständigkeit verwiesen. 69 Diese bundesrätliche Belehrung über die Rechts-
lage vertuschte freilich die politische Seite der Antwort, die zuerst in der plebiszitären
Ablehnung eines Staatsschutzgesetzes (Lex Häberlin, 1934) zu suchen war, zugleich
aber diplomatische Rücksichtnahme auf die deutsche Politik verbreitete.
Die Umfragen des SIG bei den Kantonen erbrachten zwar ein weniger enttäu-
schendes Resultat, hoben aber den Mangel an genügenden Rechtsschutzmitteln ins
Bewusstsein der Abwehr. Zürich, Schafthausen und Glarus lehnten die Forderung ab,
die Verbreitung antisemitischer Zeit- und Schmähschriften, gestützt auf kantonale
Hausier- oder Marktverbote, zu unterbinden. Basel-Stadt, Solothum und Genf hin-
gegen brachten den Mut auf, administrativ antisemitische Schriften und frontistische
Organe einzuschränken oder zu verbieten, wobei ausdrücklich auch Titel im Presse-
kopf und einzelne Parolen als strafrechtliche Tatbestände angeführt wurden. Bezeich-
nend blieb hier, dass die Erlasse infolge privater Forderungen seitens der jüdischen
Gemeinden ausgesprochen wurden, das heisst, auf Betreiben der jüdischen Abwehr
erst zustande kamen. Alle diese Erklärungen und administrativen Haltungen zeigten
letztlich auf, wie ungenügend im Grunde die Juden vor den antisemitischen An-
fechtungen geschützt waren. Zwar wurden aus den widersprechenden Stellungnahmen
von Bund und Kantonen die Folgerungen gezogen, dass die föderalistische Struktur
des Landes dem Abwehrkampf wirksame Nischen zur Verteidigung ermögliche und
die «Stellungsnahme der Behörden eines Volksstaates im Wandel der Zeiten glückli-
cherweise nicht unverrückbar» bleiben müsse. 70 Damit war aber auch klar, dass es
Sache des SIG sein würde, sich rechtlich vorzusehen, und nicht Angelegenheit des
Staates, seine Juden vor religiöser Hetze, Antisemitismus und Rassismus zu bewahren.
Aus dieser unbefriedigenden Situation sind der Abwehr zwei Konsequenzen erwach-
sen: Erstens die pragmatischen Versuche, in den einzelnen Kantonen den Schutz der
demokratischen Rechte bei Regierungen oder vor Gerichten durchzusetzen; und zwei-
tens die prinzipielle Forderung nach einem eidgenössischen Demokratieschutz, in den
die Strafbarkeit judenfeindlicher Hetzen hätte eingebaut werden können.
Bei der Verfechtung administrativer Erlasse oder strafrechtlicher Prozesse hatte die
Abwehr davon auszugehen, in welchen Kantonen solches Vorgehen politisch und
rechtlich überhaupt machbar sein würde. Zum Beispiel waren individuelle Klagen auf
Ehrverletzung im Kanton Zürich kaum ratsam, weil presserechtliche Fälle dort vor ein
Schwurgericht kamen, was angesichts der antisemitischen Stimmung in weiten Krei-
sen nicht ratsam schien. Auch bot die Zürcher Regierung nicht Hand, administrativ
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN 117

jüdischen Anliegen zu entsprechen, zumal die frontistischen Flugblätter so abgefasst


wurden, dass niemand als klageberechtigt gelten konnte. 71 Andererseits zögerten ver-
schiedene Kantonsregierungen, wie bereits gesagt, nicht lange, der jüdischen Abwehr
zu folgen und antisemitischen Erzeugnissen oder rechtsextremen Organisationen Gren-
zen zu ziehen.
Verfassungsrechtlich am konsequentesten argumentierte 1936 der rot dominierte
Genfer Staatsrat mit seiner ausdrücklichen Begründung, die judenfeindliche Hetze ge-
fahrde das konstitutionell verankerte Prinzip der Gleichheit. Dieser Beschluss des soziali-
stischen Justizdirektors Uon Nicole ist vom Bundesgericht gegenüber dem antisemiti-
schen Rekurrenten Jules-Emest Grass gestützt worden, womit die Rechtsextremisten
eine deutliche Niederlage erlitten. Bereits vier Jahre zuvor stellte sich das oberste schwei-
zerische Gericht auch hinter die Regierung von St. Gallen und sah im Verkaufsverbot
judenfeindlicher Schriften keine Verletzung der Presse- oder Gewerbefreiheit. 72 Sehr
entschieden und rasch ist auch die Regierung von Basel-Stadt, in der Carl Ludwig als
Polizeidirektor amtete, einer Eingabe des SIG und der Israelitischen Gemeinde Basel
gefolgt, indem sie 1934 den Volksbund, das Presseorgan der gleichnamigen faschi-
stischen Bewegung unter Major Leonhardt, verbot und dabei jede Schmähung des
jüdischen Namens strafrechtlich bedrohte. In ähnlicher Weise handelte der benachbarte
Kanton Solothum, sechs Wochen nach dem baselstädtischen Entscheid, mit einem
regierungsrätlich erlassenen Verbot antisemitischer Presseprodukte. 73
Gegenüber diesen politischen Erfolgen vor Regierungs- und Gerichtsinstanzen
bildeten die zahlreichen Prozesse, die der SIG selbst vor Amtsgerichten anstrengte, ein
risikoreiches, wenn nicht gar waghalsiges Vorgehen. Nicht nur fehlten, formal be-
trachtet, für die damals noch kantonalen Tatbestände der Ehrverletzung die genügen-
den Rechtsgrundlagen, sondern es musste auch das Risiko eingegangen werden, in der
Öffentlichkeit als Verlierer aus dem Prozess hervorzugehen. Hier standen also die
Schweizer Juden, in der Rolle als private Kläger, selbst im Zentrum der Aufmerksam-
keit, und nicht der Staat, von dem die Strafklage gegen antisemitische Tatbestände
oder gar das Verbot rassistischer Organisationen ausgegangen wäre. Im Bemer Prozess
wurde dem SIG, wie bereits oben besprochen, die Zweischneidigkeit des taktischen
'Kalküls bewusst: die anfangliehe öffentliche Offensive zur Entlarvung der Fälschung
konnte in der politischen Entwicklung auch kontraproduktiv für den SIG wirken,
selbst wenn die Wahreit auf seiner Seite war. Zusammenfassend lassen sich die
gesamten Anstrengungen der Prozesse als Substitutionen für einen fehlenden Schutz
vor Rassen- und Religionsdiskriminierungen verstehen. Was dringend schien, und dies
machten die Prozesse deutlich, war die Schaffung gesetzlicher Grundlagen zur Be-
kämpfung jener kollektiven Schmähung, die später unter dem Begriff «Rassismus»
gefasst worden ist. 74
Aus dem gesamten Ungenügen administrativer Erlasse und gerichtlicher Prozesse
forderte der SIG deshalb wiederholt beim Bundesrat gesetzliche Handhaben. Zum
118 2. KAPITEL

einen umfasste dies den Grundsatz, vor den Gerichten rassistische oder antisemitische
Äusserungen als kollektive Tatbestände zu betrachten, um sie strafrechtlich ahnden zu
können; zum andem sollte diese Möglichkeit jedem Angehörigen der jüdischen Ge-
meinschaft zustehen. Anstoss zu einer solchen Forderung hatte die Ansicht der Zürcher
Regierung gegeben, die den SIG ausdrücklich auf den privaten Charakter der Ehr-
verletzung aufmerksam machte. Nach Zürcher Auffassung verunmöglichte die
verfassungsmässig gewährleistete Pressefreiheit ein administratives Einschreiten ge-
gen ihren Missbrauch, gegen den nur private Straf- und Zivilklagen, namentlich auf
Ehrverletzung und Schadenersatz, zulässig seien. Gleichzeitig wies jedoch ein Zürcher
Bezirksgericht anfangs 1934 solche Klagen ab mit der Begründung, die antisemitischen
Angriffe seien wohl inkriminierend, es fehlten aber die rechtlichen Handhaben zur
Bestrafung. 75 So suchte die Abwehr bereits seit 1934 vergeblich, dem rechtlichen
Mangel mit Eingaben an den Bundesrat abzuhelfen. Gernäss den SIG-Forderungen
sollte der strafrechtliche Tatbestand der Beleidigung nicht nur durch direkt betroffene
Einzelpersonen, sondern durch jeden Angehörigen einer Rassen- oder Religions-
gruppe einklagbar sein. Aus einer solchen Ergänzung des Strafgesetzes mit aktivem
Kollektivrecht ist indessen auch während der Teilrevision von 1949/50 nichts gewor-
den. Selbst vierzig Jahre später sollte eine Ergänzung mit einer entsprechenden Straf-
norm zum Rassismus weiterhin umstritten bleiben.76
Nicht mit diesen juristischen Formhindernissen behaftet, aber politisch um so heikler
und von Skandalen im breiten Umfeld begleitet, erschien die zweite Forderung, die der
SIG im Bundeshaus vorbrachte. Im Bundesblatt war im Dezember 1936 die Botschaft
des Bundesrates über den gesetzlichen Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit
erschienen. Dieser Entwurf stellte die dritte Auflage zu einem «Ürdnungsgesetz» dar, mit
dem die Grundlage zu einem Demokratieschutz und für die entsprechende Tätigkeit der
Bundesanwaltschaft hätte geschaffen werden sollen. 77 Die Vorläufer eines Staats-
schutzes, die nach Bundesrat Heinrich Häberlin benannten zwei autoritären Umsturz-
bzw. Ordnungsgesetze, waren 1922 und 1934 in Plebisziten knapp verworfen worden.
Die feste Klammer der erfolglosen Lex Häberlin war eine antikommunistisch ausgerich-
tete konservative Ideologie, die im Grunde die kriselnde Herrschaft der bürgerlichen
Parteien wettmachen sollte. Die Schweizer Juden, die in Häberlin nicht den Schöpfer
einer antiliberalen Schutzdoktrin sahen, sondern den Hüter liberaler Werte hoch-
schätzten, hatten die zweite Lex Häberlin von 1934 aus gutem Grund unterstützt.78 Sie
erblickten darin eine Möglichkeit, allen Bewegungen, die in irgendeiner Weise für den
Antisemitismus verantwortlich schienen, einen Riegel zu schieben.
Der nun initiierte dritte Versuch von 1936 zu einem Staatsschutzgesetz stellte
freilich eine noch schwächere und realitätsferne Leistung des Bundesrates dar, indem
die rechtsextreme Gefahr unterschätzt, wenn nicht gar völlig verkannt wurde. Die
bürgerliche Konsolidierung sollte einmal mehr auf Kosten der extremen Linken gehen
und kopierte nur die antisozialistische Stossrichtung von 1921. Ausserdem sollte nicht
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN 119

die Verfassung, sondern bloss die öffentliche Ordnung geschützt werden- ein grund-
legender Mangel, den erst die ständerechtliche Kommission korrigierte. Eine dringli-
che bundesrätliche Verordnung, die am 3. November 1936 dem Gesetzesentwurf
vorangegangen war, wollte den Staat gar nicht allgemein schützen, sondern bezweckte
lediglich den Hieb gegen kommunistische Umtriebe - als hätte ausgerechnet in den
dreissiger Jahren von keiner andem Seite Gefahr gedroht. 79
Nur mit abwägendem Zögern und erst nach der Durchberatung der Vorlage im
Ständerat, der die Nennung der Kommunisten endlich fallenliess und die verfassungs-
mässige Ordnung schützen wollte, entschloss sich der SIG anfangs April1937 zu einer
Eingabe, in den Bundesbeschluss eine Bestimmung gegen antisemitische Hetzen und
Störungen aufzunehmen. Das Schreiben des SIG listete die unzähligen Fälle anti-
semitischer Ausschreitungen, Anschläge und Verletzungen der öffentlichen Ordnung seit
1933 auf, dokumentierte eingehend die rassistischen Hetzkampagnen und schilderte den
Mangel strafrechtlicher Grundlagen. Ebenfalls verwies man auf die Gesetzesbestim-
mungen gegen Angriffe auf rassische und religiöse Minderheiten, wie sie in den Nieder-
landen, Norwegen, Kanada und im amerikanischen Bundesstaat New York erlassen
worden waren. 80 Gerichtet war die SIG-Eingabe an die vorberatende Kommission der
beiden Räte, wo sie zu einem pikanten Zeitpunkt eintraf.
Die bürgerlichen Parlamentarier in der nationalrätlichen Kommission, die hier
dominierten, hatten gerade nichts anderes zu tun, als die Wiederaufnahme des kurz
zuvor fallengelassenen Zusatzes «Kommunistische Umtriebe» von neuem zu erwä-
gen. Die unwirsche Behandlung der SIG-Eingabe, zu der sich auch Bundesrat Bau-
mann kurz und ablehnend äusserte, nahm kaum fünf Minuten in Anspruch. Baumann
verkürzte dabei das Ansinnen auf eine kantonale Kultusangelegenheit, und Bundes-
anwalt Franz Stämpfli ignorierte den Antisemitismus als Element und Mittel rechts-
extremer Organisationen, die er ohnehin als blass marginale Erscheinung einschätzte.
Für beide, wie für die bürgerlichen Räte, lag das Übel im Kommunismus, den man als
Ursache für die internationalen Spannungen ausmachte. Die sozialdemokratischen
Mitglieder der Kommission fürchteten die «Ausschaltung des Parlaments durch den
Bundesrat» und fanden wenig Interesse am Thema des Antisemitismus. Die Kommis-
sion überging daher einhellig die SIG-Eingabe. 81
Mit zunehmendem Unbehagen realisierten die Schweizer Juden die behördliche
Blindheit gegenüber der frontistischen und rechtsextremen Aushöhlung demokrati-
scher Grundsätze. «Die Demokratie wird in der Praxis zurückgedrängt durch eine
Diktatur der wirtschaftlichen und politischen Fragen, welche man in Verfassung und
Gesetze zu verankern sucht»- so beobachtete man im SIG anfangs 1938 die Tendenz
zur Verwirtschaftlichung der Politik und die Politisierung des Rechts. Mit Entsetzen
interpretierte man dies als einen ersten Schritt zur Preisgabe des Gleichheitsprinzips.
Die «veränderte Haltung der Berner Amtsstellen» und auch das ablehnende «Verhal-
ten politischer Parteien bei der Aufstellungjüdischer Kandidaten» erschienen dem SIG
120 2. KAPITEL

als weitere Schwächezeichen des politischen Willens, die ordnungspolitischen


Verfassungs- und Rechtsnormen zu wahren. Der sonst grundsätzlich zu parteipolitischer
Neutralität verpflichtete SIG erwog, angesichts solcher Entwicklungen und einer
gleichzeitig drohenden Fronteninitiative, gar die Beschaffung von Mitteln zugunsten
jener Parteien, die auf seiner Seite standen.82 Man beobachtete das staatliche Verhalten
zunehmend mit grosser Nervosität.
Der Versuch der jüdischen Abwehr, kollektive und strafrechtliche Schutzbestim-
mungen gegen Rassismus und religiöse Diskriminierung bei Behörden und Parlamenta-
riern anzuregen, scheiterte vordergründig daran, dass die Schweizer Juden kaum politi-
sches Gewicht besassen und als unverstandene Minderheit nicht ernstgenommen wur-
den. Doch nicht bloss die fehlende Sensibilität einzelner Politiker oder die Profillosigkeit
des Vorstehers des Justiz- und Polizeidepartements waren ausschlaggebend. Die zeitli-
chen Umstände insgesamt diktierten die Verhältnisse, insbesondere die wachsenden
internationalen Spannungen und die aggressive Politik des Reichs, das durch die Schweiz
nicht gereizt werden sollte. Demgegenüber stand die misstrauische Kritik der liberalen
und linken Presse angesichts eines autoritären und beschwichtigenden Regierungsstils,
der auch das Gewicht der standesbewussten Bundesbeamtenschaft in Bem stärken
musste. Gerade das verfehlte Bemühen um einen Staatsschutz ist an der dilettantischen
Eigenmächtigkeit der Administration gescheitert.
So fegte 1936 eine Welle der öffentlichen Empörung durch das Land, nachdem
ruchbar geworden war, dass Bundesanwaltschaft und PTI aus politischen Gründen
Telefone und Postverkehr überwachen und einzelne Bürger bespitzeln Hessen. Promi-
nentestes Opfer war der religiös-sozialistische Pfarrer Leonhard Ragaz, der seit zwei
Jahrzehnten auch vor der Judenhetze unermüdlich gewarnt hatte. Der konservativ-
liberale Basler Nationalrat Albert Oeri, der später für den SIG eine sehr wichtige
Adresse wurde, sah den Grund für das polizeiliche Beschnüffeln zu Recht im Fehlen
gesetzlicher Grundlagen für die Bundesanwaltschaft. Diese konnte auch künftig ohne
demokratische Kontrolle tun und lassen, was sie wollte. Unter diesen Vorzeichen war
aber ein Ordnungsschutzgesetz, dem der Charakter autoritärer Repressionen anhaftete,
politisch nicht durchsetzbar. Der Entwurfwurde 1940 abgeschrieben und mit ihm auch
die illusionären Hoffnungen des SIG, ein Antirassismusgesetz zu erhalten. Erst in den
bereits erwähnten Strafgesetzrevisionen von 1949/50 wurden im Zeichen des Kalten
Krieges einige Staatsschutzartikel übernommen und durch eine ordentliche Abstim-
mung sanktioniert. Doch dies geschah, ohne die jüdische Forderung nach antirassisti-
schen Bestimmungen zu berücksichtigen.83
Der Mann der Stunde aber hiess Markus Feldmann, bemischer Nationalrat der
Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei. Nicht der Antisemitismus als isoliertes Phäno-
men, sondern der Nazismus als Ideologie eines aggressiven Staates bewegte ihn zum
Handeln. Feldmann erkannte die Staatsgefährlichkeit der rechtsextremen Bewegungen
in ihrem Kampf für «die nationalsozialistische Idee auf Schweizerboden, in der
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN 121

bewussten Diskreditierung der schweizerischen Demokratie und ihrer Einrichtun-


gen».84 Sein von 85 Mitunterzeichnern im Herbst 1938 eingereichtes Postulat wurde
von der National-Zeitung, wie von der kritisch und demokratisch eingestellten Presse
überhaupt, die schon seit langem das einseitig nach links ausgerichtete Vorgehen der
Behörden gerügt hatte, als «reinigendes Gewitter» empfunden.85 Am Vortag der
Beantwortung des Vorstosses durch Bundesrat Baumann im Parlament wurden mit
einer umfassenden Polizeiaktion gegen die rechtsextremen Kräfte die «neuen
Massnahmen des Bundes» akzentuiert.
Das Datum der bundesrätlichen Neuorientierung war - nachträglich besehen -
geradezu symbolhaft. Am 10. November 1938, als in der Schweiz endlich gegen die
Fronten polizeilich vorgegangen wurde, brannten in Deutschland die Synagogen. Das
«Kristallnacht» genannte Reichspogrom beleuchtete über die Grenze hinweg die auch
in der Schweiz schwelende Judenfeindschaft von radikalen Zirkeln, die bislang von
Bundesrat und Bundesanwaltschaft weitgehend bagatellisiert worden waren. In Arti-
kel 2 des anfangs Dezember unter dem Namen «Demokratieschutz-Verordnung»
verfügten Staatsschutzerlasses wurde neben dem Verächtlichmachen demokratischer
Institutionen endlich auch die öffentliche Hetze gegen einzelne Gruppen wegen ihrer
Rasse, Religion oder Staatsangehörigkeit unter Strafe gestellt. Freilich ist diese Be-
stimmung, die nun dem Bund die strafrechtliche Ermächtigung brachte, gegen Anti-
semiten vorzugehen, merkwürdigerweise von der Bundesanwaltschaft nie zur Anwen-
dung gebracht worden, trotzdem mehrfach dazu Anlass gewesen wäre. 86
Rückblickend kann in der hier skizzierten Abwehrgeschichte, mit dem Verlangen
nach Schutznormen und Rechtsstaatlichkeit, auch die illusionäre Überschätzung der
staatlichen Immunität gegenüber der antisemitischen Tücke und Wucht kritisiert wer-
den. Doch lag in solchen Appellen der kleinen jüdischen Minderheit eben auch ein
Kern der moralischen Integrität des schweizerischen Judentums selbst begründet. Die
Loyalität gegenüber der Schweiz war eng verknüpft mit dem Glauben an die liberale
Staatsidee, aus der sich die Emanzipation als Selbstverständnis ableitete. Die enge
Verbindung beider Voraussetzungen war das Paradigma der Abwehrarbeit, der ein
Erfolg aus Gründen versagt blieb, die ausserhalb der eigenen Einflusszonen lagen.
Letztlich darf man die analytische Tiefe der Abwehr nicht überschätzen. Dass
Antisemitismus nichts mit den Juden selbst zu tun hatte, aber sehr viel mit der
Bezeichnung von Sündenböcken in Politik und Gesellschaft, ist nur teilweise gesehen
worden. Freilich konnte man auch von jüdischen Notaren, Kaufleuten und Journalisten
nicht die sozialpsychologischen Erkenntnisse verlangen, zu denen die Wissenschaft
teilweise erst später gelangen sollte. Die theoretische Begrenztheit der Abwehr wurde
wettgemacht durch ein gutes Gespür für Recht und Unrecht und durch eine zuweilen
blind anmutende, aber Respekt erheischende Beharrlichkeit, sich auf Rechtsstaat und
Verfassung auszurichten. Standhalten bedeutete insgesamt für die Juden, sich der
eigenen, schmerzhaften historischen Erfahrungen zu erinnern, die Pflichtprämien zu
122 2. KAPITEL

entrichten und den bürgerlichen Garantien der Gleichheit entschieden Achtung zu


verschaffen, soweit dies ihnen möglich schien.

LIBERALES EMPFINDEN UND SOZIALDEMOKRATISCHE HEIMAT:


BÜNDNISPROBLEM, SOZIALSTRUKTUR UND POLITISCHE
ORIENTIERUNG

Der Vorwurf, sich als Wahrer der Demokratie aufzuspielen, und die Einsicht, uner-
wünschte Profilierungen oder Nebenwirkungen zu vermeiden, legte der jüdischen
Abwehr die vorsichtige Suche nach Koalitionspartnern und Allianzen nahe. Die Angst
vor einer drohenden Isolierung und auch das zahlenmässig geringe Reservoir an
Kräften erforderte indessen früh und dringlich ein Zusammengehen mit nichljüdischen
Kreisen und Partnern. Es wurde wiederholt vorgeschlagen, geeignete christliche Per-
sönlichkeiten zu finden, die aufklärerisch wirken sollten, so erstmals in den zwanziger
Jahren, dann mehrmals während der dreissiger Jahre. 87 Ein Bündnis mit institutionellem
Charakter sollte aber erst in der Nachkriegszeit und auf dem Hintergrund der allmähli-
chen Aufarbeitung des Holocaust möglich werden. 88 Im Berner Schriftsteller Carl
Albert Loosli fand der SIG 1933 einen unabhängig wirkenden Mann, der sich mit
engagierter Kontinuität der aufklärerischen Publizistik widmete und während dem
Berner Prozess als Sachverständiger auftrat.89 Johann Baptist Rusch, Sprachrohr der
Republikanischen Vereinigung und vehementer Antisemit in den zwanziger Jahren,
schlug sich auf die Seite der jüdischen Abwehr und des reichsfeindlichen Patriotismus.
Einzelne kirchliche Persönlichkeiten, wie Ludwig Köhler und Leonhard Ragaz, sind
bereits genannt worden. Mit grosser Deutlichkeit haben Frauen und Frauen-
organisationen sich gegen Antisemitismus und für das Verständnis gegenüber Emi-
granten als dessen Opfer ausgesprochen.
Unabhängige Bündnispartner und angesehene Träger von Recht und Kultur zu
finden war auch eine Frage des politischen Stils. Besonnen wirkende öffentliche
Kundgebungen bildeten ein Mittel der Aufklärung, indem sie in starkem Kontrast zu
den Hetzreden frontistischer Führer standen. Die Schweizer Augen und Ohren sollten
erkennen, dass nicht die schreiefisch verunglimpften Juden Unglück verursachten,
sondern das Reich selbst den wahren Feind der Schweiz darstellte. Vorträge angese-
hener Nichtjuden rechneten mit der Vernunft und Nüchternheit des Schweizer Publi-
kums, das in den Rassentheorien einen abergläubischen Mythos erkennen würde, der
in gefährlicher Weise an die «niedrigen Instinkte)) appellierte. Obwohl die politische
Kultur des alten Liberalismus dem nazistischen Aktionismus taktisch kaum mehr
das Wasser reichen konnte, betonte die jüdische Abwehr fest die humanistische
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN 123

Würde. So konnte man der im Land überall eingeübten «geistigen Landesverteidigung»


mit einem liberalen Verständnis nachspuren. «Mit den Waffen der Dialektik, der
Ironie, der Gelehrsamkeit, des vornehmen Gefühls gegen die entfesselte Hölle kämp-
fen, bedeutet für das Heil der Welt zu arbeiten», wie es eine von der Revue Juive im
Genfer Athenee im Oktober 1933 durchgeführte Veranstaltung mit Alexandre Herenger
zum Ausdruck brachte.90 Um so mehr waren die antifaschistisch eingestellten Reprä-
sentanten der deutschen Kultur gefragt, zu denen natürlich nicht wenige Juden zählten.
Die jüdische Presse veröffentlichte zahlreiche Gespräche mit Stefan Zweig, Max
Brod, Lion Feuchtwanger, Albert Einstein oder druckte Heinrich Manns Beiträge aus
dessen «Abwehrblättern» nach. Die jüdische Vereinigung Kadimah präsentierte 1937
dem Publikum Thomas Mann als ihren Vortragsredner. 91
Das Auftreten von Oberrichtern, Redaktoren, Schriftstellern, Professoren, Notabeln,
Kirchenpräsidenten, Vertreterinnen der Frauenbewegung und Repräsentanten demo-
kratischer Institutionen garantierte freilich die Unverbrüchlichkeit der Aufklärung
keineswegs. Aber sie waren in den Augen der Schweizer Juden ein gewisser Grad-
messer, wie weit man sich auf diese liberal gesinnten Kräfte wirklich verlassen konnte.
Höhepunkt einer demonstrativen Kampfansage gegen Rassismus und Nazismus bilde-
ten im November 1935 Versammlungen in Zürich und Basel, für die der SIG die
Zürcher Völkerbundsvereinigung und die Basler Sektion der Europa-Union als Träger
gewinnen konnte. 92 Eine Woche später ging auch in der ETH Zürich, deren Professor
für Philosophie Fritz Medicus öffentlich gegen die Nürnberger Gesetze protestiert
hatte, eine Veranstaltung mit dem Völkerbund-Hochkomissar für Flüchtlinge, James
McDonald, und einer Leiterin des Pariser Hilfswerkes für Emigrantenkinder, Hanna
Eisfelder, über die Bühne.93 Die im Börsensaal Zürich vorgetragenen Stellungnahmen,
Reden und Botschaften zu den für Staat und Demokratie gefährlichen Erscheinungen
wurden publizistisch verbreitet, ohne den Anschein einer jüdischen Sache zu erwek-
ken. Der Mut einzelner nichtjüdischer Persönlichkeiten, sich öffentlich gegen den
Antisemitismus zu stellen, hat sich der jüdischen Erinnerung nachdrücklich eingreprägt.
Eng verknüpft mit dem Bündnisproblem war natürlich die Frage der politischen
Orientierung der Schweizer Juden, was freilich von ihrer eigenen Sozialstruktur ab-
hing. Es wurde bereits betont, dass die geografische und soziale Mobilität im wesentli-
chen zu einer mittelständischen und städtischen Schichtung geführt hatte, wobei die
freien und kaufmännischen Berufe bevorzugt wurden. In einem gewissen Sinne lassen
sich die weitgehend bürgerlich lebenden Schweizer Juden durchaus als eine am
Liberalismus orientierte Gruppe des Mittelstandes verstehen, die auf Sicherung des
Status quo und eine erfolgreiche Assimilierung im sozialen Bereich tendierte. Aus
ihrer eigenen politischen Orientierung erklärt sich daher auch ihr Loyalitätsstreben,
wie es oben charakterisiert wurde. Die Idee einer revolutionären Veränderung der
kapitalistischen Gesellschaft blieb zumindest den eingesessenen Schweizer Juden
völlig fremd. Die genuinen Lebensformen, geprägt von den Idealen traditioneller
124 2. KAPITEL

Bindung, waren dazu angetan, politische Positionen zu beziehen, die Stabilität verspra-
chen und den liberalen, radikaldemokratischen oder gewerblichen Parteien entspra-
chen. Juden arbeiteten in allen bürgerlichen Parteien, mit Ausnahme der konfessionel-
len, und stellten in den zwanziger und dreissiger Jahren auch einige Stadt-, Gemeinde-
und Kantonsräte in diesem Parteienspektrum.94
Die mittelständischen Kreise, in denen man ein Stück weit die eigenen Wirtschafts-
interessen repräsentiert sah, blieben jedoch den jüdischen Wünschen nach Sicherheit
und Beteiligung zunehmend verschlossen. Die späte Debatte um die Motion Pestalozzi
zeigte in den Voten von Freisinnigen, Radikal-Demokraten, Grütlianern und dem
populistischen Landesring von Gottlieb Duttweiler immer noch den Mangel, die
antisemitische Anfechtung und Instrumentierung genügend zu durchschauen. Um so
grösser war in der Zeit vor dem Krieg die Unfähigkeit dieser Parteien und Gruppierungen,
den Antismemitismus als Gefahr zu erkennen. Die schweizerischen Gewerbe- und
Mittelstandsverbände, die wie kleinere Fabrikanten aus der Interessenlage der Schwei-
zer Juden mehrheitlich Partner in der politischen Bewältigung der wirtschaftlichen
Krisenauswirkungen hätten sein können, entfielen aber aus einem einzigen Grund: Sie
grenzten sich in den politischen und wirtschaftlichen Kämpfen, zum Beispiel um die
Warenhäuser und das neue Einheitspreisgeschäft, nicht von jenen Argumenten ab, die
als antisemitisch eingestuft wurden. 95 Doch nicht die Existenz einiger jüdischer Wa-
renhäuser, die seit den zwanziger Jahren Zielscheibe für antisemitische Anschuldigun-
gen abgaben, legte dem SIG eine Barriere zum Mittelstand. Vielmehr verspürte man
über die wirtschaftlichen Probleme hinaus in dessen gesamter Haltung zur jüdischen
Existenz schlechthin vorwurfsvolle Ablehnung und gar unbeirrbare Judenfeindschaft.
Im SIG hätte man sich noch so gern mit den mittelständischen und kleinbürgerlichen
Interessenkreisen verbunden und verbündet gewusst, weil sie der eigenen sozialen
Struktur am besten entsprachen und auch Verhaltensweisen pflegten, die angemessen
schienen und denen sich viele jüdische Bürger innerlich wohl gerne apassten.
Dass die Kongruenz von Klasseninteressen keinen Vorteil bot, sondern im Gegen-
teil den Antisemitismus aus Gründen der wirtschaftlichen Konkurrenz begünstigte,
zeigt ein Blick auf die Berufswelt der Juden. Dies macht auch deutlich, dass die
mittelständische Mentalität für den Antisemitismus solange anfällig blieb, als sie die
statistischen Zahlen mit falschen Gewissheiten interpretierte. In den antisemitischen
Anschuldigungen wurde oft die zugkräftige und schwerwiegende Behauptung aufge-
stellt, gewisse wirtschaftliche und berufliche Zweige seien «vetjudet». Diese von der
frontistischen Presse verbreiteten «Wahrheiten» dienten offensichtlich dem Zweck,
die statistisch geringe Zahl Schweizer Juden durch qualitative Zumessungen aufzu-
wiegen. Ähnlich wie in der Einbürgerungsfrage, wo der tatsächliche Anteil der einge-
bürgerten Juden nur knapp fünf Prozent betragen hatte, aber in der fremdenpolizeilichen
Rede mit «wesensfremden Elementen» etikettiert worden war, sollte nun auch eine
angebliche wirtschaftliche «Vetjudung» der Schweiz konstruiert werden.
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN 125

Die Abwehr sah in dieser «qualitativen» und verzerrenden Überbewertung


des Vier-Promille-Anteils der Juden an der gesamten Bevölkerung ein tückisches
Argument, das exakt in den Mythos einer angeblichen jüdischen Weltverschwörung
passte. Der SIG konnte sich bei seiner Arbeit auf eine Broschüre von Carl
Brüschweiler, Direktor des Eidgenössischen Statistischen Amtes, über «Beruf
und Konfession in der Schweiz», beziehen. Ein kurz nach der Reichspogrom-
nacht von 1938 geschriebener und aufklärerisch intendierter Artikel in der Basler
National-Zeitung stellte nüchtern fest, dass ein demokratisch und klar denkender
Bürger aus den Zahlenangaben Brüschweilers keine «Judenfrage in der Schweiz}}
ablesen könne. 96 Wie der Artikel ausführte, lasse die bevorzugte Wahl der Juden
für Handel, selbständigen Erwerb sowie die freien und akademischen Berufe nur
den Schluss zu, dass ein überdurchschnittlicher Anteil jüdischer Bürger in einzel-
nen Bereichen gesamthaft bedeutungslos sei. Das frontistische Schlagwort münz-
te indessen solche Zahlenspiele zum «Beweis}} um. Die tatsächlichen Proportio-
nen und die gesamte Abnahme der jüdischen Bevölkerung seit 1920 wurden
geflissentlich ignoriert. Das Wort von der «Verjudung}} einzelner Berufszweige
legte leicht eine generalisierende Ausdehnung auf das ganze Land nahe. Im
Augenblick, wo der jüdische Flüchtlingsstrom in die Schweiz zunahm, fand die
Wendung «Verjudung in der Schweiz}} denn auch Eingang in die polizeiliche und
behördliche Sprache. 97
Behörden, Parteien und Politiker des bürgerlichen oder konservativen Spektrums,
die selten oder nur partiell gegen den Antisemitismus auftraten, wollten sich nicht dem
unangenehmen Verdacht der Judenfreundschaft aussetzten. Aus diesen Gründen wird
man daher das intensive Engagement vieler Juden auf der sozialdemokratischen Seite
notieren, obwohl die Schweizer Juden nur äusserst geringe Anteile an Angestellten und
Arbeitern aufwiesen. Die Sozialdemokraten sind objektiv wie in jüdischer Perspektive
der verlässlichste Bündnispartner der Antisemitismus-Abwehr geworden und es lange
geblieben. Auch die Freisinnigen als Erben des Liberalismus des 19. Jahrhunderts
standen weitgehend im Ruf, verlässliche Garanten der Emanzipation zu sein. Doch
machten sich durch die rechtsautoritären Tendenzen, denen einzelne grossbürgerliche
Eliten und kleinbürgerliche Kreise zuneigten, deutliche Risse bemerkbar, die von jüdi-
schen Augen nicht übersehen wurden. So warfen 1932 in Zürich die jüdischen Sozialde-
mokraten den Bürgerlichen vor, in einem Wahlkreis gar Kandidaten aus der
«rassenschützlerischen Heimatwehm zu portieren.98 Auch die Einsicht in den Zusam-
menhang von Antisemitismus und Antisozialismus legte den Zeitgenossen das
Misstrauen in den bürgerlichen Block nahe. So gaben die Verherrlichungen des Reiches
durch Oberstdivisionär Eugen Bircher und seine Freunde im Vaterländischen Verband,
der durch Nationalrat Jakob Baumann auch noch stimmungsvolle Unterstützung in der
«Judenfrage}} erhielt, bereits im Mai 1933 der jüdischen Abwehr und der sozial-
demokratischen Presse Anlass zu heftiger Kritik. 99 Insgesamt besehen lautete indessen
126 2. KAPITEL

bereits seit den zwanziger Jahren die Parole: «Wer den Antisemitismus bekämpft,
stimmt sozialdemokratisch»- und so hiess es auch seit 1930 und später.
Der demokratische Liberalismus als herkömmlich empfohlener Garant von Frei-
heit und Emanzipation wurde zunehmend attackiert, und seine jüdischen Parteigänger
fanden sich zur Verteidigung herausgefordert. Die jüdischen Mitglieder der frei-
sinnigen Partei wehrten sich anlässlich der Zürcher Kantonsratswahlen 1932 und
wiederum bei den Wahlen in den Regierungsrat 1935 gegen die Vorwürfe jüdischer
Sozialdemokraten, die bürgerliche Partei liebäugle mit Gruppen, die antisemitisch
seien. 100 Deutlich wehrte sich der Freisinn auch in einer 1933 herausgegebenen Bro-
schüre, in der er seinen Wählern versicherte, die Fronten seien undemokratisch und
antiliberal, die Schweiz kenne keine «Judenfrage}}, der Antisemitismus stelle eine
Kulturwidrigkeit dar und huldige einer Sündenbockmystik. 101
Ein weiterer, wichtiger Grund für die starke jüdische Beteiligung an der Sozial-
demokratie war die Einbürgerungsfrage. Die Immigration und Integration der Ost-
juden musste die jüdische Sympathie für eine Partei, die gegen alle Diskriminierung
bei Fragen der Einbürgerung aufgetreten war, erheblich stärken. Die Opposition der
freisinnigen Fraktion gegen die Einbürgerung von Juden, die beispielsweise in Zürich
1927 im Fall der bekannten Musiker Alexander und Irma Schaichet erhebliches
Aufsehen erregt hatte, war nicht vergessen. Illustrativ für die politische Orientierung
ist die Übereinstimmung zwischen der Herkunft und der Parteizugehörigkeit der bis
heute insgesamt fünf jüdischen Nationalräte. Der erste gehörte 1917-1921 der radikal-
demokratischen Fraktion an, nämlich Maurice Goetschel-Blum aus Delemont, dessen
Name bereits auf die elsässische und schweizerische Herkunft hinweist. 102 Alle drei
weiteren waren indessen Sozialisten oder Sozialdemokraten und stammten aus ost-
europäischen Ländern: der Zürcher Jurist David Farbstein (im Nationalrat 1922-1938)
aus Warschau, der kommunistisch orientierte Genfer Anwalt Jacques Dicker (ab 1922
mit Unterbrüchen im Nationalrat) aus Kiev und später der Historiker Valentirr Giterman
(Nachkriegszeit) aus Moskau. Solche Herkunft und das politische Engagement haben
die frontistische Rechte mehrfach zu Drohungen und Schmähungen veranlasst, die
ihren Klischees entsprachen. Angemerkt werden kann hier, dass in den achtziger
Jahren wiederum ein Freisinniger, Fran<_;;ois Loeb, der aus einer alteingesessenen
Familie stammt, in den Nationalrat gewählt worden ist. Und 1993 wurde mit der
Gewerkschafterirr und Sozialdemokratirr Ruth Dreifuss, die in ihrem Elternhaus .den
Anpassungsdruck und das jüdische Flüchtlingselend hautnah miterlebt hatte, erstmals
eine Jüdin in den Bundesrat gewählt.
Seit den zwanziger und dreissiger Jahren gingen einige später prominent geworde-
ne Schweizer Juden bei den jüdisch-osteuropäischen Sozialdemokraten in die Schule
oder haben sich von deren Sensibilität für demokratische und soziale Gerechtigkeit
inspirieren lassen. Max Gurny, SP-Kantonsrat und Zürcher Oberrichter, der in der
Abwehr der Motion Pestalozzi aktiv war, bezeichnete Farbstein ausdrücklich als
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN 127

seinen «Lehrmeister», der auch in die Israelitische Cultusgemeinde selbst den Sinn für
Demokratisierung hineingetragen habe. 103 Die historische Erfahrung und die politi-
schen Ideale der Juden im osteuropäisch-russischen Raum sowie ihre traditionelle
Sensibilität für rechtliche und soziale Diskriminierungen erklären hinlänglich diese
Beteiligung mehrerer Generationen von Juden an der schweizerischen Sozialdemokratie,
die für viele eine politische Heimat bis in die sechziger Jahre hinein geblieben ist.
Vladimir Rosenbaum, während der dreissiger Jahren als ICZ-Vorstandsmitglied für
die Finanzen der grössten jüdischen Gemeinde Zürichs verantwortlich, hat dies als
aufmerksamer Zeuge genau registriert, wenn er noch drei Jahrzehnte später von der
«Sehnsucht der Sozialdemokraten nach dem Liberalismus» sprach. 104 Dies kennzeich-
net im Grunde das politische Empfinden vieler Juden, denen die Sozialdemokraten als
Garanten liberaler Menschlichkeit und sozialer Gerechtigkeit erschienen. Dass Rosen-
baum, der bald wegen seines freien Lebensstils, der handfesten Sympathien für die
spanischen Antifaschisten und schliesslich auch für die Emigranten behördlich verhetzt
wurde, keiner Partei zugehörte, rundet dieses Bild ab.
Veit Wyler, der als junger Anwalt in der Anwaltskanzlei von Rosenbaum begon-
nen hatte, bevor er Frankfurter im Davoser Mordprozess verteidigte, bestätigte eben-
falls die eigentümliche politische Orientierung der jungen Generation. In seiner Grab-
rede auf seinen Freund Benjamin Sagalowitz, der ohne Zweifel der markanteste
Kämpfer in der jüdischen Abwehr gewesen war, konstatiert Wyler - was weder als
beschönigend oder schief bewertet werden kann -, dass Sozialismus und Zionismus
als Maximen sich aus Notwendigkeit eines politischen Verhaltens überhaupt erga-
ben.105 Ohne eine bestimmte politische Linie wäre in der Tat ein zielbewusster und
starker Kampf gegen Frontismus und Diskriminierung nutzlos geführt worden und von
einer rein konfessionalisierten Gemeinschaft auch nicht zu führen gewesen. Erst diese
grundsätzliche Einsicht, die anfänglich von sozialistischen und zionistischen Idealen
genährt wurde, zog eine jüngere Generation von Aktivisten heran. In deren Bewusstsein
wurde grundsätzlich das Recht auf Gleichheit auch als ein Recht auf Verschiedenheit
begriffen.
Die daraus resultierende Stärke vermochte von den meist juristisch oder journali-
stisch tätigen Köpfen der Abwehr auch auf die mittelständischen Glieder im SIG
auszustrahlen, wenigstens in dem Sinne, dass Kaufleuten und Konfektionären aufging,
dass der Kampf um Recht und Freiheit nicht mit massgeschneiderter Allgleichung zu
gewinnen war. Zum andem lag der Ursprung dieser Sympathie, auch gegen das eigene
wirtschaftliche Klasseninteresse, in der Tatsache, dass die Judenfeindschaft aus rechts-
gelagerten Tendenzen stammte. Hinzu kam, dass die politisch orientierten Aktivisten
an das in der jüdischen Tradition verankerte Bewusstsein solidarischer Verantwortung
und sozialer Gerechtigkeit erinnerten, das in der eigenen jüdischen Geschichte lehrhaft
und institutionell ausgeformt worden war.
In die Zwiste zwischen jüdischen Sozialdemokraten und jüdischen Freisinnigen
128 2. KAPITEL

mischte sich der SIG als parteipolitisch neutrales Organ freilich nicht ein. Das wurde
auch nicht verlangt und hätte sich ohnehin für die kleine Minderheit als nachteilig
erwiesen. Dies besagte einfach, dass seit 1918 und dann nach 1933, als in Zürich die
bürgerlichen Parteien sogar lokale Koalitionen mit den Fronten eingingen, die jüdische
Abwehr darin eine Antwort einzelner Juden gesehen hat. Die diffuse Haltung vieler
bürgerlicher Politiker und Parteischichten hinsichtlich der antisemitischen Bewegun-
, genwurde zunehmend ausschlaggebend für die Orientierung vieler Juden. Es waren
nur die Sozialdemokraten, die in der antisemitischen «Judenfrage» nicht nur eine
unzweideutige Haltung an den Tag legten, sondern Juden, gerade als geschätzte
Juristen und Journalisten, in ihre politische Arbeit integrierten. 106 Am Rande sei
vermerkt, dass sich diese jüdische Orientierung nach dem Sechstagekrieg von 1967
massiv nach der bürgerlichen Seite hin verschoben haben dürfte, unter anderem auch
wegen des antizionistischen Affekts, der einen linken Antisemitismus hat sichtbar
werden lassen.
Mit aller Deutlichkeit hob sich diese Orientierung, die mit den Koordinaten «links-
liberal bis gemässigt sozialdemokratisch» angegeben werden kann, von der kommuni-
stischen Seite ab. Die Abgrenzung nach den Extremen der linken wie rechten Seite war
eher opportunistisch als ideologisch. Von der eigenen Klassenlage abgesehen, gab es
vor allem taktische Gründe, nicht in die Nähe der Kommunisten zu geraten. Den als
«international» verschrienen Bolschewismus mied die Abwehr, um nicht ins Kreuz-
feuer der Antisemiten zu geraten, die gerade mit dem Mythos einer <<judeo-marxistischen
Verschwörung» das rechts- und kleinbürgerliche Lager anzuziehen suchten. 107 Beson-
ders deutlich wurde dies nach dem Parteitag der NSDAP in Nümberg von 1938, wo
die Gleichsetzung der Begriffe <<jüdisch» und «bolschewistisch» als propagandistisches
Rezept ausgegeben worden war. Der Leitartikel der Jüdischen Presszentrale gab sich
alle Mühe, den Anteil der Juden am Marxismus hinunterzuspielen und Judentum und
Bolschewismus als vollkommen antagonistische Kräfte darzustellen; insbesondere
wurde auf die stalinistische Variante des Antisemitismus hingewiesen. 108 Die Furcht
vor einem politisch-behördlichen Stigma sprach gegen jedes Risiko, mit der kommuni-
stischen Seite in Zusammenhang gebracht zu werden. Insbesondere hätte dies die
Loyalitätsbeweise gegenüber Behörden und Volk gefährdet, suchten doch gerade in
den dreissiger Jahren Bundesrat und Bundesanwaltschaft die Kommunisten als quasi
offizielles Feindbild aufzubauen. Die bereits erwähnten Bemühungen des SIG um
einen staatlich garantierten Schutz haben gezeigt, dass die Demokratieschutzverordnung
anfänglich ganz auf die Kommunisten fixiert wurde. 109 Es wurde nach den Genfer
Novemberunruhen von 1932 auch nicht davor zurückgeschreckt, auf die jüdischen
Anwälte von Uon Nicole, Swiatsky und Dicker, Druck auszuüben, ihr Mandat zu-
rückzugeben.110 Dass Nicole zwei Jahre später als Genfer Justizdirektor den Antisemiten
den Meister zeigen würde, konnte man schwerlich abschätzen.
Jedenfalls illustrieren solche Erwägungen die Haltung der jüdischen Abwehr, die
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN 129

hier mehr von politischen Ängsten als ideologischen Prämissen bestimmt war. Ungern
erwähnte man die Marxisten und Kommunisten unter den Emigranten, deren intellek-
tuell markantes Profil von der nazistischen und frontistischen Propaganda angefeindet
wurde. Als Juden blieben sie unter den Linken selbst ignoriert oder ohne Gewicht.
Umgekehrt fanden die jüdischen Marxisten, sofern sie als Emigranten frei leben
konnten, in den noch hauptsächlich am Kultus orientierten Gemeinden kaum ein
Interesse, sondern existierten ausserhalb des gemeindemässigen Judentums, dem sie
sich nach dem Krieg nur in einzelnen Fällen wieder annäherten.
In einer herausfordernden Zeit legte das Bündnisproblem den Widerspruch zwi-
schen politischer Orientierung, wirtschaftlich-sozialen Interessen und situations-
bestimmter Lage offen. Der Jahresbericht des SIG von 1934 stellte diese bleibenden
Gegensätze deutlich fest, wenn er davon spricht, dass die inneren und äusseren
«Verhältnisse nicht einfach liegen». Damit ist die eigentliche Handlungsfahigkeit
gemeint. Sie erscheint durch die jüdische Sozialstruktur ebenso beschnitten wie durch
den Wandel der äusseren Entwicklungen, die eine Änderung im Denken der Abwehr
notwendig machten. Selbst die bereits zitierten Meinungsverschiedenheiten in takti-
schen Fragen, etwa ob man in der Öffentlichkeit häufiger oder seltener auftreten und
wie der Weltkongress unterstützt werden sollte, gründeten stellenweise in den unter-
schiedlichen Klasseninteressen und den damit verbundenen politischen Orientierun-
gen. Politische Konflikte zwischen Links- und Rechtsausrichtungen, die überdurch-
schnittliche Zugehörigkeit zu freien sowie mittelständischen Berufen im Gegensatz zu
den wirtschaftlichen Eliten oder den Angestellten- und Arbeiterschichten, schliesslich
ein besonders mobil organisiertes Handels- und Finanzkapital, das von einer Minder-
heit der Schweizer Juden pionierhaft eingesetzt wurde, während es der Mehrheit
verdächtig blieb- alle diese Gegebenheiten Hessen deutlich werden, dass die Abwehr
eine Zwangsangelegenheit blieb.

DIE JUNA UND DIE PUBLIZISTISCHE VERTEIDIGUNG:


POLITISCHE PRAXIS JÜDISCHER MEDIEN ZWISCHEN ZENSUR UND
SELBSTZENSUR

Die JUNA («Jüdische Nachrichten») wurde als Presseagentur und Informationsstelle


1936 gegründet. Auf ihren Vorgänger VIA und die provisorische Einrichtung einer
Informationsstelle nach der Wahl Saly Mayers zum SIG-Präsidenten wurde bereits
hingewiesen. Die JUNA war der erfolgreiche Versuch, die publizistische Abwehr zu
institutionalisieren, um den antisemitischen Verhetzungen systematischer begegnen zu
können. Dass dieses Bedürfnis gegeben und dringlich war, zeigt ein Blick auf die
Mittel, die gegen den EisernenBesen und andere frontistischen Erzeugnisse publizistisch
130 2. KAPITEL

eingesetzt wurden. Georg Guggenheim, SIG-Verantwortlicher der JUNA, hat die


Flug- und Druckschriften des SIG nach 1932 aufgelistet: Versand von Flugblättern an
86'000 Zürcher und 9000 Schaffhauser Adressen, Herstellung einer aufwendigen
Dokumentation über den Bemer Prozess gegen die «Protokolle», die an 300 Redaktio-
nen, alle Parlamentarier und 250'000 Adressen in den Kantonen Zürich, Aargau,
Schaffhausen und Thurgau ging, schliesslich mehrere Broschüren in grosser Auf-
lagenhöhe, die an die Eliten und Intellektuellen versandt wurden. Hinzu kam der
Versand mehrerer Sonderdrucke an die Adresse politischer, kirchlicher und akademi-
scher Kreise, darunter auch eine Broschüre über die deutschen Judenverfolgungen.
Zahlreiche Einsendungen und Entgegnungen, zum Beispiel gegen die Ausfälle des
Oberstdivisionärs Eugen Bircher, mussten verfasst werden. In Zürich erwies sich die
ebenfalls aufwendige Veröffentlichung von grossformatigen Inseraten in der Presse
als notwendig. Besonders der Krawall um das Kabarett «Pfeffermühle», die juden-
feindlichen Schmierereien und Ausschreitungen, die Polemiken um das Warenhaus
und die antisemitischen «Protokolle» machten diese Reaktionen unumgänglich. So
wird verständlich, dass die Schaffung einer Agentur und Pressestelle sich aufdrängte,
weil der Einsatz der Mittel aufwendig war.111
Dass die JUNA 1936 ins Leben gerufen wurde, bedeutete einen Glücksfall. Kurz
nach Kriegsausbruch, im September 1939, verbot der Bundesrat die Eröffnung von
neuen Presseagenturen. Insgesamt kontrollierte die Regierung mit ihrem System von
Zensur und Selbstzensur das Pressewesen, um den nördlichen Nachbarn nicht weiter
zu reizen, und schob mit ihren Verboten zugleich der reichsdeutschen Propaganda
einen Riegel. 112 Hätten die SIG-eigenen «Jüdischen Nachrichten» als Agentur noch
nicht bestanden, so wäre eine wirksame und gezielte Pressepolitik wohl kaum möglich
gewesen. Doch die JUNA war inzwischen fest installiert und hatte 1938 mit Benjamin
Sagalowitz einen ständigen Redaktor erhalten. Ende 1939 wurde der JUNA die
Konzession durch den Armeestab erteilt und darin als Informationslieferant auch die
Jüdische Informationszentrale in Amsterdam sowie in- und ausländische Blätter ange-
führt. Als verantwortliche Personen, die in der JUNA für die bundesrätlich angeordne-
te Selbstzensur sorgen sollten, nennt die Konzession den Präsidenten und die Vizeprä-
sidenten des SIG, das sind Saly Mayer und Saly Braunschweig, sowie JUNA-Leiter
Georg Guggenheim. 113

Benjamin Sagalowitz als Schlüsselfigur

Der Persönlichkeit von Sagalowitz war es zu verdanken, dass sich die JUNA zu einem
wirksamen publizistischen Abwehrinstrument entwickelte, dasangesichtsder Zensur-
bestimmungen offensive und defensive Elemente verbinden konnte. Die kämpferische
und zuweilen militante Art des JUNA-Redaktors blieb taktisch geschickt und verfolgte
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN 131

die Ziele der Abwehr mit methodischer Beharrlichk:eit. 114 Sagalowitz selbst stammte
aus dem russischen Witebsk, war 1914 in die Schweiz gekommen und promovierte als
Jurist an der Universität Zürich. Als Journalist schrieb er regelmässig Beiträge für
jüdische Zeitschriften in der Schweiz und im Ausland, aber auch für schweizerische
Blätter sowie gelegentlich für die Jahrbücher der Neuen Helvetischen Gesellschaft.
Dabei machte er sich einen Namen als Berichterstatter von aufsehenerregenden Pro-
zessen, so im Frankfurter-Prozess in Chur 1936, in den Nürnberger Kriegsverbrecher-
prozessen 1948/49 und im Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961/62. Politisch ent-
schieden sozialistisch und zionistisch orientiert, schloss sich Sagalowitz der sozial-
demokratischen Partei in Zürich an und war zugleich Mitglied der Poale Zion Hitachduth.
Sein politisches und herkunftsmässiges Profil entsprach also jener jüngeren Generati-
on von Schweizer Juden, deren Ideale lange die Person von David Farbstein verkörper-
te. Sagalowitz' älterer Bruder, der Künstler Wladimir Sagal, immigrierte ebenfalls
nach Zürich und illustrierte mit vielen Skizzen und Miniaturen die Berichte seines
Bruders und der jüdischen Blätter.
Angesichts der Beschwichtigungshaltung, die für die eidgenössische Pressepolitik
gegenüber dem Ausland charakteristisch war, aber auch ganz das Vermeidungsprofil
des SIG bestimmte, setzte Sagalowitz auf eine unverdächtige Methode der Nach-
richtenverbreitung. Er sammelte Material aus bereits publizierten Meldungen und
Reportagen, konzentrierte daraus die wesentlichen Informationen und gab diese Be-
richte als Presseschau an seine Abnehmer weiter. Indem er also bekannte, aber oft
vereinzelt erschienene Meldungen zusammenstellte und dazu die redaktionellen Kom-
mentare aus unterschiedlichsten Publikationen des In- und Auslandes setzte, konnte
der JUNA nicht vorgeworfen werden, sie selbst verbreite unwahre Angaben oder
provozierende Kommentare. Nebst der Rücksicht auf die Pressezensur und Selbst-
zensur erlaubte diese Arbeitsweise auch den maximalen Einsatz der sehr beschränkten
finanziellen Mittel. Um so effektiver war dann die Wirkung: Die Materialien, meistens
judenfeindliche Behauptungen, aber ergänzt durch die kritischen Kommentare der
antinazistischen Blätter, waren in einer Weise zusammengestellt, die entlarvend wirk-
te. Die Glaubwürdigkeit oder der Hetzcharakter der wiedergegebenen Texte sprach für
sich und charakterisierte die Quelle, da die JUNA-Bulletins jeweils die Herkunft der
zitierten Meldungen und Meinungen genau angaben. Mit seiner Methode «erfüllte»
Sagalowitz die eidgenössischen Anforderungen der Zensur und Selbstzensur, indem er
sich weitgehend auf die Technik des gehäuften Zitierens zurückzog. Die Wirksamkeit
der JUNA in den ersten beiden Kriegsjahren 1940/41 bemisst sich an den 180 Bulletins-
Einheiten, die jeweils vereinzelt bis mehrfach von Schweizer Blättern benutzt worden
waren.U5
Die Zensurbehörde, die «Abteilung Presse und Rundfunk» im Armeestab, unter-
nahm zunächst nichts gegen die vom JUNA-Redaktor geübte Praxis. In Bern fand man
sich im Gegenteil zweimal von der JUNA darüber belehrt, dass aus dem Aargauer
132 2. KAPITEL

Tagblatt zitierte Meldungen, die offenkundig antisemitisch waren, falsche und zensur-
widrige Angaben enthielten- worauf sich das Tagblatt bei der Zensur zu rechtfertigen
hatte und sich sofort bei der JUNA entschuldigte. Wenn die Zensur in Bem einem
schweizerischen Presseblatt einen Maulkorb umband, der für jüdische Interessen
wichtige Informationen betraf, berichtete Sagalowitz einfach, was gerrau beanstandet
worden war. Doch die gelegentlichen Erfolge und die lange geduldete JUNA-Methpde
verhinderten später nicht, dass Ende 1942 die Zensur das JUNA-Verfahren rügte, als
diese nach dem Schicksal der deportierten Juden fragte. Sagalowitz hatte in einem
Bulletin vor allem christliche Medien zitiert und gar das Mitleid und Verständnis des
Pressechefs eines Territorialkommandos der Armee erweckt. Doch der vorgesetzte
Armeestab befand, das beanstandete Bulletin enthalte deutlich «eine bewusste Häufung
von geschickt ausgewählten Zitaten über die Judenverfolgung» und erhalte damit eine
propagandistische Note, welche man in Bem nicht dulden wolle.
Ähnliche Auseinandersetzungen zwischen Zensur und JUNA gab es vereinzelt
auch bei den Hinweisen auf die deutschen Erschiessungen im Winter 1941/42 und die
Ausrottung der ungarischen Juden 1944. Dabei wehrte sich die JUNAjedes Mal gegen
Interventionen und machte klar, dass sie lediglich Meldungen, die sich in einem
schweizerischen oder ausländischen Blatt fanden, wiedergegeben habe. Ebenso argu-
mentierte der SIG, die Zensur lasse bekanntlich auch antisemitische Artikel passieren
und verhindere auch nicht das «Hereinkommen von antisemitischen Zeitungen» aus
Frankreich. Im Armeestab ärgerte man sich indessen noch 1944, dass es unmöglich
blieb, der JUNA einen «Strafantrag wegen Ungehorsams» zuzustellen. Im ganzen
betrachtet blieb also die «indirekte» JUNA-Methode von Sagalowitz weitgehend
erfolgreich. 116
Der Triumph der jüdischen Aufklärung lag oft im Zitieren von Gegendarstellungen
zu falschen oder willkürlichen Zitaten. Zur Illustration der JUNA-Methode kann hier
ein wenig sensationelles und kaum zensursensitives Beispiel dienen, das aber die
beharrliche Mühe zeigt, auch in kleinsten Details die antisemitischen Anfechtungen
durch indirekte Selbstentlarvung abzuwehren. Ausserdem verweist das von der JUNA
angesprochene Fallbeispiel noch einmal auf das thematische Feld der späteren Motion
Pestalozzi. Das JUNA-Bulletin vom März 1940 enthielt folgende Passage: «Die
Vereinigung der heimgekehrten Auslandschweizer, Ortsgruppe Zürich, schreibt in
einer Einsendung an die Neue Zürcher Zeitung: <In der Front vom 17. Februar wird
unter dem Titel <Für die jüdischen Emigranten wurde gesorgt - die heimgekehrten
Auslandschweizer aber warten immer noch: ein Zirkular, das Bände spricht!> ein von
uns kürzlich versandtes Rundschreiben erwähnt. Wir sind der Presse jeder Richtung
aufrichtig dankbar, wenn sie sich des bedauernswerten Schicksals der Heimkehrer
annimmt. Doch möchten wir hiermit die öffentliche Bitte aussprechen, aus unseren
Akten oder Zirkularen nicht Tendenzen politischer oder rassischer Natur herauszu-
lesen, die vielleicht der einen oder anderen Richtung gerade passen, die aber ganz
STANDHAlTEN ODER FlÜCHTEN 133

entschieden unseren Absichten nicht entsprechen. Die Leitung der VHA ist sich
bewusst, dass sie nur auf politisch und rassisch neutralem Boden imstande ist, das
Problem der heimgekehrten Auslandschweizer zu lösen. Die Redaktion der Front hätte
demnach unseren Bestrebungen weit mehr nützen können, wenn sie den ganzen und
unverfalschten Text unseres Zirkulars abgedruckt hätte. Der unbefangene Leser unse-
res Zirkulars hat jedenfalls die von der Front unterschobene Tendenz nicht herauslesen
können; denn unter den eingegangen Spenden sind die aus jüdischen Kreisen nicht die
unansehnlichsten.» 117
Sagalowitz zog freilich mit seiner journalistischen Arbeit und seiner im SIG als
militant eingeschätzten Haltung viel innere Opposition auf sich. Diese heftigen inneren
Konflikte haben dazu geführt, dass heute Teile des Archives der JUNA und des
persönlichen Nachlasses von Sagalowitz, durch «Wegführungsaktionen» auseinander-
gerissen, an drei verschiedenen Stellen in Zürich und in Jerusalem liegen. 118 Mit den
Vertretern einer Niedrigprofilpolitik, vorab mit SIG-Präsident Saly Mayer, der den
JUNA-Redaktor an kurzer Leine hielt, gab es enorme Spannungen. Mayer versorgte
Sagalowitz kaum mit Informationen, gab sich nur in Andeutungen zu erkennen oder
vertröstete auf einen späteren Zeitpunkt. In Fragen der Flüchtlingspolitik war die
stiefmütterliche Behandlung der JUNA auch durch VSIA-Präsident Sylvain Guggen-
heim zu verspüren, der mit Mayer die gleiche Scheu teilte, jüdische Anliegen in die
Öffentlichkeit zu tragen. Die neben der Agenturarbeit eigentliche Aufgabe der Presse-
stelle des SIG, nämlich den Standpunkt des Gemeindebundes zu vertreten, entfiel
weitgehend.
Sagalowitz platzte nach knapp zweieinhalb Jahren JUNA-Redaktion der Kragen,
und er stiess im Mai 1941, kurz vor der SIG-Delegiertenversammlung, mit einer
eigenmächtigen Eingabe gegen diese Unzulänglichkeiten vor. Das zehnseitige Doku-
ment war an Saly Braunschweig als Vorsteher des Zürcher Lokalcomite der SIG-
Abwehr und an Georg Guggenheim, JUNA-Ressortleiter im SIG-Central-Comite,
gerichtet. Besonders massiv kritisiert wurde die ängstliche «Politik des Schweigens»,
die wohl klug und vorsichtig sei, aber in wichtigen Augenblicken, in denen man das
Wort ergreifen sollte, als Schweigen anfange «beredt» zu werden. Als Belege führte
Sagalowitz die Schächtfrage, die Warenhauspolemiken, die antisemitische Entgleisung
einer Armeeadjutantur in der Westschweiz und frontistische Provokationen an. Beson-
ders im Blick hatte er auch die aus seiner Sicht allzu anpasserische Diskretion und
devote Fürsprecherhaltung der jüdischen Repräsentanten gegenüber den Bundes-
behörden, wenn es um die Frage der eidgenössischen Flüchtlingspolitik, die Behand-
lung in den Arbeitslagern und die sonderrechtlich verfügte «Solidaritätsabgabe» für
die Flüchtlinge ging. Sagalowitz forderte klare und autoritative SIG-Stellungnahmen,
eine aktive Pressepolitik für die JUNA, aber auch die künftige Aufrechterhaltung der
SIG-Lokalsekretariate, die eher zu einem forschem Auftreten neigten als die zaudern-
de und auf drei Köpfe reduzierte SIG-Geschäftsleitung. 119
134 2. KAPITEL

Der Konflikt ist nach diesem ersten Feuer bald gelöscht worden. Mayer und
Braunschweig, die zunächst den Rücktritt von Sagalowitz durchsetzen wollten, lenk-
ten ein, nachdem Georg Guggenheim, der hinter seinem JUNA-Redaktor stand, ver-
mittelt hatte und die Agentur selbst zu kontrollieren versprach. 120 Der schwelende
Brand war freilich mehr als nur Austragung von persönlichen Rivalitäten. Hier und
ebenso in der frisch anlaufenden Affare um den «Ordre public» in Frankreich zeichne-
te sich zum ersten Mal deutlich die spätere Koalition zwischen den meist linken
Zionisten und einigen liberalen Nichtzionisten ab, die 1943 zum Umsturz in SIG und
ICZ führen sollte. Es ging um den politischen Stil und das Selbstverständnis, mit dem
man der offiziellen Schweiz gegenübertreten wollte. Die Lage in der Schweiz war
1940/41 alles andere als gemütlich, so dass ein Wechsel in der Redaktion oder gar eine
Auflösung der JUNA, was diskutiert wurde, als deutliches Schwächezeichen nach
innen wie nach aussen erschienen wären.
Die JUNA erwies sich während und nach dem Krieg als ein ausserordentlich
wertvolles Instrument, das sich auch Gehör über die Schweizer Grenzen hinaus
verschaffte. Nicht nur Sagalowitz' geschickter Umgang mit der Zensur, sondern die
sachliche Verlässlichkeit und der glaubwürdige Ton in den regelmässig versandten
Agenturberichten verschafften ihm Respekt im gesamten schweizerischen und inter-
nationalen Umfeld. Dies erwies sich als besonders wichtig, als es um die Verbreitung
präziser Informationen ging, mit denen der Öffentlichkeit der freien Welt die Existenz
der deutschen Judenvernichtung und der Gaskammern überhaupt bekannt gemacht
wurde. Sagalowitz stellte im Sommer 1942 die Verbindung zwischen einem deutschen
Industriellen und WJC-Sekretär Gerhart Riegner her, was die Lieferung von Angaben
über die Vergasungen ermöglichte, die im berühmten Riegner-Telegramm an Stephen
Wise in die amerikanische Öffentlichkeit gelangten. 121 Ohne Zweifel hat die Fähigkeit
des JUNA-Redaktors, Informationen zusammenzustellen, aber auch sein politischer
Scharf- und Spürsinn, die Voraussetzungen geschaffen, die Informationen durch den
deutschen Industriellen zu erhalten.
Ein ähnliches Verdienst, nämlich die drohende Vernichtung der ungarischen Juden
beharrlich in das moralische Bewusstsein der schweizerischen Öffentlichkeit zu tra-
gen, zeichnete die JUNA-Arbeit von Sagalowitz 1944/45 aus. Im gleichen Jahr leistete
die JUNA nützliche Dienste auch bei der Abschreibung jener Motion Pestalozzi, mit
der unsere Darstellung über die jüdische Abwehr eingesetzt hat. In der Nachkriegszeit
hat Sagalowitz mit der JUNA die antirassistische Aufklärung medienwirksam verbrei-
tet, insbesondere indem er neonazistische Tendenzen aufspürte oder das Bagatellisieren
der Kriegsverbrechen anprangerte. Schliesslich kann hier bereits vorweggenommen
werden, dass Sagalowitz für die Erstellung des Ludwig-Berichts über die Flüchtlings-
politik der Schweiz eine umfangreiche JUNA-Dokumentation zusammengestellt hat.
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN 135

IN DIE ENGE GETRIEBEN (1)

JÜDISCHE ZUSTIMMUNG ZU DEN


EIDGENÖSSISCHEN ARBEITSLAGERN
UND DIE ANGST VOR BEHÖRDEN
UND FLÜCHTLINGEN

In der grössten jüdischen Gemeinde der missionieren, weil man die Einbruchsstellen
Schweiz, in der Israelitischen Cultus- entdeckt, weil man bei diesen jüdischen
gemeindeZürich, kam Ende März 1943 die Flüchtlingen eine Auflockerung gefunden
Flüchtlingspolitik des SIG und VSJF unter hat [ ... ]. Es besteht die Gefahr, dass weim
heftigen Beschuss. Stellvertretend für die die Juden sich von den jüdischen Flüchtlin-
jüdische Schweiz wurde dort in den eigenen gen distanzieren, andere Nichtjuden noch
Reihen die zögerliche Wahrnehmung der einen Schritt weitergehen und sie diskrimi-
politischen Interessen der jüdischen Flücht- nieren.»
. Iinge kritisiert. Besonders die ängstliche Zu- Sagalowitz erblickte in der politischen
rückhaltung jüdischer Verantwortungsträger Schwäche des SIG auch eine weitere Gefahr
gegenüber den eidgenössischen Behörden für die Schweizer Juden und die jüdischen
bildete Gegenstand der Debatte. JUNA- Flüchtlinge. Das Schweigen der Schweizer
Redaktor Benjamin Sagalowitz machte als Juden in der Öffentlichkeit sei eine Ermun-
Ursachen solcher Angst objektiv vorhandene terung an die Behörden, den jüdischen
Faktoren verantwortlich, wie Kriegs- Flüchtling besonders zu diskriminieren. Er
situation, antisemitische Agitation und be- spielt auf den August 1942 an, als diese Ge-
hördlichen Druck auf den SIG. Doch warnte fahr bittere Wirklichkeit wurde: <<Es ist vor-
er vor einer Stimmung der «Angst, aus der gekommen, dass wir selber gegen unsere
heraus eine gewisse Distanzierung von jüdi- nichtjüdischen Freunde als Kronzeugen auf-
schen Flüchtlingen» resultieren würde. geführt wurden: Die Juden schweigen ja!
«Ich erwähne die allzu rasche Zustim- [ ... ] Wir sind eingegliedert worden in die
mung zu der Konzentrierung der Juden in Schweiz. Zentralstelle für Flüchtlingshilfe.
Arbeitslagern und die manchmal übertriebe- Das Arbeiterhilfswerk ist der Zentralstelle
nen Mahnungen, öffentlich nicht aufzufal- auch angeschlossen, die Junge Kirche eben-
len. Daher kommt, was wir oft erleben: die falls. Sie haben es sich nicht nehmen lassen,
seelische Isolierung der Flüchtlinge. Sie füh- auch heute nicht, einen Standpunkt auszu-
len sich von uns verlassen, weil sie fühlen, drücken, der im Gegensatz steht zum Stand-
dass ihre Existenz die Juden hier beunruhigt punkt der Behörden. Aus der inneren Un-
[ ... ]. Nicht wenige Flüchtlinge fühlen sich sicherheit stammt auch sicherlich diese
besser verstanden bei nichtjüdischen Helfern Angst [des VSJF]: die Beschränkung der
als bei unserer Flüchtlingshilfe. Ich kann mir Beziehung auf ganz bestimmte Stellen,
das daraus erklären, dass dieser nichljüdi- Angst vor einem Kontakt mit der Öffentlich-
sche Helfer ihm viel unbefangener ent- keit, Angst vor allem vor dem Kontakt mit
gegentritt; dass er ihm freier, offen helfen oppositionellen Kreisen [ ... ].»
kann, gewissennassen ohne zu schielen. Wir
haben uns gewehrt gegen die Missions-
versuche, aber es ist kein Zufall, dass von Quelle: Archiv ICZ, Protokoll der Gemeinde-
der christlichen Mission versucht wird, zu versammlung vom 22. März 1943.
136 2. KAPITEL

Jüdische Zeitungen in der Schweiz

Die jüdische Presse in der Schweiz, das Israelitische Wochenblatt oder die bis 1939
edierteJüdische Presszentrale als Hausblatt der ICZ haben natürlich den Abwehrkampf
ebenso beharrlich mitgetragen wie die JUNA, von der auch die kleinen jüdischen Medien
sehr viel Informationen beziehen konnten. Doch waren diese jüdischen Zeitungen, die
eine jahrzehntelange Tradition hatten, mehr auf das innerjüdische Leben ausgerichtet und
wurden in der allgemeinen schweizerischen Öffentlichkeit kaum beachtet. Das Wochen-
blatt und sein langjähriger Verleger, Brich Marx, dürfen aber keinesfalls unterschätzt
werden. Einmal stärkte das «grüne Blättli» vor und während der Kriegsjahre die jüdische
Leserschaft in ihrem Bedürfnis nach moralischer Aufrichtung enorm und verlieh dem
jüdischen Empfinden Stimme und Gewissheit. Zum andern war das Wochenblatt bald
auch die einzige deutschsprachige Zeitschrift in Europa, die sich als «publizistische
Pflicht auferlegt vor allem zu registrieren, wie es um das Gesamtjudentum steht». Es
wurde denn auch von der jüdischen Exilgemeinde im In- und Ausland gelesen, und die
Exilpresse in Paris oder New York übernahm Meldungen aus dem Zürcher Blatt. Selbst
ein so prominenter Nazipropagandist wie Julius Streicher hat später bekannt, das Blatt
regelmässig zur Hand genommen zu haben. In jedem Fall ist im Bewusstsein vieler
Schweizer Juden die moralische Integrität mit dem hochstehenden Niveau des Wochen-
blattes lange in Verbindung gebracht worden. 122
Von Interesse ist die Erwähnung der jüdischen Zeitungen der Schweiz in einer
nazistischgeprägten Dissertation von Sonja Weber, die nach dem Fall Gustloff die
gesamte Schweizer Presse examinierte. 123 Die Autorin schätzte durchaus richtig ein,
dass alle jüdischen Zeitungen als Kampfblätter gegen den Antisemitismus und gegen
Nazi-Deutschland zu werten seien, obwohl dies ursprünglich nicht beabsichtigt war.
«Dringt diese Hetze auch nicht unmittelbar in das Schweizer Volk, so hält sie minde-
stens doch unter dem jüdischen Bevölkerungsteil eine gereizte Stimmung gegen
Deutschland ständig wach und kann mittelbar auch weitere Kreise beeinflussen.» Als
bedeutendste Veröffentlichung neben den beiden in Zürich erscheinenden Blättern und
der Nouvelle Presse Juive in Genf nennt die Leipziger Doktorarbeit von 1938 die
monatlich erscheinende, «gross aufgezogene» La Revue Juive, mit einem «weit ausge-
breiteten Mitarbeiterstab prominenter Juden aus ganz Buropa und einem internationa-
len Leserkreis». In der Tat war die Genfer Revue J uive ein geistiges Unternehmen von
grösserer Ambition, als dass es mit den Gemeindeblättern, wie zum Beispiel der
Deliverance in Lausanne, hätte verglichen werden können.
Die Revue Juive gehört vornehmlich ins Bild der jüdischen Geistesgeschichte,
muss aber auch unter den Aspekten der Exilforschung oder der Abwehrgeschichte
erwähnt werden. Von ihrem Gründer, dem Philosophen und Publizisten Josue Jehouda,
herausgegeben, um von der Völkerbundsstadt Genf aus die jüdische Einheit zu
propagieren, erschien diese mehrere Oktavseiten umfassende Monatsschrift zwischen
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN 137

1932 und 1948, konnte aber gerade während der Kriegszeit nicht gedruckt werden.
Jehoudas Zeitschrift war der Form nach der Pariser Revue Juive von Albert Cohen,
dem Verfasser des Romanepos «Solal», nachempfunden und auch den Inspirationen
des Lyriker Andre Spire verpflichtet. In der Abwehr wollte die Genfer Zeitschrift die
«kulturelle und spirituelle Verteidigung» der jüdischen Werte betonen und hat dies im
Sinne eines idealistischen Universalismus auch tatkräftig getan. Den individuellen und
sozialen Moralbegriff, wie ihn Henri Bergson und andere philosophisch thematisierten,
und die moderne Relativierung aller Werte suchte Jehouda in der geschichtlichen
Bestimmung des Judentums als einer religiösen und weltlichen Einheit zu versöhnen.
So haben Grössen aus dem deutschen, französischen und osteuropäischen Sprach- und
Kulturbereich, wie Edmond Fleg oder Alexandre Herenger, Max Brod oder Lion
Feuchtwanger, Hugo Bergmann oder Jakob Klatzkin, aber auch die politische Führung
des jüdischen Weltkongresses bei der Revue Juive ein Forum gefunden, das der
geistigen Abwehr der antisemitischen Ideologie diente. 124
Zum Bild der publizistischen Abwehr in der Schweiz gehören auch der Verleger
Emil Oprecht und seine Frau Emmie Oprecht in Zürich, beide Nichtjuden, die sehr
früh Partei für den antifaschistischen Kampf ergriffen. 125 Neben dem Oprecht- und
dem Europa-Verlag existierten in diesem Haus an der Rämistrasse 5 auch zwei kleine
Verlage, «Der Aufbruch» für sozialistische Schriften und «Die Gestaltung» für jüdi-
sche Belange, was Autoren wie Hugo Marx oder Oskar Wolfsberg die Möglichkeit zu
publizieren gab. In «Die Gestaltung» ist die zuvor nur in der jüdischen Presse erschie-
nene Abwehrschrift von David Farbstein über die «Stellung der Juden zur Rassen- und
Fremdenfrage» veröffentlicht worden. 126 Im gleichen Verlag hat später Farbstein auch
zwei weitere Apologien publiziert, die sich gegen die antijudaistischen Vorurteile und
die christliche Judenmission richteten. 127
Farbsteins Aufklärung war in einer ruhigen und unaufdringlichen Diktion gehal-
ten, die begrifflich und historisch die Zusammenhänge ausleuchtete, aus denen die
ewigen antijüdischen Vorurteile hervortraten. Farbstein zeigte das Judenbild seit der
römischen Antike auf, verwies auf die Verfolgungen und die Verächtlichmachung der
Juden im christlichen Mittelalter und ging auf wissenschaftliche «Beweise» und
theologische Vorurteile ein. Dass der Ton dieses jüdischen Sozialisten bewusst volks-
nah gehalten war, vermag nicht über Farbsteins enorme Belesenheit hinwegzu-
täuschen, die es ihm erlaubte, auf biblische, talmudische, rabbinische und wissen-
schaftliche Werke zurückzugreifen, darunter Josef Klausners Studien zum Leben Jesu,
Max Webers Aufsätze zur Religionssoziologie, Sirnon Dubnows «Jüdische Welt-
geschichte}}' Stracks und Biilerbecks «Einleitungen in Talmud und Midrasch» oder
Friedländers Darstellung der römischen Sittengeschichte.
138 2. KAPITEL

MENSCHENRECHTE ODER MINDERHEITENSCHUTZ?


JÜDISCHER POSITIONSWANDEL IM VÖLKERRECHTLICHEN DENKEN.
EIN EXKURS ÜBER DIE GENESIS DER GRUND- UND GRUPPENRECHTE

Es ist in der Darstellung bereits vermerkt worden, dass die Schweizer Juden aus den
widersprüchlichen Haltungen der Kantonsregierungen, antisemitische Äusserungen
durch Dekrete zu unterbinden, gefolgert haben, dass die föderalistische Struktur der
Eidgenossenschaft einen gewissen Schutz biete. Natürlich meinte dies nur einen
relativen Schutz, der Kampf erforderte und die Aussicht bot, dass die behördliche
Haltung nicht als unverrückbare Rechtspraxis oder endgültige Regel zu verstehen war.
Dass der schweizerische Föderalismus eine in der Prozesspraxis wohl mühevolle, aber
in der grundsätzlichen Abwehrpolitik äusserst wichtige Voraussetzung für den eigenen
Schutz bedeuten konnte, ist von den juristischen Köpfen im SIG mit aller Deutlichkeit
unterstrichen worden. Als Erfahrung und Maxime bezog man sich dabei auf den
völkerrechtlichen Horizont, aus dem sich ablesen liess, dass föderative Staatsstruktur
und dezentrale Verwaltungsorganisation sich zugunsten von Minoritätengemeinschaften
auswirken konnten. Eine Lösung von Minderheitenproblemen nach dem Schweizer
Modell, insbesondere aber ein wirksamer Minderheitenschutz, wurde in den staats-
rechtlichen Institutionen des modernen Bundesstaates gesucht. Dies hatten gerade
auch schweizerische Rechtsgelehrte betont, wenn sie in der Diskussion nach 1918 das
einer Minderheit angehörende Individuum im Auge hatten. 128
Der individuelle Schutz des einzelnen Bürgers in seiner Rolle als Minderheitenan-
gehöriger war freilich nur ein Aspekt der Diskussion, die zudem durch die politische
Entwicklung im Europa des Völkerbundes offensichtlich und zusehends zersetzt wur-
de. Gerade von jüdischer Seite war man in Buropa mehr an einem kollektiven Schutz
der Minderheit interessiert. Diese Auffassung einer Minoritätenprotektion im Sinne
eines Gruppenrechts rückte die Frage und Forderung nach Autonomie, die freilich sehr
verschieden definiert sein konnte, in den Vordergrund. Der Widerstreit zwischen
individuellen Menschen- und Bürgerrechten und die Autonomie betonenden Minder-
heitenrechten musste auch die Schweizer Juden interessieren, zumal darin auf innen-
politischer Ebene auch das Problem von Loyalität versus Sonderdasein aufleuchtete.
Es ist von Interesse, dass einer der gelehrtesten und einflussreichsten Köpfe in der
SIG-Abwehr, Paul Guggenheim, zugleich sich für ein völkerrechtlich garantiertes
Minderheitenrecht aussprach und gegenüber Bundesrat und Behörden für die SIG-
Abwehr das Prinzip individueller Gleichheit hochhielt Sein Beharren, universales
Menschenrecht und ethnisches Minderheitenrecht zu versöhnen, sind im Rahmen der
Geschichte der Juden und der Schweiz, aber mit Blick und Bezug auf die internationa-
le Rechtsgeschichte, zu verstehen. Zudem rechtfertigen Guggenheims Stellung im SIG
und WJC sowie seine persönlichen Verbindungen in der Völkerbundszene ein näheres
Eingehen auf die gesamte Problematik des rechtlichen Schutzes, dem sich eine Reihe
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN 139

von jüdischen Juristen aus verständlichen Gründen immer wieder zuwandten. Sein
Bruder, der Zürcher Anwalt Georg Guggenheirn, hat uns einen Rechenschaftsbericht
über die SIG-Abwehr hinterlassen, der sehr dominant die juristischen Aspekte der
Abwehr würdigt.
Paul Guggenheim ist nicht müde geworden, der kleinen jüdischen Öffentlichkeit in
der Schweiz ins Bewusstsein zu hämmern, dass der moderne «internationale Antisemi-
tismus unserer Tage» kein isoliertes Phänomen sei und die einheitliche Abwehr eines
weltweit solidarischen Judentums erfordere. Man dürfe nicht vergessen, dass es bei der
«Judenfrage» keinen teilbaren Frieden und keinen teilbaren Kampf gebe, weil es um
die Erhaltung der liberalen Rechtsgüter und staatsbürgerlichen Freiheiten in allen
Ländern gehe. Guggenheim plädierte für den jüdischen Weltkongress und kritisierte
das Bild einer öfters uneinig wirkenden Abwehr und das zögerliche Vorgehen in
Zeiten der Krise. 129
In den europäischen Ländern war mit der Pariser Friedenskonferenz von 1918/19
eine Konzeption des Minderheitenschutzes in Verträgen geschaffen worden, die als
Aufgabenbestandteil für den entstehenden Völkerbund vorgesehen waren. Dabei sollte
der Schutz von Minoritäten aufgrund einer territorialen oder personellen Autonomie
erfolgen, ein Verfahren, das über den individuellen Rechtsschutz weit hinaus ging. Das
Versagen dieser Autonomiemodelle auf völkerrechtlicher Grundlage lag bekanntlich
in der einseitigen Unterstellung der neuen Staaten durch die siegreichen Westmächte,
die sich selbst nicht an diese belastenden Regelungen zu halten hatten. Wie von
Freunden und Gegnern des Minderheitenschutzes festgestellt wurde, fehlte im Völker-
bund eine Verallgemeinerung der Minderheitenprotektion, aber auch ein Klagerecht
der Minderheiten selbst, die mit einem solchen rechtlichen Instrument hätten legiti-
miert werden können. 130 Die Komplexität solcher Schutzsysteme scheiterte von An-
fang an am politischen Willen und an der praktischen Wirkung. Schliesslich verhinder-
te die Appeasementpolitik der Westmächte gegenüber Deutschland eine denkbare
Ausdehnung zugunsten der jüdischen Minderheit.
Es ist bemerkenswert, dass gerade jüdische Juristen, insbesondere in den Kreisen um
den World J ewish Congress und seiner Vorgängerorganisationen, in der Zeit zwischen
den Weltkriegen, dann während des Krieges und vor allem in einer kurzen Nachkriegs-
periode, sich um die Fragen des Minderheitenschutzes eingehend bemühten. Wohl finden
wir viele nichtjüdische Autoren, weil ein Interesse für minderheitenrechtliche Probleme
durch die Kriegsliquidation von 1918 gerade auch von Frankreich und Deutschland
wachgehalten wurde. 131 Es ist aber kein Zufall, dass die Idee einer universal ausgerichte-
ten Magna Charta der Menschenrechte in Verbindung mit einem spezifischen
Minderheitenrecht von jüdischen Organisationen ausgearbeitet wurde. Diese hatten alles
Interesse, einen kollektiven Schutz für sämtliche Staaten zu generalisieren. In den Kom-
missionen wie in völkerrechtlichen Bibliographien jener Zeit fällt das intensive Bemühen
jüdischer Juristen um die Bürger- wie Minderheitenrechte auf. 132
140 2. KAPITEL

An den Pariser Konferenzen war aufBetreiben des Comite des Delegations Juives
die Autonomie und der Schutz von Minoritäten zu einem Thema gemacht worden, und
dies implizierte auch die gesamte Problematik der Mandatsgebiete und Staaten-
sukzession, der sich das Interesse jüdischer Juristen zuwandte. Zionisten, Assimilatio-
nisten und Autonomisten suchten die juristische Betrachtung der jüdischen Frage
gleichermassen zu klären, weil sie an einem Instrument interessiert waren, das interna-
tional eine innerstaatliche Diskriminierung der jüdischen Autonomie- wie Emanzipa-
tionsbestrebungen verhindem konnte.
Der französische Jurist Elie Cohen und der aus dem britischen Mandatsgebiet
Palästina stammende Nathan Feinberg suchten vor allem minimale Standards aufzu-
stellen, die theoretisch die Wirksamkeit der Protektionen garantieren würden. 133 Unter
Leitung des Verfassungsrechtiers Louis Marshall wurden die vom Völkerbund in
dessen Deklarationen akzeptierten Rechtssätze auf das individualrechtliche Feld aus-
gelagert und in Genf von den amerikanisch-jüdischen Organisationen als Postulat in
dieser neuen bürgerrechtsmässigen Form vorgetragen. Dies entsprach dem liberalen
Ideenkreis der angelsächsischen Länder, wo man den Schutz vor Diskriminierung
einfach als Teil des Fremdenrechts interpretierte. Die amerikanischen Völkerrechtler
folgten einem Gedanken, der darauf hinaus lief, den Katalog individueller Bürgerrech-
te der nationalen Verfassungen in das System des geltenden Völkerrechtes einzubau-
en. Damit wäre für ein spezifisches Minderheitenrecht, das für einzelne Gruppen
kollektive Autonomien vorsah, kaum mehr Platz gewesen.
Von der jüdischen Seite, der darangelegen war, individuelle Bürgerrechte und
kollektive Minderheitenansprüche zu verbinden und aufzuwerten, brachte in den
dreissiger Jahren bezeichnenderweise ein russischer Jurist diesen Anspruch auf den
Plan. Andre Mandelstam war ehemaliger Direktor der Rechtsabteilung des russischen
Aussenministeriums und entfaltete als Emigrant in der Zwischenkriegszeit eine be-
achtliche völkerrechtliche Tätigkeit, vor allem im Auftrag des Instituts für internatio-
nales Recht. Mandelstam propagierte eine Erklärung der internationalen Menschen-
rechte, die auch das Recht der Gruppe umfasste, wobei er insbesondere die Deklaration
der personellen Autonomie von Minoritäten projektierte. Dazu war eine Generalisierung
der Menschenrechte vorgesehen, um die darin eingebauten Minderheitenrechte gegen-
über allen Staaten fordern zu können. 134 Die Spannung zwischen Grundrechten und
Gruppenrechten sollte durch eine Kombination harmonisiert werden. Mandelstam
entwickelte damit den Autonomismus, wie ihn der populäre Historiker Sirnon Dubnow
mehr geschichtsphilosophisch begründete, 135 nun als universalisiertes Rechtsgut im
Sinne der Menschenrechte.
Politisch trug dann Nahum Goldmann, insbesondere als Vorsitzender des Comite
des Delegations Juives und nach 1936 des WJC, die Sache der jüdischen Minderheiten
vor. Gemessen an der Grösse des Konzeptes von Mandelstam nahmen sich die
wirklichen Erfolge, das Minderheitenrecht praktisch durchzusetzen, kläglich aus. Es
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN 141

wurde bereits auf das Ungenügen des Geltungsbereichs und den politischen Opportu-
nismus der Sieger von Versailles hingewiesen. Das Scheitern des Völkerbunds wider-
spiegelte sich in der kurzatmigen und erfolglosen «Anwendung» der Minderheiten-
schutzverträge, die im Spiel der Grassmächte nicht zu justizförmigen SchutzeiD-
richtungen hatten werden können. Von jüdischer Seite musste das ganze Gebäude
min.derheitenrechtlicher Autonomie bald auch angesichts Deutschlands als diskreditiert
erscheinen. Galt die Weimarer Republik als Inbegriff von Emanzipation und Assimi-
lationismus, was autonomistischen Konzepten entgegenstand, so brach mit dem Auf-
stieg Hitlers der menschenrechtliche Rahmen auseinander. Ohnmacht zeigte sich nicht
gegenüber den kleinen osteuropäischen Staaten, sondern angesichts der Nazidiktatur.
Die Etablierung eines nazistischen Völkerrechts, mit seinen biologistisch und
antiuniversalistisch konstruierten Begriffen von «völkischen Kooperativen» oder
«Grossraumordnung», lief auf die Zerstörung des Gleichheitsprinzips hinaus. 136 Nach-
dem die Entrechtung und Vernichtung in einem Land angebahnt worden war, auf das
der Minderheitenschutz nicht einmal Anwendung fand, war es um so dringlicher, die
Konzeption der individuellen Menschenrechte zu betonen. Goldmann hat nach Aus-
bruch des Krieges die Ablösung des spezifischen Minderheitenschutzes als vertragli-
ches Verfahren durch eine Magna Charta als völkerrechtliche Grundrechtsgesetzgebung
verfochten. 137 Diese Forderung konnte sich zwar weitgehend auf Mandelstam stützen,
erachtete aber nun primär die Universalisierung individualrechtlicher Standards als
genügenden und wirksamen Schutz für eine ethnische Minderheit.
Bei der Gründung der Vereinten Nationen wurde dann in der Tat das Minderheiten-
recht ignoriert und durch die Erklärung der allgemeinen Menschenrechte ersetzt. 138
Das Interesse galt lediglich der universalen Garantie individueller Rechte, mit der
allenfalls religiöse, aber keine ethnischen oder nationalen Minderheiten geschützt
wurden. Minderheiten als Gruppen erlangten kein Recht auf Wahrung ihrer Eigenart,
wenngleich die Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen die Diskriminie-
rung individueller Minderheitenangehöriger verbietet. Dieser Linie, mit der das
Autonomiepostulat fallengelassen wurde, ist der Europarat 1950 gefolgt, indem er das
Recht auf Pflege ethnischen Eigenlebens nicht vorsah. Mit anderen Worten, die
Vereinten Nationen blieben hinter den Forderungen des WJC und amerikanisch-
jüdischer Kreise zurück, die später wiederholt diese Aufgabe der Minoritätenrechte,
die sie als Bestandteil in die universalen Menschenrechte eingebaut wissen wollten,
zutiefst bedauert haben. 139
Paul Guggenheim als Rechtsberater des WJC widmete sich seit der Gründung des
Weltkongresses eng der hier skizzierten Problematik von Menschenrecht und
Minderheitenschutz bzw. von Grund- und Gruppenrechten. Guggenheim, der in Berlin
bei Heinrich Triepel und Victor Bruns über die Frage der Staatensukzession promo-
viert hatte und sich ansebliessend in Genf habilitierte, lehrte am Institut universitaire
des Hautes Etudes internationales Völkerrecht. 140 Er war dessen Gründer und
142 2. KAPITEL

viert hatte und sich ansebliessend in Genf habilitierte, lehrte am Institut universitaire
des Hautes Etudes internationales Völkerrecht. 140 Er war dessen Gründer und
langjährigem Leiter William E. Rappard verpflichtet, ganz wie die Grössen der jüdi-
schen Politik, Weizmann, Goldmann und weitere, die den Genfer Diplomaten und
Gelehrten als «moralisch unantastbar» verehrten und in ihm auch einen Garanten einer
richtigen Mandatspolitik des Völkerbundes sahen. 141
Guggenheim äusserte sich mehrfach im Rahmen der Schweizerischen .Völker-
bundsvereinigung, die von der SIG-Abwehr gerne als Plattform der Aufklärung gese-
hen wurde, zu den Fragen des Menschenrechts und Minderheitenschutzes. 142 Wie einer
seiner zahlreichen Beiträge in der Zeitschrift Friedenswarte zeigt, zog Guggenheim
aus der geschichtlichen Erfahrung den Schluss, dass «die völkerrechtliche Autonomie
in Wirklichkeit angesichts ihrer vielfältigen politischen Auswertungsfähigkeit das
ungeeignetste Mittel ist, um den Minderheitenschutz zu einer Minoritäten schützenden
und ihre Erhaltung ermöglichenden permanenten Institution zu erheben». 143 Im Klar-
text, die Formen und Modalitäten einer territorialen oder personellen Autonomie
stellten sich angesichts des zwischenstaatlichen Machtspiels, das heisst durch den
politischen Missbrauch oder den belastenden Kompromisscharakter, kaum als das
richtige Mittel für einen sinnvollen Schutz heraus, der einer Minorität kulturelle
Selbstbestimmung in entgifteter Atmosphäre erlauben würde.
Doch andererseits lehnte Guggenheim eine abstrakte universale Menschenrechts-
erklärung, die das Recht von Minoritäten auf ein religiöses, soziales und kulturelles
Eigenleben als Gruppe ausklammern wollte, entschieden ab. Er suchte den lang
diskutierten Widerstreit zwischen allgemeinen Menschenrechten und völkerrechtlich
verankerten Gruppenrechten zu versöhnen, indem er ein materiell genau bestimmtes
Minderheitenrecht in die allgemeinen Menschenrechte einbauen wollte. Diese konkre-
ten, inhaltlich festgelegten Bestimmungen, was in den einzelnen Punkten der
Mindeststandard für eine Selbstbestimmung sein sollte, wollte er als «Ausdehnung»
auf die allgemeinen Menschenrechte verstanden wissen. Die Minderheitenverträge
sollten internationalisiert und in die Vereinten Nationen eingebaut werden. Abzusi-
chern war ihre Wirksamkeit durch eine prozessuale Schutzordnung.
Von Interesse ist, wie Guggenheim dieses Festhalten an den Gruppenrechten
begründete. Er führt nämlich auch die inneren Eigeninteressen von Minoritäten ins
Feld, wenn er die Ansicht vertrat, das europäische Minoritätenproblem könne mit
abstrakten völkerrechtlichen Grundrechtskatalogen und Willkürverboten allein nicht
gelöst werden. Der Schutz von ethnischen Minoritäten bedürfe auch sozialer Protektion,
um die religiöse und nationale Assimilation einer Minderheit zu verhindern. Der
Schutz der wirtschaftlichen und politischen Emanzipation sollte damit verknüpft wer-
den, den drohenden Assimilationsdruck von der Minorität zu nehmen, ohne sie dabei
zu diskriminieren. Guggenheim suchte also Integration und Separatismus, die als
Dichotomie positiver oder negativer Bestimmung galten, als zwei gleichzeitig wün-
STANDHALTEN ODER FLÜCHTEN 143

pragmatisch jene inhaltlichen Bestimmungen benötigte, die in den erwähnten Forde-


rungen nach einer materiell genau zu umschreibender Autonomie aufzuzählen und
international zu deklarieren gewesen wären. Utopischer Pazifismus und egoistisches
Staatsinteresse sollten nicht mehr an den Klippen eines untauglichen Autonomismus
scheitern, sondern neu in der materiell bestimmten Autonomie feste Grenzen erhalten.
Die Realität der sich abzeichnenden Nachkriegsordnung ist an solchen Vorschlä-
gen, so wirklichkeitsnah sie auf europäischem Boden schienen, vorbeigegangen.
Guggenheim hat im April 1944, als in Dumbarton Oaks zweihundert amerikanische
Juristen ihre Empfehlungen vorlegten, in der die organisatorische Struktur der Verein-
ten Nationen vorskizziert war, zunächst seine Skepsis angemeldet. Die Vorzugstellung
der siegreichen Grassmächte erinnerte allzu sehr an den Pariser Frieden. 144 Der Vor-
rang homogener Individualrechte, der in den Vereinten Nationen zum Durchbruch
gelangte, garantierte aber wenigstens die Überwindung des Herrschaftsanspruches des
Staates über die seiner Zwangsgewalt unterworfenen Menschen. Jenseits einer dem
Liberalismus verhafteten zwischenstaatlichen Ordnung war letztlich nur noch die
völkerrechtliche Verankerung von Rechten zugunsten des Individuums möglich. Die-
se Zubilligung unveräusserlicher Rechte ohne Unterschied von Rasse, Religion, Spra-
che und Staatsangehörigkeit transzendierte gewissermassen die Vorstellung von
Minderheitenrechten alten Stils. Die Einsicht in die Justiz des nazistischen «Doppel-
staates» legte dies nahe, wenn auch die Analyse des vom Nazismus geübten Rituals
rechtsstaatliehen Scheins noch nicht rezipiert wurde. 145 Guggenheim spürte aber ange-
sichts der politischen Zäsur von 1933 bis 1945 das Ungenügen des traditionelllibera-
len Zugriffs durch ein Rechtsdenken, das formal genügen wollte.
Die bittere Wirklichkeit, die die jüdischen Bemühungen um völkerrechtliche Re-
gelungen auf grauenvolle Weise sabotierte, hat im letzten Kriegsjahr auch eine schwei-
zerische Studiengruppe für jüdische Fragen veranlasst, sich mit rechtstheoretischen
und -praktischen Fragen auseinanderzusetzen. Sie stellen einen Versuch dar, das
soziale und politische Scheitern des bisherigen Minoritätenschutzes nicht aus juristi-
scher Kurzsichtigkeit zu verdrängen. Eine Arbeit von Artbur Wolffers versuchte
ausgehend von rechtssoziologischen Feststellungen, das heisst im Bewusstsein eines
Kampfes zwischen heterogenen und homogenen Ordnungsprinzipien, die internatio-
nalen Probleme eines Schutzes der Menschenrechte zu reflektieren. 146 Er stellte den
von Hobbes abgeleiteten «Zusammenhang von Schutz und Ordnung», der in Deutsch-
land von Carl Schmitt soeben wieder vorgetragen worden war, einer die internationa-
len Interdependenzen betonenden Gleichartigkeit von Bürgern und Nationen gegen-
über. In diesem letzteren Prinzip war als Ziel die Harmonisierung eines Minimums an
sozialer wie zwischenstaatlicher Homogenität und eines internationalen Schutzes von
Rechtsideen vor staatlichen Eingriffen anzustreben. Davon ausgehend konfrontierte
Wolffers die wünschenswerten Ziele des Minderheitenrechts mit den im Völkerbund
gemachten Erfahrungen. Bemerkenswert ist W olffers ausgearbeiteter Vorschlag für
144 2. KAPITEL

die gerrauere Ausgestaltung des internationalen Schutzes von Bürgerrechten. Er schlägt


im Rückgriff auf den Staatsrechtier Zaccaria Giacometti, der eine Verfassungs-
gerichtsbarkeit des schweizerischen Bundesgerichts postulierte, die Einrichtung einer
internationalen Verfassungsgerichtsbarkeit vor.147
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die von Schweizer Juden vorgebrach-
ten Vorschläge einen beachtenswerten Sinn für die einzelnen Objekte einer internatio-
nalen Protektion entwickelten. Wie und ob ihre Ideen zu verwirklichen waren, stand
angesichtsder erst einsetzenden Gestaltung einer Nachkriegsordnung auf einemandem
Blatt. Zudem spielten schweizerische wie europäische Juden eine zusehends marginale
Rolle in der jüdischen Welt, ähnlich dem Bedeutungsschwund der Schweiz als einem
Ort internationaler Diplomatie. Mit der Amerikanisierung der Politik verlagerte sich
auch das Zentrum, von dem die innovativen Anstösse für Rechtstheorien und Völker-
recht ausgingen, in den atlantischen Raum. Die spätere UNO hat jedenfalls, wie bereits
vermerkt, ein kollektives Minderheitenrecht, wie es in Europa entwickelt worden war
und in Genf hätte institutionalisiert werden sollen, ignoriert. Guggenheim hat mit
seinem spezifisch europäisch anmutenden Vorschlag, der Mandelstams frühe Bemü-
hungen auf die Füsse stellte, nicht Recht erhalten. Zugleich fand er mit der liberalen
Ausgestaltung der Atlantic Charta die Idee verwirklicht, wofür der WJC jahrelang
gekämpft hatte.
145

3. KAPITEL
VON FALL ZU FALL
DER BUNDESRAT UND DIE SCHWEIZER
JUDEN IM IN- UND AUSLAND

Aufgrund von Akten aus dem Archiv des Deutschen Auswärtigen Amtes, die 1953
durch die Westalliierten veröffentlicht wurden, erhob die Wochenzeitung Der Schwei-
zerische Beobachter im März 1954 gegen Heinrich Rothmund als Chef der Polizeiab-
teilung den Vorwurf, ihm komme das zweifelhafte Verdienst zu, den Nationalsozialisten
den Weg zum Judenstern gebahnt zu haben. Rothmund sei im Jahre 1938 der eigentli-
che Erfinder des berüchtigten J-Stempels gewesen, der es den schweizerischen Konsu-
laten und Grenzstellen ermöglicht habe, deutsche Staatsbürger «nichtarischer» von
jenen «arischer Rasse» zu unterscheiden. Der SIG forderte nach Bekanntwerden dieser
Vorwürfe in einer Resolution seiner Delegiertenversammlung einen Bericht des Bun-
desrates. Im Parlament wurde im Juni 1954 durch den Sozialdemokraten Hans Oprecht
eine Interpellation eingebracht, die durch den Justizminister, Bundesrat Markus Feld-
mann, ausführlich beantwortet wurde. In der Öffentlichkeit entwickelte sich der «Be-
obachter-Skandal» mehr und mehr zu einer eigentlichen Rothmund-Affäre, hinter der
auch Feldmanns Vorgänger, die Bundesräte Baumann und von Steiger, ins Zwielicht
gerieten. Im gleichen Monat beauftragte die Regierung den Basler Rechtsprofessor
Carl Ludwig mit einer Untersuchung der Flüchtlingspolitik seit dem Jahr von Hitlers
Machtergreifung. 1
Die Untersuchung förderte jene Verhandlungen zutage, die seither im kollektiven
geschichtlichen Bewusstsein als grober Auftakt einer schweizerischer Flüchtlings-
politik gelten und welche die Öffentlichkeit erstaunten. Schweizerische Amtsstellen
hatten im Sommer 1938 in Berlin die Einführung der besonderen Kennzeichnung
deutscher Pässe, deren Inhaber «Nichtarier>> waren, angeregt. Anlass zu den Verhand-
lungen hatte der einsetzende Flüchtlingsstrom nach dem «Anschluss» Österreichs wie
auch ganz allgemein die stets rücksichtsloser betriebene Entrechtung und Verfolgung
der Juden in Deutschland gegeben. Hinzu kam ein zusätzlicher Strom meist jüdischer
Emigranten tschechoslowakischer und ungarischer Staatsangehörigkeit. Die Hilfsbereit-
schaft der Schweizer Juden war in Österreich, aber auch im ganzen Reich sehr bald
bekannt geworden, wenn auch SIG und VSJF die Emigrationslawine zu drosseln
suchten. Die Schweizer Regierung führte Ende März 1938 das konsularische Visum
für Österreichische Passinhaber ein, doch diese Verschärfung erwies sich als nutzlos,
als die Österreichischen durch nichtvisumspflichtige deutsche Pässe ersetzt wurden.
146 3. KAPITEL

Dies und die enttäuschenden Resultate der internationalen Konferenz von Evian
veranlassten den Bundesrat, mit den deutschen Amtsstellen Verhandlungen aufzuneh-
men, mit dem Ziel, den weitgehend jüdischen Emigranten und Flüchtlingen den
Grenzübertritt in die Schweiz zu verwehren.
In diesen Verhandlungen zwischen dem schweizerischen Gesandten und dem
Auswärtigen Amt in Berlin zeichnete sich die Idee einer besonderen Kennzeichnung
von Juden in deutschen Pässen erstmals ab. Die schweizerischen Behörden hatten zwei
Möglichkeiten, eine Einreisekontrolle sicherzustellen: den Visumzwang für alle deut-
schen Passinhaber oder den Visumzwang nur für die deutschen Juden. Die Idee eines
«Judenpasses» lag durchaus nicht im Interesse des Reiches, dem damals noch an einer
erzwungenen Auswanderung der deutschen Juden gelegen war. Im Gegenteil, die
deutschen Stellen gaben vor, wenn auch aus doppelbödiger Taktik, ihre Juden vor
solcher Ungleichbehandlung durch das Ausland zu bewahren. Die Schweiz setzte
gegenüber Deutschland Druck auf, indem sie vorsorglicherweise das zwölf Jahre
zuvor abgeschlossene zwischenstaatliche Abkommen über die bis anhin gültige Visum-
freiheit kündigte. In den weiteren Verhandlungen während des Spätsommers 1938, in
die nun der eidgenössische Polizeichef einbezogen wurde, einigten sich beide Staaten
darauf, dass die Pässe von reichsangehörigen Juden «möglichst beschleunigt mit
einem Merkmal versehen werden, das den Inhaber als Juden kennzeichnet». Kurz
danach, am 4. Oktober 1938, beschloss der Bundesrat, jenen deutschen Reichsan-
gehörigen, die «nach deutschem Gesetz nicht arisch sind», das Visum und die Einreise
zu verweigern. Die Einführung des Stempels hatte also schweizerischem Wunsch
entsprochen, und die Stigrnatisierung von Juden war Gegenstand einer schweizerisch-
deutschen Vereinbarung geworden.2
Zweiter Schwerpunkt von Ludwigs umfangreichem Bericht bildete dann die Asyl-
praxis während der Kriegsjahre, die ein linksorientiertes Blatt erstmals als eigentliche
«Ära von Steiger» betitelte. 3 Im Mittelpunkt des Interesses stand der bundesrätliche
Beschluss vom August 1942, selbst die an Leib und Leben bedrohten Zivilflüchtlinge
zurückzuweisen, worunter der Polizeichef und dann der Bundesrat die «Flüchtlinge
nur aus Rassegründen» verstanden hatten. Die Praxis der Rückweisungen und Aus-
schaffungen richtete sich in erster Linie gegen Juden aus dem besetzten Frankreich, die
sich der drohenden Deportation in den Tod zu entziehen suchten.
Diese Beschlüsse und Massnahmen gaben bereits im Herbst 1942 in der Presse und
einer parlamentarischen Flüchtlingsdebatte Anlass zu Kontroversen, in der Humanität
und Staatsräson, Asyltradition und Eigeninteresse als Leitbegriffe einander gegenüber-
gestellt wurden. Die Verteidiger der Humanität, die im Asylrecht einen elementaren
Teil demokratischer Werte reklamierten, rekrutierten sich aus allen politischen Lagern.
Im Nationalrat leuchteten neben den farblosen Fraktionserklärungen der drei an der
Regierung beteiligten Parteien die scharfen Kritiken der bürgerlichen «Rebellen»
hervor, die mit den Sozialdemokraten das Vorgehen der Behörden und die Ab-
VON FALL ZU FALL 147

schiebungvon Flüchtlingen oder die Schliessung der Grenzen attackierten. Der Verrat
an der schweizerischen Asyltradition und das Mitgefühl für die vom Tode bedrohten
Juden veranlassten verschiedenste Kreise, ihre Stimme gegen eine präventive Politik
zu erheben, die sich «quasi auf Vorrat grausam» gab. Gegenüber den auf Härte und
Abwehr eingestellten Behörden und ihren oft antisemitisch eingestellten Beifallgebern
verteidigten das Asylrecht vor allem einzelne Pfarrer und führende Köpfe der Kirchen,
Redakteure und Publizisten der demokratischen und linken Presse, Frauenorganisationen
und Arbeiterwerke. Aus der Öffentlichkeit hagelte auf Rothmund und von Steiger ein
Protest ein, der zu einer vorübergehenden Milderung der Ausweisungspraxis führte.
Die antisemitische Unterscheidung zwischen politischen und «rassischen» Flüchtlin-
gen wurde jedoch als diskriminierendes Moment bis Mitte 1944 aufrechterhalten.
Jetzt wurden diese Vorgänge von 1942 im Licht der Beobachter-Enthüllungen von
1954 und des Ludwig-Berichts von 1957 von neuem lebendig. Entscheidend erschien
nun auch die Frage, wer von der mörderischen Vernichtung der Juden was, wann und
wieviel gewusst hatte.

IM REICH DER KOPFJÄGER:


DER LUDWIG-BERICHT UND SEINE AUFTRAGGEBER

Ludwig selbst wertete nur mit grosser Vorsicht, was er in seinem Bericht beispielhaft
offenlegte, nämlich die stossende Tatsache, dass 1938 und 1942/43 immer ein Unter-
schied zwischen «arischen» und «nichtarischen» bzw. politischen und rassischen
Flüchtlingen gemacht wurde. In seinem Schlusswort wies er darauf hin, dass «eine
weniger zurückhaltende Zulassungspolitik unzählige Verfolgte vor der Vernichtung
bewahrt hätte», jedoch die «sehr erheblichen finanziellen Leistungen» für die fast
300'000 Flüchtlinge in der Schweiz in einer besonders schwierigen Zeit nicht verges-
sen werden dürften. Im weiteren sei die Rücksichtnahme auf die Überfremdungsgefahr,
die abzuwehren der Polizeichef als seine eigentliche Aufgabe betrachtete, vom vorge-
setzten Departement, Bundesrat und Parlament übernommen worden. Schliesslich
vermerkte der offizielle Berichterstatter, eine Bewertung der Flüchtlingspolitik «liege
ausserhalb der dem Verfasser dieses Berichtes gestellten Aufgabe».4
Wer den Text zur Hand nimmt, liest sich durch eine fast 400 Seiten lange Beweis-
führung, die an ein nüchternes Justiz- und Verwaltungsprotokoll gemahnt. Ludwig
legte seinen Bericht in einer Form vor, die keine Jagd nach «Sündenböcken» erlaubte,
sondern die Verantwortung und Schuld in schonungsloser Breite offenlegte. Vor allem
kam er den bundesrätlichen Erwartungen und seiner Position als unabhängiger Be-
richterstatter nach, der einen Auftrag zu einem festumrissenen Thema übernommen
hatte und sich keine persönlichen Wertungen einzubringen erlaubte. Doch bleibt
148 3. KAPITEL

gerade die Frage nach der gestellten Aufgabe offen. Ludwig hatte den bundesrätlichen
Auftrag nicht selbst formuliert, sondern als vorgegebenes Thema übernommen. In
seinen Augen wies dies dem Bericht eine feste Richtung und Einschränkung auf die
Flüchtlingspolitik zu. Die Perspektivierung der «Rothmund-Affare», die sich ebenso-
gut als Angelegenheit der Fremdenpolitik, der Aussenpolitik oder des Antisemitismus
hätte befragen lassen, sowie die Interpretation des Berichts überhaupt sind dem Leser,
und dies hiess weitgehend der Presse, überlassen worden.
Die offensichtlich breite Beteiligung vieler Stellen und der sachliche Ernst der von
Ludwig auf den Tisch gelegten Tatsachenliessen verschiedene Schlüsse und Wertun-
gen zu. Kam der J -Stempel einer Angleichung an die deutsche «Ariergesetzgebung»
nahe? Oder war dies nur ein technischer Aspekt für die notwendige Visa- und Grenz-
kontrolle gewesen? War der «Judenpass» von 1938, wie es die Ludwig nahestehenden
Basler Nachrichten am 5. Oktober 1957 werteten, bloss als eine kürzere «Episode» zu
verstehen? Bevor in diesem Kapitel eine Sichtung dieser Fragen und eine Auswertung
von Materialien, die das Thema der Schweizer Juden betreffen, versucht wird, sollen
in aller Kürze die Interessenlage und auch einige personelle Profile charakterisiert
werden, unter denen der profunde Ludwig-Bericht entstanden ist.

BundesratFeldmann stellt die Weichen für den Ludwig-Bericht

Carl Ludwig-Sprecher von Bernegg, aus einer alten Schierser Familie stammend, war
in Basel als Untersuchungsrichter, dann Staatsanwalt und schliesslich Strafgerichts-
präsident bekannt für seine strenge Hand. Seine frühe Verwicklung in einen Fall, in
dem ihm als Untersuchungsrichter eine antisemitische Tendenz vorgeworfen worden
war, wurde bereits erwähnt. 1931 zum Regierungsrat gewählt, amtierte er als Basler
Polizeidirektor, profilierte sich gegen Kommunisten wie Rechtsextremisten mit Ver-
boten und lernte bereits das Flüchtlingsproblem aus polizeilicher Warte kennen. Er
wurde aber, nachdem in Basel 1935 die Sozialdemokraten die Regierungsmehrheit
erobert hatten, ins Finanzdepartement abgedrängt. 1934 portierten ihn die Liberalen
seines Kantons erfolglos als Kandidaten für die Nachfolge Häberlins im Bundesrat.
Kurz darauf betraute ihn der Bundesrat mit einer Reihe von wichtigen Missionen.
Dazu gehörte seine Rolle als Anwalt der Schweiz im «Fall Jacob» oder des Berthold
Salomon, eines deutschen Juden, der durch die Gestapo aus der Schweiz ins Reich
entführt, dann in die Schweiz zurückgeschickt und danach von Bem nach Frankreich
abgeschoben wurde. Nach dem Krieg wirkte Ludwig als Ordinarius für Strafrecht an
der Universität Basel, die ihn 1952 zu ihrem Rektor wählte. Zu seinen Spezialgebieten
zählte auch das schweizerische Presserecht, über das er noch drei Jahre vor seinem Tod
ein grösseres Werk schrieb. Mitten im Krieg hatte er in einem akademischen Vortrag,
der zu Beginn des Jahres 1941 in der Presse Verbreitung fand, seine Ansichten zu
VON FALL ZU FALL 149

Freiheit und Zensur der Presse grundsätzlich abgehandelt. Die Rede brachte zwar
Verständnis für die «vorübergehende, durch die Notzeit bedingte» Pressezensur auf,
die aus Gründen der Neutralität erfolge, betonte aber die Pressefreiheit als elementaren
Raum, in dem sich Demokratie erst ausbilden könne.
Ludwigs mehrseitige Verteidigung der Pressefreiheit in der Terminologie des
liberalen Verfassungsrechts lag auf der Linie von Bundesrat Feldmann, der in densel-
ben Jahren- als Nationalrat und Redaktor der Neuen Berner Zeitung- sich einen
Namen als kompromissloser Verfechter von Demokratie und Rechtsstaat gemacht
hatte. Dem Bundesrat von 1954 musste daher die gesamte Biographie als Empfehlung
für die Begutachtung des sensitiven Themas «Flüchtlingspolitik» erscheinen, bei der
auch indirekt einiges Licht auf die schweizerisch2deutschen Beziehungen sowie die
Demokratiefestigkeit des Landes geworfen werden würde. 5
Hinzu kam bei der Berufung Ludwigs eine Empfindlichkeit in personeller Hin-
sicht, über die sich freilich nur mutmassen lässt, solange weitere Quellen verschlossen
bleiben. Markus Feldmann, der Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartements, war
1940 nicht zum Bundesrat gewählt worden, obwohl die schwergewichtige bernische
Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) ihn mit grosser Stimmenmehrheit der
Fraktion empfohlen hatte. Zum Nachfolger des populären Bauernführers Rudolf Minger
gekürt wurde statt dessen ein 59jähriger Spross aus bernischem Patriziat, Eduard von
Steiger, der im Ruf stand, schlau und gerissen zu sein, aber nicht besonders zuverläs-
sig.6 Von Steiger versah vor seiner Wahl in die Kantons- und Bundesregierung das
Mandat eines Hausjuristen der deutschen Gesandtschaft in Bem. In den Augen der
deutschen Gesandtschaft, wo Freiherr von Bibra die Schweizer Presse sichtete, war
Feldmann als Kämpfer für die demokratische Ordnung, der in seinen Leitartikeln auch
pointiert antinazistisch Töne anschlug, bestimmt nicht tragbar. Die Verhinderung der
Wahl Feldmanns und die erfolgreiche Nominierung von Steigers, die von den
Nationalräten Roman Abt und Gottlieb Frutiger mitbetrieben wurde, erschien man-
chen Beobachtern als ein deutsches KulissenspieL Erst nach dem Untergang des
Reiches wurden auch in der BGB die Karten nochmals verteilt. Wenn nach dem Krieg
der Nachfolger von Steigers nun in der Tat Feldmann hiess, drohte kaum fünfzehn
Jahre nach der nazistischinspirierten Bundesratswahl gerade die Polizeiabteilung, die
in der fraglichen Zeit dem Departement Baumanns und danach von Steigers unterstan-
den hatte, zum Ausgangspunkt einer politischen Abrechnung zu werden, hinter der
mehr als nur die Flüchtlingspolitik stehen konnte.
An einer Verschleppung der Angelegenheit, in der sein ehemaliger Konkurrent
jene Rolle gespielt hatte, die Feldmann selbst zugedacht war, wollte Feldmann gewiss
nicht gelegen sein. Doch einer Allschwärzung der Schweiz und des Bundesrates
insgesamt durfte schon gar kein Vorschub geleistet werden, seitdem sich die Schweiz,
als neutraler Staat, auf ihre vom Westen bestimmte Rolle in der neuen Nachkriegs-
ordnung einspielte. Feldmann bewies politisches Geschick, indem er schnell und
150 3. KAPITEL

entschieden handelte. Die Rolle als Bundesrat der Nachkriegszeit verlangte angesichts
der internationalen Aktenpublikationen zur nazistischen Politik eine Stellungnahme
aus schweizerischer Sicht, wollte man den Kritikern des Bundesrates im In- und
Ausland nicht Anlass zu einem unangenehmen Sperrfeuer bieten. Insbesondere die
Frage nach deponierten und erblosen Vermögen verschwundener Naziopfer auf Schwei-
zer Banken stand zu diesem Zeitpunkt im Raum. Das Washingtoner-Abkommen von
1946, das von der Schweiz als Diktat empfunden wurde, hatte neben der Frage der
deutschen Guthaben auch einen Passus enthalten, der die Klärung der jüdischen
Vermögenswerte in der Schweiz versprach.
Angesichts solch heikler Konstellationen konnte nur eine umfassende, thematisch
aber eingeschränkte und klar gewichtete Abklärung, die in den Händen einer unan-
fechtbaren Persönlichkeit lag, eine unerwünschte Hinterfragung antisemitischer Poli-
tik oder brauner Verbindungen auffangen. Kritik solle ohne weiteres möglich sein, wie
Feldmann am 16. Juni 1954 in der Beantwortung der Interpellation Oprecht ausführte,
aber sie müsse «gerecht und sachlich» bleiben. Vor allem wehrte sich Feldmann gegen
den Antisemitismusvorwurf an die Adresse der Behörden und der Regierung. Als
entlastende Beweisstücke zitierte er zwei scheinbar wichtige Dokumente: einmal eine
Rede von Thomas Mann aus dem Jahre 1943, in der der angesehene Schriftsteller die
Rettung von Juden durch die Schweiz ehrend erwähnte, und dann einen überschweng-
lichen Dankesbrief Saly Mayers, den dieser nach seiner Demission als SIG-Präsident
im Frühjahr 1943 an Rothmund gerichtet hatte.
Von Mayers Dankschreiben wusste Feldmann aus einem intern angeforderten
Bericht Rothmunds vom Mai 1954, der zu den unangenehmen Fragen des Beobachters
Stellung nehmen musste. In Erwartung parlamentarischer Vorstösse wollte Feldmann
vorsorglich für eine bundesrätliche Antwort gewappnet sein. Mit seinen Unterlagen
versuchte Rothmund die Grenzsperre vom August 1938 auch den Schweizer Juden
anzulasten, indem er auf eine von «den jüdischen Kreisen befürchtete Provozierung des
Antisemitismus in der Schweiz» hinwies. Als Beleg diente ein Telegramm, das Mitte
August 1938 die jüdische Flüchtlingshilfe VSJF ihrer Wiener Schwesterorganisation
gesandt hatte, um illegale Grenzübertritte wegen der befürchteten Rückweisung zu
verhindern. Auch hätten «die Vertreter der schweizerischen Judenschaft bei uns vorge-
sprochen und erklärt, diese sei bereit, die Kosten für einen vorübergehenden erwerbslo-
sen Aufenthalt dieser Emigranten zu übernehmen». Dies hätte die jüdische Fürsorge
selbst dazu geführt, die Behörden vor einer Aufnahme mittelloser Flüchtlinge zu
warnen. Dem Bericht vom 24. Mai 1954 beigefügt war das Rücktrittsschreiben Mayers
von 1943. Seine Zitierung im Nationalratssaal kompromittierte nicht nur die Schweizer
Juden, sondern stand in offensichtlichem Gegensatz zu der ebenfalls angeführten Rede
Th. Manns, der als überhöhte moralische Instanz missbraucht wurde. Nicht bekannt war
den beiden Verteidigern eidgenössischer Ehren übrigens ein weiteres Schreiben Mayers,
mit dem dieser sich auch von Bundesrat Pilet-Golaz mit den Worten verabschiedet
VON FALL ZU FALL 151

hatte, der Chef des Politischen Departements möge in «Wahrheit und Gerechtigkeit, die
unser Vaterland erhalten werden», weiterhin dienen. 7
Rothmund charakterisiert in seiner Verteidigung die Juden von 1938 als mutlos
und verkehrt sie zu den eigentlichen Sündenböcken der behördlichen Verfehlungen.
Diese von Feldmann übernommenen Zuschreibungen zeigen im Grunde an, worauf es
bei der Wahl des Themas hätte ankommen sollen, nämlich auf das Verhältnis der
Behörden zu den Juden überhaupt. Dies schloss zum Beispiel Fragen ein nach dem
1933 verfügten Erwerbsverbot für Flüchtlinge, das die Juden an die mittelalterlichen
Gewerbeverbote erinnerte, oder nach der kollektiven Verpflichtung der Juden zur
Finanzierung der schweizerischen Flüchtlingspolitik, was ihnen als Sonderbestimmung
und Ausnahmepraxis nahegelegt worden war. Jetzt sollten die Schweizer Juden auch
moralisch die Schuld am Unglück der verfolgten und abgeschobenen Flüchtlinge
übernehmen. Einem genau lesenden Beobachter musste auffallen, dass in Rothmunds
Bericht an Feldmann ein Wind wehte, der an nazistische Argumente zur Stigmatisierung
gemahnte. Rothmunds Versuch von 1954, sich die Zustimmung oder zumindest das
Schweigen der SIG-Leitung zu den Massnahmen von 1938 zu sichern, stiess in der
Presse weitgehend auf Abweisung, wenn überhaupt davon berichtet wurde. Mit der
kunstvollen Aufspaltung, die dem Bundesrat dank Mayers Brief jetzt illustrativ gelang,
sollte 1954 in Bern insgesamt von der antisemitischen Dimension des Skandals
abgelenkt werden.
Genau diesen Vorwurf, nämlich den Antisemitismus der Behörden, hatte aber im
Nationalrat Hans Oprecht in seiner Begründung der Interpellation aufgrund eigener
Aktenstudien erhoben, und er zeigte sich von Feldmanns Beantwortung, die Rothmunds
Mayer-Brief zitierte, ausdrücklich nicht befriedigt. In keiner Weise einig mit der
bundesrätlichen Antwort war der Schweizerische Beobachter, der den «Fall Rothmund»
ausgelöst hatte und nun ziemlich scharf Feldmann einer irreführenden Übernahme von
Darlegungen bezichtigte, die nur die Meinung der Angeschuldigten wiederhole. 8 Wie
der Beobachter blieb Oprecht auch drei Jahre später, nach Erscheinen des Ludwig-
Berichtes, bei seiner Auffassung, die schweizerische Anregung zu einer besonderen
Kennzeichnung der deutschen Judenpässe sei nichts anderes gewesen als «die Übernah-
me des nationalsozialistischen Gedankengutes in bezug auf die Einteilung der Bürger in
Herrenmenschen und rechtlose Juden durch die schweizerischen Behörden».9
Der schwache Punkt in der Kritik des Beobachters war die Fixierung auf die
Person des Polizeichefs. Rothmund wehrte sich vehement dagegen, als Antisemit zu
gelten, so wie er dies schon immer getan hatte. Das zeigen auch zwei verschiedene
Protokolle eines Gesprächs mit dem späteren SIG-Präsidenten Georges Brunschvig,
um das der Polizeichef gegen Kriegsende nachgesucht hatte, um sich vor dem
Antisemitismusvorwurf zu rechtfertigen und wohl auch psychisch zu entlasten. Allen
Ernstes schien er auch zu glauben, der Skandal von 1954 sei von jüdischer Seite
angezettelt worden, und so fürchtete Rothmunds Gewissen nun den «altjüdischen
152 3. KAPITEL

Rachegeist», den er in seinen Rechtfertigungsversuchen von neuem herautbeschwor. 10


Im Nationalrat nahm Feldmann seinen gebeutelten Beamten in Schutz, ohne überhaupt
ein Zeichen des Bedauerns über die schlimmen Folgen der bundesrätlichen Flüchtlings-
politik zu signalisieren.
Oprechts Begründung, die den wunden Punkt der Diskriminierung der Schweizer
Juden berührte, verhallte ungehört. Eine Untersuchung dieser Frage hätte die
bundesrätliche Politik mehrerer Departemente, der Aussenpolitik, der Volkswirtschaft
und der Justiz, wenn nicht gar des gesamten Bundesrates, zum Gegenstand gemacht.
Insbesondere wäre der Akzent auf die Auswärtige Abteilung des Politischen Departe-
ments verschoben und dort auch thematisch wie personell erheblich ausgeweitet
worden. Feldmann klammerte die Frage, die das Verhältnis von Juden und Bundesrat,
insbesondere die mögliche Ausdehnung des }-Stempels auf die Schweizer Juden
selbst, betroffen hätte, als nur theoretisch oder «formell» aus. 11
War Rothmund also nur die vorgeschobene Zielscheibe, auf die sich Presse und
Öffentlichkeit einschossen? War der gewiss dilettantisch agierende Fremdenpolizist
sozusagen der bundesrätliche Sündenbock für die Verfehlungen aus der Ära der ·
Justizvorsteher Baumann und von Steiger oder der Aussenminister Motta und Pilet-
Golaz? Was auffällt ist letztlich, dass die Abrechnung von 1954 auch die Muster von
1938 und 1942 wiederholte, die Anstoss zur Kritik bildeten: ein Hinundherschieben
der Verantwortlichkeiteil zwischen Politik und Verwaltung, zwischen Bundesrat und
Beamten und zwischen den Departementen war und blieb kennzeichnend. Gerade die
Akten der Auswärtigen Abteilung, aber auch der Ludwig-Bericht zeigen bei genaue-
rem Hinsehen, dass man sich 1938 Rothmunds gerne für die eigene Sache bediente.
Die Materialien von Steigers hinterlassen gleichfalls den Eindruck, dass der Bundesrat
von seinem Chefbeamten wenig hielt und viel erwartete. Die starke Missstimmung
zwischen von Steiger und Rothmund war selbst der deutschen Gesandtschaft aufgefal-
len, die sie in <~üdischen Fragen» vermutet hatte. 1942 liess das Departement von
Steiger wiederholt den Polizeichef vorgehen, um danach «ohne jüdische Hast» seine
Massnahmen zu sanktionieren. 12 Aber auch Motta und die führenden Beamten im
Politischen Departement hatten 1938 den forschen Polizeichef in Sachen Judenpolitik
auf dem diplomatischen Parkett vortanzen lassen.
Der gesamten judenfeindlichen Flüchtlingspolitik, die im Herbst 1938 und August
1942 kulminierte, wohnt ein selbsttätig anmutendes Moment inne, das man als
funktionalen Vorgang bezeichnen kann. Das hatten auch die bürgerlichen Rebellen
und die linken Kritiker während der nationalrätlichen Asylrechtsdebatte von 1942
vermerkt. Albert Oeri rührte, in gleicher Weise wie die Nationalräte Albert Maag-
Socin und Arthur Schmid, an eine Maxime demokratischen Staatsverständnisses:
«Das Auffälligste an dieser ganzen Angelegenheit ist, wie stark eine Departements-
stelle hat entscheiden können. Meines Erachtens sind administrative Fragen von
administrativen Abteilungen zu entscheiden, aber hochpolitische Angelegenheiten
VON FALL ZU FALL 153

sind und bleiben Sache des Bundesrates.» In ähnlicher Weise kritisierte Oeris Haus-
presse, die Basler Nachrichten, ebenso wie die National-Zeitung, diese Zuschanzung
von Kompetenzen und Verantwortlichkeiten. 13
Somit wäre der Akzent auch 1954 auf den Bundesrat und die verantwortlichen
Vorsteher des Politischen- wie des Justizdepartements zu verschieben gewesen. Doch
hier ist der Historiker, der vom Ludwig-Bericht ausgehend die Geschichte der Schweiz
und der Juden betrachtet, ein Stück weit paralysiert, zumindest was das Justizministerium
angeht: die emsprechenden Akten von Steigers, welche die Beziehungen zu Juden und
den Informationsfluss von seiten der jüdischen Organisationen dokumentieren, sind
im Bundesarchiv nie abgeliefert worden. 14
Von Steigers Äusserungen zu Juden sind von behutsamen sprachlichen Auslassun-
gen geprägt,und kontrastieren zu seiner Scheu, die wichtigen Plätze im Rettungsboot
an die Flüchtlinge abzugeben, die «damals» in die Schweiz kamen. Es erinnert an
dieselbe Art, sich «ohne jüdische Hast», wie er Rothmund empfahl, an die Arbeit zu
machen und die wichtigen Entscheide anderen zu überlassen, um Dinge zu billigen,
die man bloss beschwichtigend behandelt. Von Steiger sprach, ohne von den Juden zu
reden, nur von den «arroganten und unzufriedenen Elementen», von Leuten mit
«Dollars und Juwelen» und auch davon, dem Land und seinen eigenen Juden eine
antisemitische Reaktion zu ersparen. 15
Es scheint, als hätte die Aufrechnung, wie sie in der Entsorgung der Affäre
vorgezogen wurde, nichts weiteres als ein paar hässliche Gesichter mehr zum Vor-
schein gebracht, die lediglich einen «Nutzen» aus den deutschen Rassengesetzen
ableiteten. Was bei der kritischen Betrachtung weiterhilft, ist eben nicht nur die
Erweiterung des Personenkreises, sondern die Ausdehnung des gesamten Themen-
bereiches über die Flüchtlingspolitik hinaus, weil erst damit Voraussetzungen wie
Folgen sichtbar werden. Worauf es aber 1954 bei der Weichenstellung zum Ludwig-
Bericht ankam, nämlich das Profil tief zu halten, begrenzte den Blick einzig auf die
Asyl- und Flüchtlingspolitik. Selbst von Steiger schien im Skandal von 1954 ausserhalb
des Spiels zu stehen, der Bundesrat insgesamt gab sich als über allen antisemitischen
Vorurteilen stehend, das heikle Thema der Politik in der «Judenfrage» wurde ein-
gedämmt. Der Auftrag des Bundesrats an Ludwig lautete nicht, die schweizerische
Haltung zur «Judenfrage» im innen- und aussenpolitischen Bereich zu überprüfen, was
der I-Stempel als Auslöser auch hätte nahelegen können. Das hatte selbst Oprecht
nicht gefordert, der ausdrücklich einen Bericht über die Flüchtlingspolitik verlangte.
Von Ludwig wurde denn auch eine «objektive, möglichst umfassende Darstellung
über die Politik, welche die schweizerischen Behörden in der Flüchtlingsfrage befolgt
haben», zuhanden der eidgenössischen Räte erwartet.
Wie bereits gesagt, Ludwig erstattete beinahe drei Jahre später seinen Bericht in
der nüchternen Form einer dokumentarischen Chronologie, die an eine justizförrnige
Beweisführung erinnerte. Konferenzen, Anträge, Weisungen, Beschlüsse, Massnahmen
154 3. KAPITEL

und Verhandlungen erschienen chronologisch aufgelistet und waren ausgiebig belegt.


Einzig ein kurzer Teil der Einleitung, unter dem sachbezogenen Titel «Entstehung
eines neuen Flüchtlingsproblems», der sich der Entrechtung, Verfolgung und Ermor-
dung der Juden widmete, liess erahnen, dass auch andere Fragen angebracht gewesen
wären. Am 30. Januar 1958legte der Nationalrat in einer lustlos wirkenden Atmosphä-
re (zwischen den Traktanden Finanzreform und Geschwindigkeitsbeschränkungen für
Fahrzeuge) den Bericht und die Angelegenheit zu den Akten. Die Freisinnige Partei
glaubte nochmals den Luzerner Kurt Bucher vorschicken zu müssen, der den zweifel-
haften Mut aufbrachte, die abweisende Haltung der Schweiz mit dem Argument zu
verteidigen, die Schweiz habe dem Reich gegenüber- durch die Aufnahme «auch uns
unerwünschter» Elemente, und dies hiess wohl nicht nur aus dem Osten stammende
Flüchtlinge- das Odium der «Verjudung» auf sich genommen. Auf der andern Seite
bemängelte der St. Galler Sozialdemokrat Eggenberger, der Berichterstatter der Kom-
mission, die den Ludwig-Bericht entgegennahm, die «offenkundig sehr stark vom
Bazillus des Antisemitismus» infizierten Tendenzen, die er im Vaterländischen Ver-
band ausmachte. Der Ludwig-Bericht von 1957, der sich, gemessen an seinem klar
begrenzten Auftrag, weit und genau vorwagte, war damit offiziell zur Kenntnis ge-
nommen.
Zehn Jahre später publizierte Alfred A. Häsler sein Buch «Das Boot ist voll», das
mit ergänzenden Materialien, vor allem aus dem SIG-Archiv, den langen Ludwig-
Bericht in illustrativer Aufmachung für ein breiteres Publikum lesbar machte. Erstmals
kam in dieser populären Darstellung das Thema des Antisemitismus deutlich zum
Vorschein, der Autor blieb aber der flüchtlingsgeschichtlichen Thematik treu. In einen
weiteren Horizont stellte Edgar Bonjour die Flüchtlingspolitik in seiner «Geschichte
der schweizerischen Neutralität», indem er sie als Teil der gesamten Aussenpolitik-
und Diplomatiegeschichte verstand, wobei nur marginal angedeutet wird, dass nicht
nur die Flüchtlinge, sondern auch die Schweizer Juden Kalkül eidgenössischer Aussen-
wie Innenpolitik bildeten. 16 In einem etwas reisserisch aufgemachten Dokumenten-
band, dessen Herausgeber ausdrücklich keine Untersuchung zu bieten beabsichtigte,
druckte Max Schmid 1979 aus den reichhaltigen Text- und Bildbeständen des SIG-
Archivs eine Auswahl ab, die konsequent den Antisemitismus und die Flüchtlings-
frage eng nebeneinanderstellteY Im Vordergrund der Studien und Darstellungen blieb
aber vor allem die Frage nach der Flüchtlingspolitik der Schweiz und sehr viel weniger
jene nach der antisemitischen Mentalität, der Judenpolitik und der Fremdenfeindlichkeit
als Prämissen zur Flüchtlingsfrage.
VON FALL ZU FALL 155

Haltungen der Schweizer Juden

In der Historiographie überhaupt nicht zur Sprache kamen bis anhin die Schweizer Juden,
sei es im innenpolitischen Kräftespiel, als aussenpolitisches Kalkül oder in ihren Verhält-
nissen untereinander sowie zu Bundesrat und Behörden. Wie dargelegt, hatte dies seinen
Grund durchaus und zuerst darin, dass die Reaktion auf den «Beobachter-Skandal», wie
die Enthüllungen im Anfang noch genannt wurden, nun in einer offiziellen Antwort
bestand, die das Thema <<Juden» und «Antisemitismus» nicht oder nur bedingt in den
Mittelpunkt stellte. Es war auch nur erzwungenermassen Aufgabe jüdischer Organisatio-
nen, die blinden Flecken im Schweizer Spiegel auszumachen. In eigener Sache war den
Schweizer Juden zwar deutlich daran gelegen, die Flüchtlingspolitik der Schweiz geklärt
zu sehen. Doch der erst eben ausgestandene Druck und der katastrophenartig erlebte
Antisemitismus hoben aus der geschichtlichen Erfahrung Ängste und Schmerzen empor,
die es geraten erschienen liessen, nicht noch einmal die <<Judenfrage», und erst gar eine
schweizerische Judenpolitik, in den Brennpunkt des Interesses zu rücken.
Hinzu kam ganz entscheidend, dass der SIG und der VSJF mit dem Bundesrat und
insbesondere Rothmund tatsächlich eng zusammengearbeitet hatten. Dies warf die
Frage auf, ob und wieweit sich die Schweizer Juden von Bem hatten instrumentalisieren
lassen. Hatten sie dem doppelten Druck, der in den Jahren 1938-1942 auf ihnen und
ihrem Land lastete, allzu pflichteifrig genügt? So gerne man die Wahrheit gewusst
hätte und Gerechtigkeit in der SIG-Resolution auch gefordert hatte, war doch die
Gefahr viel zu gross, nachträglich mittels ungerechtfertigter Verzerrung in den Ruch
einer verfehlten Kooperation zu geraten. Davon hatte der von Feldmann zitierte
Mayer-Briefbereits eine Kostprobe gegeben. Wie in den Jahren 1936-1943 fand sich
der SIG auch 1954 ein Stück weit gezwungen, in die Abwehr und in die Forderungen
nach Aufklärung einen beschwichtigenden Ton einfliessen zu lassen.
Als das JDC aus New York 1954 beim VSJF sich freundschaftlich anerbot, den in
der Affäre Rothmund attackierten Schweizer Juden politisch und publizistisch Schützen-
hilfe zu bieten, winkten die Schweizer Juden ab. In New York glaubte man die
Schweizer Juden in die Ecke gedrängt und wollte eine Kampagne für deren Sache
starten. Immerhin hatte doch einst die amerikanisch-jüdische Organisation den VSJF
und damit auch die schweizerische Flüchtlingspolitik weitgehend mitfinanziert, und
durch Mayers Hände waren Millionen von Joint-Geldern geflossen. Der VSJF versi-
cherte aber dem Joint schleunigst, die Sache selbst an die Hand zu nehmen. Präsident
Otto Heim, der zwar Rothmunds Rolle im Skandal als «subordinate» einschätzte,
informierte über die enge Zusammenarbeit Rothmunds mit Mayer und warnte das JDC
mit Erfolg davor, in der amerikanischen Presse eine gewaltige Breitseite gegen die
Schweiz und ihre Regierung abzufeuern. Dabei hätte das JDC im Weissen Haus
zweifellos nicht nur an die eigenen Finanzleistungen erinnert, sondern auch an die auf
Schweizer Konten ruhenden Gelder von ermordeten Naziopfern. 18
156 3. KAPITEL

Von ihrem früheren SIG-Präsidenten Saly Mayer hatten sich einige führende
Köpfe der Schweizer Juden bereits im Winter 1942/43 distanziert, was unter anderem
zu dessen Rücktritt führte. Jetzt distanzierte man sich in der jüdischen Presse erneut
ohne grosse Lust, doch gezwungenermassen, um Feldmanns Zitierung zu relativieren.
Unter dem Eindruck der Rothmund-Affare 1954 ist aber bald klargeworden, dass es
sich hier nicht um eine schlichte Gleichung nach Köpfen handeln würde. Die jüdischen
Honoratioren hatten in Bern die eidgenössischen Beschlüsse ohnehin nur entgegen-
nehmen müssen, auch wenn sie diese nicht billigten. Die enge Kooperation zwischen
behördlichen und jüdischen Stellen, welche beide die Schweiz als Durchgangsland für
Flüchtlinge eingeschätzt hatten, war offensichtlich von weitreichender Dimension.
Über das Wie, Warum und Wohin dieser jüdischen Transmigrationspolitik wird in
dieser Studie in einem späteren Abschnitt gehandelt. Jedenfalls hatten SIG und VSJF
die Weiterwanderung der Flüchtlinge als gegeben akzeptiert und selbst'intensiv betrie-
ben. Die unterschiedliche Auffassung zur Flüchtlingspolitik kam mit dem Rothmund-
Skandal von neuem an die Oberfläche und warf indirekt Fragen nach der eigenen
Position und dem richtigen Verhalten auf.
Um nur ein Beispiel anzuführen: Während der Kriegsjahre kritisierte der unter
den Schweizer Juden einflussreiche Paul Guggenheim sowohl die rechtliche Diskri-
minierung der Flüchtlinge durch die Schweiz wie die unklare Haltung des SIG zu
dieser Situation. Vor allem rieb sich 1941 der Genfer Völkerrechtler daran, dass die
Emigranten eine Sondersteuer zusätzlich zu den Fiskalabgaben zu leisten hatten.
Diese «Solidaritätsabgabe» benannte Zusatzsteuer bildete eine ergiebige Stütze der
Finanzierung des Flüchtlingswesens, die nun mit der Sonderbesteuerung der meist
jüdischen Emigrantenvermögen aufgestockt wurde. Guggenheim erblickte in dieser
«Sondermassnahme ein sehr unangenehmes Präjudiz für eine künftige Sonder-
behandlung auch in anderen Dingen». Als CC-Präsident bemängelte er an der SIG-
Leitung, dass diese sich über «dieses erste Diskriminationsgesetz», das sich beinahe
ausschliesslich gegen Juden auswirkte, «auszuschweigen» beliebte. Guggenheim
fürchtete seit 1941, dieser Weg ermögliche Bern «in weitem Umfang» eine
Durchlöcherung der verfassungsrechtlichen Gleichheit, «die nach Praxis unseres
obersten Gerichtshofes auch Norm ist für Ausländer». 19 Eine gesetzliche Diskriminie-
rung der Flüchtlinge musste noch 1944 die Schweizerische Zentralstelle für Flüchtlings-
hilfe bekennen, als sie ganz allgemein festhielt, dass die Flüchtlinge «unter einem
Sonderrecht stehen, welches grundsätzlich das für sie geltende ordentliche Recht
weitgehend aufhebt oder wirkungslos macht». 20
In den jüdischen Blättern wurde 1954, im Rückblick auf all diese Jahre, die
bundesrätliche Abwicklung des flüchtlingspolitischen Skandals als empörend empfun-
den. Die Berichte und Kommentare im Israelitischen Wochenblatt oder im Neuen
/sraellegten, seit Feldmann den ehemaligen SIG-Präsidenten vor dem Nationalrat
zitiert hatte, den Finger auf die Wunde. Man verwies auf den erheblichen politischen
VON FALL ZU FALL 157

Druck, der auf den SIG ausgeübt wurde, und auf die drohende Diskriminierung selbst
der Schweizer Juden, auf die Oprecht ini Nationalrat aufmerksam gemacht hatte.
JUNA-Leiter Benjamin Sagalowitz beharrte auch nach Erscheinen des Ludwig-Be-
richts eindringlich auf dieser Optik. Aus dem reichhaltigen Archiv des SIG hatte er
einen mehrbändigen Bericht mit umfangreicher Dokumentation zuhanden von Carl
Ludwig zusammengestellt. Dazu präsentierte die JUNA-Dokumentation zahlreiche
Belege, so von Rothmund und von Steiger selbst, dann von Verbänden und Presse aus
Gerichtsurteilen sowie Materialien der antisemitischen Bewegung. Der JUNA-Bericht
konnte freilich nie an die Öffentlichkeit gelangen. Sagalowitz war den ängstlichen
Honoratioren des SIG allzusehr ein Dom im Auge, weil er immer wieder auf die
diskriminierenden Folgen oder Sonderbestimmungen gegenüber Schweizer Juden
hinwies.
In erster Linie aber bemerkte 1954 Sagalowitz bei seiner Analyse wie kein anderer,
dass die schweizerisch-deutschen Verhandlungen von 1938 zur Kennzeichnung der
deutschen Juden eine ungeheuerliche Kehrseite hatten. Auch wenn er auf dem I-
Stempel die einzelnen Lettern noch nicht genauer zu entziffern vermochte, weil ihm
das einschlägige Material nicht zugänglich war, so erkannte er - gewissennassen
spiegelverkehrt-im Stempeldruck, dass dies auf einen latenten Einbruch der rechtli-
chen Stellung der Schweizer Juden hinwies.

DIE INVERSE SEITE DES J-STEMPELS:


SCHUTZ ODER DISKRIMINIERUNG DER SCHWEIZER JUDEN?

In den deutsch-schweizerischen Verhandlungen um den J-Stempel zeigten die Deut-


schen, so empfanglieh sie sonst für jede Entrechtung von Juden waren, wenig Interesse
für eine solche Kennzeichnung in den Pässen deutscher Juden. Der Stempel hätte nur
ihre Politik, die 1938 auf eine umfassende Vertreibung der Juden aus Deutschland
angelegt war, und ihre Taktik, mit dieser erzwungenen Auswanderung dem Ausland
ein antisemitisches «Judenproblem» zu bescheren, aufgeweicht. Eine Kenntlichmachung
von Juden in deutschen Pässen war von deutscher Seite gesehen eine Konzession, mit
der man eine Visumpflicht für alle Deutschen vermeiden wollte. Diese Absicht unter-
lief freilich die auf den Jahresanfang 1939 vorgesehene Verordnung vom 17. August
1938, wonach Juden die zusätzlichen Vomamen Israel oder Sara anzunehmen hatten,
was sie den schweizerischen Konsular- und Grenzbeamten ohnehin erkennbar ge-
macht hätte. Für die Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg hat indessen die historische
Forschung die inkonsequente und widerstreitende «Judenpolitik» der Nazis belegt und
die Unbestimmtheit ihrer Zielsetzung und die mangelhafte Koordination deutscher
158 3. KAPITEL

Amtsstellen betont. 21 Etwas von dieser verworrenen Politik ist auch im schweizeri-
schen Drängen auf den J-Stempel erkennbar, wenn die helvetische Diplomatie auf der
Durchsetzung der besonderen Kennzeichnung der Juden in den deutschen Pässen
beharrte, obwohl im August die Verordnung zur Einführung jüdischer Vomamen
bekannt und im Reichsgesetzblatt nachzulesen war.
Die Vereinbarung vom 29. September 1938, die den Judenstempel als Kennzei-
chen bei der Zusicherung oder Verweigerung zur Einreise brachte, diente als Ausweg,
nachdem sich deutsche und schweizerische Amtsstellen zunächst gegenseitig eine
Wiedereinführung der Visumpflicht für alle Reichsbürger bzw. für alle Schweizer
Bürger angedroht hatten. Beide Seiten lenkten in eine solche Lösung ein, um der
Kündigung des zwischenstaatlichen Abkommens zu entgehen, wie es Grossbritannien
im Mai 1938 getan hatte, oder der allgemeinen Visumpflicht auszuweichen, die
beispielsweise von Südafrika in dieser Zeit wieder eingeführt worden war. Die Deut-
schen befürchteten an der Wiedereinführung der schweizerischen Visumpflicht, dass
andere westeuropäische Länder dem Beispiel folgen würden. Die Schweizer wiede-
rum wollten die öffentlichen und bilateralen Spannungen des Kleinstaates in Hinblick
auf den nordischen Nachbarn nicht weiter strapazieren. Im weiteren muss daher die
diskret geübte «technische Lösung» auf dem Rücken deutscher Juden als eine stille
und indirekte Revanche an den fremden Juden in der Schweiz gelesen werden.
Die Beziehungen zwischen dem Kleinstaat und dem benachbarten Reich, in einer
Zeit spürbar wachsender Kriegsgefahr, waren in jüdischen Belangen nicht ohne Konflikt-
potential, seitdem in Davos auf den NSDAP-Landesleiter in der Schweiz, Wilhelm
Gustloff, das tödliche Attentat verübt worden war. Nicht nur war der Attentäter von
1936, David Frankfurter, ein Jude, sondern der darauffolgende Beschluss des Bundes-
rates, eine NSDAP-Leitung in der Schweiz nicht mehr zuzulassen, wurde von der
nazistischen Presse verschiedentlich als Resultat einer <~üdischen Propaganda» ausge-
legt. Das weitgehende Ausbleiben von deutschen Reaktionen auf die Schüsse von
Davos im Februar 1936 kontrastiert mit der Zerstörerischen «Kristallnacht» vom
November 1938, die als Antwort auf die Ermordung des deutschen Gesandtschafts-
rates in Paris durch den polnischen Juden Herschel Grünspan inszeniert wurde. Zwi-
schen beiden Attentaten muss ein Zusammenhang hergestellt werden, insofern in
Deutschland die neue Vertreibungspolitik mit dem Wirken der Gestapo und dem
Aufstieg von Sicherheitsdienst (SD) und Reichssicherheithauptamt (RSHA) einher-
ging. Gleichzeitig fürchteten in der ganz allgemein auslandorientierten Schweiz die
Behörden den deutschen «Export» von Juden, Antisemitismus und nazistischen Um-
trieben.22 In diese Zeit schweizerischer Nervosität, die nach einem entspannten Ver-
hältnis zum Reich verlangte, und der innerdeutschen Zwistigkeiten zwische"fi Regie-
rung, Parteiinstanzen, SD und Gestapo um die «richtige» Juden- und Auswanderungs-
politik fallen auch die Verhandlungen um den J-Stempel. Die innerdeutsche Konkur-
renz und Koordination verschiedener Instanzen ist an den Dokumenten und Akten um
VON FALL ZU FALL 159

die schweizerisch-deutschen Verhandlungen ablesbar, die von Funktionären der Gestapo,


der Polizeiabteilung, des Auswärtigen Amtes und der SS gleichzeitig gezeichnet
wurden. Die deutsche Unlogik und die schweizerische Hektik im Verkehr zwischen
beiden Staaten wird auf diesem Hintergrund begreiflich, wenn auch gewiss nicht
einsichtig.
Die deutsch-schweizerische Vereinbarung enthielt nun die folgende Klausel, die
sich die Eidgenossen bei ihrem Vorprellen eingehandelt hatten: «Die Deutsche Regie-
rung behält sich vor, nach Benehmen mit der Schweizerischen Regierung auch von
den Juden schweizerischer Staatsangehörigkeit die Einholung einer <Zusicherung der
Bewilligung zum Aufenthalt im Reichsgebiet oder zur Durchreise durch das Reichs-
gebiet> zu fordern, falls sich hierfür nach deutscher Auffassung etwa die Notwendig-
keit ergeben sollte.» (Ludwig-Bericht, S. 128)
Bei diesem Vorbehalt handelte es sich um eine formelle Reziprozitätserklärung,23
das heisst um eine gegenseitige Zusicherung gleichwertiger Vorteile und Schranken:
Die deutsche Regierung behielt sich damit vor, die schweizerischen Juden der gleichen
diskriminierenden Ausnahmebehandlung zu unterstellen, zu der sich das Reich gegen-
über der Schweiz in bezug auf die deutschen Juden verpflichtete. Mit dieser Klausel
wollten die beiden Vertragsstaaten der in solchen Übereinkommen üblichen
Gegenseitigkeit bei der Übernahme identischer Verpflichtungen Genüge leisten.
Die Bedeutung der Gleichheitsklauseln in den Niederlassungsverträgen ergab sich
aus den Vorbehalten, mit denen die europäischen Staaten der Gleichbehandlung von
Inländern und Ausländern fremdenpolizeilich Schranken gesetzt hatten. Freilich liess
diese Klausel, wie jede Reziprozitätsformel überhaupt, es offen, ob und wie das
Prinzip der Gegenseitigkeit nun materiell zu interpretieren war. Im weitestgehenden
Fall konnte sie tatsächlich so ausgelegt werden, dass die Schweiz die Pässe von
jüdischen Schweizerbürgern ebenfalls mit einem J-Stempel zu versehen hatte. Aber
auch die Anwendung von Sanktionen oder die Gleichsetzung von jüdischen Schweizer
Bürgern mit Wohnsitz in Deutschland mit deutschen Juden war eine durchaus denkba-
re Bedingung der Vertragsanwendung, indem Deutschland die inländischen und aus-
ländischen Juden gleichermassen diskriminiert hätte. Theoretisch stand also in den
Niederlassungsverträgen mit der politischen Interpretation von Gleichbehandlungs-
klauseln und der materiellen Reziprozität ein weites Anwendungsfeld offen, auf dem
selbst Repressalien sich rechtfertigen liessen. 24

Bundesrat und ]-Stempel: Mottas heimliches Spiel und Baumanns Lügen

Als im Verlaufe der Verhandlungen das Auswärtige Amt am 7. September 1938 dem
schweizerischen Verlangen erstmals zustimmte und den J-Stempel vorschlug, forderte
dessen Vertreter auch diese besondere Kennzeichnung für die Pässe von Schweizer
160 3. KAPITEL

Juden und den Sichtvermerk, wenn «nichtarische» Schweizer Bürger nach Deutsch-
land einzureisen wünschten. Während Rothmund jede Gegenseitigkeit ausschliessen
und eine Diskriminierung von Schweizer Juden strikt ablehnen wollte, glaubten die
führenden Beamten in der Abteilung für Auswärtiges sich flexibel zeigen zu müssen.
Die Minister Paul Dinichert und Hans Frölicher, die sich in Berlin gerade als Gesandte
ablösten, stimmten mit dem schweizerischen Geschäftsträger Franz Kappeier darin
überein, der J-Stempel als Sonderlösung sei in jedem Fall einer allgemeinen Visum-
pflicht vorzuziehen. Die Diplomaten glaubten, eine Diskriminierung der wenigen
Schweizer Juden, die ohnehin kaum ins Reich reisen würden, sei in Kauf zu nehmen
und auch plausibel zu machen: «Gegenüber der schweizerischen Öffentlichkeit dürfte
die Einführung des deutschen Visums für Schweizerjuden nicht allzuschwer zu recht-
fertigen sein durch den Hinweis darauf, dass die Einführung des Visums für deutsche
Juden aus dringenden Landesinteressen unerlässlich sei und eben die deutschen
Gegenmassnahmen nach sich gezogen habe.» 25
Rothmund hingegen schreckte vor den politischen Dimensionen der Reziprozität,
die in der Sonderlösung mit dem J-Stempel steckten, zurück und verlangte wiederum
nach der Norm einer allgemeinen Visumpflicht für alle deutschen Reichsbürger ohne
Unterschied. Gegenüber Bundesrat und Schweizer Gesandtschaft argumentierte er,
Deutschland suche mit der Reziprozität die Schweiz in eine antisemitische Haltung
hineinzutreiben; eine Diskriminierung der Schweizer Juden dränge diese von der
«gesunden Richtung» ab, in der sie sich bisher international für die schweizerischen
Massnahmen, und das meinte gegen eine «Verjudung der Schweiz», eingesetzt hätten.
Rothmund, der nur Fremdenpolizist spielen wollte und dazu die guten Schweizer
Juden mit einer neuen Variante der Aufspaltung bedachte, krebste also vor den
innenpolitischen und völkervertraglichen Konsequenzen seiner eigenen Pläne zurück.
Hinzu kam, dass die internationale Dimension, die sich hier auftat, in fremden-
polizeilicher Hinsicht kontraproduktiv wirken musste. Die mit dem roten J-Stempel
stigmatisierten Auswanderer würden nun nicht blass an der Grenze zur Schweiz als
deutsche Juden erkannt, sondern auch in allen anderen Ländern, die eine still prakti-
zierte antisemitische Einwanderungspolitik betreiben konnten. Das Beispiel der brasi-
lianischen Diktatur, die im «Neuen Staat» gezielt Rassismus und Asylpolitik verband,
zeigt anschaulich den direkten Zusammenhang zwischen dem Schandmal des J-
Stempels, der antisemitischen Kampagne und der 1939 rapide sinkenden Ein-
wanderungszahl deutscher Juden. 26 Diese dem eigenen Interesse zuwiderlaufenden
Folgen ihrer eigenen Erfindung konnten der schweizerischen Fremdenpolizei, die an
der raschen Weiterwanderung von Asylanten und Emigranten interessiert war, nicht
willkommen sein. So gingen für Rothmund die Bedenken, dass die Reziprozität
demokratische Grundlagen aufriss, mit der fremdenpolizeilichen Sorge über die nach-
teiligen Wirkungen, die ein J-Stempel für die Schweiz haben würde, Hand in Hand.
Rothmund sperrte sich daher entschieden gegen die besondere Kennzeichnung.
VON FALL ZU FALL 161

Der forsche Polizeichef, der wegen den Schweizer Juden plötzlich zögerte und vor
der «Rassenachse Berlin-Rom» keine Verbeugung machen wollte, wurde nun aber
von Bundesrat Giuseppe Motta und Minister Pierre Bonna, dem Chef der Abteilung
für Auswärtiges, nach Berlin vorgeschickt und dort beim schweizerischen Gesandten
nicht ohne sichtliches Vergnügen angemeldet. Rothmund sollte also für das Politische
Departement auf dem diplomatischen Parkett vortanzen, und er hat sich in dieser Rolle
offensichtlich unwohl gefühlt, wenn er in seinem Bericht seine «Bedenken über eine
nur gegen Juden gerichtete Massnahme» äusserte und sich «nur für die technische
Seite der Kontrolle» verantwortlich wissen wollte. Was in den Berliner Verhandlun-
gen, während denen Frölicher und Kappeier die deutschen Stellen und den poltemden
Polizeichef sanft und nachhaltig auf die judenfeindliche Kompromissformel hin-
lenkten, herauskam, ist die bekannte Vereinbarung über den J -Stempel, in der die
Reziprozitätsformel enthalten ist. Das Zugeständnis an die Gegenseitigkeit bei der
Behandlung von deutschen und schweizerischen Juden wurde verharmlost auf eine
«Zusicherung im Benehmen» mit der eidgenössischen Regierung. Der Bundesrat
beschloss das Abkommen am 4. Oktober, die deutsche Verordnung über die Reisepäs-
se von Juden erfolgte einen Tag später; die Note Bems an Berlin, in der der Bundesrat
dem Abkommen zustimmte, datierte vom gleichen Tag, an dem Goebbels die
Reichspogromnacht inszenierte. Rothmunds letzte Skrupel, die ihm Motta persönlich
genommen hatte, fielen in der entlastenden Illusion, die Reziprozität sei nur eine
«formelle» Üblichkeit.
Was zu tun blieb (abgesehen von der nun möglichen Abweisung deutscher Juden
in Konsulaten oder an der Grenze), war die Rechtfertigung vor dem Parlament, als
zwei Nationalräte Auskunft über die eidgenössische Visumpraxis gegenüber «Nicht-
ariern» verlangten. Der Bieler Stadtpräsident und Sozialdemokrat Guido Müller wollte
dabei die genauenGründe kennenlemen, die den Bundesrat dazu führten, von deut-
schen Juden vor ihrer Einreise in die Schweiz zu verlangen, sich im Pass ihr Judentum
bescheinigen zu lassen. Die bundesrätliche Darstellung des J-Stempels verdeckte nicht
nur das Zuschieben von Kompetenzen zwischen den Abteilungen für Auswärtiges und
Polizei. Was zur Verdrängungsleistung Rothmunds geführt hatte, wurde nun als
systematische Irreführung auf höherer Ebene betrieben. Und was Motta und sein
aussenpolitisches Departement diplomatisch- wegen wie gegen Rothmund- gekocht
hatten, löffelte nun der farblose Vorsteher des eidgenössischen Justizdepartements aus,
der für Polizei und Flüchtlingswesen zuständig war. Bundesrat Johannes Baumann
verschwieg vor dem Parlament den Zusammenhang zwischen J-Stempel und den
schweizerisch-deutschen Verhandlungen und vermied es auch tunlichst, im National-
rat mitzuteilen, dass man in dieser Sache selbst nach Berlin wallfahren gegangen war.
Er stellte den J-Stempel als eine reichsinterne Massnahme vor, da die Regierung in
Berlin diese Kennzeichnung der Pässe «für die Durchführung ihrer Gesetze und
Vorschriften durch die deutschen Inlandsbehörden» benötige. Bem hatte nach dieser
162 3. KAPITEL

Darstellung lediglich informelle «Fühlung» wegen der Österreichischen Emigranten


genommen und in Berlin über den deutschen Beschluss die Auskunft erhalten, dass
ohnehin alle deutschen Pässe von «Nichtariern» gekennzeichnet würden. «Nachdem
wir die Möglichkeit hatten, die unentbehrliche Einreisekontrolle über die Emigranten
ohne allgemeine Wiedereinführung des Visums auf dem deutschen Pass zu erreichen,
glaubte es der Bundesrat nicht verantworten zu können, auf der allgemeinen Wieder-
einführung des Visums zu bestehen [ ... ].}} Ähnlich enthielt auch der bundesrätliche
Geschäftsbericht für das Jahr 1938 seinen Lesern die Wahrheit vor, indem er hinsicht-
lich der Unterscheidung von Emigranten und Nichtemigranten bei der Grenzkontrolle
davon sprach, dass eine Visumpflicht für Reichsbürger entfallen könne, «da die
deutschen Behörden inzwischen beschlossem} hätten, die Pässe deutscher Juden be-
sonders zu kennzeichnen. Fast überflüssig zu sagen, dass der Bundesrat die Verhand-
lungen überhaupt, das heisst die schweizerische Initiative, das bilaterale Abkommen
und die bundesrätliche Genehmigung der J-Regelung, verschwiegP
Vom wohl brisantesten Punkt des Abkommens, vom Vorbehalt der deutschen
Regierung, ihrerseits die schweizerischen Juden einem Visumzwang zu unterwerfen,
wurde natürlich ebenfalls nicht gesprochen. Mit seiner Zustimmung zu diesem deut-
schen Vorbehalt im Abkommen hatte der Bundesrat eine Tatsache im Innern geschaf-
fen, die sich über den eminent wichtigen Grundsatz der Rechtsgleichheit, wie ihn die
Bundesverfassung garantierte, hinwegsetzte und ihn zumindest theoretisch verletzte.
Es war der Regierung nicht einmal in den Sinn gekommen, an den deutschen Vorbe-
halt wenigstens einen Gegenvorbehalt zu knüpfen, in dem klar zum Ausdruck gekom-
men wäre, dass die Schweiz an der Rechtsgleichheit ihrer Bürger ohne jeden Abstrich
festhält Angesichts des nazistischen Völkerrechts und des völkischen Rechts-
verständnisses, das abstrakte Rechtsform und universelles Gleichheitsprinzip ablehnte
und durch konkretes Ordnungsdenken im Sinne rassistischer Hierarchien ersetzten
wollte, wird der innere Wert und der taktische Nutzen einer Reziprozitätsklausel für
die deutsche Seite deutlich. Der Schein formaler Gleichbehandlung, und ganz ähnlich
die Vortäuschungen von Rechtsstaatlichkeit überhaupt, konnten opportunistisch als
Instrument für die praktische Aussenpolitik der Nazis dienen. Die formelle Reziprozität
kam in der «Arglist der Zeib} einer Türe gleich, die zwar geschlossen schien, deren
Schlüssel aber im Schloss nach aussen stecken gelassen wurde.

Die Schweizer Juden in Deutschland

Die Vertreter des Reiches benutzten diesen Eingang nicht, um Druck auf die Schweiz
auszuüben - oder wenigstens nicht diese bestimmte Türe. Denn die Schweiz hatte
bereits zuvor Zugeständnisse an anderer Stelle gemacht. Die deutsche Seite hielt vor
und während den September-Verhandlungen in Berlin einen Schlüssel in der Hand,
VON FALL ZU FALL 163

der kleine, doch feine Bescherungen aus schweizerischen Kammern in Aussicht


stellte. In dem bereits erwähnten Bericht der schweizerischen Gesandtschaft vom 9.
September sagte Kappeler, jede neue Diskriminierung der Schweizer Juden seitens der
deutschen Regierung sei zwar unerwünscht, doch hätte man bereits eine ganze Reihe
von diskriminierenden Massnahmen hingenommen, ohne auf dem Grundsatz der
Gleichheit aller Schweizer Bürger zu bestehen. Gemeint waren damit in erster Linie
das deutsche «Gesetz zur Änderung der Gewerbeordnung» vom 6. Juli 1938, mit dem
Juden eine Reihe von Berufen und Geschäftstätigkeiten verboten wurden, und die
dritte Verordnung zu den Nürnberger Rassengesetzen, die den Begriff der «jüdischen
Gewerbebetriebe» schuf und deren Registrierung und die Kennzeichnung mit dem
Stempelaufdruck «Jude» auf Gewerbekarten regelte. Diese Massnahmen dienten zur
Vorbereitung der Liquidation und «Arisierung» der Betriebe. Hinzu kamen weitere
Bestimmungen, die ebenfalls auf jüdische Schweizer mit Wohnsitz in Deutschland
angewendet wurden, so die Verweigerung der üblichen Steuerermässigungen, was auf
die «Arisierung» des jüdischen Grundbesitzes abzielte, oder eine Abgabe auf Umzugs-
gut, um jüdische Auswanderer finanziell zu schröpfen. Eine allgemeine Verordnung
über die «Anmeldung des Vermögens von Juden», die am 26. April erlassen worden
war, verpflichtete auch «Juden fremder Staatsangehörigkeit», ihre in Deutschland
liegenden Vermögenswerte anzuzeigen und bewerten zu lassen. 28 Die deutsche Sicht
umfasste also prinzipiell zwei mögliche Fälle ausländischer Juden: erstens jüdische
Schweizer, die im Reich wohnten; und zweitens die in der Schweiz lebenden Juden, ob
Schweizer Bürger oder nicht, die in Deutschland Vermögenswerte besassen.
Die Übernahme der «Arierparagraphen» in die Wirtschaft, mit der Absicht, sich an
jüdischem Vermögen zu bereichern und Juden aus der deutschen Wirtschaft zu ver-
drängen, erfolgte Ende 1937 vergleichsweise spät, weil unter Hjalmar Schacht das
Reichswirtschaftsministerium an möglichst geringen Reibungsverlusten interessiert
war. 29 Aufvollen Touren lief die «Arisierung der deutschen Wirtschaft» zur gleichen
Zeit, als auch die schweizerisch-deutschen Verhandlungen um den J-Stempel geführt
wurden, nämlich von Anfang März bis Ende November 1938. Die Diskriminierung
von Schweizer Juden, wie sie mit der Reziprozitätsklausel in der J-Stempel-Vereinba-
rung zumindest theoretisch vorgesehen war, rundete indirekt auf einer politischen
Ebene die bestehenden wirtschaftlichen Diskriminierungen ab, von denen die Schwei-
zer Juden betroffen waren. Für den J-Stempel, der dem Bundesrat und der schweizeri-
schen Diplomatie über alles zu gehen schien, zahlte man mit dem Eingeständnis, die
Interessen der Schweizer Juden nur sehr kleinlaut wahren zu wollen.
Erstmals Anlass für die Wahrung schweizerischer Interessenangesichts der wirt-
schaftlichen Verdrängung von Juden gab pikanterweise ein aus Polen stammender
Schweizer Bürger mit Wohnsitz in Leipzig. Der Kaufmann Mendel Lewinsky unter-
breitete seinen Fall kurz nachJahresbeginn 1938 der schweizerischen Gesandtschaft in
Berlin. Seine Gewerbe- und Legitimationskarte enthielt die Eintragung «Jude», wie sie
164 3. KAPITEL

deutscherseits ohneUnterschied bei In- und Ausländern angebracht wurde. Dinichert


in Berlin und Frölicher in Bern stimmten darin überein, dass «Wir keine Möglichkeit
haben, einen Verzicht auf die Anbringung des Stempels zu erwirken». Laut einem
Bericht der Gesandtschaft vom 3. Februar liess das Reichswirtschaftsministerium
vertraulich durchblicken, dass diejenigen Juden in Deutschland, «welche es können,
gut tun, Deutschland zu verlassen». Dies war gewiss keine besondere Neuigkeit, hatten
doch Göring und Hitler seit 1932 in ihren öffentlichen und vertraulichen Erklärungen
mehrfach und unmissverständlich auf die «Ausschaltung>> aller Juden ausdem wirt-
schaftlichen Leben hingewiesen. Dinichert glaubte, die Schweizer Juden seien, von
Einzelfällen abgesehen, davon nicht betroffen. Im gleichen Atemzug rechnete der
schweizerische Gesandte damit, dass <~üdische Schweizer nach und nach zur Ab-
wanderung gezwungen werden, ohne dass es möglich erscheint, ihnen auf die Dauer
einen wirklichen Schutz gegen diese Bestrebungen zu gewähren». Erst als Lewinsky
und weitere Schweizer Juden im August ihre Karten abgeben mussten und dem
deutschen Berufs- und Gewerbeverbot erlagen, bequemte sich der schweizerische
Geschäftsträger in Berlin zu einer Bitte, Lewinsky seine Karte zu belassen, was Ende
November vom Auswärtigen Amt abgelehnt wurde.
Im März war bereits auch das Problem im Sand stecken geblieben, ob man in
Sachsen «ansässige Schweizer Bürger jüdischer Abstammung» davor schützen solle,
der deutschen Polizei eidesstattliche Auskünfte geben zu müssen. Diese verlangte von
den Juden persönliche Angaben, die der geplanten wirtschaftlichen «Arisierung»
dienten. Dinichert und Frölicher hatten zwar einem polnischen Protest gegen solche
antisemitischen Praktiken «eine gewisse Berechtigung nicht absprechen» können,
unternahmen aber nichts, um sich hinter ihre eigenen Bürger zu stellen. Was man
angesichts der «Arisierung» glaubte als Maximum herausholen zu können, war eine
Gleichbehandlung der schweizerischen mit den deutschen Juden. Vor allem legte man
den bei der Gesandtschaft vorsprechendenjüdischen Schweizern nahe, ihre Vermögen
unter «annehmbaren Bedingungen» zu verkaufen und in die Schweiz zurückzukehren.30
Während dieser Vorgänge hatten schweizerische Zeitungen das wirtschaftspolitische
«Durchgreifen» unter Hermann Göring seit Dezember 1937 gemeldet, aber in der
ersten Jahreshälfte 1938 teilweise unangemessene Berichte über die «Beseitigung» der
deutschen. Juden aus der Wirtschaft des Reiches gebracht. Die liberale und
mittelständische Presse kontrastierte etwa die «erschütternde Situation» der entrechteten
und pauperisierten Juden mit dem Klischee, die Juden hätten die «Textil- und Finanz-
welt» im Reich weitgehend beherrscht. Die Presse mied eine Kritik oder auch nur die
Erwähnung der deutschen Behauptung, die schweizerischen Juden würden zu einer
«internationalen Rasse» gehören, die finanziell und wirtschaftlich auch schweizerische
Verhältnisse bedrohe. Im Völkischen Beobachter hatten die Nazis ihre Ziele und
Methoden der wirtschaftlichen «Ausschaltung» der Juden in Österreich eingehend
gepriesen, und von Wien aus erfolgte später auch eine Aufforderung der deutschen
VON FALL ZU FALL 165

Nazis, es in der Schweiz gleichzutun. Aus Wien empfahl Ende April1938 denn auch
der schweizerische Gesandte in Ungarn und Österreich, Maximilian Jaeger, Texte über
solche Ideen zur Lektüre. Diese schilderten «in einer durch ihre formelle Ruhe um so
eindrucksvollere Weise die Methoden, mit Hilfe welcher die Juden bis zum Jahre 1942
aus dem wirtschaftlichen Leben des Landes Österreich vollständig ausgeschaltet wer-
den sollen». Die sozialdemokratischeBerner Tagwacht glossierte im Juli solche an die
Adresse von schweizerischen Wirtschaftspolitikern gerichteten Vorschläge, sich zwecks
Devisenbeschaffung auch an den Juden ausserhalb von Deutschland zu bereichemY
Im offiziellen Bem brachten indessen die Meldungen und die sich mehrenden
«Einzelfälle» betroffener Schweizer Juden das Politische Departement dazu, zunächst
bei anderen Staaten deren Reaktionen auf die Behandlung ihrer jüdischen Bürger
abzuklären. Die eidgenössische Diplomatie entschied sich zur «Prüfung der Juden-
frage in Deutschland, insoweit diese die Interessen schweizerischer Staatsbürger be-
rührt», indem sie ihre Gesandtschaften in Paris, London, Stockholm, Den Haag,
Brüssel und Washington befragte. Die Antworten auf die von Bundesrat Motta im Mai
1938 veranlasste Sondierungsaktion in den sechs Staaten gingen bis zum September
nur zögernd ein und fielen knapp und wenig einhellig aus.
Frankreich hatte in Berlin grundsätzlich Einspruch erhoben und war mit Zusiche-
rungen abgespeist worden, die in der Praxis aber ohne Wirkung blieben. Kleinstaaten
wie die Niederlande und Dänemark verzichteten auf einen Protest und hofften auf die
schnelle Repatriierung von jüdischen Bürgern samt deren Vermögen. Schweden hatte
umgekehrt kaum jüdische Bürger im Reich, protestierte aber grundsätzlich gegen ihre
Diskriminierung und hielt diese Haltung auch gegen deutsche Ausreden und nach der
Rückkehr der schwedischen Juden aufrecht. Von den Vereinigten Staaten liess sich zu
diesem Zeitpunkt nichts Endgültiges sagen, weil die Amerikaner erst nach der
Reichspogromnacht mit Schadenersatzforderungen vorgingen und dann Ende 1939
grundsätzlich Gelegenheit erhielten, in scharfer Form gegen die Benachteiligung
jüdischer US-Bürger zu protestieren. Umgekehrt hatte Polen, über dessen Reaktion
Bern nicht ermitteln liess, schon viel früher, gleich im März 1933 und von neuem 1935
Anlass gefunden, gegen die deutschen Ausschreitungen und Massnahmen Einspruch
zu erheben. In diesem Mosaik, wie und wann die ausländischen Missionen bei ver-
schiedenen Anlässen für ihre Staatsbürger vorstellig wurden, spiegelte sich die
uneinheitliche und opportunistische Taktik der deutschen Judenpolitik. Für die Schweiz,
die gegenüber Berlin bereits 1933 gleiches Recht für alle Bürger verfochten hatte,
Iiessen sich aus diesen internationalen Reaktionen kaum Schlüsse ziehen, die eine
standhafte Linie oder anpasserische Revision ihrer Haltung bestätigt hätten. Deutlich
schien nur, dass im Reich offensichtlich die ausländischen Juden in erster Linie als
Juden und nur in zweiter Linie als Ausländer galten.32
In Wirklichkeit waren die Proteste zahlreicher Staaten gegen die Ausdehnung der
antijüdischen Sondergesesetzgebung auf Ausländer nicht wirkungslos geblieben, wenn
166 3. KAPITEL

auch die nazistischen Machthaber von ihrem Standpunkt, in- und ausländische Juden
gleichzusetzen, nie abgerückt sind. Doch spielten aussen- und wirtschaftspolitische
Rücksichten jahrelang eine wichtige Rolle bei der Behandlung ausländischer Juden in
Deutschland. So gaben beispielsweise die deutschen Stellen sofort nach, als in Stutt-
gart der Schweizer Konsul gegen die polizeiliche Kennzeichnung jüdischer Geschäfte
im Falle eines Schweizer Bürgers intervenierte. Dieser Erfolg bildete keine Ausnahme.
Gerade in der «Arisierung der deutschen Wirtschaft>> waren die ausländischen Juden
von den Verordnungen zwar offiziell eingeschlossen, bei der praktischen Durchfüh-
rung von den Behörden aber meist ausgenommen. Die Verordnung zur Vermögensan-
meldung hat für die im Ausland wohnenden Juden schon aus praktischen Gründen
nicht greifen können. Listen jüdischer Betriebe, auf denen Juden fremder Staatsbürger-
schaft fungierten, durften nur mit Genehmigung des Reichswirtschaftsministers er-
stellt werden. Selbst nach der Schliessung aller jüdischer Geschäfte während dem
Novemberpogrom ist die Wiedereröffnung bei den Ausländern wenigstens geduldet
worden. Solche Anzeichen weisen also immerhin auf eine Situation hin, in der kaum
von einer eindeutigen Linie der Nazis gegenüber den fremden Juden gesprochen
werden kann. Viel eher suchte die deutsche Regierung ihre Vorstellungen mit einer
Praxis der Duldung ausländischer Juden zu kombinieren, um diplomatische Konflikte
zu vermeiden. Voll und ohne weitere Rücksichten wurde die antijüdische Gesetzge-
bung erst 1942/43 auf die ausländischen Juden ausgedehnt. 33
Die eidgenössische Diplomatie befand aufgrund der erwähnten Umfrage in sechs
Hauptstädten, mit rechtlichen Argumenten, etwa durch Berufung auf den Nieder-
lassungsvertrag, sei der Frage der Schweizer Juden kaum beizukommen. Vielmehr
handle es sich um eine politische Angelegenheit, was bedeutete, auf eine grundsätzli-
che Demarche zu verzichten und nur bei «besonders gelagerten Einzelf<illen» zu
intervenieren. Denn «die schweizerischen Juden werden in Deutschland nicht wegen
ihrer Staatsangehörigkeit schlechter behandelt als die arischen Deutschen, sondern
deshalb, weil in Deutschland auch die deutschen Juden schlechter behandelt werden».
Im Klartext hiess dies, dass man in Bem der deutschen Auffassung von den Juden als
«Fremdvölkische», wie überhaupt der Idee einer «völkischen Ungleichheit», nicht
widersprechen wollte. Drei Wochen nach diesem Bescheid an Frölicher in Berlin und
zehn Tage nach der Reichspogromnacht wies am 21. November die Auswärtige
Abteilung ihre Mission in Berlin auch an, im Hinblick auf allfällige Schadenersatzan-
sprüche von Schweizer Juden, die Verluste wegen den Zerstörungen während der
«Kristallnacht» erlitten hatten, nur in Einzelfällen vorzusprechen und «keine allgemei-
ne grundsätzlichen Vorbehalte anzubringen». Die schweizerische Gesandtschaft legte
nun ihren jüdischen Landsleuten im Reich nahe, ihre Rückkehr ins Auge zu fassen.
Wie die Niederlande und Belgien wählte auch die Schweiz eine vorsichtige Taktik.
Bezeichnend für die Rückzugspolitik ist der Jahresbericht des schweizerischen Gene-
ralkonsulates in München, der die einzelnen Schadenfälle in Bayern auflistet und zum
VON FALL ZU FALL 167

Schluss kommt: «Ganz allgemein kann gesagt werden, dass es bei der heutigen
Sachlage praktisch kaum möglich erscheint, die schweizerischen Nichtarier in Handel
und Industrie zu halten, und die Aufgabe der schweizerischen Vertretungen dürfte in
Zukunft darin bestehen, ihnen bei Verlegung ihrer Tätigkeit und ihres Wohnsitzes ins
Ausland behilflich zu sein.» 34 Abgesehen von den reichlich peinlichen Versprechern,
die eigenen «Nichtarier ins Ausland» (womit die Schweiz gemeint war) überführen zu
wollen, illustrieren diese Worte sehr deutlich die vorsichtige und pragmatische Linie
der eidgenössischen Konfliktvermeidung am Vorabend des Weltkriegs. Sie sollte die
schlingernde Haltung der schweizerischen Diplomatie in der «<udenfrage» während
der folgenden Jahre weitgehend bestimmen.
Es war nun tatsächlich zu erwarten, dass die Schweizer Juden in Deutschland ihre
Vermögen einbüssen würden und dann mittellos nach der Heimat abziehen müssten.
Zwischen der Schweiz und Deutschland war am 19. August 1937 eine Übereinkunft
abgeschlossen worden, die es schweizerischen Rückwanderern erlaubte, in beschränk-
tem Umfang Vermögenswertetrotz der engen deutschen Devisengesetzgebung mitzu-
nehmen. Dieses Abkommen konnte angesichts der 1938 einsetzenden <<Arisierung»
kaum genügen, um jüdische Schweizer bei ihrer Rückkehr vor dem Verlust ihrer
Vermögenswerte zu bewahren. Die Übereinkunft von 1937, die den auf 50'000
Reichsmark pro Rückwanderer beschränkten Transfer regelte, war ohnehin nur bis
Ende Juni 1938 gültig. In den acht Monaten seit Abschluss der Übereinkunft bis zum
Erlass der deutschen Verordnung über die Anmeldung des jüdischen Vermögens
konnten nur 230'000 Reichsmark rücktransferiert werden. Die im September 1937
von meist jüdischen Schweizern angemeldete Summe betrug indessen mehr als 2,5
Millionen Reichsmark. Die Auswärtige Abteilung fürchtete bereits im Mai 1938 in
einem dringlichen Expose an Motta, dass die Schweizer Juden in Deutschland, deren
Zahl man auf 500-1000 schätzte, in der Schweiz der öffentlichen Wohltätigkeit zur
Last fallen könnten. Man erhoffte sich für die Rückwanderer im günstigsten Fall ein
Clearingabkommen, bei dem Liquidationserlöse auf unbestimmte Zeit bei der deut-
schen Reichsbank verbleiben würden, um nach und nach transferiert werden zu
können. In der Zwischenzeit sollten, so das Expose, eben jüdische Hilfsorganisationen,
wie der SIG und der VSIA, die verarmten Rückkehrer unterhalten. 35
Der SIG lehnte eine Bevorschussung schweizerisch-jüdischer Rückwanderer-
vermögen grundsätzlich ab, weil mit einer solchen Vereinbarung indirekt ein rechts-
widriger Sonderstatus der jüdischen Schweizer im eigenen Land akzeptiert worden
wäre. Vier Jahre zuvor hatten die Schweizer Juden noch geglaubt, dem bundesrätlichen
Geschäftsbericht von 1933 entnehmen zu können, die Regierung distanziere sich
vollumfanglieh vom Nationalsozialismus und widersetze sich jeglicher Diskriminie-
rung der jüdischen Schweizer Bürger in Deutschland. Nun sah man sich vom Bundes-
rat dafür haftbar gemacht, dass 1938 die Schweizer jüdischen Glaubens als schweizeri-
sche Juden oder gar als «Nicht-Arier» ins Land zurückkamen. Im SIG hat man sich zu
168 3. KAPITEL

diesem Zeitpunkt auf diesen Vorwurf, der erst 1941 voll ins Bewusstsein trat, noch
keinen Reim machen können und schrieb das bundesrätliche Ansuchen den «zwingen-
den Verhältnissen» und den in Deutschland und Italien herrschenden «rigorosen
Devisenvorschriften» zu. Aus pragmatischer Einschätzung und unter dem Druck der
Verhältnisse, die durch Bedrohungslage und aufgebürdete Flüchtlingsaufgaben gege-
ben waren, sagte man also Bern Hilfe zu. Der SIG verpflichtete sich zur finanziellen
Unterstützung in Härtefallen und vor allem bei der Stellenbeschaffung, wie sie vom
SIG bereits seit Juni 1934 betrieben wurde. Motta gab sich zufrieden, obwohl, wie er
notierte, die eidgenössischen «Bemühungen im Benehmen mit dem SIG» noch keine
weiteren Grundlagen ergeben hätten. 36
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass zwischen den Verhandlungen um den
J-Stempel und der Stellung der Schweizer Juden in Deutschland ein indirekter Zusam-
menhang bestand, der in der Doppelgleisigkeit von Diplomatie und Polizeipraxis
sichtbar wird, gegen aussen aber schwer durchschaubar war. Die Spur dieses
administrativen Antisemitismus verlief von aussen nach innen, von der deutschen
Bereicherung mit jüdischen Vermögen und der nazistischen Vertreibungspolitik ins-
gesamt zu einer unheilvollen Akzeptanz dieser Entrechtung in der schweizerischen
Aussen- und Fremdenpolitik, die letztlich die schweizerischen Juden preiszugeben
bereit schien. Das jüdische Establishment in der Schweiz konnte diesen funktionalen
Zusammenhang nicht erkennen, weil der Vorgang wie die diplomatische Abwicklung
verborgen blieben. Doch SIG-Präsident Saly Mayer und VSJF-Chef Sylvain Guggen-
heim interpretierten den J-Stempel instinktiv als schweizerisches Produkt, bei dem
«das Ausland nicht versteht, dass es sich um eine deutsche Massnahme handelt». Als
Rothmund den beiden am 12. Oktober in Bern die neuen Weisungen für die Asyl- und
Grenzpraxis erläuterte, hielten sie ihm entgegen, die Judenschaft werde international
diese «Einführung der Notwendigkeit der Zusicherung für Pässe von Nichtariern dahin
auslegen, dass nun auch in der Schweiz mit einer Rassengesetzgebung angefangen
worden sei». Im Klartext meinte dieser leise Protest, was dasisraelitische Wochenblatt
seinen Lesern ausdeutschte: Mit dem Visumzwang unterscheide die Schweiz im stillen
nun nach Rasse und Konfession. 37
VON FALL ZU FALL 169

SCHWACHE DIPLOMATEN, STARKE GERICHTE:


ZUR DEUTSCHEN POLITIK DER «ARISIERUNG)) IN DER SCHWEIZ

Die Anzahl der Schweizer Juden in Deutschland war nie sehr gross, zumal seit 1933
mehr und mehr Schweizer Bürger jüdischer Herkunft das Reich unter dem Haken-
kreuz verlassen haben dürften. Genauere Angaben, wie viele ausländische Juden
insgesamt in Deutschland lebten, lassen sich nicht machen, und auch der kleine Anteil
von Schweizer Juden muss Schätzung bleiben. Vor 1933 waren von den rund 100'000
ausländischen Juden im Reich mehr als 70 Prozent Bürger osteuropäischer Staaten,
vor allem Polen, 12 Prozent trugen einen Österreichischen Pass, weitere 9 Prozent
waren Staatenlose, so dass auf alle übrigen Staaten noch etwas mehr als 7 Prozent der
ausländischen Juden im Reich entfielen. 1933 betrug der Anteil dieser letzten Katego-
rie, unter die auch die jüdischen Schweizer Bürger fielen, noch 5,6 Prozent oder rund
5500 Menschen, und 1939 hielten sich nur noch 600 Juden aus westeuropäischen oder
überseeischen Staaten in Deutschland auf. Die Angabe von 500-1000 jüdischen
Schweizern, die Frölicher Mitte 1938 nach Bem mitteilte, dürfte eher nach unten zu
korrigieren sein. Seit 1934 waren ständig jüdische Schweizer in die Heimat zurück-
gekehrt, was auch die Angaben des SIG über sein Stellenvermittlungsbüro zeigen, das
pro Jahr 30-50 ausländischen Schweizer Juden bei der beruflichen und persönlichen
Wiedereingliederung helfen musste. Die Jahre 1937-1939 brachten eine beschleunigte
Abwanderung der restlichen Schweizer, die nun aus dem Reich hinausgedrängt wur-
den. Diese Tendenzen werden heute von allgemeinen statistischen Studien zur jüdi-
schen Migrationsgeschichte bestätigt.38

Schweizerische Interessenwahrnehmung im Zeichen der deutschen Rassenpolitik

Trotz dieser sehr geringen Zahl boten sich dem Politischen Departement und seinem
Rechtsbüro zahlreiche und sehr unterschiedliche «Problemfälle», mit dem sich nun in
Bem die Administration und in Deutschland Gesandtschaft und Konsulate auseinan-
derzusetzen hatten. Erwähnt wurden bereits der Stempelaufdruck «Jude» auf Gewerbe-
karten von Schweizer Bürgern und die polizeilichen Fragebogen zur Erfassung der
Vermögensverhältnisse. Hinzu kam der Nachweis der Abstammung, den jüdische
Schweizer im In- und Ausland erbringen mussten, sobald sich Deutschland eine
Gelegenheit bot, dies von den ausländischen Juden zu verlangen. Am einzelnen Fall ist
die konkrete Anwendung von Rassenrecht ablesbar. Konnte zum Beispiel ein Buch-
händler schweizerischer Staatsangehörigkeit daran gehindert werden, in Deutschland
deutsche Literatur zu verkaufen, was ihm als Jude neuerdings nach deutschem Recht
verboten war? Oder wie stand es mit schweizerischen Rechtsanwälten jüdischer
170 3. KAPITEL

Herkunft, die einen schweizerischen Klienten durch einen «arischen» Anwalt in


Deutschland vertreten lassen wollten? Konnte überhaupt ein «nichtarischer» Schwei-
zer vor deutschen Gerichten vertreten und verteidigt werden, und würde die Schweiz
die deutschen Vorbehalte zu beseitigen suchen?
Dass die Rechtspraxis nun Sache der Politik und Diplomatie geworden war, zeigte
sich sehr bald daran, dass die Rassengesetze Wirkungen auf das eigene Land haben
konnten. Als von ausländischen Juden der «Ariernachweis» gefordert wurde, mussten
nun schweizerische Behörden ihren Bürgern bescheinigen, sie seien keine «Nichtarier».
Schliesslich hatte die Erfordernis des «Ariernachweises» auch erste Konsequenzen für
die jüdischen Schweizer, selbst wenn sie im eigenen Land lebten. Ein Indikator dafür
ist der sogenannte kleine Grenzverkehr: In der traditionellen Nachbarschaft von eng
angrenzenden Gemeinden beiderseits der Grenze, wie etwa zwischen dem schweizeri-
schen Kreuztingen und dem deutschen Konstanz, zerschnitt der «Ariernachweis» die
bestehenden familiären und wirtschaftlichen Bindungen, welche die Kreuztinger Ju-
den mit Konstanz pflegten. Die Ausweitung der deutschen Rassengesetze konnte auch
dort greifen, wo Deutsche und Schweizer in konfessioneller «Mischehe» lebten. So
war ein «Ariernachweis» auch bei Eheschliessungen von jüdischen Schweizern mit
«arischen» Deutschen zu hinterlegen, seitdem ein Erlass vom 20. September 1937 das
Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes, das Eheschliessungen zwischen Juden und
Deutschen verbot, auf ausländische Juden auszudehnen drohte. In der Folge mussten
sehr bald auch in der Schweiz wohnhafte Schweizer Juden die einschneidenden
Wirkungen völkischer Rechtsauffassung erfahren, sofern sie mit einem deutschen
Staatsbürger verheiratet waren, indem ihnen in Deutschland eine «Arisierung» ihres
Vermögens drohte, das im Gefolge der «Mischehe» als unter deutschem Recht stehend
betrachtet wurde. 39
Alle diese Einzelfalle zeigen die Schaffung bedenklicher Präjudizien durch den
administrativen AnwendungsfalL Den Preis zahlten die betroffenen Juden, und das
politische Zugeständnis der Schweizer schlug sich auf Kosten liberaler Prämissen und
grundrechtlicher Prinzipien nieder. Der Verzicht auf Interventionen zugunsten jüdi-
scher Schweizer schwächte also die völkerrechtliche Gültigkeit von sonst anerkannten
Prinzipien auf blosses Zusehen hin ab und schuf eine Situation, die einzelnen Instan-
zen eine schrittweise Hinnahme der rassistisch begründeten Diskriminierung akzeptabel
erscheinen liess. Argumentiert wurde indessen gerne mit scheinbar rechtsstaatlicher
Prinzipienfestigkeit, nämlich mit der Berufung auf den Grundsatz, gegenüber dem
Ausland die eigenen Juden nicht besser als die übrigen Schweizer zu behandeln, um
einen «Sonderfall» auszuschliessen. Was als Gleichheitsprinzip formell einleuchtend
schien, war freilich in dieser Situation tatsächlich eine Hinnahme der reichsdeutschen
Rechtsbeugung. Die Praxis in Politik und Diplomatie wurde dann in einer Weise
gehandhabt, dass sie dort, wo Probleme neu oder der Geltungsbereich unklar schienen,
das Recht zuungunsten der Schweizer Juden ausgelegt wurde.
VON FALL ZU FALL 171

Beim Problem des diplomatischen und gerichtlichen Schutzes von wirtschaftlichen


Interessen von Juden ging es zunächst grundsätzlich um ein allgemeines Thema, das in
Kriegszeiten für den neutralen Staat von elementarer Dringlichkeit war. Problematisch
war nicht allein das Prinzip, nach dem der diplomatische Schutz erfolgen sollte, sondern
auch die unterschiedliche Einstufung von natürlichen Personen und juristischen Körper-
schaften bei dieser Angelegenheit. Ernst Schneeberger, als Bundesbeamter ein Spezia-
list für Fragen der wirtschaftlichen Kriegführung, vertrat das sogenannte Interessen-
prinzip, welches in der Auswärtigen Abteilung auch de facto von Bundesrat Pilet-Golaz
und Minister Robert Kohli angewendet wurde. Danach war die Schweiz verpflichtet,
allen schweizerischen Personen im Ausland Schutz zukommen zu lassen, gleichgültig,
ob es sich um natürliche oder juristische Personen handelte. Um das von Sehneeberger
vertretene Interessenprinzip ist in der SchweizerischenJuristen-Zeitung eine Kontrover-
se geführt worden, bei der für juristische Körperschaften das gegenteilige «Sitzprinzip»
reklamiert wurde. Gegner Sehneebergers war der später von der US-Botschaft als
Strohmann der Deutschen verdächtigte Zürcher Anwalt Edmund Wehrli. Das von ihm
vertretene «Sitzprinzip» unterschied zwischen natürlichen und juristischen Personen,
indem es dem Staat die stossende Anweisung erteilen wollte, denjenigen Gesellschaften
den diplomatischen Schutz zu gewähren, die dem Sitz nach zwar inländisch, dem
Ursprung und der eigentumsmässigen Verbundenheit nach jedoch ausländisch waren.
Dagegen wären die eigenen wirtschaftlichen Vorposten der Schweiz im Ausland, sofern
sie dort juristisch unter Eigemechtspersönlichkeit firmierten, schutzlos geblieben. Ge-
gen diese von Wehrli vertretene Auffassung verteidigte Sehneeberger das Interessen-
prinzip, das einheitlich die natürlichen und juristischen Personen schweizerischer Her-
kunft diplomatisch schützen sollte.40
Konkret ging es bei diesem Juristenstreit um wirtschaftliche Interessen von grösserem
Umfang. Wehrli vertrat den in Basel niedergelassenen Auslandsitz «IG-Chemie» des
kriegswichtigen deutschen Konzerns «IG-Farben», der auch das Giftgas für die deut-
schen Konzentrationslager produzierte. Die über den Basler Auslandsitz betriebene
Einschweizerung aller IG-Überseebeteiligungen, mit der seit Sommer 1940 eine dro-
hende Konfiskation als Feindvermögen durch die US-Behörden abgewendet werden
sollte, machte sich nach dem Krieg für den neutralen Übernehmer aus schweizerischen
Bankenkreisen finanziell bezahlt. Die «Sitztheorie» war das rechtliche Konstrukt, um
die Tarnung und auch die spätere Ausbeute zu legitimieren. Demgegenüber hielt das
behördlich aufrechterhaltene Interessenprinzip die Ausland- und Überseebeteiligungen
der Schweizer Wirtschaft im Auge. Solche von der Muttergesellschaft juristisch
selbständigen Firmen, wie die beiden Panama-Briefkastenfirmen «Sapac» von Roche
oder «Unilac» von Nestle, waren als Schutzräume im angelsächsischen Bereich ge-
dacht, falls Hitler die Schweiz geschluckt hätte.
Wie fest vertraten nun eidgenössische Diplomaten das Interessenprinzip für ihre
eigenen Schweizer Juden? Hatte die vorsichtige Diplomatie auch indirekte Folgen für
172 3. KAPITEL

Schweizer Juden, die im eigenen Land wohnten? Die erste Frage, die sich auf die
Schweizer Juden im Ausland bezieht, werde ich weiter unten, wenn von ihrer Stellung
im besetzten Frankreich die Rede ist, nochmals eingehend behandeln. Dort war die
persönliche Präsenz und das wirtschaftliche Gewicht der Schweizer Juden sehr viel
erheblicher als in Deutschland, das seit 1933 von jüdischen Schweizern gemieden
worden war. Andererseits hat sich die Diplomatie gegenüber dem Reich sehr viel
opportunistischer verhalten als gegenüber Frankreich oder Italien, und sie ist mit
Frölicher in Berlin, dessen bekannte deutschfreundliche Gesinnung kollaborations-
verdächtig blieb, auch von dessen Überzeugung überschattet worden, die «Verjudung
des Landes» verhindem zu wollen. 41 Dass bei persönlichen Diskriminierungen der
ausländischen Schweizer Juden der diplomatische Schutz im Reich recht zögerlich
blieb, haben wir erfahren. Gleichzeitig tendierte die Schweiz auch hinsichtlich der
wirtschaftlichen Interessen jüdischer Schweizer zu einer fliessenden Handhabung des
von ihr sonst vertretenen Interessenprinzips, zumindest in gewissen «jüdischen Fra-
gen». Bei den zitierten «Einzelfällen» jüdischer Schweizer mit Wohnsitz in Deutsch-
land ist das Nebeneinander von politischer Schwäche, vorsichtigem Taktieren und
judenfeindlichen Regungen in der Diplomatie offenkundig geworden. Die Schweizer
Juden, wie die anderen ausländischen Juden, wurden nicht so unmittelbar wie die
reichseigenen Juden entrechtet und enteignet.42
Die Folgen dieser deutschen «Arisierung» der Wirtschaft lagen nun auch darin,
dass Juden ausserhalb des Reiches indirekt betroffen wurden, ob sie nun als Schweizer
in das eigene Land zurückgekehrt waren oder schon immer in der Schweiz gewohnt
hatten. Schweizerische wie ausländische Juden in der Schweiz, die in Deutschland
Besitz hatten, versuchten zunächst, ihre jüdische Herkunft im Reich zu vertuschen, um
einer möglichen wirtschaftlichen Diskriminierung zu entgehen. Dies führte schnell
dazu, dass die vom Reich verlangte und erzwungene Bescheinigung der sogenannten
Firmenwahrheit geleistet werden musste, was soviel hiess, dass nach Juli 1938 Schweizer
Firmen, die an deutschen Firmen beteiligt waren oder im Reich Zweigniederlassungen
unterhielten, einen «Ariemachweis» zu erbringen hatten. Dies bedeutete, dass schwei-
zerische Juden in den Verwaltungsräten solcher Firmen, zum Beispiel einer
Versicherungsgesellschaft mit Hauptsitz in Zürich, Genf oder andernorts in der Schweiz,
nicht mehr tragbar schienen. Kaum zu messen, aber zu vermuten ist schliesslich die
schleichende «Arisierung>> von schweizerischem Grundbesitz oder Gewerbe- und
Industriebesitz in Deutschland, deren jüdische Inhaber oder Teilhaber in der Schweiz
wohnten. Die schnelle Abstossung von Vermögenswerten durch Juden, die unter
Druck an Schweizer Nich~uden verkauften und diesen damit eine günstige und
willkommene Expansionsgelegenheit in das wirtschaftlich prosperierende Reich ver-
schafften, lag mithin in der Logik der deutschen Verdrängungsstrategie, die hier erst
noch mit der kleinstaatliehen Schwäche gegenüber dem aggressiven Reich rechnen
konnte. 43
VON FALL ZU FALL '' 173

Die schweizerische Haltung, Konflikte zu vermeiden, und die deutsche Politik der
wirtschaftlichen Verdrängung, die auch vor fremden Juden im Ausland nicht Halt
machte, ergeben zusammen das Bild stillschweigender Gegenseitigkeit. Nur am Ran-
de sei schliesslich angemerkt, dass es diplomatisch auch das Interessenprinzip unter
umgekehrten Vorzeichen zu wahren galt. Die Schweizer Gesandtschaft in Berlin hatte
sich dann mit jenen Fällen zu befassen, wo es um Gläubigeransprüche von «arischen»
Schweizer Firmen gegenüber enteigneten Juden oder Guthaben von nichijüdischen
Schweizern bei deutschen Firmen ging, die einst in jüdischem Besitz gewesen und nun
«arisiert>> worden waren. Hier erschien der Ton um einiges eifriger und resoluter als in
den Fällen, wo es unter anderen auch um einen Schweizer Judennamens Mendel
Lewinsky ging.
Der Nachweis der «Firmenwahrheit» oder die schwer abzuschätzende schleichen-
de «Arisierung» stellten jedoch Strategien dar, aus denen auch eine pragmatische
Haltung der betroffenen Wirtschaftssubjekte sprach. Wohl oder übellegte dies diplo-
matisch eine fliessende Handhabung des Interessenprinzips nahe.

Das Bundesgericht stoppt die schleichende <<Arisierung»

Brisanter wurde es, als Deutschland selbst begann, im Sinne des Interessenprinzips
und als selbsternannter Zwangsverwalter, Forderungen an S~hweizer Juden oder volle
Ansprüche auf Vermögen ausgebürgerter Juden auch im Ausland zu stellen. Mit
andem Worten, deutsche Stellen und Wirtschaftsleute traten in der Schweiz auf in der
Absicht, die nach deutschen Rassengesetzen, Verordnungen oder Gerichtsurteilen
legalen Ansprüche auf jüdische Werte und Guthaben, die sich aber in der Schweiz
befanden, zu realisieren. Die Logik legte es nahe, zunächst die Vermögen deutscher
und nichtschweizerischer Juden zu beanspruchen; zugleich sollte der Versuch erfol-
gen, auch auf Vermögen von Schweizer Juden zurückzugreifen, insbesondere indem
Deutschland Forderungen erhob und durchsetzen wollte, die von Reichsgerichten
aufgrund rassistischer Überlegungen gefällt worden waren. Ein solcher Versuch,
jüdisches Vermögen zu belangen und Forderungen zu realisieren, machte aus deut-
scher Sicht auch politisch viel Sinn, indem das für die Nazis charakteristische Denken
mit dem Prinzip einer unbeschränkten Auslegung von Gesetzen operierte und so auf
der grassräumlichen Linie der «völkischen» Ideologie lag.
Das geeignete Instrument bildete das schweizerisch-deutsche Abkommen vom 2.
November 1929, das die gegenseitige Vollstreckung von fremden Gerichtsurteilen
regelte. Der Streit um die Gültigkeit und Auslegung der Judengesetzgebung verlagert
sich nun von der diplomatischen Praxis gegenüber dem Ausland zu den Schranken
inländischer Gerichte, vor denen die Auswirkungen der Rassengesetze debattiert
wurden. Als Podium für einen deutschen Übergriff, mit dem nun schweizerische wie
174 3. KAPITEL

deutsche Juden in der Schweiz getroffen werden sollten, waren also Schweizer Gerich-
te vorgesehen, die hier zuvor von Reichsgerichten gef<illten Urteilen Geltung zu
verschaffen hatten. Grundsätzlich gehörte es zu den Prinzipien des internationalen
Privatrechts, dass ausländisches Recht von inländischen Gerichten anerkannt, an-
gewendet und vollstreckt werden musste. Voraussetzung dieses Prinzips war freilich,
dass das ausländische Recht nicht grundlegenden inländischen Rechtsgütern wider-
sprach. Damit waren Schweizer Gerichte . vor die Frage gestellt, ob die
«Ariergesetzgebung» zu anerkennen sei oder nicht. Würde also das deutsche Juden-
recht, wo es als gerichtliche Interpretation von vertraglichen Forderungen oder
Vermögenslagen erschien, in der Schweiz Anwendung finden müssen oder kraftlos
bleiben?
Erstmals wurde die Gefahrlichkeit dieser Dimension deutlich, als das Bundes-
gericht ein Urteil des Zürcher Obergerichts aufhob, das ein Urteil des Hessischen
Landgerichts anerkannt hatte. Betroffen war ein jüdischer Flüchtling, Gustav Hartung,
der als Leiter des hessischen Landestheaters 1933 Darmstadt mit einem Gehaltsvorschuss
in der Tasche Richtung Schweiz verlassen hatte. Das Bundesgericht schlug den
Zürcher Gerichtsentscheid nieder und verweigerte Hessen die gerichtliche Anerken-
nung der Rückerstattungsforderung, weil Hartung «mit dem Siege der national-
sozialistischen Revolution» eine weitere Anstellung und arbeitsmässige Abgeltung der
Lohnleistung verunmöglicht gewesen sei.
In einem zweiten, noch bedeutungsvolleren Fall, der einen Schweizer Juden betraf,
zeigte sich dann das Zürcher Obergericht ganz auf der Linie der Lausanner Bundes-
richter und schob der Anwendung der deutschen «Nichtariergesetze» im Land einen
Riegel vor. Der Rechtsstreit betraf die Vollstreckung eines Berliner Reichsgerichts-
urteils über die Folgen eines Vertragsrücktrittes, der von deutscher Seite provoziert
worden war. Dort hatte die Berliner Universum-Filmgesellschaft «Ufa» die zürcherische
Theater- und Verlagsgesellschaft «Thevag» eingeklagt, welche ihr das Drehbuch «Die
Heimkehr des Odysseus» zur Verfilmung gegen eine geleistete Anzahlung von 26'000
Reichsmark überlassen hatte. Die Ufa war vom Vertrag zurückgetreten, weil der
schweizerische Thevag-Autor und vorgesehene Koregisseur Brich Charell angeblich
«Jude» war; eine Unterstellung, die kulturpolitisch motiviert war. Das Berliner Gericht
hiess die Ufa-Rückforderung gut, worauf die deutsche Filmgesellschaft in Zürich vor
Gericht ihren Anspruch realisieren wollte. Das Obergericht verweigerte die V ollstrek-
kung des deutschen Urteils, das darin eine privatrechtliche Angelegenheit gesehen
hatte, mit Berufung auf die öffentliche Ordnung und die schweizerische Rechtsauffas-
sung. Aus dem privaten Rechtsstreit war eine Frage geworden, die grundsätzlich das
Prinzip der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz und den Grundsatz der Rechtsfa-
higkeit aller Individuen anschnitt. Gegenstand der Beurteilung war jetzt die zwischen-
staatliche Vereinbarung selbst: das deutsch-schweizerische Abkommen von 1929 über
die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Urteilen wurde
VON FALL ZU FALL 175

nun mit Vorbehalt belegt. Am 17. September 1937 stützte das Bundesgericht in einem
Urteil seiner von Bundesrichter Fazy präsidierten Staatsrechtskammer den Zürcher
Entscheid. Der Ufa-Rücktritt vom Vertrag sei aus Gründen der Rassenzugehörigkeit
erfolgt, und eine solche käme einer Anwendung der Judengesetzgebung in der Schweiz
gleich. Damit blieb das Bundesgericht auf dem Kurs, den es ein Jahr zuvor bereits
eingeschlagen hatte. Es hielt sich klar die Unvereinbarkeit der deutschen Rassen-
gesetze mit den Grundsätzen schweizerischer Rechtsauffassung vor Augen. 44
Dem juristischen Präludium, bei dem materiell Forderungen aus vertraglichen
Vereinbarungen zur Beurteilung angestanden waren, folgte das Hauptstück, das nun
Ansprüche auf ganze Vermögen betraf, die in Deutschland oder den besetzten Gebie-
ten zwangsverwaltet und nach November 1941 voll enteignet worden waren, aber in
der Schweiz lagen. In Zürich bestätigte im März 1939 das Obergericht ein drei Monate
zuvor erstinstanzlieh vom Bezirksgericht gefälltes Urteil, mit dem die Herausgabe von
zwangsverwalteten Geldkonti abgeschlagen wurde. In diesem Prozess trat der von den
Nazis eingesetzte kommissarische Verwalter des Wiener Bankhauses «Thorsch Söh-
ne» gegen dessen eigentlichen Inhaber Alfons Thorsch auf, der sich nach dem gewalt-
samen Anschluss Österreichs in die Schweiz hatte retten können. Die Zürcher Gerichte
schützten den einstigen Besitzer als rechtmässigen Vermögensträger und wiesen den
eingeklagten Zugriff auf die in der Schweiz liegenden Geldkonti ab. 45
Die zweite Kammer des gleichen Obergerichts beurteilte im Oktober 1942 den Fall
einer Enteignung samt Erbschaftsansprüchen, wobei zudem noch die international
brisante Frage impliziert wurde, ob einem neutralen Staat die Anwendung des deut-
schen Rassenrechts gegenüber britischen Staatsangehörigen zugemutet werden könne
oder nicht. Die Kläger, eine Engländerin und ein in England wohnender Jude, wollten
ihr aus Deutschland herrührendes Erbe, das Liegenschaftsbesitz in der Schweiz ent-
hielt, geschützt wissen. Die Zürcher Oberrichter hatten die Anwendung von zwei
reichsdeutschen Verordnungen zu beurteilen, nämlich die Verordnung über die Be-
handlung feindlichen Vermögens und jene berüchtigte Verordnung zum Reichsbürger-
gesetz, mit der Vermögen und Erbansprüche ausgebürgerter Juden dem Reich zufie-
len. Das Obergericht bestätigte in seinem auch international beachteten Entscheid die
Nichtanwendbarkeit der deutschen Gesetze in der Schweiz, und zwar mit der Begrün-
dung, verfassungsrechtliche Gleichheit und zivilrechtliche Rechtsfähigkeit kenne un-
ter den Gesichtspunkten der Rasse, der Staatsangehörigkeit und der Religion keine
unterschiedliche Behandlung. 46
Die Abweisung von deutschen Ansprüchen auf jüdisches Vermögen im Ausland
bzw. grundsätzlich die Abschlagung einer Verbindlichkeit von deutschen Juden- und
rassistischen Devisengesetzen durch die schweizerischen Gerichte erhielt, wie gesagt,
in der freien Welt ein gewisses Echo, weil man in der Unabhängigkeit der Gerichte den
Ausdruck einer intakten Demokratie sah. Gleichzeitig bestätigte in anderen neutralen
Staaten die Rechtsprechung die Ungültigkeit der deutschen kommissarischen Zwangs-
176 3. KAPITEL

verwaltung. Vor allem vier jeweils einstimmig gefällte Urteile des Höchsten Gerichts
von Schweden mochten der Schweiz bestätigen, dass man sich auf dem Boden der
liberalen Rechtsordnung befand.47
Auf dem harten Pflaster der Aussen- und Wirtschaftspolitik wehte indessen ein
weit stürmischerer Wind als in den von kühlen Rechtsprinzipien durchwehten Sälen
der Gerichte. Um antisemitische Politik ins Ausland tragen und dort der Gültigkeit von
Rassengesetzen zumindest Achtung verschaffen zu können, orchestrierte der Nazis-
mus in seiner ideologischen Praxis auch die Boykottierungjüdischer Exportfirmen des
Auslandes. Der Kleinstaat Schweiz nahm den deutschen Boykott jüdischer oder teil-
weise jüdischer Firmen aus dem eigenen Land protestlos hin und hoffte, seine Interes-
sen wiederum von Fall zu Fall vortragen zu können. Die militärische Bedrohung, die
versorgungsmässige Abhängigkeit vom Ausland und das wirtschaftliche Interesse an
Deutschland legten der Schweiz eine stille Hinnahme der exportmässigen Diskrimi-
nierung jüdischer Firmen durch den nördlichen Machtstaat nahe.

JÜDISCHE UHREN MADE IN SWITZERLAND:


RÜSTUNGSPOLITIK AM BEISPIEL DER «TAVANNES WATCH CO.»

Als das Reich 1941 die wirtschaftliche Verdrängung der Juden auf das Ausland
ausdehnte, indem «nichtarische Betriebe» in der Schweiz auf die Boykottliste gesetzt
wurden, versagte die altgediente Praxis, im «Einzelfall» vorzusprechen. Die deutsche
Gesandtschaft in Bem lehnte es einfach ab, in ihrer Hauptstadt wegen der schweizeri-
schen Exportwünsche von jüdischen Firmen vorstellig zu werden. Im Bundeshaus
folgerte man, dass die schweizerische Gesandtschaft in Berlin deswegen wohl «ihre
Kraft unnütz verpuffen» würde. Sobald das «Nichtariertum» von Schweizer Firmen
den deutschen Behörden bekannt werde, würden sie den Eintrag mit einem «1» auf
ihrer schwarzen Liste verfügen.
Keine rassischen Bedenken hatte das Reich einzig bei der ganz in jüdischem Besitz
stehenden «Tavannes Watch», die über die Firma Tavaro SA Uhren und Bestandteile
für Zeitzünder ins Ausland lieferte. Deutschland lag während des Krieges aus rüstungs-
technischen und kriegswirtschaftlichen Gründen viel an Importen aus der intakten
Schweizer Industrie. Umgekehrt beargwöhnte das Reich die Lieferungen von Uhren
und Bestandteilen, die kriegstechnisch einsetzbar waren, an die alliierte Seite, insbe-
sondere nach Grossbritannien. Die Schweiz war nach dem Fall Frankreichs unter
erheblichen deutschen Druck geraten und hatte den deutschen Erpressungsmanövern
nachgeben müssen. Die jüdische Firma stellte jedoch auf britische Empfehlung hin,
aber auch aus eigener Überzeugung auf eine deutlich an London orientierte Politik um.
VON FALL ZU FALL 177

Berlin drängte im Sommer 1942 in Bern «auf die Mitarbeit der Tavannes ohne
Rücksicht auf alle rassischen Bedenken». In Bern erwog man, diese Inkonsequenz an
den für Anfang 1943 anstehenden schweizerisch-deutschen Wirtschaftsverhandlungen
auszuwerten. Denn in Hinblick auf die deutsche Lage und Kriegswirtschaft sei festzu-
stellen, dass «der Boykott nicht nur eine einzelne Firma trifft, sondern, wenn er einen
gewissen Umfang annimmt, die gesamte schweizerische Wirtschaft stört», wie ein
hoher Beamter im Politischen Departement bemerkte. 48
Das Beispiel einer jüdischen Uhrenfirma zeigt drei Aspekte auf. Einmal kann im
Zusammenhang mit der deutschen Politik der «Arisierung» klar werden, dass die
Deutschen zuweilen nach opportunistischen Gesichtspunkten handelten und über die
«arische» Reinlichkeit in schweizerischen Unternehmen mit sich reden liessen. Zwei-
tens illustriert es den industriellen und technischen Trum,pf, der für die Schweiz (neben
der wichtigen Landesverteidigung und den noch wichtigeren Verkehrswegen) einen
weiteren dissuasiven Faktor Deutschland gegenüber darstellte, indem das Reich auf
Importe von Industriegütern und auf rüstungstechnische Zulieferungen angewiesen
war. Dabei wird, drittens, die äusserst heikle Position einer jüdischen Firma sichtbar,
deren Herz für die britische Seite schlug. Und viertens geben die jüdischen Uhren,
deren Produktion nicht unerheblich war, auch den Auftakt für die Behandlung der
Schweizer Juden in Italien, von denen das nachfolgende Kapitel handeln wird.
Die zitierte Äusserung eines hohen Beamten dürfte kaum übertrieben gewesen
sein. Sorgen bereitete Bern die Problematik einer jüdischen Uhrenfirma aber auch aus
anderen Gründen. Einmal fürchtete das Volkswirtschaftsdepartement den Abgang
qualifizierter Uhrenarbeiter ins Ausland, insbesondere durch Allwerbungen aus Eng-
land, aber auch aus Deutschland, die seit dem Kriegsausbruch stark zunahmen. Spani-
en hatte 1940 sogar eine Transitsperre für Schweizer verhängt, was Bern den deut-
schen Massnahmen, die britischen Allwerbungen zu torpedieren, zuschrieb. Im Ge-
gensatz dazu hatte 1938 Rothmund an einer Konferenz der kantonalen Polizeidirektoren
die vielen ausländischen Vertreter in der eigenen Uhrenindustrie, unter denen sich
nicht wenige Juden befänden, als «Überfremdungsfaktor» eingeschätzt. Knapp drei
Jahre später zeigte auch er sich besorgt über die Abwanderung fähiger Kräfte aus dem
gleichen Industriezweig. Das Volkswirtschaftsdepartement unterstrich gegenüber dem
Justiz- und Polizeidepartement den dringlichen Wunsch, aus volks- und kriegswirt-
schaftlichen Gründen die «Bemühungen ausländischer Staaten um unsere Facharbei-
ter» zu unterbinden. 49
Doch nicht der Aspekt der Facharbeiter, unter denen der relative jüdische Anteil
sich statistisch im schweizerischen Durchschnitt hielt und damit nominell gering war,
ist von Belang. Vielmehr war es der Umstand, dass mehrere Schweizer Uhren- und
Maschinenfabriken, die auch rüstungstechnisch Interessantes anzubieten hatten, in
jüdischem Besitz waren (siehe Kasten). Von den insgesamt 3950 Selbständiger-
werbenden in der Uhrenindustrie waren um 1930 mit 104 Juden 2,6 Prozent jüdische
178 3. KAPITEL

ZUM JÜDISCHEN BEITRAG IN DER


SCHWEIZER UHRENINDUSTRIE

Der nominell kleine, doch proportinal wich- Chevron, Anreole, Solvil, Juvenia und
tige jüdische Anteil an der schweizerischen Movado in La-Chaux-de-Fonds sowie die
Uhrentradition ist von wirtschafts- erwähnten Tavannes Watch Co. und Ebel
geschichtlichem Interesse. Die Tavannes SA. waren Gründungen oder zeitweise im
Watch war zwar der grösste, doch keines- Besitz von Schweizer Juden. In der Uhren-
wegs der einzige jüdische Produzent und stadt Biel firmierten ebenfalls ein Reihe von
Händler von Uhren und Präzisionsinstru- kleinen Unternehmen, die entweder selbst
menten. Dass einzelne jüdische Fabrikanten Uhrwerke montierten oder die Montage
von Basel bis Genf gerade in der Herstel- nach Auftrag in Ateliers organisierten, um
lung von Uhrwerken und insbesondere im dann die Rohwerke zu Uhren weiterzu-
Handel mit Uhren eine gewisse Rolle spiel- verarbeiten. Dazu gehörten unter anderen
ten, resultierte aus einer jahrhundertelangen die Homis Watch der aus Polen eingewan-
Erfahrung. Juden trugen im 17. und 18. Jahr- derten Familie Schymanski, die Antima
hundert, als sie wegen den ausgrenzenden Watch der Familie Antmann und Appel, die
Lebens- und Wirtschaftshemmnissen aus der Libman undLiema Watch von Siegmund
Not eine Tugend hatten machen müssen, Liebman, die Gosehier SA. mit Charles
erheblich zum Handel mit leicht beförder- Picard, dem Präsidenten der jüdischen Ge-
baren und hochwertigen Erzeugnissen bei. meinde in Biel, oder die Leon Levy Freres
Als Uhren- und Schmuckhändler stiegen sie SA. von drei Brüdern Uvy, die mit ihrem
dann Ende des 19. Jahrhunderts selbst in die Werkam Ebauches-Verfahren beteiligt wa-
Produktion ein, zuerst als Produktionsleiter, ren. Im benachbarten Solothurn war mit Leo
dann als Gründer eigener Firmen. Sie trugen Meyer in der Meyer & Stüdeli SA. ein Jude
mit innovativen Techniken, metallurgischen mit einem Nichtjuden an einer Firma betei-
Verbesserungen, Spezialisierungen und er- ligt, was in den Jahren vor 1945 eher selte-
weiterten Anwendungen zur Modernisierung ner zu sein scheint. Auch an der künstleri-
der gesamten Uhrenherstellung und schen Gestaltung von Uhren hatten Juden
Präzisionsindustrie bei. Anteil, zum Beispiel mit der Luxusmarke
Die fremde Konkurrenz aus Frankreich, Vulcain von Henri Ditisheim oder mit der
die gesamthaft aber nur teilweise aus jüdi- Marke M ovado, für die 1947 der Designer
schen Uhrmachern bestand, ist vor 1900 Nathan Horwitt das futuristische Design der
abtesbar in der damals geläufigen Unter- bekannten «Museum Safir Watch>> geschaf-
scheidung zwischen eingesessenen und el- fen hat. Insbesondere im Kanton Neuenburg,
sässischen Uhrmachern, die oft auch mit wo die jüdischen Uhrmacher einst als Vor-
antisemitischen Argumenten befehdet wur- kämpfer der Emanzipation gewirkt hatten,
den. Sehr bald integrierten sich dann die aber auch in den Städten Biel und Genf ging
jüdischen Uhrenhersteller, wie die französi- diese Entwicklung zeitlich und graduell mit
schen Uhrenfabrikanten insgesamt, in die der schnellen Integration der Juden nach
industrielle Welt entlang dem Jura. Sie nah- 1866 parallel.
men später eine nicht wegzudenkende Rolle
in der Uhrenkammer der Schweiz wahr. Quelle: Jacques Picard: Swiss made, Jüdische
Herstellerwerke für Erzeugnisse mit den Uhrenfabrikanten, in: Allmende 36/37, 1993,
Namen wie Marvin Watch in St. Immier, s. 85-105.
VON FALL ZU FALL 179

Fabrikanten und Uhrenhändler zu verzeichnen, was über dem durchschnittlichen


Bevölkerungsanteil lag. In der Schweizer Uhrenkammer, an deren Spitze 1942 Max
Petitpierre den zum Bundesrichter gewählten Albert Rais ablöste, waren in diesem
Jahr 7 von 51 Delegierten Juden, und im zwanzigköpfigen Zentralkomitee und seiner
Finanzkommissionsassen drei jüdische Uhrenuntemehmer. 50 Die Geschichte dieses
kleinen jüdischen Erfolgs lag auch in den technischen und Unternehmerischen Innova-
tionen begründet. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg glänzte der jüdische Uhrmacher
Paul Ditisheim in La Chaux-de-Fonds mit seinen technischen Entwicklungen, die
international beachtet wurden und auch durchaus im militärischen Bereich Anwen-
dung finden konnten. Darunter befanden sich hochpräzise Chronometer für die Luft-
und Seenavigation und das unter dem Namen «Sigma» bekannte Verfahren, die
Gerinnung der Ölflüssigkeit in Fluguhren zu verhindern. 51
Die Tavannes Watch Co. selbst resultierte 1892 aus der Zusammenarbeit zwischen
Henri-Frederic Sandoz, einem Selfmademan aus Le Lode, und zwei verschiedenen
Familien Schwob, die aus dem südelsässischen Raum stammten. Bereits vor dem
Ersten Weltkrieg war die Tavannes Watch Co. das viertgrösste Uhrenunternehmen der
Schweiz und für seine rationalisierten Produktionsmethoden nach amerikanischem
Vorbild ebenso bekannt wie für seine patemalistische Sozialpolitik gerühmt. Die
zwölf Nachfahren der beiden Gründerfamilien Schwob erschlossen dem Unternehmen
auf weiten Reisen von Sibirien bis Brasilien neue Absatzmärkte und vertrieben über
die Tochterfirma Cyma SA Millionen von Uhren. Vor und während dem Zweiten
Weltkrieg befand sich das Unternehmen trotz der Krise in der Uhrenindustrie auf der
Höhe der Zeit. Erst in der späten Nachkriegszeit ist die Schwob Freres & Cie. SA in die
neu gegründete Cyma Watch Co. SA eingegliedert worden, und die Tavannes Watch
Co. ging 1966 endgültig an die Ebauches SA und die Chronos SA über. 52
Bereits vor 1940 waren die Tavannes Watch und weitere jüdische Unternehmen-
natürlich im Konzert mit mehreren schweizerischen Uhrenproduzenten - im rüstungs-
technischen Bereich tätig und so auch in jene halb- und illegalen Durchbrechungsver-
suche der deutschen Gegenblockade involviert, die ständig die deutsche Abwehr
beschäftigte. Abgewickelt wurde dieser Handel über einsame Juraübergänge oder
durch die Lücke zwischen Genf und St-Gingolph, die seit Juni 1940 von grösserer
Bedeutung für die Schweiz war. Den nach Westen vorstossenden deutschen Truppen
war damals beinahe die gesamte Umschliessung der Schweiz gelungen, doch blieb im
genferischen Südwestzipfel des Landes eine Lücke nach dem unbesetzten Frankreich
hin offen. Nur am Rand sei vorausgeschickt, dass diese Lücke auch Transitweg für
Emigrantenzüge war, die wöchentlich die Schweiz in Richtung spanischer und portu-
giesischer Einschiffungshäfen verliessen, und zwar aufgrund eines stillen Arrangements
der eidgenössischen Fremdenpolizei mit den deutschen Stellen, die im schweizeri-
schen Zollbüro eigenhändig das Gepäck der ausreisenden Transrnigranten kontrollier-
ten.
180 3. KAPITEL

Im Gegensatz zu diesem heimlichen Arrangement ging die Schweiz in Sachen


Kriegswirtschaft offiziell und neutralitätswidrig auf fremde Export- und Handels-
kontrollen ein. Sie verpflichtete sich während des gegenseitigen Wirtschaftskrieges
der Grossmächte, die sich mit Blockade und Gegenblockade wirtschaftlich abzu-
schnüren suchten, gegenüber dem deutschen Oberkommando der Wehrmacht (OKW)
zu einer Haltung, die einer indirekten Mitwirkung an deutschen Massnahmen gleich-
kam. Dabei verbot der Bundesrat auf deutsche Pressionen hin die Warenausfuhren im
normalen Postverkehr. Dieses erzwungene Abkommen, das ein Jahr nach Beginn des
deutsch-französischen Waffenstillstands in Kraft trat, beendete die bis dahin legale
Durchbrechung der deutschen Gegenblockade mittels zwei Kilogramm schwerer Pa-
kete, die kriegswichtige Uhrensteine und andere präzisions- und kleinmechanische
Bestandteile für die Westmächte enthielten. So erhielt die wirtschaftliche Untergrund-
tätigkeit kriegstechnisch eine erhebliche Bedeutung, belief sich die Produktion allein
von Zünduhren für England auf geschätzte 7000 Stück pro Monat. Nach italienischen
Feststellungen sollen täglich viele Lastwagen mit für England bestimmten Waren
gefahren und die Zahl der versandten Pakete in die Hunderte gegangen sein. Und eine
handelsstatistische Vergleichsanalyse der deutschen Gesandtschaft in Bem kam zum
Schluss, dass unter Umgehung des Geleitscheinverfahrens beträchtliche Mengen
bewilligungspflichtiger Güter nach Feindländern illegal ausgeführt worden seien.
Zunächst dank der Grenzlücke zwischen Genf und Hochsavoyen abgewickelt, die als
Schmuggellinie oder Transitdurchschlupf diente, wurde der Export ab Juli 1941 durch
vorgetäuschte Übersee-Zielländer, fehldeklarierte Passierscheine oder die Zusammen-
arbeit mit ausländischen Firmen organisiert. Besonders der Umstand, dass sich
Zünduhren in kleine und standardisierte Einzelteile zerlegen liessen und getrennt
exportiert werden konnten, hat die reichsdeutsche Abwehr beschäftigt.53
In einem Bericht listete das Abwehrreferat in Berlin elf Hersteller auf, die man der
illegalen Ausfuhr verdächtigte, und legte auch eine Einschätzung über ihre deutsch-
feindliche Haltung vor. Darunter befanden sich auch die als jüdisch verdächtigten
Firmen Tavannes Watch Co. der Gehrüder Schwob und die Ebel SA. Von der Tavannes
Watch Co. wusste die Abwehr zu berichten, dass sie mit der Tavaro SA zum Mefina-
Konzem gehöre, in dem angeblich die «Nichtarier» Schwob aus La Chaux-de-Fonds,
Hopf aus Basel und Salmanowicz aus Genf massgebend seien. Der jüdische Kapitalan-
teil an der 1934 gegründeten Mefina, die als Holding in Fribourg und Binningen
residierte, war zwar erheblich, doch minoritär und viel geringer, als es die Deutschen
vermutet hatten. Bedeutsam hingegen waren das technische Know-how, die Erfindun-
gen und Patente der Tavannes Watch Co., die durch deren Tochter Cyma SA kommer-
ziell vertrieben wurden und in die Mefina-Holding eingebracht worden waren. Die
jüdischen Verwaltungsräte verfolgten aus dieser Position der Stärke eine Taktik, die
darauf ausgerichtet war, die Deutschen möglichst vom Verdacht abzulenken, dass man
den Alliierten in die Hände spielte. Sie zogen sich 1937 aus der Holding-Leitung sowie
VON FALL ZU FALL 181

aus der Mefina-Tochter Tavaro SA zurück, um den Eindruck einer «arisierten» Firma
zu erwecken. Die Tavaro SA, als Mefina-Produktionswerk auch für die Herstellung
der Erfindungen aus der Tavannes Watch Co. zuständig, ist nach dem Krieg durch die
britische Seite für ihre kriegswirtschaftliche Parteinahme ausgezeichnet worden. 54
Was den Deutschen entgangen war, liess sich in der Schweizer Presse von 1936
nachlesen, nämlich die Kontroverse um ein Abkommen, das zwischen der Tavannes
Watch und der Sowjetunion angebahnt worden war und infolge öffentlicher Kritik
platzte. Die UdSSR hatte bereits 1929 ein Werk der amerikanischen Firma Duebes
Hampden Watch Co. in Ohio aufgekauft, zerlegt und nach Russland transportiert, um
sich technisches Know-how anzueignen. Nun sollte die Schweizer Firma in der Art
eines Joint-venture die nötigen und erst noch verbesserten Produktionstechnologien
vermitteln. Die liberale Presse im Land lief gegen die «marxistischen und nicht-
marxistischen Direktoren» der Tavannes Watch Sturm und fürchtete einen technologi-
schen Ausverkauf der Heimat, die Abwanderung von Fachkräften nach dem Ausland
und den Verlust von Absatzmärkten.55 Angesichts der antibolschewistischen Stim-
mung auch in der Schweiz ist kaum auszudenken, welcher politische Druck sich hier
hätte ausüben lassen.
Das meistgesuchte Produkt des Unternehmens, das zuerst die Sowjets, dann Frank-
reich und schliesslich das deutsche OKW sowie die Italiener interessierte, war freilich
nicht ein Uhrwerk, sondern eine seit 1932 entwickelte Präzisionsfräse mit dem Namen
«Gyromatic», die nicht in erster Linie für kriegstechnische Verwendung entwickelt
worden war. Im Gegensatz zu den bisher üblichen Werkbänken konnte die Fräse
vertikal statt horizontal aufgestellt werden, was sowohl Produktivität wie Serienkadenz
erhöhte. Diese Entwicklung erlaubte nicht nur eine schnellere Bearbeitung in grosser
Stückzahl, sondern garantierte ein hochpräzises Arbeiten. Die schweizerischen Dreh-
automaten waren zudem von leichterem Gewicht als die schwerfälligen Horizontal-
bänke und billiger im Preis als jedes vergleichbare Produkt der internationalen Kon-
kurrenz, insbesondere der führenden Unternehmen wie A. H. Schütte in Köln oder
Gridley im amerikanischen Windsor. Hergestellt wurde das Schweizer Produkt in der
Tavannes Machines SA, die als eigenständiger Betrieb 1937 aus dem hauseigenen
Atelier der Tavannes Uhrenfabrik hervorgegangen war.
Die «Gyromatic» wurde zuerst bei der Herstellung von Teil- und Halbfabrikaten
eingesetzt, wie sie in Kunststoff- und Textilmaschinen, Fahrwerken und Rollvor-
richtungen, Landwirtschaftsmaschinen, Pumpen und Messwerken oder Elektro- und
Funkapparaten zu finden waren. Doch neben der Produktion von Drehkolben, Pumpen-
teilen oder Zündkerzen erlaubte der hochpräzise Automat eine schnelle und genaue
Bearbeitung von Geschossläufen, Zündern, Projektilen oder Bombenschalen in der
Waffen- und Munitionsherstellung, die nach hohen Kapazitäten verlangte. In einem
internen Bericht der Firma vom Februar 1937 wurde bemerkt, dass nicht nur die
sowjetische Anbau- und Industrieschlacht Bestellungen von über tausend Maschinen
182 3. KAPITEL

erwarten lasse, sondern die weitaus grösste Zahl der nun verkauften Präzisionsfräsen
in die Kriegsindustrie gehen würde. Zweihundert Fräsmaschinen waren allein für die
Munitionsfabrik Altdorf vorgesehen, wobei allerdings nur die Hälfte bestellt wurde.56
Im Oktober 1939 orderte das französische Kriegsministerium einen Grossauftrag
für fast acht Millionen Franken, der bis Mitte 1941 in monatlichen Lieferungen von 15
Stück zu erfüllen war. Im Frühling 1942, zwei Jahre nach der französischen Niederla-
ge, sprachen dann drei hohe Offiziere des OKW bei der jüdischen Firma vor. Unter
Hinweis auf die geheime französische Bestellung von 1938 wünschten die Herren über
die Berliner Firma Thielicke & Co. rund 1000 der begehrten Fräsautomaten zu
erhalten, von denen ein Stück mehr als 60'000 Franken gekostet hätte. Theodor
Schwob, Direktor der Tavannes Machines, durch seine doppelte Rolle als Bürger eines
neutralen Staates und als jüdischer Firmeninhaber in einer heiklen Position, brachte
zur Ausrede vor, dass die Firma über derart grosse Kapazitäten gar nicht verfüge. Die
Tavannes Machines lehnte auch einen Tarnrückkauf von einst für Frankreich be-
stimmten 40 «Gyromatics» ab, die durch einen angeblich französischen Diplomaten
mit dem sinnreichen Namen «Monsieur Changeur» für die Deutschen hätten umgerüstet
werden sollen, um grösser ausgefräste Zünderteile zu produzieren. Schliesslich gab
man Ende 1942, nach einer Periode der Hinhaltetaktik, scheinbar nach. Die Tavannes
Machines stellten in Aussicht, in den kommenden Jahren vier anstaU der gewünschten
acht Automaten pro Monat liefern zu wollen, die man freilich technisch gernäss den
deutschen Wünschen erst adaptieren müsse, was bis Mitte 1943 dauern werde. Die
Thielicke & Co. zeigte sich Ende 1942 immer noch äusserst unzufrieden, ergab sich
aber in den scheinbaren Engpass, mit dem das OKW offensichtlich hingehalten wurde.
Auch gegenüber Bestellungen seitens der italienischen Rüstungsfirma C. E. M. S. A.
in Saronno setzte die Tavannes die Taktik der Lieferverzögerung ein. Die Italiener
beschwerten sich im Januar 1943, dass die Tavannes Machines «mit ihrer übermässigen
Starrheit eine beträchtliche Verzögerung in der Auslieferung der bestellten Maschinen
herbeigeführt und demzufolge eine Stockung in der Heeresfabrikation des Kunden
verursacht» hätte. 57
Das Beispiel Tavannes Watch und Tavannes Machines zeigt die Vektoren des
jüdischen Dilemmas: das vorsichtig taktierende Ausweichen ist das Resultat der
unangenehmen Stellung als «nichtarische» Schweizer Firma, welche die Exportpolitik
des neutralen Kleinstaates, der sich nach deutschen Wünschen und Rüstungsbedürfnissen
zu strecken hatte, nicht ohne weiteres mit einem abrupten Boykott beantworten konn-
te. Zu den deutschen Erpressungsmanövern gegenüber der Schweiz allgemein kam,
dass die Deutschen offenkundig von den Lieferungen der Tavannes Machines an
Frankreich wussten und dies auspielten. Nicht nur die Maschinenfabrik, sondern auch
die Tavannes Watch schien nach den Abwehrlisten «deutschfeindlich» und somit
verdächtig zu sein, auch wenn aus Schwobs Notizen nicht hervorgeht, dass die
Deutschen bei ihren wiederholten Besuchen einen Verdacht geäussert hätten, der die
VON FALL ZU FALL 183

Rolle der Firma in der Mefma-Holding betraf. Den Deutschen war und blieb das
Qualitätsprodukt und eine grosse Bestellung offenbar so wichtig, dass sie sich moderat
zeigten. Was die beiden hohen Offiziere Rössel und Wrangel vorbrachten, war einzig
die höfliche «Entschuldigung», die Thielicke & Co. vorschieben zu müssen, weil man
als OKW-Vertreter mit einem jüdischen Haus leider nicht direkt verkehren könne.
Schwob gab schlagfertig zur Antwort, man sei leider «trop petit», womit er wohl die
Firma und die Juden gemeint hat. Diese Taktik, sich neutral höflich zu geben, um für
die Alliierten zu sein, ohne die Deutschen zu reizen, war sehr geschickt.
In den Verdacht, die Alliierten zu bevorzugen, fielen nicht nur die jüdischen
Produzenten, sondern auch die Spediteure und technischen Kontrollfirmen. Besonders
verdächtig schien den Deutschen die Person von Jacques Salmanowicz, der früher gar
rumänischer Generalkonsul gewesen war und nun als Direktor der Genfer Societe
Generale de Surveillance waltete. In der Tat war Salmanowicz nicht nur gutbetucht
und auch als Mäzen seiner jüdischen Gemeinde in Genf von einiger Wichtigkeit. Die
Surveillance beschäftigte sich hauptsächlich mit Qualitätskontrollen technischer Spitzen-
produkte und war auch für deren Spedition besorgt. Kein Wunder ist es daher, dass
diese Firma, aber auch andere Speditionshäuser, wie die Danzas & Co und Jacky
Maeder, den übereifrigen Deutschen als Unternehmen «in jüdisch-freimaurerischen
Händen» erschienen und als «im englischen Nachrichtendienst befindlich» gemeldet
wurden. 58 Solche Hinweise aus deutscher und vornehmlich italienischer Quelle waren
oft unpräzis und müssten genauer verifiziert werden, um als gesichert zu gelten.
Vermutlich dürften sie oft unwahr oder übertrieben gewesen sein. Doch kann trotz des
sehr kleinen Anteils im gesamten Industriezweig die Rolle der jüdischen Hersteller
und Exporteure von Uhren und Präzisionsmechanik in den halblegalen Aktivitäten
zugunsten der Alliierten festgestellt werden.

ANGESICHTS VON FARCEN UND REVANCHEN:


DIE SCHWEIZER JUDEN IN ITALIEN UND FRANKREICH 1940 BIS 1943

Nicht nur der deutsche Boykott bringt die jüdischen Uhrenhersteller politisch in den
Blick, sondern die merkwürdige Verweigerung von Handelslizenzen für Vertreter und
Verkäufer von Uhren im faschistischen Italien und Spanien. Um die Rassengesetze im
südlichen Nachbarland der Schweiz als Konfliktpotential zu verstehen, hat man sich
zunächst in den Neuenburger Jura, nach La Chaux-de-Fonds, dicht an die Grenze zu
Frankreich, zu begeben. Im Oktober 1938 meldete sich aus dieser Uhrenstadt Natio-
nalrat Albert Rais, Präsident der schweizerischen Uhrenkammer, bei Bundesrat Motta.
Seitdem in Italien dem schweizerischen Vertreter der Uhrenfirma Ebel die Lizenz
184 3. KAPITEL

verweigert worden war, weil er jüdisch war, fürchtete Rais negative Folgen für weitere
Uhrenfirmen, deren Besitzer oder Vertreter im Ausland Schweizer Juden waren. Motta
wusste indessen von keinen antijüdischen Gesetzen in Italien, die zu diesem Zeitpunkt
tatsächlich erst in Vorbereitung waren. Er speiste Rais mit der Antwort ab, sich nicht in
innere italienische Angelegenheiten einzumischen. Inzwischen meldete der schweize-
rische Gesandte aus Rom, Paul Rüegger, was es mit den jüdischen Schweizer Firmen
und Vertretern in Italien auf sich hatte: Zwischen einzelnen Ministerien und Quästuren
war ein Gerangel um Kompetenzen im Gang, Lizenzen und Patente erteilen zu dürfen,
wobei antisemitische Profliierung einen Teil der gegenseitigen Beschuldigungen aus-
machte. Der Gesandte empfahl, im Interesse der Uhrenkammer vorerst keine jüdi-
schen Handelsreisenden mehr nach Italien zu schicken. Kurz vor Jahresende 1938
setzten Rais und Paul Blum,. Uhrenfabrikant und Präsident der jüdischen Gemeinde
von La Chaux-de-Fonds, bei Motta gemeinsam Druck auf, ohne dass freilich Rüegger,
der in Rom intervenierte, später etwas für die Uhrenkammer erreichte.59

Die Schweizer Juden in Italien

Rüegger hatte den Bundesrat bereits früher vor einer italienischen Variante des
Rassismus gewarnt und der Auswärtigen Abteilung Presseausschnitte und Manifeste
faschistischer Intellektueller übermittelt. Auch einzelne Schweizer Zeitungen berichte-
ten über die auf dem Weg kultureller Propaganda abgewickelte antisemitische
Instrumentierung der italienischen Politik. Seit dort die faschistische «Controffensiva»
die italienische Nation gegen die angebliche «Ebraica internationale», deren Zentrale
man in Genf ausmachte, verteidigen wollte, suchte sich Farinacci dafür die rund
40'000 italienischen Juden, aber noch viel mehr die ausländischen Juden in Italien als
Zielscheibe aus. Artikel aus der Feder von Roberto Farinacci machten schnell Sensati-
on in Rom, weil dieser Autor Staatsminister war. Seine Bemerkungen über die Neutra-
lität des alpinen Kleinstaates, wie die italienischen Presseattacken gegen die Schweiz
und die Schweizer Presse ganz allgemein, schienen deutlich inspiriert von den
propagandistischen Feldzügen Hitlerdeutschlands. 60
Deutlich wurde die ideologische Nachrüstung auch bei der italienischen Nachah-
mung der deutschen Rassengesetze: Das Gesetz zur Verteidigung der italienischen
Rasse wurde nur kurze Zeit nach der deutschen Reichspogromnacht, am 15. Novem-
ber, erlassen. Bereitsam 2. September war in einem Dekret des italienischen Minister-
rats die Ausweisung aller ausländischen Juden binnen sechs Monaten angeordnet
worden. Betroffen von dieser Ausweisungsmassaahme waren mehr als 20'000 auslän-
dische Juden in Italien und dessen Kolonien, darunter 129 Schweizer, die also eine
sehr geringe Zahl ausmachten. Die italienischen Faschisten suchten die antisemitische
Dynamik in erster Linie auf die ausländischen Juden zu lenken, um mit ihrer Farce den
VON FALL ZU FALL 185

deutschen Verbündeten zu imponieren und die Regierungen der liberalen Staaten zu


provozieren. 61
Die niederländische Regierung erklärte als erste, mit dem Hinweis auf den bilatera-
len Niederlassungsvertrag, die Ungültigkeit der Ausweisung für alle ihre Staatsbürger.
Die Vereinigten Staaten, wo rund 70'000 Italiener lebten, drohten im Gegenzug
Konsequenzen an und wollten keine EinzeWille vorlegen, um ihre grundsätzliche
Ablehnung zu demonstrieren. Danach folgten die Interventionen Frankreichs,
Grossbritanniens und anderer Staaten. Bis zum Frühjahr 1939 zeichnete sich, dank der
Rückenstärkung durch die ausländischen Mächte, auch eine Verweigerungshaltung
der jüdischen Bürger dieser Länder ab, die Italien vor dem Stichtag vom 12. März
1939 zu verlassen nicht bereit waren. Bern blieb trotz der starken Haltung des Aus-
lands zunächst zurückhaltend, indem das gegenüber Deutschland augewandte Verfah-
ren eingehalten wurde, nur in einzelnen Fällen auf Verlangen von Schweizer Juden
vorzusprechen. Rüegger hatte im Oktober 1938 entsprechende Weisung an seine
Konsulate erteilt und legte Ende November und nochmals Ende Dezember 1938 in
Verbalnoten insgesamt 21 Einzelfälle der italienischen Regierung vor. Im Rahmen des
ihm von Bern angewiesenen Verhaltens suchte der Diplomat, der sonst allen italieni-
schen Druckversuchen auf die Schweiz mit Festigkeit begegnete, sein Möglichstes
herauszuholen und riet den jüdischen Schweizern, vorerst abzuwarten und auszu-
harren. Angesichts der internationalen Proteste schoben die Italiener in der Tat die
Zwangsausweisung ausländischer Juden auf unbestimmte Zeit auf und verwässerten
im August 1939 ihre gesamte Rassengesetzgebung mit einer Verordnung, die es
erlaubte, einen Juden einfach nicht als Juden zu deklarieren. 62
Rüegger durchschaute diese Farce als das, was sie war: In Rom spielte man
effektvoll Görings Wort «Wer Jude ist, das bestimme ich» vor. Der Schweizer Ge-
sandte liess sich davon nicht beeindrucken und hielt eine Linie ein, die mit Festigkeit
jede unnötige Provokation zu meiden suchte. Rüegger zog aus den Anweisungen
Berns, nur in Einzelfällen vorzusprechen, nicht wie Frölicher in Berlin den Schluss,
dem Druck nachzugeben. Er nahm den einzelnen Fall zur Gelegenheit, sich durch
Hartnäckigkeit die Achtung von hochgestellten Italienern in Regierungsämtern wie
frondierenden Hofkreisen zu verschaffen. Dazu gehörte später auch, dass sich die
Schweiz einen Namen als diplomatische Makletin machen konnte, indem sie, nach
dem Kriegseintritt der USA, die Interessen Italiens und der Italiener im Ausland
wahrnahm. Wie wirkungsvoll die rührige Politik Rüeggers bereits 1938 war, dem das
Departement in Bern nicht immer zu folgen wusste, zeigte sich im Sommer 1940, als
Italien die Schweiz provozierte, indem zahlreiche Schweizer verhaftet, verhört, ausge-
wiesen und ohne einen juristischen oder konsularischen Beistand gelassen wurden.
Jederzeit liess sich diese Behandlung schweizerischer Juden auf die übrigen Schweizer
ausdehnen, wenn solches dem faschistischen Regime nur das geeignete Instrument für
seine politische Taktik abgeben mochte.
186 3. KAPITEL

Einig waren sich Bem und Rüegger, als es um die kleinliche «Reinhaltung» in
einer pädagogischen Sache ging. Die Schweizer Schulen in Mailand und Genua
standen nämlich vor der Frage, wie der Artikel 8 der italienischen Rassengesetze
auszulegen sei, wonach in öffentlichen und privaten Schulen Kinder aus volljüdischen
wie gemischten Ehen auszuschliessen seien. In Mailand besuchten acht der insgesamt
47 jüdischen Schweizerkinder in Italien die Schweizer Schule, aber auch 70 italieni-
sche Kinder nichtjüdischer Herkunft waren eingeschrieben. Illustrativ ist der besonde-
re Fall eines Zürcher Auslandschweizers, der mit einer italienischen Jüdin verheiratet
war und deren evangelisch getauften Kinder nun von den italienischen Schulen ausge-
schlossen wurden. Der Schulrat entschied als erstes, alle jüdischen Kinder, ob mit
Schweizer Bürgerrecht oder nicht, vorläufig vom Schulbesuch zu suspendieren und bis
auf weiteres die Weisungen von der eigenen Gesandtschaft zu diesem Problem abzu-
warten.
Die Schweizer Gesandtschaft und ihr mailändisches Generalkonsulat fürchteten
zunächst die plötzliche Anmeldung von italienischen oder ausländischen Judenkindem
für die Schweizer Schulen. Man glaubte, dem Druck italienischer Lokalbehörden
insofern nachgeben zu müssen, dass man grundsätzlich die nichtschweizerischen
Judenkinder von der Schule weisen wollte. Für die jüdischen Schweizerkinder sollte
eine Demarche in Rom Erfolg bringen, doch von der Auswärtigen Abteilung kam die
gegenteilige Anweisung, dass dies den Preis nicht wert sei. Ausserdem wies Feldscher
darauf hin, dass man sich beim Justiz- und Polizeidepartement über die jüdische oder
nichtjüdische Herkunft von schweizerischen Kindem erkundigen könne. In jedem Fall
seien aber nichtschweizerische Judenkinder von den Schulen femzuhalten. In Bem
suchte sich am 14. Dezember 1938 Motta bei seinem katholisch-konservativen
Bundesratskollegen Phitipp Etter, in dessen Departement die Schweizer Schulen fie-
len, der Richtigkeit des Vorgehens zu versichern, das auf mehr als einen Ausschluss
der nichtschweizerischen Judenkinder hinauslief: «11 ne serait pas indique, anotre avis,
de conseiller a ces ecoles de rester intransigeantes et de renoncer plutöt a leurs eleves
italiens. Sans parler du cote financier de la question, il est fort possible que nos
compatriotes juifs seront forces de quitter peu apeu l'Italie et nos ecoles se trouveraient
avoir compromis leurs moyens d'existence sans avoir empeche le depart de leurs
eleves israelites.» Etter erklärte sich nach drei Monaten einverstanden. Statt Druck
aufzusetzen und den Wert der Schweizer Schulen auch für jene gehobenen italieni-
schen Familien zu begreifen, die es sich leisten wollten, ihre Kinder dahin zu schicken,
steckten Motta, Etter und Rüegger rassenkonform zurück. 63
In Italien blies den ausländischen Juden erst seit dem Spätsommer 1941 und im
Herbst 1942 wieder ein schärferer Wind ins Gesicht: Das italienische Finanzministerium
erwirkte die Ausschaltung von Juden aus Börsen- und Bankgeschäften, nachdem im
Jahr zuvor allgemeine wirtschaftliche Massnahmen verfügt worden waren. Nach
deutschem Strickmuster hätten alle jüdischen Firmen und nicht «reinrassigen» Gesell-
VON FALL ZU FALL 187

schatten aus Italien verdrängt werden sollen. Die schweizerische Handelskammer in


Mailand beruhigte den Schweizer Gesandten in Rom: Die meisten «nichtarischen»
Firmen seien inzwischen so gründlich getarnt, dass die neuen Verfügungen praktisch
wirkungslos bleiben würden. Der neue Geschäftsträger in Rom, Peter Anton von Salis,
erachtete diesen Vorteil als Grund, aufjegliche Protestschritte verzichten zu können.
Mit der gleichen vornehmen Distanziertheit hielt sich von Salis vorerst ebenso
zurück, als ein Jahr später, Ende 1943, in der Folge des italienischen Frontwechsels zu
den Alliierten unter Badoglio und der deutschen Gegenmassnahme, deutsche SS und
italienische Faschisten mit Verfolgungen, Erschiessungen und Judendeportationen
einsetzten. Dies hatte in Bern sogar die Fremdenpolizei als Grund angesehen, ihren
eigenen Juden gegenüber, dem SIG also, eine Änderung der bisherigen Rückweisungs-
praxis gegenüber Flüchtlingen vorsichtig anzudeuten. Angesichts des Schicksals der
italienischen Juden protestierte der schweizerische Generalkonsul in Mailand vehement
gegen die Verschleppungen, von denen bald auch ausländische Juden betroffen waren.
Die letzten 20 Schweizer Juden in Italien konnten durch rasche Interventionen Berns in
Berlin und vor allem bei lokalen italienischen Stellen vor einem Zugriff der ohnehin
eingebrochenen Achsenmächte geschützt werden, bis im März 1944 die Rassen-
gesetze durch die Regierung Badoglio aufgehoben wurden. 64 Sechs Jahre nach dem
Erlass der Rassengesetze, fast auf den Tag genau, erhielten im November 1944 die in-
und ausländischen Juden Kenntnis davon, dass sie in Italien wieder in ihre Rechte als
normale Bürger ihrer Staaten eingesetzt worden waren. 65 Die jüdischen Eidgenossen
konnten damit wieder ihrer Arbeit als Schüler oder Uhrenvertreter nachgehen.

Die Schweizer Juden in Frankreich

Keine Farcen und Drohgebärden, sondern die bald gründliche «Lösung der Juden-
frage» mittels Kollaboration zwischen einzelnen Landes- und Besatzungsbehörden
kennzeichnete indessen die Judenpolitik im deutsch besetzten Frankreich sowie in
Belgien, den Niederlanden und Luxemburg, die 1940 zu den Opfern von Hitlers
Wehrmacht geworden waren. Je nach Land und Umständen trafen die deutschen
Besatzer dabei bei Regierungen und Polizeibehörden auf unterschiedliche Bereitschaft
zur Kollaboration hinsichtlich der Behandlung der jüdischen Bevölkerung. Bekannt
geworden ist der breite Widerstand gegen die deutsche Judenpolitik in Dänemark und
die Rettung der dänischen Juden. Die Nazipolitik gegenüber den Juden im besetzten
Westeuropa entwickelte sich in drei Phasen, in denen sich die strategischen Überle-
gungen des «Dritten Reiches» insgesamt spiegeln.
Vom April 1940 bis Herbst 1941 erliessen die zuständigen deutschen Militär-
befehlshaber (MBF) in diesen Ländern provisorisch wirkende Massnahmen, die auf
eine Kontrolle der jüdischen Organisationen und Personen hinausliefen, deren Eigen-
188 3. KAPITEL

turn die Besatzer zu konfiszieren suchten. Eine zweite Phase erfolgte nach Hitlers
Einfall in die Sowjetunion und war während der ersten Jahreshälfte 1942 auch im
Westen charakterisiert durch die Systematisierung der Entrechtung und Verfolgungen,
so durch das Verbot der Ausreise, das Tragen des Judensterns, die regionenweise
Konzentrierung in Ghettos und Lagern. In einer dritten Phase, von Mitte 1942 bis zum
Ende des Kriegs im Westen, setzten ab Juni 1942 die Deportationen nach den deut-
schen Vernichtungslagern im osteuropäischen Raum ein. Im wesentlichen lief in den
einzelnen Ländern im Westen und Norden, die vom Reich besetzt worden waren, die
deutsche Judenverfolgung zeitlich gleichförmig ab. 66
Zu vermerken sind die unterschiedlichen Intentionen der deutschen Judenverfol-
gungen in den einzelnen Phasen, weil dies für die ausländischen Juden, unter ihnen
mehrerere hundert Schweizer Familien, Folgen zeitigte. Nach der Niederlage Frank-
reichs im Juni 1940 und seiner Teilung in eine besetzte Nordzone und das unbesetzte
Vichy-Frankreich betrachteten die Nazis die freie Südzone als Zielraum einer Ab-
schiebungspolitik, die vor allem den eigenen Staatsbürgern galt, aber als ganzes der
antisemitischen Ideologie einer erzwungenen «Auswanderung» der Juden aus Buropa
dienen sollte. Auch die Rücksichten auf das Einvernehmen mit den lokalen Behörden
wie mit den Autoritäten in Vichy legte als erstes noch eine vorsichtige Gangart nahe.
Im Gegensatz zu diesem mehr provisorischen Abwarten, während dem die ausländi-
schen Juden nicht belangt wurden, und auch ganz im Gegensatz zur politischen wie
geografischen Stossrichtung der deutschen Abschiebungspraxis zeichnete sich bereits
vor Mitte 1941 die mörderische Absicht ab, planvoll und ausnahmslos alle Juden zu
erfassen und später nach Osten zu deport~eren. Deutlichstes Kennzeichen und Auftakt
für diese Politik war das Verbot der Emigration vom Oktober 1941 und seine Ausdeh-
nung auf die deutsch besetzten Gebiete. Parallel dazu setzte ab Juni 1941 auch das
Vichy-Regime im Süden eine antisemitische Judengesetzgebung .in Gang, auf die
weiter unten noch eingegangen wird. An der den Deportationen vorangegangenen
«Arisierung» des jüdischen Vermögens in allen diesen Ländern wird schliesslich
deutlich, dass die Nazipolitik auch auf eine Verdrängung aller ausländischen Juden
setzte, deren fremde Staatsangehörigkeit seit Ende 1942 keinen Schutz mehr vor
Deportationen garantierte.
In der Südzone, wo sich nach dem Zusammenbruch Frankreichs das rechts-
autoritäre Vichy-Regime unter Marschall Petain installiert hatte, verschlechterte sich
die Stellung der Juden zusehends. Die französische Bischofskonferenz beeilte sich,
Petain ihrer Loyalität zu versichern. Ende März 1941 wurde in Vichy, auf Druck des
Nazigesandten Otto Abetz, das Commissariat aux questions juives eingerichtet, das
zunächst in den Händen von Xavier Vallat lag, einem katholisch-konservativen
Antisemiten und Verehrer von Charles Maurras. Ab Juni 1941 setzte unter Minister-
präsident Pierre Laval eine mit zahlreichen Dekreten operierende Judengesetzgebung
ein, der seit Herbst 1941 mit einem repressiven Instrument, der Police aux questions
VON FALL ZU FALL 189

juives, Geltung verschafft wurde. Dieser Einsatz von Gesetzen und Polizei war vor
allem als Jurisdiktion bedeutungsvoll, weil sie übergreifend in beiden Zonen, das
heisst im besetzten wie unbesetzten Frankreich, Geltung hatte. 67
In Bern sind diese neuen Gesetze eingehend und sofort zur Kenntnis genommen
worden. Der Schweizer Gesandte Walter Stucki brachte zwar sehrviel Verständnis für
den rechtsautoritären Kurs von Vichy auf, doch keineswegs für die deutsche Politik
und schon gar nicht für die ihn empörenden antisemitischen Massnahmen, über die
Stucki in der französischen Bevölkerung weitgehende Gleichgültigkeit konstatierte. In
der schweizerischen Presse wurden die Verschärfungen der judenfeindlichen Gesetze
und später die Verschleppungen aus beiden Teilen Frankreichs ebenfalls gemeldet. 68
Offensichtlich schien ein Teil der französischen Gesellschaft, die einem konservativen
Nationalismus huldigte, die Juden für die militärische Niederlage mitverantwortlich
machen zu wollen. Aktive französische Antisemiten betrieben offen oder versteckt die
Kollaboration mit den deutschen Nazis, die ab September 1942 in Deportationen aus
den südfranzösischen Lagern nach der Nordzone und von dort nach den Vernichtungs-
lagern im Osten gipfelte.
Die härtere Gangart, für die sich der neu ernannte deutsche Botschafter in Frank-
reich, Otto Abetz, in Berlin eingesetzt hatte, wird unter anderem deutlich an der Frage,
wieweit die seit dem Mai 1940 erlassenen Verordnungen des MBF auch für Juden
fremder Staatsangehörigkeit gültig sein sollten. Die ersten für Frankreich erlassenen
antijüdischen Bestimmungen sollten jetzt neuerdings, wie der Verwaltungsstab beim
MBF in Frankreich an Staatssekretär von Weizsäcker in Berlin mitteilte, auf ausländi-
sche Juden Anwendung finden, wenn auch abgestimmt auf aussenpolitische Rück-
sichten. Das hiess, aus Berliner Sicht, für den Kleinstaat Schweiz ohnehin, sich nach
den deutschen Wünschen zu richten. «Die Verordnungen sehen keine Ausnahmen zu
Gunstender Juden vor, die Angehörige neutraler Staaten sind», vermerkte im Februar
1941 der zuständige Staatsminister Schmid. Dies war bereits im Sinne von Goebbels
Verlangen nach einer Kennzeichnung der Reichsjuden mit dem Davidstern, bei dessen
möglicher Einführung auch für ausländische Juden Weizsäckers Unterstaatssekretär
Martin Luther im August «einem Protest der Schweizer oder schwedischen Regierung
m. E. ruhig entgegensehen» wollte. 69
Im gleichen Monat brachte eine Verhaftungswelle in Paris zahlreiche ausländische
Juden in deutsche Hände und Lager. Abetz und der Militärbefehlshaber, General Otto
von Stülpnagel, monierten bei Weizsäcker, dass fremde Staatsangehörigkeit bei den
verhafteten Juden kein Grund zur Freilassung sein könne. Die Zahl der bis Ende Oktober
verhafteten jüdischen Ausländer belief sich auf 5841 Menschen aus 28 Ländern, davon
allein 3469 Polen, und war fünfmal so hoch wie diejenige der französischen Staatsan-
gehörigen. Nach den Zahlen der Pariser Polizeipräfektur lebten in der Pariser Bannmeile
mehr als 148 '000 Juden, wovon die Hälfte einen ausländischen Pass besass. Weizsäcker,
der später vom Nürnberger Kriegsgericht vor allem wegen seiner Beihilfe zu den
190 3. KAPITEL

Judendeportationen aus Frankreich angeklagt werden sollte/0 unterschied hier, bei den
ausländischen Juden, zwischen europäischen und amerikanischen Staaten. Für die Ver-
haftung von Juden europäischer Staaten, insbesondere bei den Neutralen, sah er keine
Bedenken oder diplomatische Verwicklungen. Ähnlich urteilte Ende 1942 Luther in
einer Mitteilung an seine Gesandtschaft in Bem, als er auch für die letzten 200 noch in
Frankreich verbliebenen Schweizer Juden die «geplante Einbeziehung in unsere
Massnahmen», das heisst in die Deportationen, ankündigte. 71
Im freien wie im deutsch besetzten Frankreich wohnten zwischen Frühjahr 1940
bis Ende 1942 weit mehr jüdische Schweizer Bürger als im Deutschen Reich, das von
Schweizer Juden seit 1933 doch gemieden oder später verlassen worden war, oder
auch als in Italien, zu dem weniger familien-und migrationsgeschichtliche Verbindun-
gen existierten. Verwandtschaftliche Beziehungen zwischen der Schweiz und Frank-
reich resultierten schon aus historischen Gegebenheiten. Die Wanderungen der elsäs-
sisch-lothringischen Juden nach der Schweiz und später umgekehrt von jüdischen
Schweizern nach Frankreich gaben der jurassischen Grenzlinie von Basel bis Genf
einen besonderen Stellenwert. Die französische Republik galt aufgrund ihrer Vor-
reiterrolle bei der Durchsetzung der Emanzipation als Garant aufgeklärter bürgerlicher
Kultur. Französische Juden in der Schweiz und Schweizer Juden in Frankreich hatten
sich nach beiden Seiten hin wirtschaftlich entfaltet und eingebürgert. Mit dem Zusam-
menbruch Frankreichs waren diese Schweizer Juden und ihre französischen Verwand-
ten von den deutschen Massnahmen stark betroffen.
Rund 160 Schweizer Familien in Frankreich, mit mehreren hundert Angehörigen,
besassen 1941 im deutsch besetzten Teil bedeutsame Vermögenswerte, die durch die
Beschlagnahmung jüdischen Besitzes betroffen sein konnten. Weitere zahlreiche
Schweizer fühlten sich von den antijüdischen Massnahmen rechtlich diskriminiert und
persönlich gefahrdet. Eine ebenso grosse, nicht feststellbare Anzahl von jüdischen
ehemaligen Schweizerinnen und ihren Kindem lebten eingeheiratet in französischen
Familien. Wiederum andere, in der Schweiz wohnende Juden hatten beträchtliche
Vermögenswerte in Frankreich oder verfügten dort über gut eingespielte wirtschaftli-
che und gewerbliche Beziehungen. In den Akten zu den Schweizer Juden in Frank-
reich finden sich Namen, die auf den elsässisch-oberrheinischen Herkunftsraum und
den schweizerischen Ursprung hinweisen, oft auch in unterschiedlichsten Romanisie-
rungen: Bigar, Bloch, Blum, Bollag, Brunschvig, Ditesheim, Dreifus, Goetschel,
Gugenheim, Uvy, Loeb, Picard, Roueff, Schmoll, Schwob, Wahl, Weil und Woog.
Alle diese Familien fanden sich nach der schnellen Niederlage Frankreichs mit der
bald einsetzenden Judenpolitik der deutschen Besatzer konfrontiert, die in ihnen zuerst
Juden und dann erst Schweizer erblickten.
Im Mai und Oktober 1940 erliessen die deutschen Besatzer für das Reichskommis-
sariat Niederlande wie für das Gebiet von Belgien und Frankreich zwei Verordnungen,
welche die «Geschäftsführung und Verwaltung von Unternehmungen und Betrieben»
VON FALL ZU FALL 191

und andererseits die «Massnahmen gegen Judem> regelten. Damit war für die deutsch
besetzten Westgebiete die «Arisierung)) und Liquidation von Vermögenswerten ange-
sagt, auch für die im Ausland lebenden Schweizer Juden. In der Tat waren, laut einer
Mitteilung von «Paris Midi)) und der«United Press)), von Oktober 1940 bis Mitte 1942
im besetzten Frankreich bereits 20 Prozent aller jüdischen Betriebe des Gewerbes, des
Handels und der Industrie, und das hiess in Zahlen rund 35'000 Geschäfte, zwangs-
weise «arisiert)) worden. 72 Bem hielt nach den Erfahrungen im Reich und auf einge-
hende Empfehlungen Frölichers hin die Einnahme eines gegenläufigen Standpunktes
für zwecklos, eine Haltung, die teilweise auch von anderen Staaten eingenommen
wurde. An den in Paris zurückgelassenen Henri de Torrente erteilte die Abteilung für
Auswärtiges die Weisung, es hätte in Deutschland in Fragen des diplomatischen
Schutzes kein Unterschied gemacht werden können «zwischen arischen und
nichtarischen Schweizerbürgem, indem auch gegenüber den in der Schweiz sich
aufhaltenden Deutschen ein Unterschied in fraglicher Hinsicht nicht gemacht werde)).
Jetzt, Ende 1940 in Frankreich, müsse man auch bei Interventionen in Einzelfällen eine
gewisse Zurückhaltung üben, denn die Bemühungen um schweizerische «Nichtarier))
dürften in keinem Missverhältnis stehen zur Bedeutung, die «Israeliten in unserer
Volksgemeinschaft)) zukomme. 73
Daher wurde der eigenen Gesandtschaft in Vichy/Paris eine frühzeitige Liquidierung
wirtschaftlicher Interessen empfohlen. Anfang des Jahres 1941 schloss die Schweizer
Gesandtschaft in Frankreich mit dem deutschen MBF eine Übereinkunft, mit der den
deutschen Verordnungen wohl Nachachtung verschafft werden sollte, aber unter
Wahrung der schweizerischen Interessen. Die schweizerisch-deutsche Übereinkunft
sah, wie bei allen Verfahren der «Arisierung)), die kommissarische Zwangsverwaltung
von Vermögen jüdischer Schweizer Bürger vor, aber nun nicht in deutschen Händen,
sondern durch eine unabhängige Person, die Schweizer Bürger zu sein hatte. Gefunden
wurde dieser Mann in der Person von Herrneuegilde Snozzi, der aus dem Tessin
stammte und in Paris ein Notariatsbüro betrieb. Snozzi umschrieb, aufgrund der
Übereinkunft und ihrer Grundlagen, seine Aufgabe dahin gehend, «im Rahmen der
schweizerischen Interessen dafür beizutragen, den jüdischen Einfluss im wirtschaftli-
chen Leben von Frankreich zu eliminieren)). Für die knapp 300 Fälle, in denen
Schweizer Juden betroffen waren, bestand kaum Aussicht, von dieser grossenWelle
der Konfiskationen ausgenommen zu werden.
Dem Schweizer Botschafter in Vichy schien wiederum der Einsatz eines
kommissarischen Verwalters in einer einzigen Person, die erst noch für ganz Frank-
reich handeln sollte, nicht unproblematisch. Er stiess jedoch in Vichy auf taube Ohren
mit seiner Forderungen nach einem Schweizer Vertrauensnotar. Im Februar 1942
nahm er aber Xavier Vallat, unter Hinweis auf eine entsprechende Vorzugsstellung für
spanische Juden in Frankreich, das Versprechen ab, in wichtigen Fällen einen schwei-
zerischen «Administrateur)) einzusetzen, dem allerdings ein französischer «Observateur))
192 3. KAPITEL

beigegeben wurde. So blieb eine kollektive Übereinkunft, wie sie mit dem deutschen
MBF existierte, auf die besetzte Nordzone beschränkt, während in der Südzone nach
Einzelfällen vorgegangen wurde. Ziel der Bemühungen in beiden Teilen sollte es sein,
die Repatriierung im Interesse der jüdischen Schweizer zu betreiben, und das hiess,
ihre Rückkehr auch wirtschaftlich abzusichern. 74
Snozzi in Paris hielt als unabhängiger Vetrauensnotar eine Stellung inne, bei der er
sich der «sehr angenehmen Beziehungen» mit den Stellen des deutschen MBF rühmen
konnte und zugleich mit Käufern verhandelte, die den jüdischen Eigentümern, die zu
Veräusserungen gezwungen waren, genehm schienen oder gar als Strohmänner dien-
ten. Im Verlaufe des Jahres 1942 nahm Snozzi von Schweizer Juden 159 Mandate im
Unternehmerischen Bereich entgegen und 130 Mandate in privaten Angelegenheiten.
Konkret «arisierte» damit Snozzi im Auftrag seiner jüdischen Mandanten in drei
Bereichen, nämlich bei der Veräusserung von Besitz und Teilhabe an Handelsunter-
nehmungen, dann von Immobilien oder Anrechten an Immobiliengesellschaften und
schliesslich von persönlichen Vermögenswerten wie Aktien, Obligationentitel,
Bankkonti oder anderen Formen von Guthaben. Zwangsliquidiert wurden Werte in
einer Gesamtsumme von mehr als 32 Millionen französischen Francs, die auf ver-
schiedensten Wegen in die Schweiz transferiert wurden, so über Depoteinlagen auf
Konsulaten, mittels Transferkonti der Schweizerischen Nationalbank oder im
Clearingverkehr und besonders in der Form von Devisenkompensationen für die
private Wirtschaft. Vereinzelt stimmte offenbar der MBF-Vertreter auch «Arisierungs»-
Vorschlägen in Fällen zu, in denen wichtige Unternehmungen «an arische Schweizer
in der Schweiz selbst überführt» wurden. Markant war letztlich auch der Besitz an
Liegenschaften, die rund 24 Millionen FF wert waren und von Snozzi treuhänderisch
verwaltet wurden, ohne verkauft zu werden. 75 Interessant sind im weiteren die Ziel-
länder der Mandanten, wie sie sich aus den Zahlen ablesen lassen: Bis Mitte 1942
reisten von den Besitzern der liquidierten Werte je ein Anteil von 40 Prozent in die
Schweiz zurück bzw. warteten das weitere Geschehen in Frankreich ab. Der restliche
Anteil ging andere Wege, wobei 20 Prozent aller Werte Besitzern gehörten, die sich
nicht in Europa, sondern erst in der fernen Übersee sicherer fühlten.
Alle diese Zahlen vermitteln freilich nicht den vollen Wert des Besitzes, über den
die Schweizer Juden in Frankreich nun nicht mehr frei verfügen konnten. Kaum
einschätzbar sind die Verluste, die situations- und zwangsbedingt verursacht waren,
indem unter dem realen Wert verkauft wurde, auch wenn dabei, wie dies meistens
geschah, die betroffenen Eigentümer ihre Zustimmung nicht verweigern wollten. Die
Gesamtsumme von 32 Millionen FF stellte in Frankreich einen erheblichen Realwert
dar, doch war der krisen-und kriegsschwache französische Franc im Vergleich zum
Schweizer Franken und erst recht zum US-Dollar nicht viel wert. Rund gerechnet
bezifferte sich letztlich die Summe auf 350'000 Dollar oder 1,5 Millionen Schweizer
Franken, was natürlich heute einer ungleich viel grösseren Kaufkraft entsprechen
VON FALL ZU FALL 193

würde. Nicht eingerechnet blieben in diese Summen jene Werte im unbesetzten


Frankreich, wo sich, wie in Bem amtlich vermutet wurde, noch «sehr erhebliche
schweizerische Judenkapitalien befinden», darunter allein ein Brocken von 20 Millio-
nen FF der Firma Mulvidson-Secor. 76
Snozzi hatte also aus der Sicht der Schweiz ganze Arbeit geleistet, sich die
Zustimmung der Nazibesatzer erhalten können und zugleich seine Glaubwürdigkeit
vor den jüdischen «Zwangsmandanten» gewahrt, wenn auch der SIG kritisierte, dass
man bei den Expropriationen «grundsätzlich sich die Sache etwas leicht gemacht zu
haben» schien. 77 Snozzi ist nach Kriegsende vom Politischen Departement in Bern,
wohin der Notar seine ausführliche Rapporte ablieferte, mit hohem Lob und einer
Uhrenpendule aus dem Neuenburger Jura verdankt worden. In besetzten Frankreich
verharrten Ende 1942 indessen noch die letzten 200 Schweizer Juden, von denen eine
Handvoll in Drancy interniert waren. SIG-Präsident Saly Mayer hatte bereits anfangs
Mai in Bern den Wunsch geäussert, die Schweiz möge ihre jüdischen Staatsan-
gehörigen offiZiell in die Heimat zurückrufen. Diese Anregung ist zunächst liegenge-
blieben, da einzelne Beamte fürchteten, unter den mehr als 500 Rückkehrern könnten
sich «viele unerwünschte Elemente» befinden, welche die «latent bestehende
antisemitische Strömungen in unserem Land» wecken würden. Die Repatriierung aller
Schweizer Juden wurde erst nach August 1942, seit dem Einsetzen der deutschen
Deportationen nach Osten, vorangetrieben. Zum Jahresende setzten dann hektische
Bemühungen um ihren Rücktransport ein, als die Deutsche Gesandtschaft sämtliche
ausländischen Juden zum Sicherheitsrisiko erklärt und ihren Staaten die drohende
Deportation signalisiert hatte. Vor allem Stucki in Vichy reagierte schnell, Frölicher in
Berlin wurde zu sofortigen Interventionen angewiesen, das Konsulat in Paris handelte
entschieden und rasch, und am 31. Januar und 1. Februar 1943 trafen in zwei Sonder-
zügen die letzten in der Nordzone verbliebenen 191 Schweizer Juden ein, die noch
vom fahrenden Zug aus dem Bundesrat in einem Schreiben für die Rettungsaktion
dankten. Wie in Italien und der Nordzone Frankreichs folgte 1943 auch in Vichy
schnelles Reagieren auf die drohenden Deportationen eigener Staatsbürger, begleitet
von Protesten in Berlin. Im Oktober organisierte Stucki bereits den Sammeltransport
aus der Südzone, wo indessen bis zum Eintreffen der Alliierten schätzungsweise 30--
50 Schweizer Juden weiterhin ausharrten. Als die deutschen Besatzer in der frarJZösi-
schen Nord- und Südzone, wie ebenso im faschistischen Italien, im Dezember zur
Verhaftung aller noch verbliebenen Juden, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, über-
gingen, protestierte Bern auf Verlangen Stuckis in Berlin nicht bloss zugunsten der
eigenen Juden, sondern sämtlicher verschleppter Ausländer in Frankreich.78 Das Reich
schien offensichtlich die Herrschaft über die zivilisierte Welt und seinen Sieg in
Westeuropa verspielt zu haben.
194 3. KAPITEL

PREISGABE DER SCHWEIZER JUDEN?


BUNDESRAT PILET-GOLAZ UND EINE VERSCHWIEGENE AFFÄRE

Am 12. Juli 1941 richtete im Nationalrat der neuenburgische Sozialdemokrat Ernest-


Paul Graber eine kleine Anfrage an die Landesregierung: Die Behörden des besetzten
Frankreichs hätten Massnahmen nichtmilitärischer Art ergriffen, um in den jüdischen
Unternehmungen kommissarische Verwalter einzusetzen, die mit der Ausschaltung
jeder jüdischer Beteiligung beauftragt seien. Graber wollte wissen, was der Bundesrat
zu tun gedenke, um die Rechte und Interessen der Schweizer in diesen Gebieten zu
wahren, und er merkte gleich vor, dass die Schweiz nicht <<ZWeierlei Bürger» kenne,
sondern nur Schweizer. Der Bundesrat antwortete dem unbequemen Ratsmitglied aus
La Chaux-de-Fonds Ende September. Er verwies auf das freie Frankreich und seine
Gesetzgebung, die ebenfalls auf die «Ausschaltung der Juden aus dem französischen
Wirtschaftsleben» hinziele, und belehrte dann die Ratsrunde: «Auch in andern Staaten
unterstehen die Juden besonderen Rechtsverhältnissen, die überall zum <ordre public>
gehören und aus diesem Grunde auch auf ausländische Staatsangehörige Anwendung
finden. Obwohl die Juden schweizerischer Staatsangehörigkeit gegenüber denjenigen
des eigenen Staates nicht eine Sonderbehandlung beanspruchen können, bemühen sich
unsere Vertreter im Ausland, solchen bei der ~ahrung ihrer Interessen, soweit immer
Gesetze und Verwaltungsvorschriften es zulassen, behilflich zu sein.» 79
Bei den Schweizer Juden war mit dieser Anfrage und dieser Antwort Feuer im
eigenen Dach gelegt worden. Der SIG hatte offiziell zur Kenntnis zu nehmen, was der
Bundesrat über die Stellung seiner Juden sagte und angesichts der bedrohlichen Lage
über die völkerrechtlichen Gewohnheiten ganz allgemein dachte. Vor allem fürchtete
man aufgrund dieser Antwort, dass implizit die Emanzipation von 1866 eingerissen
würde, die damals von Frankreich zur Voraussetzung des Niederlassungsvertrags von
1882 gemacht worden war. Alles in den bundesrätlichen Worten, die auch nicht mehr
schlicht von Schweizern, sondern von «Juden schweizerischer Staatsangehörigkeit»
handelten, sprach in einer Diktion, die auf einen Rechtseinbruch der eigenen Stellung
auch innerhalb der Schweiz hinauszulaufen schien. Der Standpunkt, dass die schwei-
zerischen Juden keinen Anspruch hätten, besser behandelt zu werden als die der
wirtschaftlichen Diskriminierung unterworfenen französischen Juden, schien dem SIG
eine unberechenbare Versuchung und arglistige Gefahr zu enthalten: Die Stellung der
jüdischen Schweizer war «ungünstig präjudiziert» und der in der Bundesverfassung
verankerte Grundsatz der Rechtsgleichheit zumindest in Frage gestellt, wenn nicht gar
verletzt worden.
Über Forderungen nach einer eigentlichen «Judengesetzgebung», auch auf dem
Not- oder Verordnungsweg, hatte man zwar keinen Anlass zu reden, auch wenn die
früheren frontistischen Zumutungen nach einer entsprechenden Initiative aus dem Jahr
VON FALL ZU FALL 195

1938 noch in den Ohren lagen. Doch die Schweizer Juden befürchteten, mit der
bundesrätlichen Erklärung sei künftig zumindest offengehalten, was in Vichy-Frank-
reich sich tatsächlich anbahnte, nämlich die verordnete und administrative Diskrimi-
nierung der Juden im eigenen Land. Die Preisgabe der Gleichbehandlung von Schwei-
zer Bürgern im französisch-schweizerischen Verhältnis wurde als Vorstufe zu einer
Preisgabe der Gleichbehandlung im Innem gewertet. Dem Stillschweigen übenden
SIG war es «nicht begreiflich, dass die oberste Landesbehörde in einer öffentlichen
Erklärung, die von der Schweizerischen Depeschenagentur in alle Landesteile
hinausposaunt wird, eine Auslegung unserer vertraglichen Rechte zugibt, die deren
Preisgabe gleichkommt und die die französische Regierung doch gegen unsere Regie-
rung benutzen könnte». Im Innem zum Gegenstand einer öffentlichen Polemik zu
werden konnte im Reich wie im Ausland überhaupt, wenn dies dort bekannt würde, zu
neuen Beeinträchtigungen führen. Mit Recht fuhr den Schweizer Juden angesichts der
bundesrätlichen Kurzsichtigkeit der Schrecken in die Knochen.
Hinzu kam, dass die Antwort durch Pilet-Golaz, den Vorsteher des Politischen
Departements, verlesen worden war, dessen Beamte zuvor den Text, trotz des sensitiven
Themas, nicht einmal dem departementseigenen Rechtsbüro zur Prüfung vorgelegt
hatten. Bislang glaubte ein Teil der Schweizer Juden, die dem liberalen Ordnungs-
denken verpflichtet waren, dass sie bei dem Radikaldemokraten und Westschweizer
Pilet mit ihrer Sache wohlgelitten seien. Schon sehr viel mehr Misstrauen brachte man
dem amtierenden Bundespräsidenten Ernst Wetter entgegen, der sich autoritär-
faschistischen Tendenzen nicht verschlossen gezeigt hatte. Auch vom nachrückenden
Vizepräsidenten Phillip Etter, mit seiner konservativ-katholischen Linie, wurde wenig
Verständnis erwartet, zumal er ständestaatlich-korporativem Gedankengut nachzu-
hängen schien. Doch nun erschien auch Pilet zwiespältig und vom rechtsautoritären
Kurs im Sinne der siegreichen Achsenmächte angetan.
Ein Jahr zuvor, nach dem deutschen Erfolg im Westen, hatte Pilet bekanntlich seine
aussenpolitisch anpassensehe und nach innen anmassende Radioansprache gehalten, die
weitherum und erst recht bei vielen Schweizer Juden umstritten blieb. Damals hatte ein
Teil der Presse, insbesondere sozialdemokratische und einige liberale Blätter, die
bundesrätlichen Orakelsprüche vom Juni 1940, die nach allzulangem Schweigen erfolgt
waren, gar in Parallele zu Petains Aufruf an das geschlagene Frankreich gesetzt und als
den Beginn einer faschismusverdächtigen Abwendung von der demokratischen Ord-
nung gewertet. Im September des gleichen Jahres hatte der Bundespräsident eine
Delegation Schweizer Faschisten empfangen, löste aber, nach einem Sturm der
Missbilligungen, im November diese dem Reich ergebene Organisation auf. Insgesamt
entstand in den führenden Kreisen der Schweizer Juden, wenn sie auf Pilet und den
Bundesrat blickten, der Eindruck, die bundesrätliche Antwort auf die Anfrage Graber
untergrabe weiterhin demokratische Grundsätze im Innem und weiche nach aussen hin
wie von aussen her staatspolitisch die Errungenschaften der Emanzipation auf.80
196 3. KAPITEL

Im Central-Comite des SIG stiess die Anfrage Graber, von der man sich überrascht
fand, äusserst sauer auf. Man vermutete hinter dem unwillkommenen Vorstoss gar
eigene jüdische Kreise, die undiszipliniert oder auf eigene Faust vorgegangen waren.
Ob dies tatsächlich zutrifft, kann heute kaum mehr festgestellt werden, doch spricht
viel dafür, dass Graber den Hinweis auf die Enteignungen in der französischen
Nordzone von betroffenen Personen erhalten hatte, die mit der lauen Schweizer
Diplomatie unzufrieden waren oder wegen den letztlich wertevernichtenden Entschä-
digungen sich nicht mit der Expropriationspolitik abfinden wollten. Ernest-Paul Graber
brachte schon von Haus aus die Voraussetzungen mit, dafür der geeignete Adressat zu
sein. Er redigierte die sozialdemokratisch und antistalinistisch eingestellte Sentinelle,
die auch gegen einen in La Chaux-de-Fonds nicht unerheblichen Antisemitismus
wiederholt aufgetreten war. Antinazistische Festigkeit und achsenfeindliche Haltung,
die der Sentinelle mehrfach den Zensor ins Haus brachten, dann auch die Herkunft aus
dem hier oft erwähnten Neuenburger Jura, besonders aber das offene Ohr für seine
jüdischen Mitbürger und Mitbürgerinnen - all dies sprach für Graber als politische
Anschrift für die betroffenen Schweizer Juden in Paris und in der Schweiz. Graberund
sein parlamentarischer Kollege Johannes Huber bereiteten auch später, nachdem die
bundesrätliche Antwort erfolgt war, einen erneuten Vorstoss im Nationalrat vor,
verzichteten dann aber, aufDrängen der jüdischen Gemeinde von La Chaux-de-Fonds,
auf eine Interpellation, um zunächst die Schritte des SIG abzuwarten. 81
Der SIG sah sich also vor die Tatsache gestellt, dass offiziell und öffentlich mit der
bedenklichen Antwort des Bundesrats elementares Grundrecht in Frage gestellt schien.
An dieser Stelle wird man sich noch einmal vor Augen führen müssen, dass dem SIG
die längere Vargeschichte und die tatsächlichen Umstände nicht bekannt sein konnten,
die zu dieser Affäre geführt haben. So wusste man von keiner Reziprozitätsklausel im
ohnehin verschwiegenen schweizerisch-deutschen Abkommen von 1938 über den I-
Stempel. Auch die rechtsstaatliche Verlässlichkeit der eidgenössischen Diplomatie im
Ausland schien über jeden grundlegenden Zweifel erhaben. Doch nun stellte man fest,
wenn auch intern nicht in einhelliger Meinung, dass offensichtlich Risse und Rechts-
einbrüche vorhanden sein mussten, ohne freilich ahnen zu können, dass hier nur die
Spitze eines Eisbergs wahrzunehmen war.

DieSIG-Eingabe und das Rechtsgutachten

Eine kurzfristig angeforderte Expertise eines Zürcher Juristen listete, trotz der für die
eigene Sache günstigen Rechtslage, auch scheinbar durchschlagende Argumente für
eine administrative Diskriminierung auf. Vor allem wurde die Zürcher Einbürgerungs-
ordnung, mit der in den zwanziger Jahren jüdische Kandidaten hintangesetzt worden
waren, als gutes Beispiel zitiert, das eine Ungleichbehandlung erlaube. Obwohl die
VON FALL ZU FALL 197

Expertise in diesem Punkt verkannte, dass dieses Beispiel kaum als Beweis für einen
völkerrechtlichen Standard des Ordre public herhalten konnte, erinnerte sie die er-
schreckten Schweizer Juden daran, wie frei oder willkürlich die Behörden hier ermes-
sen konnten. Dann führte die Expertise auch den bekannten Fall Goldberg von 1905
an, wo einst der Bundesrat die Luzemer Regierung stützte, als diese einem russischen
Juden das Hausiererpatent verweigert hatte. Auch dieses Beispiel war kaum tauglich
zum theoretischen Nachweis einer allgemeingültigen Deklassierung von Juden nach
dem Prinzip der Reziprozität, die damals, in dem vorliegenden Fall, nur bilateral als
eidgenössische Antwort auf die zaristischen Vorbehalte gegenüber jüdischen Schwei-
zern in Russland gemeint war. Doch allein der politische Nachklang in den wenig
wohlwollenden Thesen der Expertise genügte, um in der Phantasie aus den abwegigen
Auskünften eine feststehende Tatsache zu machen. 82
Doch führte das Nachsinnen über die dialektischen Tücken von aussenpolitisch
ausgehandelten Verträgen mit anderen Staaten und ihren nach innen wirkenden Kon-
sequenzen eines klar vor Augen: Die bundesrätliche Antwort von 1941 revidierte den
1918 zwar gekündeten, doch auf Zusehen hin rechtsgültigen französisch-schweizeri-
schen Niederlassungsvertrag von 1882, und dieser wiederum war stillschweigend
verknüpft mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung von 1866. Besonders beargwöhnt
wurde daher ein mögliches Argument, das zwar bislang von Bern nicht geltend
gemacht worden war, aber in der Luft zu liegen schien. Unter «Gleichheit» würde man
nicht die autonome und schematische Gleichheit der französischen Revolution sehen,
sondern lediglich eine Gleichbehandlung, die es nicht ausschliessen würde, Dinge, die
ungleich sind, auch ungleich zu behandeln. Im SIG fürchtete man, der Bundesrat
könnte daher folgern, die «Ungleichheit» nach der neuen französischen Judengesetz-
gebung finde nun eben Anwendung bei der Interpretation des schweizerisch-französi-
schen Niederlassungsvertrags. Im Klartext müsste dann eine solche Relativierung des
Gleichheitsbegriffs bedeuten, dass die Schweiz selbst sich nicht mehr an völkerrechtli-
che Vetragsgrundsätze, sondern an willkürliche landesrechtliche Auslegungen halten
würde. Damit wäre auch im Ionern einer arglistigen Anpassung an die in Europa
üblich gewordenen Judengesetze Tür und Tor geöffnet.
Diese hypothetischen Aussichten wirkten in ihrer verborgenen Tücke beengend
und äusserst alarmierend. «Es ist die Umkehrung der Sachlage, die seinerzeit zur
Emanzipation der Juden in der Schweiz führte», interpretierte das Central-Comite des
SIG anfangs November und verlangte nach schnellen und deutlichen Schritten, die
weder lange Sondierungen nach bewährtem Muster noch vorsichtiges Taktieren unter
Stillschweigen erlaubten. Daher wurde selbst der Vorschlag, einem internen Experten-
gremium unter Aufsicht des SIG-Präsidenten Vollmacht zu erteilen, abgelehnt. Statt
dessen wurde Paul Guggenheim, wie dies zuvor JUNA-Chef Sagalowitz schon
eingefädelt hatte, mit der Einholung und Bereinigung von Gutachten bei namhaften
Juristen beauftragt. Guggenheirn, selbst eine Autorität auf dem Gebiet des Völker-
198 3. KAPITEL

rechts, besprach in Genf mit namhaften Diplomaten und Experten die Problemstellung
und rüstete den SIG, unterstützt von WJC-Sekretär Gerhart Riegner, mit Empfehlun-
gen zu taktischen Vorgehensfragen und juristischen Argumenten aus. Mit der SIG-
Leitung kam er überein, eine Eingabe an den Bundesrat zu richten, die in einer
Mantelnote (einem Begleitbrief) politisch reden und in einem juristischen Gutachten
die theoretischen Aspekte zugrunde legen sollte.
Gefordert werden sollte vom Bundesrat, die Anfrage Graber in Wiedererwägung
zu ziehen und seine Einstellung grundsätzlich zu ändern. Nur mit einer solchen
Revidierung des bundesrätlichen Standpunktes glaubte der SIG, jeglichen Vorgriff zu
einer Diskriminierung verhindert zu sehen. Dabei sollte es sich nicht um einige
«Souplessen» des diplomatischen Schutzes handeln, sondern um eine deutliche Erklä-
rung, dass «kein Einbruch in unsere Rechtsstellung und Gleichstellung mit allen
andern Bürgern vorliegt». 83 Im weiteren solle der Bundesrat kundtun, dass er Behaup-
tungen des Gegenteils, wenn sie von Frankreich oder anderen Mächten der Schweiz
unterstellt würden, entgegentreten werde. 84
Das Gutachten war auf den historischen Nachweis angelegt, dass die bundesrätliche
Antwort im Widerspruch zur schweizerischen Rechtstradition seit der Emanzipation
von 1866 stand. Guggenheim stützte sich bei diesem historischen Bezug, der das
formal abgehandelte positive Völkerrecht zu einem Aspekt des bundespolitischen
Selbstverständnisses machen wollte, auf das unveröffentlichte Manuskript von Augusta
Weldler-Steinberg, deren Geschichte der Juden in der Schweiz zwar 1932 hätte in
Druck gehen sollen, wegen des zunehmend antisemitischen Klimas aber zurückge-
stellt blieb und erst 1966 publiziert worden ist.85 Zweck des geschichtlichen Nachwei-
ses sollte also sein, für die Politik der Niederlassungsverträge seit 1878 den Grundsatz
der Gleichbehandlung aller Schweizer Bürger zu postulieren.
Als selbstverständlich und allgemeingültig erachtet wurde bei solchen Staats-
verträgen, dass die Gleichbehandlung das Primat vor innerstaatlichen Regelungen
habe, entsprechend dem liberalen Rechtssatz, dass in Fragen des Auslandes Völker-
recht dem Landesrecht vorgehe. Wenn der Bundesrat von 1941 sich nun auf eine
fremde Rechtsordnung berief und sogar bereit war, die eigenen Bürger diesem Ordre
public zu opfern, widersprach das der eigenen freiheitlichen Tradition und Geschichte.
Aufgrund der historischen Abstützung und rechtsgeschichtlicher Nachforschungen
erwies sich deswegen dem Gutachter eine fundierte Auslegung des französisch-schwei-
zerischen Niederlassungsvertrags als das durchschlagendste juristische Argument. Die
Untersuchung dieses Zusammenhangs nahm entsprechend breiten Raum im ganzen
Gutachten ein und präsentierte sich als ein Paradestück rechtshistorischer Belehrung
über völkerrechtliche Grundsätze und implizit auch über das Bundesverfassungsrecht
Der SIG und Guggenheim holten zu dieser juristischen Denkschrift eine Reihe von
Gutachten ein, die weitgehend der eigenen Auffassung folgten. Von Interesse ist die
vom SIG getroffene Auswahl der beigezogenen wie auch der ausgelassenen Gutach-
VON FALL ZU FALL 199

ter. Nicht berücksichtigen wollte Guggenheim den ihm nahestehenden Felix Ludwig
Calonder, der sich einst als Präsident der Völkerbundskommission für Oberschlesien
einen Namen gemacht hatte, aber als ehemaliger Bundesrat in der anstehenden Aus-
einandersetzung mit der Landesregierung nicht in Frage kam. Auch Max Huber als
ehemaliger Präsident des Raager Internationalen Gerichtshofes hätte durchaus viel
Ansehen eingebracht, doch der nun als IKRK-Präsident amtierende Huber wurde
wegen seiner international delikaten Stellung schon gar nicht angefragt, zumal man
ihm auch kaum zutraute, die Autorität des Bundesrats in Zweifel zu ziehen. Ebenfalls
als Begutachter nicht angefragt wurde der angesehene Völkerrechtler Dietrich Schindler,
dem die Universität Zürich bei der Besetzung des Lehrstuhls anfangs der dreissiger
Jahre den Vorzug vor Guggenheim gegeben hatte. Schindler wurde in eigener Sache
hoch eingeschätzt, doch wollte man ihn nicht konsultieren, da er wohl, wie der SIG
annahm, als Rechtskonsulent von General und Bundesrat seine deutliche Antwort auf
diesem Weg viel wirksamer geben würde. Dieses taktische Kalkül ist freilich nicht
aufgegangen, da der Bundesrat sich hütete, den in individual- und völkerrechtlichen
Dingen äusserst liberal denkenden Schindler überhaupt zu konsultieren. 86 Drei weitere
Universitätsprofessoren schied man aus, da ihre völkerrechtlichen Kompetenzen von
Guggenheim bezweifelt wurden.
Zur Vernehmlassung wurden schliesslich drei Persönlichkeiten eingeladen, deren
Stellungnahmen, wie gesagt, ganz im Sinne von Guggenheim ausfielen: Eugene Borel,
emeritierter Genfer Universitätsprofessor, völkerrechtlicher Berater des Generalstabs
während des Ersten Weltkriegs, international öfters tätig als Schiedsrichter, wiederholt
schweizerischer Delegierter an zahlreichen internationalen Konferenzen, kurz eine
Völkerrechtsautorität ersten Ranges; dann Bundesrichter Robert Fazy, der als Präsi-
dent der Staatsrechtlichen Abteilung des Höchsten Gerichts bereits deutliche Urteile in
Entscheiden, die auf dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz fussten, gefällt
hatte und von der SIG-Abwehr früher mehrfach als Gutachter aufgeboten worden war;
und endlich den Fribourger Professor Markus Gutzwiller, kein Kenner des Völker-
rechts, doch ein Spezialist des internationalen Privatrechts in allen «Ordre-public»-
Fragen, der zudem seine Laufbahn als Legationssekretär im Politischen Departement
und in der Berliner Gesandtschaft begonnen hatte.
Guggenheim selbst verschwieg, dass er in eigener Sache sich Rat an berufener
Stelle geholt hatte, nämlich bei Williarn E. Rappard, der als Gründer und langjähriger
Direktor des Genfer Instituts für internationale Studien auch als Mentor von
Guggenheim, der am Institut Völkerrecht lehrte, gelten kann. Rappard, welterfahrener
Mandatsleiter und Unterhändler der Schweiz in allen Völkerbundsjahren, durch Ju-
gend und Studium verbunden mit der amerikanisch-britischen Welt und vertraut mit
deren Rechtsdenken, als Schweizer zugleich Patriot und Hauptmann der Kavallerie,
hatte sich angesichts der bundesrätlichen Politik gegenüber dem ungeliebten Völker-
bund auf einer profund liberalen Linie gehalten. Die Person Rappard zeigt exempla-
200 3. KAPITEL

risch die Linie führender Kreise in der Schweiz, die bei allem Realismus keine
Konzessionen an die Achsenmächte machen, ihre moralischen Absichten aber nur
vorsichtig und innerlich äussern wollten. Jüdischen Anliegen, ob von zionistischer
Seite oder dem Weltkongress vorgetragen, widmete der von Chaim Weizmann und
Nahum Goldmann verehrte Genfer Grandseigneur zwar ständig seine wohlwollende
Aufmerksamkeit. Hingegen hielt sich Rappard angesichts der Flüchtlingspolitik und
später im Wissen um den Holocaust von aller öffentlichen Kritik an Bundesrat und
Fremdenpolizei fern. Als Rechts- und Wirtschaftshistoriker ermunterte der diskrete
Rappard nun Guggenheim, sich in einer SIG-Eingabe an den Bundesrat nicht nur auf
einen Wiedererwägungsantrag zu beschränken, sondern klar anzugeben, was genau
man vom Bundesrat fordere. 87
Am 8. Dezember 1941 ging die Eingabe des SIG, adressiert an den gesamten
Bundesrat, samt demjuristischen Gutachten auf die Post. 88 Im Schreiben wurde auf die
bundesrätliche Antwort auf die Anfrage Graber Bezug genommen und auf den Um-
stand hingewiesen, dass sie durch die Schweizerische Depeschenagentur weitreichende
Publizität erhalten habe - ein Hinweis, der angesichts der auslandorientierten
Informations- und Zensurpolitik der Schweiz nicht bedeutungslos war. In seinen
Forderungen stellte das Schreiben jenes Junktim her, das der SIG zwischen dem
diplomatischen Schutz der jüdischen Schweizer im Ausland und der grundsätzlichen
Diskriminierung der Schweizer Juden gesehen hatte. Nicht das Ermessen und auch
nicht materielle oder finanzielle Aspekte der diplomatischen Praxis seien Ausgangs-
punkt der Demarche, sondern der grundsätzliche Standpunkt des Bundesrates. Der
SIG verlangte von der Regierung, erstens die «bisherige Praxis der Anwendung und
der Auslegung des schweizerisch-französischen Niederlassungsvertrages gegenüber
der französischen Regierung durchzusetzen», und zweitens den Eindruck zu beheben,
den die bundesrätliche Antwort in der Öffentlichkeit hervorgerufen habe. Man sehe in
der bundesrätlichen Antwort ein Bekenntnis, dass die Rechtsstellung der Schweizer
Juden eine materiell andere sei als jene aller übrigen in Frankreich niedergelassenen
Schweizer; in der Folge könnten sie nicht auf den gleichen diplomatischen Schutz
Anspruch erheben, wie ihn alle übrigen Schweizer geniessen würden. Die bundesrätliche
Haltung in dieser Frage bedeute eine Verletzung der in der Bundesverfassung gewähr-
leisteten Rechte aller Schweizer Staatsbürger. Der SIG wolle einen solchen «Einbruch
in die uns zustehenden Grundrechte der Gleichberechtigung und Freiheit nicht still-
schweigend hinnehmen». Wie das Schweizer Volk als ganzes vom unerschütterlichen
Willen erfüllt sei, seine politische Freiheit und Unabhängigkeit in eine bessere Zeit
hinüberzuretten, so betrachte man es als erste Pflicht, das kostbare Gut der Gleichbe-
rechtigung zu erhalten.
VON FALL ZU FALL 201

Die Haltung im Bundeshaus

Einen Monat später bestätigte der Chef der Abteilung für Auswärtiges den Empfang
der Eingabe, indem er darauf hinwies, dass die Fragen «nicht allein nach rechtlichen
Gesichtspunkten entschieden werden können, sondern auch politische Erwägungen
bei ihrer Beurteilung gebührend in Berücksichtigung gezogen werden müssen». Noch-
mals beharrte der SIG in einem Schreiben an Bern, hier gehe es nicht um die politische
Zweckmässigkeit der diplomatischen Praxis, sondern um die Revision der Rechtsauf-
fassung, wie sie in der Antwort des Bundesrates auf die Anfrage Graber zum Ausdruck
gelangt sei. Die endgültige Antwort des Politischen Departements ging Ende März ein
und war nicht von dem sich gern absondernden Pilet unterzeichnet, sondern vom Chef
der Auswärtigen Abteilung, der sich vor seinen Bundesrat stellte. Den Schweizer
Juden signalisierte dies, dass man in Bern der Sache keine grundlegende Bedeutung
zumessen wollte. Die vom SIG vorgebrachte Gefahr eines möglichen Abbaus von
Grundrechten wurde überhaupt nicht angeschnitten. Auch wollte Bonna nicht Hand zu
einer mündlichen Aussprache bieten, wie das der SIG vorgeschlagen hatte. Das
Departement gab einfach bekannt, ohne aber eine Begründung zu liefern, dass es die
von Guggenheim vertretene Rechtsauffassung nicht für zutreffend halte. Viel entschei-
dender falle ins Gewicht, dass aus politischen Gründen eine Intervention bei der
französischen Regierung nicht in Frage komme, was auch den jüdischen Schweizern
in Frankreich nur dienlich sei, da man sich, soweit als möglich, für den Schutz ihrer auf
dem Spiel stehenden Vermögensinteressen von Fall zu Fall einsetzen werde. 89
Die kühl wirkende Gelassenheit des Departements, das Guggenheims Gutachten
und die grundsätzlichen SIG-Einwände schlicht ignoriert hatte, täuschte über die Nervo-
sität hinweg, die mit der unwillkommenen Auslegung des Gleichheitssatzes doch ausge-
löst worden war. Intern hatte sich die Bundesadministration während der fast vier
Monate, die bis zur Beantwortung der SIG-Eingabe verstrichen, bei der Schweizer
Gesandtschaft in Vichy wie auch beim Justiz- und Polizeidepartement abgesichert. Und
die Bundesanwaltschaft begann, die scheinbar unbotmässig auf demokratischen Rechts-
gütern beharrenden Schweizer Juden polizeilich zu überwachen.
Zudem fürchtete man in Bem, dass eine Anerkennung des Rechtsstandpunktes, wie
ihn die Eingabe forderte, den zahlreichen Advokaten, die jüdische Interessen in Frank-
reich vertraten, Auftrieb geben könnte. In der Tat sprachen private Anwälte, unter denen
man die jüdischen Advokaten besonders missliebig einstufte, öfters beim Departement
vor. Doch selbst unverdächtige, nichtjüdische und bestens ausgewiesene Advokaturen,
wie das Basler Büro Felix Iselin & Tobias Christ, machten den Beamten in Bem das
Leben schwer. Iselin & Christ vertraten die umfangreichen Interessen der Schweizer
Textilfirma Trimeca, die von Edmond Uvy-Ditisheim und Johannes Hohl, das heisst
einem Juden und einem Nichtjuden, geführt wurde und im nahen elsässischen St-Louis
und im unbesetzten südfranzösischen Montluel bei Lyon Tochterfirmen betrieb. Iselin
202 3. KAPITEL

& Christ warteten zwei Tage nach der SIG-Eingabe, doch unabhängig und offensicht-
lich ohne Wissen von Guggenheim, mit einem juristischen Gutachten auf, das vom
Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht an der Universität Bern verfasst war.
Dieses Hornberger-Gutachten war zum Schluss gekommen, dass die französische Juden-
gesetzgebung und der bilaterale Niederlassungsvertrag miteinander nicht vereinbar
seien, da hier aus Schweizer Sicht gegen die persönliche Freiheit, gegen die Handels-
und Gewerbefreiheit sowie gegen die Eigentumsgarantie verstossen werde. 90
Angesichts all dieser Kritik und der Vorsprachen mutmasste man in Bern, dass die
Schweizer Juden nun mobilmachten gegen Diplomatie und Autorität des Bundesrates
und sich auf die demokratischen Grundrechte beriefen, um aus der geforderten Aner-
kennung ihres Standpunktes praktischen Nutzen zu ziehen. Selbst wenn man
departementsintern dem SIG die Sorge um prinzipielle Fragen zugestand, so schien
doch die Verletzung des Grundsatzes der Gleichheit bloss theoretisch moniert und eine
juristische Spiegelfechterei zu sein. Jedenfalls wiegte sich die Auswärtige Abteilung
im Glauben, politische Pressionen vielleichter abwehren zu können, wenn man sich in
diesem praktischen Fall auf den Boden der französischen Regierung stellte.
Von Steiger und das Justizdepartement, das man um Stellungnahme anging, gaben
Pilet eine Einschätzung der Gleichheit und Gleichbehandlung ab, die gegen Guggenheim
und dessen Anspruch aufvölkerrechtliche Verbindlichkeit stand. Von Steiger zog den
landesrechtliehen Primat vor und meinte, «Gleichbehandlung» sei für die Schweizer in
Frankreich lediglich die «gleiche Behandlung», wie sie die Franzosen in Frankreich
genössen. Guggenheims historische Rekonstruktion mute aber Vichy zu, für die
Anwendung des Gleichheitsartikels der schweizerischen Bundesverfassung in Frank-
reich zu sorgen. Von Steigers juristische Überlegungen lagen damit ganz auf der nach
dem Ersten Weltkrieg überall geübten Rückzugslinie auf die Reserven von umfassen-
den Landesrechtsvorbehalten. Sie taugten indessen kaum zu Begründungen in einem
Antwortschreiben an den SIG, dessen Argumente nicht auf politische Kompromisse
und Instrumente hinzielten. Der eidgenössische Justizchef sah aber letztlich klar,
worauf es in der aktuellen und machtpolitisch bestimmten Situation ankam. Der ganze
Streit sei leider gegenstandslos, bedauerte von Steiger, habe man doch einfach zu
entscheiden zwischen zwei Möglichkeiten: entweder auf den Niederlassungsvertrag
zu verzichten oder das Weiterbestehen des Vertrages zu sichern, indem man sich
diplomatisch darauf beschränke, für die Juden das Mindest- oder Bestmögliche her-
auszuholen. Der Schritt des SIG sei wohl verständlich, habe ihnen Graber doch mit
seiner Anfrage im Nationalrat einen schlechten Dienst erwiesen. Pilet erhielt den Rat,
sich ins Benehmen mit seinen Juden zu setzen, wobei der Leser aus von Steigers
Diktion den alten, landesherrlich geübten Umgang der Aristokratie mit ihren einstmals
Schutzprivilegierten herauszuhören vermag: «Sie [die Schweizer Juden] sind beunru-
higt und sehen, dass von ihnen ein Opfer verlangt wird, weil wir den Vertrag nicht
preisgeben wollen. Es scheint ihnen aber weniger auf dieses Opfer der Schweizetjuden
VON FALL ZU FALL 203

in Frankreich anzukommen, als darauf, das Übergreifen der Diskrimination der Juden
auf unser Recht und unsere Politik zu vermeiden. Man wird ihnen sagen können, dass
auch die Bundesbehörden dies nicht wünschen und dass sie durch richtiges Verhalten
ihnen helfen sollten, diesem Übergreifen vorzubeugen, indem diesem Verhalten das
Motto mitgegeben werden muss: Quieta non movere. Es wäre in ihrem eigenen
Interesse gänzlich verfehlt, wenn sie in der Öffentlichkeit eine Diskussion anfachen
und diese gar in die Räte tragen wollten[ ... ].»91
Auch Stucki in Vichy und das Politische Departement sahen, wie sie es schon
früher gegenüber den Basler Anwälten Iselin & Christ geäussert hatten, notgedrungen
die Schweizer Juden im Ausland unter die französischen Gesetze gestellt. Stucki
suchte für seine Landsleute in Einzelfällen soviel Vorteile als möglich herauszu-
schlagen, indem er etwa auf die von Vichy gewährte Vorzugsbehandlung gegenüber
spanischen Juden hinwies, und er erreichte später so auch in der Angelegenheit der
Firma Trimeca Erfolge, indem deren kommissarische Zwangsverwaltung anfangs
April tatsächlich aufgehoben wurde. Doch stand für den Schweizer Gesandten fest,
dass der ohnehin nur auf jeweils drei Monate gültige schweizerisch-französische
Niederlassungsvertrag von 1882 durch Vichy ohne Zaudern aufgekündigt würde,
wenn die Schweiz auf der Gleichbehandlung ihrer Juden beharren wollte. Xavier
Vallat, der Generalkommissär für Judenfragen, mit dem der Schweizer Gesandte am
18. Februar 1942 die delikate Frage erörterte, erklärte Stucki ins Gesicht, der Vertrag
von 1882 friste, vielfach durchlöchert, nur noch ein bescheidenes Dasein, demjeder-
zeit ein Ende bereitet werden könne. 92

Wege aus der Sackgasse

Um sich auf einen allfälligen Schlagabtausch in der Öffentlichkeit vorzubereiten, liess


Bem die Stimmung bei den Schweizer Juden durch die Bundesanwaltschaft polizeilich
aushorchen. Auf diese Weise sind uns ein Vortrag und die ansebliessende Diskussion
erhalten geblieben, die in der Zürcher Vereinigung für soziale und kulturelle Arbeit im
Judentum stattgefunden haben. Die Jüdische Vereinigung Zürich, wie damals das
Kürzel und später der Name des Vereins lautete, war 1919 vom Schriftsteller Kurt
Guggenheim und vom Juristen Otto Brandenburger gegründet worden und erhielt als
Forum für Zeitfragen dank dem hohen Niveau seiner in- und ausländischen Referenten
viel Beachtung.93 Dort sprach der jüngere Jurist Artbur Wolffers über das Völkerrecht
und die Stellung der jüdischen Ausländer in Staaten mit antisemitischer Gesetzgebung.
Wolffers stellte fest, dass die schweizerische Diplomatie die jüdischen Schweizer
wohl mit gleichem Interesse vertrete wie alle übrigen Staatsangehörigen, aber mit der
Antwort auf die Anfrage Graber leider zu einer dynamischen Rechtsauffassung beitra-
ge, was nicht gerade einen Akt geistiger Landesverteidigung darstelle. Nach Wolffers
204 3. KAPITEL

juristischer Auslegung des Ordre public polemisierten einige Zuhörer gegen die
bundesrätliche Linie und legten auch Fälle und Folgerungen vor, die ihnen als Beleg
für das administrative Übergreifen der ausländischen Judenpolitik auf die Schweiz
erschienen. Der spätere Medizinnobelpreisträger Tadeusz Reichstein, bei dem der
Polizeioffizier einen «Starken östlichen Akzent>> vermerkte, meinte gar, als eingebür-
gerter Schweizer, der als Jude seine Erfahrungen in Osteuropa habe machen müssen,
misstraue er nun leider dem Bundesrat. Der Bericht des polizeilichen Nachrichten-
dienstes Zürich schloss mit der Bemerkung, die Versammlung hätte einen peniblen
Eindruck hinterlassen, insbesondere weil «sich die jüdischen Kreise dazu berufen
fühlen, als Retter und Verteidiger der schweizerischen Staatsidee aufzutreten». 94
Auch die jüdische Seite erhielt Gelegenheit, die Stimmung bei den Bundes-
behörden kennenzulemen. Guggenheim hat eine Aktennotiz erstellt, die aufgrund
einer gezieHen Indiskretion über die Interna im Politischen Departement handelt und
uns einen interessanten Einblick in Abläufe und Mentalitäten innerhalb des Politischen
Departements vermittelt. Während einer längeren Zusammenkunft in Lausanne infor-
mierte ein Gewährsmann, der aus eigener Initiative an Guggenheim gelangt war, über
die Verhältnisse und Stimmungen in der Auswärtigen Abteilung. Im Departement
habe man trotz aller äusseren Höflichkeit nicht viel Sympathie für die Juden und
verbiete sich Belehrungen von dieser Seite. Man betrachte die Juden wie die Sozialde-
mokraten und auch oppositionelle christliche Kreise als nicht erstklassig schutz-
würdig. Abgesehen von der machtpolitischen Unbedeutsamkeit in diplomatischer
Hinsicht habe man auch eine geringe Meinung vonjenen geldgierigen Juden, die in der
Folge einer grundsätzlichen Anerkennung des ihnen zustehenden Rechtsstandpunktes
nur die Vorteile aus «grossen Prinzipien» zu ziehen suchten. Die jüdischen Anwälte
seien wegen ihres beharrlichen Vorsprechens in den Räumen des überlasteten Depar-
tements ohnehin nicht beliebt. Das Departement behaupte auch, seine Antwort an den
SIG wäre vielleicht etwas freundlicher ausgefallen, wenn nicht in der letzten Zeit der
Bundesrat in einer jüdischen Versammlung in Zürich angegriffen worden wäre. Jeden-
falls empfinde man nun grosse Nervosität, zumal dem juristischen Gutachten von
Guggenheim, das im Prinzip vorzüglich sei, nur eine sehr schwache Argumentation
entgegengesetzt werden könne. Auch sei kein weiteres Gutachten angefordert worden,
das im Resultat die Unsicherheit des eigenen Standpunktes wohl nur vergrössert hätte.
Angesichts dieser Lage und in Erwartung einer schwierigen Auseinandersetzung mit
den schweizerischen Juden, mit weitgreifenden Folgen und neuen Interpellationen,
habe man versucht, «de couper tout de suite court» den Umgang mit dem SIG. 95
Guggenheim hat den Namen seines Gewährsmannes, der «einer der besten Kenner
der internen Verhältnisse ist und dort über die besten Beziehungen verfügt», strikt
verschwiegen. Vermutet werden kann Legationsrat Daniel Secretan, einst Mitglied der
schweizerischen Völkerbundsdelegation und 1928-1939 Generalsekretär des Institu-
tes für geistige Zusammenarbeit des Völkerbundes, bevor er nach Kriegsausbruch in
VON FALL ZU FALL 205

die Bundeshauptstadt zurückkehrte. Wer auch immer zu identifizieren wäre, Guggen-


heims Gewährsmann machte klar, dass Bundesrat Pilet über die Affäre und ihr mögli-
ches Ausmass kaum orientiert und die Sache in der Abteilung nur nach unten, an einen
jüngeren Juristen, delegiert worden war. Beide Männer verstanden offensichtlich, dass
sich der SIG in eine Sackgasse manövriert und die hohen Beamten des Departements
zu sehr verbissen hatten, um weiterhin kommunizieren zu können.
Die Gewährsperson schlug Guggenheim die Vermittlung durch eine «erstklassige
aussenstehende Persönlichkeit>> vor, die in der Gestalt von alt Bundesrat Edmund
Schulthess gefunden wurde. Von einem solchen Zugang zum sich absondernden Pilet
über den Weg eines ehemaligen Mitglieds der Landesregierung war im SIG bereits
einige Tage zuvor gesprochen worden, um endlich zu der seit langem gewünschten
Audienz beim Bundesrat zu kommen. Denn ein stillschweigender «Kompromiss»
zwischen Bundesrat und SIG lag durchaus im Interesse beider Seiten. Mayer und das
Central-Cornite wollten einen gangbaren Weg-angesichts der anhaltenden äusseren
Bedrohung der Schweiz wie wegen der antisemitischen Authetzung im Innem, die
man endlich verboten sehen wollte. Hinzu muss der zunehmende psychische Druck,
der überall auf den Juden lastete und in Vorahnung einer unfassbaren Gewissheit
aufkam, berücksichtigt werden. Im SIG begriff man, was man ohnehin immer wusste:
dass man politisch ohnmächtig war und nur abhängig vom öffentlichen Verständnis
und guten Willen lebte.
Eingeführt bei Schulthess wurde Guggenheim zwei Wochen nach dem Gespräch
in Lausanne durch den Lausanner Völkerrechtler und BIT-Mitarbeiter Jacques Secretan
(nicht zu verwechseln mit Daniel Secretan) am Sitz der eidgenössischen Banken-
kommission an der stadtheroischen Effingerstrasse. Der ehemalige Bundesrat erfasste
rasch das Wesentliche an der Situation, schlug eine private Audienz bei Pilet-Golaz
zur schnellen Bereinigung der Sache vor und nahm das SIG-Gutachten mit einer
Aktennotiz Mayers entgegen, ohne sich für die rechtlichen Fragen lange zu interessie-
ren. Einwände zu seinem Vorschlag wischte Schulthess autoritativ vom Tisch und
erklärte, auch das Vorzimmer von Pilet-Golaz, das er unüberhörbar mit lauter Stimme
zu betreten pflege, bilde ihm kein Hindernis. Die knapp einstündige Unterredung
drehte sich dann um die internationale Lage und von Secretan unterbreitete Probleme
des Völkerbundes, für den sich Schulthess wenig erwärmen konnte.
Bereits vor dieser Unterredung hatte SIG-Präsident Saly Mayer auf eigene Faust
im Politischen Departement sondiert. Legationsrat Robert Kohli und der jüngere Jurist,
der die Sache bearbeitete, der spätere Botschafter Felix Schnyder, waren weitgehend
der Ansicht, dass sich mit dem pragmatischen Mayer die Affäre schneller ausräumen
lasse als mit den Scharfmachern aus dem jüdischen Advokatenstand, die sich in
fruchtlosen Diskussionen ergehen würden. Doch auch Mayer wünschte eine einsichts-
volle Zusammenarbeit mit den Behörden, denen er Guggenheims Vorschläge vor-
behaltlos unterbreiten wollte, ohne ihn aber persönlich dabeizuhaben. Die Herren im
206 3. KAPITEL

Bundeshaus hielten nun die Audienz auch für angezeigt, und Mayer fand sich bald
eingeladen. 96
Wenige Wochen nach diesen Unterredungen in den Räumen des Departements
bzw. mit Schulthess empfing Pilet-Golaz den SIG-Präsidenten. Saly Mayer war allein
erschienen, und er war entschlossen, die leidige Affäre aus der ihm theoretisch erschei-
nenden Bahn juristischer Grundfragen wegzulenken und den Kompromiss vorzubrin-
gen, den bereits Guggenheim gegenüber seinem Gewährsmann ins Auge gefasst hatte.
Pilet-Golaz versicherte Mayer, die Antwort auf die Anfrage Graber stelle in keiner
Weise einen Präzedenzfall für die Zukunft dar und präjudiziere nichts, was die Stel-
lung der Schweizer Juden betreffe. Pilet kam auch gerne dem vom SIG geäusserten
Wunsch nach, die Anfrage Graber und die bundesrätliche Antwort weder im Ge-
schäftsbericht des Bundesrats zu erwähnen noch davon in anderen Veröffentlichungen
etwas verlautbaren zu lassen. Damit würde in Frankreich oder sonst im Ausland der
Eindruck vermieden werden, die Schweiz gäbe ihre Juden im Ausland preis. Zugleich
konnte damit auch im lnnern die Affäre ausgeräumt und verschwiegen werden, und
die Angst der Schweizer Juden, der Bundesrat würde wegen wichtigen aussenpolitischen
Prioritäten den Gleichheitsgrundsatz aufgeben, sich als blosses Gerücht herausstellen.
Ob Mayer während der Audienz im weiteren tatsächlich ein Verbot der antisemitischen
Propaganda forderte, wie er sich das in seinen persönlichen Notizen vorgemerkt hatte,
ist nicht feststellbar.
Der SIG stellte einen Monat später Pilet den Entwurf eines Schreibens zu, mit dem
die Schweizer Juden offiziell zur Haltung Berns Stellung nehmen und für die Audienz
danken wollten. Mayer und Guggenheim hatten sich bei der Redigierung des Textes
gestritten, und Pilet liess in die endgültige Fassung noch seine Wünsche einfliessen. In
seinem Schreiben gab sich der SIG, ohne seinen Rechtsstandpunkt aufzugeben, befrie-
digt über die Zweckmässigkeit der schweizerischen Diplomatie, und er nahm zur
Kenntnis, dass die umstrittene bundesrätliche Antwort weder für die Zukunft noch im
Hinblick auf das Völkerrecht verbindlich sei. Der Brief schloss mit der ebenfalls zuvor
abgesprochenen Bitte, weder die parlamentarische Anfrage noch die bundesrätliche
Haltung zu publizieren. Drei Wochen später, mit der bestätigenden Zustimmung zu
diesem SIG-Schreiben durch Pilet, war die Affäre, die nicht stattfinden durfte, zu Ende
gebracht. 97

Fazit: Widerspruchsvolle Innen- und Aussenpolitik angesichtsder Bedrohung

Zum Fazit der sich während zwei Monaten hinziehenden Affäre gehört auf jüdischer
Seite die Einsicht, dass man angesichts der in Europa herrschenden Machtpolitik nicht
die demokratischen Rechtsgüter beanspruchen konnte, so wie man sich dies mit dem
Mut des emanzipatorischen Selbstbewusstseins, der Empfindlichkeit einer Minderheit
VON FALL ZU FALL 207

und aus überlieferter Gelehrtheit vorgestellt hatte. Nicht wenige Köpfe innerhalb des
SIG hatten zu äusserst vorsichtigem Vorgehen und taktischem «Tiethalten» geraten,
so Mayer und sein Vertrauter Pierre Bigar, die in der Geschäftsleitung eine Linie
innerer Kontrolle verfolgten. Soviel pragmatisch diktierte Zurückhaltung war
Guggenheim eher verdächtig, und hier liegt einer der Gründe für die erbitterte Ausein-
andersetzung um den späteren Rücktritt Mayers als Präsident des SIG. Doch blieb
diese Haltung, die seit 1940 erst recht galt, mehrheitlich ausschlaggebend. So umriss in
diesem Jahr der Genfer Arrnand Brunschvig die Lage des SIG in einem Kreisschema,
als er gegenüber den Vertretern des JDC ausführte, die Schweiz sei ganz zuerst von
aussen bedroht, habe sich abzusichern und ihre Integrität zu wahren; dann sei im
Innern die antisemitische Propaganda zu verhindern; und alles andere folge dieser
Logik, wenn die Schweizer Juden aus dieser Einsicht zuerst strikte Erfüllung von
Pflichten und erst dann ein moralisches Recht im Auge hätten. Die Schweiz sei 650
Jahre alt, die andernorts wieder rückgängig gemachte Emanzipation währe erst 80
Jahre lang, und augenblicklich dürfe man sich als eine bloss halbprozentige Minderheit
des Landes nicht als besonders wichtig hervortun. 98 In dieser Stimmung und Ein-
schätzung war im SIG nicht daran zu denken, die erhobenen Ansprüche weiter zu
verteidigen. Man hatte rechtsstaatlich brillant gespielt, doch politisch im luftleeren
Raum operiert.
Für eine abschliessenden Situierung des gesamten Vorgangs in schweizer-
geschichtlicher Hinsicht ist die Feststellung wichtig, wie schwer sich Bundesrat und
Behörden bei der Verständigung mit den Schweizer Juden taten. Denn die abblock-
ende und langatmige Kommunikation ist auch Ausdruck der widerspruchsvollen
Innenpolitik, die in der Schweiz der Kriegsjahre insgesamt zwar die gegensätzlichen
gesellschaftlichen Kreise integrieren wollte, doch gleichzeitig sich für rechtsstaatliche
Ansprüche oder emanzipatorische Forderungen oft verschlossen oder unduldsam zeig-
te. Der Krieg und die Umschliessung der Schweiz hatten die Einbindung von sonst
antagonistischen Kräfte gebracht, der Nazismus und seine antisemitische Propaganda
im Ausland die Gefährlichkeit einer künstlichen «Judenfrage» als Instrument der
Aufspaltung erwiesen. Der Bundesrat war in seiner zweideutigen politischen Haltung
gegenüber den Achsenmächten und den schweizerischen Faschisten von den politi-
schen Parteien und der kritischen Presse scharf kritisiert worden. Dass nun ausgerech-
net eine drittklassig eingeschätzte Minderheit, von der man nichts anderes als schwei-
gende Loyalität erwartete, gar mit völkerrechtlichen Argumenten vorrückte und auf
abstrakter Rechtsstaatlichkeit beharren wollte, dürfte gewiss merkwürdig angemutet
haben. In ungewohnter Weise hatten die Schweizer Juden aufgemuckt und damit den
traditionellen Partikularismus des Landes wie den eigenbrötlerischen Zug der Schwei-
zer auf ihre Weise bereichert.
Zum Charakter der Affäre gehörte letztlich das einvernehmliche Verschweigen der
Blössen. Es erinnert an die gängige Tabuisierung des Antisemitismus und entfernt
208 3. KAPITEL

auch an jenes Schweigen, in das sich der Bundesrat schon bei den Verhandlungen um
den J-Stempel gehüllt hatte. Der Unterschied lag darin, dass 1938 die Schweizer Juden
nichts wissen durften, jetzt aber nichts wissen und verlautbaren wollten. Von der
Affare damals bis hin zur Affare um den Ordre public zieht sich dennoch ein gemein-
samer Faden. Das hier bekannte Prinzip der Reziprozität zwischen zwei Staaten, das
heisst die vertragliche Gleichheit bei gegenseitiger Übernahme von Zusicherungen,
Konzessionen oder Vorbehalten, war in beiden Fällen nicht zum Nutzen der Schweizer
Juden gehandhabt worden. Gerade in der Vereinbarung um den J-Stempellauerte im
deutschen Vorbehalt, gleichlautendeMassnahmen gegenüber den Schweizer Juden zu
ergreifen, die mögliche und tückische Anwendung dieses vertraglichen Prinzips, das in
Frankreich tatsächlich zur Anwendung gelangte. Zu der Vereinbarung um den J-
Stempel haben wir zurückzukehren, um auch eine letzte Konsequenz verstehen zu
lernen: die «Affaren» von eidgenössischen Männern mit jüdischen Schweizer Frauen,
die es nicht mehr sein durften.

DOPPELT DISKRIMINIERTE FRAUEN:


FREMDE JÜDINNEN ODER JÜDISCHE SCHWEIZERINNEN?

In der Aktennotiz über die Informationen, die Guggenheim von seinem Gewährsmann
über die inneren Verhältnisse im Politischen Departement wegen des «ordre-public»
erlangte, bietet sich dem Leser ein interessantes Stück argumentativer Beweisführung.
In der abteilungsinternen Diskussion über die verschiedenen Gutachten wurde als
Gegenbeweis ein paralleles Beispiel angeführt, das «hypothetisch» den Fall illustrie-
ren sollte. Angenommen wurde, dass «Frankreich allen Frauen das Recht auf Arbeit
verbiete, um die arbeitslosen Männer einzuschalten», und darauf würde die Schweiz
wohl nicht verlangen können, dass die arbeitenden Schweizerinnen von dieser Bestim-
mung ausgenommen würden. Die Beamten des Departements konstruierten also den
Unterschied zwischen jüdischen und nichtjüdischen Schweizern als vergleichbar mit
der hypothetischen Diskriminierung aller Frauen in der Beschäftigungspolitik.99
Die Parallelsetzung in diesem Gedankenspiel, mit dem zwei verschiedene Dinge
verkettet erscheinen, offenbart zunächst das «schlechte Gewissen» in einer Männer-
sache. Im Verlauf der krisenüberschatteten dreissiger Jahre waren Frauen oft aus
eroberten Berufsstellungen im sekundären und tertiären Erwerbszweig wieder hinaus-
gedrängt worden, eine Tendenz, die gar von politischen Autoritäten befürwortet wor-
den war. Psychologisch mochte überdies die Konnotation von <~üdisch» mit «weib-
lich» vielleicht auch wieder einmal den Tiefen der antijudaistischen Erbschaften
entsprungen sein, die in vergangeneu Jahrhunderten gerne mit dieser doppelten
VON FALL ZU FALL 209

Designation des Bösen aufgetrumpft hatten. Wie auch immer, die reizbeladene Hypo-
these, mit der man im Politischen Departement das eigene diplomatische Verhalten
erklärbar zu machen suchte, verrät eine sehr reale Dimension, indem es implizit auf die
jüdischen Schweizerinnen hinweist. Dieses Thema ist aber ebenso verknüpft mit der
Frage nach dem Schutz bzw. der Schutzlosigkeit, die sich für einen Teil dieser Frauen
aus den Folgen des J-Stempels ergab.
Von Bem aus wurden nicht nur die jüdischen Ehefrauen von Internierten und
Flüchtlingen diskriminiert, indem die Fremdenpolizei den jüdischen Angehörigen aus
dem unbesetzten Frankreich die besuchsweise Einreise verweigerte - ganz im Gegen-
satz zu den viel zahlreicheren Ehefrauen von nichtjüdischen Internierten_HJO Auch die
jüdischen Schweizerinnen, die einen Ausländer geheiratet hatten, gerieten nun zwi-
schen Stuhl und Bank. Allgemein litten die jüdischen wie nichtjüdischen Schweizerin-
nen, die es irrfolge der Ausländerheirat nicht mehr waren, unter dem Verlust ihres
angestammten Bürgerrechts. Für die Jüdinnen aber nahm dieser allgemeine Umstand
zuweilen bedrohliche Folgen an.
Die Ausländerheirat bewirkte, dass ehemalige Schweizerinnen jüdischen Glaubens
von ihrem ursprünglichen Heimatstaat keinen Schutz mehr vor den Verfolgungen
erhielten. Denn diese Frauen nahmen nach ihrer Heirat, laut schweizerischem Recht, die
fremde Staatsbürgerschaft des Ehegatten an und verloren gleichzeitig ihre angestammte
schweizerische Staatsbürgerschaft. Gleichzeitig hatte der J-Stempel in ihrem Pass zur
Folge, dass eine schweizerische Jüdin, die nun deutsche Staatsbürgerirr war, ab Oktober
1938 an der Grenze abgewiesen wurde. Viele ehemalige Schweizerinnen waren zwar
längstens vor diesem Datum mit ihrer jüdischen Familie in die Schweiz zurückgekehrt.
Nach dem Ausbruch des Kriegs, der unter anderen die Besetzungen Hollands, Belgiens
und Frankreichs brachte, versuchten aber auch Jüdinnen anderer Staatsbürgerschaften in
die Schwe~ zu gelangen. Ob nun als verfemte Reichsbürgerinnen oder mit einer
anderen ausländischen Staatsangehörigkeit- die ehemalige jüdische Schweizerin musste
bei ihrer Ankunft an der Schweizer Grenze die Abweisung als fremde Jüdin riskieren.
Hatten die jungen Schweizerinnen einst einen Belgier oder Franzosen geheiratet, deren
Staaten den frisch vermählten Frauen immerhin die Alternative zwischen dem neuen
oder dem angestammten Bürgerrecht offenliess, so konnte jetzt die «falsche» Wahl
mehr als den Verlust des Schweizerpasses bedeuten.
Die Frauen waren doppelt diskriminiert, als Frauen und als Jüdinnen. In der Praxis
fanden sie sich als ehemalige Schweizerinnen zudem ohne Schutz durch ihr Geburts-
land und ihren einstigen Heimatstaat. Bern hielt sich in diesen Jahren an die juristischen
Kriterien des Bürgerrechts mit einer Prinzipienfestigkeit, die bei den Verhandlungen
um den J-Stempel und bei den Interventionen zum Schutz der jüdischen Schweizer im
Reich entschieden gefehlt hatte. Dies illustriert auch die Einstellung Berns im Fall,
wenn eine Schweizerin mit einem nichtdeutseben Reichsbürger verheiratet war.
Ehemalige Schweizerinnen in Deutschland, die Angehörige von «Volksgruppen min-
210 3. KAPITEL

deren Rechts» geheiratet hatten, zum Beispiel einen Polen oder Tschechen, wandten
sich an die schweizerische Gesandtschaft in Berlin mit der Bitte um eine Bescheini-
gung, dass sie «volksmässig schweizerischer Abstammung» seien. Kappeier in Berlin
hielt eine Bescheinigung der «Rassenreinheit» für unbedenklich und zweckmässig, da
diese Frauen die gleiche rechtliche Stellung erhalten würden wie gebürtige deutsche
Frauen in ähnlichen Verhältnissen, die den Beschränkungen ihrer Ehemänner nicht
unterworfen wurden. Bem war mit diesem guten Dienst für schweizerische Frauen
gerne einverstanden, untersagte jedoch ausdrücklich, «derartige Bescheinigungen an
ehemalige Schweizerinnen auszustellen, deren Ehemänner Juden sind». 101 Die
«arischen» ehemaligen Schweizerinnen, die mit dem Stigma der Rassen- und Blut-
schande behaftet waren, sollten gefalligst den Preis für ihre Ehe mit einem jüdischen
Mann, der ohnehin verloren schien, selbst bezahlen.
Überblicken wir kurz das geschichtliche und mentale Umfeld, bevor wir konkreten
Belegen und Fragen nachgehen. Es besteht einmal genügend Grund zur Vermutung,
dass die von den Nazis betriebene Rückgängigmachung der Emanzipation der Frauen
auch bei Teilen der eidgenössischen Beamtenschaft auf ein gewisses mannhaftes
Verständnis gestossen ist. Dies passt sehr gut zur Frauengeschichte der Schweiz, die
auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch Jahrzehnte lang von den vergeblichen Mühen
um politische Gleichberechtigung geprägt blieb. Die Frauen waren während den
Krisen- und Kriegsjahren auch aus zuvor neu eroberten beruflichen und gesellschaftli-
chen Stellungen abgedrängt worden. Der hohe Frauenanteil bei den Ausländern in der
Schweiz, der zwar seit dem Ersten Weltkrieg erheblich rückläufig war, spielte in
fremdenpolitischen Argumenten eine wichtige Rolle. Zwischen 1933 und 1951 ist
gerade dieser Aspekt auch flüchtlingspolitisch belastet und mit judenfeindlichen Kom-
ponenten aufgeladen worden. Es sind also die unterschiedlichsten Aspekte vorhanden.
In der Verknüpfungvon Frauen-, Juden- und Flüchtlingsgeschichte rücken besonders
die Fragen der Wiedereinbürgerung und des Doppelbürgerrechtes von Frauen ins
Blickfeld, ein ständiges Thema seit 1914/18, das erst in den achtziger Jahren mit dem
neuen Bürgerrechtsgesetz entschärft wurde.
1930 hatten Kanada und die Vereinigten Staaten wegen grenzübergreifenden
Heiraten versucht, eine internationale Konferenz zur globalen Regelung der
Staatenlosigkeit von verheirateten Frauen einzuberufen. In der Schweiz war das The-
ma 1934 vom bemischen Regierungsrat Hans Stähli im Nationalrat angeschnitten
worden. In den dreissiger Jahren mehrten sich in Bern ganz allgemein die Anfragen
von Gemeinden und Kantonen sowie privaten Anwaltskanzleien, wie man sich zur
Frage der Wiedereinbürgerung zu verhalten habe. Im Falle einer gebürtigen Schweize-
rin, deren deutscher Ehemann 1935 ausgebürgert und damit staatenlos geworden war,
lautete der Bescheid aus Bern in der Regel, dass auch die Frau als heimatlos zu
betrachten sei. Umgekehrt ersuchten auch Heimat- und Bürgergemeinden, die ihre
Verpflichtung bei der Armenunterstützung fürchteten, um Angaben, wie eine Wieder-
VON FALL ZU FALL 211

einbürgerung von ehemaligen Schweizerinnen oder ihrer Kinder zu verhindem sei. In


diesem Falllautete die Auskunft aus Bem ebenfalls, die einstige Schweizerin sei als
fremdstaatliche Bürgerin zu betrachten. Damit konnte ein Gesuch um Wieder-
einbürgerung abgeschlagen werden. 102

Einzelne Frauenschicksale

Der Verlust des schweizerischen Bürgerrechts, den Frauen bei ihrer Heirat mit auslän-
dischen Männem hinnehmen mussten, war dem Bund Schweizerischer Frauen-
organisationen ständig ein Dorn im Auge. Der jahrzehntelange Dauerbrenner wurde
jeweils in den Jahren der beiden Weltkriege wegen der weiblichen Flüchtlinge, die
sich in die Schweiz retteten, von neuem aktuell. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam die
vom ETPD eingehaltene Praxis unter massiven Beschuss, als die Ausarbeitung eines
definitiven und einheitlichen Bürgerrechtsgesetzes anstand. An Frauenversammlungen,
in schweizerischen Zeitungen und bei Diskussionen um das neue Bürgerrecht fiel
Kritik an der eidgenössischen Polizeiabteilung, die alsbald auch departementsintern
zur Rechenschaft aufgefordert wurde und der Expertenkommission für das neue
Gesetz einen Bericht vorzulegen hatte. In der Kommission selbst legte im Jahr 1951
Antoinette Quinche, Rechtskonsulentin des BSF, aus mehr als vierzig Fällen ihrer
Anwaltspraxis acht exemplarische Fälle vor, die jeweils eine Grundsituation verdeut-
lichten. Mehrere dieser Situationen betrafen jüdische Ex-Schweizerinnen, waren aber
individuell in allen erdenklichen Kombinationen vorstellbar. Aufgezählt wurden na-
mentlich: die Einreise wird verweigert; die Einreise und die Wiedereinbürgerung sind
unmöglich; nach der Flucht bleibt die ehemalige Schweizerin monatelang als Flücht-
ling interniert; eine heimgekehrte Frau wird plötzlich aufgefordert, die Schweiz wieder
zu verlassen; Mann und Frau müssen staatenlos bleiben; es besteht Gefahr, die eigene
Familie im Ausland zu verlieren; das Recht auf Arbeit wird verweigert; als Schweize-
rin kann eine Frau nicht heiraten, weil sie dann Ausländerin würde. 103
Die gleichzeitige Diskriminierung von Frauen und Juden bzw. Jüdinnen gab dem
Thema seine doppelte Konnotation. Dabei waren wiederum zwei Grundsituationen
denkbar. Einmal konnte der Fall eintreten, dass eine nichtjüdische Schweizerin einen
ausländischen Juden heiratete, der nun samt seiner deutsch gewordenen Ehefrau
staatenlos wurde. So hatte zum Beispiel Grittli Zullinger, heimatberechtigt im heroischen
Madiswil, in Brüssel den deutschen Juden Rudolf Nathan geheiratet, verlor damit ihr
Schweizer Bürgerrecht und stand alsbald staatenlos da. Der Bundesrat sprach der Frau
in einem Rekursentscheid vom 9. September 1941 den Anspruch auf das Schweizer
Bürgerrecht ab mit der Begründung, die Nürnberger «Gesetze zum Schutz des deut-
schen Blutes» würden hinsichtlich der deutschen Staatsbürgerschaft keinen genügen-
den Verlustgrund für die Familie Nathan bilden. Besonders krass ist auch der Fall einer
212 3. KAPITEL

ehemaligen eidgenössischen Beamtin, die einst einen deutschen Juden geheiratet hatte
und später als in die Heimat zurückgekehrte Staatenlose in Bem um eine Toleranz-
bewilligung nachsuchen musste. 104
Zum andem konnte umgekehrt der Fall eintreten, dass eine jüdische Schweizerin
durch ihre Heirat mit einem deutschen Staatsbürger unter die Bestimmungen der
Nürnberger Gesetze und ihren Verordnungen fiel, gleichgültig ob ihr Ehemann nun
Jude war oder nicht. Illustrativ ist ein bundesrätlicher Rekursentscheid vom gleichen
Datum wie im angeführten ersten Beispiel. Bei den staatenlosen Eheleuten Gambichler-
Dreifuss war die ehemalige Schweizerin und jüdische Ehefrau mit einem nicht-
jüdischen Deutschen verheiratet. Das Ehepaar war in Deutschland ausgebürgert wor-
den. Unter Ignorierung aller antijüdischen Reichsgesetze lehnte der Bundesrat die
Wiedereinbürgerung der Ehefrau ab.
Die von Quinche vorgelegten Fälle zeigen auch auf, was es bedeutete, als ehema-
lige Schweizerin mit einem ausländischen Juden verheiratet zu sein, auch wenn die
Frau keine Jüdin war. Als sich Gertrud Huber zum Frühlingsanfang des Jahres 1927
mit dem Berliner Juden Herbert Heilborn vermählte, konnte sie nicht ahnen, dass sie
als Fünfzigjährige 1936 gezwungen würde, nach Frankreich auszuwandern und dort
ihr Ehemann von den Besatzungsbehörden deportiert werden sollte. Der einschlägige
Aktenbericht des EJPD, der auf die Vorwürfe des BSF hin erstellt wurde, schildert
den weiteren Vorgang wie folgt: «Durch die deutsche Judenausbürgerung war ihr
Ehemann staatenlos geworden und sie selbst befand sich in der gleichen Lage, da sie
nicht in der Lage war, den Ariemachweis zu erbringen. Frau Heilborn ersuchte darauf
hin unser Departement, ihr das Schweizerbürgerrecht zuzusprechen. Mit Entscheid
vom 3. Juli 1942 musste dieses aber feststellen, dass sie das Schweizerbürgerrecht
durch die Heirat verloren hatte und dass es ihr trotz der inzwischen eingetretenen
Staatenlosigkeit nicht mehr zugesprochen werden könne[ ... ]. Frau Heilborn ersuchte
darauf hin den Bundespräsidenten, ohne die Rechtmässigkeit des ergangenen Ent-
scheides zu bestreiten, ihr das Schweizerbürgerrecht auf dem Gnadenwege zu erteilen
oder ihr wenigstens Asyl zu gewähren.» Die Gnade ist 1942 der Witwe Heilborn
nicht zuteil geworden, und auch die Bewilligung ihres Einreisegesuches erfolgte erst
ein Jahr später. 105
Noch schlimmer erging es indessen der Aargauerin Irma Meier, die 1924 den
französischen Juden Samuel Strauss geheiratet hatte, im elsässischen Colmar wohnte
und 1941 zusammen mit ihrem Ehemann im Konzentrationslager Drancy bei Paris
interniert wurde. Dort verstarb der Mann nach schwerer Folter. Die auch noch staaten-
los gewordene Witwe Strauss, der die Schweizer Botschaft auf Drängen der Ver-
wandtschaft hin wenigstens ein Identitätspapier ausstellte, überlebte das Lager, aus
dem sie 1944 nach der Befreiung Frankreichs entlassen wurde. Ihr später eingereichtes
Gesuch um Wiedereinbürgerung wurde aber abgeschlagen, da nach einem Genfer
Polizeibericht ihre Kinder, die in die Schweiz flüchteten, «französische Mentalität
VON FALL ZU FALL 213

haben und den schweizerischen Anschauungen nicht angepasst sind». Die Familie zog
es vor, nicht zu rekurieren und in Frankreich zu bleiben. 106
Die Härte und Widersprüchlichkeit der verschiedenen bundesrätlichen Rekurs-
entscheide, das unmenschliche Festhalten an der vermeintlich gerechten Prinzipien-
strenge und die schweren Auswirkungen von Einreiseverweigerungen ergeben im
ganzen gesehen ein unerfreuliches Bild. Die schweizerische «Rassenhumanität» ist
gepaart mit deutlicher Frauenfeindlichkeit Die zahlreichen Akten der bundesrätlichen
Entscheide, aber auch die Urteile des Bundesgerichts zeigen, dass meistens zuungunsten
der Frauen entschieden wurde. Erst nach 1943 und dann Ende der vierziger Jahre
scheint sich endlich eine zunehmend mildere Haltung abgezeichnet zu haben. Wie
·aber lauteten die genaueren Bestimmungen, auf denen man so fest beharrte?

Bundesinstanzen, I-Stempel und «Frauenfrage»

Juristisch suchte der Bundesrat die leidige Sache der Wiedereinbürgerung 1940/41 mit
einem notrechtliehen Beschluss in den Griff zu bekommen. Ganz allgemein war die
Einbürgerung bislang nicht einheitlich kodifiziert gewesen, sondern bildete eine bunte
Musterkarte mitvielen Lücken. In einem Bundesratsbeschluss vom 11. November 1941
wurde daher die hängige Wiedereinbürgerung in dem Sinne geregelt, dass eine Schwei-
zerin automatisch die Staatsangehörigkeit des Mannes erhielt und diese auch weiterhin
beibehielt, unbesehen von späteren Entwicklungen. Massgebend war also das Datum
der Verheiratung. Ausnahmen im Bürgerrechtsverlust wurden nur dort gemacht, wo
dieser eidgenössische Grundsatz mit ausländischen Gesetzgebungen nicht harmonierte.
Die süd- und nordamerikanischen Staaten, die Sowjetunion, Belgien, die Niederlande,
Rumänien und Frankreich stellten es nämlich heiratenden Ausländerinnen frei, Doppel-
bürgetin zu sein oder für eine von beiden Möglichkeiten zu optieren.
Hingegen liess der Bundesrat gerade jene Frauen im Stich, die staatenlos geworden
waren. War der Ehemann zum Zeitpunkt der Heirat staatenlos, so konnte die Schweize-
rin zwar ihr Bürgerrecht behalten; hingegen wurde die Frau dann staatenlos, wenn der
Mann erst später staatenlos geworden war. Dieser feine Unterschied zielte ohne Zweifel
auch gegen jene Frauen, die einen deutschen Juden geheiratet hatten oder selbst Jüdin-
nen waren. Bemerkenswert ist das Datum des bundesrätlichen Beschlusses nicht so sehr,
weil es zufälligerweise genau drei Jahre nach der Reichspogromnacht datiert, sondern
weil zwei Wochen später in Deutschland die bekannte 11. Verordnung zum Reichs-
bürgergesetz erlassen wurde, nach der sämtliche deutsche Juden und Jüdinnen kollektiv
ausgebürgert wurden. Begehren nach Wiedereinbürgerung wurden also juristisch be-
sonders aktuell, indem die Vertreibung der Juden aus Deutschland mit der Reichs-
verordnung zum Problem des Auslandes gemacht wurde. Deutsche Juden mit Wohnsitz
im Ausland waren nun formell ausgebürgert und damit staatenlos geworden. Dies setzte
214 3. KAPITEL

Bem in Verlegenheit, indem der bundesrätliche Beschluss und seine letztlich juden- und
frauenfeindlich wirkende Unterscheidung bei Staatenlosen nachträglich wie «bestätigt»
erschien. Jedenfalls war klar, dass der Beschluss bereits wieder lückenhaft geworden
war. In einem EJPD-Kreisschreiben von Ende Februar 1942 behalf sich von Steiger mit
der Ausrede, man habe noch nicht feststellen können, ob die 11. Reichsverordnung vom
26. November 1941 auch wirklich in Kraft sei, womit die Staatenlosigkeit der darunter
fallenden Juden noch nicht nachgewiesen sei. 107
Konkret stellte sich Bem die Frage der einstigen Schweizer Jüdinnen auf doppelter
Ebene, nämlich einmal als besonderer Aspekt der Flüchtlingspolitik, zum andem als
Praxis der Wiedereinbürgerung. Die Fremdenpolizei fand sich mit der Wiedereinbürge-
rung konfrontiert, weil die ehemaligen Schweizerinnen es jetzt zum Teil geschafft
hatten, als flüchtende und fremdstaatliche Jüdinnen in die Schweiz zurückzukommen. In
den Weisungen über die Rückweisung oder Aufnahme von Flüchtlingen erschienen die
gebürtigen Schweizerinnen erstmals am 29. Dezember 1942 ausdrücklich erwähnt,
nachdem sie Ende September des gleichen Jahres noch stillschweigend unter den
«Härtefallen», die nicht zurückzuweisen waren, figurieren mochten. In allen späteren
Weisungen der Fremdenpolizei wurde die Aufnahme dieser besonderen Kategorie
flüchtender Frauen samt ihren minderjährigen Kindem ausdrücklich erwähnt.
Unklar bleibt freilich, ob alle diese Bestimmungen für die Jüdinnen mehr Gewicht
erhielten als die berüchtigte Weisung der Fremdenpolizei vom August 1942, wonach
Flüchtlinge aus Rassengründen keine Aufnahme in der Schweiz finden durften. Ange-
nommen, solches wäre der Fall gewesen, so liesse dies sich auch nicht nachweisen,
weil abgewiesene jüdische Frauen vermutlich deportiert worden waren und nicht
überlebt haben dürften, um ihre Rechte wieder beantragen zu können. Wie viele
gebürtige jüdische Schweizerinnen tatsächlich durch diese Umstände zu Opfern der
Nazis geworden sind, lässt sich folglich nicht ermitteln. Vermutlich dürfte es sich um
besonders tragische Einzelfälle gehandelt haben. Mir hat eine betroffene Jüdin, die das
Grauen überlebt hat, selbst ihren Fall geschildert: wie sie als hochschwangere Mutter
mit einem holländischen Pass in Basel zurückgewiesen wurde, in deutsche Hände fiel
und in ein KZ kam, wo ihr die Leibesfrucht bestialisch herausgerissen wurde. Allge-
mein liegen jedoch die angeführten Grundsituationen vor, die Antoinette Quinche
exemplarisch aufgezählt hat; dabei wird die Verweigerung der Einreise an erster Stelle
erwähnt. Bei der Fremdenpolizei wollte man sich 1950, gegenüber den Vorwürfen des
BSF, nicht erinnern, dass ehemalige Schweizer Bürgerinnen ohne Visum nicht aufge-
nommen worden wären. 108
Wie viele ehemaligen Schweizerinnen, ob Jüdinnen oder nicht, unter das deutsche
Ausbürgerungsgesetz fielen, ist ebenfalls kaum verlässlich anzugeben. Die Aus-
bürgerung deutscher und österreichischer Juden bescherte nämlich im Rahmen der
schweizerischen Flüchtlingsgeschichte die Kategorie der Staatenlosen, die in Akten
und Historiographie meist im gleichen Zug mit den noch übler gestellten schriften-
VON FALL ZU FALL 215

losen Flüchtlingen genannt werden. Von behördlicher Seite wurden diese Schrift- und
Staatenlosen immer unter ihrer ehemaligen Nationalität angeführt, um auch statistisch
keine Ansprüche auf einen Verbleib in der Schweiz zu präjudizieren. Eine Erhebung
am Ende des Krieges gab die Zahl der in der Schweiz sich aufhaltenden Flüchtlinge,
die durch Rassengesetz ausgebürgert worden waren, mit 2784 Personen an, wovon die
Hälfte verheiratet waren. Wiedereingebürgert wurden zwischen 1933 und 1951 insge-
samt 17'550 Person, darunter sehr viele reichsdeutsche Ex-Schweizerinnen. Tendenziell
waren dies sehr viel weniger Personen pro Jahr in den Jahren vor und während des
Krieges als in der Periode von 1946 bis 1951. Während des Kriegs sank die Zahl auf
592 im Jahr 1942 und stieg auf 1416 im Jahr 1949, eine Entwicklung, in der sich die
politische Umorientierung ebenso spiegelt wie die Haltung der Schweizer Frauen-
politik. Die Fremdenpolizei beklagte 1942 in einer internen Notiz den Anteil der
Jüdinnen, den man verglichen mit den demografischen Verhältnissen sehr hoch ein-
schätzte. Doch fürchtete hier die Beamtenschaft mehr die Verletzung der von ihr selbst
aufgestellten Prinzipien, zu denen auch der 1941 amtsintern ausgeübte «Numerus
clausus» gehörte, wonach pro Jahr nicht mehr als zwölf Juden eingebürgert werden
durften. Die gebürtigen oder ehemaligen Schweizerinnen jüdischer Herkunft dürften
nominell also einen geringeren Anteil ausgemacht haben als es die Fremdenpolizei
fürchtete. Er ist auf rund 400-500 Frauen zu schätzen, sofern sie tatsächlich ins Land
zurückgelangten. Hinzu kam im weiteren auch eine kleine Anzahl jener nichtjüdischen
Ex-Schweizerinnen, die einen deutschen Juden geheiratet hatten. 109
Wie stellten sich die verschiedenen Bundesinstanzen die Wiedereinbürgerung vor,
namentlich die der jüdischen Ex-Schweizerinnen? Gab es gegensätzliche Meinungen
bei einzelnen Instanzen? Wie verhielt es sich mit einzelnen Kategorien, besonders den
Staatenlosen? Die ehemaligen Schweizerinnen, die aufgrund ihrer Heirat und Aus-
bürgerung weder reichsdeutsche noch schweizerische Staatsbürgerinnen sein konnten,
lebten in einem gesetzlichem Zwischenbereich, der nicht vorgesehen, aber zugleich
Resultat einschlägiger in- und ausländischer Bestimmungen war. Sie waren damit in
Bern zu einem «Fall» geworden, der als Problem der Kodifikation grundsätzliche
Beachtung durch die Justiz verdiente und zugleich die administrative Dimension bei
der «Judenfrage» von neuem tangierte. Würde also die Schweiz sich mit den gewese-
nen Schweizerinnen in dem Moment, wo diese Frauen staatenlos wurden, solidarisch
verhalten? Gernäss dem damals geltenden Bürgerrechtsgesetz hatte die Schweiz dafür
zu sorgen, dass nach Möglichkeit keine Staatenlosigkeit auf einen Verlust des auslän-
dischen Bürgerrechts folgen durfte, doch bei Frauen war die erneute Einbürgerung nur
vorgesehen, wenn deren Ehe geschieden oder getrennt, das heisst die Familie nach
zivilrechtlicher Auffassung auseinandergefallen war. Die schweizerischen Jüdinnen
stellten aber in den meisten Fällen nicht den Normfall einer gescheiterten Ehe dar,
sondern eine durch Not und Umstände zusammengeschweisste Familie. Die intakte
Ehe, gleichgültig ob es sich um eine gemischte oder um eine volljüdische Ehe handel-
216 3. KAPITEL

te, stellte Bem vor die Aussicht, dass mit einer Wiedereinbürgerung der Frauen später
auch deren Ehemänner und Kinder das Bürgerrecht verlangen würden.
In seinem Beschluss hatte der Bundesrat am 11. November 1941 das geltende
Bürgerrecht eng nach den herrschenden Vorschriften ausgelegt und den automatischen
Verlust des Schweizer Bürgerrechts zur Regel gemacht. Wie wir ebenfalls gesehen
haben, wollte man nichts wissen von einer milden Haltung gegenüber den staatenlos
gewordenen Frauen. Deutlich anderer Meinung war das Bundesgericht, das sich
bereits 1940 in einem ungedruckten Bescheid auf den Standpunkt stellte, dass die
Schweizerin ihr Bürgerrecht beibehalten oder zurückerlangen könne, wenn sie es
unterlassen habe, ein Gesuch um die Staatsbürgerschaft des Ehemannes zu stellen. Der
Streit zwischen der Regierung und dem Bundesgericht, das zudem selbst gespalten
war, zog sich auch nach dem Erlass der deutschen Reichsverordnung vom 26. Novem-
ber 1941 weiter. In Lausanne glaubte ein Teil der obersten Richter, dass die 11.
Reichsverordnung automatisch wirke, was der Bundesrat jedoch strikt ablehnte, um
nicht in Zugzwang zu geraten. Milder gestimmt schien hingegen die ständerätliche
Vollmachtenkommission. Sie suchte anfangs 1942 eine pragmatische Lösung für das
Problem der Staatenlosen anzuregen, was in Richtung auf ein «provisorisches Bürger-
recht» hinauslief, um allenfalls mit einem Vollmachtenbeschluss die bestehende Lük-
ke bis nach Kriegsende zu überbrücken. 110
Gegen solcherart lautende Vorschläge machte Max Ruth, Adjunkt bei der Fremden-
polizei und Spezialist in allen Bürgerrechtsfragen, Opposition bei Bundesrat von
Steiger. Er sah in der geplanten Einführung der Wiedereinbürgerung «eine ausgespro-
chen philosemitische Ausnahmebehandlung» und fürchtete, den Jüdinnen sei dabei
hauptsächlich um ihre Männer und Kinder zu tun. Die ständerätlichen Anregungen
oder eine neue gesetzliche Regelung, die wohl human wirke, aber nachteilig und
kompliziert sei, würde bei Kantonen und Gemeinden auf starken Widerstand stossen.
Die Zahl der Wiedereinbürgerungen erreiche beinahe diejenige der normal Eingebür-
gerten, und die Vorschläge der Kommission müssten «von weiten Kreisen abgelehnt
werden, weil sie uns vorwiegend Jüdinnen und Judenabkömmlinge bescheren wür-
den». Damit stemmte sich Ruth vehement gegen eine «unnatürliche» Lösung, die
letztlich die Jüdinnen aus dem Kompetenzbereich der Fremdenpolizei wegzuführen
und auch die Kinder oder gar weitere «Unassimilierbare Elemente» ihrer Kontrolle zu
entziehen drohte. So wurde die Reintegration der schweizerischen Jüdinnen blockiert
und die Betroffenen auf die Zeit nach dem Krieg vertröstet.
Ruth war auch der Mann gewesen, der den Bundesrat bei seinem notrechtliehen
Beschluss weitgehend beeinflusst hatte. In einem Sonderdruck desBernischenJuristen-
vereins, der mit den Weisungen von Steigers an die Kantone und Konsulate gleich
mitversandt wurde, erläuterte der hartnäckige Adjunkt die Änderung der Vorschriften
vom 11. November 1941. Er verteidigte darin die Doktrin, dass «unser Recht auf die
agnatische Familie, d. h. die Familie des Mannesstammes aufgebaut ist», als jahrtau-
VON FALL ZU FALL 217

sendealte Weisheit. «Die Frau gehört zum Manne, weil durch die Ehe eine neue
Generation begründet werden soll un~ weil nur die Generationenfolge dem Staatsvolk
die Unsterblichkeit sichert. Der Ausspruch der Bibel: <Dein Volk sei mein Volb, ist
nicht jüdisch, sondern allgemein menschlich. Der gleiche Gedanke kehrt wieder im
römischen Recht in der schönen Eheschlussformel: <Ubi tu Gaius ibi ego Gaia>[. .. ].» 111
In der patronistischen Rhetorik des Fremdenpolizisten mischen sich unvergoren
patriarchale und antisemitische Meinungen.
Kaum verwunderlich ist, dass die Beamten wenig Milde und Verständnis bei
ehemaligen Schweizerinnen fanden, wenn sie jüdischer Herkunft waren. Schwierig
abzuschätzen ist dabei der Einfluss von Hitler und seiner Propaganda, die wiederholt
und laut die Forderung nach Frauenrechten als eine <~üdisch-intellektualistische Erfin-
dung» angeprangert hatte - eine Formulierung, die für Deutschland nicht ganz unbe-
rechtigt war, weil dort jüdische Frauen und Frauenorganisationen eine markante Rolle
bei der Durchsetzung der Emanzipation gespielt hatten. Auch in der Schweiz beteilig-
ten sich jüdische Frauenorganisationen, trotz einer vorwiegend wertkonservativen
Orientierung, seit 1878 an der politischen Emanzipation und schlossen sich 1924 zu
einem eigenen Bund zusammen, der in den dreissiger Jahren dem BSF beitrat. Das
Schweizer Frauenblatt, Organ der «Arbeitsgemeinschaft Frau und Demokratie», das
sich entschieden für die Lage der Juden und der Flüchtlinge verwandte, wurde von
einer Jüdin redigiert. 112 Wenn nun von der eidgenössischen Fremdenpolizei das mit
Antisemitismus unterlegte Gespenst der Überfremdung beschworen wurde, wird eine
Mentalitätenlage sichtbar, bei der das Thema «Jüdinnen» hinsichtlich der Fremden-
und Flüchtlingspolitik besonders neurotisch berührte. Auf der jüdischen Seite haben
auch tatsächlich die Frauen eine frühe und schnelle Auswanderung aus Deutschland
und Österreich vehement betrieben, insbesondere ihrer Kinder, wobei sie oft genug im
Gegensatz standen zu ihren jüdischen wie auch nichtjüdischen Ehemännern, die
ungleich länger mit einem solchen Entscheid zögerten. 113
Die gesamte Frage der Wiedereinbürgerung von Frauen ist in den folgenden Jahren
und Jahrzehnten unerledigt geblieben. Die antisemitische Instrumentierung der frauen-
feindlichen Haltung von massgebenden Stellen war ein zusätzliches Element, das
selbst gewichtige Eigenqualität besass. Ein Angelpunkt, nämlich die indirekte Rück-
wirkung des J -Stempels auf eine kleine Anzahl Frauen aus der Schweiz, blieb in seiner
Absurdität weitgehend verborgen. Wenigstens warenjene betroffenen Jüdinnen, die in
den Jahren vor und während des Kriegs in die Schweiz gelangten, in Sicherheit, wenn
auch ihre rechtliche und persönliche Situation sehr unbefriedigend blieb.
TEIL II
DIE JUDEN
IN DER SCHWEIZ

Hervorgegangen aus ortsgebundenen Kleingemeinden und aus einer Einwanderung, de-


ren Quellgebiet das ganze jüdische Abendland umfasst, unterscheidet sich das heutige
Schweizer Judentum von den meisten anderen Judenschaften durch das Fehlen fast jedes gei-
stigen Zusammenschlusses, bei gleichzeitig vorhandener Überfülle von Verschiedenheit.

HermannLevin Goldschmidt, in S/G, Festschrift 1954, S./43 ff.

Humana actiones non ridere, non lugere, neque detestari, sed intellegere.

Baruch Spinoza
221

4. KAPITEL
POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUND-
LAGEN. DIE JÜDISCHEN ORGANISATIONEN
IN DER SCHWEIZ

Im folgenden wird zuerst die Binnengeschichte des Schweizer Judentums beleuchtet.


Diese «innere» Geschichte steht auf dem Hintergrund vergleichbarer Entwicklungen
in denjüdischen Gemeinschaften derwestlichen Welt, wenn auch in der Schweiz diese
Vorgänge relativ spät einsetzten und als einzelne Gemeindegeschichten in kaum
spektakulärer Form vonstatten gingen. Ein Vergleichsmassstab, den wir hier aber nicht
anwenden, wären die christlichen Kirchen in der Schweiz, die in der Modeme ohne
Zweifel von ähnlichen, wenn auch nicht überall vergleichbaren Phänomenen des
Wandels gefordert worden sind. Dazu sind aber die Unterschiede zwischen den
gewichtigeil christlichen Staatskirchen und der sehr kleinen jüdischen Minderheit, die
keinen öffentlich-rechtlichen Status hatte und zudem unter christlichem Missions-
druck stand, doch viel zu gross. Vor allem war das jüdische Selbstverständnis nicht
mehr überall ausschlif(sslich «Synagogal», sondern zunehmend kulturell und national
orientiert. Was aber erst fünfzig Jahre später im Gespräch sein sollte, nämlich die
öffentlich-rechtliche Anerkennung in einzelnen Kanton und die Öffnung der jüdischen
Gemeinden nach aussen, war damals völlig undenkbar. Die historischen Vorgaben, die
politischen Ereignisse und das eigene Selbstverständnis erlauben keine Vergleiche mit
den Kirchen, auch wenn einige Ähnlichkeiten im strukturellen Wandel auffallen
mögen.
Als zweites werden vor allem die internationalen jüdischen Organisationen be-
schrieben, die wesentlich politischer und meistens nicht religiöser Natur waren. Sie
prägten in den Jahren 1933-1945 und auch danach die Geschichte der Schweiz und der
Schweizer Juden, zum Teil erheblich, zum Teil am Rand. Die Kenntnis ihrer
Zielsetzungen und Organisationsstrukturen kann für den nichtjüdischen Leser hilfreich
für das Verständnis dieser Epoche sein. Im folgenden werden im Anschluss an eine
mehr allgemeine Orientierung, die auch das Bild der Schweiz in den Augen der
jüdischen Repräsentanten umfasst, die einzelnen Verbände und Organisationen
glossarhaft aufgelistet und beschrieben. Hinzu kommen für den nichtschweizerischen
Leser auf der andem Seite einleitend auch einige Hinweise auf das internationale
Engagement der Eidgenossenschaft. Damit wird die Bedeutung des einstmals interna-
tional wichtigen Platzes Schweiz in Erinnerung gerufen.
222 4. KAPITEL

VON DEN MILIEU- ZU DEN EINHEITSGEMEINDEN:


WEST- UND OSTEUROPÄISCHES, ORTHODOXES UND LIBERALES,
RELIGIÖSES UND SÄKULARES JUDENTUM IN DER SCHWEIZ SEIT 1918

In ganz West- und Zentraleuropa kam es, von wenigen Nischen abgesehen, im Judentum
während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer kulturellen Anpassung an die
jeweilige Gesellschaft der Umgebung, die auch zumeist nationalstaatlich eingeklam-
mert war. Akkulturation, Partizipation und Assimilation sind Konzepte, mit denen das
nachemanzipatorische Programm der Modeme beschrieben wird. Zugleich aber bringt
dies zwangsläufig die Widersprüche in der Definition der eigenen jüdischen Substanz
an den Tag. Die Juden der emanzipierten Gesellschaften zahlten als Preis für die
Gleichberechtigung nicht nur die Aufgabe ihrer eigenen nationalen Existenz, indem
sie ihr Judentum konfessionalisierten. Vielmehr beschleunigte dies auch die Heraus-
bildung unterschiedlicher Religionskonzepte sowie das Entstehen eines weitgehend
säkularisierten Judentums. Auf der Ebene des religiösen Selbstverständnisses wirkten
drei grundlegende Strömungen auch auf die Schweiz ein, die aber vergleichsweise erst
spät zu einer Formierung im Sinne fester jüdischer Gemeinden führten. Auf den
Versuch, das Judentum im liberalen Sinne zu reformieren, folgte in Deutschland und
im anglo-amerikanischen Bereich als Gegenkraft das orthodoxe Judentum, das im
Rahmen der Emanzipation eine gesellschaftliche Absonderung nicht aufzugeben be-
reit war. Als zwischen Liberalen und Orthodoxen stehende Denomination etablierte
sich dann das konservative Judentum, das besonders in den Vereinigten Staaten
jüdischen Geist und moderne Entwicklung verbinden konnte. Alle diese religiösen
Ströme repräsentierten ein emanzipiertes Judentum, das politisch neutralisiert war. 1
Anders als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzogen sich in der inneren
Geschichte des Judentums während den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kaum
mehr äusserlich auffallende Ereignisse. Die vorhandenen religiösen Denominationen
befestigten ihre Position in faktischer, aber unpolitischer Wahrnehmung der Emanzi-
pation. Zusehends fanden sie sich seit der Jahrhundertwende aber von den nicht-
religiösen und daher politisch-sozial ausgerichteten Bewegungen des Judentums in
Frage gestellt, die einerneuen säkularen Identität entsprachen. Das neue politische und
institutionelle Selbstverständnis insgesamt entsprach den Chancen der Juden, im mo-
dernen Verfassungsstaat als eigenständiger Faktor ihre doch sehr unterschiedlichen
Interessen wahrzunehmen. 2
Keine andere Stadt in der Schweiz besass und besitzt ein so breites Spektrum an
organisiertem jüdischem Leben wie Zürich, an dem sich diese Entwicklung ablesen
lässt.3 Die heute dort bestehenden vier Gemeinden zeugen in der unterschiedlichen Art
der Religionsausübung und des Lebensstils vom geschichtlichen Einfluss der drei
POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUNDLAGEN 223

religiösen Hauptströmungen aus dem europäischen Umfeld. Die im Zuge der sich
anbahnenden Emanzipation im Jahr 1862 gegründete Israelitische Cultusgemeinde
(ICZ) verstand sich religiös zwar immer alsEinheitsgemeinde, die allen Strömungen ein
Dach über dem Kopfbieten wollte. In den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens tendierte
sie zu einem Stil mit reformerischen Elementen, nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen
dann wieder die neoorthodoxen Einflüsse zu. Doch in der Lebensgestaltung vieler ihrer
Mitglieder dominierte bereits früh der säkulare Lebensstil, der von liberalen und wert-
konservativen Grundhaltungen zugleich bestimmt blieb. Ähnlich wie in anderen Städten
suchte die ICZ bis heute ein - religiös und säkular gesehen- pluralistisches Profil zu
wahren.4 Teilweise aus ehemaligen Mitgliedern der ICZ spalteten sich nach «rechts»
und «links» zweimal neue Gemeinden mit festen religiösen Denominationen ab.
1895 entstand als sogenannte Austrittsgemeinde, der die ICZ zu wenig «fromm»
oder allzu liberal war, eine orthodoxe Gemeinde nach deutschem Ritus. Dieisraelitische
Religionsgesellschaft (IRG), deren Mitglieder zumeist dem Mittelstand angehörten,
wurde soor bald von gleichgesinnten Zuwanderern aus anderen westeuropäischen Län-
dern verstärkt. 1924 konnte die IRG ihre eigene Synagoge einweihen, die nicht mehr in
einem orientalisierenden, sondern zurückhaltenden einheimischen Stil gebaut war.5
1912 gründeten Einwanderer aus Osteuropa eine «charedische», das heisst ortho-
doxe Gemeinde Agudas Achim (wörtlich etwa «Vereinigung von Brüdern»), in der
sich auch chassidische Anhänger sammelten. Oberster Leitsatz bildet ein streng
orthopraxes Leben nach dem jüdischen Religionsgesetz und teilweise auch die Beibe-
haltung der Kleidersitten, wie man es in Osteuropa gewohnt gewesen war. Die ost-
europäischen Immigranten sprachen auch weiterhin Jiddisch, was allerdings auch für
die nichtorthodoxen unter ihnen zumindest in den Anfängen ebenfalls gilt. Im bürger-
lichen Zürich zeigte ein solches dissimilatorisches Merkmal der Umgebung an, dass
man den eigenständigen Lebensstil wahren und die westeuropäischen Gewohnheiten
nicht um jeden Preis annehmen wollte. 1962 ist schliesslich an der Erikastrasse die
Synagoge der Agudas Achim gebaut worden.
Auf der andern Seite des religiösen Spektrums bahnte sich die Gründung einer
vierten Gemeinde sehr viel später an. Die liberalisierenden Tendenzen, die sich bislang
unter dem Einheitsmantel der ICZ manifestieren konnten, formierten sich 1978 zu
einer eigenen religiös-progressiven Gemeinde unter dem Namen Or Chadasch («Licht
des Neuen»). Deren Wurzeln liegen auch bei den Religiös-Liberalen der frühen
fünfziger Jahre. Die Gründung einer Vereinigung für religiös-liberales Judentum in
der Schweiz im Jahre 1957 zeigt das Bedürfnis, die progressiven Kräfte zu formieren,
nachdem sie in den Jahrzehnten zuvor noch unangefochten ihre Heimat in den Einheits-
gemeinden gesehen und dort auch oft dominiert hatten. 6
Zusammenfassend gesagt, die gesamteuropäischen Tendenzen innerhalb des reli-
giösen Judentums lassen sich also in Zürich zwar exemplarisch, aber zeitlich etwas
verspätet ablesen. Ähnliche Spaltungen oder auf kulturelle Autonomie bedachte Grün-
224 4. KAPITEL

dungen von Gemeinden gab es auch in anderen Schweizer Städten, wobei diese
herkunftsgebundenen Milieu- oder religiös ausgerichteten Denominationsgemeinden
mit ihren tradierten Riten sich nur in Genf und Basel halten konnten. Allein die
Beschreibung der religiösen Profile macht bereits drei weitere Polaritäten sichtbar:
einmal die Existenz eines säkularen Judentums, dessen Lebensempfinden ohne Syn-
agoge auskommen will oder nach Gemeindestrukturen mit stark erweiterten Angebo-
ten und politisch-sozialen Aufgaben verlangt; zweitens den Gegensatz von West- und
Osljuden, dem die Migration zugrunde lag, was die Frage von Herkunft und Integrati-
on innerhalb der jüdischen Gemeinschaft selbst aufwarf; und drittens ein Konflikt der
Generationen, der teilweise auch aus diesen beiden Momenten der Veränderung
resultierte. Die Entwicklung sollte in der Zukunft dahin gehen, dass mit institutionell
erweiterten Einheitsgemeinden die neuen Tendenzen und Bedürfnisse sektorhaft abge-
deckt wurden, ohne dabei die sehr starken und formal verfestigten religiösen Bindun-
gen aufzugeben.
Ein säkulares Judentum zeichnete sich, aus dem Blickwinkel der Schweiz gesehen,
im Zuge der modernen Lebensgestaltung zunächst im Deutschland des Kaiserreiches
und der Weimarer Republik ab. Jenseits von Gebet, Glauben oder Ritus suchten viele
deutsche Juden ihre neue geistige Heimat in einer jüdischen Kultur, die konfessions-
neutral an der bürgerlichen Kultur partizipieren wollte. In den osteuropäischen Län-
dern existierte ebenfalls eine Kraft, die sich von religiösen Formen absetzte. Dort
wuchsen viele Juden mit den Vorstellungen eines jüdischen Sozialismus oder
Anarchismus heran, die durch die Auswanderung auch in den Vereinigten Staaten
weiterlebten. Das gesamte religionslose Judentum assimilierte sich aus agnostischem
Empfinden, und man nahm nicht mehr, wie dies noch im 19. Jahrhundert geschehen
war, die Taufe, um gesellschaftlich zu arrivieren. Konservative Christen oder kirchli-
.ehe Missionen beargwöhnten daher diese modernen, bildungs- und kulturbeflissenen
Juden weit mehr als das religiös-traditionsgebundene Judentum. Die Abneigungen
gegen Religion jeder Art oder dann noch öfters ein eigenes, privates «religions-
philosophisches» Verständnis waren ein Charakteristikum für diese sogenannten Kultur-
juden. 7 Sie verstanden sich durchaus als Juden, waren aber nichtpraktizierend oder
gingen, wenn überhaupt, als «Dreitage-Juden» nur gerade an den hohen Feiertagen in
die Synagoge. Neue Identifikationsangebote fanden sie in der Geschichte, Volkskunde
und Literatur und ähnlichen Beschäftigungen mit dem Judentum, dann aber zuneh-
mend im Zionismus. Wie immer das individuelle Lebensgefühl sich kundtat, es liess
viele dieser Juden auch in der Schweiz abseits von den konfessionalisierten
«Kultusgemeinden» stehen. Aber auch materielle Gründe, wie das Nichtbezahlen von
Steuern für Gemeinden, die noch ein ausschliesslich religiöses Angebot bereitstellten,
hielt da und dort viele Juden von einer Mitgliedschaft ab.
Deutlich ist der säkulare Zeitgeist auch an der Sorge der Gemeinden, ihre Mitglie-
der halten zu können, auszumachen. In Zürich glaubte 1929 der ICZ-Vorstand, dass
POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUNDLAGEN 225

fast die Hälfte aller örtlichen Juden nicht Mitglieder einer Gemeinde der Stadt seien.
Neun Jahre später schätzte Carl Brüschweiler, dass in den statistischen
Landeserhebungen jeder vierte Jude sich nicht als «GlaubensjudM deklariert, sondern
als konfessionslos oder auch andersgläubig erklärt habe. Neben 115 jüdischen
Einbürgerungen in der Stadt Zürich figurierten im Jahr 1933 ebenfalls 45 Angehörige
«anderer» Konfessionen, das heisst weitgehend Konfessionslose, unter denen Otto
Heim, späterer VSJF-Präsident, besorgt einen «gewissen» jüdischen Volksteil vermu-
tete. 1934 klagte Georg Guggenheim, dass bereits im Zeitalter des Liberalismus die
Loslösung von den religiösen Vorstellungen des Judentums eine bloss fadenscheinige
Begründung für die Ablehnung der Gemeindemitgliedschaft gewesen sei. Er betonte,
dass jetzt die ICZ mehr als nur eine «Cultusgemeinde», wie dies der Name bezeichnet,
geworden sei, die nur Gotteshaus und Friedhof zu pflegen hätte. Man sei politisch ein
Teiljener Fülle autonomer Gemeinden und Verbände, die das Wesen derföderalistischen
Schweiz ausmachen würden. Zugleich repräsentiere man ein Judentum, das «aus sich
heraus Kräfte entwickelt, die beweisen, dass die jüdischen Gemeinschaft nicht allein
auf gemeinsamen religiösen Überzeugungen gegründet ist~~.
Den starken Bedeutungsverlust der reinen Konfessionsgemeinde signalisierte auch
Heim, wenn er meint, dass «die nationale Gliederung viel entscheidender im Einfluss
auf die gesamten sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse zu werten ist
als die konfessionelle, soweit sie sich auf den Anteil der Juden bezieht». Gegen die
gesellschaftliche Atomisierung wurde auch der Generationenkonflikt auf dem Hinter-
grund der rassistischen Anfechtungen thematisiert. Wer Judentum als eine Aufgabe
der Gemeinschaft sehen wolle, müsse zu einer «intensivierten Judaisierung der jüdi-
schen Jugend» Hand reichen und die Jugend organisatorisch andernorts als nur in
Bildung, Familie und Religion ansprechen. «Hinein in die Gemeinden» war daher eine
Parole, mit der eine jüngere Generation für den Kampf der Stunde gewonnen werden
sollte. Seit den dreissiger Jahren erschien die Umwertung der jüdischen Institutionen
daher mit der aktivierten Abwehr des Antisemitismus verknüpft. 8
In den Einheitsgemeinden wurden in der Periode von 1930 bis 1950 zunehmend
neue Kommissionen (Ressorts, Referate) eingerichtet, die über den ursprünglichen
Bereich von Religion und Friedhof hinauswiesen. Kommissionen für Soziales, Ju-
gend, Bibliothek, Bildung und Kultur konnten zwar auch mit einem traditionellen
Selbstverständnis legitimiert werden, spiegeln aber den weltlichen Trend der Juden in
der Modeme. 9 Einzig der Sport blieb, im Gegensatz etwa zu den amerikanischen
«Community Centers», von dieser Entwicklung unberührt und oft eine Domäne der
politischen Bewegung, das heisst des Zionismus, oder vereinzelt der «Lands-
mannschaften», in denen sich Immigranten aus Osteuropa sammelten. Die Einheits-
gemeinde sprengte, wie 1962 der amtierende ICZ-Präsident zurückblickte, den Rah-
men einer blossen «Cultusgemeinde» im traditionellen Sinne. 10
Der Trend zur Einheitsgemeinde und der damit verbundene institutionelle Ausbau
226 4. KAPITEL

ist baulich ablesbar an der oft langen Entstehungsgeschichte von neuen Gemeinde-
häusern, die vor oder nach dem Zweiten Weltkrieg geplant und realisiert wurden. 1938
weihte man in Zürich das ICZ-Gemeindehaus der grössten Gemeinde in der Schweiz
ein, in dessen grossemSaal auch zahlreiche Veranstaltungen und Konzerte einheimi-
scher oder im Exil entstandener Vereine stattgefunden haben. Ursprünglich war dort
eine weiträumige Synagoge in Betonskelettbauweise geplant, weshalb man den deut-
schen Stararchitekten Erich Mendelsohn in die Wettbewerbsjury bestellt hatte. Unter
dem Eindruck der negativen politischen Ereignisse, der frontistischen Aktionen und
des gesellschaftlichen Wandels zog man den Bau eines modernen Gemeindezentrums
an der Lavaterstrasse vor. Mit diesen Erscheinungen verbunden, zwang fehlendes
Geld die ICZ dazu, auf den Synagogenbau zu verzichten. 11
Andere grössere und mittlere Gemeinden haben erst nach dem Krieg nachgezogen.
Baselleistete sich ein geräumiges, vierstöckiges Gemeindezentrum, das 1944 bereits
ins Gespräch kam, 1953 entworfen und bald danach neben der Synagoge gebaut
wurde. Es sollte wie in Zürich dem lang gewachsenen, aber aus finanziellen und
politischen Gründen hintaugehaltenen Bedürfnis nachkommen, Gemeindeverwaltung,
Vereins- und Clubzimmer, Schulräume, Treffpunkte, Bibliothek und vor allem einen
Gemeindesaal mit Foyer aufzunehmen. 12 Im Zeichen des Wohlstands und Wandels der
sechziger und siebziger Jahre entstanden auch in Genf und Lausanne Gemeindehäuser,
in denen sich auch das gesellschaftliche und vereinsmässige Leben abspielte. 13 In Bem
wurde das Gemeindehaus seit 1956 geplant und 1971 als Flügelbau der Synagoge
gebaut. Dabei änderte die «Israelitische Kultusgemeinde}} auch ihren Namen und
wurde, unter Wegfall des Begriffs «Kultus», zur «Jüdischen Gemeinde»Y
Dies alles repräsentiert die institutionelle Ausweitung der Gemeindeaktivitäten, die
nach dem Ersten Weltkrieg sich anbahnte, seit den dreissiger Jahren unter dem Druck
der äusseren Verhältnisse moderiert und dann im beschleunigten Wandel der
Wachstumsgesellschaft weiter verfolgt wurde.
Das neue institutionelle Selbstverständnis hatte die keineswegs nur positiv emp-
fundene Wirkung, dass zahlreiche Vereine, die bislang eigenständigen Herkunfts-
kulturen und gruppenspezifischen Bedürfnissen dienten, im Generationenschritt all-
mählich verschwanden und nach und nach, wie man zu sagen pflegte, «wegintegriert»
wurden. Deutlich wird dies an den vielen ostjüdischen Vereinen, die im Zuge der
Immigration aus Osteuropa entstanden waren und besonders seit den zwanziger Jahren
in Erscheinung traten. 15 Wo es nicht, wie in Zürich und Genf, genügend grosse
ostjüdische Gemeinden gab, die sich halten konnten, existierten ostjüdische Vereine
weiter, die eigene Gottesdienste abhielten. In Biel und St. Gallen zum Beispiel bean-
spruchten die ostjüdischen Gemeinden anfänglich noch organisatorische Eigenständig-
keit, gingen dann aber in der bestehenden Gemeinde auf. 16 Länger überdauern konnten
aber vor allem die sozial tätigen und geselligen VereineY
Als Beispiel für diese gesellschaftliche Trennung von Ost- und Westjuden kann
POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUNDLAGEN 227

Bem dienen, wo 1930 in der Stadt rund 850 (Kanton 1493) Juden lebten. Die dort
existierende Einheits- und Kultusgemeinde mit knapp 150 zahlenden Mitgliedern
(Familien) kann als höchstens mittlere Gemeinschaft gelten. In Bem gründeten die
Ostjuden in den zwanziger Jahren vier Vereine, nämlich Achi-Eser (Gottesdienste),
Esrath-Achim (Darlehen), Bikur Cholim (Krankenverein für Männer); die Frauen
fanden sich im Ostjüdischen Frauenverein zusammen, der getrennt vom wesljüdischen
Frauenverein existierte. Eine kurze Zeit gab es eine eigene ostjüdische Gemeinde, die
bereits in den dreissiger Jahren in der «alteingesessenen» Kultusgemeinde aufging.
Am längsten hielt sich der Bikur Cholim, der 1972 mit dem westjüdischen «Männer-
krankenverein» fusionierte, während die osljüdischen Frauen 1959 im parallel beste-
henden «Jüdischen Frauenverein» integriert wurden. Standen anfänglich die «altein-
gesessenen» Bemer den zugezogenen «Osljuden» verständnislos gegenüber, weil
deren strenggläubige Riten und Lebensweisen fremd blieben, so ging andererseits in
Bem auch die zionistische Gruppierung, die sich von «Kultusjuden» abgrenzte, von
russisch-jüdischen Studenten und Studentinnen aus. 18
Der Versuch, die eigenen Sprach- und Lebensformen zu wahren, ist also zugleich
bei den religiösen wie den säkularen Kräften unter den Osljuden zu beobachten. Ein
besonders eindrückliches Beispiel für die tendenziell weltliche Tradierung liefert uns
die Geschichte der ostjüdischen Kulturvereine in Zürich. Dort entstand 1923 der nach
dem gleichnamigen Lodzer Chor benannte <<Jüdische Gesangsverein Hasomir», der
sich zunächst der Pflege der jiddischen Folklore und karitativer Tätigkeit für polnische
Gemeinden widmete. Unter der Leitung von Alexander Schaichet, selbst russisch-
jüdischer Immigrant und Gründer des Schweizer Kammerorchesters, gelangte der
Hasomir bald zu einem hohen künstlerischen Niveau mit avantgardistischem Zu-
schnitt. Parallel dazu entstand 1932 der «Literarisch-dramatische Perez-Verein», der
nach dem Muster der jiddischen Bühnen- und Literaturgesellschaften das jiddische
Kleintheater kultivierte.
Von Interesse ist, dass beide Vereine mit der Kultur der westeuropäischen Juden
eine gemeinsame Plattform suchten. Gefunden wurde diese im Omanut, die als Forum
und «Verein zur Förderung jüdischer Kultur» wirkte, von bekannten deutschen Emi-
granten mitgetragen wurde und selbst in der schweizerischen Öffentlichkeit hervortrat.
Die Omanut kann hier zitiert werden, weil er den Integrationsverlauf von mehreren
Faktoren gleichzeitig belegt und als einziger Verein, der zeitweise selbst ein
Sammelbecken früherer Kulturvereine war, bis heute übriggeblieben ist. Die Omanut
war 1931 im kroatischen Zagreh als kulturzionistische Initiative für eine säkulare
jüdische Musik und Kunst gegründet und 1941 in Zürich von jüdischen Kultur-
schaffenden jugoslawischer, polnischer, deutscher und schweizerischer Herkunft neu
errichtet worden. Schaffung günstiger Produktionsbedingungen und eine Aktivität auf
hohem Niveau kennzeichneten die ersten beiden Jahrzehnte. Mitten im Krieg band er
die säkulare Kultur von West- und Ostjuden zusammen, demonstrierte gleichzeitig ein
228 4. KAPITEL

Stück der selbstbewussten jüdischen Abwehr, ermöglichte vor allem dem kulturellen
Exil sich künstlerisch zu profilieren und begann nach dem Krieg sich zu einer schwei-
zerisch-jüdischen Einrichtung im bürgerlichen Zürich zu wandeln. 19 Deutlich wird die
initiative Wirkung des Omanut daran, dass sich die ICZ Mitte der fünfzigerJahreein
neues Ressort schuf und eine gemeindeeigene Kulturkommission bestellte, die Omanut
und anderen Vereinen natürlich Konkurrenz machte und zugleich die Integration der
Ostjuden abschloss.
Der bereits zitierte Gegensatz von West- und Ostjuden, der sich von Berlin bis
New York beobachten lässt, hat auch in der Schweiz seine zwei Seiten. Die Gegensät-
ze dürfen nicht voreilig mit einem wirtschaftlichen und sozialen Gefälle identifiziert
werden, wenn auch die Ostjuden zumeist in die urbanen Fussstapfen der arrivierten
Westjuden traten und im Kleinhandel, Textilgewerbe und andern Erwerbszweigen des
unteren Mittelstandes ihren Aufstieg begannen. Vielmehr war der Gegensatz auch
gegenseitig und angelernt: Wie an Beispielen dargestellt, suchten die Immigranten aus
den ost- und mittelosteuropäischen Ländern ihre Sprache und Kultur in eigenen
Vereinen vor der Assimilation durch die ihnen allzu angepassten Westjuden zu wah-
ren.20 Ob es sich um orthodoxe Lebenswelten oder weltliche Kulturaktivitäten handel-
te, spielte weniger eine Rolle als der Versuch, damit die eigene ostjüdische Identität zu
leben und zu retten. Respektabler Erfolg in der Wahrung von Kontinuität blieb dabei
freilich den orthodoxen Juden vorbehalten, deren normentragendes Milieu ein enges
familiäres Zugehörigkeitsgefühl vermittelte. Doch auch hier müsste noch genauer
nachgewiesen werden, wie viele im orthodoxen Lebensgefühl erzogene Kinder sich
später in die jüdische und schweizerische Umwelt akkulturiert haben.
Zum andern stiessen die ostjüdischen Immigranten in der «alteingesessenen»
jüdischen Gemeinschaft tatsächlich auf Unverständnis oder sogar Ablehnung. Dies tat
sich in unausgesprochenen Erwartungen und unsichtbaren Grenzen des Umgangs
kund. «Noch kann ich mich aus meiner Jugend erinnern, wie für uns der Begriff
<Pollacken> (gemeint die Juden östlicher Herkunft) ein Schimpfwort war, wie der
kleine Fluss Sihl hier in Zürich zum Rubikon der Zugehörigkeiteil wurde», beschreibt
der Psychoanalytiker Berthold Rothschild sein Gewahrwerden eines schlechten Ge-
fühls. Es ist in doppelter Wahrnehmung auch in Kurt Guggenheims Chronologie
«Alles in allem» als innerer Konflikt unter den Ostjuden selbst und als Bedrohung des
Eigenen durch die zürcherische Umwelt nachzulesen. 21 Vordergründig verhärtet wur-
de die soziale und mentale Schwelle im innerjüdischen Bereich durch den äusseren
Druck, wie er in der schweizerischen Öffentlichkeit und der antisemitischen
Einbürgerungs- und Aufspaltungspraxis zum Ausdruck kam. Die Ostjuden würden
eine unerwünschte Identifizierung mit «uns assimilierten Juden» bewirken, geisterte
als innerjüdische Angst in der Befürchtung weiter, dass die jüdischen Flüchtlinge
«unsere sichere Stellmig» im Staat gefährden könnten. Doch letztlich bewirkte der
äussere Druck das Gegenteil. Wir haben bereits oben betont, dass sich die jüdische
POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUNDLAGEN 229

Gemeinschaft von aussen her überhaupt nicht aufspalten liess. Dies kommt deutlich im
politisch gemeinten Verdikt des SIG-Präsidenten Jules Dreifus-Brodski zum Aus-
druck, der am Delegiertentag von 1931 dringend mahnte, es dürfe keinen Gegensatz
mehr zwischen West- und Ostjuden geben. 22
Fazit aller Beobachtungen: Im Schweizer Judentum begann nach 1930 ein
beschleunigter Wandel von den konfessionellen Denominations- oder herkunfts-
gebundenen Milieugemeinden zu den sektorhaften «Einheitsgemeinden». In drei
grösseren Städten hielten sich daneben kleinere Milieugemeinden, in denen die
orthodoxe Lebenswelt sich ihre eigene Heimat wahrte und die religiöse Praxis
nach deutschem oder polnischem Ritus weiter pflegte. Voraussetzung des Wan-
dels war einerseits die Polarität von religiösem und weltlichem Denken, anderer-
seits der Wille zur Integration der Ostjuden. Die um Wachstum bemühten Einheits-
gemeinden boten daher das Bild eines sehr liberalen Lebensstils, blieben aber im
Bewusstsein einer Traditionswahrung und aus Rücksicht auf den orthodoxen Flü-
gel stark wertkonservativ orientiert. Gleichzeitig setzte über Jahrzehnte hin der
institutionelle Ausbau ein, der die nichtreligiösen Bereiche in das Gemeindeleben
eingliederte. Dass der Auftakt dazu in den dreissiger Jahren liegt, macht deutlich,
dass die äusseren Ereignisse beschleunigend wirkten. Das trifft auch besonders auf
den Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund als Dachverband der autono-
men Gemeinden zu.

UNTER DOPPELTEM DRUCK:


JÜDISCH-SCHWEIZERISCHE VERBÄNDE MIT NATIONALER BEDEUTUNG

Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert haben sich in der Schweiz Verbände zuneh-
mend in das Verfahren der Gesetzgebung und in staatliche Vollzugsmassnahmen
einschalten können. Diese unter dem Begriff «Neokorporatismus}} beschriebene Mit-
wirkung, die schrittweise institutionalisiert wurde, ist bisher am Beispiel der grossen
Wirtschaftsverbände und Berufsorganisationen abgehandelt worden.23 Vergleichbare
Beschreibungen legt auch der Einfluss der beiden grossen Kirchen in der Schweiz
nahe, wobei die Katholiken in der Modeme aus dem zunächst gewählten politischen
Getto heraussteuerten. 24 Aufgrund ihrer staatsrechtlichen Stellung in den Kantonen,
parteipolitischer Identifikation oder weitgehender moralische Akzeptanz liesse sich
also auch von einem konfessionellen «Neokorporatismus}} sprechen. In die
Vernehmlassungen zu wichtigen sozialpolitischen Gesetzeswerken vermochten sich
Wirtschafts- und Berufsverbände, Kirchen und weitere Gruppen einzuschalten, sofern
sie relevante Interessen zu vertreten hatten. Dies nachzuweisen und dann einzubringen
230 4. KAPITEL

erforderte permanente Organisation, ökonomischen Rückhalt und möglichst hohe


Mitgliederzahlen.
Solche Voraussetzungen konnten die 18'000 Juden in der Schweiz, von denen
ohnehin die Hälfte nicht das Bürgerrecht besassen, schon gar nicht einbringen. Weder
das quantitative Gewicht noch der Nachweis relevanter Interessen gestatteten eine
aktive oder gar institutionalisierte Mitwirkung am Spiel und Regelwerk der politischen
Institutionen. Wie wir bereits gesehen haben, kam in den Jahren 1933---1945 hinzu,
dass die Juden sich in der politischen Landschaft zunehmend unsichtbar zu machen
suchten und im Bundeshaus auch als drittklassige Grösse eingeschätzt wurden. Die
faktische Einflusslosigkeit zeigt sich auch in der Taktik der Abwehr, die nach Mög-
lichkeit über nichtjüdische Persönlichkeiten oder Organisationen von Einfluss und
Ansehen abgewickelt werden musste. Hier wird denn auch sichtbar, dass die kleine
jüdische Gemeinschaft vornehmlich die politische Partizipation und gesellschaftliche
Integration durch einen Anschluss an grössere nationale Verbände und Organisationen
suchte und fand.
Drei jüdische Organisationen haben im Verlauf der ersten Jahrzehnte des 20.
Jahrhunderts sich herausbilden und auf diesem Weg Ansehen im Innem und beschei-
denen Einfluss nach aussen sichern können. Der Schweizerische Israelitische Gemeinde-
bund verstand sich (und wurde von aussenher so verstanden) als Gesamtorgan der
politischen Interessenvertretung, die er seit den dreissiger Jahren auch über die ihm
angeschlossenen Gemeinden hinaus für alle in der Schweiz lebenden Juden bean-
spruchte. Der Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen suchte sich durch seine
Mitgliedschaft bei der Schweizerischen Zentralstelle für Flüchtlingshilfe einen verbes-
serten Einfluss in jenen Belangen, die seit 1933 besondere Bedeutung erhielten, zu
sichern. Der Bund Schweizerischer Israelitischer Frauenvereine trat 1935 dem Bund
Schweizerischer Frauenorganisationen bei und passte sich damit den bestehenden
korporatistischen Strukturen an, obwohl die Frauen in der Schweiz von der politischen
Partizipation noch lange ausgeschlossen blieben.
Von besonderem Interesse bezüglich der Eingliederung in das politische System
der Schweiz ist natürlich der Schweizerische Israelitische Gemeindebund. Der SIG
bietet zunächst das Bild eines zwar unabhängigen, aber isolierten Verbandes, der sich
in den dreissiger und vierziger Jahren einer als gefährlich empfundenen Dynamisierung
der Politik entziehen wollte, doch diesem Zug zu einem korporatistischen System, den
er als Verletzung liberaler Prinzipien deutete, selbst nicht ganz zu entgehen vermochte.
Der doppelte Druck von aussen, wie er durch die deutsche Bedrohung der Schweiz und
die schweizerischen Erwartungen an die Schweizer Juden erzeugt wurde, beschleunig-
te zuerst den Prozess der inneren institutionellen Ausformung. Nach der Niederlage
des Nazismus trat dann der SIG aus der erzwungenen Isolation und Zurückhaltung
heraus und beschritt vorsichtig den Weg einer erneuerten Mitwirkung bei den politi-
schen Verfahren. In der zweiten Jahrhunderthälfte, nach einer langen Phase zuneh-
POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUNDLAGEN 231

mender öffentlicher Akzeptanz, konnte der SIG sich als Vertretung einer religiösen
und gesellschaftlichen «Minderheit» der Schweiz profilieren und dann in den achtziger
Jahren auch fest institutionalisierte Kontakte mit den beiden Landeskirchen etablieren.
Deutlich ist dieser Wandel von einer negativen zu einer positiven Grösse im gesell-
schaftlichen Ansehen an der Art und Weise abzulesen, sich politisch in Bem einzu-
schalten. Begnügte man sich während der ersten Jahrhunderthälfte damit, in Fragen
von Belang entweder sich mit Eingaben an den Bundesrat zu wenden oder durch
persönliche und informelle Kontakte zu sondieren, so ist in der Nachkriegszeit endlich
ein regelmässiger Einbezug in das bekannte institutionalisierte Vernehmlassungs-
verfahren hinzugekommen.

Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund (SIG)

Der SIG wurde 1904 auf Initiative von westschweizerischen Gemeinden gegründet.
Anlass gab das antisemitische Schächtverbot von 1893, hinter dem die Abschreckung
ostjüdischer Immigranten steckte. Der SIG hat sich in den ersten drei Jahrzehnten
wesentlich mit der doppelten Aufgabe beschäftigt, das Schächtverbot politisch zu
beseitigen sowie dessen praktische Konsequenz, die Erschwerung oder Unmöglichkeit
einer koscheren Fleischversorgung, zu mildem. Diese offensichtliche Rolle des SIG
als Abwehrinstanz ist implizit im Zweck des Bundes formuliert, die «allgemeinen
Interessen des Judentums in der Schweiz zu wahren und zu vertreten». Doch auch
weitere Gründe und Momente begleiteten Entstehung und Entwicklung des SIG, so
die ausländischen Vorbilder in Frankreich und Deutschland, wo die Ausbildung jüdi-
scher Gemeindeverbände im nationalen Rahmen schon längere Zeit abgeschlossen
war. Unterschiedlich bewertet wird von Leo Littmann und Nathan Kadezki, die 1954
kleinere historische Verbandsporträts verfasst haben, der mögliche Anteil der
zionistischen Idee an der SIG-Geschichte, der aber nicht überschätzt werden darf. 25 Im
Kern blieb der SIG in erster Linie notgedrungen ein Instrument zur Erhaltung der
Gleichberechtigung.
Die festumrissenen Aufgaben, die der SIG als Interessenorgan sich selbst stellte,
wuchsen erst in den dreissiger Jahren über die Belange von Wahrung der Rechts-
gleichheit, Beseitigung von Schächtverbot, Koscherfleischversorgung sowie passive
Antisemitismusabwehr hinaus. Die Initiative zu neuen Aufgaben wurde von aussen,
durch örtliche oder regionale Vereine, an den SIG herangetragen, der sie teilweise
aufgriff oder aufzugreifen plante. Überall suchte man im Zuge der allgemeinen Ent-
wicklung der Schweiz die sozialpolitischen Belange auf jüdischer Seite zu fördern.
SIG und einzelne Gemeinden unterstützten dafür subsidiär diese ihnen nahestehenden
Vereine, welche Hilfeleistungen an Kranke, Alte und Kinder leisteten. Bereits vor dem
Krieg bestanden in Basel einjüdisches Waisenhaus und ein Spital und in Lengnau das
232 4. KAPITEL

jüdische Altersasyl, die alle weiterhin in Betrieb blieben. Ebenfalls aus privater Initia-
tive und auf gemeinnütziger Grundlage entstanden die medizinische Kur- und Heil-·
stätte in Davos (1917), eine Unterstützungskasse für Tuberkulosepatienten in Leysin
(1929), die von Frauenvereinen geführten Ferien- und Erholungsheime für Kinder im
bündnerischen Bever (1926) und im appenzellischen Heiden (1927) sowie ein Erho-
lungsheim in Kerns (1930). In Zürich existierte seit 1913 ein Schwestemheim, das die
Hauspflege ermöglichte. Die jüdischen Gemeinden selbst suchten ihr Armenwesen zu
koordinieren und gründeten den Verband Schweizerischer Israelitischer Armenpflegen
(1933); daraufwird weiter unten besonders eingegangen.
Die gesamte Entwicklung ist in Parallele zu setzen mit der hier bereits beschriebe-
nen Tendenz bei den grösseren Einheitsgemeinden, ein breites Sektorendach zu schaf-
fen. Dies legte auch eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Gemeinden nahe,
wie sie im SIG und VSIA zum Ausdruck kommt. Der SIG selbst plante, eine Reihe
von sozialpolitischen Instrumenten zu schaffen, so eine gezielte Jugendarbeit als
Antwort auf die aufblühenden zionistischen Jugendbünde, eine Pensionskasse für
Kultusbeamte und Lehrer, eine umfassende Konvention der Gemeinden über die
Mitgliederaufnahme und Bestattungen. Doch der ansatzweise vorhandene Ausbau der
sozialpolitischen Aufgaben des SIG wurde durch die Wucht des Nazismus und die
frontistischen Anfechtungen im eigenen Land abgebremst. Nur der Friedhof in Davos
und unmittelbar nach dem Krieg ein Altersheim bei Vevey sind realisiert worden.
Statt dessen brachten die dreissiger Jahr dem Gemeindebund einen erheblichen
strukturellen Ausbau, und zwar zuerst mit der Abwehr, die das eigentliche politische
Anliegen des Gemeindebundes geworden ist. Von der sonst passiven wechselte man nun
zu einer offensiven und schliesslich stark defensiven Haltung über. Wir haben auch die
neu geschaffene JUNA als Instrument dieser Abwehr bereits kennengelernt Ebenfalls
wurde in dieser Zeit auch ein Sekretariat eingerichtet, das zunächst von einem persönli-
chen Mitarbeiter des SIG-Präsidenten, Karl Hamburger, betreut wurde, dann aber mit
einem ständigen Sekretär, Leo Littmann, besetzt war. Seit den aggressiven Vorboten und
dem Ausbruch des Kriegs rückte besonders in den vierziger Jahren die Flüchtlingspolitik
in den Vordergrund und führte zu einer enormen Erweiterung von Aufgaben und Struktu-
ren: 1943 kam der zehn Jahre zuvor gegründete und bislang unabhängige VSIA unter das
politische Dach des SIG. Die organisatorische Straffung und das enorme Anwachsen der
Aufgaben wurden mit ausgiebiger Unterstützung ausländischer jüdischer Organisationen
(JDC und andere) bewältigt und hielten bis 1952 an.
Angesichts des schnellen Wandels und Wachstums interessiert hier die genauere
Organisationsstruktur des SIG, weil diese im hier besprochenen Zeitabschnitt Gegen-
stand intensiver Diskussionen wurde. Bei der Gründung blieben von Anfang an die
damals dreizehn Mitgliedsgemeinden mit rund 1500 zahlenden Mitgliedern in religiö-
ser und institutioneller Hinsicht vollkommen selbständig. Diese Autonomie bestätigte
die organisatorische Form des Gemeindebundes von 1904: Die Exekutive setzte sich
POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUNDLAGEN 233

unter dem Namen Central-Comite nur aus Männern zusammen, die selbst führend in
ihren jeweiligen Gemeinden waren. Mit der eigentlichen Geschäftsleitung war, prak-
tisch gesehen, der Präsident zunächst allein betraut, ergänzt durch den Kassier, den
Aktuar und später auch weitere Beisitzer. Der Sitz des SIG befand sich in den ersten
vierzig Jahren seines Bestehens jeweils am Wohnort des SIG-Präsidenten. Organ für
dessen Wahl, für die Abänderung der Verbandsstatuten sowie die Genehmigung der
geschäftlichen und finanziellen Berichte stellte die jährlich stattfindende
Delegiertenversammlung dar. Allein die Grösse des Central-Comites, seine Zusam-
mensetzung aus führenden Vertretern aller Gemeinden und seine Funktion als eine
gesamthafte Geschäftsleitung machten klar, dass mit wachsenden Aufgaben der SIG
schwerfällig und überfordert sein musste, wenn nicht die Kompetenzen neu definiert
würden.
In den Jahrzehnten vor dem Zweiten Weltkrieg verdoppelten sich zudem die
Mitgliedsgemeinden von 13 auf 26, eine Zahl, die freilich auch kleinere und kleinste
Gemeinschaften umfasste. Dabei wuchs die Zahl der zahlenden Mitglieder auf rund 3250
im Jahr 1936 an, obwohl gleichzeitig die jüdische Einwohnerzahl in den beiden Jahrzehn-
ten seit 1918 abgenommen hatte.26 Organisatorisch entwickelte sich damit das Central-
Comite tendenziell zu einem vergrösserten Gremium, das zunehmend als Vorinstanz und
Bindeglied zwischen dem Geschäftsausschuss, Delegierten und Gemeinden wirkte. Den
Protokollen dieses inneren Kreises, dessen Existenz und Funktion nicht unumstritten
blieben, sind denn auch die wesentlichen Themen und Konflikte des Verbandes zu
entnehmen. Besonders gilt dies für die ganze Periode von 1936 bis 1944.
Ab lesbar ist die strukturelle Frage dort, wo äussere Belastungen oder Anfechtungen
Druck nach innen erzeugen. Nicht nur wurden die Schweizer Juden in den ersten
beiden Jahrzehnten des öftern an ihre gemeinsame Abwehraufgabe erinnert, sondern
auch der Mangel an aktionseffizienter Organisation ist wiederholt empfunden wor-
den.27 Die unentschlossene und öffentlichkeitsscheue Politik und die passive Abwehr-
form wurden von Kritikern, besonders von David Farbstein, auch mit einem ungenü-
genden Organisationsgrad als Ursache verknüpft. Mitte der zwanziger Jahre, im Zuge
einer aufflackernden Judenfeindschaft, und dann besonders in den dreissiger und
vierziger Jahren stehen die Umgestaltung und Statutenreform des SIG immer wieder
auf den Traktanden. 1936 wurde in einer Teilrevision der Statuten ein verbessertes
Führungsinstrument gebildet, indem innerhalb des Central-Comites ein engerer
Geschäftsausschuss für die exekutiven Pflichten bestimmt wurde. 1944 trennten die
neuen Statuten tatsächlich die neue Geschäftsleitung und das alte Central-Comite in
zwei verschiedene Organe mit fest definierten Kompetenzen auf. 28 Der politische Stil
und die Struktur des Verbandes haben aber gerade in der Zeit zwischen den beiden
Revisionen, das heisst im zeitlichen Vorfeld und in den Jahren des Zweiten Welt-
kriegs, zu Kontroversen geführt, die zwischen August 1942 und März 1943 ihren
Höhepunkt im Rücktritt Mayers als SIG-Präsident fanden.
234 4. KAPITEL

Saly Mayer wurde 1936 als Nachfolger von Jules Dreifus-Brodsky gewählt, der
dem SIG seit 1914 vorgestanden hatte. Die Ablösung signalisierte, zusammen mit der
ersten Statutenrevision, die Dringlichkeit einer beweglichen und starken Führung der
Schweizer Juden. Mayer (1882-1950), dessen Vater einst aus dem badischen Raum
eingewandert war, betätigte sich als Textilkaufmann in St. Gallen. 29 Dort wurde er
1924 trotz Verleumdungen durch die antisemitische Christenwehr als Vertreter der
Freisinnigen in den städtischen Gemeinderat gewählt.30 Nach 1932 widmete er sich
politisch ausschliesslich jüdischen Belangen, wirkte im SIG zunächst als Aktuar und
Vorsitzender einer Kommission für Aufbau, die der Vorbereitung der Weiterwanderung
von Flüchtlingen diente. Der neue SIG-Präsident stand für politische Integrität, gründ-
liche Arbeit, bürgerliche Ausrichtung, schweizerischen Patriotismus und demokrati-
sche Gesinnung. Doch seit 1939 tendierte der SIG zu einem zunehmend autokratischen
Stil, der mit Themen, die in dieser Studie behandelt werden, verbunden ist: jüdische
Abwehr mit zunehmend defensivem Charakter, enges Niedrigprofil in der Öffentlich-
keit und gegenüber Behörden, Wahrung der Landesinteressen an erster Stelle, unauf-
fällig geübte internationale Solidarität in der Flüchtlingspolitik Unter dem doppelten
Druck einerseits der deutschen Bedrohung der Schweiz und andererseits der
eidgenössischen Erwartungen und Pressionen den eigenen Juden gegenüber entsprach
die Politik der jüdischen Elite weitgehend dem autoritären Führungsstil der Schweizer
Regierung, die sich mit einem bundesrätlichen Vollmachtenregime an den europäi-
schen Verhältnissen orientierte.
Im Mai 1940 wurden in Erwartung eines deutschen Einmarsches Sitz und Kasse
des SIG an den Genfersee verlegt und dabei unter Umgehung der Statuten eine
provisorische Vollmacht eingerichtet: Der fünfköpfige Geschäftsausschuss wurde auf
die elf Köpfe des Central-Comite aufgestockt, ohne aber als Organ überhaupt Kompe-
tenzen zu haben; statt dessen wurde diesem eine Dreierexekutive aus Präsident,
Vizepräsident und Kassier vorgesetzt, die allein Generalvollmacht erhielten und ihre
Stellvertreter persönlich bestimmen konnten. 31 Die Forderung nach «Aufhebung der
Notmassnahmen», wie sie 1941 aus dem ausgebooteten Central-Comite formuliert
wurde, blieb unerhört und wurde auf dem Delegiertentag vom harten Flügel abgebo-
gen, indem die Massnahmen nachträglich sanktioniert wurden. Erst im Winter 1942/
43 zeichnete sich, unter dem Eindruck des Holocaust und der Flüchtlingspolitik, ein
Umschwung ab, der eine ausgedehnte politische Debatte ermöglichte. Das autokratische
«Provisorium», das im Zeichen der nazistischen Bedrohung den einengenden Verhält-
nissen in der Schweiz entsprochen hatte, wurde eingerissen. Der krisengeschüttelte
SIG demonstrierte mitten im Krieg sein «piece de resistance» mit einer Re-
Demokratisierung, die sich in den neuen Statuten von 1944 niederschlug. 32 Wie im
Bundesratsassen nun im neu geschaffenen Organ der Geschäftsleitung sieben gewähl-
te Mitglieder, die dem Central-Comite und der Delegiertenversammlung gleichzeitig
Rechenschaft schuldig waren.
POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUNDLAGEN 235

Insgesamt besehen blieb die Stärke des SIG die Verteidigung der Emanzipation,
die schon sein vornehmster Gründungszweck gewesen war. Offensives oder defensi-
ves Reagieren der jüdischen Abwehr haben den Kern der SIG-Politik von 1933 bis
1945 ausgemacht. Als schwach zu bezeichnen ist hingegen das Fehlen oder Ungenügen
einer inneren Perspektive für die Zukunft und die jüdische Migrations- und Flüchtlings-
politik bis weit in die Nachkriegszeit hinein. Der äussere Druck, der die Leistung der
Abwehr verständlich macht, erklärt ein Stück weit auch die Schwächen, die aus innerer
Angst geboren wurden.

Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen (VSJF)


Verband Schweizerischer Israelitischer Armenpflegen (VSIA)
und Schweizerische Zentralstelle für Flüchtlingshilfe (SZF)

Der VSIA wurde 1925 als Zusammenschluss der Armen- und Krankenpflegen einzel-
ner Gemeinden gegründet, um eine Unterstützung Kranker auch ausserhalb der Ge-
meinden zu tragen, besonders in Davos, wo eine jüdische Tuberkuloseheilstätte exi-
stierte. Die zweite wichtige Aufgabe bestand in der «einheitlichen und systematischen
Regelung des Passantenwesens», das heisst in einer koordinierten Absprache bei der
Abwicklung der Transmigration, indem bedürftige Durchwanderer unterstützt, ver-
pflegt und weitergeleitet wurden. Damit sind die späteren Funktionen des VSIA bereits
vorskizziert, der sich 1943 in zwei personell identischen Verbänden restrukturierte und
umbenannte, nämlich als Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen (Kranke und
Arme) und als fast gleichnamiger Verband Schweizerischer Jüdischer Flüchtlings-
hilfen (Betreuung und Transmigration der Flüchtlinge). In der nachfolgenden Darstel-
lung wird oft die identische Abkürzung VSJF verwendet, auch wenn der alte VSIA
gemeint ist oder nicht klar ist, ob es sich um die Fürsorge oder Flüchtlingshilfe handelt.
Die vollständige personelle und strukturelle Kontinuität bzw. Übereinstimmung aller
drei Körperschaften legt dies nahe. Dieses Kürzel ist auch heute noch gültig, wobei der
Verband nur noch als Fürsorge figuriert und nicht zugleich als parallele Körperschaft
einer Flüchtlingshilfe.
Im Oktober 1934 übernahm der VSIA vom SIG das Mandat der Flüchtlingshilfe.
Vorausgegangen war im SIG die Bildung eines Comite für jüdische deutsche Flücht-
linge unter dem Vorort der Zürcher Gemeinden und einer Kommission für Aufbau, die
sich der Auswanderung nach Übersee und Palästina widmete. Der VSIA blieb in
Lokalkomitees organisiert, die sich in allen mittleren und grösseren Städten fanden, wo
jüdische Gemeinden existierten. Zusätzlich wurden an Orten ohne Gemeinden VSIA-
Sektionen geschaffen und in Städten mit erheblichem Zulauf an Flüchtlingen auch
Flüchtlingsbüros eingerichtet. In den ersten beiden Jahrzehnten seines Bestehens
(1933-1952), die identisch mit der Anwesenheit von Flüchtlingen sind, stieg die Zahl
236 4. KAPITEL

von anfänglich neun auf 21 Lokalkomitees am Ende des Kriegs, als die grösste Anzahl
Flüchtlinge zu betreuen war, und ging dann wieder auf elf Komitees zurück. Zum
Beispiel findet sich in den Tätigkeitsberichten ein Lokalkomitee in Olten, wo nur eine
Handvoll Juden wohnten und keine jüdische Gemeinde zu finden war, das aber als
Eisenbahnknotenpunkt von Bedeutung war.
Um die personell aufgestockten lokalen Komitees zu entlasten und die Arbeit zu
koordinieren, bildete sich auch die VSJF-Zentrale aus, die in Kürze ein erhebliches
Eigengewicht erhielt. Sie machte bald eine zunehmende Professionalisierung durch
und war am Kriegsende ein ausgewachsenes Instrument der Fürsorge und Migration.
Dies ist auch an der geschlechtsspezifischen Aufteilung von ehrenamtlichen Vorstän-
den und angestelltem Personal ersichtlich. Wenn im ersten Jahrzehnt der ehrenamtli-
che Vorstand noch zu einem guten Drittel mit Frauen besetzt war, die selbst die
praktische Arbeit verrichteten, so erscheinen nach 1944 die Männer in erdrückender
Überzahl. Statt dessen finden wir die Frauen als angestellte Fürsorgerinnen und
Sekretärinnen, was gut in das allgemein verbreitete Bild der Frauenberufe passte. Die
Männer machten Politik, die Frauen die Arbeit.
Illustrativ für den institutionellen Ausbau sind die Zahlen von 1945, als der VSJF
einen Höchststand betreuter Flüchtlinge erreichte: Die VSJF-Zentrale in Zürich wies
in diesem Jahr eine Belegschaft von 75 Personen auf (ohne das Personal in den lokalen
Fürsorgen), leistete die Betreuung und teilweise den Unterhalt von 3058 Emigranten
und 20'209 Flüchtlingen und realisierte 9873 Aus- und Weiterreisen. Die Zentrale
empfing dazu 94'000 Korrespondenzen und verschickte deren 61'100, verarbeite
46'000 Meldungen für Lager und Heime, recherchierte in 12'500 Fällen nach vermissten
Familienangehörigen und verfertigte Namenlisten sowie Kartothekblätter von
immensem Umfang. Der VSJF erscheint zu diesem Zeitpunkt mit den Ressorts für
allgemeine Fürsorge, Umschulung und Jugend, mit Abteilungen für die Emigration,
die kulturelle und die religiöse Betreuung, mit Spezialdiensten für Rechtsschutz, Such-
und Nachrichtenvermittlung und einer Kleiderkammer. Zugleich wurden die lange
bestehenden Gemeindeküchen, Flickstuben und Schuhwerkstätten weiter geführt. 33
Finanziert wurde der VSJF und damit ein erheblicher Teil des jüdischen Flüchtlings-
wesens von jüdischer Seite selbst; dies wird Gegenstand einer gerraueren Darstellung
bilden. Zusammenfassend können die gesamten administrativen Daten am archivalischen
Erbe gewürdigt werden: das VSJF-Archiv, mit nahezu 30'000 materialreichen
Personendossiers (1933-1952), bietet eine noch unentdeckte und wohl weltweit ein-
malige Sammlung für die historische Forschung, besonders für die europäisch-jüdi-
sche Migrationsgeschichte, sei sie nun biographisch oder quantitativ orientiert.
In Nachwirkung zur bewegten Geschichte des SIG seit dem Sommer 1942
reorganisierte sich der VSJF im Verlaufe der Jahre 1943-1944, ein Vorgang, der nicht
ohne Friktionen vonstatten ging und mit dem Wechsel des Präsidiums verbunden war.
Die Reorganisation ist, wie später noch zu zeigen sein wird, mit den gesamten
POLITISCHE UND INSTITUTIONEllE GRUNDlAGEN 237

Vorgängen um die schweizerische Flüchtlingspolitik und die innere Krise im SIG


verknüpft und spielt sich vor dem Hintergrund einer sich bereits abzeichnenden
Nachkriegszeit ab. Ebenso wird davon zu sprechen sein, dass sich das Verhältnis von
Betreuern und Betreuten mit Blick auf den Kriegsausgang zu wandeln begann. Dass
die Flüchtlinge sich zunehmend aus der Bevormundung durch Staat und Verbände
lösen und emanzipieren wollten, indizierte eine Anregung zur Schaffung einer Rechts-
schutzstelle für Flüchtlinge dem Verband gegenüber. Diese Forderung wurde
bezeichnenderweise an einem Delegiertentag des SIG vorgetragen, womit auch das
Signal gesetzt wurde, dass der VSJF nicht mehr vollkommen autonom zu handeln
habe. Der Verband verlor seine bisher sorgsam gehütete Unabhängigkeit und kam
unter die Kontrolle des SIG. Damit verbunden ist die bereits erwähnte Umbenennung
des VSIA zum VSJF mit zwei zwar juristisch getrennten, aber personell identischen
Verbänden der Fürsorge und Flüchtlingshilfe.34
Der VSJF war Gründungsmitglied der Schweizerischen Zentralstelle für Flüchtlings-
hilfe, die im Mai 1936 auf gewerkschaftliche Initiative entstand und unterschiedliche
Organisationen verband. 35 Als Dachverband von 16 angeschlossenen Hilfswerken, dem
als Präsident der demokratisch-liberale Zürcher Regierungsrat Robert Briner vorstand,
stellte die SZF eine doch beachtliche «kotporatistische» Grösse dar.36 Auch wenn die
SZF von staatlicher Seite kein Mandat im Flüchtlingswesen erhalten hat, wie dies
einzelne SZF-Mitglieder erfüllten (auf die besonderen Probleme des Mandats wird später
am Beispiel der Kinderhilfe eingegangen), so gab sie den Rahmen für die Verhandlungen
mit den Behörden und mit dem Hochkommissar des Völkerbundes ab. Für Bem stellte
die SZF die offizielle Vertreterin der Hilfswerke für Flüchtlinge dar, und diese vertrat im
Bundeshaus gesamthaft Belange und Interessen der angeschlossenen Flüchtlingshilfen.
Trotz dem Willen zu gemeinsamer Kooperation dürften Politik und Praxis der einzelnen
Hilfswerke erheblich voneinander differiert haben, beruhten sie doch teilweise auf der
Trägerschaft oder dem ideellen Einfluss ~ehr unterschiedlicher Gruppen, wie Gewerk-
schaft, Frauenliga, Kirchen, Völkerbundsbefürwortet usw. Die Geschichte der SZF,
heute Schweizerische Flüchtlingshilfe, ist leider noch ungeschrieben, obwohl hier der
verbandspolitische Rahmen und damit das Konfliktforum auch für die einzelnen Organi-
sationen der SZF zu finden wäre. Einiges daraus wird hier am Beispiel der jüdischen
Flüchtlinge in der Schweiz sichtbar gemacht werden.
Die organisatorische Entwicklung des VSJF verlief natürlich parallel zu den Ereignis-
daten der Flüchtlingsgeschichte. Entsprechend dem Rahmen, wie er durch die europäi-
schen Ereignisse sowie die internationale und schweizerische Flüchtlingspolitik gesetzt
wurde, zeigt die Geschichte des VSJF vier bzw. fünf Phasen. 37 Sie sind im wesentlichen
gekennzeichnet durch die Frage, wieweit es gelang, die eingereisten Flüchtlinge zur
Weiterwanderung zu bringen. Dabei hatte der VSJF dem eidgenössischen Imperativ, die
Flüchtlinge weiterzubringen, Folge zu leisten, selbst dann, als mit dem Ende des Kriegs
politisch und moralisch mehr Gegendruck in Sachen Dauerasyl möglich gewesen wäre.
238 4. KAPITEL

In der ersten Phase, von 1933 bis 1936, konnte die steigende Zahl der deutschen
Flüchtlinge noch zu einem grossenTeil mit der Weiterwanderung aufgefangen werden
(von 5440 betreuten Personen blieben nur 159 in der Schweiz). Die zweite Periode,
von 1937 bis 1940, ist vom Stocken und dann endgültigen Versiegen dieser Möglich-
keit gekennzeichnet und wird vom stossweisen Anschwellen der Einreise von Flücht-
lingen aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei geprägt. In dieser Zeit
waren SIG und VSJF verzweifelt bemüht, neue Zielländer zu suchen und den Unter-
halt der oft mittellosen Festsitzenden zu finanzieren. Die Jahre 1941-1943 sind von
den bekannten flüchtlingspolitischen Ereignissen geprägt, die im August 1942 in der
von Bern verfügten Schliessung der Grenze und Abschiebung von Juden kumulierten.
In der vierten Periode wurde die Politik der Transmigration wieder aufgenommen, bis
1952 der letzte Flüchtling das Land verliess. Die letzte und fünfte Phase kann darin
gesehen werden, dass der VSJF über weitere Jahre hinaus jene mittellosen Personen
unterstützte, die allein, das heisst als Alte und Gebrechliche, das eidgenössische
Dauerasyl zugestanden erhielten.
Um zu verstehen, welcher Platz dem VSJF und den anderen SZF-Mitgliedern im
schweizerischen Flüchtlingswesen zukam, ist ein kurzer Blick auf die eidgenössischen
Verhältnisse zu werfen. Nach dem Bundesgesetz von 1931 über Aufenthalt und
Niederlassung von Ausländern hatten immer noch die Kantone das Recht, Ausländern
den Aufenthalt zu bewilligen oder zu verweigern. Der Bund regelte lediglich die
Bewilligungen im Falle gleichzeitiger Erwerbstätigkeit, was dem zivilen Flüchtlings-
wesen auch den Anstrich einer Arbeitsmarktregulierung verleiht. Diese Kompetenz-
teilung macht verständlich, dass die Hilfswerke wiederholt an zwei Adressen der
staatlichen Flüchtlingspolitik appellierten: einmal an jene Kantone, die sich überhaupt
oder zeitweise weigerten, Flüchtlinge aufzunehmen; und andererseits an Bern, weil der
Bund strikt keine Arbeitsbewilligungen erteilte, aber von den Hilfswerken, besonders
von den Juden, finanzielle Opferbereitschaft erwartete. Der Krieg und das
Vollmachtenregime begünstigten dann eine gewisse Zentralisation, weil die meisten
Kantone eine freiwillige und vermehrte Aufnahme von Flüchtlingen ablehnten. Dies
brachte den Bund in Zugzwang, und die Kantone sahen sich nach der drastischen
Zunahme des Flüchtlingsstroms von 1942 einer ihrer wichtigsten Kompetenzen, der
Gewährung von Aufenthalt auf ihrem Gebiet, beraubt. Mit seinem Beschluss vom 12.
März 1943, der rückwirkend alle nach dem 1. August 1942 eingereisten Flüchtlinge
betraf, unterstellte der Bundesrat die Internierung der Flüchtlinge der eidgenössischen
Fremdenpolizei. Der Flüchtling in der Schweiz wurde dabei, unbesehen von territorialer
Lage und kantonaler Zustimmung, einem Lager oder Heim zugewiesen, das der
eidgenössischen Kontrolle direkt unterstellt blieb.38
Grundsätzlich ist zwischen militärischen und zivilen Flüchtlingen zu unterscheiden.
Letztere unterstanden der Polizeiabteilung des EJPD, die sie je nach Asylstatus, Arbeits-
tauglichkeit, Alter und Geschlecht unterschiedlichen Instanzen zuwies. Politische Flücht-
POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUNDLAGEN 239

linge wurden der Bundesjustiz zugewiesen, Arbeitstaugliche unterstanden der eidgenös-


sischen Zentralleitung der Heime und Lager, Kinder und Alte kamen in Obhut von SRK
und SHEK, unabhängige Emigranten und privat Untergebrachte kontrollierten die
kantonalen Polizeistellen. Ein Flüchtling, der Quarantäne- und Aufnahmelager durch-
laufen hatte, wurde dann gernäss Kategorie und Zuweisung in einem Heim oder Lager
untergebracht. In dieser Vollzugsstruktur waren mithin die Konflikte angelegt, die uns
noch beschäftigen werden, so die Betreuung religiöser Juden, die Isolation der Ehepaare,
die Trennung von Kindem und Eltern. Die zentralistisch angelegten Bestimmungen vom
März 1943 entlasteten zwar den VSJF und die SZF-Hilfswerke, erzeugten aber neue
Probleme und psychische Deformierungen unter den Betreuten.

Bund Schweizerischer Israelitischer Frauenvereine (BIF)

Der BIF ist 1924 durch sieben lokale Frauenvereine gegründet worden, denen sich bis
1945 weitere zehn und danach nochmals zwölf neu entstandene Frauenvereine ange-
schlossen haben. Eine genauere historische Darstellung der jüdischen Frauen und
dieser Frauenvereine in der Schweiz fehlt, obwohl uns einige Publikationen mit
Erinnerungen, Selbstdarstellungen und Beobachtungen wertvolles Materialliefem.39
Dabei ist gerade die jüdische Historiographie in der Schweiz wesentlich von zwei
Frauen, Augusta Weldler-Steinberg und Florence Guggenheim, die auch den BIF in
den dreissiger Jahren präsidierte, begründet und getragen worden. Der BIF wurde
Mitglied des VSIA kurz nach dessen Entstehen, trat dem Bund Schweizerischer
Frauenorganisationen (BSF) 1935 als Mitgliedorganisation bei und ist 1946 in Paris
Mitbegründer des International Council ofJewish Woman gewesen. Diese Daten und
Zugehörigkeiten zeigen die Vektoren, die für den BIF ausschlaggebend waren und es
weitgehend geblieben sind. Die jüdische Frauengeschichte in der Schweiz wäre, wie
dies schon die Mitgliedschafren des BIF zeigen, gleichzeitig in der schweizerischen
wie der jüdischen Frauengeschichte in Europa zu situieren. 40 Hinzu kommen die
bekannten Aspekte der inneren Geschichte der jüdischen Gemeinden und seit 1918
bzw. 1933 besonders auch der Flüchtlingspolitik
Die Vorgeschichte zeigt, dass die lokalen Frauenvereine zunächst innerhalb der
jüdischen Gemeinden entstanden und auf deren weibliche Mitglieder beschränkt wa-
ren. «Die Ursprungsform des Frauenvereins war die Chevrah, der Zusammenschluss
von jüdischen Frauen, welche sich der Liebesdienste an Armen und Kranken, Sterben-
den und Toten unterziehen wollten», beschreibt Berty Guggenheim-Wyler den be-
schränkten Wirkungsbereich in den letzten vier Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts.41 In
Zürich wurden seit 1893 dann alle jüdischen Frauen aufgenommen, unbesehen davon,
ob deren Männerinder ICZ Gemeindemitglied waren oder nicht. Mit Gründungen von
Frauenvereinen in weiteren Städten und bei wachsender Mitgliederzahl weiteten sich
240 4. KAPITEL

auch die Aufgaben, die durch Ereignisse im Ausland und durch soziale Spannungen
im Inland herangetragen wurden. Frauenvereine kümmerten sich von der Jahrhundert-
wende bis nach dem Ersten Weltkrieg in vermehrtem Masse um ostjüdische
Immigrantinnen und Immigrantenfamilien. Besonderen Anstoss nahmen die Frauen-
vereine an den «ganz anderen Lebensgewohnheiten», die darin bestanden, dass ost-
jüdische Töchter, besonders aus streng religiösen Familien, in jüngstem Alter von
ihren Vätern verheiratet wurden. Weitere Arbeitsleistungen bestanden auch in Hilfsak-
tionen für diskriminierte oder verfolgte Jüdinnen und Familien in Osteuropa selbst.
Wie weit in all diesen Themenbereichen unterschiedliche Vorstellungen zwischen
West- und Ostjuden dazu führten, dass sich in den zwanziger Jahren ostjüdische
Frauenvereine formierten, müsste hinreichender untersucht werden.
Mit dem Ersten Weltkrieg, der kurzfristig den Betrieb von Suppenküchen und den
Beginn einer Erholungsfürsorge brachte, und ansebliessend während dem ersten Nach-
kriegsjahrzehnt wurde die präventive Kinder- und Jugendfürsorge immer wichtiger.
Die Aufnahme ausländischer Ferienkinder zu Erholungsaufenthalten in der Schweiz,
Ferienkolonien für städtische Kinder aus der Unter- und Mittelschicht, aber auch
städtische Jugendhorte erforderten eine intensivierte Fortsetzung der vor 1914 bereits
vorhandenen Ansätze. Hier ist zugleich angelegt, was in den Jahren 1933-1945 und
danach bedeutsam werden sollte und parallel zur Ausweitung der Aufgaben der
Einheitsgemeinden zu verstehen ist. Die Flüchtlingsfürsorge baute wesentlich auf der
Mitarbeit des BIF auf, der kurz nach der Gründung des VSIA dem Verband beigetreten
war. Der BIF wollte auf dem Gebiet der Fürsorge jene Hilfsleistungen für Arme,
Kranke, Kinder und später Flüchtlinge vermitteln oder übernehmen, welche die Mög-
lichkeiten der einzelnen Vereine überstiegen. Wie schon vermerkt, machten die Frau-
en im VSJF die Fürsorge und die Männer die Politik. Dabei wurde der gesamte
Fürsorgebereich ein Stück weit professionalisiert, indem der BIF seit Mitte der dreissiger
Jahre auch Stipendien für jüdische Schülerinnen an der Sozialen Frauenschule Zürich
erteilte. Nach dem Krieg sollte die Nachkriegshilfe einsetzen, die schliesslich in die
Hilfe für Israel einmündete.
Parallel zum Trend der professionalisierten Fürsorge vollzog der BIF in den
dreissiger Jahren das männliche Bestreben, die Frauen aus eroberten Positionen der
Berufswelt wieder in die «angestammten» Bereiche des Haushaltes abzudrängen.
Wenngleich dies vergeblich geschah und der BIF mit Kursen für schweizerische
Haushälterinnen so gut wie keine Resonanz fand, so wird doch wieder einmal das
Dilemma und der innere Druck der jüdischen Abwehr deutlich, indem der SIG meinte,
die jüdischen Frauen nur im behördlich beglaubigten Wind der schweizerischen
Arbeits- und Sozialpolitik segeln lassen zu dürfen. 42 Besonders auffällig ist, dass dabei
die Frauen- und Flüchtlingsgeschichte über das Fürsorgewesen eigenartig verzahnt
wird, indem die Rollenzuweisung an jüdische Schweizerinnen parallelläuft mit ent-
sprechenden Bemühungen um die soziale Umschichtung von Flüchtlingen.43
POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUNDLAGEN 241

Als erstes werden aber an der strikt dualen Rollenzuweisung die Grenzen des BIF
auch im innerjüdischen Bereich sichtbar. Die jüdischen Frauen konnten sich nicht
weiter vorwagen, als dies innerhalb der vorwiegend mittelständischen jüdischen Ge-
meinschaft der Schweiz politisch opportun und möglich schien. Zugleich stand der
BIF, wie seine Präsidentinnen stets betonten, in den Bemühungen um Frauen- wie
Flüchtlingsfragen «stets in Kontakt mit dem Bund der Schweizerischen Frauenvereine
und der Vereinigung Frau und Demokratie».44 So gingen die jüdischen Frauen im
wesentlichen die Wege, wie sie in der langen Geschichte der schweizerischen Frauen-
emanzipation vorgezeichnet sind. An die Einführung eines Stimm- und Wahlrechts für
Frauen in den jüdischen Einheitsgemeinden war unter den hinderlichen Umständen
der Jahrzehnte vor und während des Kriegs schon gar nicht zu denken. Diese erfolgte
erst ab den sechziger Jahren, als sich in der Schweiz die Durchsetzung politischer
Rechte für Frauen mehr und mehr abzuzeichnen begann.
Wertkonservative Orientierung unter dem Mantel eines jüdischen Traditionalismus
schützte noch lange vor allzu eiliger Anerkennung gleichwertiger oder gar egalitärer
Stellung beider Geschlechter. In der ICZ, die lange in vielen Dingen des säkularen
Lebens die fortschrittlichste Gemeinde der Schweiz war, scheiterte anfangs der dreissiger
Jahre eine Petition von Frauen mit dem Inhalt, dass die verheiratete Frau als eigen-
ständiges «Mitglied» der Gemeinde im Verzeichnis aufzuführen sei.45 Ein anderer
Beleg: Wenn man das Israelitische Wochenblatt durchblättert, so wird das Nebenein-
ander von progressivem und konservativem Wertverständnis bis weit in die Jahrzehnte
nach dem Krieg beispielsweise an Hochzeitsanzeigen ab lesbar. So zeigen sich modern
eingestellte Verlobte oder Vermählte unter ihrem eigenen Namen an, was in den
dreissiger und vierziger Jahren, wo Heiraten seltener waren, schon öfters zu beobach-
ten ist. Auf der anderen Seite künden die konservativ eingestellten Eltern in Inseraten
die Vermählung «unserer Kinder» nur unter Nennung von Vomamen der Heirats-
willigen an; die Eltern führen sich selbst beispielsweise als «Herr und Frau Friedrich
Meyer» an. Das moderne versus konservative Rollenbild findet sich auch in Berichten
oder Protokollen. Dort ist oft nebeneinander die Rede von «Frau Hans Bloch» oder
eben «Frau Alice Bollag»,je nachdem wie das eigene Verständnis sprachlich artikuliert
wurde.
242 4. KAPITEL

ZWISCHEN POLITIK UND PHILANTHROPIE:


JÜDISCHE KRÄFTE UND KONFLIKTE IM KONGRESSLAND SCHWEIZ

«Ein Midrasch erzählt, dass Gott, bevor er die Krankheit erschuf, die entsprechenden
Heilquellen erschaffen habe. Die Pflege natürlicher Heilkräuter und die mannigfachen
Gebete um Genesung, an denen die ganze Gemeinde teilnimmt, geben Kunde davon,
wie sehr es dem Juden bewusst war, dass zur Erfüllung der göttlichen Gebote eine
Bejahung des Lebens und die Gesunderhaltung des Körpers erste Voraussetzung sind.
In dieser Bejahung des Daseins ist auch die Freude am Leben, der Optimismus und die
Zukunftsgläubigkeit des Juden begründet. Der jüdische Mensch weiss, wie sehr das
Erlebnis der Schönheit der Natur kräftigend und belebend wirkt, wie sehr Gottes
Stimme in ihrer Schönheit spricht. Nie wird gerade der in der Schweiz lebende
jüdische Mensch, der das Glück hat, in einer mit Schönheit und Heilsarnkeit gesegne-
ten Natur zu wohnen, das vergessen können. Muss man nicht an den Spruch von Rabbi
Josi denken, der es für unstatthaft hielt, in einer Stadt zu wohnen, die keine Parkanlage
besitzt? Ist die Schweiz doch wie ein einziger grosser Park der wilden und der sanften
Schönheit [ ... ].»
Mit leisem Pathos sucht der Autor des Leitartikels in der Jüdischen Presszentrale
seine Naturbetrachtung von jeder «mythologischen Verherrlichung einzelner Natur-
kräfte» oder auch «bloss ästhetischem Anschauen der Schönheit» wegzulenken und
statt dessen auf den menschlichen Dank gegenüber dem göttlichen Walten in der Natur
hinzuweisen. Dies war in einer Zeit, in der das Gefühl der Fremdheit im bürgerlichen
Individuum durch die mythenbehangenen Parolen der Blut- und Bodenromantik auf-
gefüllt wurden, auch eine Aussage der jüdischen Abwehr. Der jüdische Mensch, dem
Boden seit Jahrhunderten entfremdet, besitze keine Verbundenheit mit der Natur, war
ein übliches Vorurteil der Antisemiten, welchem der Leitartikel ausdrücklich wider-
spricht. Die angeführten Beweise der Verbundenheit von Mensch und Natur im
Judentum stellt der Autor in Parallele zur Schweiz, die ihm Sinnbild für die Segnung
der Natur ist. Der Kleinstaat, nach einem aus der jüdischen Legende entlehnten Bild
mit dem Sonnenstrahl eines Edelsteins zu vergleichen, ist ihm ein «auserwähltes
Stücklein Erde, das mit Recht in aller Welt als Paradies Europas gepriesen» werde. 46
Die Schweiz ist nicht nur als Sinnbild für die menschliche Naturverbundenheit
nach jüdischer Tradition zitiert worden. Weit prosaischer wurden Parallelen in der
politischen Rhetorik gezogen. Auf achtzig Seiten einer Sondernummer, die 1937 aus
Anlass des Zionistenkongresses in Zürich von der Jüdischen Presszentrale publiziert
wurde, erscheint die Schweiz als Modell und Vorbild für die Gestaltung Palästinas.
Die schweizerischen Grössen der politischen und akademischen Kultur empfahlen die
Schweiz als einen Hort der liberalen und demokratischen Gesinnung und besonders als
Inbegriff einer föderalistischen Ordnung. Unter den Autoren figurieren William Rappard,
POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUNDLAGEN 243

Regierungs- und Ständerat Oscar Wettstein, Nationalrat Albert Oeri, NZZ-Chefredaktor


Willy Bretscher und der Architekt Arrnin Meili, der die geplante schweizerische
Landesausstellung von 1939 als Manifestation der Demokratie beschrieb. Der konser-
vative Luzemer National- und Regierungsrat Heimich Walther zog gar Parallelen
zwischen Juden und Katholiken als konfessionelle Minderheiten in der Schweiz und
resümierte dann gemeinsame Interessen hinsichtlich Palästinas. Während Nahum
Goldmann die Schweiz als Vorbild für den Zionismus rühmte, betonten Paul
Guggenheim und Hugo Marx die völkerrechtlichen Lehren des ethnischen Minderheiten-
schutzes für die Schweiz und Palästina. Eine Reihe von Ingenieuren, Ärzten und
Ökonomen erörterten dann konkrete Fragen um die «Schweiz und Palästina», von der
landwirtschaftlichen Erschliessung bis zur Gesundheitskultur, die der Müesli- und
Ernährungspionier Max Oskar Eireher-Benner für das jüdische Palästina gar als «Rück-
kehr ins Reich der Ordnungen» interpretierte. Weit nüchterner empfahlen andere
Autoren den Kongressabgeordneten die Schweiz einfach als Reise- und Ferienland.
Einleitend hatten in der Sondernummer auch die Zürcher Regierungs- und Stadt-
präsidenten den freien Geist ihrer Stadt dem Kongress empfohlen- Worte, die damals
im Zeichen des schwelenden Frontismus nicht ohne Beachtung geblieben sein dürften,
zumal einige verzagte Central-Comite-Mitglieder im SIG sich und der Schweiz gerade
deswegen eine Pause im jüdischen Kongresstourismus gewünscht hätten. 47
Ähnlich wie 1937 in Zürich lesen sich die Sondemummern der jüdischen Presse zu
den Zionistenkongressen von 1931 in Basel oder von 1935 in Luzem. Die Schweiz
wird darin noch unbeschwerter als Reiseland und Ferienziel empfohlen, als dies 1937
geschehen konnte, wo angesichtsder Fronten und des Gespenstes des Nazismus die
Betonung einer «demokratischen Gastlichkeit» dringlicher erschien. 1931 wollte man
den Delegierten des Kongresses das Alpenland mit etwas Schokolade versüssen und
durch die Präsentationen der Schweizer Industrie das Potential des Landes zeigen. In
Luzern noch empfahlen sich verschiedene Kurorte und auch die Wynentaler
Stumpenindustrie per Inserat den Gästen am Vierwaldstättersee. Doch schon die
Grusshotschaft durch den späteren SIG-Präsidenten Saly Braunschweig kündete das
politisch kältere Klima für die Juden an. Sein Gleichnis, das von späteren SIG-
Präsidenten in öffentlichen Statements ebenfalls gerne verabreicht wurde, erblickte in
der Schweiz das Vaterland, in Palästina das Mutterland und stellte die Schweizer
Juden ganz auf den Boden von helvetischem Recht und schweizerischer Demokratie.48
Die Schweiz war nicht nur Gründungsort der Zionistischen Organisation, sondern
auch verschiedener Organe der ZO, die zur praktischen Verwirklichung zionistischer
Ziele im Verlauf der Geschichte geschaffen wurden. In Zürich konstituierte sich 1929
die Jewish Agency, in Basel war 1901 bereits der Keren Kajemeth ins Leben gerufen
worden. Mehr als die Hälfte aller zionistischen Kongresse, von der Gründung der ZO bis
zur Ausrufung des Staates Israel, fanden in Basel, Zürich, Genf und Luzem statt.
Vergleichbares, wenn auch mit geringerer Kontinuität, gilt auch für die nichtzionistischen
244 4. KAPITEL

Organisationen. Die sozialistischen Bundisten hatten in Schweizer Städten schon vor


und seit der Jahrhundertwende immer kleinere Kolonien, und in Genf war auch das
Archiv der jüdischen Arbeiterpartei entstanden. Die Weltorganisation der orthodoxen
Agudat Israel war neben London und New York zeitweise mit einem weiteren Hauptsitz
in Luzem geführt. DerJüdische Weltkongress wurde teilweise in Genf vorbereitet, 1936
dort abgehalten; er hatte in der Rhonestadt seinen Hauptsitz, bevor sich sein Zentrum
nach New York und London verlagerte. Während und nach dem Kriege besassen
mehrere bedeutende jüdische Hilfswerke von internationalem Zuschnitt ihren Welt-
oder Buropasitz in Genf, so die OSE und der ORT, die noch heute dort residieren.
Auch Friedens- und Nationalitätenkongresse, die während der Zwischenkriegszeit
oft in Genf stattfanden, von wo aus die Abrüstung und der Weltfrieden verkündet wurde,
waren für die Juden insgesamt bedeutsam, wenn auch der symbolische Wert dieser
Gesten oft überschätzt wurde. Zum Beispiel nahm am Weltkongress der Religionen
1932, über dessen Verlauf Lion Feuchtwauger in der jüdischen Presse berichtete,
Stephen S. Wise teil. Besonders an den europäischen Nationalitätenkongressen, die am
Sitz des Völkerbundes abgehalten wurden, spielten die Juden eine tragende Rolle. So
rühmten denn die unterschiedlichsten Politiker, wie die zionistischen Kontrahenten
Nahum Sokolow, Chaim Weizmann und Wladimir Jabotinsky, oder geistige Grössen
wie Maximilian Stern und Martin Buber, das Gastland Schweiz. Man empfand und pries
am «Herzen Europas» die vielen und überwältigenden Naturschönheiten, die Möglich-
keit einer Ruhepause, den Hort der Freiheit und Demokratie, das Modell eines echten
Gemeinwesens von verschiedenen Sprachen, Kulturen und Bevölkerungsteilen.49
In diesen Daten und Meinungen spiegelt sich ein Stück weit die positive Bedeu-
tung der Schweiz im internationalen Kräftespiel und zugleich die politische und
wirtschaftliche Konzeption der schweizerischen Aussenpolitik 5° Wenn der Tourismus
unter dem Begriff der «Fremdenindustrie» das Verhältnis zu den internationalen
Gästen in Friedenszeiten beleuchtet, so war die AusseilPolitik gerade in Krisenzeiten
von der Sorge geprägt, die Exportindustrie zu erhalten uiiel.dem rohstoffarmen Land
die Versorgung zu garantieren. Die Schweiz als neutraler Kleinstaat war schon aus
Gründen der Selbsterhaltung bemüht, das Ansehen als gastlicher Musterstaat zu mehren
und international zu einer stabilen Ordnung beizutragen. Seit der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts, die für die Schweiz innenpolitisch im Zeichen des demokratischen
Liberalismus stand, war Bem aktiv an internationalen Bestrebungen mitbeteiligt gewe-
sen. Die Staaten der zivilisierten Welt sollten dabei in eine Rechtsgemeinschaft
zusammengefasst werden, Recht und Vernunft im internationalen Rahmen über Will-
kür und Gewalt triumphieren. Die Schweiz förderte solches Bemühen sehr aktiv. Bis
kurz vor dem Ersten Weltkrieg Iiessen sich in der Hauptstadt Bern mit materieller
Unterstützung der Schweiz das Internationale Telegrafen-Amt, der Weltpostverein,
das Internationale Eisenbahn-Amt und das Internationale Friedensbüro nieder. In
Genf residierte, aufgrund der Genfer Konvention von 1864, bereits das IKRK. Mehre-
POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUNDLAGEN 245

re altgediente Mitglieder der Schweizer Regierung oder der Armeespitze wechselten


in solche Organisationen über. Die Schweiz beteiligte sich, unabhängig von der Rolle
der Pazifisten auf inoffizieller Ebene, an internationalen Konferenzen zur Friedens-
wahrung und unterzeichnete entsprechende Konventionen. Mehrere Friedensnobelpreise
drücken das internationale Ansehen der Schweiz in dieser Epoche aus.
Im Ersten Weltkrieg verkündete der neutrale Staat, dessen wirtschaftliche Abhän-
gigkeit sich offenbarte, feierlich die Neutralität, die schon lange zu einem konstitutiven
Element seiner Staatsidee geworden war. Nach dem Krieg vermochte der Gedanke
eines Völkerbunds die Schweiz erneut in die internationale Zusammenarbeit zu inte-
grieren. Nach einer Volksabstimmung trat 1920 das Land, dem die Grassmächte
erklärtennassen Neutralitätsvorbehalte zubilligten, der Societe des Nations bei, und
Genf wurde Sitz des Völkerbunds. Doch mit der Machtergreifung der Faschisten in
Italien und dann des Nazismus in Deutschland, beide bald bedrohliche und aggressive
Nachbarn der Schweiz, zog sich der neutrale Kleinstaat auf die «integrale» Neutralität
zurück. Das internationale Gesicht der Schweiz wurde dem Bundesrat und seiner
Bevölkerung zunehmend verdächtig, wenn es nicht den höheren Interessen des Klein-
staates in dessen offiziell unabhängiger «Igelstellung» diente.
Dies wurde im Vorfeld des Kriegs und dann im Zweiten Weltkrieg deutlich. Die
unklare Lage in den Aussenbeziehungen, die zu einer vorsichtigen Verständigung mit der
gerade siegreichen Kriegspartei führte, reduzierte nach 1938 das internationale Engage-
ment auf eine Politik der guten Dienste. Diese Politik der Vermittlung mehrte zwar
weiterhin das Ansehen der Schweiz, war aber, wie wir oben schon gesehen haben, auf ein
Vorgehen von Fall zu Fall angelegt. Ebenfalls als Ersatz für das einstige internationale
Engagement galt die humanitäre Hilfe, die zur positiven Bilanz der Neutralität beitrug.
Erst die lang kaschierte Judenpolitik den Flüchtlingen gegenüber sollte negativ zu Buche
schlagen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat dann die Schweiz nur noch sehr zögerlich zu
internationalen Verpflichtungen zurückgefunden und sich auf eine praktische Mitarbeit in
Teilorganisationen der UNO und in einzelnen Gremien beschränkt. Mehr als vierzig
Jahre nach Kriegsende hat das Volk einen Beitritt als Vollmitglied zur UNO abgelehnt.
Die Stadt Genf büsste, wie etwa Wilhelm Röpke 1946 klagte, mit diesem Verlust an
internationaler Bedeutung auch wirtschaftliche Vorteile ein.51
Verständlich also, dass in jüdischen Augen die Schweiz nicht nur als Ferienland,
sondern aus politischen Gründen vielen jüdischen Organisationen als Kongressort
oder Hauptsitz ideal erschien. Internationale jüdische Organisationen, ob politischer
oder philanthropischer Art, zogen zwar erst nach und nach in der Schweiz. Zuerst
residierten sie an ihrem ursprünglichen Gründungsort, wo sie auch ihren direkten
Wirkungsbereich hatten, in St. Petersburg und Warschau, oder sie verschoben sich
nach Berlin oder Paris, weil ihnen das siegreiche Frankreich auch die Sicherung der
jüdischen Emanzipation in Buropa zu garantieren schien. Für die politisch und ideolo-
gisch ausgerichteten Bewegungen spielte die Schweiz aber bereits bei der Gründung
246 4. KAPITEL

eine Rolle - bei den Zionisten zunächst mehr zufällig wegen der Ablehnung seitens
jüdischer Gemeinden im Deutschen Kaiserreich, dann bald aus intemationaler Gepflo-
genheit, die auch besonders beim WJC in der Folge des Völkerbunds ausschlaggebend
war. Philanthropische Organisationen (JDC, ORT, OSE) wurden indessen durch die
Umstände des Zweiten Weltkriegs in die Schweiz gezwungen. Justin dem Moment,
als die Schweiz ihre internationale Einbindung politisch abschüttelte und sich einigelte,
wuchs für die jüdischen Organisationen die Bedeutung des Landes. Zwar berichtet
etwa Nahum Goldmann, er habe 1938 noch nach Paris übergewechselt, weil «in Genf
nicht mehr viel zu tun sein würde}}, und dann im Frühjahr 1940 Buropa in Richtung
Amerika verlassen, da Genf und die Schweiz «politisch bedeutungslos}} geworden und
auch «kein sicherer Aufenthalt mehN gewesen seien.52
Mit dem Krieg wurde aber der neutrale Staat, der trotz aller Erwartungen eines
deutschen Einmarsches eine verschonte Insel mitten in Buropa blieb, für die jüdischen
Emissäre, Kuriere und Sekretäre eine bedeutsame Nische von grossem praktischem
Wert. Die geographische Lage und politische Bedeutung Genfs, das nach dem
unbesetzten Südfrankreich hin lange offen blieb, machte ihnen die Stadt des Völker-
bunds und des IKRK zu einem idealen Vorposten im besetzten Europa. Natürlich hatte
die Schweiz eine solche Funktion auch für die diplomatischen und geheimen Dienste
aller am Krieg beteiligten Länder. Doch die gewissermassen vorgeschobene Position
des Landes zum Geruch der Vernichtung macht klar, wie lebenswichtig die Dreh-
scheibe Schweiz plötzlich für die politisch nahezu ohnmächtigen jüdischen Organisa-
tionen wurde. Über die Schweiz liefen die ersten Nachrichten von der Existenz der
Gaskammern in die freie Welt, hier wurden Kurierdienste abgewickelt, Gelder in
Millionenhöhe nach den Zentren des jüdischen Leids verschoben, Flucht- und
Schmuggellinien organisiert und Verhandlungen zur Rettung der noch Überlebenden
geführt Aber auch unspektakuläre Kontakte und Dienste waren vielen jüdischen
Aktivisten sehr hilfreich. Eine in vielem vergleichbare Stellung hatte in Buropa nur
noch das entfernte Portugal mit Lissabon an der atlantischen Küste.
Auf die Schweizer Juden hatte das Vorhandensein internationaler jüdischer Orga-
nisationen in der Schweiz unterschiedliche Wirkungen. Die zumeist bürgerlichen und
kleinbürgerlichen Schweizer Juden, die in den Gremien von SIG und Gemeinden
sassen, machten im wesentlichen, zum Teil sogar übertrieben, die Schwankungen der
schweizerischen Aussenpolitik mit Wir haben schon bei der Behandlung der jüdi-
schen Abwehr des Frontismus gesehen, dass in der Mitte der dreissiger Jahre, im
Verlauf des Berner Prozesses, die Öffentlichkeitsarbeit von einer offensiven zu einer
stark defensiven Strategie wechselte. Dieser Wechsel signalisiert auch die vorsichtige
Haltung den internationalen Verbänden und Bewegungen gegenüber. So gross die
Sympathien für den Völkerbund und die in Genf wirkenden Organisationen waren und
es auch immer blieben, so heikel schien es den jüdischen Bürgern des neutralen Staates
bald, sich zu den internationalen jüdischen Verbänden und Bewegungen öffentlich zu
POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUNDLAGEN 247

bekennen. Zwar war der SIG 1929 der JewishAgency als Plattform von Zionisten und
Nichtzionisten beigetreten, und er nahm 1936 an der Gründung des Weltkongresses in
Genf teil, doch geschah dies in beiden Fällen nicht oppositionslos. Je näher der
Kriegsausbruch heranrückte, um so deutlicher spricht aus den Verlautbarungen das
zunehmende Unbehagen der jüdischen Schweizer, als Bürger eines neutral~n Landes
in die Nähe von international wirkenden Organisationen, die kollektiv politische Ziele
verfolgten, gerückt zu werden. Nach der allgemeinen Regel, dass Minderheiten die
Normen und Mythen der Gesellschaft, in der sie leben, oft eifriger und intensiver
verinnerlichen als die Mehrheit, scheinen auch Teile der Schweizer Juden sich den
Maximen der Neutralität überassimiliert zu haben. Die Furcht vor dem antijüdischen
Vorwurf einer «doppelten Loyalität», den eingesessene und tonangebende Schweizer
Juden als Schreckgespenst malten, ist damit begründet worden und hat auch nach dem
Krieg noch abgeschwächt nachwirken können. 53
Seit 1936 setzte daher unter den Schweizer Juden die Reaktualisierung der bekann-
ten Auseinandersetzung um die politische oder philanthropische Definition der Organi-
sationen des «internationalen Judentums» ein. Dieser Streit rührte an zwei unterschiedli-
che Konzepte, die sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts in der jüdischen Welt heraus-
gebildet hatten und sich in den einzelnen Organisationen niederschlugen. Die
«Philanthropen», wie das JDC, HICEM, ORT oder der Council of German Jewry
genannt wurden, suchten als politisch neutrale oder «apolitische» Hilfswerke die indivi-
duellen und wirtschaftlichen Folgen von Migration oder Flucht, von Verarmung und
Entreehrungen der Juden in europäischen Ländern sozial aufzufangen. Ihre Ziele, und
meist auch der anerkannte Status der Hilfswerke, machten es den an Neutralität orien-
tierten Schweizer Juden leicht, hier mitzuwirken. Vor allem berührte dies auch das
traditionelle Selbstverständnis der Hilfe und Wohltätigkeit und entsprach der über
Jahrhunderte eingeübten Gabba'ei Zedakah, einer «Wohltätigkeitssteuer», die seit dem
19. Jahrhundert eine freiwillige Leistung des emanzipierten Gewissens geworden war.
Entstanden war die jüdische Philanthropie auf europäischem Boden mit vier Hilfs-
werken und der Tätigkeit einzelner reicher Juden, die unter dem Eindruck der Not eine
internationale Solidarität unter den Juden anzustreben suchten. Voraussetzung war die
nichtreligiöse bzw. religiös neutrale Grundlage, die orthodoxen und liberalen, später
religiösen wie säkularen Juden die Mitwirkung ermöglichte. Gemeinsames Kennzei-
chen aller Hilfswerke blieb vor allem die jeweils nationale Anhindung der Aktivitäten.
DieAlliance Israelite Universelle (1860) in Frankreich, dieAnglo-JewishAssociation
(1871) in London, die Israelitische Allianz (1873) in Wien, der Hilfsverein der deut-
schen Juden (1901) vermiedenangesichtsantisemitischer Vorwürfe den Eindruck, es
existiere ein internationales Judentum, das sich an nationale Verpflichtungen nicht
gebunden fühle. 54 Eine solche Konstellation galt erst recht für die schweizerischen
Organisationen (SIG und VSWVSJF), die gerade in Bedrohungs- und Kriegszeiten
sich zur politischen Neutralität bekannten. Die Aktivitäten der genannten Hilfs-
248 4. KAPITEL

organisationen erhielten seit dem Ersten Weltkrieg zunehmend Konkurrenz, Ersatz


oder Unterstützung durch amerikanischeoder ehemals russische Organisationen (JDC,
HIAS, ORT, OSE), die das Werk der Philanthropie im Buropa des Zweiten Weltkriegs
von der Schweiz aus weiterführten.
Nicht so die politisch denkenden Juden. Sie opponierten den Philanthropen, wel-
che als bürgerliche «Assimilationisten» die nationale jüdische Selbstbestimmung auf-
gegeben hatten, und wollten die sozialen Fragen und Nöte politisch und völkerrecht-
lich debattiert sehen. Die Selbstbeschränkung auf die Philanthropie hatte diesen neuen
Kräften bereits vor der Jahrhundertwende missfallen und musste nach dem Aufkom-
men des Antisemitismus erst recht missfallen. Jüdischer Sozialismus und am Rand
jüdischer Anarchismus, besonders aber der politisch-kulturelle Autonomismus und der
«Kulturzionismus» Achad Ha-Ams waren implizit oder explizit Stellungnahmen ge-
gen die philanthropischen Bewegungen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
gewesen, in deren Rahmen einzelne Juden oder Organisationen versucht hatten, All-
siedlungsprojekte durch finanzielle Wohltätigkeit anzukurbeln. Von diesen politisch-
sozialen Bewegungen der Modeme, welche die alten religiösen Verheissungen des
Judentums säkularisierten, hat sich der Zionismus historisch durchgesetzt, indem er all
diese Bedürfnisse und die verschiedenen Strömungen organisatorisch auf einen Weg
zu neuer Kontinuität und Selbstbestätigung wies.55 Nur Geld allein genüge nicht, um
das Judenproblem zu lösen, hatte Herzl1902 vor der britischen Fremdenkommission
erklärt, denn «die Volksmassen müssen eine Idee haben, sie müssen an ihre Zukunft
glauben können». Der politische Zionismus suchte angesichtsder «Unfähigkeit der
Juden, sich über ihre politische Lage klar zu werden», die öffentliche Behandlung der
europäischen Judenfrage. 56 Eine solche Debatte lief den bürgerlich und national-
staatlich sich assimilierenden Juden, die das Problem mit neutraler Wohlfahrt allein
mildem wollten, zuwider, aber auch den meisten Orthodoxen, die hier eine anmassende
Verfälschung der messianischen Idee befürchteten. 57
Der ständige Streit um die Frage «Politik oder Philanthropie» wurde in der Schweiz
angesichts der nazistischen Bedrohung und dann des Flüchtlingsstroms reaktualisiert.
Die Debatte wurde über zwei Organisationen aufs Tapet gebracht. Die Schweizer
Zionisten, die Erwägungen der Neutralitätspolitik vordergründig günstig gesonnen
waren, schätzten die Schweiz als Gastland für die ZO-Kongresse und als Sitz der
Jewish Agency. Die zionistische Sache genoss in den Augen der führenden Schweizer
Juden zwar starke Sympathien, erfüllte man doch jüdische Pflichten und erschien ein
Stück weit im politischen Rampenlicht. Doch die kantig auftretenden und oft auch
ideologisch gerichteten zionistischen Parteigänger galten lange nicht als hoffähig.
Besonders sichtbar war für die Schweizer Juden indes der WJC, mit dem sich gerade
auch ein Teil der Nichtzionisten identifizieren konnte, ohne dabei die praktische
Aufbauarbeit in Palästina abzulehnen. Besonders die «Genfer>> um Paul Guggenheim
kritisierten die zunehmende Absenz des jüdischen Establishments von einer jüdischen
POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUNDLAGEN 249

Politik auf internationaler Ebene, die sie politisch im WJC als dem kollektiven Instru-
mentarium zu einer jüdischen «Aussenpolitik» repräsentiert sahen.
Wenige Wochen nach Kriegsausbruch stellte Guggenheim in einem längeren
Leitartikel des Israelitischen Wochenblattes fest, dass jetzt «die philanthropische
Hilfstätigkeit allein weder zu konstruktiven Lösungen in Mittel- und Osteuropa noch
des Wanderungsproblems zu führen vermag. Neben dem philanthropischen Problem
besteht nämlich eine eminent politische Frage, der nur mit Mitteln beizukommen ist,
die jenseits jener so bewunderungswürdigen Hilfstätigkeit liegen.» In die gleiche
Stossrichtung zielend, zitierte Leslie Newman, ein amerikanischer Jude in Zürich, im
Wochenblatt eindringlich die Diskussion zwischen Herzl und Baron Hirsch, dem der
Begründer des Zionismus vorgehalten hatte, nicht Philanthropie, sondern Selbsthilfe
führe zu einem politischen Programm.58 Schliesslich warnte in einer Kritik an den
Theorien der Emanzipation der Genfer Kulturphilosoph Jouse Jehouda vor der rein
philanthropischen Verkürzung der jüdischen Einheit, die einer weltweit anerkannten
Körperschaft bedürfe. Das Scheitern der Alliance /sraelite Universelle während des
Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 wurde als schlechtes Beispiel angemahnt,
hatten doch die antisemitischen Angriffe und nationalstaatliehen Verpflichtungen die
Juden in den verschiedenen Ländern aufgespalten.59
Die Unterscheidung zwischen politischem und philanthropischem Judentum er-
hielt allerdings auch eine andere Dimension, bei der solche definitorische Differenzen
letztlich verschwimmen mussten. Während sie zwischen 1936 und 1941/42 dazu
diente, die Neutralität des SIG oder des JDC zu legitimieren, oder umgekehrt einen
Hebel der Kritik an einer allzu lahmen SIG-Beteiligung beim WJC abgab, änderte sich
dies angesichts des Holocaust. Wir werden sehen, dass in den Tagen der deutschen
Deportationen und Vernichtung der Juden in Buropa gerade die als «neutral» gelten-
den jüdischen Hilfswerke auch in die Grauzonen von Legalität und Illegalität, von
Philanthropie und Politik hineinglitten. Das hat zum Beispiel den WJC veranlasst, mit
Blick auf die Verhandlungen von Saly Mayer mit den deutschen SS das JDC an seine
rein «philanthropische» Natur zu erinnern. 60 Zwar ist der Streit um Politik und
Philanthropie angesichts der Ereignisse letztlich sekundär geworden, doch er erhellt
das Selbstverständnis der Juden in der Schweiz.
Im folgenden Glossar werden zuerst die politischen, dann die philanthropischen
Organisationen summarisch vorgestellt unter Berücksichtigung ihres Verhältnisses zur
Schweiz und den Schweizer Juden. Dabei muss ausgewählt und gewichtet werden,
was für die Schweiz und Schweizer Juden in der behandelten Zeit relevant war. Aus
einer von Mark Wischnitzer zusammengestellten Liste aller jüdischen Organisationen,
die in die Hilfs-, Migrations- und Sozialarbeit involviert waren, lassen sich über
hundert herauslesen, die irgendwie mit der Schweiz verbunden waren. 61 Es versteht
sich also, dass nur die bedeutendsten genannt werden können, während die kleineren
Gruppierungen im Text dort erklärt werden, wo von ihnen erstmals die Rede ist.
250 4. KAPITEL

DIE POLITISCHEN UND RELIGIÖSEN BEWEGUNGEN:


ZIONISTEN, BUNDISTEN, AGUDISTEN UND WELTKONGRESS IN DER
SCHWEIZ

Die verbindende Gemeinsamkeit der politischen und religiösen Zusammenschlüsse,


die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert ideologisch und organisatorisch anbahnten
und im neuen Jahrhundert in festumrissenen Programmen resultierten, bestand in der
Betonung einer jüdischen Autonomie. Wie diese Selbstbestimmung rechtlich und
politisch aussehen sollte, darüber gingen die Meinungen sogar innerhalb der einzelnen
Hauptströmungen auseinander. Erst recht differierten und bekämpften sich die drei
wichtigsten Hauptgruppen, von denen historisch sich nur der Zionismus erfolgreich
durchgesetzt hat.

Die Zionisten: Organisation, Ideen, Parteien

Es braucht nicht wiederholt zu werden, dass die Zionistische Organisation in der


Schweiz gegründet wurde, wo die Delegierten, die nach Basel geschickt wurden,
gelang, ein zukunftsweisendes Programm verabschiedeten. 62 Der erste Kongress von
1897 wurde auch von einzelnen liberalen Schweizer Politikern und Zeitungen gewür-
digt. 63 In Basel gelang es Theodor Herzl, die Zionsfreunde und an einer jüdischen
Renaissance interessierten Kreise zu einer international gegliederten Organisation
zusammenzufassen. Die Ausrichtung seines Programmes klammerte ideologische
oder geistige Komponenten zugunsten einer nationalen und abstrakt staatlichen Ab-
sicht aus. Herzl konzipierte seinen Zionismus als Beitrag der Juden an die zivilisatorische
Mission der westlichen Kultur, die insgesamt im ausgehenden 19. Jahrhundert expan-
dierte. Zu Herzls Traum im Geist eines aristokratischen Liberalismus gehörte die Idee
einer <~üdischen Schweiz», wie sie in seinem «Judenstaat» zum Ausdruck kommt.
Dies sollte allein durch politischen Willen und staatsmännische Technik erreicht
werden.
Unter dem Eindruck des Erfolgs am Gründungskongress waren Meinungsver-
schiedenheiten über grundsätzliche Fragen zwar in den Hintergrund getreten, doch
noch lange nicht ausgeräumt. Sie manifestierten sich in den nachfolgenden Kongres-
sen im Auftreten verschiedener Gruppierungen und Fraktionen, die unterschiedliche
Vorstellungen darüber hatten, was der moderne Zionismus bedeuten solle. Dabei
wurden auch frühere Vorschläge und Schriften aufgegriffen, von denen jene von
Moses Hess und besonders von Leo Pinsker bedeutsam blieben, weil darin messianische,
autonomistische und kulturelle Ideen zum Zuge kamen. Besonders aber trat dem
«schematisch-theoretischen Zionismus» in Westeuropa, wie es Herzl selbst erkannte
POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUNDLAGEN 251

und Chaim Weizmann in seinen Memoiren berichtet, ein «organisch gewachsener»


Zionismus aus Russland und Osteuropa entgegen, der nicht in Zylinder und steifem
Frack politisierte. 64
Innerhalb der Organisation glaubten daher auch lange nicht alle, dass der Zionismus
in erster Linie eine Antwort auf die europäische «Judenfrage» sei. Über den klassi-
schen politischen Horizont hinaus erblickten viele ein soziales, geistiges und kulturel-
les Phänomen, indem sie die Frage stellten, was die jüdische Selbstdefinition in der
Modeme sei. Heftige ideologische Auseinandersetzungen über Ziele und Wege des
Zionismus kennzeichneten besonders die Periode nach dem Ableben Herzls (1904).
Daran beteiligten sich neben den Kulturzionisten die sozialistischen Parteien, die
«Allgemeinen Zionisten» als eine Art Zentrumspartei, die Rechtsparteien und
schliesslich die religiöse Partei. Quer zu den genannten hauptsächlichen zionistischen
Konzepten und Parteien lassen sich auch zwei strategische Haltungen unterscheiden:
einmal ein mehr politisch-territorialer Primat zur Erreichung des Ziels und zum andem
ein mehr praktisch orientierter Zionismus, der auch ohne vorhergehende politische
Absicherung in Palästina Fuss fassen wollte. 65
Insgesamt besehen, das heisst unter Berücksichtigung der jüdischen Nichtzionisten,
blieb der Zionismus eine zunächst durchwegs weltlich gerichtete und postemanzipa-
torische Erscheinung, in der sich die Ablehnung der assimilatorischen Selbstauf-
lösung, die Suche nach einem neuen Konzept von Judentum und eine Neuinterpretation
der jüdischen Geschichte und Tradition kundtat. Dass gleichzeitig unter dem Eindruck
des Antisemitismus die Zionisten Auftrieb erhielten, ist nur eine sekundäre, wenn auch
nachhaltig wirkende Bestätigung ihrer Bestrebungen, die in den dreissiger Jahren
besonders aktuell und konkret wurden.
Diese Entwicklungen sind in der Schweiz gut abzulesen. Der Schweizerische
Zionistenverband formierte sich unmittelbar im Zusammenhang mit dem ersten Basler
Kongress und verzeichnete bald Ortsgruppen in den Städten Zürich, Basel, Bem, St.
Gallen, Luzem, Biel, Genf und Lausanne. Besonders fruchtbaren Boden gewann die
Bewegung in ihren Anfängen unter den russisch-osteuropäischen Studenten und
Immigranten, wie die Mitgliederlisten von nationaljüdischen Studentenverbindungen
in der Schweiz zeigen. 66 In den zwanziger Jahren mancherorts etwas erlahmt, wurde
nach 1930 auf dem Hintergrund der antisemitischen Anfechtungen die zionistische
Initiative auch in der Schweiz wieder stark vorgetragen. Der Schweizerische
Zionistenverband machte gegen die «lächerliche Assimilationssucht» und «Indifferenz
von eigennützigen Individualisten» mobil und strebte 1935 auch die Gründung von
Ortsgruppen in Kreuzlingen, Baden, Lugano und La Chaux-de-Fonds an. 67 Auftrieb
hatten dem Zionismus in der Schweiz also die Ereignisse in Deutschland im
Entscheidungsjahr 1933 gegeben. Vier Jahre später sorgte sich ein Autor in der
Jüdischen Presszentrale, dass die «Anzahl der Schwe,izer Mitglieder des Zionismus
grösser geworden» sei, dies aber nicht als Beirrung «patriotischer Dankbarkeit» ge-
252 4. KAPITEL

genüber der Schweiz ausgelegt werden dürfe. 68 Die zunehmende Stärke des Verbands
erreichte während des Kriegs und in der unmittelbaren Nachkriegszeit einen Höhe-
punkt. 1943/44 edierten die Schweizer Zionisten auch eine eigene Schriftenreihe, um
vor allem die oft geäusserten Bedenken, der Zionismus führe zu einer «doppelten
Loyalität», unter Schweizern und Schweizer Juden zu zerstreuen. 69
In Schweizer Städten ist auch die Schaffung einer Reihe wichtiger Instrumente und
Organe des Zionismus über die Bühne gegangen. 1901 war in Basel der auf dem ersten
Kongress bereits beschlossene Keren Kajemeth (KKL) gegründet worden, als Fonds
zum Kauf von Land in Palästina und zur land- und forstwirtschaftliehen Urbarrnachung
des Landes. Der KKL wurde zum ersten Instrument für die Mittelbeschaffung unter
den Juden in Buropa und Amerika, die ihre persönlichen Spenden in die Sparbüchse
einlegten; die «blaue Blechbüchse mit der grossen Idee» war denn auch weit verbreitet
in jüdischen Familien der Schweiz und anderer Länder. 70 Im Zuge der Balfour-
Deklaration und des britischen Palästinamandats durch den Völkerbund beschloss die
ZO 1919 in London die Einrichtung eines ansehnlichen wirtschaftlichen Entwicklungs-
fonds unter dem Name Keren Hajessod. Der jüdische Nationalfonds erhielt zwei Jahre
später auch einen ~<Keren Hajessod Schweiz», dessen Vorstandszusammensetzung
zwischen 1921 und 1947 die zunehmende Akzeptanz des Zionismus unter den Schweizer
Juden spiegelt. 1933 und 1939 mahnte Weizmann, der gemeinsam mit Albert Einstein
unter den amerikanischen Juden geworben hatte, auch in der Schweiz an, die
Sammelaktionen des Keren Hajessod zu unterstützen. 71
Eine in der ZO lang umstrittene Idee brachte Weizmann 1929 in einer Zürcher
Turnhalle zur Verwirklichung, als die Jewish Agency (JA) durch die Nichtzionisten
erweitert wurde. Gernäss Artikel4 des Palästinamandats des Völkerbunds war die JA
die Vertretung der Juden, die als öffentlich anerkannte Körperschaft mit der britischen
Palästinaregierung verhandeln und zusammenarbeiten sollte; ihr Finanzinstrument
stellte der Keren Hajessod dar. Die 1929 erweiterte JA stellte nun eine «neutrale»
Plattform zur paritätischen Vertretung von Zionisten und neu Nichtzionisten dar.
Damit sollten die Migrationen, besonders von Juden aus Osteuropa, nach Palästina
kontrolliert gelenkt und andererseits die Unterstützung für den Aufbau des Landes in
einen breiten Rahmen gestellt werden. Auf Antrag der ICZ, die auch hier eine Vor-
reiterrolle spielte, trat der SIG der erweiterten JA bei. In den vorangegangenen Diskus-
sionen der Zürcher Cultusgemeinde war die hier bereits erwähnte Frage, ob die
jüdische Gemeinde ihr altes konfessionalisiertes Kleid wahren oder sich sozial, kultu-
rell und politisch «erweitern» solle, Gegenstand der Kontroversen. Die Mitglieder der
ICZ stimmten praktisch geschlossen, die SIG-Delegierten mit deutlichem Mehr für
den Beitritt zur JA und damit zu einem politisch-sozialen Verständnis des Judentums.
Wesentliches Motiv bildete auch die Aussicht, dass der Strom ostjüdischer Emigranten
nicht nur in Richtung Westen gehen würde. 72
Belebend für die gesamte Entwicklung wirkte, dass der Zionismus den jüngeren
POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUNDLAGEN 253

Generationen über die nationale Erneuerung hinaus auch ideologische Angebote uto-
pischen Zuschnitts bot. Solche Alternativen waren von erheblicher Bedeutung und
korrespondieren mit der Genese und den Motiven der jeweils laufenden Emigrationen
nach Palästina. In den verschiedenen Jugendbünden, Zirkeln, Studentenverbindungen
und Parteien sind diese ideologischen Komponenten innerhalb der zionistischen Be-
wegung auch in der Schweiz fassbar. Sie färbten als erstes die nach den ersten ZO-
Kongressen entstandenen Studentenverbindungen, die aber weitgehend als «Aus-
länderverbindungen» gelten konnten. Die Generation der zwanziger und besonders der
dreissiger Jahre brachte dann ihre zionistische Gesinnung stark mit einer bestimmten
Ideologie zum Ausdruck und beunruhigte so auch einzelne Notabeln in den
Kultusgemeinden.

«Kulturzionisten» und Allgemeine Zionisten

Der sogenannte Kulturzionismus formulierte das jüdische Identitätsproblem der Mo-


deme. Die Gruppierung um Chaim Weizmann und Martin Buber wollte innerhalb des
politischen Zionismus eine geistige und kulturelle Renaissance des Judentums in die
Wege leiten und rückte auch vom «aristokratischen» Stil derwesteuropäischen Zionisten
ab. Im Zentrum der Forderungen standen Bildung und Kultur als emanzipatorische
Treibmittel der nationalen Erneuerung. Max Nordau, enger Mitarbeiter Herzls in der
Begründung des politischen Zionismus, fasste den Widerstand gegen den Kultur-
zionismus am fünften ZO-Kongress in die Worte, eine allseitige Volksbildung sei so
lange leeres Gerede, als Geld zu ihrer Voraussetzung fehle. Vorbild und führende
Gestalt des Kulturzionismus war Achad Ha-Am («Einer aus dem Volk»), mit bürgerli-
chem Namen Asher Ginsberg. Palästina sollte nach seiner Idee in erster Linie ein
geistiges und kulturelles Zentrum sein und nicht das Ziel einer Massenansiedlung. Zu
den Antworten auf die «geistige Krise», welche nicht überall zum Tragen kamen, aber
als Ringen um das zionistische Selbstverständnis relevant blieben, gesellte sich die
Absicht der Integration von West- und Ostjuden. Dazu gehörte bereits auch die
Harmonisierung von nationalen und revolutionären Elementen.
So mobilisierte Weizmann, der an der Universität Fribourg promovierte und vier
Jahre lang in Genf als Privatdozent Chemie lehrte, gegen jene russisch-revolutionären
Kräfte, deren «Namen bereits mit der Gloriole ihrer sibirischen Vergangenheit umge-
ben waren» und die nur Verachtung für den Strom jüdischer Tradition aufgebracht
hätten. Weizmann berichtet über die Wirkungen dieses «Bemer Aufstandes» und des
dort gegründeten Ha-Schachar («Morgenröte») auf die jüdischen Studenten, die um
die Jahrhundertwende unter dem Einfluss russischer Revolutionäre gestanden waren.
Kulturzionistische Fragen der ersten Stunde waren also in der Schweiz noch eine
mehrheitlich unter den russisch-osteuropäischen Studenten und Studentinnen verbrei-
254 4. KAPITEL

tete Thematik, die auf junge Schweizer Juden an den Universitäten abfärbte. Sichtbar
wird die Gegnerschaft oder Befürwortung zum Kulturzionismus denn auch bei den
verschiedenen Studentenverbindungen. Die Kadimah in Bern und die Maccabea in
Zürich, die seit 1901 und 1910 bestanden, fühlten sich Herzl und Nordau verpflichtet
und machten zum einen Front gegen den Kulturzionismus und zum andern gegen die
sozialistischen Studenten. Die 1924 von baltischen Studenten in Basel gegründete
Jordania erhielt Zulauf gerade wegen der Thematisierung kulturzionistischer Fragen.
Schliesslich ist eine indirekte Wirkung des Kulturzionismus auf jüngere schweize-
risch-jüdische Kreise zu belegen an den Programmen der Jüdischen Vereinigung
Zürich, die 1919 unter dem Namen «Vereinigung für soziales und kulturelles Judentum»
gegründet wurde. Die Vereinigung war zwar nicht zionistisch, sondern politisch
neutral, suchte jedoch eine Auseinandersetzung und Selbstbesinnung angesichtsjener
Fragen, die gerade der Kulturzionismus aufgeworfen hatte. 73
Die Neuorientierung zionistischer Politik unter der Wirkung kulturzionistischer
Lehren wurde nach erbitterten Debatten im «Synthetischen Zionismus» von Weizmann
abgeschlossen, indem zwischen politischen und praktischen Zielen vermittelt wurde.
In der Vertretung der Allgemeinen Zionisten, die lange die bedeutendste Gruppierung
in der ZO blieb, ist diese Ausbalancierung manifest geworden. Palästina als Land und
Ausstrahlungszentrum, nationale Autonomie in der internationalen Politik und bürger-
lich-verfassungsrechtliche GleiChberechtigung der Juden in den verschiedenen Staaten
sollten als drei eng verbundene Forderungen erscheinen. Damit wollten die Allgemei-
nen Zionisten die Gleichzeitigkeit von jüdischer Frage, zionistischer Idee und Existenz-
recht in der Diaspora unterstreichen. Neben Weizmann, der die ZO vor und während
der britischen Mandatszeit konsolidierte, hat vor allem auch Nahum Goldmann diese
Linie vertreten. In der Schweiz vermochten gerade Weizmann und auch Goldmann in
zahlreichen Auftritten und Kontakten der zionistischen Aufbauarbeit Respekt zu ver-
schaffen und jüdische Gemeinden immer wieder für Sammlungen zu gewinnen. 74
Während des Krieges hatte diese «Zentrumspartei» in der Schweiz mit Hans Klee
einen prominenten Flüchtling als Bannerträger, der für die Weiterreise der Emigranten
und Flüchtlinge eintrat. Zusammenfassend: Die Allgemeinen Zionisten boten den
liberal orientierten, meist mittelständisch lebenden sowie auch individualistisch den-
kenden Juden eine Brücke zwischen dem fernen Palästina und dem eigenen Leben als
Schweizer Bürger.

Linkszionistische Parteien und Bewegungen

Sehr viel komplexer und umfassender zu belegen ist das herausfordernde Erscheinen
der zionistischen Sozialisten in der Schweiz, so in der Form der Arbeiterpartei Poale
Zion und der Hechaluz- undHaschomer-Jugendbewegungen. Allein schon die Gestalt
POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUNDLAGEN 255

von David Farbstein, der nicht nur als Sozialdemokrat, sondern auch als Zionist seine
Nachfolger unter den eingesessenen Schweizer Juden erzog, verweist auf den russisch-
osteuropäischen Ursprung des linkszionistischen Spektrums. Das gilt für die Schweiz
wie für alle europäischen Länder, in denen der Zionismus durch ostjüdische Immigranten
beeinflusst wurde. «Der Einfluss des russischen Sozialismus auf die zionistische
Arbeiterbewegung, nicht nur auf ihre Ideologie, sondern mehr noch auf ihre politische
Haltung, kann gar nicht überschätzt werden», meint Walter Laqueur, der darin mit
Perez Merchav übereinstimmt. 75 Farbstein war 1894 von Warschau über Berlin in die
Schweiz gekommen, fühlte sich mit Achad Ha-Am verbunden, verkehrte in Bern mit
Herman Greulich, war aktiv am Zustandekommen des Basler Kongresses beteiligt und
stand lange an der Spitze der zionistischen Ortsgruppe Zürich, die 1942-1943 sehr
bestimmend auch SIG-Politik machen sollte. 76 In Farbsteins Zeit sind dann weitere und
jüngere Generationen in den sozialistischen Zionismus hineingewachsen. Jacob Zuk-
ker, Benjamin Sagalowitz, Veit Wyler, Max Gurny, Samuel Scheps und andere, die
innerhalb des Schweizer Judentums Bedeutung erlangten, rekrutierten sich aus den
immigrierten Ostjuden, den jüngeren schweizerischen Juden und schliesslich den
jüdischen Flüchtlingen, die seit 1933 in die Schweiz gelangten.
Die Stärke und zugleich eine Schwäche der verschiedenen sozialistischen Parteien
lag in der Motivierung und Mobilisierung neuer Generationen. In die Parteileitung des
Schweizer Poale Zion wurden beispielsweise nicht nur örtliche Vertreter, sondern
auch zwei Abgeordnete der Jugend- und Studentengruppe Gordonia gewählt. 77 Die
zionistisch-sozialistische Jugend ist so hauptsächlich im prägenden Klima von Jugend-
bünden und studentischen Gruppen gross geworden, deren politische Kultur mit
ideologischen Konzepten unterlegt war, die das generationenspezifische Bild der
jeweiligen Wanderungswellen nach Palästina spiegeln. 78 Andererseits hat das lebendi-
ge Spektrum der linken Parteigenerationen auch zu Aufspaltungen geführt. 1946
verloren bei den Wahlen zum Zionistenkongress die schweizerischen Linken ihr
Mandat, nachdem sie mit zwei gesonderten Listen, der älteren Poale-Partei und des
jüngeren Haschomer Hazair, in die Wahlen gegangen waren, ohne sich auf eine
Verbindung zu einigen. 79
Im Zionismus spielten sozialistische Ideen schon früh und ständig eine grosse
Rolle. Die beiden anfänglichen und gewichtigsten Strömungen innerhalb der zionistisch-
sozialistischen Bewegung, deren politischer Stammbaum sich freilich in ein breites
Linksspektrum verzweigt, waren der Poale-Zionismus und der Hapoel Hazair, beide
1905 gegründet. Die Arbeiterpartei Poale Zion, die in Palästina bzw. Israel in der
Mapai- und Mapampartei (1930, 1948) und schliesslich im Maarach (1968) fortlebt,
suchte die nationale Emanzipation mit den Theorien des Klassenkampfes zu begrün-
den. Zuerst sollte durch Migration und Kolonisation ein Territorium in Palästina
geschaffen werden, um dann dort ein jüdisch-sozialistisches Gemeinwesen zu errich-
ten. Im Gegensatz zu dem aus Ideen des Marxismus und der russischen Narodniki-
256 4. KAPITEL

Bewegung gespiesenen Schema der Poale Zion verwarf der Hapoel Hazair den
Klassenkampf. Er forderte vielmehr eine Erziehung zu einem Leben der produktiven
Arbeit, die alle Schichten des jüdischen Volkes umfassen sollte. Im Zentrum stand also
eine betonte und geradezu metaphysische Wertschätzung der Arbeit, was in den
Programmen durch die Forderung nach beruflicher Umschulung und Vorbereitung auf
das Kibbuzleben zum Ausdruck kam. West- und ostjüdische, reformpädagogische und
«volkssozialistische» Einflüsse wurden überall in den europäischen Ländern, wo
Hachschara-Stätten existierten, amalgamiert.
Besonders mit der vierten und fünften Alija (Einwanderung nach Palästina) wäh-
rend den zwanziger und dreissiger Jahren, die nun vermehrt deutsche Juden umfasste,
sind diese Ideen in den Hechaluz Hazair («der junge Pionier») eingeflossen. In der
Schweiz wurde der Hechaluz als gewerkschaftsnaher Verband bis 1946 durch Nathan
Schwalb repräsentiert, der von Genf aus Untergrund- und Rettungsaktivitäten im
deutsch besetzten Europa vernetzte. 80 Arbeit, Siedlung und Alija - das waren die
Pfeiler des Hechaluz, der dazu in Europa die Vorbereitungen durch die Erziehung und
Ausbildung junger Pioniere für die Kibbuzim an die Hand nahm. «Durch die Arbeit im
Lande [Palästina] wurde nicht nur eine wichtige Sprosse auf der Leiter der zionistischen
Verwirklichung auf dem Lande gezimmert, sondern auch ein starker Hebel geschaf-
fen, der zum Aufschwung der Bewegung in der Gala [Diaspora] führen sollte»,
resümierte David Ben-Gurion 1928 in einer Histadruth-Rede, die 1935 in einer vom
Hechaluz edierten Anthologie in deutscher Sprache nachzulesen war: «Der erste
Spross der Arbeiterbewegung wurde die Bewegung des Hechaluz. Im Gegensatz zum
offiziellen bürgerlichen Zionismus, der zu nichts verpflichtet, der von seinen Anhän-
gern nichts fordert und in ihrem Leben nichts ändert[ ... ].»81
Als weitere Kraft im sozialistischen Spektrum erwähnt werden muss der bereits
genannte Haschomer Hazair («junge Wächter»), der eine typische Jugendbewegung
der Generation um den Ersten Weltkrieg (1919) und wie der osteuropäische Hechaluz
eine utopische Vorwegnahme der Kibbuzim darstellte. In der Schweiz ging der
Haschomer 1936 aus dem Jugendbund «Brith Habonim» hervor, lebte nach seiner
Gründung sehr bald auf und sollte auch in den Jahrzehnten nach dem Krieg nachhaltig
weiterwirken. Inspiriert vom Pfadfindergeist Baden-Powells, von der «Wandervogel»-
Bewegung und den «Werkbund»-Ideen in Deutschland sowie den ähnlich gelagerten
Jugend- und Studentenkreisen «Zeire Zion» in Galizien und Polen, verbreitete sich der
Haschomer von Wien aus in Ost- und Westeuropa. In der Alija-Bewegung galt er als
Alternative zum Puritanismus der Bildungsbürger und der streng ideologischen
Marxisten. Besonders nachhaltig beeinflusste der Haschomer die zionistische Jugend-
bewegung in den einzelnen Ländern mit reformpädagogischen Anklängen, in denen
eigene Formen von Kultur, Freizeit und Geschlechterbeziehung zum Ausdruck kamen
wie gemeinsames Tanzen und Singen, aber auch Zeichnen, Musik, Wandern oder
Freigymnastik «In den Kibhutzirn des Haschorner Hatzair wird die allgemeine Ver-
POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUNDLAGEN 257

sammlung der Mitglieder <Sicha> (Unterhaltung) genannt, wohingegen wir in anderen


Kibhutzirn den Terminus <Assefah> (Versammlung) finden [... ].Dies führte in der
Folge zu einer Abgrenzung von anderen Menschen und Lebenskreisen und zu einem
allgemeinen Radikalismus, den man nicht nur im politischen Bereich vorfindet, son-
dern als Grundeinstellung in allen Lebensbereichen.»82 Hinsichtlich der «arabischen
Frage» hoffte der Haschomer, der teilweise einen binationalen Staat anstrebte, auf
einen gemeinsamen Kampf von Juden und Arabern für den sozialen Fortschritt und
gegen die britische Kolonialverwaltung. 83

Rechtsparteien

Die Rechtsparteien haben sich, ganz im Gegensatz zum Linksspektrum, in der Schweiz
parteipolitisch nicht wesentlich bemerkbar machen können, aber mit markanten Figu-
ren die Schweizer Behörden beschäftigt und die Zionisten im Land beeindruckt. Ein
unbedingter Anhänger des von Wladimir Jabotinsky vertretenen sogenannten
Revisionismus war der Basler Reuben Hecht, der sich nach 1938 auf oft abenteuerli-
chen Wegen an der Organisation der sogenannten Alija Beth, das heisst der in briti-
schen Augen illegalen Einwanderung nach Palästina beteiligte. 84 In diesem Zusam-
menhang wird noch von seinem Zusammenstoss mit schweizerischen Stellen die Rede
sein. Die Revisionisten bezichtigten die Leitung der ZO, vor allem Weizmann, einer
inneren Abkehr und falschen Politik bei der Verwirklichung der zionistischen Ideale.
Der Primat eines jüdischen Staates und einer machtvollen Politik sowie ein territoriales
Grossraumdenken, zum andern teilweise privatkapitalistische Vorstellungen für den
wirtschaftlichen Aufbau Palästinas kennzeichneten die revisionistische Union.
Die Union hinterlässt aber ebensowenig ein einheitliches Bild wie das ihrer linken
Gegner. So zog sich gerade Richard Lichtheim, einer der wichtigsten deutschen
Zionisten, den die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs in Genf sehen sollte, 1933
von den Revisionisten zurück. Lichtheim hatte noch 1931 an der ZO die erweiterte JA
als organisatorische Aufblähung beschrieben und der Exekutive, der er 1921-1923
selbst angehört hatte, mangelnde Effizienz vorgeworfen. Zu seiner Kritik an der ZO
gehörte auch die Ablehnung eines «Appeasements» der Exekutive gegenüber London,
wenn es um die zügige Ausweitung praktischer Kolonisation in Palästina ging. In der
ZO-Wirtschaftspolitik sollten nach seiner Meinung der Mittelstand und die Schaffung
von marktwirtschaftliehen Verhältnissen am dringlichsten gefördert werden. 1933 trat
Lichtheim, als Jabotinkys Radikalisierung und Trennung von der ZO sich abzeichnete,
aus der Union aus, übersiedelte nach Palästina und übernahm dann von 1939 bis 1946
die Leitung der JA in Genf. Auf die Schweizer Zionisten machte dieser nüchterne, aber
kämpferische Liberale, dem weder Leisetreterei noch Kraftmeierturn eigen war, als
Redner und «zionistischer Diplomat» nachhaltigen Eindruck.85
258 4. KAPITEL

Das revisionistische Programm, besonders aber J abotinskys Bekenntnis zur Macht-


politik, haben ihm und dann seinen Anhängern und Nachfolgern jedenfalls die heftige
Ablehnung seitens der linken Parteien in der ZO eingebracht, welche die Revisionisten
einer faschistischen Ideologie beschuldigten und die Union während den vierziger
Jahren und danach heftig bekämpften. Vor dem Kongress von 1935 in Luzern spaltete
sich der revisionistische Flügel von der ZO ab und entzog sich damit auch der von der
ZO-Exekutive beschlossenen Disziplinklausel, die den Parteien eine eigenständige
«Aussenpolitik» verbot. Nach Ende des Kriegs erhielten die Spannungen zwischen der
ZO und Linksparteien auf der einen und den Revisionisten auf der andern Seite wieder
neuen Auftrieb, bis diese sich 1947 der ZO wieder anschlossen. Das Aufflammen der
Debatte und die Ablehnung der Revisionisten ist auch in den Resolutionen zionistischer
Gruppen in der Schweiz spürbar. Die Poale Zion und vor allem der Haschomer wollten
1944/45, wie sie unterstrichen, mit den <~üdischen Faschisten» nichts zu tun haben. 86

Religiöse Zionisten

Die religiösen Zionisten, die Parteigänger des Misrachi, sind in der Schweiz stets
nachweisbar. 1902, im Gründungsjahr des in Vilna formierten Misrachi («Merkas
ruchani», geistiges Zentrum), bestanden bereits in Zürich, Basel und Luzern erste
Gruppen, die sich 1918 zu einem schweizerischen Landesverband zusammenschlos-
sen. «Wir in der Schweiz genossen während den Zionistenkongressen und während
den hier stattfindenden Misrachi-Weltkongressen den Vorzug, mit unseren Führern in
engeren Kontakt zu treten.» 87 Die Zustimmung der orthodoxen Juden zum Zionismus
war allerdings nicht von vornherein so unproblematisch. Das messianische Moment
und der politische Anspruch des Zionismus konnten ebenso als unvereinbar mit den
religiösen Vorstellungen gelten, indem darin eine anmassende Profanierung der
Zionsverheissung gesehen wurde. Obgleich die orthodoxen Haltungen von einhelliger
Ablehnung bis zu vorsichtiger oder begeisterter Zustimmung reichten, hielt der Misrachi
als Fraktion der ZO in den zwanziger Jahren zeitweise gut einen Drittel der Delegier-
tensitze.
Die religiös-orthodoxe Teilnahme an der zionistischen Bewegung begründet und
ausformuliert hatte im 19. Jahrhundert vor allem Raw Schmuel Mohilewer, eine der
grossen rabbinischen Gestalten Osteuropas. Der Misrachi erhoffte sich vom Zionismus
in Palästina die Schaffung eines Rahmens, in dem sich unbehindert von assimilatorischen
Einflüssen und einer thorafremden Kultur ein jüdisches Leben streng nach den
talmudischen Gesetzesauslegungen führen liesse. Politische und praktische Fragen des
Zionismus interessierten sehr viel geringer als eine örtlich vollzogene «kulturelle
Arbeit [... ] nach Massgabe unserer heiligen Religion und Thora». 88 Die Ideologie von
«Erez Israel und Thora» (Land Israel und Bibel) suchte so den Konflikt zwischen
POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUNDLAGEN 259

politisch-wirtschaftlicher und kulturell-religiöser Defmition des Judentums aufs erste


zu überbrücken. Doch in den Auseinandersetzungen um die jüdische «Kulturfrage»,
wie sie im heutigen Staat Israel weiterhin Zündstoff bietet, formierte sich 1911 ein Teil
der Misrachisten ausserhalb der ZO und ging dann in der nichtzionistischen Agudat
Israel auf. In beiden religiösen Strömungen und Parteien ist aber der Primat der
Religion vor einer staatlichen Existenz weiterhin gültig geblieben.
Die Misrachi-Landesorganisation, die in Zürich residierte und in Luzern mit Kusiel
Stern einen besonders aktiven Stützpunkt besass, verfügte in den dreissiger und
vierziger Jahren auch über eine eigene zionistische Pionierjugend. Der Bachad («Brit
Chaluzim Datim») ist mit seinen Hachschara-Gruppen, die der Kibbutz-Hadati-Bewe-
gung verpflichtet waren, in den Jahren 1943-1947 in den Flüchtlingsheimen Böckten,
Bex, Chamby, Davos und Engelberg nachweisbar. Mit dem Jugendbund Bne Akiwa
vereinigte der Bachad in Zürich, Luzern, Bern, Basel und Genf rund zweihundert
Schweizer Jugendliche, die man in Jugendlagern zusammenzog und gleichzeitig für
das jüdische «Lernen» aus den religiösen Quellen wie für ein produktiv-land-
wirtschaftliches Leben in Israel zu begeistern suchte.89
Orientierungsadresse für die jüngere wie für die ältere Generation blieb damit stets
das rabbinische Wort. Der Zürcher Rabbiner Zwi Taubes zum Beispiel verankerte in
seiner Misrachi-Linie die Zionssehnsucht und Idee von «Erez Israel und Thora» bei
Nachmanides (Mose ben Nachman), einer bekannten rabbinischen Autorität des 13.
Jahrhunderts (die säkularen Zionisten griffen demgegenüber gerne auf den mittelalter-
lichen Dichter und Arzt Yehuda Halevi aus dem vorangehenden Jahrhundert zurück).
Taubes war in Wien noch Sekretär des chassidischen Rebbe Schapira von Drohobycz
aus der Mesriczer-Dynastie gewesen und 1936 als Oberrabbiner nach Zürich gerufen
worden, was seine Familie vor dem Holocaust, dem viele seiner Verwandten zum
Opfer fielen, gerettet hat. Bemerkenswert ist, dass Taubes die misrachischen Hoffnun-
gen nicht nur mit der sinaitischen Bundesthematik begründete, sondern dabei, wie es
andere Zionisten zuweilen taten, auch argumentative Parallelen zur schweizerischen
Eidgenossenschaft als einem politischen Gestalt- und Vorbild setzte. 90 Schliesslich ist
noch zu erwähnen, dass auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit wiederholt
misrachische Grössen, so der Oberrabbiner lzchak Herzog, in die Schweiz gekommen
sind und im Streit um taufgefährdete Waisen- und Flüchtlingskinder interveniert
haben. 91

Politische Kultur der Zionisten

Zu den zionistischen Kongressen wurden unter den Zionistenjeweils Wahlen abgehal-


ten, an denen teilnehmen konnte, wer seinen «Schekel» bezahlt hatte. Wurden vor dem
Krieg die kleine Zahl von Schweizer Zionistenjeweils durch einen Misrachi-Delegierten
260 4. KAPITEL

vertreten, standen nach Kriegsende zwei Mandate zur Wahl, um die sich vier Listen
bewarben. Die Wählerzahl kletterte wegen der Flüchtlinge und dank der zunehmenden
Popularität des Zionismus 1945/46 auf eine Höchstzahl von 5000 Schekelzahlern,
wobei infolge der laufenden Ausreisen von Flüchtlingen allerdings nur noch 2621
Personen an der Wahl teilnahmen. Der Misrachi (957) als traditionell stärkste Fraktion
und die Allgemeinen Zionisten (619), die dem «inneren Bedürfnis>> und dem bürgerli-
chen Mittelstand im Land am stärksten entsprachen, gingen als Sieger hervor. Die
Linken machten zwar am meisten Stimmen, brachten sich aber mit getrennten Listen
von Poale Zionisten (440) und Haschomer Hazair (605) um den Triumph. 92
Die Zionisten demonstrierten mit ihren Parteien und Ideologien auch eine politi-
sche Kultur, die dem weit über konkreten Bedürfnissen schwebenden Konkordanz-
und Diplomatiestil des SIG entgegenstand. Der «Sieg des zionistischen Gedankens»,
wie Norbert Weldler formulierte, konnte aber am SIG und seinen Gemeinden nicht
spurlos vorbeigehen, auch wenn die Meinung bestand, der SIG habe sich strikt nur um
die Interessen der Juden in der Schweiz zu kümmern. Wir werden noch sehen, dass die
Zionisten 1942 gerade in der Flüchtlingspolitik und bei der Demontierung des autoritä-
ren Führungsstils SIG-Politik machten. Die Wirkung der politisierenden Aktivität der
Zionisten, die in den Gemeindenotabeln naive «Kehila-Brüder» sahen, bestand im
heilsamen Aufschrecken eines in ihren Augen fatalistischen und konservativen «Juif
moyen», der sich auf das bequeme Refugium des «israelitischen Kultus» zurückzog.
Veit Wyler, damals Präsident des Schweizerischen Zionistenverbandes, brachte es auf
den Punkt: «Wir Zionisten traten und treten- schrecklich es auszusprechen- für die
Politisierung der Gemeinden und des Gemeindebundes ein.» Diese Forderung hat sich
so nicht durchsetzen können, zumal die Zionisten selbst an einer harmonisch arbeiten-
den Geschäftsleitung Interesse hatten, die sich ganz hinter den jungen Staat Israel
stellte. «Unser SIG ist wohl demokratischer geworden, aber noch nicht ganz volks-
verbunden», summierte 1946 der Basler SIG-Delegierte Adrien Blum die Situation. 93
W erlen wir abschliessend einen Blick auf das Verhältnis von Schweizern und
Flüchtlingen in der zionistischen Jugend. Zwischen den im Land geborenen schweize-
rischen Jugendlichen und der Flüchtlingsjugend scheinen unter den zionistisch Ge-
sinnten eine unterschiedliche Erwartung und Bereitschaft, mit einer Alija nach Palästi-
na und Israel ernst zu machen, vorhanden gewesen zu sein. Aus der Sicht eines
international tätigen Aktivisten, dem auch die zionistische Militanz nicht fehlte, erfüll-
ten zwar die jüdischen Schweizer Familien fleissig ihre philanthropischen Pflichten,
standen den Zionisten aber nur bedingt mit Sympathie gegenüber, wenn es um die
Zukunft der Kinder ging. «Unter diesen Bedingungen, wo noch innerhalb des hiesigen
Judentums eine genügend tiefe Assimilationstendenz herrscht», notierte Hechaluz-
Leiter Nathan Schwalb im Dezember 1941, «ist eine chaluzische und erzieherische
Arbeit zu entfalten nicht leicht [... ],weil sich die schon seit einigenJahrenorganisierte
Jugend auch der hiesigen Mentalität, der jüdischen Passivität in Bezug auf die Zukunft,
POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUNDLAGEN 261

anpasst». 94 Im Klartext meinte dies, wie Schwalb kritisierte, dass zwar die jüdischen
Flüchtlinge unter der zionistischen Jugend auszuwandern bereit waren, nicht aber die
jugendlichen Schweizer Zionisten selbst, die es gerne beim sommerlichen Lagerleben
in den Alpen bewenden Iiessen. Erst in den fünfziger und sechziger Jahren sind dann
Schweizer Jugendliche in israelische Kibbuzim «auf Alija gegangen».

Die Bundisten: Jüdische Sozialisten in der Schweiz

Der «Allgemeine Jüdische Arbeiter Bund», kurz der Bund genannt, wurde im damals
zaristischen Wilna im gleichen Jahr gegründet, als in Basel der Zionistische Kongress
abgehalten wurde. Seit 1884 aus jüdischen Sozialistengruppen in zahlreichen russi-
schen Städten und den zaristischen Judenrayons entstanden, formierte der Bund sich
dann als übergreifende Organisation in Russland und Polen. Als Agitationsfeld im
zaristischen Russland boten sich die von Armut, Entrechtung und Pogromen
drangsalierten jüdischen Massen an. Der Bund war massgeblich an der Gründung der
russischen Sozialdemokratie beteiligt, nahm 1896 in London und 1900 in Paris an den
Kongressen der Sozialistischen Internationale teil und beteiligte sich 1905 und 1917
an den russischen Revolutionen. 95 Obwohl keine ausformulierte Theorie vorliegt, kann
man annehmen, dass die Bundisten 1905, auf ihrem Höhepunkt in Russland, zwischen
Bolschewiki und Menschewiki standen, bis sich dann 1919 das dekretierte Ende einer
gesonderten jüdischen Organisation in der Sowjetunion abzeichnete. Im Ersten Welt-
krieg wurde der Bund in Polen und in Galizien von der russischen Organisation
getrennt und entwickelte sich nach dem Krieg zu einer selbständigen jüdischen Arbeiter-
partei, die nach anfänglichen Abspaltungen eine Zentristische Position zwischen Kom-
munisten und Sozialdemokraten einnahm, zu denen man allerdings noch auf Distanz
ging. 96 Als sich ab 1934 die antisemitische Hetze verstärkte und das polnische Regime
die jüdische Massenemigration vorschlug, stellte der Bund diesem «Vorschlag» den
gemeinsamen Kampf von Juden und Polen gegenüber, was ihm bei den jüdischen
Gemeindewahlen 1936 und 1938 die Mehrheit einbrachte. Während des Zweiten
Weltkriegs wurde der Bund eine wichtige Kraft im antifaschistischen Kampf und war
führendambewaffneten Aufstand im Warschauer Getto beteiligt.
Wesentliches Element der bundistischen Bewegung war die Forderung nach einer
national-kulturellen Autonomie, die besonders im Jiddischen als der verbreiteten
Sprache der jüdischen Volksmassen in Russland und Osteuropa gesehen wurde. Nach
intensiven Debatten formulierte der Bund 1905 auf seinem sechsten Kongress in
Zürich die «Loslösung aller Funktionen, die mit Kulturfragen zusammenhängen (wie
zum Beispiel Volksbildung und ähnliches) von der Machtbefugnis des Staates», um
die eigene jüdische Identität institutionell abzusichern. 97 Nicht nur das Fehlen der
bürgerlichen Gleichberechtigung, sondern die Ablehnung assimilatorischer und natio-
262 4. KAPITEL

nalistischer Konzepte liessen die Bundisten besondere, nach nationalen Kulturen


getrennte Institutionen fordern. Gegenüber nichtjüdischen Sozialisten und marxistischen
Theoretikern einerseits und konkurrierenden Vorstellungen innerhalb der jüdischen
Arbeiterbewegung andererseits bedeutete dies eine erhebliche Abgrenzung, zumal die
politische und soziale Situation der Juden katastrophal war. 98
Mit den zionistischen Sozialisten, vorwiegend der sozialdemokratischen Poale
Zion, mit dem die Bundisten die klassenkämpferische Tönung teilten, stritt sich der
Bund um die Frage eines «Territoriums», was man zuvor noch als «kleinbürgerliche
Lösung» hatte abtun können. Im Gegensatz zur Poale wollte der Bund für die Juden,
als einem Volk ohne Territoriumpar excellence, keine territoriale Lösung der «Juden-
frage» suchen, sondern die betont autonome Existenz im Rahmen einer sozialistischen
Gesellschaft anstreben. 99 Ebenso erfolgte innerhalb der jüdischen Arbeiterbewegung
die wechselseitige Kritik zwischen Bundisten und anderen, nichtzionistischen
Territorialisten, die auf der national-politischen Autonomie in einem festen und geeig-
neten Territorium in Russland insistierten. Ausserdem wurde der jüdische
Autonomismus im Sinne einer geistig-historischen Nation auch von Sirnon Dubnow
vertreten, wobei der Historiker nicht das Jiddische allein bevorzugte und auch ent-
schieden antisozialistisch und antizionistisch dachte. 100
Wenn sich der sozialistische Zionismus aus ideologischen Gründen nur langsam
entwickeln konnte, weil aufgrund des Prinzips des Internationalismus teilweise im
Zionismus eine abzulehnende nationalistische Erscheinung gesehen wurde, so standen
die Bundisten oft dem Unverständnis für ihre betont <~üdische Kultur» seitens nicht-
jüdischer Sozialisten und Kommunisten gegenüber. Das Verhältnis der Sozialisten
nach Marx zur <~üdischen Frage» reichte von antisemitischer Anfechtung bis zu
deutlichem Verständnis für die Betonung der jüdischen Herkunft und Situation. 101 Von
Interesse ist aber hier, dass sich die Ideologien der jüdischen Sozialisten und Anarchisten,
besonders aber der Bundisten, überall dort manifestierten, wohin die jüdischen
Migrationen von Ost nach West die Juden verschlagen hatte, das heisst in Westeuropa
und Amerika. 102 Damit blieb überall in diesen neuen Zielländern die nunmehr noch
problematischer gewordene Auseinandersetzung mit den Zionisten, der nichtjüdischen
Linken und der assimilatorischen Kultur der Umgebung von Belang. Auch in der
Schweiz finden wir in zwei Perioden bundistische Aktivitäten: einmal um die
Jahrhundertwende in Bern, Genf und Zürich, das namhaften Bundisten bis 1918 als
freier Hort für ihre revolutionäre Kultur diente; danach wieder nach 1933 und während
des Zweiten Weltkriegs, der mehrere Bundisten in die Schweiz trieb.
Nach der Verhaftung von Aktivisten der Linksparteien in Russland, darunter dem
Zentralkomitee des Bundes, sammelten sich die Bundisten 1898 in Genf, wo das
«Auslandkomite» der jüdischen Arbeiterbewegung eingerichtet wurde. Hier wurde
das reichhaltige Archiv des Bundes begründet, wo es bis 1918, als man es aus Gründen
der politischen Agitation nach Berlin verlegte, zwanzig Jahre lang sehr systematisch
POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUNDLAGEN 263

aufgebaut wurde. Ebenfalls in der Schweiz wurde derJiddische Arbeter als Organ des
Komitees herausgegeben, wo der Aufruf für ein Archiv zu finden ist: «Das Ausland-
Komite des Bundes wünscht ein Archiv einzurichten, das heisst, es wünscht Materiali-
en über die jüdische Arbeiterbewegung in Russland und Polen. Jeder Genosse wird
verstehen, wie wichtig der Besitz solcher Materialien ist.» 103 In der Schweiz sammel-
ten sich bundistische Intellektuelle, Studenten und Studentinnen. Vladimir Medern,
eine führende Gestalt des Bundes, schildert die jiddisch-bundistische «Kolonie» in
Genf und besonders in Bern, nicht zuletzt auch mit einem ironischen Blick auf das
Bürgertum der Bundeshauptstadt: An den schweizerischen Universitäten, deren offe-
ner Zugang geschätzt wurde, hätten die anreisenden Studenten und Studentinnen
jeweils gleich ihr russisches oder polnisches Bahnbillet zur Immatrikulation vorge-
legt.104 Der Erste Weltkrieg, die Revolution von 1917 und die illiberale Fremdenpolitik
der Schweiz verschmälerten den Zustrom bundistischer Immigranten auf wenige
Personen.
Die Kontinuität der bundistischen Präsenz blieb aber in der Person von Liebman
Hersch (1882-1955) in Genf gewahrt. Hersch, aus einem litauischen Dorf gebürtig,
hatte in Warschau Mathematik und in Genf Sozialwissenschaften studiert und war dort
1915 Professor für Statistik und Demographie geworden. Seine Bedeutung für die
Bundisten, für die jiddische Kultur und für das 1925 in Wilna begründete YIVO
(Jiddisches Wissenschaftliches Institut) ist erheblich. 105 Zu einem seiner meist zitierten
Werke in jiddischer Sprache gehörte eine Studie über die Kriminalität von Juden und
Nichtjuden, die auf dem Hintergrund des antisemitischen Klimas als soziologisch
begründete Erklärung der Ursachen gelesen wurde. 106 Hersch galt der jiddischen Welt
vor allem als Mitbegründer der Soziologie, während er in der Schweiz den jungen
Westjuden, die in weitgehender Unkenntnis ihrer eigenen Geschichte und Kultur
standen, ein «positivistisches Bewusstsein» für die eigene jüdische Identität zu vermit-
teln hoffte. Politisch plädierte er in der Zwischenkriegszeit für das Ausfüllen demokra-
tischer Formeln mit sozialpolitischen Inhalten und für den institutionalisierten Schutz
der Kulturen von Minderheiten in der Schweiz. 107 Während des Zweiten Weltkriegs
war er Anlaufstelle für viele Flüchtlinge, unter denen er vierzig bundistische Aktivisten
und Aktivistinnen auflistete. Er suchte über den Zürcher Sm:ialdemokraten Hans
Oprecht und den gewerkschaftlichen VPOD zugunsten der Flüchtlinge zu intervenie-
ren. Auf dem gleichen Weg veranlasste er auch den Protest gegen die Verurteilung der
Bundisten HenrykErlich und Victor Alter, die 1942 in Moskau als prominente Opfer
Stalins hingerichtet wurden. 108
Für die offizielle Schweiz und den von Westjuden dominierten SIG haben die
Bundisten nur am Rand, wenn überhaupt eine Rolle spielen können. Gemessen am
zionistischen Erfolg sind die Bundisten auch nicht weiter geschichtswirksam gewor-
den. Durch die mörderischen Folgen von Nazismus und Stalinismus abrupt geschwächt,
hat der Bundismus sich in Westeuropa, in Amerika und in Israel nach 1945 nur noch in
264 4. KAPITEL

kleinem Massstab halten können. 109 Für die Zeit von 1933 bis 1945 wird man die
enorme Stärke der Bundisten in Europa nicht vergessen und auch ihre Präsenz in der
Schweiz nicht unterschätzen dürfen. Bundistische Ideen und auch Aktivisten finden
wir in den Hilfswerken ORT und OSE, die nach 1942 auch bei organisierten illegalen
Einreisen an der französisch-schweizerischen Grenze lange eingespielte Verbindun-
gen zum Zuge kommen liessen. Von diesen hilfreichen Aktivitäten, die auch im
Nachlass von Hersch belegt sind, wird noch eingehend die Rede sein. Auch kulturelle
Initiativen, die vom VSJF nur zögerlich gefördert wurden, sind unter den Flüchtlingen
von Bundisten ausgegangen. Die jiddische FlüchtlingszeitschriftDer Beginen («Neu-
beginn», auch «Morgenröte») wurde von einem Bundisten, Mendel Gliksman,
redigiert. 110 Das jiddische Flüchtlingstheater Navenad, das zwei Jahre lang die schwei-
zerischen Flüchtlingslager bereiste, wurde administrativ und organisatorisch von Da-
vid Gurfinkel geleitet. 111 Dies alles zeigt, dass die jiddische Welt in der Schweiz auch
politisch ihre sozialistischen Ideen zu verwirklichen hoffte.

Die Agudisten: Nichtzionistische Orthodoxie

Die Agudat Israel, in aschkenasischer Aussprache Agudos Jisroel («Vereinigung»


oder «Bund Israels»), kann als eine Gegenbewegung zu den weltlichen und nicht-
orthodoxen Konzepten innerhalb des Judentums verstanden werden. Die Agudisten
lehnten, wie der zionistische Misrachi und Hapoel Misrachi der Arbeiter, die thorafremde
Kultur des Westens ab. Sie erblickten in der jüdischen Aufklärung, der Haskala des
späten 18. und des 19. Jahrhunderts, den Anfang einer abzulehnenden assimilatorischen
Tendenz, die sich nunmehr in Zionismus, Sozialismus und Säkularismus fortsetzte.
Die engere Genese der Agudat entwickelte sich aber innerhalb der Orthodoxie erst in
Absetzung zum Misrachi. Nach dem zehnten ZO-Kongress von 1911 spaltete sich ein
Teil des Misrachi und ging mit den noch nicht organisierten orthodoxen Juden ausserhalb
der ZO ein neues Bündnis ein. Unter Führung des Basler Rabbiners Artbur Cohn und
des Zürcher Rabbiners Chaim Israel Eis formierte sich ein Komitee, das den Anstoss
für die agudistische Bewegung lieferte. An der Konferenz von Kattowitz (1912) und
durch die Gründung einer Aguda in Polen formierten die orthodoxen Rabbiner die
agudistische Weltunion. Nach dem Weltkrieg durch eine Exekutive in Zürich vorbe-
reitet, hielten die Agudisten in Wien 1923 ihre erste Knessia Gedola («Grosse Ver-
sammlung») ab. Böse Zungen unter den Juden verspotteten diese erste Konferenz
gerne als «Streimelkongress» .112
Nicht nur die Entstehung der Agudat Weltunion war mit zwei Schweizer Rabbinern
verbunden, wobei Cohn auch Präsident des 1907 gegründeten Zentralvereins zur
Förderung des gesetzestreuen Judentums in der Schweiz war. 113 Der erste Sitz der
Agudat befand sich in Zürich, von wo aus die agudistische Idee propagiert und
POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUNDLAGEN 265

organisiert wurde. Später zog man nach Luzem um, wo ein Hauptsitz neben Laudon
und New York während des Zweiten Weltkrieges bestehen blieb. Bis 1939 befand sich
das aktivste Feld jedoch in Polen und den baltischen Staaten, wo eine Reihe von
Publikationen in Jiddisch zu belegen ist. Die Agudisten bauten in Europa, den Verei-
nigten Staaten und in Palästina wirksame Instrumente auf, so die Beth-Jacob-Schulen
für Mädchen, die Frauenorganisation N'shei Agudat Israel, eine Poalei Aguda als
religiös-orthodoxe Arbeiterbewegung und mehrere alters- und geschlechtsspezifische
Jugendorganisationen. Gründenn und langjährige Vorsitzende der N'shei Frauen-
organisation war die in Montreux lebende Frausie Goldschrnidt, Tochter des Zürcher
Rabbiners Tuvia Lewenstein und bald bekannt als «orthodoxe Flüchtlingsmutter». 114
Die in den dreissiger Jahren etablierten Gruppen entsprachen dem Bedürfnis, in einer
säkularen Umwelt der assimilatorischen Versuchung einen orthodoxen Riegel zu
schieben. Dazu aktivierte man auch in der Schweiz das <<jüdische Lernen» mit der
Gründung einer Jeschivah (Talmud-Hochschule), um eine orthodoxe Elite heranzu-
bilden. Sie öffnete 1927 in Montreux unter der Leitung von Rabbiner Botschko die
Tore und war unter dem Namen Jeschiva Etz Chaim («Lebensbaum») in den Jahren
1943-1945 die einzige in Europa noch bestehende Jeschivah.U 5 Bis zu ihrem Umzug
nach Jerusalem hat sie in Montreux noch bis in die achtziger Jahre bestanden, während
die Misrachisten in Lugano zeitweise eine eigene Lernstätte führten.
In der Auseinandersetzung mit dem Zionismus hielten die Agudisten an der
unbedingten Verpflichtung zur Thora fest und lehnten einen weltlichen jüdischen Staat
ab. Aber wenn ihre Interpretation des Glaubens auch verbot, den jüdischen Staat ohne
die vorangehende messianische Erfüllung institutionell anzustreben, so blieb doch
immerhin das talmudische Gebot, in Palästina zu leben. Die Agudat war zwar bis zur
Staatsgründung Israels antizionistisch und antinational eingestellt, hat aber eine jüdi-
sche Besiedlung Palästinas immer befürwortet. «Die Agudah sah und sieht in der
Balfour-Deklaration eine Möglichkeit, losgelöst von politischen Aspirationen, auf
heiligem Boden ein heiliges Leben zu führen», erklärte der Leiter der politischen
Exekutive der Agudisten 1930 in Zürich.U 6 Mit den Misrachisten wollten die Schwei-
zer Agudisten möglichst keine organisatorischen Kontakte unterhalten, selbst als ein
Zusammengehen während der Kriegsjahre dies aus Not nahegelegt hätte. Diese Hal-
tung wurde nach der Gründung des Staates Israel insofern modifiziert, als die Agudat
Israel auf dem Primat der orthodoxen Religionsauslegung beharrte, sich aber nun dem
religiösen Block anschloss und so zeitweise direkt oder indirekt an der Regierung
partizipierte, um sich finanziellen und institutionellen Einfluss zu sichem. 117
Die Bedeutung der Agudat Weltunion und der schweizerischen Aguda liegt für die
Zeit von 1933 bis 1945 in der praktischen Flüchtlings- und unbedingten Rettungs-
politik. Zu den verschiedenen nach aussen dringenden Berichten über die «Sonder-
behandlung» der Juden durch die Deutschen merkt Nathan Eck an, dass in der Folge
gerade die Agudisten sich von Notmassnahmen nicht durch Bedenken wegen «illega-
266 4. KAPITEL

len» Verhaltens hätten ablenken lassen. «Diese Berichte hatten sehr wichtige Folgen,
besonders in Kreisen der Agudat Israel in der Schweiz. Diese Kreise unternahmen als
erste die sofortige Vermittlung von ausländischen Pässen nach den von den Deutschen
besetzten Ländern [ ... ].»118 Auch hier wurde der «link» zwischen den Juden in der
Schweiz und den Vereinigten Staaten besonders wichtig. In Amerika spielten die
agudistischen Rabbiner eine wichtige Rolle bei der Bildung eines Vaad Hatzala
(«Rettungskomitee»), das die amerikanischeund kanadische Rabbiner-Union als Not-
komitee gebildet hatte. 1943 war gleichzeitig eine Hatzala-Kommission in der Schweiz
entstanden, die auch die von Israel Chaim Eis schon früher initiierte Beschaffung und
Vermittlung von Dokumenten südamerikanischer Staaten fortsetzte.
Unabhängig von dieser Hatzala-Kommission, die als Ausschuss der schweizeri-
schen Aguda-Leitung bestand, bildete sich seit 1938 eine von Recha Sternbuchinitiierte
Organisation. Dieser Hilfsverein für jüdische Flüchtlinge in Schangai, später im Aus-
land, (HIJEFS) trat nach 1943 als Vertretung der amerikanisch-kanadischen Rabbiner-
Union auf. Darauf wird später, im Zusammenhang mit den jüdischen Rettungs-
versuchen von der Schweiz aus, noch eingehend zu handeln sein. Zwischen dem
HIJEFS und der schweizerischen Aguda sind aber nicht wenig Spannungen festzustel-
len, die sich an taktischen Fragen entzündeten, aber den politischen Stil und grundsätz-
liche Interessen als Ursache hatten. Während die Schweizer Landesorganisation der
Agudat ein vorsichtiges Vorgehen in Flüchtlings- und Rettungsfragen wählte und
damit eher die allgemeine Linie der Schweizer Juden einhielt, kümmerte sich der
HIJEFS kaum um solche Bedenken. Er schlug eine forsche «Sturm- und Drang»-
Politik ein, die angesichts der Not keine diplomatischen Rücksichten nehmen wollte. 119
Doch ist, wenn man insgesamt vergleicht, die Politik der Agudat weltweit viel weniger
von politischen Rücksichtnahmen eingeschränkt gewesen als bei anderen jüdischen
Organisationen. Die orthodoxen Juden betrieben schon von ihrer Ideologie und Lebens-
welt her eine unorthodoxe Taktik, bei der die Rettung jeder einzelnen Seele einem
unbedingten Gebot der Religion entsprach. David Kranzier bezeichnet die orthodoxe
Haltung, in Abhebung zu den «patriotischen», «assimilationistischen» oder
«zionistischen» Filtern bei den nichtorthodoxen Juden, als «pragmatisch» .120 Wie auch
immer man solche Erklärungen beurteilen will, so steht doch fest, dass die Repräsen-
tanten der agudistischen Orthodoxie, die ihre Politik und Diplomatie mit erheblichen
Resultaten und ebenso erheblichen Risiken betrieben, indes nicht die einzigen Aktivisten
waren.
POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUNDLAGEN 267

WorldJewish Congress (WJC)


Jüdischer Weltkongress, Congres Juif Mondial

Der WJC stellte den Versuch dar, eine internationale Organisation für sämtliche Juden
zu schaffen, die über allen ideologischen, religiösen und. wirtschaftlichen Interessen
einzelner Teile stehen würde. Kein Jude sollte sich ausgeschlossen fühlen, kein be-
stimmtes Konzept von Judentum bevorzugt sein, sondern ein freier Zusammenschluss
aller jüdischen Repräsentanten in den einzelnen Ländern erreicht werden. Vor allem
wollte der WJC eine Antwort auf die europäische «Judenfrage» in politischer Perspek-
tive formulieren und sie nicht nur mit philanthropischen Mitteln lösen. Der Kongress
sollte die Juden weltweit auf neuer politischer Grundlage zusammenbringen, «On a
new plane», wie es Stephen S. Wise in Worte fasste, die an Roosevelts New Deal
erinnern. Nicht auf ein einseitiges Geben und Nehmen im Stil des 19. Jahrhunderts
sollte zurückgegriffen werden, sondern durch demokratische Strukturen und Regeln
eine legitimierte internationale Organisation geschaffen werden, die der jüdischen
Lage in der Welt Rechnung tragen würde. Der langjährige Rechtsberater des WJC,
Paul Guggenheim, den wir schon eingehend kennengelernt haben, formulierte Not-
wendigkeit und Ziel des WJC in professoraler Diktion: «Mit Recht hat sich der
Weltkongress in Übereinstimmung mit den ihm angegliederten nationalen Organisa-
tionen darauf beschränkt, nur Fragen zur Diskussion zu stellen, deren Behandlung für
die gesamte jüdische Gemeinschaft von Bedeutung ist, wo ein Kollektivinteresse des
Weltjudentums besteht, wie dies zum Beispiel bei staatsbürgerlichen Diskriminierungs-
massnahmen ohne jeden Zweifel der Fall ist.» 121
Retrospektiv suchte der WJC als Nachfolger des von Louis Marshall geleiteten
Komitees der jüdischen Delegationen an der Pariser Friedenskonferenz von 1919
anzuknüpfen. So hatten 1927 an einer Konferenz in Zürich mehrere jüdische Organisa-
tionen, darunter das American Jewish Committee, das Joint Foreign Committee of
England, die Alliance Israelite Universelle und der HUfsverein der Deutschen Juden,
einen Ausschuss gebildet, der als ständiges Organ über die Durchsetzung der
Minoritätenrechte zu wachen hatte. Doch erst die erneute Zunahme antiliberaler
Reaktionen und antisemitischer Propaganda rückten die ursprünglich vom American
Jewish Congress geforderte Idee eines Zusammenschlusses ein Stück vorwärts. Ange-
sichts des kalten Klimas empfand man nun, wie es Nachum Goldmann 1932 in Genf
an der ersten WorldJewish Conference formulierte, die «Atomisierung des jüdischen
Lebens und der jüdischen Gemeinschaft» und das «Fehlen einer ständigen Adresse für
dasjüdische Volk». 122
Nach zwei weiteren vorbereitenden Konferenzen in Genf kam es dort 1936 nach
einem harzigen und langen Anlauf endlich zur Konstituierung des WJ C. 208 Delegierte
aus 32 Ländern suchten in Hebräisch, Jiddisch, Englisch, Französisch, Polnisch und
Deutsch nach einem gemeinsamen Nenner. Sie schufen sich institutionelle Strukturen
268 4. KAPITEL

und bekundeten vor allem ihre internationale Solidarität, was angesichts der Vorgänge
im «Dritten Reich» auch dringlich geboten war. Nicht teilnehmen konnten die sowjeti-
schen Juden, was den WJC veranlasste, in einer Resolution deren Behinderung durch
Moskau zu bedauern und ihr Recht auf freie Auswanderung zu fordern. Der Kongress
verabschiedete eine Reihe von Proklamationen und Resolutionen, die seinen politi-
schen Anspruch unterstrichen, indem sie an die Adresse des Völkerbunds gerichtet
waren. Sie betrafen den rechtlichen Minderheitenschutz, die Lage der Juden in der
Sowjetunion, die Situation der Emigranten und das Flüchtlingsproblem, den Kampf
gegen den Antisemitismus. Zur jüdischen Sozial- und Migrationspolitik wurden meh-
rere Erklärungen verabschiedet, die auf eine soziale Umschichtung und Wanderungs-
vorbereitung der Juden in Buropa hinausliefen. Der WJC stellte sich gegen den
arabischen Terror in Palästina und besonders gegen die britische Torpedierung der
freien Immigration. Besonders äusserte er sich zur deutsch-jüdischen Frage und rief im
Kampf gegen den Antisemitismus zu einen Boykott deutscher Waren auf. Schliesslich
wurde eine organisatorische Struktur geschaffen, die aus einer siebenköpfigen Exekutive,
einem Administrativkomitee und einem Zentralrat bestand. Praktisch gesehen liefen
die Fäden bei Stephen S. Wise als Präsident der Exekutive und Nahum Goldmann als
Vorsitzender der Administration zusammen, wobei später ein ständiges Sekretariat in
Genf hinzukam, das von Gerhart M. Riegner geleitet wurde. Bis zum Juni 1940 befand
sich der Hauptsitz in Paris. Schliesslich wollte der WJC auch die Kongressidee
propagandistisch verbreiten, besonders unter der jüdischen Orthodoxie, der Arbeiter-
schaft und den Frauen. 123
Der SIG delegierte zwei Vertreter nach Genf und mit Armand Brunschvig einen
dritten, der die SIG-Mitgliedgemeinde Genf als Sitzgemeinde des Kongresses reprä-
sentierte. Im Central-Comite des SIG waren gegenüber einem Weltkongress, was den
politischen Anspruch des internationalen WJC anbelangte, mehr Vorbehalte als Zu-
stimmung laut geworden. Wenn die Bundesbehörden in Bern sich gegen eine Teilnah-
me der Schweizer Juden am Kongress aussprächen, müsse man darauf verzichten. Es
sei daran festzuhalten, dass «die Diaspora ein unurnstösslicher Bestandteil des Judentums
ist» und es gefährlich sei, «das jüdische Volk aus den Wirtsvölkern herauszuschälen
und interterritorial zu verbinden». Deutlich ist dem SIG-Protokoll die Verunsicherung
im enger werdenden Klima der Schweiz und auch der Rückzug Berns vom Völker-
bund in Genf anzumerken. Entsprechend diesen Vorbehalten signalisierte der SIG-
Präsident an der Eröffnung des WJC freundliche, aber bestimmte Distanz, als ihm
nach dem Genfer Regierungsrat Ehrler und vor William Rappard, Vaad-Leumi-Präsi-
dent Benzion Mossinson und dem Dichter Schalom Asch das Wort erteilt wurde. «Der
Kongress soll in keinem Lande etwas unternehmen ohne Fühlungnahme mit den dort
vorhandenen jüdischen Organisationen und darf sich nicht vordrängen in den Ländern,
in welchen es den Juden möglich ist, ihre Interessen als Staatsbürger selbst zu vertre-
ten. Ziel des Kongresses kann unseres Erachtens nur sein, den für die Juden in einer
POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUNDLAGEN 269

Reihe von Ländern bestehenden Status zu erhalten oder zu verbessern [... ]. Es kann
auch nicht Aufgabe des Kongresses sein, in die Assimilation einzugreifen oder in der
Diasporah nur einen vorübergehenden Zustand zu erblicken.» Zu dieser vorsichtigen
Haltung passt, dass im WJC-Protokoll der Einsitz des SIG im Exekutiv- wie im
Administrativkomitee zwar vorgesehen erscheint, aber für die schweizerische wie für
die italienische Vertretung keine Nominationen durch die Landesorganisationen er-
folgten.124
Die lang distanzierte Haltung des SIG zum WJC, verbunden auch mit einer
harzigen Zahlungsbereitschaft, ist später, wie wir sehen werden, Gegenstand der Kritik
am Gemeindebund geworden. Sie spiegelt das Bemühen der Schweizer Juden, die
Politik der neutralen Schweiz, welche das benachbarte «Dritte Reich» in Sachen
Völkerbund nicht reizen wollte, möglichst nicht zu stören. Schon über die vorbereiten-
de Konferenz des WJC von 1934 war denn auch vom deutschen Konsulat in Genf
jeweils eingehend nach Berlin berichtet worden, und auch in Bern nahm man das
WJC-Geschehen zur Kenntnis. 125 Nach 1943 erst sind dann für die Schweizer Juden
solche kleinmütige Bedenken weggefallen. Der SIG nahm im Mai 1945 an der
Konferenz im amerikanischen Atlantic City nicht teil, entsandte aber im September
mit Georg Guggenheim, der mit seinem Bruder die Kongressidee am stärksten
propagierte, einen Vertreter an die Londoner Konferenz, die sich vorwiegend mit den
europäischen Nachkriegsproblemen beschäftigte. In diesen Jahren erhielt der WJC
auch in der Schweizer Presse kurzfristig ein starkes Echo. 126
Der WJC hatte indessen selbst Mühe, einzelne Teile der Juden anzuziehen, beson-
ders die ideologisch gebundene Orthodoxie und einen Teil der Sozialisten. Kritisiert
wurde der aristokratische «Notabeln»-Stil, der den WJC als ein Podium für Wise und
Goldmann erscheinen liess, und das Ausbleiben einer echten «Demokratie von unten»,
die endlich zu handfesten Aktionen verpflichten, statt nur zu Resolutionen und Debat-
ten führen würde. 127 Hinzu kam das uneinheitliche Auftreten, das die unterschiedlich-
sten jüdischen Organisationen 1938 an der Konferenz von Evian boten und das gerade
durch den WJC hätte vermieden werden sollen. Am ehesten haben Zionisten und
Nichtzionisten eine Möglichkeit im WJC gesehen, um dem Jischuw, der jüdischen
Gemeinschaft in Palästina, internationalen Einfluss zu sichern. Trotz aller anfängli-
chen Schwierigkeiten ist es dem WJC aber gelungen, sich in der Vorkriegs- und
Kriegszeit wachsende internationale Beachtung zu verschaffen. Er passte seine Struk-
tur den Bedürfnissen in der Notzeit an, schuf mit dem Londoner Institut of Jewish
Affairs ein Instrument der Aufklärung und Information, verlegte seinen Hauptsitz von
Paris nach New York, durchbrach mit anderenjüdischen Organisationen den Wall des
Schweigens und mobilisierte die Juden in Nord- und Südamerika. Sein Kampf gegen
die rechtliche und wirtschaftliche Diskriminierung der Juden und dann die Aufrüttelung
der Welt angesichts der Verfolgung und Vernichtung in Deutschland und anderen
europäischen Ländern haben dem WJC eine historische Rolle zugewiesen. In der
270 4. KAPITEL

Schweiz erhielt der WJC eine entscheidende Funktion bekanntlich mit der erstmaligen
Übermittlung von authentischen Nachrichten über den Holocaust. Der Genfer
«Aussenposten» umfasste auch das selbständig agierende Hilfswerk RELICO, das von
Alfred Silberschein geleitet wurde. Besonders das Genfer Sekretariat mit Riegner und
Guggenheim übte massiven Druck auf das IKRK aus. 128
Der WJC in Genf, London und New York zielte bei seinen vielfältigen Anstren-
gungen insgesamt auf ein weitgehendes Konzept, das universalen Charakter haben,
soziale und politische Rahmenbedingungen für die Flüchtlinge schaffen und in der
Zukunft die Minderheiten grundrechtlich als autonome kulturelle Gruppierungen schüt-
zen sollte. 129 Die internationale Bedeutung des WJC ist nach der Staatsgründung
Israels aber mehr und mehr verblasst. Die israelische Historiographie würdigt ihn
heute als Nebenerscheinung der zionistischen Geschichte oder als Kampfmittel gegen
den Nazismus, so in der Darstellung von Shmuel Ettinger in der von Ben-Sasson
herausgegebenen dreibändigen Jerusalemer Geschichte. 130 Von seinem Anspruch her,
und auch besonders in den Augen von vielen Liberalen, beabsichtigte der WJC jedoch
mehr zu sein, nämlich eine internationale Organisation des jüdischen Volkes, welches
weltweit zerstreut in einzelnen Staaten lebte. Die Vereinten Nationen folgten aber nach
Kriegsende einer Auffassung der Menschenrechte, die individuelle Grundrechte und
nicht, wie dies der WJC lange gefordert hatte, auch minderheitenmässige Gruppen-
rechte umfasste. Im weiteren hat der Weltkongress als eine Art symbolische und
kulturelle Manifestation ebenfalls nur eine bescheidene Stellung halten können. In
diesem Sinne hatte ihn einst der Genfer Philosoph Josue Jehouda gefeiert, wenn er, in
seiner Zeitschrift Revue Juive, den Kongress gar als neues geistiges Zentrum des
Judentums verstanden wissen wollte. 131

PHILANTHROPISCHE ORGANISATIONEN:
«RUSSEN>> UND «AMERIKANER» IN DER SCHWEIZ

Die grossenjüdischen Philanthropiewerke des 19. Jahrhunderts, wie sie in Frankreich,


Grossbritannien, Deutschland und der Donaumonarchie existiert hatten, spielten in der
Schweiz keine grosse Rolle. Zur Unterstützung der oben bereits genannten vier Orga-
nisationen gab es in der Schweiz nach der Jahrhundertwende vereinzelte Vereine, die
sich aber nie auf nationaler Ebene zusammenschlossen. So gab es in einigen west- und
deutschschweizerischen Städten lokale Unterstützungskomitees für die Alliance Jsraelite
Universelle, und in Zürich existierte von 1901 bis 1914 ein Komitee für den Hilfs-
verein der Deutschen Juden, der 1934 wieder reaktiviert wurde. 132 Mit der russischen
Revolution von 1917 und der Bedrohung und dem Untergang des europäischen
POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUNDLAGEN 271

Judentums nach 1933 wechselten die Rollen. Die einstmals in Russland gegründeten
jüdischen Selbsthilfen zogen nach Westen, zunächst nach Berlin und Paris, dann in die
Schweiz, wo sie ihre Ideen und Praktiken entfalteten (ORT, OSE). Die amerikanischen
Hilfswerke, in New York von den deutschen und den russisch-osteuropäischen
Immigranten gegründet, begannen nun von Paris und Lissabon, von Genf und St.
Gallen aus zu wirken (JDC, Hias). Nachdem die jüdische Philanthropie in Buropa den
verarmten Massen in Russland lange mit Geld und Auswanderungsprojekten in Ame-
rika unter die Arme gegriffen hatte, wurde nun Buropa selbst zum Schauplatz der
bittersten jüdischen Not. Es gehört zur Logik dieser Hilfswerke, dass sie möglichst
nahe am Geschehen operieren mussten. Im mehr und mehr deutsch besetzten Buropa
hiess dies, dass letztlich fast alle Wege der «Amerikaner» und «Russen» in die
Schweiz führten.

American J ewish Joint Distribution Committee anc)


UnitedJewishAppeal (UJA); AmericanJewish Committee (AJC)

Das JDC oder der «Joint», 133 als apolitische und strikt nach US-amerikanischen Geset-
zen handelnde Organisation, entstand im November 1914 aus dem Zusammenschluss
dreier Hilfswerke, die den gleichen Zweck verfolgten, nämlich die Hilfe an jüdische
Kriegsopfer. Das American Jewish Relief Committee repräsentierte darin mit Namen
wie Felix M. Warburg, Louis Marshall, Jacob H. Schiff und später Paul Baerwald jene
wohlhabende Schicht deutscher Juden, die einem liberalen, aber elitären Lebensstil
verpflichtet waren. Das Central Relief Committee brachte die orthodoxe Führung in das
JDC, und mit dem People 's ReliefCommittee trat das Hilfswerk der jüdischen Arbeiter-
schaft ein. Der populäre Name «Joint» resultierte damit aus dem Willen, drei verschie-
dene Sozialschichten des amerikanischen Judentums auf dem Weg gemeinsamer
karitativer Hilfe zu integrieren. Diese Zusammensetzung aus drei auch geistig und
herkunftsmässig so verschiedenen Milieus erforderte eine genaue Ausbalancierung des
JDC-Vorstandes, der leicht unter Kritik der russisch-osteuropäischen Juden in Amerika
kommen konnte. Die deutsch-jüdische Elite blieb aber weiterhin massgebend im JDC.
In der Periode von 1933 bis 1945 wurde kurz nach Kriegsausbruch an der Spitze ein
Wechsel vollzogen, wobei mit Edward M. Warburg weiterhin ein Spross der deutsch-
jüdischen «Aristokratie» Vorsitzender des «pluralistisch» zusammengesetzten
· Comrnittee blieb. Doch gleichzeitig ging nun die praktische JDC-Arbeit in die bestim-
menden Hände eines professionellen Managements über.
Anfänglich beschränkte sich das JDC auf die Finanzierung und Kontrolle von
subventionierten Partnerorganisationen, zum andem wurden aber auch Projekt-
gesellschaften in eigener Regie geschaffen. In den zwanziger Jahren konzentrierte das
JDC seine Anstrengungen auf die geflohenen Opfer polnischer und ukrainischer
272 4. KAPITEL

Pogrome, finanzierte 1923 mit dem «Agro-Joinb> ein historisch einmaliges amerika-
nisch-sowjetisches Ansiedlungsprojekt für 14'000 jüdische Familien auf der Krim,
unterstützte die Bemühungen der Jewish Colonisation Association zur Ansiedlung von
osteuropäischen Juden in Übersee, richtete in polnischen Städten gewerbliche Leih-
kassen und Gesundheitszentren ein, subventionierte die jüdischen Selbsthilfe-
organisationen ORT und OSE und half vereinzelt Bildungs- und Entwicklungs-
institutionen im jüdischen Palästina. Jährlich wurden zwischen vier und zehn Millio-
nen Dollar verausgabt. Während den Depressionsjahren sanken die Einkünfte des JDC
1932 auf 380'000 Dollar, doch die Not der deutschen und osteuropäischen Juden liess
die Spendenbeträge wieder ansteigen. In Paris residierte nun das JDC an der Rue
Teheran, von wo aus besonders die HICEM als Organisation der Übersee-Emigration
aus Deutschland, aber auch Hilfe für die jüdischen Massen in Polen subventioniert
wurden.
In den Kriegsjahren 1939-1945 wurden mehr als 78 Millionen Dollar aufgewendet
und an jüdische und nichtjüdische Organisationen in Europa verteilt. Hinzu kamen
Not- und Kolonisationsprojekte für emigrierende Juden aus europäischen Ländern, so
1940 in San Domingo. Das JDC nutzte ab 1941 auch die Methode, vor Ort mit dem
Versprechen, nach dem Krieg Rückzahlungen zu leisten, lokale Kredite zu erhalten. In
den Vereinigten Staaten wurden zuweilen auch mit Krediten Gelder von geplanten
Sammlungen «vorbezogen». Zu den Empfängern gehörten auch jüdische Aktivisten
im Untergrund. In der Schweiz sind durch Saly Mayer als JDC-Drehscheibe amerika-
nische Gelder, die aus alliierter Sicht nicht in feindliche Territorien geleitet werden
durften, für humanitäre Zwecke «weissgewaschen» worden. Davon wird im Zusam-
menhang mit der jüdischen Finanzierung der eidgenössischen Flüchtlingspolitik noch
zu sprechen sein. Die Nachkriegszeit brachte mit dem dringlichen Bedarf an Ernäh-
rung, Kleidung, Weiterreisen und Rehabilitation der Überlebenden einen Höhepunkt
an finanziellen Opfern. Für Europa, Übersee und Palästina/Israel verausgabte das JDC
341 Millionen Dollar während den Jahren 1945-1952. In diesem letzten Jahr verliess
auch der letzte jüdische Flüchtling die Schweiz.
Das JDC hielt sich politisch an das American Jewish Committee, das selbst an
Washington und dort in internationalen Angelegenheiten am State Department orien-
tiert blieb. Nach Kriegsausbruch musste sich im JDC zuerst die Erkenntnis durchset-
zen, dass die von Roosevelt verkündete amerikanische Neutralität soviel wie die
indirekte Unterstützung der Briten meinte. ImAmericanJewish Congress, der eng mit
dem WJC verbunden war, erblickte das JDC eine politische Angelegenheit, die kaum
der eigenen, strikt neutralen Linie entsprach. Dem Zionismus gegenüber blieb man
ebenso neutral eingestellt. Dies musste nicht heissen, dass im JDC keine Individuen
sassen, die sonst in einer politischen Organisation nach ihrem Geschmack engagiert
waren. Aber die Führung des JDC suchte eine Balance zu halten und tendierte
mehrheitlich zum nichtzionistischen Flügel in der Jewish Agency; einzelne der Vor-
POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUNDLAGEN 273

Standsmitglieder sollen sogar antizionistisch eingestellt gewesen sein. Jedenfalls sah


das JDC im Zionismus nicht die einzige Möglichkeit, das jüdische Problem zu lösen.
Hinzu kam auch der stets heikle finanzielle Balanceakt. Die JDC-Sammlungen
standen bis 1939 oft in erheblichem Wettbewerb mit den Kampagnen des United
Palestine Appeal für Spendengelder. Mit den amerikanischen Zionisten wurde daher
Ende der dreissiger Jahre eine Koalition vereinbart, um die unterschiedlichen Kampa-
gnen zu koordinieren. Dieses Agreement führte zum UnitedJewishAppeal (UJA), an
dem auch die im National Refugee Service beteiligten Flüchtlingswerke partizipierten.
Den UJA, der also eine Plattform für Geldsammlungen war, haben wir oben bereits
mit seiner kleinen «Swiss Division» der New Yorker Schweizer Juden angetroffen.
Dass das JDC nicht einen isolationistischen Kurs fuhr, wie dies da und dort seine
Spender angesichts antisemitischer Tendenzen in den USA vorschlugen, verdankt es
der Energie seines Managements, das im Gegensatz zu den vorangegangenen Jahren
mit angestellten Professionals arbeitete. In der Person seines Direktors Morris Troper,
seines Buropakoordinators J oseph Schwartz und einer Reihe jüngerer Professionals,
die 1940 nach Buropa geschickt wurden, kam die Hilfe im Ausland ins Rollen. Ihre
Wirkung in der Schweiz wird noch zu beschreiben sein. 134

Hias Ica EmigrationAssociation (HICEM) und HIAS

Noch im Bericht der Israelitischen Flüchtlingshilfe 1938 musste den VSIA-Mitglie-


dem das offensichtlich befremdliche Kürzel «HICEM» erst einmal erklärt werden:
«HICEM (gebildet aus RIAS = Hebrew Sheltering and Immigrant Aid Society of
America; ICA = Jewish Colonisation Association; and EMIGDIRECT =Vereinigtes
Comite für Auswanderung) wurde im Februar 1927 gegründet zum Zwecke der
Regulierung der jüdischen Emigration in den Ein- und Auswanderungsländern. Sitz ist
Paris». 135
Die HICEM oder Hias /ca Emigration Association war seit dem Zusammenschluss
von 1933 in erster Linie als Organisation verstanden worden, die den deutsch-jüdischen
Flüchtling nicht in die Schweiz, sondern nach anderen westeuropäische Ländern, beson-
ders aber nach Übersee brachte. Dies lag in gegenseitiger Absicht, indem die HICEM
gernäss der Idee der «Emigdirect» eben eine direkte Migration zu organisieren suchte,
um unkontrollierte Massen- oder nutzlose Hinundherwanderungen zu vermeiden. Die
«Auslandorientierung» des VSJF ist auch nach 1938 gültig geblieben, wenn doch in ganz
anderer Weise. 1938 erhielt die HICEM schlagartig eine eminente Bedeutung für die
Schweizer Juden und nährte im VSJF stark die Überseeoption anstelle der binnen-
europäischen Weiterwanderung. Die HICEM und vor allem die RIAS sind in den Jahren
von 1933 bis 1952 zum wichtigsten Partner des VSJF geworden. Sie erwiesen sich dem
VSJF als wirksames Instrument, um das Konzept der Transmigration praktisch abzuwik-
274 4. KAPITEL

kein. Der VSJF wiederum wird von der HICEM 1939 als eine perfekt arbeitende
Organisation und wichtige Drehscheibe für die Transmigration beschrieben. Zürich
werde in Zukunft noch eine grosse Rolle für die HICEM spielen, meint ein Reisebericht,
der die Erkundigungen in der Schweiz rapportierte. Befremdet war man dabei lediglich
von der Schweizer Regierung und dem SRK, dietrotzaller Neutralität unwillig seien, mit
Deutschland über einen Transit der Flüchtlinge zu verhandeln. 136
Die HIAS war 1909 in New York aus zwei früher bestehenden Hilfswerken der
osteuropäischen Immigranten hervorgegangen. Man half zuerst ankommenden Ein-
wanderern bei der rechtlichen und sozialen Eingliederung und tat dies so alltagsnah
und kommunikativ, dass die HIAS der russisch-osteuropäischen Juden schnell zu einer
weitverzweigten Organisation in Amerika aufstieg. Der Erfolg der HIAS ist mit dem
Wunsch erklärbar, dass die Ostjuden nach Amerika gehen und gleichwohl in ihrer
eigenen Kultur zu Hause bleiben wollten. Die HIAS konnte beides offerieren, den
Schlüssel zur «goldenen Medine» und zur jiddischen Kultur. Demgegenüber stellte die
Jewish Colonization Association (JCA), als eine von Baron Hirsch gegründete und im
«aristokratischen» Stil der westeuropäischen Elite geführte Philanthropie, ein anderes
Unterfangen dar. Dem Versuch, die Ostjuden mittels Massenwanderungen in Koloni-
en in Argentinien oder Brasilien zu lenken, war zwar einiger Erfolg beschieden. Doch
die jüdischen Organisationen in Russland und Osteuropa bekundeten mit der Fremd-
bestimmung seitens reicher, westlicher Philanthropen zunehmend Mühe. 1921 schlu-
gen zwei Versuche fehl, unter JCA-Federführung die europäischen Wanderungs-
organisationen zu vereinigen.
Statt dessen gelang unabhängig von der JCA im gleichen Jahr die Formierung einer
Dachorganisation bestehender grösserer und kleiner Organisationen, die sich nach
dem Prinzip vernetzter Landesorganisationen zusammenschlossen. 25 Organisationen
gründeten das Vereinigte Komitee für Jüdische Auswanderung, kurz «Emigdirect»,
das in Polen, Danzig, den baltischen Staaten, Rumänien und Frankreich Komitees
hatte und Vertretungen von London bis Konstantinopel und dem fernöstlichen Harbin
unterhielt. Im Zentralrat finden sichjüdische Namen deutscher ebenso wie russischer,
polnischer oder litauischer Abkunft. Sitz der neuen Gesellschaft war Berlin, was nicht
nur das Gewicht der in Deutschland niedergelassenen Ostjuden verdeutlicht, sondern
die geographische Lage der deutschen Städte und Häfen als Durchgangsstationen. Zur
Emigdirect gehörten im weiteren die internationalen Verbände ORT und OSE, die
zionistische Hechaluz-Bewegung, das Palästina-Amt in Jerusalem, die Berliner Arbeiter-
fürsorge und die britischen J ewish Relief Organisations.
Vor allem aber präsentierte sich Emigdirect als offizielle Vertreterin der HIAS in
Europa, von der sie, was den Erfolg in Übersee betraf, auch abhängig war. Dafür hatte
die HIAS sich mit Erfolg in Europa etablieren können und konkurrenzierte nun die
JCA. Die HIAS-Emigdirect suchte in direkten Verhandlungen mit staatlichen Stellen
und einer Vertretung beim Völkerbund ihr Netz mit einem Vertragssystem abzusi-
POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUNDLAGEN 275

ehern. Die vernetzte Struktur erlaubte die gezielte Verbreitung von Informationen über
Durchgangs- und Zielländer, Hilfeleistungen aufgrund von Arbeitsnachweisen,
Registrierung an den Grenzstellen, Auffangen von steckengebliebenen Durchwanderern
in den Häfen, Ansiedlung und Eingliederung nach ihrer Ankunft. Seit 1924 erschien
eine eigene Zeitschrift, Die jüdische Emigration, die in <~üdischer Sprache», d.h. in
Jiddisch publiziert wurde. In Berlin wurde von Salomon Adler-Rudel die Jüdische
Arbeits- und Wanderfürsorge als Fachblatt des Hilfsvereins ediert, das auch Ansätze
zu einer eigentlichen «Wanderungswissenschaft» erkennen lässt. 137
1927 gingen HIAS-Emigdirect und JCA eine Koalition ein, die HICEM, um sinnlo-
se Doppelspurigkeiten, besonders in Häfen und Sammelstellen, zu vermeiden. Vor
allem aber musste dies nach 1933 aus politischen Gründen richtig erscheinen. Nach dem
Krieg löste sich die HIAS wieder von der HICEM, um eigenständig weiterzuarbeiten. 138
HICEM und HIAS befassten sich zur Hauptsache mit allen ins Stocken geratenen
migrationstechnischen Prozeduren: Erkundung von Einreise- und Berufsmöglichkeiten
in neuen Zielländem, Interventionen bei Behörden und Konsulaten, Unterstützung der
Migranten, reisetechnische Abwicklung, Verbindungen zwischen Familien in Herkunfts-
und Ankunftsländem. Der von der HIAS geprägte Stil der HICEM signalisierte das
endgültige Ende der klassischen Migration aus Europa und den Versuch, dem feindlich
und schliesslich tödlich gewordenen Alten Kontinent zu entkommen. Das Erscheinen
der HICEM in der Schweiz steht in Parallele zum massiven institutionellen Ausbau des
VSJF in den Kriegsjahren. Aber nicht nur damit werden die Verbindungen zwischen
HICEM und VSJF deutlich. Die beiden in der Grösse zwar sehr ungleichen, aber gerade
im Krieg eng aufeinander angewiesenen Partnerverbände wurden direkt oder indirekt
vom JDC und dem UJA finanziell abgesichert.

ORT Weltunion und ORT Schweiz

Schon die gleiche, wenn auch bedeutungsverschiedene Kodierung der drei Initialen
«ORT» in russischer, französischer und englischer Sprache macht deutlich, dass der
ORT eine von Osten nach Westen verbreitete Bewegung war und in Form und
Ideologie einen Wandel durchgemacht hat. Aus der Obshchestvo Rasprostraneniya
Truda, der Gesellschaft für handwerkliche und landwirtschaftliche Arbeit, die 1880 im
zaristischen St. Petersburg gegründet wurde, ist in sechzig Jahren die Weltunion
Organisation, Reconstruction, Travail mit Sitz in Genf geworden, die heute noch von
dort aus operiert. Aus der russischen ORT, anfänglich als philanthropische Gesell-
schaft errichtet, die von der JCA finanziert wurde, entwickelte sich eine soziale
Bewegung, die 1921 von Berlin aus ihre eigenen Ideen in allen europäischen Ländern
zu propagieren begann. Das in Russland gereifte und nun neu entfaltete Credo des
ORT lautete «Selbsthilfe durch Arbeit». Das auch ideologisch begründete Konzept
276 4. KAPITEL

wurde in kurzer Zeit in zahlreichen Projekten in West und Ost umgesetzt, die von der
JCA, dem JDC und dem ORT selbst finanziert wurden. Der vielfach propagierten
«Selbsthilfe» wurde durch ein Netz von gewerblichen und technischen Berufsschulen
die Startchancen verschafft.
Bereits 1928 unterhielt ORT in Polen, Rumänien, den baltischen Staaten und der
Sowjetunion 33 Berufs- und Fortbildungsschulen sowie eine technische Fachhochschule
in Wilna. Mehr als 7'000 Schüler und Studenten waren eingeschrieben. Später kamen
Musterkooperativen mit Werkstätten, industriellen Ateliers und landwirtschaftlichem
Betrieb hinzu, um zwischen Schule und Arbeitswelt den gegenseitigen Fluss an
Technologien zu garantieren. 1934 unterhielt ORT in der Sowjetunion, Polen und
Bessarabien 141 solcher Kooperativen, in denen rund 20'000 Personen lebten. Beson-
ders aber wird dabei die Absicht des ORT deutlich, die soziale Umschichtung der
luden in Richtung «produktiver Arbeit». 139
Die schnelle Expansion in den zwanziger Jahren ist nur verständlich, wenn man die
Ideologie und das Konzept des ORT berücksichtigt. Diese sind auch, wie wir sehen
werden, in der Schweiz wirksam geworden, wo den geflüchteten ORT-Aktivisten nach
1942 der schnelle Aufbau von Schulen, Kursen und Werkstätten für Flüchtlinge gelang,
die in den Augen der russischen «Ortisten» in den eidgenössischen Arbeitslagern mehr
oder weniger vergammelten. Ein Teil der jüngeren ORT-Generation, besonders in der
Gestalt von Aaron Syngalowski, formulierte gegen die Idee, bloss eine philanthropische
Gesellschaft zu sein, ein sozialpolitisches Ethos. Er forderte die wirtschaftliche Emanzi-
pation und verkündete als Ideal der jüdischen Tradition die Würde der Arbeit, die zur
Erlösung der jüdischen Massen führen würde. Solche Konzepte waren aus der jüdischen
Erfahrung durchwegs verständlich, wenn auch kaum ausreichende Begründung für die
reale Situation. 140 Die heftigen Debatten um die ideologische Bedeutung des ORT, wie
sie in den zwanziger und dreissiger Jahren geführt wurden, wurzeln in der gleichen
Herkunft wie der Sozialismus zionistischer und bundistischer Prägung, in denen die
Selbstemanzipation eine grosse Rolle spielte. Ihnen gegenüber blieb ORT aber politisch
neutral und verfuhr in seinem Engagement nach dem Prinzip der Doigkeyt, jiddisch
«Hierkeit» oder in Deutsch eben «Vor Ort». Jede ORT-Arbeit hatte danach dort vor sich
zu gehen, wo sich die Juden befanden und Bedarf tatsächlich vorhanden war, unbesehen
von territorialen oder autonomistischen Zielen.
Mit dem Aufstieg des Nazismus und dem Zweiten Weltkrieg fand sich ORT um
die Früchte seiner langjährig Aufbauarbeit gebracht. Die Einrichtungen im Osten
wurden unter deutscher Herrschaft aus purer Not zu Werkstätten im Getto und gingen
dann in den Trümmern der Vernichtung unter. Die ORT-Aktivisten kümmerten sich
auch im Westen, besonders in Frankreich, um die jüdischen Flüchtlinge, wobei man
dort 1940 mit der Kinderhilfe OSE ein gemeinsames Komitee bildete, um Administration
und Sammlungen besser bewältigen zu können. Von Paris über Vichy kam dann 1942
der ORT in die Schweiz, wohin Syngalowski und anderen zu fliehen gelang. In Genf
POLITISCHE UND INSTITUTIONELLE GRUNDLAGEN 277

und Zürich entstand so 1943 ORT Schweiz, ein Vorgang, auf den wir im Zusammen-
hang mit der sozialen Umschichtung der Flüchtlinge noch zu sprechen kommen. Mit
der Aktivierung eines amerikanischen ORT gelang es gleichzeitig, in den Vereinigten
Staaten einen wichtigen Anker zu erhalten. Nach dem Krieg war ORT nicht nur mit
der Wiederherstellung seiner Einrichtungen in Buropa beschäftigt, sondern baute sein
Werk besonders in Israel, Südamerika, Asien und Afrika aus.

OSE Weltunion und OSE Suisse

Die russische OZE wurde in St. Petersburg als Obshchestvo Zdravookhranenyia


Yevreyev («Gesellschaft für den Schutz der Gesundheit der Juden») gegründet. Anlass
zur Gründung einer solchen Gesellschaft waren Kindersterblichkeit, Unterernährung,
Epidemien und Unkenntnis über Hygiene in der jüdischen Bevölkerung. Ziel und
Zweck der OZE war eine medizinisch und sozial ausgerichtete Prävention und
Betreuung, die Beratung, Anleitung zur Kinderpflege, Verarztung, Erholung und
gesunde Ernährung umfasste. Acht Jahre nach der russischen OZE entstand 1921 die
polnische TOZ (Tiwarzystwo Ochrony Zdrowia), die im Jahr des Kriegsausbruchs 368
sozial- und präventivmedizinische Einrichtungen unterhielt. Wie ORT haben auch die
russische OZE und die polnische TOZ den Weg nach Westen angetreten und wurden
in der Zwischenkriegszeit von Berlin aus schnell zu einer international tätigen Gesell-
schaft. Über Paris und Vichy-Frankreich gelangte das CEuvre de secours aux enfants
1940 nach Genf. Wie beim ORT erwies sich auch hier das in den Vereinigten Staaten
formierteAmerican Committee ofthe 0. S. E. als hilfreicher Anker. Finanziert wurden
TOZ und OSE, deren Jahresbudget in den Vorkriegs- und Kriegsjahren auf zwei
Millionen Dollar jährlich stieg, zu rund drei Vierteln aus lokalen Sammlungen und zu
einem Viertel durch das JDC und die jüdischen Gemeinden in der freien Welt. 141 Im
weiteren kann vermerkt werden, dass für Frankreich und die Schweiz die Herkunft der
Aktivisten auch «ideologisch» bedeutsam wurde. Die alte russisch-polnische Garde,
mit Boris Tschlenoff, Lazare Gourvitch, Valentine Cremer und andern, war von einem
bundistischen Schwung geprägt, dessen praktisch-optimistische Haltung auch bei den
0 RT-Leuten zu beobachten ist. Sozialistisches und jüdisches Bewusstsein wurden mit
sehr viel grösserer Selbstverständlichkeit identifiziert als im Westen. Gleichwohl war
und blieb das OSE aber eine ideologisch wie politisch strikt neutrale Organisation der
jüdischen Philanthropie.
Ins Zentrum der Tätigkeit rückte während des Kriegs die Betreuung und Rettung
verwaister und flüchtender Kinder. Besonders das französische OSE, in der West- und
Ostjuden, aber auch Juden und Nichtjuden eng zusammenspannten, spielte eine grosse
Rolle. 142 Wir werden im Zusammenhang mit den jüdischen Rettungsaktivitäten von
der Schweiz aus darauf zurückkommen. In der Schweiz bestand seit 1943 ein OSE
278 4. KAPITEL

Suisse, um wie schon beim ORT dem Prinzip politischer Neutralität durch unabhängi-
ge Landesorganisationen zu entsprechen. Praktisch gesehen bestanden, wie J acques
Bloch berichtet, die schweizerischen ORT und OSE anfänglich nur aus der internatio-
nalen Union, das heisst aus den aktiven Flüchtlingen und ihren Schweizer Freunden,
darunter Liebmann Herschund Regina Kägi-Fuchsmann. Das OSE traf in der Schweiz
1940 auf bereits vorhandene, wenn auch durch die Situation überforderte Strukturen
zur Betreuung jüdischer Kinder. 143 Diese Situation führte auch zu Konflikten zwischen
christlichen und jüdischen Instanzen um die Frage der Beeinflussung und Taufgefahr.
Eigenständige Bedeutung gewann OSE Suisse erst in den Nachkriegsjahren durch die
Betreuung von 450 Buchenwald-Kindern und die Eröffnung von Kinderheimen in
Wengen und später in Morgins. 144
1950 wurde der Sitz des internationalen OSE, das seither einen Status als Beobach-
ter bei der UNICEF und der WHO innehält, von Genf wieder nach Paris verlegt. Die
Zusammensetzung seines Zentralrates in diesem Jahr macht deutlich, dass aus den
einstmals russisch-polnischen OZE und TOZ eine weltweit tätige Kinder- und
Gesundheitshilfe geworden ist. Neben den in den USA, Frankreich, der Schweiz und
Grossbritannien lebenden Juden aus West- und Osteuropa, deren alte Garde auch mit
Albert Einstein und Boris Tschlenoff als Ehren- und Exekutivpräsidenten gebührend
berücksichtigt wurde, figurieren im Zentralrat jüngere Vertreter aus neuen Ländern.
Dazu gehören Marokko, Algerien, Tunesien, Israel, Mexiko, Australien und Südafrika.
Weitere Länder, vor allem der Dritten Welt, sind bis heute hinzugekommen.
279

5. KAPITEL
MINHAG SUISSE.
SCHWEIZERISCHE FLÜCHTLINGSPOLITIK, IN-
TERNATIONALE MIGRATION UND JÜDISCHE
TRANSMIGRATIONSPOLITIK 1938-1945

Die zwingende Auferlegung des Transits für Flüchtlinge, zu der die Schweiz den SIG
verpflichtete, bestimmte die gesamte jüdische Flüchtlingspolitik zwischen 1933 und
1952. Vor und während des Kriegs war die Weiterreise des Flüchtlings fremdenpolizei-
liche Bedingung für die Einreise in die Schweiz, die keinen rechtlichen Anspruch des
Flüchtlings auf Asyl und Aufenthalt kennen wollte. Die Schweizer Juden mussten
alles Interesse haben, die Weiterreise zu betreiben, um nicht das noch offenstehende
Tor in die rettende Schweiz zu gefährden. Die Drohung aus Bem, den Eingang zum
Land zuzusperren, wenn jüdischerseits nicht für rasche Ausreise gesorgt würde, war
kein leeres Wort. Die bekannten Tatsachen aus der Geschichte der Flüchtlingspolitik,
mit dem J-Stempel von 1938 und den Zurückweisungen seit dem August 1942,
belegen die Verwirklichung der den Schweizer Juden laut und leise angedrohten
Massnahmen.
Maxime des SIG musste es somit sein, möglichst wirksam die Weiterreise der
jüdischen Flüchtlinge zu organisieren. Aus der damaligen Optik der Schweizer Juden
war dies nicht nur die einzig mögliche Politik den eigenen Behörden gegenüber,
sondern auch durch die europäische ·Entwicklung vorgegeben. Wer konnte schon
wissen, ob nicht vielleicht gar die Schweizer Juden selbst zu Opfern des Nazismus
werden würden - was als Stimmung sich zwischen den Zeilen aus vielen Belegen
herauslesen lässt. In zahlreichen europäischen Ländern sind nicht wenige jüdische
Helfer der Auswanderung selbst zu Emigranten geworden, zum Teil freiwillig, mei-
stens aber erzwungenermassen. Das Durchgangsland Schweiz wurde trotz seiner
Beliebtheit bei jüdischen Organisationen nicht als Lebensgrundlage mit grosser Zu-
kunft eingeschätzt. Otto Heim, VSJF-Präsident seit 1943, resümierte zehn Jahre später,
die wichtigste Aufgabe der jüdischen Flüchtlingshilfe habe darin bestanden, «mög-
lichst vielen Personen zu einer Weiterwanderung zu verhelfen, die ihnen eine Existenz-
möglichkeit verhiess». 1 Aus jüdischer Sicht war die Schweiz, als ein neutraler, doch
europäischer Staat, keine definitive Bleibe, aber wenigstens ein Wartesaal.
Den Wartesaal des Asyls offen zu behalten, indem intensiv die Weiterreise betrie-
ben wurde, konnte im Kalkül der Schweizer Juden nur unter bestimmten politischen
Bedingungen gelingen. Gleichzeitig waren die Schweizer Juden selbst eine instrumentale
Grösse der eidgenössischen Politik, deren Dissuasion gegenüber dem siegreichen
280 5. KAPITEL

Deutschland auf einer Mischung von Vermeidung und Abwehr, von Anpassung und
Disziplinierung beruhte. Saly Mayer summierte im Mai 1941 die jüdische Situation
während des Delegiertentags des SIG unter dem Stichwort «Minhag Suisse». Mit dem
bekannten traditionsreichen Begriff Minhag wurde und wird eigentlich innerhalb des
religiösen Judentums eine besondere Färbung oder der lokale Gebrauch der rituellen
oder liturgischen Ordnung verstanden, von der je nach örtlicher Gewohnheit oder
mündlicher Überlieferung vielfaltig abgewichen wird. 2 Was hier «Minhag Suisse»
genannt wurde, meinte das jüdische Niedrigprofil in der politischen Öffentlichkeit, die
innere Einheit und Disziplinierung in den eigenen Reihen sowie eine enge Kooperation
mit der Regierung, um die Interessen der Schweizer Juden und der jüdischen Flüchtlin-
ge soweit als möglich wahrzunehmen.
Dieser Minhag schloss implizit eine Reihe von Bedingungen ein, unter denen in
der Schweiz die jüdische Flüchtlingspolitik gelingen konnte: einmal nicht darauf zu
drängen, die Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt zu integrieren, sondern für eine aktive
Transmigrationspolitik besorgt zu sein; und dann die weitgehende Finanzierung des
Flüchtlingswerkes aus jüdischen Geldquellen zu garantieren. Unter dem Minhag ver-
stand Mayer auch die Haltung, eine klare Linie gegenüber eidgenössischen Angele-
genheiten zu ziehen und gegen die Interessen Berns zu handeln, wenn es um die
Rettung von Juden ging. Dazu gehörte sein charakteristisches Verständnis, biblische
Gebote praktisch zu erfüllen, zum Beispiel den «Fremden in der eigenen Mitte»
aufzunehmen, das heisst den Flüchtlingen rechtlich und sozial Standards einzuräumen,
wie sie in der Schweiz allen Menschen zustanden. 3
Freilich bleibt die Frage offen, wieweit die Interessen der Flüchtlinge mehr theore-
tisch als wirklich wahrgenommen wurden. Es ist klar, dass mit dem eidgenössischen
Imperativ des Transits, der erzwungenennassen zum jüdischen Minhag der Weiter-
wanderung wurde, der Umgang des SIG mit Regierung und Behörden in Bern,
besonders zwischen Mayer und Rothmund, von enger Einvernehmlichkeit sein musste.
Mayer war sich mit einem weiten Kreis im SIG einig, dass dabei öffentliche Kritik
oder gar Polemiken in der Presse kontraproduktiv für die eigene wie die Sache der
Flüchtlinge sein würden. Solange der Transit funktionierte oder wenigstens Aussicht
hatte, in der Zukunft realisiert zu werden, lohnte sich ein Vertrauensvorschuss in die
eigenen Behörden, die ihrerseits von den Schweizer Juden loyale Erfüllung der Pflich-
ten erwarteten. Dass die politischen Autoritäten bereits 1938 die Schweizer Juden
belogen und 1942 ihre Mühen um Transmigration und Geldbeschaffung mit den
Rückweisungen der jüdischen Flüchtlinge zynisch lohnten, war vor Sommer 1942
kaum auszumachen. Erstaunlicherweise hatte gerade ein Morris Troper der die JDC-
Aktivitäten in Europa leitete, 1940 instinktive Zweifel an der Echtheit des Asylrechts,
und dies trotz seiner etwas enthusiastischen Begeisterung für den Alpenstaat und
seinen mythenbehafteten Ruf, ein Hort und Symbol für Flüchtlinge zu sein.4
Die Schweizer Juden hüteten indessen die bis anhin gültige Aufnahmepraxis für
MINHAG SUISSE 281

Flüchtlinge, die ihnen noch liberal vorkommen musste, mit diskretem und indirektem
Handeln. Öffentliche und politische Interventionen von reputierten Nichtjuden waren
stets willkommen, zum andern wollte man selbst nur im mündlichen Gespräch die
starken Argumente vortragen, mit denen die Sache für die Flüchtlinge befördert
werden sollte. Doch selbst Mayer zögerte nicht, einzelnen Redaktionen auf Umwegen
heikle Hinweise zukommen zu lassen, auch wenn ihm diese von JUNA-Redaktor
Sagalowitz geübte Methode; die nicht auf zögerliches Taktieren setzte, risikoreich
erschien. Dabei blieb es - und Alternativen gab es für eine machtlose Minderheit in
diesen Jahren kaum. Selbst im August 1942, als sich der SIG durch Rothmund und
dann durch von Steiger verraten sah, bedienten sich Mayer, Brunschvig, Braun-
schweig und andere nur dieser indirekten Taktik, wenn auch mit giftigeren Pfeilen und
zeitweise unter partiellem Abbruch der Beziehungen zu Bern.
Das Niedrigprofil, das zugunsten der Flüchtlinge vor 1942 einzig möglich schien
und wohl auch noch vor 1945 ohne Alternative blieb, wirkte nach Kriegsende freilich
lau und lendenlahm. Das zeigt sich gerade im Kern der jüdischen Flüchtlingspolitik, an
der sich faktisch nichts änderte. Das Rückgrat der jüdischen Flüchtlingspolitik war und
blieb die Transmigration: vor und während und nach dem Krieg. Auch nach 1945, als
es möglich gewesen wäre, national und international erheblichen Druck zu mobilisie-
ren, um in der Schweiz das Dauerasyl durchzusetzen, blieben die Schweizer Juden
geradezu höflich und setzten kaum schweres moralisches Geschütz ein. Nur alten und
gebrechlichen Menschen hatte Bern im März 1947 das Dauerasyl zugestanden, das nur
896 jüdische Personen erhielten, obwohl der VSJF 1500 Anträge gestellt hatte. Die
grosse Masse blieb weiterhin bestimmt für den Transit oder die Transmigration, die
sich damit als die wichtigste Konstante in der schweizerischen und der jüdischen
Flüchtlingspolitik entpuppt. Der grössere Teil der Flüchtlinge, nämlich 17'800 Perso-
nen, verliess die Schweiz zwischen 1945 und 1952 und löste das frühere SIG-Verspre-
chen ein, nur auf Zwischenstation zu bleiben.5

URSACHE, PLANUNG UND WIRKLICHKEIT IN DER MIGRATION-


MIT EINIGEN BEMERKUNGEN ZUR WANDERUNGSFORSCHUNG

1935 erschien im Berliner Reiss-Verlag ein nach Ländern angelegtes Handbuch, das
sich wie ein Taschenlexikon für Auswanderer liest. Der Herausgeber Mark Wischnitzer,
der von 1933 bis 1937 als Sekretär des Hilfsvereins der deutschen Juden deren
Auswanderung organisierte, begnügte sich unter dem Stichwort «Schweiz» mit knap-
pen zwei Seiten. Der vornehmlich historische und soziologische Abriss vermerkt, die
Schweizer Juden würden im kulturellen und politischen Leben kaum hervortreten, und
282 5. KAPITEL

schliesst mit dem kurzen Hinweis, das rigoros gehandhabte Erwerbsverbot für Auslän-
der und die wirtschaftliche Stagnation böten in diesem industriell hochentwickelten
Land wenig Aussicht auf «Ausweitungsmöglichkeiten».6 Die Marginalität der Schweiz
als Zielland fällt bei Wischnitzer auch im Vergleich mit anderen europäischen Staaten
auf. Der Autor propagierte indessen die «Europaflucht» und sah in den Ländern der
Neuen Welt die schmerzhafte Bestimmung, die jüdischen Massen aus dem Alten
Kontinent wegzulenken. Verbunden wurde dies mit der Voraussetzung, die Juden
auch beruflich umzuschichten. Der Sekretär des Hilfsvereins wollte durchaus die
Bedeutung Palästinas als Zielland jüdischer Emigration nicht ignorieren, betonte aber
die relativ geringe Aufnahmefähigkeit des Landes. Die Überseeländer waren und
blieben die einzig sicheren und genügend grossen Destinationen, nach denen sich
schon aus historischer Erfahrung auszuwandern lohnte. Wischnitzers Auffassung wur-
de tatsächlich Recht gegeben, indem kurze Zeit später, in den Wintermonaten 1935/36,
die Mandatsregierung aus politischen und wirtschaftlichen Gründen die Quoten für
jüdische Einwanderer ins britische Palästina empfindlich einschränkte.
Wischnitzer hat später als Soziologe und Historiker in New York sein eigenes
Auswandererschicksal thematisiert und eine Migrationsgeschichte der Juden verfasst.
Er unterteilt die Zeit von 1800 bis nach 1945 in acht Phasen. Der langen Vorgeschichte
und einer Anlaufphase mit geringer Emigration aus Westeuropa nach Übersee folgte
ab 1880 der erste grosse Exodus aus Russland, der nach zehn Jahren auch die grossen
Emigrationswellen aus dem gesamten ost-und südeuropäischen Raum nach sich zog.
Höhepunkt der jüdischen Massenwanderung, die vor allem in die Vereinigten Staaten
zielte, bildete die Zeit von der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Ersten
Weltkriegs, dem nach 1914, in der Zeit illiberaler Fremdenregimes, ein anhaltendes
Abflachen der jüdischen Wanderungsbewegung folgte. Die drei letzten Phasen in den
Jahren seit 1933 kennzeichnet Wischnitzer als Migrationen unter den nazistischen
Pressionen, dann unter den Bedingungen des Kriegs und zuletzt im Kampf für die
erneute Einwanderung nach 1945.7
Ein weiterer Soziologe, der sich in Kolonisationsfragen einen Namen machte, war
Arthur Ruppin, der seit 1907 das Palästina-Amt leitete und in Deutschland Mitglied
der zionistischen Exekutive war. 8 Der Wanderungsplan der Zionistischen Vereinigung
für Deutschland wurde nach seinen Leitlinien ausgerichtet, die 1933 auf dem 18.
Zionistischen Kongress in Prag unterbreitet worden waren. Ruppin sah als einzig
gangbaren Weg eine geregelte Schritt-für-Schritt-Emigration nach Palästina und Über-
see, wo im Verlauf von fünf bis zehn Jahren 200'000 deutsche Juden Aufnahme finden
sollten. Ruppin befand sich dabei in Übereinstimmung mit der deutschen Zionistischen
Vereinigung wie der zionistischen Einwanderungsorganisation Hitachduth Olej
Germania in Tel Aviv. Beide Organisationen sahen die Auswanderung aus Deutsch-
land und die Einordnung in Palästina als Einheit. Die gelenkte Wanderung garantierte
nach Ruppin eine gelingende Verwurzelung im Zielland und halte Planung und
MINHAG SUISSE 283

IN DIE ENGE GETRIEBEN (2) und auf die Furcht vor einer antisemitischen
Hetze zurückgeführt. Sagalowitz als Sozia-
DIE ANGST DER SCHWEIZER JUDEN list setzte dem die bürgerlichen Rebellen im
VOR ANTISEMITEN, INNERJÜDISCHER Nationalrat als Vorbild entgegen, die das
OPPOSITION UND FREMDEN JUDEN Schweigen durchbrochen hatten. Vor allem
durchschaute er im Geschäft mit der Angst
Das Profil der Schweizer Juden glich zum die Regeln des Spiels, dem die Juden in der
einen dem eng geführten Geist der Schweiz unterworfen wurden. Seine
bundesrätlichen Politik, die das nazistische Didaktik suchte klar zu machen, dass es
Deutschland nicht reizen wollte und zu- sich, solange man schwieg, bei der schwei-
gleich einige Elemente des autoritären zerischen Flüchtlingspolitik nur um eine
Führungsstils amalgamierte; zum andem Judenpolitik handelte, die mit dem Mittel
drohte den Schweizer Juden aber eine politi- der Aufspaltung rechnete. Als Zionist kriti-
sche Aufspaltung, indem ihr öffentliches sierte er zugleich bei den kleinbürgerlichen
Schweigen als Zustimmung zur eidgenös- und angepassten Schweizer Juden ein ent-
sischen Flüchtlingspolitik interpretiert wur- sprechendes Verhalten, das er in eine histori-
de. Die Schweizer Juden wurden mit dem sche Kontinuität des Diaspora-Judentums
besonders vom Vaterländischen Verband setzte. In politischer und erzieherischer
benutzten Argument eines drohenden Rhetorik blickte er auf fünfhundert Jahre
Antisemitismus in die Enge getrieben. Nach jüdische Erfahrung zurück: «[ ... ] aber wo-
innen beruhte das schwache Profil des SIG her kommt diese Einstellung? Es ist die alte
auf einer strikten Disziplinierung der eige- Angst der in einem Land ansässigen Juden,
nen Reihen. Nach 1942 setzte der Holocaust dass neue Juden hineinkommen. In Amerika
die Kräfte frei, die sich als Opposition waren es zuerst die portugiesischen Juden,
formierten. die sich wehrten gegen die Einwanderung
In seinem Votum über den SIG an der der deutschen Juden. Es gab Zeiten, wo por-
ICZ-Debatte wehrte sich Benjamin tugiesische Juden Schiwe gesessen sind,
Sagalowitz gegen Saly Braunschweig, der wenn einer eine deutsche Jüdin heiratete.
vor seiner Wahl als neuer SIG-Präsident die Die deutschen Juden waren damals meistens
Formierung einer innerjüdischen Opposition Hausierer. Aus diesen Hausierem ist zwar
ungern sah, aber auch nicht schweigen woll- ein Gouverneur von New York empor-
te. Der JUNA-Redaktor setzte inneres gewachsen. Dasselbe haben wir in der
Schweigen mit Schweigen nach aussen Schweiz. Die aargauischen Juden mussten
gleich und erkannte darin den Grund für die sich gegen Vorwürfe durchsetzen, wie sie
schwache Haltung der Schweizer Juden ge- heute die jüdischen Flüchtlinge hören. Als
genüber den Behörden, besonders hinsicht- sie sich durchsetzten, hatten sie zu leiden
lich der jüdischen Flüchtlinge. Als deutli- unter den Vorwürfen, die gegen die elsässi-
ches Symptom erschien Sagalowitzjenes schen Juden erhoben wurden, die man als
klägliche Verständnis, das «man auch in Schacherjuden hinstellte. Und nachdem die-
schweizerisch-jüdischen Kreisen für die se wieder eine Einheit gebildet hatten, fürch-
Infektionsgefahr seitens der Emigranten hät- tete man dasselbe von der Einwanderung der
te», wie es der hier zitierte Regierungsrat Juden von Osteuropa. Und heute ist es die
und SZF-Präsident Robert Briner an den gleiche Angst vor der Einwanderung jüdi-
Schweizer Juden gelobte hatte. Eine solche scher Flüchtlinge, nicht weil es jüdische
Stimmung unter vielen Schweizer Juden Flüchtlinge sind, sondern weil es flüchtende
wurde vom neuen SIG-Präsidenten bestätigt Juden sind. In einer Gemeinde wurde von
284 5. KAPITEL

<Entjudung der Cafes> gesprochen und eine sich anpassen! Bemüht er sich um ein ameri-
andere Persönlichkeit in jener Gemeinde hat kanisches Visum: Kaum wird es gefährlich,
erklärt: die Flüchtlinge sind uns nicht will- will er weg! Bemüht er sich nicht darum,
kommen, wir müssen uns mit ihnen abfin- sagt man: Den werden wir nie los! Der
den. Was müssen die andem denken, wenn Schweizerische Vaterländische Verband hat
man so spricht. Man braucht dann gar nicht nicht mit den schlechten Eigenschaften der
mehr zu sagen: <Schliesst die Tore> - denn Emigranten operiert, sondern sagte: die Emi-
man glaubt diesen Juden zu entsprechen. granten können die Rolle spielen, die die
Diese Haltung ist kurzsichtig, sie entsteht Juden, die schon da sind, spielen. Man hat
nicht wegen der Flüchtlinge, sondern weil damit operiert, dass ein Emigrant - Gott
wir Juden sind. Die wachsende Zahl ist es, behüte - einmal eine Schweizer Geschichte
die es bewirkt. Es sind nicht nur die schlech- schreiben könnte [ ... ].»
ten Gewohnheiten, sondern auch die guten.
Was der Jude auch tut, ist immer falsch.
Eine grosse holländische Zeitung hat Bilder Quelle: Archiv ICZ, Protokoll Gemeinde-
gebracht: immer derselbe Emigrant. Bestellt versammlung vom 22. März 1943.
er eine holländische Speise, so sagt man: er
passt sich viel zu schnell an! Bestellt er eine Worterklärung: «Schiwe sitzen» bedeutet «in
deutsche Speise, so heisst es: Nie wird er Trauer sein».

Wirklichkeit in Übereinstimmung. Kernstück der Planung war die Vorbereitung der


Migration, die durch die Hechaluz- und Bachad-Bewegungen in zahlreichen europäi-
schen Ländern, unter anderen in der Schweiz, in Lehrstätten betrieben wurde. Soziolo-
gie stellte also nicht nur die Daten über die gesellschaftliche und berufliche Struktur
der Juden zusammen, sondern war ebensosehr geleitet von der Absicht, die «nach
Beruf, Alter und Vermögen Auswanderungsfähigen und für Palästina geeigneten Teile
der Judenheib> zu erfassen und geordnet zu lenken. 9
Zwei Jahrzehnte früher, auf dem Höhepunkt der jüdischen Auswanderungs-
geschichte, am Vorabend des Ersten Weltkriegs also, hatte ein anderer Autor, der
damals als Privatdozent an der Genfer Universität lehrende Liebman Hersch, eine
soziologische Studie zur jüdischen Emigration publiziert, die bis 1947 mehrmals
ergänzt und aufgelegt worden ist. In der jiddischen Fassung seiner Soziologie und
Statistik der Migration verknüpfte Hersch einleitend die Tatsache einer jüdischen
Sozialwissenschaft eng mit der erneuerten nationalen Selbstbestimmung der Juden
und ihrer Geschichte als einer neuzeitlichen Wanderung, was seine bundistisch wie
autonomistisch geprägte Sicht der Dinge wiedergibt. 10 Ähnlich wie Wischnitzer und
Ruppin in Deutschland befand sich Hersch in der Schweiz schon sehr früh an einem
Puls seiner Soziologie: die Völkerbund-Stadt Genf war ihm par excellence der Ort der
Moderne, wo Mobilität und Formierung des jüdischen Volkes international abzulesen
waren. Soziologie bedeutete auch diesem Autor und Forscher nichts anderes, wie
übrigens auch vielen weiteren jüdischen Soziologen, als die am eigenen Leib erlebte
MINHAG SUJSSE 285

Migration methodisch zu begreifen und in ausreichende wissenschaftliche Terminologie


zu kleiden.U
Migranten sind «mobiler» als andere Menschen, nicht nur in räumlicher oder
sozialer Hinsicht, sondern auch psychisch. Ganz ähnlich wurde daher im Transitland
Schweiz auch die Psychologie für Migrationsprobleme in Anspruch genommen. Als
eigentliche Disziplin der jüdischen Existenz reklamiert, wurde die Psychologie an-
fänglich als innerer Aspekt einer «Wissenschaft der Wanderungen» popularisiert. Dass
Gefühle existenzieller Bedrohung und Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen,
zum Beispiel in schweizerischen Arbeitslagern, in einen (Weiter-)Wanderungsentschluss
umgelenkt wurden, lag auf der Hand. Gebrauchsnahe Psychologie oder therapeutische
Einsichten manifestieren sich mehrfach in den Zeilen der jüdischen Presse in der
Schweiz. 12
Eingehend behandelt wird zum Beispiel der eheliche Konflikt in der Folge von
migrationsbedingten wirtschaftlichen Verhältnissen, aus denen erzwungenermassen
veränderte Rollenbilder und Arbeitsteilungen zwischen Mann und Frau resultierten.U
Auch aus den Beiträgen und Briefen von migrationswilligen Flüchtlingen spricht das
Bedürfnis seelischer Vergewisserung, wenn sie in einzelnen Flüchtlingszeitungen ihr
Schicksal diskutierten. So schätzte der aus Wien geflüchtete Arzt Herbert Kahn, der in
Schaffuausen als Lager- und Spitalarzt wirkte, noch während seiner eigenen Überfahrt
nach Santo Domingo die Situation widersprüchlich ein. Die Schweizer Behörden
erhielten trotz den harten Lagerbedingungen und kaum bezahlter Arbeit weitgehend
gute Noten. Hingegen sah Kahn in Widerspruch dazu die Gefahr bei den betroffenen
Flüchtlingen: als Folge der erlittenen gesellschaftlichen Ausstossung in die Fremde
und der erzwungenen wie entmündigenden Isolation in der Schweiz sei mit dem
Auftreten von demoralisierenden Schuldgefühlen zu rechnen. 14
Vermehrt wurde am Ende des Kriegs, unter spürbarem Nachlassen des primären
Druckes, die erlebte Situation psychologisiert, wenn auch mit sehr unterschiedlichen
Ansätzen. Besonders unter bekannten massenpsychologischen und neurologischen
Gesichtspunkten interpretierten verschiedene Mediziner die Lage der Migranten, suchten
aber bei allem Verständnis für den Flüchtling auf autoritativer Distanz zu bleiben. Vor
allem wurde dies von den Betreuern der Flüchtlinge als mentale Handhabe für «seeli-
sche Hygiene» repartiert, doch andererseits als Wegweiser zur kritischen Reflexion
über die Situation in den Arbeitslagern ausgelegt. Disziplin wurde von einzelnen
Flüchtlingen, die selbst den Sprung in die Rolle von Betreuern geschafft hatten, bald
für das Verständnis eigener Befindlichkeit in der Migrationslage zitiert, und dies
wiederum auch zunehmend kritisch hinsichtlich der Behandlung des einzelnen Flücht-
lings durch Behörden und Helfer. 15 Dass solche Äusserungen, die individuell einige
Wunden zu schliessen halfen, in der Schweiz von Politikern oder Flüchtlingen über-
haupt verstanden wurden, ist kaum anzunehmen. Soziologie und Psychologie, gerade
in den popularisierten Formen, erschienen dem jüdischen Bewusstsein als wissen-
286 5. KAPITEL

schaftlieber Stil der katastrophenartig erfahrenen Modeme. Die Juden hatten den Preis
zu zahlen, der aus der vernichtenden Opposition gegenüber dieser Modeme resultierte.
Die «neuen» Wissenschaften schienen die Motive der erzwungenen Wanderung und
des damit verbundenen Leidens zu erklären. So bemühte man sich, die sozialen und
wirtschaftlichen Realitäten zu erkennen, ohne die Tatsachen mit zu viel moralischen
Schuldgefühlen zu vermengen.
Die Migration war ohne Zweifel nur ein Gegenstand der Forschung und nur ein
Zweig der «modernen» Wissenschaften, die das Interesse der Juden so brennend
beanspruchten. Dem äusseren Gelingen in der geplanten Migration folgte der Erfolg,
der neue soziale Aufstieg, dem ein innerer Prozess entsprach, der sich in einem
bestimmten Verhalten und Stil der Identifikation kundtat. In den letzten fünfzig Jahren
verlagerte sich die Wahrnehmung der jüdischen Migrationserfahrung von der Aus-
wanderung aus Buropa hin zur Einordnung in den neuen Zielländem. Besonders die
Analyse der Eingliederung von Immigranten in den Vereinigten Staaten und Israel
wurde zum eingehend erörterten Gegenstand der wissenschaftlichen Disziplinen. 16
Aus der ursprünglich aus Not erfolgten Wanderung, oft mit einer Rückkehrperspektive
verbunden, wurde bei den meisten ehem11ligen Migranten und ihren Nachfahren eine
generationsübergreifende Angelegenheit, indem sich die im Einwanderungsland gebo-
renen Nachkommen mit ihrer ethnischen Herkunft weiterhin identifizierten. Diese
vieldiskutierte Problematik kann hier nicht berücksichtigt werden, zumal sich das
Verständnis der migrierten Familien nicht mehr auf das europäische Herkunftsland,
sondern auf die «ethnic communities» im Einwanderungsland selbst richtete, bei-
spielsweise die jüdischen Viertel in den grösseren und mittleren Städten und später in
den Suburbs der Mittelschichten. 17
Die eigentliche Migrationsforschung, die sich auf den Anlass, den Vorgang und
die Formen der Wanderung selbst richtet, wird von diesen wirkungsgeschichtlich
interessanten Folgen weniger berührt. Sie entwirft statt dessen eigene Konzepte für die
Fragen und Geltungsbereiche der Migrationsgeschichte. Aus der historischen
Wanderungsforschung sind verschiedentlich theoretische Anregungen und Unterschei-
dungen bekannt, die ganz zuerst das Herkunfts- und Transitland betreffen. 18 Auch
wenn nicht beabsichtigt ist, in erster Linie einen Beitrag zur historischen Migrations-
forschung zu liefern, sondern viel eher dem flüchtlingspolitischen Aspekt Raum zu
geben, sind hier einige begriffliche Definitionen doch hilfreich. Denn grundsätzlich
kann damit erinnert werden, dass die Optiken der Regierungen und der Vertriebenen
ebenso gegeneinander wie untereinander differieren konnten wie die Auffassungen in
der Alten und Neuen Welt sich darin unterschieden, was die jüdische Immigration zu
bedeuteten hatte.
Primär waren die Migranten Opfer politischer Verhältnisse und judenfeindlicher
Verfolgungen, eine Tatsache, die in der jüdischen Wanderungserfahrung zwischen
1850 und 1933 nicht neu war, aber zuweilen doch sekundär erscheinen konnte. Die
MINHAG SUISSE 287

sozial und wirtschaftlich motivierten Auswanderungswellen von Nichtjuden aus ihren


europäischen Ländern sind nur beschränkt vergleichbar mit den Ursachen der jüdi-
schen Migration. Das ist natürlich für die Zeit von 1933 bis 1941 besonders evident
und geradezu monokausal erklärbar. Die nazistische Judenpolitik verfolgte unter oft
verworren angelegten Praktiken der Emigrierung zuerst die Ausstossung der Juden aus
Buropa -lange bevor im Gegenteil dazu schliesslich die jüdische Auswanderung 1941
verboten wurde. Als ursächliche Begründung der jüdischen Migration weltweit hat in
der europäischen Geschichte also primär die antisemitische Bewegung und dann die
deutsche Politik gegenüber ihren jüdischen Mitbürgern und Mitbürgerinnen zu gelten.
Im historischen Rückblick ging es um die Wahrung menschlicher Existenz und Würde
und letztlich um die Rettung des nackten Lebens. In der Folge derselben Ursache
vollzog auch die Schweiz mit ihrer Flüchtlingspolitik und deren Imperativ des Transits
diese Entwicklung, wenn auch vor allem indirekt und reaktiv.
Scheinbar unabhängig davon, doch historisch nicht weniger bedeutsam, ist an
zweiter Stelle die enorme Anziehungskraft des amerikanischen Kontinents in der
langen Kontinuität auch der jüdischen Migrationsgeschichte zu nennen. Das Land der
unbeschränkten Möglichkeiten hatte seit dem 19. Jahrhundert eine Attraktivität, die
von einer eigenständiger Dynamik gekennzeichnet war. Jetzt stimulierten der Nazis-
mus und die internationalen Reaktionen als negative Ursachen von neuem den Wunsch,
dem Alten Kontinent und seiner jahrhundertealten Enge zu entrinnen. Der Mythos des
«goldenen Landes» Amerika erhielt im Bewusstsein der Auswanderer und der
Ankömmlinge jenseits des Ozeans eine rettende Funktion. Gleichzeitig und aus den-
selben Gründen war das zionistische Ideal der nationalen Selbstbestimmung schon
immer als kämpferische Antwort gegenüber den antisemitischen Anfechtungen der
Emanzipation verstanden worden. Der Wunsch, das europäische Getto zu verlassen,
mündete hier in die Absicht, die kollektive Identität in einem nationalen Rahmen zu
assimilieren. In Erscheinung und Resultat ergaben sich also aus der antisemitischen
Tradition der nichtjüdischen Welt die Anziehungskraft der Neuen Welt oder des
nationalen Heims. Sie erhielten augenblicklich ihr eigenes Gewicht und entwickelten
sich wirkungsgeschichtlich zu den neuen Zentren des jüdischen Lebens.
Doch auch wenn Nord- und Südamerika und Palästina bzw. Israel sehr viel
Anziehungskraft aufwiesen, darf dies für den geschichtlichen Moment nicht über-
schätzt werden. Allein die Zahlen der jüdischen Weiterwanderer, die unten belegt
werden, zeigen, dass der Alte Kontinent vielen Transmigranten weiterhin bevorzugtes
Ziel blieb. Die europäische Binnenwanderung konnte vor dem Krieg ernsthafte und
tragische Folgen haben, indem die Migranten in Länder gingen, die später von Deutsch-
land besetzt wurden. Auch nach dem Krieg wählten die jüdischen Migranten von der
Schweiz aus mehrheitlich ein europäisches Land, wobei freilich das Motiv nicht nur
die Rückkehr an das ursprüngliche Domizil, sondern ebensogut auch die Vorbereitung
der endgültigen Auswanderung aus Buropa sein konnte.
288 5. KAPITEL

Die Schweiz- Push- oder Pult-Land?

Vorausgesetzt, dass man auf dem dialektischen Glatteis der geschichtlichen Argumen-
tation nicht ausgleitet, kann im Blickfeld der Auswanderer zumindest theoretisch
zwischen den Ursachen der Vertreibung (Push-Faktoren) und den Anziehungskräften
(Pult-Faktoren) unterschieden werden. Sowohl für die Push- wie für die Pull-Faktoren
wirft der «Sonderfall Schweiz» freilich einige Probleme und Interpretationsfragen auf,
die wohl nicht restlos geklärt werden könne.n. Denn hier stehen beide Faktoren in
einem problematischen Wechselspiel, auf das auch schon bei der Frage der europäi-
schen Binnenwanderung hingewiesen wurde. Zum Beispiel lassen sich unter dem
Stichwort «Motion Pestalozzi», die hier bereits behandelt worden ist, das antisemitische
Klima und die Flüchtlingsfrage verknüpfen und auch die Situation vor und nach dem
Krieg in Bezug setzen: Hatten die Gründe, welche ab 1938 zahlreiche jüdische
Schweizer zur Auswanderung nach den Vereinigten Staaten bewogen, das gleiche
Gewicht für die fremden jüdischen Flüchtlinge? Waren auf der andern Seite die
Verlockungen der Neuen Welt für beide Gruppen in gleichem Masse attraktiv? Gab es
Ursachen für den jüdischen Schweizer, nach 1945 in die alte Heimat zurückzu-
wandern? Und wohin zog es der jüdische Flüchtling vor, nach dem Krieg zu gehen:
zurück in sein Herkunftsland, nach Palästina oder nach Übersee, wenn er nicht auf
Dauer im Asylland Schweiz zu bleiben wünschte? Warum wollte er oder warum
wollte er nicht in der Schweiz der Nachkriegszeit bleiben?
Zwar lässt sich in vielen Fällen die persönliche Erfahrung der Auswanderung mit
Gründen, Wünschen und Gelegenheiten rekonstruieren, aber über die schweizerischen
und jüdischen, wirtschaftlichen und kulturellen sowie die herkunftsmässigen
Beziehungsfelder, in denen individuelles Schicksal sich ereignete, bleiben viele
Mutmassungen übrig. Das VSJF-Archiv mit seinen rund 23'000 Einzeldossiers bietet
der Forschung sehr viel Material an, das systematisch und quantifizierend nur mit
grossem Aufwand zu befragen wäre. Umgekehrt liegen aus der Zeit nach dem Krieg
(Juli 1945; März 1947) über die Wanderungswünsche der Flüchtlinge in der Schweiz
zwei Erhebungen vor, die eine Statistik der Migrationsabsichten geben, aber wenig
über individuelle Problematiken und deren Beziehungsfelder auszusagen erlauben.
Die Komplexität der beteiligten sozialen, wirtschaftlichen, psychologischen, ideologi-
schen, religiösen oder bildungsmässigen Faktoren lässt sich also nicht auf politische
Pull- und Push-Faktoren allein reduzieren. Von Interesse ist freilich, dass sich in Bern
die politische Administration gerade vor einer statistischen Erhebung solcher Daten
gefürchtet hat und sie zu verhindern suchte, weil die Migrationswünsche der Flüchtlin-
ge durchaus das Push- oder «Gastland» Schweiz unverhofft zu einem Pull- und
Zielland umzuwerten drohte. 19
Die Erhebung von 1945 durch das International Migration Service in New York
und dessen Genfer ZweigstelleAide auxEmigres quantifizierte Aussagen der Flücht-
MINHAG SUISSE 289

Iinge pionierhaft mit einem elektromechanischen Zählverfahren von IBM, das mit
Lochkarten nach dem sogenannten «Hollerith»-System arbeitete. Auf die Umstände
und Ergebnisse der Erhebung, die vor allem die Zukunftspläne der Flüchtlinge er-
fragen wollte, wird später bei der Darstellung der Nachkriegsperspektiven noch einge-
hend zurückzukommen sein. Von Interesse sind hier dennoch einige Daten, die uns das
methodische und interpretatorische Problem illustrieren, dass die ohnehin vielschichtigen
Push- und Pull-Faktoren gleichermassen synchron und diachron beeinflusst sind. Sie
müssen jedenfalls auch auf die vorangegangenen Erfahrungen der Migration bezogen
werden und sind wenig verlässlich. Die Angaben zu den Ziel- und Ziehländern sind
nicht nur abhängig vom Herkunftsland und den Bezügen zu ihm, sondern auch von
den Erfahrungen aus den lang- oder kurzzeitlichen Wanderungen selbst, die nun noch
einmal, unter den Ereignissen des Kriegs und des Holocaust, dramatisch erlebt werden.
Vergleicht man die Wanderungsumstände der polnischen mit denjenigen der deut-
schen und Österreichischen Juden, so wird nämlich deutlich, dass die meisten Flüchtlinge
der ersten Gruppe bereits Immigranten oder Transmigranten gewesen waren, bevor sie in
die Schweiz einreisten. Zwei Drittel der polnischen Gruppe verliessen ihre Heimat
längstens vor 1932 und sogar vor 1919; drei Viertel aller polnischen Juden besassen ein
Domizil in Belgien oder Frankreich, davon nur ein Drittel erst nach 1933. Von dort hatte
wiederum ein kleinerer Teil auf eine Passage nach einem Überseeland gehofft, gelangte
aber mit den Domizilierten unter den Umständen der Verfolgung in die Schweiz. Im
Gegensatz dazu flüchteten die deutschen und Österreichischen Juden zu über neunzig
Prozent direkt in die Schweiz und besassen damit keine vorgängige, weiter zurück-
liegende Migrationserfahrung. Deutschland, das einst ein Pull-Land für polnische Juden
gewesen war, wurde nun ebenso eine Ursache der Vertreibung wie Polen einst selbst.
Entsprechend differierten auch die Zukunftspläne zwischen den ost- und west-
europäischen Juden. Von den 1588 polnischen Juden wünschten im letzten Kriegsjahr
nur 26 Personen oder 1,5 Prozent in die alte Heimat zurückzukehren, während 98 Pro-
zent die Weiterwanderung vorzogen. Der grösste Teil dieser polnischen Juden wollte
in die ehemaligen westeuropäischen Domizilländer Belgien und Frankreich zurück-
kehren. Unklar bleibt dabei freilich, ob sie dort nur ihre Emigration in ein ferneres
Zielland in Übersee oder nach Palästina vorbereiten oder sich endgültig niederlassen
wollten. Hingegen wünschten 13 Prozent aller deutschen Juden und gar ein Drittel der
Österreichischen Juden in die alte Heimat zurückzugelangen. Andererseits zog es den
grösseren Teil - prozentual mehr als doppelt so viele wie bei den Polen - in die
Vereinigten Staaten oder ein anderes Überseeland. Für Palästina als erste Wahl ent-
schieden sich bei beiden Vergleichsgruppen mit rund 10 Prozent etwa gleich viel.
Übrigens, in der Schweiz bleiben wollten von allen Juden sämtlicher Herkunftsländer
nur 2 Prozent oder gerade 100 von 4274 Personen, während 6 Prozent unter den 1216
Nichtjuden im Gastland zu bleiben wünschten. Die Erhebung liefert angesichts der
geringen Zahl von Dauerasylanwärtern keine AufschlüsseJung nach Herkunftsstaat. 20
290 5. KAPITEL

Die vereinfachende Gleichung, dass Forttreibungs- und Anziehungsfaktoren als


komplementär anzusehen sind, ist also beim Transitland Schweiz problematisch.
WenigerUnschärfen bietet die Unterscheidung zwischen Massen- und Einzelwanderung,
weil eine gerraue Bestimmung der Typen mit anderen Grundmustern verbunden
werden kann. Dazu gehören die Begriffspaare der agrar- oder urbanorientierten Wan-
derung und der permanenten oder periodischen Migration.

Massenmigration oder Einzelwanderung?

«Massenwanderung» umfasst Gruppen von Menschen, die sich zwar einzeln zur
Auswanderung entschieden haben oder dazu gedrängt wurden, aber im Rahmen eines
grösseren Organisationsgrades migrierten. Dies bedeutete, dass ganze Familien, Dorf-
verbände oder Schicksalsgruppen an der Wanderung teilnahmen und im Zielland
entweder in kolonialen Siedlungen oder durch «Landsmannschaften» in den Städten
herkunftsmässig eingebunden blieben. Solche Landsmannschaften, zum Beispiel pol-
nischer Juden, hat es in organisatorischen Ansätzen bereits bei den Flüchtlingen in der
Schweiz gegeben, wobei die Arbeitslager die Funktion von unfreiwilligen «Kolonien»
erhielten. Unter «Einzelwanderung» wird hingegen meistens die Elitewanderung ver-
standen, wobei es sich bei der «Elite» nicht einfach um Angehörige einer politischen
und wirtschaftlichen Führungsschicht handelt, sondern viel allgemeiner um Träger
spezifischer Kenntnisse und beruflicher Fähigkeiten, die mit den Bedürfnissen des
Arbeitsmarktes besonders einträglich korrespondierten. Gleichbedeutend wird auch
von «Infiltration» gesprochen, ein Begriff, der anlässlich der Evian-Konferenz von
1938 wieder im Munde der Teilnehmerstaaten war. Damit war die allmähliche
Akkulturation der Einwanderer an die bestehende Gesellschaft des Ziellandes gemeint.
Um die Frage der «Massensiedlung oder Infiltration» sind unter denjüdischen Verant-
wortungsträgern in Ost- und Westeuropa heftige Kontroversen entstanden, die mit der
Frage «nationale Identität» versus «individuelle Atomisierung» konnotiert waren.
Hilfsorganisationen wie Auswanderer hatten darüber sehr unterschiedliche Ansich-
ten.21
In der international jüdischen wie in der schweizerischen Wanderungsgeschichte
ist die Differenzierung zwischen Massen- und Einzelwanderung durch die historische
Erfahrung legitimiert. Die jüdischen Migrationswerke, wie der Hilfsverein, die JCA
oder die HIAS, die eine Kontrolle und Kanalisierung der grossen Wanderungswelle
seit der Jahrhundertwende anstrebten, spiegeln in ihren Konzepten auf unterschied-
liche Weisen das Problem der Massen- und Einzelwanderungen. Die schweizerische
Wanderungsgeschichte ist methodisch und faktisch ebenfalls von dieser bezugsrei-
chen Differenz geprägt. 22 Aus den privaten und kantonalen Wanderungsprojekten des
19. Jahrhunderts resultierte schliesslich das bundeseigene Amt für Auswanderung, das
MINHAG SUISSE 291

die Kanalisation der Migration und die Probleme der Remigration mit den unterschied-
lichsten Aspekten, wie Armenwesen und Konjunkturverläufe, Arbeitsmarkt und Taug-
lichkeit der Zielländer, unter einen Hut zu bringen hatte. Nach 1918 hatte sich das Amt
jedoch oft mehr um die Rückwanderer als um die Auswanderer zu kümmern, und die
weitaus grösste Zahl der Fälle betrafen Jahr für Jahr Fremde im Transit. 23 Das Bundes-
amt hat sich denn auch der technischen Abklärung und Beurteilung von jüdischen
Projekten nach dem Typus der agrarorientierten Massenmigration gewidmet und dabei
eine weit nüchternere Haltung eingenommen als der stets optimistische und fremden-
ideologisch operierende Polizeichef. Zusammenfassend gesagt, bei den Grundtypen
der Massen- und Einzelwanderung, die sowohl schweizerischer- wie jüdischerseits zur
Diskussion standen, handelt es sich um ein universales Phänomen, das seinen Auf-
schwung im 19. Jahrhundert genommen hatte, sich in letzten Ausläufern noch nach
1919 äusserte und 1933-1952 noch einmal als Resultat antisemitischer Politik in
Buropa akut geworden ist.

Agrarisierung oder Urbanisierung?

Wir werden daher in einem speziellen Kapitel eingehender zeigen, dass von 1933 bis
1941 die flüchtlingspolitischen Ereignisse auf schweizerischer wie aufjüdischer Seite
eine Wiederaufnahme der agrarischen Massenmigrationen nahelegten. Sie sind in den
einstigen Kolonien in Südamerika gescheitert und nur im israelischen Kibbuz von
Erfolg geblieben. Es muss aber vorweg ein Unterschied zwischen den historischen
Vorläufern im 19. Jahrhundert und den neuen Wanderungen genannt werden. Der
jüdische Emigrant der aktuellen Periode benutzte weltweit die Projekte einer Massen-
kolonisation in Übersee bloss als Fluchtpunkt. Der Transmigrant von 1930 oder 1950
war in der Regel von seinen Voraussetzungen her bereits urban-industriell vorgeprägt
Die Not machte aus diesem Städter einen vorgeblichen «Massenwanderer», der in den
jüdischen Agrarsiedlungen in Übersee eine erzwungene Verlängerung der eidgenös-
sischen Arbeitslager vorfand. Die Forderung nach Massenmigration wurde in diesen
Projekten rückwärtsgewandt mit «Landbau» und Reagrarisierung von städtischen
Individuen verbunden. Doch bereits die im 19. Jahrhundert ausgewandertenjüdischen
Agrarsiedler waren im Verlauf der Ansiedlung teilweise schnell verstädtert. Bei den
historischen Vorläufern zeigt der Anteil der vielen jüdischen Händler im Vergleich zu
andern Herkunftsgruppen eine Beschäftigungsstruktur, die viel eher die städtische
Immigration nahelegte.
Erst recht muss man sich vergegenwärtigen, dass seit dem Ersten Weltkrieg bis in
die dreissiger Jahre die Konzentration von Juden in urbanen Zentren rasch zugenom-
men hatte. Zum Beispiellebten in Argentinien, Kanada und den Vereinigten Staaten
. rund neunzig Prozent oder in Lettland, Ungarn und Deutschland mehr als achtzig
292 5. KAPITEL

Prozent in Städten. Weltweit waren ein Drittel aller Juden allein in zwanzig grossen
Städten konzentriert. In Palästina ergab sich die gleiche Entwicklung nur mit leichter
Verspätung. Die Kultivierung des landbauenden Pioniers war vor allem ideologisches
Programm, das durch die Maskilim und Teile der Zionistischen Bewegung seit dem
19. Jahrhundert mit dem nationalen Anspruch auf eigenen Boden verbunden worden
war. Auch wenn man der agrarorientierten Wanderung tatsächlich und rückblickend
recht geben konnte, so war im späteren Israel die Tendenz zur Urbanisierung und
Industrialisierung bereits Ende der dreissiger Jahre ab lesbar. Besonders die zionistische
Auswanderung der deutschen Juden ist nicht in erster Linie eine Reagrarisierung
geworden wie bei vielen Einwanderem osteuropäischer Herkunft, sondern ebensosehr
ein Eindringen in die städtischen Milieus, wo vorwiegend dem herkömmlichen Status
als Mittelklasse nachgelebt wurde.
Aber gerade der urbane Bereich im Arbeitsmarkt eines Ziellandes, und im Falle der ·
Schweiz auch jener des Transitlandes, verschloss sich den Migranten und Flüchtlin-
gen, die dem industriellen Wandlungsprozess nachlebten. Dies zeigen die juden-
feindlichen Reaktionen in den einzelnen Zielländem, wo man meinte, durch die urbane
Immigration drohe den einheimischen Kräften Konkurrenz. Oft genug wurde die
restriktive Einwanderungspolitik mit der alten, im Handelsverkehr üblichen Schutz-
zollpolitik gleichgesetzt und im weiteren mit rassistischen Argumenten unterlegt;
dabei war in der europäischen «Judenfrage» gerade die Frage der weltweiten wirt-
schaftlichen Krise sowohl auf dem Alten Kontinent wie in der Neuen Welt mit den
antisemitischen Erklärungen verknüpft. 24
Auf der andem Seite stand der jüdische Versuch, das Gegenteil zu beweisen. Der
Mythos des landbebauenden Heros, ob in der europäischen Rückwendung zu konser-
vativer Bodenständigkeit oder in den Träumen kolonialen Reichtums, ob im Geist der
jüdischen Bundisten oder im zionistischen Pionierideal der Chaluzim, war ein Reflex
auf die Verwerfungen und den Wandel der Modeme, die gerade den Antisemitismus
hervorgebracht hatte. Ein Stereotyp in judenfeindlichen Äusserungen klang in jenem
Vorwurf nach, der Jude als Händler oder Intellektueller sei uQfahig zu wahrhaft
produktiver Arbeit. Als Antwort auf diesen vorgeworfenen Makel überzeugte der
landorientierte Pioniergeist bei den Zionisten, deren sozialistische Zeilen lange vor den
dreissiger und vierziger Jahren Kibbuzim gegründet hatten, den Flüchtling am mei-
sten. Doch bei allem Schwung, der das zionistische Ideal der Urbarmachung charakte-
risierte, bestand der überwiegende Teil der Transmigranten, auch in der Schweiz, aus
Einzelwanderem, die in die Städte der Neuen Welt wollten. Das wird öfters und
zuweilen ernüchtert in den Berichten des VSJF festgestellt, der ehern auf die
Agrarsiedlungen in Übersee oder Palästina gesetzt hatte. Die Individuen und Familien
suchten Auskommen, Sicherheit und Bleibe in den grossen und mittleren Städten, ob
sie nun Zürich oder Paris, New York oder Buenos Aires, Johannesburg oder Tel Aviv
hiessen.
MINHAG SUISSE 293

Tab. 1: Vom VSJF realisierte Weiterreisen aus der Schweiz 1933-1952

Destination 1933-1937 1938-1939 1940--1943 1944-1945 1946-1952 Total

Südamerika 88 398 58 19 501 1'064


Mittelamerika 80 176 13 40 309
Nordamerika 16 532 327 132 2'501 3'508
Afrika 5 4 1 3 24 37
Orient 28 1 3 32
Indien/Fernost 119 3 19 141
Australien 74 2 449 525
Palästina/Israel 214 231 60 1'234 730 2'469
Europa 1195 808 62 10'361 1'835 14'261
Total 1'518 2'274 690 11'762 6'102 22'346

Die Emigrationen wurden in Zusammenarbeit mit der HICEM für Übersee und dem Palästina-
Amt in Genf und London für Palästina/Israel durchgeführt.
Die Destination Orient umfasst Türkei, Iran und Zypern. Mittelamerika schliesst die karibischen
Länder ein. Australien mitsamt Zahlen für Neuseeland erfasst. VSJF-Destination ist nicht
immer mit dem endgültigen Zielland identisch, sondern kann auch ein weiteres Transitland
bedeuten.

Tab. 2: Überseewanderung von Schweizern, Niedergelassenen und VSJF-Flüchtlingen

Kategorie 1933-1937 1938-1939 1940--1943 1944-1945 1946-1951 Total

Schweizer 6'551 2'253 1'148 238 11'584 21'774


Niedergelassene 1'909 908 1'705 88 5'508 11'118
VSJF-Flüchtlinge 323 466 628 1'401 4'267 8'085

Zum Vergleich: Die USA sowie Kanada wählten 55% aller Schweizer Überseewanderer.
43% der VSJF-Flüchtlinge wählten Nordamerika und 30% gingen nach Palästina/Israel.

Quellen 1 und 2: Statistisches Jahrbuch 1951; SIG, Festschrift, 1954, S. 66, mit AufschlüsseJung der
VSJF-Destinationen nach einzelnen Ländern.
294 5. KAPITEL

EIN SELTSAMES PAAR- ODER EVIAN UND DIE FOLGEN:


JÜDISCHE UND SCHWEIZERISCHE TRANSMIGRATIONSPOLITIK

Von 1933 bis 1939, das heisst seit der nazistischen Machtübernahme in Deutschland
bis zum Ausbruch des Kriegs, waren 226'000 Juden aus Deutschland und weitere
134'000 Juden aus Österreich und den einverleibten «Protektoraten» Mähren und
Böhmen ausgereist. Von den insgesamt 913'000 Juden, die in diesem Bereich vor
1933 gelebt hatten, waren total 360'000 Personen zwangsweise emigriert. Davon
waren bis Ende 1939 57'000 Juden in die Vereinigten Staaten, 53'000 nach Palästina,
50'000 nach Grossbritannien und 40'000 nach Frankreich gelangt. Belgien hatte
25'000 jüdische und nichtjüdische Flüchtlinge aufgenommen, und in die Schweiz
kamen 10'000 Menschen, wobei in diesen beiden Kleinstaaten der grösste Teil der
Flüchtlinge Juden waren. 25
Der Ausreisestrom entsprach gesamthaft den Phasen, die von den auslösenden
Momenten der Politik bestimmt waren. Eine erste Periode vom 30. Januar bis Mitte
1933, unter den Vorzeichen der nazistischen «Gleichschaltung», löste eine panische
Welle von mehr als 30'000 Ausreisen ins nahe gelegene Ausland aus. Dann pendelte
sich der jährliche Ausreisestrom auf 20'000 bis 25'000 Juden ein, ebenso in der
zweiten Phase von 1933 bis Frühjahr 1935, als der braune Terror im öffentlichen
Leben, mit brutalisierten SA-Horden, einer intensiven Propaganda und den neu einge-
richteten «Konzentrationslagern», das jüdische Leben bedrückte. Dies war auch der
Fall während der Zeit von April1935 bis Sommer 1937, als die gesetzlichen Grundla-
gen zur Entrechtung der deutschen Juden geschaffen und in allen Einzelheiten verord-
net wurden. Die Beschleunigung der Migration, mit 40'000 Personen im Jahr 1938
und 78'000 im Jahr 1939, lief in einer fünften Phase parallel zur Beschleunigung der
deutschen Arisierungspolitik und der aggressiven Aussenpolitik Hitlers in den Jahren
vor dem Krieg. Die letzte Phase der deutschen Vertreibungspolitik, mit zunehmend
versiegenden Ausreisen nach Kriegsausbruch, endete mit dem Ausreiseverbot vom
Herbst 1941, nachdem im Jahr zuvor noch die süddeutschen Juden zwangsweise nach
Frankreich abgeschoben worden waren. 26
Die Zunahme der Ausreisen schien also nach dem «Anschluss» Österreichs und
dem deutschen Überfall auf die Tschechoslowakei besonders dringlich eine internatio-
nale Lösung zu fordern. Die Einreise von mehreren tausend Flüchtlingen innerhalb
weniger Monate hatte in der Schweiz zum ersten Mal das «Flüchtlingsproblem»
drastisch vor Augen geführt. Laut Ludwig-Bericht hat die in Wien bekannt gewordene
Hilfsbereitschaft des SIG und VSJF den Flüchtlingsstrom aus Österreich anschwellen
lassen; nach Mayers Auffassung waren dafür jedoch das politische Prestige des tradi-
tionellen Asylrechtes und das im Ausland eifrig propagierte Image des wirtschaftli-
chen und touristischen Musterlandes Schweiz ausschlaggebend; hinzu kamen die
MINHAG SUISSE 295

verwandtschaftlichen Beziehungen über die Grenzen.27 Jedenfalls war die Schweiz,


die sich in den dreissiger Jahren zunehmend einigelte, gerade in diesem Punkt kein
Sonderfall. Entgegen ihrem isolationistischen Kurs schien die Weiterbeförderung der
Flüchtlinge nur im internationalen Rahmen möglich. Gleichzeitig zeigte sich aber die
Unbeständigkeit der Möglichkeiten und Bedingungen der Migration gerade am Vor-
abend des Zweiten Weltkriegs.
In Evian konferierten die Vertreter der Regierungenjedoch erfolglos, um das von
Deutschland provozierte Flüchtlingsproblem zu lösen. Die Beschleunigung der
antisemitischen Massnahmen im Reich und die Wechselhaftigkeit in der Aufnahme-
politik der Zielländer erhöhten die Problematik der Planung, bei der kaum vernünftig
kalkuliert werden konnte. Von Mal zu Mal änderten sich in Südamerika, Südafrika und
im britischen Palästina die Gesetze zur Niederlassungs- und Arbeitsberechtigung.
Mehr und mehr, und schon im Vorfeld von Evian, wo man eine solidarische Lösung zu
finden meinte, blieben die Tore der meisten Ziel- und Einwanderungsländer den
rettungssuchenden Juden verschlossen. Ähnliche Wirkung hatte die britische Weissbuch-
Politik, die eine den Umständen angemessene dringliche Einwanderung nach Palästina
illusorisch machte. Der politische Unwillen der Regierungen, die Schwierigkeit der
Planung und die örtlichen Gegebenheiten des Arbeitsmarktes zeigten, dass die Vorbe-
reitungen für die Eingliederungen der Auswanderer in den Zielländern oft nutzlos
waren. Die Neuankömmlinge, die eine Migration nach Übersee schafften, ergriffen
zumeist selbst die Initiative, um sich eine Existenz aufzubauen. Eine Ausnahme
bildete hier Palästina, indem mit einem gezielten Kapitaltransfer dem Land die Mittel
zur planvollen Gründung von neuen Kibbuzim und städtischen Mittelstandssiedlungen
zuflossen.
Vorweggenommen sei, dass die Bemühungen der verschiedenen jüdischen
Verantwortungsträger nicht ganz zwecklos waren, auch wenn die Aufgaben, die sich
ihnen stellten, schlicht unerfüllbar blieben. Die jüdischen Organisationen versagten
zwar in Evian politisch durch ihr uneinheitliches Auftreten, was ein Bild zielloser
Meinungsvielfalt abgeben musste. Sie vermochten vor Evian weder eine wanderungs-
politische Übereinkunft mit der Reichsregierung zu treffen, noch in den späteren
dreissiger Jahren auf internationalem Gebiet sich Gehör und Befugnisse zu verschaf-
fen. Die Bedingungen wurden ihnen von den Grassmächten diktiert, denen die kleinen
Staaten geflissentlich sekundierten, um ihr Eigeninteresse zu wahren. Im Dschungel
der Konferenz boten sich keine verbindlichen Grundlagen an, die es den Juden
ermöglicht hätten, eine sinnvolle Wanderungspolitik zu betreiben. Wie Abraham
Margaliot aufrechnet, waren aber entgegen vieler geplatzten Hoffnungen und trotz der
eigenen Mängel die Leistungen der jüdischen Wanderungsplanung politisch und prak-
tisch durchaus nicht unbeträchtlich. 28 Insbesondere gelang es, den Wanderungsstrom
teilweise von den europäischen Ländern nach Nischen in Übersee zu lenken, weit weg
vom sich ausdehnenden Bereich der Naziherrschaft in Europa. Dies gilt freilich nicht
296 5. KAPITEL

für jedes europäische Land in gleicher Weise. Gerade im VSJF musste man nachträg-
lich mit Bedauern zugeben, dass die europäische Binnenwanderung zum Teil äusserst
fatale Folgen hatte. Als ein segensreicher Erfolg erwies sich hingegen, dass die in der
Praxis der Wanderung tätigen Hilfswerke, wie HIAS, JCA und JDC, sich auf eine
anhaltende Zusammenarbeit einigten, der sich die einzelnen europäischen Hilfswerke
anschliessen konnten. Gerade der VSJF und der SIG beteiligten sich nach 1938 an
dieser internationalen Plattform unter Führung des amerikanischen Judentums und
schlossen sich zu ihrem eigenen Nutzen den grossenVerbänden an. Der VSJF betonte
gerade vor Evian, dass die Lösung der politischen und rechtlichen Fragen nicht seine
Aufgabe sein könne, sondern auf internationalem Boden gesucht werden müsse, weil
die Schweiz wegen ihrer geographischen Lage als erste Durchgangsstation für die
Flüchtlinge zu gelten habe. 29 Das gleiche gilt für die zehn Jahre zuvor in Zürich
gegründete Jewish Agency, deren Büros in London und Genf für die Zuteilung der
begehrten Einwanderungsquoten zuständig waren. Als ideologisch neutrale Grundlage
für eine praktische Verständigung von Zionisten und Nichtzionisten beim Aufbau des
jüdischen Palästina konzipiert, schien sie nun den Schweizer Juden, und mit ihnen
auch dem besorgten Rothmund, einen vorteilhaften Zugang zur Migrationslenkung zu
ermöglichen.
Die Initiative des amerikanischen Präsidenten zu einer internationalen Flüchtlings-
konferenz, die dann im Juli 1938 in Evian während zehn Tagen als politisches
Trauerspiel über die Bühne ging, kam der Schweiz höchst ungelegen. Wie so viele
andere Staaten meinte auch Bem, sich in einem verzweifelten Abwehrgefecht gegen
die ungeliebten Juden zu befinden. Evian barg das Risiko, dass die Schweiz, die
bislang weder der Nansenkonvention von 1933 noch der Flüchtlingskonvention vom
Februar 1938 beigetreten war, sich zu einer Aufnahme von Flüchtlingen zu verpflich-
ten oder gar ihren Imperativ des Transits aufzugeben hätte. Aus politischen Gründen
konnte man freilich einer Konferenz nicht ausweichen, lehnte aber den angetragenen
Wunsch, die Konferenz in Genf abzuhalten, entschieden ab. Auf der Konferenz gab
sich die Schweiz nicht nur äusserst reserviert, sondern jammerte auf dem internationa-
len Parkett um Verständnis, keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen, hingegen nach
dem Grundsatz des Transits die eigenen Flüchtlinge abschieben zu können. Um nicht
in den Sog von Verpflichtungen zu geraten, sagte die Schweiz 1938 als einziges
europäisches Land die Teilnahme an den Sitzungen des in Evian begründeten
Intergovernmental Committee on Political Refugees ab. Das IGCR, dem nur eine
kurzlebige Existenz bis zum Ausbruch des Krieges beschieden war, sollte die
divergierenden Pläne und Vorstellungen operativ an die Hand nehmen. Die Aufgaben
wurden dem Hochkommissar für die Flüchtlinge übertragen, dem Amerikaner James
McDonald, einem überzeugten Advokaten der Emigranten. Zu seinen Aufgaben soll-
ten nun die Verhandlungen mit dem «Dritten Reich», die Bemühungen um eine
Integration der Flüchtlinge in den Aufenthaltsländern und die Verwirklichung von
MINHAG SUISSE 297

hochfliegenden Kolonialprojekten gehören. Praktisch gesehen blieb dem Hoch-


kommissar aber kein Handlungsspielraum, so dass McDonald, der sich sabotiert fand,
unter Protest zurücktrat.
Rothmund war am letzten Konferenztag von Evian mit einer Absage vorgeprellt,
und der Bundesrat hatte, wieder einmal im nachhinein, diesen Rückzug sanktioniert,
zumal das Politische Departement Deutschland mit einer schweizerischen Beteiligung
am IGCR nicht verärgern wollte. Erst zu Beginn des Jahres 1939 geriet das IGCR
wieder ins Blickfeld der eidgenössischen Administration. Nicht nur das deutsche
Eingehen auf das IGCR, das unter dem Namen Schacht-Plan und Ruhlee-Wohltat-
Agreement die Form weitgehender Vermögensarisierungen annahm und den heftigen
Protest der jüdischen Organisationen provozierte, wischte die politischen Bedenken
der Schweiz weg. Vielmehr liessen die inzwischen weltweit erfolgten Grenz-
schliessungen oder Verschärfungen von Kontrollen und Einwanderungsbedingungen
befürchten, dass die Schweiz auf ihren Flüchtlingen «sitzenbleiben» würde. Rothmund
sah sich mit dem von ihm selbst inszenierten Rückzug vom IGCR um die langjährigen
Früchte seines Kampfes gegen die «Verjudung der Schweiz» gebracht, wie er dem
Schweizer Gesandten in Den Haag, Minister de Pury, in Erörterung des Emigranten-
problems schrieb. Pierre Bonna im Politischen Departement sah sich seinerseits mit
den Neutralitätserwägungen und Rücksichtnahmen gegenüber dem Reich ebenfalls
am Ende des Lateins. Die Angst, die Flüchtlinge nicht mehr allein «weiterbringen» zu
können, liess die Schweiz schleunigst im IGCR mitmachen. Ein Jahr nach Evian
beschloss der Bundesrat die Teilnahme an der dritten Tagung des IGCR, das nun als
Chance erschien, die Flüchtlinge loszuwerden. 30
Die dritte Tagung des IGCR, an zwei Julitagen des Jahres 1939 in London, war
nicht viel mehr als der Abgesang der 32 westlichen Länder auf die hochtrabenden
Pläne seit Evian, die bei den Juden noch enthusiastische Erwartungen ausgelöst
hatten. 31 Das IGCR existierte nach London nur noch inaktiv, als Fassade für die
Öffentlichkeit, hinter der seine Funktionen abgebaut und sein Auftrag eingeschränkt
wurden. Den letzten Ausweg aus den im Sande verlaufenden Bemühungen hatte man
zuvor noch in Kolonisationsprojekten gesucht, die anstelle der individuellen Einzel-
wanderungen wieder einmal die gezielten Massenumsiedlungen propagierten. Die
Amerikaner brachten dabei unter anderen Angola, Venezuela, Haiti und Äthiopien in
die Diskussion, die Briten schlugen anstelle des verbotenen Palästina Guyana vor. Die
Deutschen konkurrierten parallel dazu mit einem ursprünglich von den Japanern
geplanten Grassgetto in Madagaskar, das nun geradezu die «Schaffung eines
Judenreservates im Osten» bei Lublin vorwegnahm, bis dann auch diese Pläne auf der
Konferenz am Wannsee aufgegeben wurden. 32 Die dritte IGCR-Tagung in London
besiegelte also auch diese letzten Pläne, mündete in den unauffälligen Ausstieg der 32
IGCR-Staaten aus der Angelegenheit und überliess Roosevelt seinen Träumen von
grassartigen Pioniersiedlungen. Rothmund hielt solche Massenkolonien, wie auf Santo
298 5. KAPITEL

Domingo und das Philippinen-Projekt, ohnehin nur für eine ablenkende «Beruhigungs-
pille» der US-Regierung, um nicht von ihrer restriktiven Auslegung der Quoten-
regelung abkommen zu müssen. Der Chef der Schweizer Delegation war denn auch
empört, dass die Amerikaner nicht bereit waren, die Schweiz bevorzugt zu behandeln,
wie dies die englischen und französischen Beamten zu tun versprochen hatten. 33 So
dinierte man am abschliessenden IOCR-Festmahl in einem Gemisch von Desillu-
sionierung und leerem Pathos.
Rothmund war nicht allein nach London gereist. Begleitet wurde er von SIG-
Präsident Saly Mayer, der, so erfuhr es der Bundesrat aus dem Reiserapport, vom
gleichen Wunsch beseelt sei, einen ständigen Aufenthalt für den jüdischen Flüchtling
zu finden. Die engere Zusammenarbeit zwischen Rothmund und Mayer hatte erst 1938
eingesetzt, als der SIG und VSJF, die bisher ihre Aufgaben ohne Probleme bewältigt
hatten, sich von der Welle jüdischer Flüchtlinge aus dem einverleibten Österreich
überfordert fanden. Seit 1933 war die jüdische Auswanderung nach Übersee ein
«Schmerzenskind der Flüchtlingshilfe», die hier viel Mühe und Arbeit bei relativ
geringen Ergebnissen aufgewendet hatte. Doch waren bis 1937 die meisten eingerei-
sten Flüchtlinge des VSJF wieder ausgereist, wenn auch oft in europäische Staaten.
Die Aussicht, dass diese Bilanz gestört würde, das heisst die Flüchtlinge nicht mehr
emigrieren und dauernd in der Schweiz bleiben könnten, beunruhigte Bem. In einer
Unterredung mit dem Polizeichef kurz nach Evian stellte Mayer fest, dass man in der
Schweiz erst jetzt von einer Flüchtlingsfrage reden könne. Der SIG-Präsident plädierte
vorsichtig für ein langfristiges Programm, das den Daueraufenthalt, Umschulung für
Auswanderer, Ausbildungs- und sogar Beschäftigungsmöglichkeiten für die Flüchtlin-
ge vorsah. Mayer präsentierte ein Programm, das letztlich auf einen festen Aufenthalt
hinauslief und das «ZWecklose Hin- und Herreisen» beenden sollte. Rothmund winkte
harsch ab. Er wiederholte seine strikten Prinzipien, legte dem VSJF eine Beschrän-
kung auf verwandtschaftliche Hilfen für die Österreichischen Juden nahe, empfahl eine
«Verständigung mit den jüdischen Organisationen in Deutsch-Österreich» und wünschte
weiterhin, dass der SIG die finanziellen Lasten zu tragen habe. 34
SIG und VSJF haben diesem Druck weitgehend nachgegeben und wohl auch
nachgeben müssen, zumal am 17. August 1938 die Konferenz der kantonalen Polizei-
direktoren der harten Linie von Bem offiziell folgte und zwei Tage danach die
Grenzsperre erlassen wurde. Nicht nur warnte, wie dies Rothmund nahegelegt hatte,
der VSJF die Israelitische Kultusgemeinde Wien telegraphisch vor dem unkoutrollierten
Zustrom nach der Schweiz. Vielmehr hoffte der SIG auch, einen Teil der jüdischen
Flüchtlinge nach dem Westen zu bringen, und appellierte an Frankreich und die
jüdischen Organisationen in diesem Land, eine grosse Anzahl aufzunehmen und in den
Arbeitsprozess zu integrieren. Dabei wurde als moralisches Argument die französische
Tradition der Menschenrechte ebenso hervorgehoben wie die bereitwillige Assirni-
lierbarkeit der Flüchtlinge selbst, die auch in die französischen Kriegsvorbereitungen
MINHAG SUISSE 299

einzubeziehen wären. Solche Hoffnungen waren von Anfang an illusorisch, weil auch
in Frankreich die Immigration aus den französischsprachigen Ländern der Nachbar-
schaft, das heisst der Schweiz und Belgien, längstens zu einem Thema im Wirtschafts-
kampf geworden war. Ganz allgemein nahm man also in jüdischen Kreisen der
Schweiz gegenüber dem Druck aus Bern eine resignierte Haltung ein und stellte auch
im SIG und VSJF die Notwendigkeit der eidgenössischen Restriktionen nicht in
Abrede. «Aus geopolitischen, sozialen und finanziellen Gründen muss die Anzahl der
Flüchtlinge in der Schweiz reduziert werden. Die Bemühungen und Arbeiten der
Flüchtlingshilfe in der Schweiz können auch von den schweizerischen Gesandtschaf-
ten im Ausland unterstützt werden», wie ein Aide-Memoire des SIG-Präsidenten noch
im Mai 1939 festhielt. 35
Angesichts des Flüchtlingselends behalf man sich nicht ohne Erfolg mit einer
Politik von Fall zu Fall und intervenierte in Bern und bei einsichtigen Beamten, wie
dem St. Galler Polizeihauptmann Grüninger, der beide Augen zudrückte. Doch das
unerfreuliche Verhältnis zwischen Bern und Schweizer Juden hatte zur Folge, dass
sich der SIG nun schleunigst bemühen musste, die Beweislasten von sich abzuwälzen:
Einmal musste der SIG sich die finanziellen Mittel beschaffen, zum andern den Transit
vorantreiben, um die rund 2300 mittellosen von insgesamt 10'000 Flüchtlingen bald
weiterzubringen. Das grösste Hindernis erblickte der VSJF in der fehlenden Integrations-
möglichkeit, die man aus politischer Ohnmacht nicht öffentlich zu beanspruchen
wagte. Der einfachste und beste Weg, die Wunschlösung, die Flüchtlinge dauernd im
Land aufzunehmen, kam nicht in Frage, und so breitete sich, aus Angst vor Druck und
Reibung, unter den Schweizer Juden demjüdischen Emigranten gegenüber ein Gefühl
des Unbehagens und der vorwurfsvollen Ablehnung aus. Eine individuelle «Infiltration»
der Flüchtlinge, das heisst die Integration in den Produktions- und Arbeitsprozess, war
von Bern, das sich darin auch mit den Gewerkschaften sehr einig wusste, verboten.
Statt dessen hatte man, wie der VSJF klagte, für die wenig aussichtsreiche
Transmigration einen ungeheuren Aufwand an administrativer Kleinarbeit zu leisten,
der nervenaufreibend und kostenintensiv war. 36 Indessen gingen in Bern Judenpolitik,
Fremdenpolitik und Regulierung des Arbeitsmarktes Hand in Hand. Zur gleichen Zeit
weibelten dort die Beamten nach Berlin, wo die geheimen Vereinbarungen um den
berüchtigten I-Stempel verhandelt wurden.
Die Ängste der Schweizer Juden in diesem politischen Klima brachte das Israeli-
tische Wochenblatt in seinen Perspektiven für das Jahr 1939 auf einen Nenner. Es
nahm eine Visite des JDC-Direktors Bernhard Kahn in der Schweiz und den gleichzei-
tigen Aufenthalt von Michael Traub vom Jerusalemer Hauptbüro des Keren Hajessod
zum Anlass, die dringlichen Sorgen auszumessen. Dabei wurde die Forderung, die
Flüchtlinge im Lande selbst zu integrieren, sorgfaltig vermieden: Würden nicht in
allernächster Zeit die Möglichkeiten zur Auswanderung realisiert, trete eine Katastro-
phe von ungeheurem Ausmass ein. Es handle sich darum, neben einer sofortigen Hilfe
300 5. KAPITEL

in der Schweiz eine produktive Lösung zu finden. Es sei ausgeschlossen, dass Taus-
ende in den Durchgangsländern auf die Einreise in neue Zielländer und Arbeitsgebiete
warteten und inzwischen die Beträge, die für produktive Hilfe benötigt würden,
aufzehrten. Erfreulich sei hingegen die Koordination von zwei Aktionen, die aufeinan-
der angewiesen seien, nämlich die Mittelbeschaffung durch den Joint und der Aufbau
Palästinas, wohin eine grosse Zahl von Auswanderern gelenkt würden, die sonst in die
Schweiz gekommen wären. Gleichzeitig müsse das Leben der Juden in der Schweiz
die Abwehr des weitgehend importierten Antisemitismus verstärken und zum andem
jede Angriffsfläche für Vorhalte strikt vermeiden.37
Für den SIG und VSJF wurde die Andockung an die grossen internationalen
jüdischen Hilfsorganisationen finanziell und operativ zur Überlebensfrage. Der SIG,
der seit 1933 selbst jüdische Hilfswerke finanziert oder subsidiär Notaktionen im
Ausland unterstützt hatte, wurde nun selbst hilfsbedürftig. Die Hilfsgesuche an das
JDC und den Council of German Jewry datieren von Mitte August 1938 und führten
dazu, dass das JDC zwei Drittel der Aufwendungen übernahm und der SIG nur noch
einen Drittel der immensen Lasten für die jüdischen Flüchtlinge in der Schweiz zu
bestreiten hatte (ich werde weiter unten auf die finanzpolitische Seite der Schweizer
Flüchtlingspolitik noch gerrauer eingehen). Hinzu kam die Enttäuschung von Evian,
die alle Aussicht auf Weiterwanderung zusehends torpedierte. Nur war der SIG nicht
der einzige jüdische Verband in Europa, der in der Klemme war und um Hilfe gebeten
hatte. Angesichts der Not und nach dem Scheitern des IGCR nach der Londoner
Tagung riefen JDC und HICEM, deren Direktoren aus New York nach Paris anreisten,
zu einer Konferenz der jüdischen Organisationen in den verschiedenen europäischen
Ländern. Dringlichste Themen waren die verbesserte Koordination, der erwartete
Ausbruch des Kriegs und die damit verbundenen Hilfsstrategien. 38 Mayer, der mit
Guggenheim nach Paris reiste, hat sich die wichtigsten Punkte seiner Überlegungen
und der diskutierten Themen notiert, die auch Aufschluss geben, wie die Vertreter der
jüdischen Organisationen die Situation in der Schweiz einschätzten. Mayer hat in Paris
bestätigt erhalten, dass die Schweiz letztlich nicht ein mit Flüchtlingen arg gebeuteltes
Land war, wie dies Rothmund immer glaubhaft zu machen suchte. Aus seinen Notizen
wird deutlich, dass die Zusammenarbeit mit den internationalenjüdischen Verbänden
ihm die Augen öffnete für dringlichere Probleme als die Sorgen der Fremdenpolizei.39
Vorab glaubte Mayer an die Transitstrategie, aber nur solange sie den Verfolgten
nützlich blieb: Länder wie die Schweiz, Belgien oder Schweden hatten sicherzustellen,
dass die bedrängten Juden als erstes aus dem deutschen Machtbereich herausgenom-
men und dann auf die Weiterwanderung vorbereitet werden konnten. Die neutralen
Länder waren entschieden in diese Planung einzubinden und sollten gerade auf diese
Aufgabe international verpflichtet werden. Entgegen der widerborstigen Haltung der
Schweiz und trotz den schlechten Aussichten des IGCR seit der Londoner Tagung
einen Monat zuvor hielten Mayer und die meisten Vertreter an der internationalen
MINHAG SUISSE 301

ZUM BEISPIEL ST. GALLEN (1) des Vereins «Gerechtigkeit für Paul
Grüninger» eine materialreiche Studie vor-
DIE LAGE 1938: DIE FLÜCHTLINGE DES gelegt hatte.
POLIZEIHAUPTMANNS GRÜNINGER Rothmund hatte 1938/39 beim SIG wie-
UND DER JÜDISCHEN FLÜCHTLINGS- derholt und mit Druck angemahnt, «illegale»
HILFE ST. GALLEN Einreisen müssten aufhören, wenn nicht der
Aufenthalt von fremden Juden grundsätzlich
Paul Grüninger (1891-1971), Kommandant in Frage gestellt werden wolle. Man suchte
der St. Galler Kantonspolizei, liess 1938/39 also die illegalen Einreisen auch über die
mehr als 2000 Juden illegal in die Schweiz jüdischen Kanäle ins Ausland zu unterbin-
einreisen, indem er die Vorschriften der den. Saly Mayer notierte in seinen Aide-
Eidgenössischen Fremdenpolizei large aus- - memoires zu den Londoner IGCR- und Pari-
legte oder teilweise missachtete. Wegen ser JDC-Konferenzen diese Forderung und
«fortgesetzter Verletzung der Amtspflicht» hat diesen Druck aus Bern auch im SIG be-
wurde Grüninger auf Betreiben Berns vom kannt gemacht. In seinem Report an das
St. Galler Regierungsrat am 31. März 1939 JDC brachte er indessen Sympathie für
entlassen, vom St. Galler Bezirksgericht im Grüninger auf und hoffte besonders auf
Spätherbst 1940 gebüsst und schliesslich einen starken Druck der öffentlichen Mei-
aller Pensionsansprüche enthoben. Dabei nung, um die kantonalen Polizeichefs zu
machten der sozialdemokratische Regie- einer humanen Haltung und Praxis zu bewe-
rungsrat Valentin Keel und Sidney Dreifuss, gen. Mayer sah bei den kantonalen Polizei-
der Leiter der israelitischen Flüchtlingshilfe direktoren die grössten Chancen, das Diktat
St. Gallen, einen schwachen Eindruck, nach- aus Bern zu unterlaufen. Über Grüninger
dem sie zuerst Grüningers Tat gedeckt hat- und weitere Polizeikommandanten berichtet
ten. Im Verfahren gegen Grüninger un- er im Mai 1940 an das JDC, dass <<in spite of
berücksichtigt und später lange unbekannt all federallaws and rules the Cantonal chiefs
blieb, dass der Polizeihauptmann sich gar have prooved themselves strong enough to
mit Spendenappellen an Private gewandt extend dates of expulsion and internments».
hatte. Bemühungen, Grüninger voll zu Bemerkenswert schien Mayer, dass selbst
rehabilitieren und die ihm entzogene Pensi- einzelne bürgerliche Polizeidirektoren und
on zu gewähren, scheiterten zwischen 1968 Kommandanten humanitärer als das büro-
und 1971 am Widerstand in Bern und kratische Bern handelten und Sozialdemo-
St. Gallen, wenngleich auch die kantonale kraten in diesen Stellungen ohnehin Ver-
Regierung Grüninger ihre «Anerkennung>> ständnis für die Flüchtlinge hätten.
aussprach. Der in Israel mit der <<Medaille Im Kanton St. Gallen, wo Mayer selbst
der Gerechten» geehrte Grüninger verstarb wohnte, lebten rund 600 Juden. Ende Juli
1971. Der Konflikt zwischen Gesetz und 1938 betreute die Israelitische Flüchtlings-
Menschlichkeit, zwischen strengen Prinzi- hilfe St. Gallen 490 Flüchtlinge, deren Zahl
pien und humanitärem Gewissen, wieder- anfangs 1939 auf 950 hinaufschnellte. Inner!
holte sich teilweise auf der Ebene der Jahresfristverliessen 254 Personen den Kan-
Rehabilitation, die 1971 der St. Galler Kan- ton wieder, indem sie von anderen Fürsor-
tonsrat nicht weiterverfolgen wollte und die gen übernommen wurden oder, was zumeist
auch in Bem unter Bundesrat von Moos kein der Fall war, in europäische Staaten und
Gehör fand. 1993 erfolgte die «politische nach Überseeländern ausreisten. Im Mai
Rehabilitation» durch den St. Galler Regie- 1939 hielten sich in den Lagern Schönen-
rungsrat, nachdem Stefan Keller im Auftrag grund, Peterzell, Schäflisegg, Oberbistrich,
302 5. KAPITEL

Mörschwil und in zahlreichen Mietlogis der hilfsarbeiten zu begnügen: 53 Personen


jüdischen Flüchtlingshilfe 854 Personen auf; spielten Musik und Theater, 318 trieben
der SIG trug auch für das polizeilich beauf- Sport, 96 halfen bei Bauern aus, 30 standen
sichtigte Lager Diepoldsau die finanziellen bei Garagisten als dringend benötigte Auto-
Lasten. Zwei Jahre später, im Mai 1941, mechaniker zur Verfügung, 41 betätigten
waren es noch 570 Emigranten. Mühe mach- sich in Küchen und Gärten der Lager und
te den St. Galler Juden beispielsweise nicht Heime, und 14 arbeiteten im Büro der
nur die Beschaffung der Winterkleider für Flüchtlingshilfe. Mit diesen durch die Situa-
ihre Schützlinge, sondern die insgesamt tion erzwungenen «Beschäftigungen>> be-
schlechten wirtschaftlichen Aussichten und gnügten sich die meisten nicht und suchten
ein befürchteter Antisemitismus. In den klei- nach neuen Ausbildungen, die von der
nen Ortschaften lehnten die Gemeinden, so Flüchtlingshilfe als Selbsthilfe organisiert
der Bericht der Fürsorger im Mai 1939, eine wurde. In den verschiedenen Lagern wurde
«Infiltration zwischen Ortsansässigen und daher intensiv Sprach- und Umschulung
Flüchtlingen>> ab; die Meinungen innerhalb betrieben, indem sich die Flüchtlinge oft
der Flüchtlingshilfe gingen auseinander, ob selbst unterrichteten. 7 Sprachbegabte unter-
die Betreuten auf mehr oder weniger Orte zu richteten 135 ihrer Schicksalsgenossen in
verteilen wären. Keinesfalls auseinander- fremden Sprachen, 22 lernten das Schuhma-
reissenwollte man Familien, obwohl die cher- und 16 das Schneiderhandwerk, wäh-
Zumietung von geeigneten Unterkünften rend neun zu Coiffeuren ausgebildet wur-
teuer war, hatte es doch Grüninger ermög- den. Allein 80 Personen eigneten sich
licht, ganze Familien über die Grenze kom- landwirtschaftliche Kenntnisse an, vom
men zu lassen. Schwere Sorgen bereitete der Obst- und Gartenbau bis zur Bienen-, Geflü-
Israelitischen Flüchtlingshilfe ebenfalls die gel- und Kaninchenzucht In der Harfenburg
Beschäftigungslage. Nebst dem üblichen wurde eine Haushaltschule mit 26 Mädchen
Arbeitsverbot meldete sie auch für die wich- eröffnet.
tige berufliche Umschulung, die den Flücht-
ling auf die Emigration nach Übersee hätte
vorbereiten sollen, Schwierigkeiten, weil die Quellen: JDC # 972-74, <<The Refugees in
örtlichen Berufsverbände und Innungen dies Switzerland>> vom 1. 5. 1940; Bericht der Israeli-
nicht gestattet sehen wollten. tischen Flüchtlingshilfe St. Gallen vom 1. 5.
Unter den 649 Männern und 205 Frauen, 1939; und <<Ein Spiegelbild von 570 Emigranten>>
von denen über drei Viertel zwischen 16 und in St. Gallen vom April1941. Dazu die einschlä-
45 Jahre alt waren, figurierten neben 15% gige Dokumentation von Max Schmid, Demokra-
Berufslosen 20% Kaufleute, 4% Akademi- tie von Fall zu Fall, Repression in der Schweiz,
ker, 30% handwerklich-technische Berufe Zürich 1976. Zum Spendenappell siehe St. Galler
und 30% mit Berufen, die für landwirt- Tagblatt vom 16. 7. und 28. 10. 1991 und Jüdi-
schaftlich orientierte Siedlungen tauglich sche Rundschau Maccabi vom 24. 10. 1991. Im
waren. Die Flüchtlinge hatten sich aber mit weiteren siehe Stefan Keller, Grüningers Fall,
berufsfremden Freizeittätigkeiten oder Aus- Zürich 1993.
MINHAG SUISSE 303

Regelung der Migration fest. Sie waren sich auch einig, dass nur die weitgehende
Abtretung von entsprechenden Kompetenzen an den Hochkommissar diesen Transit
ermöglichen würde. Auch die «These, dass die Juden alles bezahlen sollen oder
können», sei zu korrigieren und statt dessen die Kosten jenen Regierungen zu über-
binden, die für die Quoten und Beschränkungen verantwortlich seien. Bei der prakti-
schen Verwirklichung der Migration war Mayer hin und her gerissen zwischen seiner
radikal liberalen Auffassung und einer von Interventionen geprägten Lenkung der
Migration. So meinte er, dass der Völkerbund, analog zu der East India Company als
einem historischen Vorbild, die Kolonisationsvorhaben mit qualifizierten Arbeitern
und Landwirten an die Hand nehmen solle. In der Schweiz und in andem Ländern
würden dafür Camps zur Umschulung und Ausbildung während eines längeren
Zwischenaufenthalts entstehen. Im Widerspruch zu dieser Idee gelenkter Massen-
transmigration stand indessen die von Mayer notierte Auffassung, die Rechtsstellung
der Emigranten in den Asyl- und Zielländern sicherzustellen und entschieden zu
verbessern. Er hielt denn auch die «Infiltration» oder Einzelwanderung für die bessere
Lösung und scheint nach wie vor an eine Rückkehr zu einer liberalen Haltung und
offenen Grenzen geglaubt zu haben. Bemerkenswert ist dabei, dass er im Forderungs-
katalog das individuelle Recht auf Arbeit betonte. Wiederum im Gegensatz dazu stand
die von ihm notierte dirigistische Verpflichtung der Emigranten zur beruflichen
Umschichtung in einem fest zugewiesenen Land, um den Rückfall in die <<jüdischen»
Handelsberufe zu verhindern. Zusammenfassend gesagt, zeigen die Notizen Mayers
die Kluft zwischen liberalem Wunschdenken und autoritär verordneten Restriktionen
an, die auch in der Schweiz ein Klima der Pressionen in Fremdenfragen erzeugten.
Beim kaufmännisch und praktisch denkenden Mayer ist in seinen Notizen zur Migration
deutlich das unbehagliche Schwanken zwischen der Hochhaltung von keynesianischen
Werten und einem Rückfall in präkeynesianische Illiberalität ablesbar.
Doch solche Überlegungen waren bloss theoretisch und erst noch illusorisch. Die
internationale und die schweizerische Politik verlangten nach «Lösungen», aber die
Politik in einer Welt abgeschotteter Staaten und nationaler Eigeninteressen blieb ohne
innere Logik. Das illustrieren zwei Belege, die auch die Problematik der individuellen
und massenweisen Lösung der Wanderung zeigen. Im Februar 1939 warnte die
Handelsabteilung des eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements vor Emigranten,
die mit Ausweisen von Schweizer Firmen in Überseestaaten eingereist waren und dort
als Vertreter die schweizerischen Produkte abzusetzen suchten. Einerseits waren diese
Trans- und Immigranten aus der Schweiz eine Konkurrenz für Vertreter mit Schweizer
Pass oder verfügten in den Augen der Handelsabteilung nicht über genügende kom-
merzielle und technische Qualifikationen. Zum andem förderte diese individuelle
Migration nicht nur die Ausreise von Flüchtlingen, sondern auch erfolgreich den
ebensosehr gewünschten Absatz von Schweizer Erzeugnissen. So blieb denn auch das
Zirkular an die Schweizer Konsulate in aller Welt widersprüchlich forrnuliert. 40
304 5. KAPITEL

Der andere Beleg ist die Aufzeichnung der merkwürdigen Begegnung des
eidgenössischen Polizeichefs mit den einzelnen Vertretern der jüdischen Organisatio-
nen während der Londoner IOCR-Konferenz. Dort führte Mayer Rothmund bei vier
namhaften Repräsentanten jüdischer Hilfswerke sowie einem Vertreter des Welt-
kirchenrates ein. Mayer hoffte vermutlich, Rothmund für die Aufnahme von jüdischen
Flüchtlingen und eine spätere Lösung optimistisch zu stimmen. Während man von
britischen und anderen Diplomaten nur unverbindliches Wohlwollen entgegennehmen
durfte, verkörperten die jüdischen Vertreter den guten Willen auch des SIG. Otto
Schiff (Präsident des German J ewish Committee) und Salomon Adler-Rudel (Direktor
des Council of German J ewry) scheinen dem forschen Vertreter der Schweiz so gut es
eben ging die Illusion genährt zu haben, es würden sich mit Geduld ohne Zweifel
Lösungen für die Transmigranten finden lassen. Bei allem Entgegenkommen gegen-
über der Schweiz musste es aber klar bleiben, dass eine Vorzugsbehandlung nicht
möglich sei, wie es dies schon der australische Botschafter gegenüber Rothmund klipp
und klar festgestellt hatte. 41
Besonders anzutun vermochte es dem verbissen lamentierenden Chefbeamten
dann der Europa-Direktor des JDC, den Mayer Rothmund während ihrer Rückreise in
Paris vorstellte. Morris Troper, dem der Wert und die Wichtigkeit des Alpenstaates als
Wartesaal für Flüchtlinge klar war, erkannte die brenzlige Situation Mayers und
machte frischen Wind, indem er Rothmund die lange Erfahrung und die finanziellen
Leistungen des Joint in Buropa vorrechnete und ihm versicherte, die Eidgenossen
könnten dem JDC mit ruhigem Gewissen ihre politischen Wünsche antragen, denen
man immer diskret und nach M/assgabe des Möglichen entsprechen würde. 42 Bei seiner
nächsten Schweizerreise, ein halbes Jahr später, erschien dannTroperauf Betreiben
Mayers im Bundeshaus, wo er auch von Bundesrat Baumann empfangen wurde. Dabei
ging es, nachdem die Migrationen weltweit am Versiegen waren, nur noch um die
jüdische Mitfinanzierung der schweizerischen Flüchtlingspolitik durch das JDC. Der
Krieg veränderte das Gesicht Europas, das sich den wanderungswilligen Flüchtlingen
nur noch als Fratze darbot.
Der Ausbruch des Krieges zerschlug die Hoffnungen auf eine schnelle Auswande-
rung zusehends, auch wenn, wie wir noch eingehender darstellen werden, geplante
Massenansiedlungen in Bolivien und Santo Domingo neue Hoffnungen weckten. Die
Schwierigkeiten der Emigration wuchsen jetzt unermesslich an, sowohl kostenmässig
wie reisetechnisch. Konnte zum Beispiel bislang ein Transrnigrant, der nach Palästina
gehen wollte, direkt über Triest nach Haifa reisen, so führte ihn der kriegsbedingte
Umweg während mehreren Monaten nach Mozambique oder auf eine pazifische Insel,
wofür in einer Unsumme von Kleinarbeit Transitvisen und Aufenthaltsgelder be-
schafft werden mussten. In zahlreichen Staaten in Übersee wurden die ohnehin nur
einen spaltbreit geöffneten Türen endgültig zugeschlagen, während Vichy-Frankreich
auf Betreiben Rothmunds wieder für die Durchreise geöffnet wurde. Die Entwicklung
MINHAG SUISSE 305

des Kriegs, besonders an der Westfront mit dem Zusammenbruch Frankreichs, drückte
auf die Stimmung. Auch die Besetzung von Kleinstaaten, Norwegen im Norden,
Belgien und die Niederlande im Westen, bestätigte die Richtigkeit der Überseethese.
Jene Flüchtlinge, die in diese europäischen Länder migrierten, sassennun in der Falle.
Dass man selbst in diese Falle geraten könnte, ist gerade von den Aktivisten in der
Flüchtlingshilfe empfunden worden, die um das Schicksal der jüdischen Hilfs-
organisationen im Ausland wussten. Der VSJF verlegte in Erwartung eines deutschen
Einfalls in die Schweiz seine Zentralstelle am 20. Mai 1940 von Zürich nach Lausan-
ne. Besonders galt der erneut auftreibende Antisemitismus, der 1940/41 seine fortge-
setzten Angriffe gegen den jüdischen Flüchtling richtete, den Schweizer Juden als
trojanisches Pferd des Nazistaates. Als Lehre aus Skandinavien und den Weststaaten
wurde von der jüdische Presse an die Adresse der Schweiz wiederholt und sorgenvoll
auf die tragische Verblendung hingewiesen: die Rolle und Gefahr einer fünften Kolon-
ne durch Nazideutsche im eigenen Land wurde hervorgehoben und die irrige Meinung,
die Flüchtlinge bildeten eine Gefahr, als tarnende Ablenkung durchschaut. Um so
mehr fürchteten SIG und VSJF, dass diese Verblendung auch in den Überseestaaten
um sich greifen könnte, besonders in Mittel- und Südamerika, wo eine antisemitische
Propaganda am Werk war. Dies würde, wie das Israelitische Wochenblatt informierte,
die noch bestehenden Pläne für Honduras, Santo Domingo, die Philippinen oder
Alaska gefährden. 43
Wie unüberwindlich die Schwierigkeiten auch für die internationalen Hilfswerke,
von denen der SIG und VSJF weitgehend abhingen, mit dem Krieg wurden, zeigt die
Anfrage der HICEM für Schiffsraum, der für zivile Überfahrten zusammenschrumpfte.
Die HICEM suchte die kriegsbedingte Konfiskation von Personenraum wettzuma-
chen, indem auf jedem Frachter einige Dutzend Emigranten mitfuhren. Das Hilfswerk
hoffte auch von der Schweiz auf eine Zusage für jene Schiffe, die unter der Landes-
flagge oder dem Emblem des Roten Kreuzes Waren transportierten. Doch der VSJF
musste nach entsprechender Anfrage in Bern der HICEM mitteilen, dass «unsere
Regierung diese Schiffe nur für Wareneinfuhren und Handelsexporte brauchen will». 44
Aber auch das JDC stand nun unter massivem finanziellen Druck, nicht nur wegen der
sprunghaft zunehmenden Not der europäischen Juden in den deutsch besetzten Staa-
ten, sondern auch wegen eines seit 1940 zunehmend populär werdenden Antisemitismus
in den Vereinigten Staaten selbst. In einer Serie von Umfragen sympathisierten nicht
weniger als ein Drittel bis zur Hälfte der Amerikaner mit antisemitischen Bewegun-
gen, ein Umstand, der auch den Schweizer Konsul in New York veranlasst hat, die
Zunahme und Propaganda judenfeindlicher Organisationen ausführlich dokumentiert
nach Bern zu melden. 45 Präsident Roosevelt schwankte zeitweise zwischen anti-
semitischen und antideutschen Stimmungen.
All dies drückte in den Jahren 1940/41 bei den jüdischen Organisationen in den
USA auf die Spendenfreudigkeit, die Sammelergebnisse und die Verwendung der
306 5. KAPITEL

VON PRAG ÜBER ZÜRICH NACH


MONTEVIDEO: SCHWEIZER TRANS-
MIGRATION AM BEISPIEL DER
TSCHECHOSLOWAKISCHEN
FLÜCHTLINGSFÜRSORGE 1938

Die Demokratische Flüchtlingsfürsorge der derten vorübergehend oder endgültig nach


Tschechoslowakei wurde Anfang März europäischen Ländern weiter, 55 Personen
1933 in Prag als überparteiliche Hilfsstelle gelang der Sprung nach Übersee, vor allem
für die deutschen und jüdischen Flüchtlinge nach Bolivien, wo auch der Wiener Maccabi
gegründet. Finanziert wurde die Fürsorge ein Siedlungsprojekt betrieb. Die Fahrt die-
von «amerikanischen und englischen Freun- ser Auswanderer führte zunächst nach Zü-
den>>, das heisst wie der VSJF aus Geldem rich, wo sie vom VSJF oder SHEK über-
des JDC und CGJ. Mit den Ereignissen vom nommen und dann über iberische Häfen in
September 1938, nach dem Einmarsch der Auswanderergruppen eingeschleust wurden.
deutschen Wehrmacht, war das Hilfswerk Wie beim VSJF war es besonders die
gezwungen, von seinen Büros in Frankreich, HICEM-Gruppe, die der Prager Fürsorge die
Grossbritannien und den skandinavischen Verwirklichung der Ausreisen ermöglichte.
Staaten aus zu operieren, wo Möglichkeiten Für eine siebenköpfige Familie, die über
für Niederlassung und Arbeit gesucht wur- Zürich nach Montevideo reiste, zahlte die
den. Die in Paris, London, Oslo und Stock- Prager Fürsorge 44'000 Kronen, nämlich die
holm eilig eingerichteten Büros hatten den Fahrt nach Zürich, das Landegeld in
Sinn, die Weiterwanderungen und Not- Südamerika und die Anschlussfahrt von
unterstützungen aufrechtzuerhalten und die Montevideo nach Asunci6n. Das SHEK und
Arbeit den dort ansässigen Hilfswerken zu der VSJF kamen für den Aufenthalt in Zü-
übergeben. Dem tschechischen Hilfswerk rich und die Fahrt von der Schweiz nach
gelang es, «von Oktober 1938 bis Ende Jahr Lissabon auf, die HICEM sorgte für die
mehr als die Hälfte seiner ihm anvertrauten Schiffspassage über den Atlantik. Aus
Schützlinge wegzubringen>>. Nicht nur die schweizerischer Sicht handelte es sich hier
Flüchtlinge waren gezwungen, sich vor dem um Transitreisende und nicht um Flüchtlin-
deutschen Zugriff von neuem in Sicherheit ge, die «illegal>> ins Land kamen.
zu bringen. Auch die Aktivisten der Demo-
kratischen Flüchtlingshilfe erlitten selbst das
Schicksal von Flüchtlingen, denen sie lange
und erfolgreich zu helfen vermocht hatten.
1938 wandte die Demokratische Quellen: YIVO, Archives, Kurt R. Grossmann
Flüchtlingsfürsorge insgesamt 406'000 Kro- Papers, Nr. 3, «Jahresbericht der Demokratischen
nen auf, um neben den zahlreichen Unter- Flüchtlingsfürsorge 1938>>, maschinenschriftlich
stützungen auch 128 Personen die Auswan- publiziert durch das Pariser Büro; und <<5 Jahre
derung zu ermöglichen. 75 Menschen wan- Flucht, Not, Rettung>>, März 1938.
MINHAG SUISSE 307

Gelder, die nun auch spärlicher in die schweizerischen Taschen flossen. Der JDC-
Beitrag, den der Joint aus Bankkrediten vorschoss, fiel bis 1942 auf etwas mehr als
einen Zehntel von jenen Zuwendungen ab, die noch 1939 auf die VSJF-Konten
überwiesen worden waren. Mit diesen geschrumpften Finanzen, die Troper bei seinem
Besuch im Bundeshaus im Februar 1940 offen angekündigt hatte, schwand auch die
Aussicht des SIG, sein Versprechen an die eigene Regierung in Bem einlösen zu
können, die Flüchtlinge zu unterhalten und zu transmigrieren. Die wenig standhafte,
aber perspektivisch durchaus richtige Option des SIG, die jüdischen Flüchtlinge nach
Übersee zu schleusen, um das Tor in die Schweiz offen zu halten, schien 1941/42
endgültig gescheitert.
Bei der vorsichtigen Taktik des SIG-Präsidenten ist es schwer auszumachen, was
zwischen ihm und dem Polizeichef genau besprochen und vereinbart wurde und
welche Haltung die Schweizer Juden dazu einnahmen. Jedenfalls hat Mayer erkannt,
dass der Chefbeamte das Heft in der Hand hatte und nicht der vorgesetzte und
verantwortliche Bundesrat, den Mayer dem JDC als eine farblose Kopie von «Neville
Chamberlain nur ohne Schirm», doch ebenso schwach und humorlos beschrieb. 46
Mayer und Rothmund geben das Bild eines seltsamen Paares ab, das im Grunde keines
war. Denn der Vorgang ist zuerst funktional zu interpretieren und nicht auf die
beiderseits schwierigen Persönlichkeitsprofile der zwei Männer allein zu reduzieren.
Er bringt das Spiel von Macht und Ohnmacht zum Ausdruck, das die Beziehung
zwischen Bem und einem instrumentalisierten SIG charakterisiert. Das von den Schwei-
zer Juden eingehaltene Niedrigprofil, das durch den nazistischenDruck auf die Schweiz
gerechtfertigt schien, zog in seiner Logik ein ängstliches «Verhandeln nach allen
Seiten» nach sich. Wiederum muss dies aus der Situation des SIG verstanden werden,
der im Krieg erst recht unter Druck geriet, den eidgenössischen Imperativen loyal zu
folgen und moralisch wie physisch für die Flüchtlinge einzustehen. Wie weit man sich
in der Flüchtlingspolitik vom stark auslandorientierten Bundeshaus bestimmen liess,
hing also einerseits von der internationalen Politik und der Kriegsentwicklung ab.
Andererseits war es aber eine Frage der eigenen moralischen Integrität, die Grenzen
setzte. Denn der SIG war nur dann vor sich selbst wie vor der heftigen innerjüdischen
Kritik legitimiert, wenn er für die Elenden und Verfolgten einzustehen fahig blieb.
Der SIG hatte sich mit seinen «Versprechen» weit, wenn nicht allzuweit vor-
gewagt: Von Bem übernahm man halb freiwillig, halb erpresst die gesamte fmanzielle
und operative Verpflichtung, die Flüchtlinge zu betreuen und weiter zu befördern.
Drückendes Argument war wie immer die vielfach eingesetzte Drohung, die Flüchtlin-
ge würden den Antisemitismus provozieren. Die «Freundschaft» Mayers mit Rothmund
bestand weitgehend in jener Beschwichtigung, die ganz allgemein die gesamte SIG-
Politik der Vermeidung von Antisemitismus kennzeichnete. Der Verzicht auf Opposi-
tion gegen die flüchtlingspolitischen Imperative aus Bem, gegen den strikten Transit-
grundsatz, suchte einer judenfeindlichen Asyl- und Aufnahmepolitik den Wind aus
308 5. KAPITEL

den Segeln zu nehmen. DieSIG-Strategie kalkulierte dabei mit der riskanten Annahme
einer erfolgreichen Auswanderung der Flüchtlingsmasse. Nach der enttäuschend ver-
laufeneu Londoner Konferenz und dem Ausbruch des Kriegs wusste man indes nicht,
wie weiter: «Entweder wir können mit dem beispiellosen Opferwillen der Schweizer
Juden und der kräftigen Unterstützung des Joint die Flüchtlingshilfe weiterführen,
woran zu zweifeln ist, oder wir müssen an den Bund gelangen und ihm die Unmöglich-
keit der Fortführung, mindestens im bisherigen Umfange, bekanntgeben und ihm in
der Hauptsache das Weitere überlassen [ ... ] oder es muss durch forcierte Auswande-
rung Luft geschaffen werden.»47

ZIONISTISCHE AUSWANDERUNG, LEGAL UND ILLEGAL:


«SCHWEIZER» TRANSMIGRATION WÄHREND DER VIERTEN ALIJA

Von den 230'000 Personen, die seit 1933 aus dem Reichsgebiet ausreisten, gelangten
bis 1941 ein Viertel oder etwas mehr als 55'000 Personen nach Palästina. Hinzu-
gezählt werden müssen in der gleichen Periode 9500 Österreichische und 11'000
tschechische Juden. Gleichzeitig riss auch der Strom osteuropäischer Einwanderer in
das jüdische Palästina nicht ab und blieb weiterhin dominierender Faktor. Diese grosse
Migrationswelle wird heute für die Zeit von 1933 bis zur Gründung des Staates Israel
unter der vierten Alija summiert, die 335'000 Immigranten ins Land brachte. In dieser
Periode verzeichnete der VSJF rund 2000 Transrnigranten, die nach Palästina weiter-
reisten. Während den dreissiger Jahren sind allein eine Viertelmillion Menschen
eingewandert, und bis zum Kriegsausbruch in Europa verdoppelte sich damit die
jüdische Bevölkerung von 250'000 auf eine halbe Million Personen, von denen
120'000 in 233 landwirtschaftlichen Siedlungen lebten. (JeweJbemtd Industrie wuch-
sen rasch, so dass 1938 in 5600 gewerblichen Unternehmungen mit 30'000 Arbeitern
und Arbeiterinnen ein Produktionswert von mehr als neun Millionen Pfund Sterling
erwirtschaftet wurde. Zwei von drei Industriearbeitern des Landes waren Juden, wäh-
rend 71 Prozent aller Betriebe sich in jüdischem Besitz befanden. 48
Kein Wunder, dass im SIG und VSJF, die seit 1929 mit der Jewish Agency als
Mitglied verbunden waren, die massgebenden Persönlichkeitentrotz aller Neutralitäts-
vorbehalte der zionistischen Sache gegenüber ein gesteigertes Interesse an Palästina
zeigten. Sylvain S. Guggenheim, damals Präsident der ICZ-Fürsorgekommission und
bald des VSJF, bereiste im Frühling 1937 das Land auf Einladung des Keren Hajessod,
dessen schweizerischer Sektion Guggenheim als Vizepräsident vorstand. Dass die
mehrwöchige Reise zur gleichen Zeit stattfand wie eine Kreuzfahrt von Bundespräsi-
dent Motta wurde in der jüdischen Presse als Bedeutsamkeit vermerkt, auch wenn
MINHAG SUISSE 309

Motta seinen Fuss nur einen Tag auf den Boden des Heiligen Landes setzte, um den
Kinneretsee mit Tiberias und Kapernaum zu besuchen. Guggenheim war klar, dass das
jüdische Palästina, mit allen seinen sozialen und kulturellen Leistungen, nicht nur die
ideale Lösung der «Flüchtlingsfrage» in der Schweiz bot, sondern auch der VSJF-
Armenfürsorge andere Dimensionen eröffnen konnte. Der Jischuw habe in sozialer
und fürsorglicher Hinsicht keine Tradition und könne unbeschwert von alten Überlie-
ferungen und Vorurteilen konstruktive Sozial- und Eingliederungspolitik betreiben.
«An Stelle der bei uns meist üblichen Unterstützungen treten dort Darlehen, hand-
werkliche Ausbildung und Arbeitsbeschaffung. Erleichtert wird die Arbeit auf diesem
Gebiet durch das völlige Fehlen des Wander-Armenproblems, das unsere hiesige
Arbeit ungeheuer kompliziert und belastet.»49 Auch stach Guggenheim die Frauen-
arbeit, das Kulturleben und die disziplinierte Jugend in die Augen. Die Förderung des
Aufbauwerks in Palästina und der wirtschaftliche Schwung des Jischuw wurden also
zusehends mit den Fürsorge- und Flüchtlingsproblemen der Schweizer Juden im
eigenen Land verknüpft.
Der Jischuw zeigte zwar nach 1930 beträchtliche ökonomische Erfolge vor, und
die früheren Rückschläge der Auswanderung während der Wirtschaftskrise wiederhol-
ten sich nicht. Doch nicht minder ausschlaggebend für den Wanderungsstrom war das
Quotensystem der britischen Mandatsregierung, die im Stil des Appeasements zuneh-
mend einer Politik der Beschwichtigung der arabischen Seite gegenüber zuneigte.
1933 wurde die Zulassung für jüdische Immigranten restriktiv geregelt, dass die
Mandatsregierung halbjährlich eine bestimmte Anzahl von Zertifikaten ausstellte, die
von der Jewish Agency zu verteilen waren. Die Agency teilte diese Zertifikate ihren
jeweiligen Repräsentanten in den einzelnen Ländern zu. Nachdem London weitgehend
aus politischen Gründen in den Wintermonaten 1935/36 die Einwanderungsquoten
einschränkte, hörte Palästina auf, Hauptziel der gelenkten Auswanderung zu sein. Im
Gefolge der arabischen Revolten von 1936/37 nahm der politische Druck durch die
arabischen Staaten, die mit Hitler liebäugelten, erheblich zu und führte seitens der
Briten zu einer Vermeidungspolitik, die am Vorabend des Kriegs im Weissbuch von
1939 gipfelte.5° Das Weissbuch rief unter den Juden weltweit heftige Proteste hervor.
In der Schweiz verurteilte auf dem Forum der Zürcher Zionisten Nahum Goldmann
das Weissbuch als Verletzung des Mandats und erklärte unter tosendem Beifall die
legale und illegale Einwanderung als gleichbedeutend. Die eidgenössischen Behörden
hatten diese öffentlich angesetzte Kundgebung zunächst untersagt, worauf sie im
Volkshaus privat unter «geschlossenem Charakter» durchgeführt werden musste. Mit
dem Ausbruch des Kriegs ordneten sich aber die jüdische Politik und die Zionistische
Organisation, die im August 1939 ebenfalls in Zürich zum letzten Mal vor der
Vernichtung tagte, erzwungenermassen den alliierten Wünschen unter.51 Palästina
entfiel also mehr und mehr als offenes Zielland, und bereits seit Anfang 1936 verschob
sich der Schwerpunkt der Emigration auf die Überseeländer.
310 5. KAPITEL

Die Bemühungen um eine organisierte Auswanderung der deutschen und nach


1938 auch der Österreichischen und tschechischen Juden nach Palästina waren von
zwei unterschiedlichen Konzepten geprägt. In den Plänen der Zionistischen Vereini-
gung für Deutschland, die nach den Leitideen Arthur Ruppins eine geordnete und
langfristig angelegte Emigration durchführen wollte, spiegelt sich die mehrheitliche
Politik der Zionistischen Organisation. Die ZO und das Palästina-Amt der Jewish
Agency wollten die Alija in einem angemessenen Verhältnis zur Bevölkerung und
Absorptionskraft des Landes vonstatten gehen lassen. Vorbereitung, Auswanderung
und Einordnung sollten in einem inneren Zusammenhang stehen und so der
Migrationsprozess auch nach aussen hin geordnet ablaufen. Ruppin und seine
Gesinnungsgenossen sprachen von 200'000 Menschen, die im Verlaufe von fünfbis
zehn Jahren zu einem grösseren Teil Platz in Palästina finden würden. Die Massen-
flucht, wie sie nach den Reichstagswahlen im März 1933 eingesetzt hatte, war in den
Augen der jüdischen Führung zu drosseln und in gelenkte Emigration überzuführen.
Diese Politik bestimmte nicht nur die Bemühungen der deutschen Juden und ihrer
Organisationen, sondern ganz allgemein die jüdischen Gemeinschaften in den europäi-
schen Ländern, so auch den SIG und den VSJF.
Im Gegensatz dazu - wenn auch nur auf den ersten Blick - standen die radikalen
Lösungen der revisionistischen Bewegung von Jabotinky, die in Deutschland als
Staatszionistische Bewegung unter Georg Kareskis Führung auftrat und in der Schweiz
durch den Basler Rudolf Reuben Hecht vertreten war. Die Revisionisten forderten nicht
nur die Festschreibung von politischen Maximalzielen für Palästina, sondern riefen auch
zu einer umfassenden wirtschaftlichen Liquidation jüdischer Kapitalien und der totalen
Auswanderung der Juden in Deutschland auf. Dieser Aufruf von 1935, der auch als
Appell an die Regierungen gedacht war, erregte Widerspruch weiter jüdischer Kreise, die
ihre verbrieften Rechte als deutsche Staatsbürger nicht unwürdig und freiwillig
· hinschmeissen wollten. Doch auch das revisionistische Konzept der Migration musste
von einer mehr wirklichkeitsbezogenen Aufnahmekapazität des Jischuw ausgehen, nur
schätzte man diese grösser ein, als es die übrigen Beobachter taten.52
Durch die Schweiz sind in der Periode der grossen Alija zwar zahlreiche Auswan-
derer gereist, aber nur wenige blieben vorübergehend hier als eigentliche Transrnigranten,
die vom VSJF als Flüchtlinge oder asylverlangende Emigranten erfasst wurden. Von
1933 bis 1939, das heisst in der Zeit sprunghaft zunehmender Einwanderung in
Palästina, waren dies nicht einmal500 Personen, die als vom VSJF betreute Flüchtlin-
ge und Emigranten nach Palästina gelangten. Nach dem Krieg sollten es rund zwei-
tausend Personen sein, die in der Schweiz auf ihre Ausreise nach Palästina bzw. Israel
warteten. Diese unterschiedlichen Zahlen zeigen, dass die Migration von Anfang an
gelenkt wurde und die Auswanderer schon in ihren Herkunftsländern pädagogisch,
fmanziell und technisch auf ihre Auswanderung vorbereitet wurden. Die mit Zertifikaten
und Transitvisa versehenen Gruppen- und Einzelreisenden bildeten vorwiegend den
MINHAG SUISSE 311

Teil, der die Schweiz nur durch das Zugfenster wahrnahm. Erst die ab Anfang 1938
verstärkte Drangsalierung durch die deutschen Machthaber und die britische Weissbuch-
Politik engten den Spielraum der Jewish Agency ein, bis dann mit dem Reichspogrom
vom November 1938 die Planung der Wanderung in panikartige Fluchtbewegung
umschlug.
Angesichts der aussichtslosen Situation wurde die Errichtung von Transmigrations-
lagern ausserhalb des Reichs zu einem erklärten Ziel der jüdischen und zionistischen
Wanderungsorganisatoren. Aus dem erzwungenen Nachtasyl in der Schweiz ergaben
sich mehrere Konsequenzen für die zionistische Sache. Einmal sind 1938 Versuche zu
illegalen Wanderungsaktionen festzustellen, die von verschiedenen Flügeln der Zionisten
ausgingen. Zum andern wurde im Verlaufe der Kriegsperiode die Hachscharah-Bewe-
gung, deren Zweck die berufliche Umschichtung und Vorbereitung für den land-
wirtschaftlichen und technischen Sektor war, in der Schweiz intensiviert; dies verlangt
im besonderen, auch einen Blick auf die Jugendbewegungen des Hechaluz und Bachad
zu werfen. Im weiteren spielte die Schweiz auch als Finanzplatz eine kleine Rolle für
den sogenannten Havarah-Transfer, der hier zwischen 1936 und 1939 eine gewisse
Bedeutung erlangte.

Alija-Beit-Aktionen in der Schweiz

Die teilweise erfolgreichen Versuche einer illegalen Einwanderung in Palästina setzten


Ende 1937 irrfolge der britischen Restriktionen gegenüber jüdischen Einwanderern
ein. Sie haben vor dem Krieg zahlenmässig kein grosses Gewicht erhalten und gingen
teilweise von Aktivisten der dissidenten Revisionisten aus, die sich 1935 kurz vor dem
19. Kongress in Luzem von der ZO abgespalten hatten. Die Fortsetzung der illegalen
Einwanderung nach dem Krieg stand politisch unter dem Vorzeichen, dass die Briten
die Weissbuch-Politik von 1939 fortsetzten und den Holocaust als moralische Heraus-
forderung zu ignorieren schienen.53 Für die frühesten illegalen Migrationen von der
Schweiz aus liegen zwei markante Fallbeispiele vor, die einerseits die Rivalitäten und
Missverständnisse zwischen den beiden Aktivistenkreisen illustrieren, zum andem die
ambivalente Haltung Rothrnunds diesen illegalen Versuchen gegenüber dokumentie-
ren. Ausserdern wird sofort deutlich, dass der illegale Transit für die Schweiz zwei
Seiten hatte, nämlich die legale und illegale Einreise in die Schweiz, zum andem die
von Bern gern gesehene, aber illegale Ausreise aus dem Land.
Im Januar 1939 erhielt Rothmund durch Carl Lutz, damals auf Posten im Schwei-
zer Konsulat in Tel Aviv, Kenntnis von einem Plan, «sämtliche in der Schweiz
befindlichen jüdischen Flüchtlinge in grösseren Sammeltransporten nach Palästina zu
transferieren». 54 Vortragender des Evakuierungsplanes war Rudolf (Reuben) Hecht,
der selbst im heimlichen Auftrag des Betar oder der «Jungrevisionisten» handelte,
312 5. KAPITEL

unter denen sich Namen wie William Perl oder Izchak Schamir aus dem Irgun finden,
die später im Kampf gegen die Briten illegale und terroristische Taktiken benutzten.
Hecht (1909-1993) wurde in Antwerpen geboren, wuchs als Sohn des Inhabers der
Reederei «Neptun» in Basel auf, hatte einen Schweizer Pass und wurde in späteren
Jahren Unternehmer in Haifa und enger Berater von Menahem Begin. Der Betar
operierte anfanglieh von Wien aus, wo die Aktion durch Perl und Bernard Storfer
begründet wurde, in deren Auftrag auch Hecht arbeitete.
Hecht bemühte sich, dem Polizeichef in Bern einzureden, das Vorhaben sei auf-
grunddes Mandats von 1920 nicht illegal, habe aber mit dem offiziellen Palästina-Amt
der ZO nichts zu tun. Das Angebot, auf nach Süden durchreisende Transporte eine
grössere Anzahl in der Schweiz lebende Flüchtlinge aufspringen zu lassen, war dem
Polizeichef sicher ein angenehmer Köder. Rothmund scheint auch anfanglieh gegen
eine Zusammenstellung von den ersten 142 Personen für die Ausreise nichts ein-
gewendet zu haben. Er blockierte aber den Transport, als ihm die «Illegalität» ruchbar
wurde, indem er sich weigerte, die für den Transit notwendigen Rückkehr-Visa
auszustellen. Hecht versuchte, über den SZF-Präsidenten Briner Rückkehr-Visa zu
erhalten, wobei dem Zürcher Regierungsrat vermutlich gefalschte Papiere des franzö-
sischen Innenministeriums vorgelegt wurden. Rothmund, von Briner ins Bild gesetzt,
forderte zunächst aus London bei dem ihm befreundeten Gustav Kullmann, Adjunkt
des Hochkommissars für Flüchtlinge, gerrauere Informationen über die illegalen Trans-
porte an und nahm mit dem französischen Botschafter Rücksprache, die entsprechend
negativ ausfielen. Gleichentags noch liess der Polizeichef in Zürich das Emigrations-
büro von Hecht schliessen und drohte Massnahmen für den Fall an, dass «weitere
illegale Transporte von der Schweiz aus oder durch die Schweiz organisiert werden
sollten». An SIG-Präsident Mayer, der hinsichtlich illegaler Auswanderungen beide
Augen zudrückte, liess Rothmund diskret eine Kopie des von der Polizeiabteilung
protokollierten Vorgangs gehen. 55
Doch deutete Rothmund wenige Monate später selbst in einem Schreiben an den
Schweizer Gesandten in Rom an, wie gerne er diese Transporte verwirklicht gesehen
hätte: nachdem man mit den Aussichten auf eine zügige Emigration gescheitert sei und
der SIG im Einvernehmen mit der Jewish Agency diese Transporte auch «unter der
Hand führen möchte», habe er keine Veranlassung, dies weiterhin zu verhindern,
wolle aber nichts davon wissen. Die Reaktionen auf die britische Weissbuch-Politik
sind in diesem Bedauern unüberhörbar. Auch KuHmann in London, der im Oktober
Rothmund die geforderte Auskunft über das Weissbuch und die britisch-jüdischen
Kontroversen zu den illegalen Transporten übermittelte, hatte geraten, offiziell keine
Politik der Kollision gegenüber britischen Interessen zu betreiben, aber gleichzeitig
auch die Vorbereitungen zu den Transporten nicht zu behindern.56 Ohne Zweifel hat
Rothmund die diplomatische Lektion, die nur in seinem Interesse war, zu spät begrif-
fen.
MINHAG SUISSE 313

Die Schliessung des Zürcher Büros von Hecht hat die revisionistische Seite keines-
wegs abgehalten, auf anderen Umwegen die illegale Einwanderung, die sogenannte Alija
Beit, zu betreiben. Auf dem Transitplatz Schweiz führte sie aber zu missverständlichen
Auswirkungen, da Hecht offenbar glaubte, die Schliessung sei von anderen jüdischen,
dem Misrachi nahestehenden Kreisen inszeniert worden, die gerade ein eigenes Alija-
Beit-Unternehmen ausführten. In der gleichen Stadt, an der Splügenstrasse, leiteten
nämlich Ernst Fink und Hermann und Gusti Bornstein-Fink eine Palästina-Überfahrt, die
im Frühling 1939 mit dem Dampfer Agliazoni 460 Personen von Fiume an die nah-
östliche Küste transportierte und dort absetzte. Auf den Plan einer Auswanderungsaktion,
die als Ziel China vorschob, wurden die drei Schweizer von Wiener Emigranten gebracht,
die im Wiener Makkabi mit solchen Aktionen bereits tätig gewesen waren. Hecht und
sein Kreis in der Schweiz sabotierten das Unternehmen, weil sie fälschlicherweise
meinten, dass Fink ihr eigenes Unternehmen bei Briner verraten hätte. Die «Schützen-
gasse» denunzierte daher die «Splügenstrasse» in Rom, doch bevor die Meldung in der
italienischen Hauptstadt eintraf, waren 210 Auswanderer aus der Schweiz mit ihren
falschen Schiffskarten bereits in Fiume, wo die italienische Polizei sofort weitere 250
Flüchtlinge aus eigenen «Beständen» auf das Schiff nachschob. Nach dieser Nötigung
und trotz aller Hindernisse nahm die 38tägige Fahrt, während der auch noch der Funk-
kontakt sabotiert wurde, ein glückliches Ende. 57 Nach dem Kriegsausbruch sind
schliesslich weitere Aktionen von der Schweiz aus unterblieben.
Obwohl die Alija Beit, gerade auch auf dem Weg über die Schweiz, aktions- und
zahlenmässig nicht grossen Umfang annahm, bringt sie deutlich die Wichtigkeit für
Rettungsaktionen in den Blick. Denn es handelte sich im Fall der «Splügenstrasse» in
erster Linie darum, Juden aus deutschen KZs herauszuholen und in die Schweiz zu
bringen (auch mit Hilfe deutscher Helfer). Die mit der Realisierung verknüpften
Bedingungen brachten jedoch die Organisation auf den Gedanken, die Weiterreise
selbst zu betreiben. 58 Um die Auslösung aus Deutschland zu ermöglichen, benötigten
nämlich die Aktivisten für die Einreise in die Schweiz sogenannte Vorvisa eines
Drittstaates. Machbar erschienen den jüdischen Helfern die Auslösung aus dem KZ
und die Garantie der Durchreise in der Schweiz. Die «Splügenstrasse» oder die linken
Zionisten mit Sagalowitz und Veit Wyler beschafften sich daher solche Visa bei den
Konsulaten südamerikanischer Staaten in Italien und Frankreich, und zwar gleich
bündelweise. Diese wurden bestechlichen Beamten abgekauft und waren zumeist
blanko ausgestellt. Zionistisch gesinnte Schweizer zögerten nicht lange, diese Rettungs-
methode zu nutzen, sei es aus verwandtschaftlichen oder ideologischen Motiven, und
gaben die Visa weiter an jugendliche oder jüngere Bezüger, die Ungewissheiten und
Strapazen einer Reise auf sich nehmen konnten. Soweit diese zionistischen Zellen es
vermochten, suchten sie die Verwendung dieser Vorvisa zu kontrollieren, um dem
durch Schlepper und private Anwälte oft betriebenen Missbrauch des Profits einen
Riegel zu schieben.
314 5. KAPITEL

Entscheidend war also die Rettung von Juden aus Deutschland, unbesehen davon,
welches wirkliche oder vermeintliche «Zielland» bereit war, Vorvisa oder gar Pässe
auszustellen. Wyler listet auch die unterschiedlichen Bedingungen einzelner Konsulate
und Länder auf: zum Beispiel Brasilien, das nur Katholiken aufnahm, weshalb gekaufte
oder gefälschte Taufscheine benötigt wurden; oder Argentinien, wo der Kauf land-
wirtschaftlicher Böden im Wissen getätigt wurde, dass es fiktives Land für ebenso fiktive
Bauern war; oder schliesslich Kuba, dessen quasi legale Korruption sich das «Reisebüro»
Lubin in Havanna als Nische nutzbar machen konnte.59 Es waren auch zionistische
Organisationen, vorab der Hechaluz, die während des Kriegs einen Kinder- und Jugend-
schmuggel organisierten, der von Antwerpen über französischen Boden nach Porrentruy
im Jura lief.
Die jungen Flüchtlinge, deren illegale «Einschleppung» die Fremdenpolizei gerne
als legitimierenden Beleg für ihre Härte zitierte, wurden in Hachschara-Betrieben oder
Heimen untergebracht. Wenn es sich um illegale Flüchtlinge handelte, so suchten die
beteiligten Stellen möglichst rasch, diese kleinere Gruppe wieder in eine gelenkte
Migration einzubinden. Dies galt um so mehr für die normalerweise bereits in Deutsch-
land oder Österreich betriebene legale Lenkung der Alija. Dabei spielte das Aus-
bildungswerk der zionistischen Jugendorganisationen eine zentrale Rolle. In den Lehr-
stätten des weltlich orientierten Hechaluz und des religiös ausgerichteten Bachad
wurden Anwärter auf die von der JA verteilten Palästina-Zertifikate in der Landwirt-
schaft, im Handwerk und in der Sprache ausgebildet, um den Ansprüchen des Aufbaus
zu genügen. Die Entstehung von Alija-Zentren in der Schweiz wurde aber von Anfang
an gebremst durch die Prämissen der politischen Neutralität, die auch auf die bürgerli-
che Mentalität der Schweizer Juden abfärbte.

Zionistische Pionierschulen in der Schweiz

Bereits 1933 hatte sich der Schweizerische Zionistenverband, als Dachorganisation


der zionistischen Fraktionen, in Bern und bei verschiedenen Kantonen erstmals be-
müht, bäuerliche Lehrstellen und Ausbildungsplätze in Baumschulen und Gärtnereien
ausfindig zu machen. 60 Im gleichen Jahr brachte der Hechaluz auch den Plan einer
eigenen Landwirtschaftsschule auf, und der Schweizerische Zionistenverband
propagierte von Basel aus die neu initiierte Hachschara-Bewegung mit der Devise
eines Beth Hechaluz, zu dem sich siebzig aktive Mitglieder meldeten. Doch erst viel
später, und nur auf «neutraler Grundlage», wurde mit der 1941 eingerichteten
Hachschara in Bex eine Landwirtschaftsschule verwirklicht. Die religiöse und nicht-
zionistische Seite hatte auch bereits 1933 die Hechaluz-Pläne kritisiert; das eilig
initiierte Konkurrenzprojekt aus Kreisen der luzernischen und zürcherischen Orthodoxie,
die streng religiöse Schweizer Bauern statt zionistische Kibbuzniks heranbilden woll-
MINHAG SUISSE 315

te, blieb aber genauso erfolglos wie eine zugehörige koschere Käserei. Auch die neue
Hachschara in Bex kam sechs Jahre später unter orthodoxen Beschuss, was dazu
führte, dass der federführende private Geldgeber, die Lausanner Organisation
«Delivrance», das Heim unabhängig vom sozialistisch orientierten Hechaluz trug. Den
unbekümmert vorwärts denkenden Chaluzim war die schweizerisch-jüdische «Menta-
lität der Passivität» allzu ängstlich und angepasst und selbst der zionistische Landes-
verband allzu lendenlahm. Bex wurde also 1941 auf neutrale Füsse gestellt. Erst im
Frühling 1946 eröffnete der Hechaluz dort eine eigene Hachschara, aus der bald junge
Palästina-Wanderer hervorgingen, die in den Jahren des Krieges wie der unmittelbaren
Nachkriegszeit in die Schweiz gelangt waren. Der Schweizer Zionistenverband hatte
indessen gegen Ende des Krieges ein Jugend-Alija-Heim im genferischen Versoix
eröffnet. 61
Aufschlussreich ist hier ein Blick auf die Ausformung des Hachschara-Lebensstils
nach den Utopien der Jugendbewegungen unter den dämpfenden schweizerischen
Bedingungen. Die erwähnte Hachschara, die landwirtschaftliche und technische Um-
schulung, war nicht nur durch die Auswanderung aus Deutschland legitimiert, sondern
ebenso mit den Erwartungen im Ankunftsland Palästina verknüpft. Sie stellte ideolo-
gisch und praktisch das verbindende Glied dar, das bei der persönlichen und berufli-
chen Übertragung der zionistischen Jugend in Buropa in die raube Wirklichkeit der
Kibbuzim entscheidend für den Erfolg war. Die Hachschara kombinierte im Geist der
Haskala und der Narodniki die Utopien der jüdischen Arbeiterbewegung in Russland
und Osteuropa mit Elementen aus der deutschen Reformpädagogik und der neuen
Landerziehungsheim-Bewegung.62 In der zweijährigen Ausbildungszeit im Herkunfts-
land spielte die Einübung in die neue Lebensform der Kommune eine ebenso bedeutsame
Rolle wie die beruflich-technische Seite der Migrationsvorbereitung. Der Sozialisations-
prozess umfasste praktische und ideologische Bildung, die das Verhalten schulte und
sich in einer eigenen Terminologie kundtat.
Zwar gab es in Basel und in Zürich zeitweise ein Beth Hechaluz, das heisst einen
«gemeinsamen Haushalt von jungen Leuten», die in diesen Kommunen Gleichgesinn-
ter dem chaluzischen Pioniergeist der späteren Kibbuzniks in Stil und Mentalität
nachlebten. Es handelte sich also nicht um Flüchtlingsheime, sondern um städtische
Hauskommunen mit rund zehn Schweizer Juden, die einmal nach Palästina gehen
wollten. 63 Von einer längerdauernden landwirtschaftlichen Hachschara, zumal für
Flüchtlinge im grösseren Umfang, die auf ihre spätere Kibbuzexistenz technisch und
beruflich vorbereitet wurden, kann in der Schweiz nicht gesprochen werden.
Mehrheitlich bedeutete «Hachschara-Arbeit» in helvetischen Gefilden, dass die Vor-
bereitung der Migration für Schweizer wie für Flüchtlinge partiell Elemente des
Bildungsarrangements der Kibbuzideale übernahm, ohne aber die ganze Lebensform
der Kommune zu realisieren. Ersatzweise konnten die Schweizer Zionisten in Sommer-
lagern und bei ähnlichen Gelegenheiten ihre Hachschara ergänzen.
316 5. KAPITEL

Tatsächliche Bedeutung erhielt die Hachschara-Arbeit aber erst mit der Zunahme
der Flüchtlinge ab 1938 und 1942. Doch gelang es, wie bereits gesagt, trotzintensivierter
Bemühungen lange nicht, ein eigenes und ständiges landwirtschaftliches Zentrum für
die Umschulung von Jugendlichen und Erwachsenen auf die Beine zu stellen. Mangel
an geeigneten Objekten, finanzielle Belastungen und der Kriegsdruck zögerten das
Bemühen hinaus. Aus Neutralität gegenüber der zionistischen Sache haben SIG und
VSJF sehr vorsichtig, wenn auch zunehmend wohlwollend agiert. In den Kriegsjahren
versiegte die Einwanderung nach Palästina, was eine zionistisch geführte Schul-
kommune nicht dringlich erscheinen liess. Vor allem aber «erfüllten» nun die eid-
genössischen Heime und Arbeitslager, in die der Flüchtling gezwungen wurde, teil-
und ersatzweise die Funktion der produktiven «Umschulung», wenn auch dies die
zionistischen und andere Organisationen überhaupt nicht befriedigte. Erst durch die
nach 1943 einsetzende Aktivität des ORT, der als ideologisch neutrale und explizit
apolitische Hilfsorganisation in eidgenössischen und schweizerisch-jüdischen Augen
unbelastet schien, hat die Umschulung auch im Sinne der zionistischen und chaluzischen
Migrationsvorbereitung Fuss gefasst.
Erst während den letzten beiden Kriegsjahren sind in Lagern und Heimen organi-
sierte Gruppen des Hechaluz und des Bachad festzustellen. Praktisch und ideologisch
stand die Einübung der Durchwanderer und Flüchtlinge auf das Ethos produktiver
Arbeit an. Hachschara-Gruppen des Bachad finden sich namentlich in den Heimen in
Böckten (Basel-Land), Chamby (Waadt), Bex, Davos und Engelberg, während in den
städtischen Ortsgruppen die Bachad-Jugend zweihundert Chawerim zu mobilisieren
vermochte. Die Hachschara-Arbeit des Hechaluz, der in der Schweiz auch ideologisch
abweichende Gruppen, wie den in Zürich stark agierenden Haschomer Hazair und die
Gordonia-Makkabi amalgamierte, findet sich in den zahlreichen Heimen und Lagem. 64
Politische Bedeutung erhielt die Hachschara besonders nach dem Ende des Krieges,
als der Kampf um die freie Einwanderung in Palästina aktualisiert wurde. Der Haschomer
unterstützte die Hechaluz-Hachschara in Bex und kümmerte sich um die Schomrim,
die legal und illegal in die Schweiz eingereist waren. 1945 erreichte erstmals wieder
ein SchaHach oder Jugendleiter die Schweiz, und bald darauf reisten die ersten Grup-
pen in die Kibbuzim Lehawoth Habaseharr im oberen Galiläa und Gwuloth im Negev
ab. 65 Hinzu kam, dass der lange in Berlin untergetauchte Hechaluz-Aktivist lzchak
(Richard) Schwersenz sich im Februar 1944 in der Verkleidung eines deutschen
Luftwaffe-Offiziers in die Schweiz durchschlug, wo er mit seiner Lebensgefahrtin
Edith Wolff durch eine neu begründete Pfadfinderbewegung in Heimen Fuss zu fassen
suchte und mit Jugendlagern den jungen Schweizer Juden selbst chaluzische Impulse
vermittelte. 66
Entsprechend den Aussichten auf die bevorstehende Auswanderung intensivierten
die Jugendbünde und Alija-Verantwortlichen von neuem die Anstrengungen der Um-
schulung und Migrationsvorbereitung für die Flüchtlinge. Scharfe Kontroversen zwi-
MINHAG SUISSE 317

sehen dem SIG und jüdischen Organisationen einerseits und andererseits dem Rotem
Kreuz und christlichen Kreisen entstanden dabei um die Kinder aus Buchenwald. Im
Zuge der in ganz Buropa offensiv betriebenen Einsammlung durch die Jewish Agency
sind die Buchenwald-Kinder in Rheinfelden schliesslich in schweizerische Alija-
Heime aufgenommen worden und später von dort mit andern nach Israel weiterge-
reist.67

Der Haavara-Transfer in der Schweiz

Als letztes muss noch der sogenannte Haavara-Transfer erwähnt werden, der für die
Schweiz 1937-1939 eine gewisse Rolle spielte.68 Durch dieses Verfahren wurden dem
einzelnen Auswanderer im Reich die finanziellen Mittel zur Gründung einer neuen
Existenz in Palästina und dort der jüdischen Wirtschaft Gelder für die Konsolidierung
und Erweiterung zugeleitet. Die Erteilung von Zertifikaten an die Einwanderer gernäss
dem britischen Quotensystem lässt erkennen, dass gerade die deutschen Einwanderer
in überdurchschnittlichem Anteil der mittleren bis höheren Mittelklasse angehörten.
Der Haavara-Transfer funktionierte auf der Grundlage, dass die deutschen Emigranten
ihr Kapital in Mark auf ein Sperrkonto einbezahlten, das zur Bezahlung von deutschen
Exportgütern nach Palästina benutzt wurde. Die dort angekommenen Immigranten
konnten danach über ihre Gelder wieder verfügen, indem sie auf die Zahlungen der
Importeure zurückgriffen. Die Haavara-Mark konnte dabei unter besonders günstigen
Wechselbedingungen eingetauscht werden. Dieses Abkommen, anfänglich zwischen
dem deutschen Konsulat in Jerusalem und der Zitrusfirma Hanotea in Netania ge-
schlossen, war innerhalb der ZO nicht unumstritten, handelte es sich doch um den
einmaligen Fall einer Übereinkunft mit dem offiziellen Deutschland, dessen Wirt-
schaft durch den WJC und andere jüdische Stellen boykottiert wurde. Aus der Sicht
des Nazistaates instrumentierte damit das Reich den Zionismus und andere jüdische
Organisationen, um die Vertreibung der Juden aus Deutschland zu beschleunigen.
Dies lag ganz in der Logik der Antisemiten, die «Judenfrage» in benachbarte und
entferntere Staaten zu exportieren, um dort den Antisemitismus zu provozieren.
Aus jüdischer Sicht ermöglichte die Übereinkunft, als Teil gezielter Wanderungs-
planung, die erzwungene Migration wenigstens ohne noch grösseren wirtschaftlichen
Schaden für die zahlreichen Betroffenen, einschliesslich der von der Pauperisierung
besonders bedrohten Rentenbezüger, zu überstehen. So war die Übereinkunft durchaus
hilfreich in ihrer sozialen und humanitären Wirkung. Offiziell abgewickelt wurde der
Transfer durch die Palästina-Treuhand-Gesellschaft GmbH in Berlin und eine ent-
sprechendeHaavaraLtd. in Tel Aviv, die für das Abkommen zwischen der JA und der
deutschen Zionistischen Vereinigung einerseits und dem Wirtschaftsministerium des
Reiches andererseits standen. Aus deutscher Sicht ähnelte das Abkommen in vielem
318 5. KAPITEL

den bilateralen Übereinkommen, die Hjalmar Schacht mit verschiedenen Staaten auf
dem Balkan, in Sudamerika und Asien schloss, um die deutsche Wirtschaft anzukur-
beln. Auf der jüdischen Seite hoffte die JA, mit den bis 1939 total 139 Millionen
transferierten Reichsmark eine wirtschaftliche Hebung Palästinas zu erreichen, was
wiederum die Einwanderungsquote der Mandatsregierung beeinflussen würde.
Der Finanzplatz Schweiz wurde vom Transferabkommen nur am Rande beriihrt.
Schweizer Banken operierten als Stillhaite-Institute für den Transfer der Sperrmark,
wozu ein entsprechendes Abkommen mit der jüdischen Transferorganisation ge-
schlossen wurde. Die Londoner Treuhandstelle der JA, die Intria Ltd., residierte am
Zureher Limmatquai mit einer Niederlassung, die als Vertrauensstelle des Haavara-
Verfahrens via Schweizer Banken auftrat. Der Anteil der Schweizer Banken am
Haavara-Transfer, der international unter Aufsicht der Anglo-Palestine Bank Ltd. vor
allem zwischen London, Berlin und Tel Aviv abgewickelt wurde, blieb freilich sehr
gering. Bedeutung erhielt die Schweiz erst aufgrund der Verschärfung der Verfol-
gungsmassnahmen in Deutschland während den Herbst- und Wintermonaten des
Jahres 1937, als das Reich seine Rucksichten auf internationale Beziehungen mehr und
mehr fallen liess. Angesichts der wachsenden Bedrängnis der Juden entschloss sich die
mit dem Transfer beauftragte Bankengruppe, auch alle Spenden und UnterstUtzungen
für im Reich lebende Juden in das Haavara-Verfahren einzubeziehen.
Um die Clearingvorschriften nicht zu verletzen, waren die in der Schweiz domizi-
lierten Geldspender gehalten, ihre Unterstiitzung in Haavara-Mark durch eine Schwei-
zer Bank ausführen zu lassen. Konkret hiess dies, dass Hilfsgelder aus der Schweiz, die
für persönliche Verwandte und jüdische Wohltätigkeitsstellen in Deutschland be-
stimmt waren, nun konsequent als Haavara-Mark überwiesen wurden und dies durch
schweizerische Geldinstitute zu geschehen hatte. Diese UnterstUtzungen konnten von
Spendern in Schweizer Franken eingelegt werden, wurden aber real nicht mehr nach
Deutschland transferiert, sondern den Auswanderern als bereits transferierte Mark im
Ausland zur Verfügung gestellt. Dafür erhielt der Begünstigte in Deutschland seinen
Unterstiitzungsbetrag aus den Mark-Guthaben der Emigrationswilligen ausbezahlt.
Selbst gelegentliche und kleine Geldgeschenke, zum Beispiel anlässlich der jüdischen
Feste und Feiertage, wurden zur Verstärkung des Devisenfonds für die jüdische
Auswanderung nach Palästina verwendet. Dies war schon daher bedeutsam, weil der
monatliche Höchstbetrag für die humanitären Spenden höchstens 300 Reichsmark
betragen durfte. Auf diese Weise flossen den bedrängten Juden im Reich weiterhin
wertvolle verwandtschaftliche Hilfe und institutionelle Unterstützung zu, die zugleich
der Migration nach Palästina dienten. All dies dürfte zwar im Gesamtvergleich be-
scheiden gewesen sein, ist aber psychologisch als nicht unwichtig einzuschätzen.69
MINHAG SUISSE 319

GESCHEITERTE HOFFNUNGEN IN ÜBERSEE:


DIE PROJEKTE FÜR MASSENWANDERUNG UND AGRARKOLONIEN

«Man kann ohne Übertreibung behaupten, dass die Juden hervorragenden Anteil an
der Schöpfung und Entwicklung des modernen Kolonialwesens haben, das mit der
Entdeckung Amerikas eingesetzt hat. Das Zusammentreffen der Ausweisung der
Juden aus Spanien und Portugal mit der Entdeckung Amerikas ist äusserlich die
Hauptursache, dass die Juden von vornherein eine so ausschlaggebende Rolle in der
Kolonialwirtschaft gespielt haben. Denn so wurden sie die ersten Wirtschaftspioniere
der Neuen Welt. Sie sind es, die dadurch der alten Welt eine neue Weltwirtschaft
angegliedert haben. Gleich nach der Entdeckung Amerikas, nämlich schon 1492,
liessen sich portugiesische Juden in St. Thomas nieder, errichteten dort die Plantage-
wirtschaft, begründeten die Zuckerindustrie und beschäftigten in kurzer Zeit über 3000
Negersklaven. Sechzig Jahre später, um 1550, gab es auf dieser Insel bereits 60
Zuckerrohrplantagen, die jährlich rund 40 bis 50'000 Zentner Zucker produzierten.
Alle diese sechzig Plantagen befanden sich in den Händen von Juden [ ... ].»70
In seiner kolonialgeschichtlichen Tour d'horizon, die im karibischen Saint Thomas
anhebt, segelt der Autor dieser Zeilen, unter genauenAngaben wirtschaftlicher Waren-
ströme und Grössen, weiter nach Brasilien, dem westindischen Archipel, dann zurück
nach Barbados, Jamaika, Surinam und Santo Domingo und schliesslich zu den franzö-
sischen Kleinkolonien Guadeloupe und Martinique. Die kurze Fahrt durch die Jahr-
hunderte früher jüdischer Auswanderung nach Süd- und Nordamerika schliesst mit
dem Hinweis, dass sich Frankreichs Schiffahrt dem jüdischen Kommerz verdanke und
der moderne Kapitalismus überhaupt mit der kolonialen Expansion erst zur Blüte
gelangt sei. Wir wissen nicht, welchen Quellen der Autor 1938 seine Angaben ent-
nahm. Oskar Grün mochte sie vielleicht in einem der zahl- und detailreichen Artikel
aus den bereits seit 1893 erscheinenden Publikationen derAmericanJewishHistorical
Society gefunden haben, oder er hatte einen Bericht aus dem Korrespondenzblatt des
Hilfsvereins der Juden in Deutschland zur Hand, in denen manchmal zusammenfas-
send über diesen auch gern vergessenen Abschnitt der jüdischen Geschichte gehandelt
wurde. Vielleicht kannte er auch das ein Jahr zuvor im Amsterdamer Querido-Verlag
erschienene und bald populär gewordene Buch von Fritz Heymann über die Geschich-
te jüdischer Abenteurer, das die jüdischen Kolonisatoren eingehend beschreibt und der
Rebellion auf Saint Thomas im Jahr 1684 gar ein eigenes Kapitel widmet. 71 Wie
gewiss übertrieben auch immer der jüdische Anteil an der Kolonialgeschichte darge-
stellt wurde, so hatte Grün, der selbst die Vereinigten Staaten, Alaska und Kanada
bereiste, allen Grund, die Neue Welt seinen Lesern zu propagieren. Die Jüdische
Presszentrale (JPZ), das Hausorgan der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich, das
Grün als Herausgeber betreute, präsentierte seit 1935 regelmässig grössere Berichte
320 5. KAPITEL

und Leitartikel über die Auswanderung nach Amerika. Darin erfuhren die Leser, ob
Schweizer Juden oder jüdische Flüchtlinge, welche Chancen, Bedingungen und Schwie-
rigkeiten die Auswanderer in der Neuen Welt erwarten konnten.
So berichtete Paul L. Weiden, ein jüdischer Auslandschweizer im US-Staat Oregon,
über die Möglichkeiten des erfolgreichen Farmenerwerbs aus der Erfahrung des
«Oregon Agricultural Resettlement Committee», dem Weiden als «Chairman» selbst
vorstand. Sein informativer Artikel über das amerikanische Einwanderungsrecht gab
den JPZ-Lesern detaillierte Auskunft über Rechte und Praxis der Immigranten, das
einschneidende amerikanische Quotensystem, aber auch über Vorzugsklauseln, unter
denen eben «qualifizierte Farmer» figurierten. In Absetzung zu der weitgehend recht-
losen Situation der Emigranten und Flüchtlinge in der Schweiz und anderen europäi-
schen Ländern unterstrich Weiden das Recht jedes Immigranten, amerikanische Ge-
richte anrufen zu können, wenn er einmal amerikanischen Boden betreten hatte. Ein
weiterer Korrespondent der JPZ berichtete in ähnlicher Absicht über die Verhältnisse
in Kanada. Publiziert wurden in der JPZ auch in vollem Wortlaut die Ratschläge der
Komitees, die für die Einwanderungshilfe zuständig waren. So wurde dringend abge-
raten, in der Ankunftsstadt New York zu bleiben, und statt dessen die Städte des
mittleren Westens angepriesen. Dass selbst der religiöse Jude nicht geistig zu hungern
brauche, bewies die JPZ ihren Lesern mit einem Titelbericht über das renommierte
Jewish Theological Seminary ofAmerica, dem auch noch die wichtigen liberalen und
orthodoxen Institute folgten; der Artikel vom Juli 1939 wurde eingeleitet mit der
Feststellung, der katastrophenhafte «Zusammenbruch der berühmten mitteleuropäischen
rabbinischen Lehranstalten und Hochschulen für die jüdische Wissenschaft» lenke
zwangsläufig den Blick auf «ein jüdisches Zentrum höchster Gelehrsamkeit jenseits
des Ozeans», das den europäischen Ausfall in Schulung und Forschung kompensieren
werde. 72
Doch Brot und Land, Geld und Geist waren nicht die einzigen Elemente in dem
von der jüdischen Presse vermittelten Arnerikabild. Den europäischen Lesern wurde
auch die Illusion eines allzu potenten jüdischen Amerika genommen und zugleich die
Furcht vor einem antisemitischen Kontinent zerstreut. Mit einem mehrseitigen «Quer-
schnitt aus dem jüdischen Leben in Amerika» wurde die Flüchtlingshilfe desAmerican
Jewish Committee vorgestellt und die Hilfsbereitschaft bestätigt. Gleichzeitig wider-
sprach aber dieser Sonderbericht auch der antisemitischen Propaganda, wonach die
amerikanischen Juden politisch besonders einflussreich seien oder zu den Kriegstreibern
gehörten, mit genauen Angaben über Meinungsumfragen, Parteienzugehörigkeit und
die relativ geringe Vertretung in den politischen Institutionen. Eine weitere dreiteilige
Serie legte einschlägige Daten über den wirtschaftlichen Erfolg der jüdischen Minder-
heit vor und belegte im Gegenzug die gesamthaft untergeordnete Rolle in den wichtig-
sten Berufszweigen. 73 In der Tat ergab das sachkundig gebotene JPZ-Bild der Neuen
Welt, das der europäische Jude vor allem mit den Vereinigten Staaten identifizierte,
MINHAG SUISSE 321

eine wirklichkeitsnahe Vorstellung, vorausgesetzt man interpretierte es nüchtern und


ohne falsche Hoffnungen. Die amerikanischen Juden hatten zwar individuell soeben
einen bemerkenswerten sozialen Aufstieg hinter sich, doch fehlte ihnen gerade der
bestimmende Einfluss auf der politischen Ebene, mit dem sich die Tore für die
jüdischen Flüchtlinge hätten öffnen lassen. Darüber konnten auch die zahlreichen
Stimmen arnerikanischer Politgrössen nicht hinwegtäuschen, die in einer JPZ-Sonder-
nummer anlässlich der New Yorker Weltausstellung vom August 1939 unter dem Titel
The Spirit ofAmerica zusammengestellt wurden. Die jüdische Abwehr des Antisemi-
tismus in der Schweiz erschien darin geradezu verknüpft mit dem Auswanderungsland
Amerika als einem Garanten demokratischer Werte und antitotalitärer Haltungen. 74
Einem jüdischen Schweizer konnten alle diese Präsentationen den Wunsch einge-
ben, selbst in das gelobte Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu ziehen - was, wie
wir schon gesehen haben, betuchtere Mitglieder jüdischer Gemeinden in diesen Jahren
tatsächlich getan haben. Doch vordringlich ging es bei der Überseepropaganda um die
schnelle Transmigration der jüdischen Flüchtlinge in der Schweiz. Hoffnung machte
der jüdischen Presse nach Evian besonders der sogenannte Alaska-Plan, über den die
JPZ sich durch Collier's The National Weekly auf dem laufenden hielt. Ein demokrati-
scher Abgeordneter des Bundesstaates New York, Charles Buckley, hatte Roosevelt
die Besiedlung Alaskas mit jüdischen Flüchtlingen nahegelegt, und ein Experten-
bericht an Innenminister Harold Ickes empfahl im Frühling das Projekt dem Kongress;
doch dort scheiterte Roosevelt am Widerstand, der vor allem von Alaskas Vertretern
herrührte.
Interessant ist, dass Grün selbst anfangs 1938 bei den amerikanischen Bnai-Brith-
Logen den Plan einer «Jüdischen Legion der Arbeit» vorgelegt hatte, worunter er ein
weitreichendes Ansiedlungsprojekt von agrarorientierten Jugend- und Arbeitslagern
verstand. Diejungen Leute würden sich für viele Jahre verpflichten, in der Neuen Welt
Aufbauarbeit zu leisten und sich dem strikt disziplinierten Lagerleben hingebungsvoll
widmen. Dafür sollte die in Gruppen unternommene Seeüberfahrt, die geordnet betrie-
ben und damit kostengünstig würde, von den jüdischen Hilfsorganisationen bezahlt
werden. Als besonders symbolträchtigen Akt für die Arbeitskolonien, deren Gestalt
geradezu die schweizerischen Arbeitslager für Flüchtlinge vorwegzunehmen schie-
nen, empfahl Grün das Pflanzen von Bäumen bzw. die Wiederaufforstung verrotteter
Landstriche. Das Anliegen aus der Schweiz erachteten die amerikanischen Juden
immerhin als «encouragiert» genug, um den Plan einigen Experten der Alaska-Kom-
mission zuzuhalten, die damals die sogenannte Roosevelt-Aktion diskutierte. Der
Grün-Plan war nicht das einzig hoffnungsvolle Zeichen aus Europa, dessen Juden auf
geordnete Auswanderung setzten und in Übersee den rettenden Zweig suchten. Der
rührige Vorschlag aus Zürich bezeugt den vornehmen Optimismus der jüdischen
Abwehr, die hier auch in Migrationsfragen glaubte, dass mit guten Absichten und
einigem Geld alles zu machen sei. Die internationale Politik hat solchen Plänen, wie
322 5. KAPITEL

wir wissen, keinen Kredit geben wollen. «Le-Schana haba be-Kanada» (Nächstes Jahr
in Kanada), dieses geflügelte Wort unter den Emigranten musste ferner und frommer
Wunsch für die bald tödlich gefährdeten Flüchtlinge bleiben. 75
Im Hoffnungslauf der Schweizer Juden ruderten, trotz der Enttäuschung von
Evian, auch noch andere Boote, die für Flüchtlinge noch nicht voll zu sein schienen.
Die jüdische Presse brachte bei noch so geringen Aussichten auf schnelle Verwirkli-
chung der Emigration von 1936 bis 1941 immer wieder Berichte über Zielländer und
Kolonialprojekte wie Guyana, Kenia, Angola, Rhodesien, Bolivien, Kolumbien, Santo
Domingo oder Manila. 76 Der SIG und sogar kleinere jüdische Hilfsorganisationen in
der Schweiz verfolgten gar selbst illusionäre Kolonisationsvorhaben oder schlossen
sich aus besserer Einsicht Projekten an, die von den Grassmächten und jüdischen
Verbänden international betrieben, aber selten verwirklicht wurden. Nicht weniger als
sechzehn massen- und landorientierte Kolonialvorhaben im grossen Stil wurden von
1926 bis 1941 von den Amerikanern, Briten, Franzosen, Polen, Deutschen und gar
Japanern studiert oder durch einzelne Persönlichkeiten wie Henry Ford oder Roosevelt
initiiert. Zu den Zielländern gehörten nebst den in Evian und dem IGCR vorgeschlage-
nen Projekten auch Alaska, Madagaskar, Chile, die Mandschurei, Nordrhodesien, die
Philippinen und Brasilien sowie einige der oben genannten Länder. 77

Der Zürcher Hilfsverein und private Überseeprojekte

Die Transmigration von Juden nach Übersee war also bekanntermassen nicht neu,
hatte man doch früher die aus Osteuropa eingeströmten Juden lenken wollen, während
dies nun den Juden aus Deutschland galt. Im operativen Bereich ist die Wanderungs-
geschichte auch am Bemühen der Schweizer Juden ablesbar. In Zürich hatte die
Jüdische Emigrationskommission seit 1919 die «Ordnung und Regulierung der jüdi-
schen Wanderung» angestrebt und dafür sogar kurze Zeit ein Informationsorgan
herausgegeben, aus dem die Adressen der HIAS, dann die Einwanderungsverordnungen,
Passbestimmungen, Schiffsabgänge und Fahrpreise für die Überfahrten zu entnehmen
waren. 78 Den ostjüdischen Massen sich anzunehmen, um sie nach Übersee weiterzulei-
ten, bezweckte dann der 1927 in Zürich gegründete Hilfsverein für jüdische Auswan-
derung, der ausdrücklich den zwei Jahre zuvor gegründeten Hilfsverein der Juden in
Deutschland als dessen «Schweizer Comite» flankierend abstützen wollte. Dem Vor-
stand des Zürcher Hilfsvereins der Brüder Robert und Alfred Faller gehörten nament-
lich die Rabbiner Littmann, Lewenstein und Taubes an. Seit 1933 und besonders
intensiv in den Jahren 1938-1940 nahm sich der Schweizer Hilfsverein der deutschen
Juden selbst an, indem er ihre direkte Auswanderung nach Übersee unterstützte und
dabei die benötigten Anlauf- und Vorzeigegelder beschaffte, die infolge der Devisen-
knappheit in Deutschland selbst fehlten. Der kleine Zürcher Hilfsverein übernahm
MINHAG SUISSE 323

damit seine Aufgaben im internationalen Gefüge der jüdischen Organisationen, die


sich mit der Auswanderung befassten. Gerade in den ersten fünf Jahren nach der
Machtübernahme im Deutschen Reich musste dem Israelitischen Wochenblatt das
Schweizer Comite als «ein unentbehrlicher Verein» erscheinen. 79 Denn auch die
Infrastrukturen von SIG und VSJF waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht konsequent
auf die Abwicklung der Transmigration ausgerichtet, so dass der Hilfsverein zu den
ersten Funktionsträgem der jüdischen Transmigrationspolitik in der Schweiz gezählt
werden kann.
Die schweizerische Transmigration musste also zunächst mit Hilfe der HICEM
überhaupt organisiert werden. Im Bereich der Einzelwanderungen konnte private und
verwandtschaftliche Hilfe oft genügen, aber sie lösten das Problem der Emigration nie
vollumfänglich. Die Zeiten grösserer Not verlangten auch in der Schweiz nach umfassen-
den Strukturen und erforderten, das Problem der Migration kollektiv und massen-
organisatorisch zu lösen. Das zeigen auch die frühesten Vorschläge und ihre Absender,
die im Archiv des SIG zu finden sind. Sie stammten von Privatpersonen und wollten den
jüdischen Flüchtling nach dem bekannten Muster von landwirtschaftlichen Kolonial-
projekten unterbringen. Schweizerische Anwälte warben um Aufträge in dieser Richtung
und boten ihre guten Dienste und Erfahrungen an. Die unterbreiteten Vorschläge zu
solchen Kolonialgesellschaften erinnern an den Typus agrarischer Massenwanderung,
der auch in der schweizergeschichtlichen Wanderungsforschung mit späten Ausläufern
bis nach dem Ersten Weltkrieg festgestellt worden ist. Wir haben bei der Darstellung der
RIAS und HICEM bereits gesehen, dass es historisch vergleichbare Projekte auch bei den
jüdischen Migrationsverbänden gegeben hat. 80 Doch in der politischen Situation nach
Evian waren Einzelinitiativen untauglich. So blieb ein St. Galler Projekt im argentini-
schen Missiones, in der Nähe der Eldorado-Kolonien aus dem 19. Jahrhundert, ebenso
auf dem Papier wie das sehr theoretisch anmutende Kolumbienprojekt eines Advokaten
aus dem bemischen St. Imier. Argentinien, einst Zielland grösserer jüdischer Aus-
wandererströme, schottete sich gegenüber jüdischen Einwanderern ab und nahm bis
Kriegsende aus der Schweiz nicht einmal hundert Flüchtlinge auf. Das Projekt im
argentmischen Missiones, das mit 700'000 Franken hätte auf die Beine gestellt werden
sollen, blieb bereits im ersten Anlauf stehen, nachdem sich die Initianten vergeblich bei
Bundesrat Musy Unterstützung hatten holen wollen.81
Den Juristen folgten später einzelne private Unternehmer, die bereit waren, in den
Überseestaaten zu investieren, um das technologische Potential, das ihnen die Emi-
granten zu bieten schienen, wirtschaftlich zu nutzen. Ein schweizerisch-jüdischer
Lederfabrikant aus Basel, Hans Seligmann-Schürch, plante mit seinem Partner Inve-
stitionen in Haiti in der Höhe von 1,5 Millionen Franken. Diese Summe hätte nebst
dem Betriebskapital auch die Überfahrt und Ansiedlung von achtzig Emigranten
decken sollen. Die meist aus Österreich stammenden Fachleute, wie Gerber, Sattler,
Schuhmacher, Handschuhmacher und Ledergalanteriearbeiter, aber auch einige Mon-
324 5. KAPITEL

teure, Holzfachleute oder Landwirte, hätten gar mit «interessierten Schweizerbürgern»


ergänzt werden sollen, womit vermutlich auswanderungsentschlossene Schweizer
Juden gemeint waren. Seligmann und Goldschmidt-Rothschild, die in Bern bei Roth-
mund vorsprachen, machten jedoch das Gelingen ihres Plan von einer anfänglichen
Importerlaubnis für den schweizerischen Investor abhängig. Unter der «Gewährung
von besonderen Einfuhrkontingenten für haitianisehe Produkte an die Stelle, welche
die Finanzierung der Auswanderung auf sich nimmt», verstanden die Unternehmer
eine kurzfristige Aufhebung der Importbeschränkungen, was in ihren Augen die
Mühen um die jüdischen Emigranten gelohnt hätte. Das eidgenössische Volkswirt-
schaftsdepartement winkte jedoch ab. Gegen einen Import von Kaffee, Ruhm oder
Edelhölzern hätte man in Bern nichts einzuwenden gehabt, doch von einer Lockerung
der Einfuhrkontingente bei Lederwaren wollte die Handelsabteilung nichts wissen.
Schon wiederholt habe der Verband schweizerischer Lederfabrikanten gegen jede
Überschreitung der normalen Einfuhrquoten interveniert. 82

Die staatlich gestützten Projekte in Bolivien und Santo Domingo

In Bern bemühten sich also die Fremdenpolizei und die Handelsabteilung, vor allem
aber das eidgenössische Bundesamt für Auswanderung und die schweizerischen Kon-
sulate in den Zielländern, um geeignete Projekte oder kleinere Nischen für die
Transmigration. Auf der jüdischen Gegenseite schlossen sich SIG und VSJF in ihren
Bemühungen eindringlich den von internationalen jüdischen Verbänden betriebenen
Siedlungsprojekten an. Meist verlief die von SIG und Bundeshaus gemeinsam betrie-
bene Suche nach Aussiedlungsländern enttäuschend. Das Scheitern lag, wie wir be-
reits gesehen haben, im politischen Unwillen und der rassistischen Politik der europäi-
schen Länder und ihrer ehemaligen Kolonien, die den Antisemitismus des Alten
Kontinents importierten. Wenig Aussicht auf Erfolg bestand zum Beispiel in Kolumbien,
das lange und wiederholt in den Plänen jüdischer Organisationen auftaucht, von der
HICEM vor Ort bearbeitet wurde und auch der Schweiz anfänglich Aussicht bot, ihre
jüdischen Flüchtlinge loszuwerden. Doch Kolumbien, das nach Bauern verlangte, aber
Kaufleute als Konkurrenz für den ansässigen Handel fernzuhalten wünschte, ver-
schleppte die Frage der jüdischen Immigranten mit adminstrativen Unregelmässigkeiten
und innenpolitischen Affären. Nur gerade zwanzig Juden konnten bis 1940 als indivi-
duelle Auswanderer in dieses Land gelangen. 83 Andere Länder wie Kuba oder Mexiko
schlossen ihre Tore im April 1942 endgültig und folgten so dem unrühmlichen
Beispiel Brasiliens, das bereits 1938 den I-Stempel als diskriminierendes Marken-
zeichen für seine judenfeindliche Immigrationspolitik nutzte.
Zwei grössere Projekte im Stil der Gruppenkolonisation beschäftigten aber die
Schweiz und die Schweizer Juden ab 1938 eingehender als alle anderen und nährten
MINHAG SUISSE 325

die Illusion, die «Judenfrage» im eigenen Land nach dem kolonial- und
migrationspolitischen Exportmuster lösen zu können. Es handelt sich um das vom
Wiener Maccabi-Verband erstmals ins Gespräch gebrachte Ansiedlungsvorhaben in
Bolivien und das vom American Joint betriebene Projekt in Santo Domingo. In beide
Länder sind von 1939 bis 1941 einige hundert jüdische Flüchtlinge aus der Schweiz
emigriert, wobei der VSJF 350 Ausreisen dahin realisierte.
Das Bolivien-Projekt, mit einem 15'000 Hektaren grossen Landstrich mit dem
Namen «Meneros>>, 120 Kilometer nördlich von Santa Cruz gelegen, war seit Früh-
sommer 1938 von der Maccabi World Union propagiert worden. Federführend war der
Wiener Maccabi, mit Josuah Torczyner und Jacob B. Glenn, die nach dem «Anschluss»
Österreichs von Paris aus operierten. Zwei Delegierte, Hans Schlesinger und Eugenio
Riegler, untersuchten als Ingenieure die Verhältnisse vor Ort. Dem Maccabi waren für
sein Projekt von der bolivianischen Regierung sehr günstige Bedingungen zugesagt
worden, die steuerliche Vergünstigungen und Landübereignung nach fünf Jahren
umfassten. Die Bewirtschaftung, wofür vorwiegend Baumwollpflanzungen vorgese-
hen waren, sollte vorerst 750 Personen beschäftigen und am Ende 4800 Menschen zur
Ansiedlung im Land bewegen. Finanzieren wollte der Maccabi seinen Plan mit Hilfe
des Joint und anderer Organisationen; tatsächlich hat das JDC später 500'000 Dollar
investiert, und die Juden in den Niederlanden und Belgien finanzierten noch 1940 den
Landkauf. Die dem Joint gegenüber verantwortliche Stelle in Bolivien operierte unter
dem Namen Soziedad Colonizadora de Bolivia, kurz «Socobo». In Bolivien selbst
waren bereits einige deutsche Juden ansässig, die mit ihrem privaten Kapital ins Land
gelangt waren und von denen drei mit Erfolg als Besitzer oder technische Leiter von
Bergwerken arbeiteten. Als Gemeinschaft waren sie aber noch kaum organisiert. Einer
der dort ansässigen und untemehmerisch tätigen Juden, Mauricio Hochschild, suchte
nun den Maccabi-Plan auf eine umfassende Grundlage zu stellen, womit vor allem ein
genügender Kapitalzufluss zur finanziellen Sicherung des Vorhabens gemeint war.
Demgegenüber schienen es Riegler und Schlesinger mit ihrem Plan viel eiliger zu
haben und unterbreiteten eine Abwicklung nach eigenen Vorstellungen, die nur die
agrartechnischen Probleme im Auge hatte. Der Joint weigerte sich, wie Morris C.
Troper im Februar 1940 unter der Bundeshauskuppel auch Rothmund gegenüber
klarstellte, die HICEM und den Maccabi finanziell weiter abzusichern, solange nicht
der ortskundige Hochschild sein 0. K. unter die Pläne setze. Das Kolonialprojekt
endete in dem vom JDC befürchteten Fiasko: von den knapp 150 Juden, die nach ihrer
Ankunft tatsächlich im Rahmen der Socobo siedelten, blieben Ende 1944 nur neun
Familien auf der isolierten Farm. 84
Das Scheitern hatte allerdings politische Gründe, die in einer Intrige der boliviani-
schen Regierung zu eruieren sind, wenn wir die Geschichte aus der Sicht der Schweiz
rekapitulieren wollen. In der jüdischen Presse der Schweiz erschienen über das Bin-
nen- und Hochland, mit seiner auf fast 4000 Meter Höhe liegenden Hauptstadt, bald
326 5. KAPITEL

eingehende Berichte, die freilich die tatsächliche Armut des Staates nur undeutlich
erwähnten. Der VSJF zeigte sich, wie beialldiesen Gruppenprojekten, im Herbst 1938
sehr interessiert an der Maccabi-Post. Bereits Ende November berichtete Sylvain S.
Guggenheim persönlich Rothmund über sein einvernehmliches Gespräch mit dem
bolivianischen Generalkonsul in Genf, mit dem die Genfer Aide aux Emign!s für den
VSJF den Kontakt aufrechterhielt. 85 Die auf der Konferenz von Evian beinahe
emphatisch abgegebene Erklärung des bolivianischen Delegierten, der eine jüdische
Einwanderung begrüsste, war auch in Bem auf hellhörige Ohren gestossen. Die dem
VSJF nun gar in Aussicht gestellten Kollektiv- statt Einzelvisa regten Bem zu einer
freundlichen Note Mottas an den Aussenminister Diez de Medina an, dem soeben die
jüdischen Organisationen ihrerseits mit einer Ehrenmedaille.geschmeichelt hatten. Als
der VSJF Rothmund auch noch davon berichtete, in Paris solche Globalvisa der
bolivianischen Gesandtschaft gesehen zu haben, suchte dort Minister Stucki gar den
bolivianischen Botschafter Costa du Rels auf, der für das Alldenland auch beim
Völkerbund in Genf zuständig war. Boliviens Regierung gab sich grundsätzlich bereit,
Juden aus der Schweiz Einreisevisen zu erteilen, und Stucki wurde versichert, es sei
von vomherein keine zahlenmässige Beschränkung vorgesehen. Im September 1939
unterzeichneten die bolivianische Regierung und der Maccabi Weltverband den lange
ausgehandelten Vertrag über die Ansiedlung von 4800 Kolonisten, an dem die Schweiz
so interessiert war. Im Februar des folgenden Jahres ging das Land käuflich an den
Maccabi über, der mit Hilfe des JDC bereits grössere Geldsummen in das Land
gesteckt hatte. Nur fünf Wochen später, am 21. März 1940, verbot aber die boliviani-
sche Regierung, «semitische Immigranten» im Land anzusiedeln. Der schweizerische
Generalkonsul musste einen Monat später nach Hause melden, in der Konsequenz sei
der Vertrag zwischen Regierung und Maccabi wertlos geworden.86
Offensichtlich waren die Maccabi Union und das JDC von La Paz ebenso an der
Nase herumgeführt worden wie Bem oder andere interessierte europäische Regierun-
gen. Im Bundeshaus war nur das eidgenössische Auswanderungsamt skeptisch geblie-
ben, freilich weniger wegen der politischen Kabale als vielmehr angesichts des ge-
sundheitlichen und finanziellen Ungenügens. «Würde es sich um Schweizer handeln,
so vermöchten wir ihre Ansiedlung in jener heute noch wenig erschlossenen und von
sicheren Absatzgebieten weit entfernten Gegend nicht zuzustimmen», bezweifelte das
eidgenössische Amt den von den Maccabi-Leuten Riegler und Schlesinger vorgeleg-
ten Plan. Ähnlichen und gründlichen Zweifel hatte auf jüdischer Seite neben dem JDC
die im Immigrationswesen erfahrene RIAS (HICEM) angemeldet. Sie befand nicht
nur Aufbau und Organisation des Riegler-Planes als dürftig, sondern erblickte auch in
den undurchsichtigen Pacht- und Eigentumsverhältnissen ein unzumutbares Risiko.
Vor allem warnte die HICEM-Expertise vor dem «unkorrekten Vorgehen, mit Staats-
regierungen zu verhandeln, wenn nicht vorher die materielle Basis der Vorschläge
gesichert wurde». 87 Wie auch immer die Verhältnisse lagen, aus der Sicht der betroffe-
MINHAG SUISSE 327

nen Juden und Flüchtlinge war ein weiterer, vermeintlicher Rettungshalm entglitten.
Das Bolivien-Projekt hatte, wie die Korrespondenz zwischen dem jüdischen Hilfs-
verein in Berlin und dem WJC in Genf zeigt, der «Reichsvereinigung der Juden in
Deutschland» wenigstens noch die Hoffnung belassen, dank einem Visum des bolivia-
nischen Konsulats in Harnburg auf Transit nach der Schweiz gelangen zu können. 88
Kurz bevor die bolivianische Regierung das Maccabi-Geschäft aus eigenem Profit
platzen liess, erhielt in Bern Ende Februar 1940 Rothmund durch den SIG und die
Gesandtschaft in Washington Kenntnis von einem Vertrag zwischen dem JDC und der
Dominikanischen Republik. Danach sollten 28'000 Juden aus Europa auf dem Land-
flecken Sosua angesiedelt werden, wofür der Joint 500'000 Dollar einsetzte, die sich
Ende 1944 auf mehr als 1,4 Millionen Dollar aufsummierten. Rafael L. Trujillo, der
dominikanische Diktator, hatte bereits in Evian erklärt, 100'000 Juden aufnehmen zu
wollen; diese gewiss übertriebene Zahl war in erster Linie dazu angetan, Ent-
wicklungsinvestitionen nach Santo Domingo zu ziehen. Ähnlich wie Roosevelt gerne
von der Urbarmachung verödeter Landstriche oder des weitläufigen Alaska durch
Flüchtlinge träumte, glaubte Trujillo an das Aufblühen seiner Bananenrepublik dank
jüdischem Kapital und europäischem Fleiss. Ende Dezem~er 1939 wurde im JDC die
Dominican Republic Settlement Association, kurz DORSA, gegründet, die dem Agro-
Joint und seinem Direktor James N. Rosenberg unterstand. Operativer Leiter der
DORSA war Joseph A. Rosen, der während den dreissiger Jahren für den Agro-Joint
das Projekt, russische Juden auf der Krirn anzusiedeln, geleitet hatte. Eine erfolgreiche
Verwirklichung der vertraglich vereinbarten Ansiedlung sollte den Beweis erbringen,
dass in nächster Zukunft massenkolonisatorische Vorhaben von grossemNutzen auf
beiden Seiten des Ozeans sein würden. 89
Zum Jahresanfang 1941, also kaum ein Jahr nachdem Rothmund Wind von DORSA
erhalten hatte, berichtete die Schweizer Gesandtschaft aus Washington von der
Jubiläumsfeier zur DORSA-Vertragsunterzeichnung, die unter die Schirmherrschaft
des IGCR gestellt wurde. Die Schweiz als Mitgliedstaat des IGCR wurde offiziell
eingeladen, ihre Flüchtlinge für das DORSA-Vorhaben anzumelden, und Bruggmann
übermittelte dem EPD die Berichte von den Konferenzen mit Trujillo. Rothmund war
indessen schon längstens aktiv geworden und bemühte sich bereits seit Sommer 1940
in Vichy-Frankreich und Spanien um Transitvisen für die ersten fünfzig San-Dom-
ingo-Auswanderer. In Bem fürchtete man, die Schweiz könne ihre Flüchtlinge, da
Vichy selbst seine Juden abzuschieben wünschte, nicht auf dem Binnenweg durch
Südfrankreich schleusen. In der Tat liefen bei der Marseiller HICEM -Stelle zahlreiche
Gesuche um Aufnahme in das Sosua-Projekt ein; sie stammten ab Oktober 1940
· gehäuft von in Südfrankreich festhängenden Flüchtlingen aus Süddeutschland.
Rothmund wollte dem zuvorkommen und ersuchte selbst in Berlin um hilfreiche
Pression gegenüber den Regierungen in Vichy und Madrid, um eine Transitsperre zu
vermeiden. Stucki in Frankreich wurde angesichts der unerwünschten Konkurrenz mit
328 5. KAPITEL

entsprechenden Argumenten und Informationen versorgt, die auch die Berliner Ver-
handlungen um den J -Stempel streiften. Als Druckmittel zur Erreichung des «selbst-
verständlichen» Transitbegehrens empfahl Rothmund den Hinweis auf die französi-
schen Militärinternierten in der Schweiz und die französischen Ferienkinder, denen
man gar eine Sperrung androhen könne. Im Klartext wollte die Schweiz nicht nur alle
ihre jüdischen Transmigranten nach den Häfen durchbringen, von denen die HICEM-
Schiffe abgehen würden, sondern auch bei der Aufstellung von Siedlungskandidaten
bevorzugt behandelt werden. Die Transitzusagen aus den europäischen Ländern und
schliesslich die ersten Schiffspassagen stimmten im Jahr darauf den Chef der Fremden-
polizei gegenüber dem Joint gar optimistisch. Die jüdischen Flüchtlinge aus der
Schweiz schienen nun einen sicheren und für Bem erst noch kostenlosen Platz an der
Sonne zu erhalten.90
Im Herbst 1940 meldete der VSJF in Bem die Ankunft des HICEM-Experten
Solomon Trone in Lissabon, der in Buropa die künftigen DORSA-Siedler auf Eignung
und Ausbildungsstand zu begutachten hatte. «Wir haben Herrn Dr. ing. Trone, den
Vertreter der DORSA, denn auch bis heute zurückgehalten, nach Vichy zu fahren, um
mit der französischen Regierung über die Durchreise zu verhandeln, weil gerade er mit
seinem interessanten Projekt das Innenministerium in seiner Ansicht über die schwei-
zerische Konkurrenz hätte bestärken können», liess Rothmund im Oktober 1940
Stucki wissen. Der HICEM-Spezialist hob denn auch wunschgernäss für den VSJF
eine grössere Anzahl Kandidaten aus, von denen aber letztlich nur 153 nach Sosua
gelangt sind. Die Ausreise gestaltete sich trotz aller diplomatischen Bemühungen
schwierig. Ein erster Konvoi mit 52 Flüchtlingen aus der Schweiz sass im Oktober
1940 in Spanien fest, konnte dann aber von den HICEM-Leuten in Lissabon in
Empfang genommen und eingeschifft werden.
Über die Rekrutierung von Siedlern durch Trone, den Transit durch Frankreich,
Spanien und Portugal und die Überfahrt nach Santo Domingo sind Aufzeichnungen
aus der Sicht eines betroffenen Flüchtlings erhalten geblieben. Sie sind nicht ohne
einen gewissen trockenen Humor abgefasst und weisen den jungen Autor als Realisten
aus, der Buropa hinter sich lassen will. In seinen Memoiren schildert Horst Wagner,
von Beruf Drogist, dass es im Lager Diepoldsau, wo er interniert gewesen war, zwar
kaum landwirtschaftlich erfahrene Berufsleute, wohl aber jede Menge junger, unerfah-
rener Leute gab, die sich in bester körperlicher Verfassung und Laune fühlten, um die
abenteuerliche Reise in die exotische Feme anzutreten. Trone rekrutierte in Diepoldsau
dreizehn Auswanderer, unter ihnen Horst Wagner, die Ende September 1940 als erste
«Schweizer» in Santo Dorningo eintrafen. Doch das Leben in Sosua war nicht leicht,
auch wenn sich die Kolonie nicht als Fiasko entpuppte. Zwei Briefe aus Sosua vom
Oktober 1940, abgedruckt in der vom VSJF initiierten Lagerzeitung Transmigrant,
schildern die ersten Eindrücke in nüchterner Skepsis und ohne grosse Begeisterung für
die Bodenarbeit.91
MINHAG SUISSE 329

Sosua entwickelte sich nicht zur landwirtschaftlichen Kolonie, wofür es bestimmt


war. Auf der tropischen Insel deutsch-jüdische Kultur aus dem mitteleuropäischen
Stadtbürgertum zu entfalten und gleichzeitig die Rolle rühriger Agrarpioniere zu
spielen, war ohne Druck künftig kaum in Übereinstimmung zu bringen. Sosua war
kein Kibbuz im Jordantal, ja nicht einmal Herzlia an der Mittelmeerküste, sondern
bloss ein in die «Kolonien>} verlängerter Transitfluchtpunkt, der ins goldene Land
Amerika wies, Zweifellos hatte dieser Ort kurzfristig eine gewisse rettende Funktion
und hielt auch die eidgenössische Fremdenpolizei etwas bei Laune. Über tausend
Juden aus Buropa nutzten die Aktion, um sich in der Hauptstadt San Jose einzufmden,
von wo der Weg eines Tages nach den Vereinigten Staaten oder in andere Länder des
amerikanischen Kontinents führte. Ende 1944 waren in Sosua selbst noch 159 Juden
anzutreffen, davon 98 aus schweizerischen Arbeitslagern, während sich im industriali-
sierten Batey 285 Personen fest niedergelassen hatten. Hugo Loetscher und Willi
Spillerberichteten 1980, dass die von den Flüchtlingen gegründete Genossenschaft in
Sosua weiterhin bestehe, 36 zahlende Mitglieder zähle, die Frischmilch in dieser
Tropenregion populär gemacht habe, eine Fleischfabrik betreibe und über eine kleine
Holzsynagoge samt Friedhof verfüge. 92 Doch als Massenkolonialprojekt war damals
Sosua ebenso im Sand verlaufen wie die vorweg gescheiterten Versuche und hoch-
fliegenden Pläne in Bolivien, auf den Philippinen oder für Alaska.
Abschliessend ist daher noch einmal nach den möglichen geschichtlichen Vorga-
ben der gescheiterten Pläne zu fragen. Für die agrarische Massenwanderung bestanden
tatsächlich geschichtliche Vorbilder, die zeitlich und der Form nach mit den schweize-
rischen und den jüdischen Kolonialwanderungen eine erstaunliche Übereinstimmung
zeigen. In Argentinien hatte nach 1891 die JCA jüdische Siedler auf dem Land
angesiedelt, die 1914 die Zahl von 12'000 erreichten.93 In vergleichbar organisierter
Massenwanderung siedelten Ende des 19. Jahrhunderts im argentinischen Cono Sur
und andem Alldenstaaten Schweizer aus ländlichen Unterschichten. 94 In beiden Fällen
machten die Auswanderer von den reichen Entfaltungsmöglichkeiten Gebrauch, die
sich in den stark wachsenden Städten Südamerikas boten. Letztlich konnten die
aufsehenerregenden Agrarkolonien nicht vom wesentlichsten Faktor der Migration
ablenken, der in einem intensivierten Verstädterungsprozess bestand, der die Alte und
Neue Welt gleichennassen veränderte. Erst recht eine Illusion musste es sein, Jahr-
zehnte später den ganz und gar urban geprägten europäischen Juden im Kolonialstil
agrarisieren zu wollen. Diese neu aufgegriffenen Pläne erwiesen sich im Zuge verän-
derter politischer Bedingungen in der Alten wie der Neuen Welt als vergebliche
Hoffnung.
330 5. KAPITEL

ARBEIT, BERUFSBILD UND SOZIALE UMSCHICHTUNG:


ZWISCHEN SELBSTHILFE UND DISZIPLINIERUNG DER FLÜCHTLINGE

Kurz nach der Konferenz von Evian vermerkte die Schweizerische Zentralstelle für
Flüchtlingshilfe in einem Brief an Rothmund, die Umschulung als Teil einer schweize-
rischen Auswanderungs- und Siedlungspolitik müsse nunmehr im internationalen
Rahmen realisiert werden. 95 Das Schreiben dokumentiert eine allgemein verbreitete
Überzeugung, die Flüchtlinge durch berufliches Training für die Weiterreise «geeignet
machen» Zu können. Diese Tendenz ist sowohl aus schweizerischen Quellen wie aus
jüdischen Dokumenten zu lesen. Besonders die Lenkung von agrarorientierten Grup-
pen- und Massenwanderungen, die eine «umfassendere» Lösung zu versprechen schien
als die individuelle «Infiltration», legte eine Umschulung der Auswanderer nahe. In
den Büros der einzelnen Hilfswerke herrschte dieser Glaube noch stärker als bei der
Fremdenpolizei, der es gleichgültig sein konnte, wie die Flüchtlinge weiterkamen.
Doch selbst in Bem sah man ein, dass beruflich richtig geschulte Kräfte schneller
weiterkommen würden. Die Realisierung von Auswanderungen bzw. Weiterreisen
hing also ab von der beruflichen Nützlichkeit und einer gelingenden Eingliederung im
Zielland. In der Tat war aus zahlreichen Überseestaaten immer wieder signalisiert
worden, man solle Bauern und Handwerker anstelle von Kaufleuten und Akademikern
schicken. Es wurde hier auch bereits auf das zionistische Ideal des landbauenden
Pioniers und die frühe. Propagierung einer jüdischen Landwirtschaftsschule in der
Schweiz für Palästinawanderer hingewiesen. Dies alles macht die Tendenz verständ-
lich, dass man die in der Schweiz weilenden Flüchtlinge nach Möglichkeit beruflich
umschulen wollte.
Die Gründe, unter den Flüchtlingen für eine solche berufliche Umschulung zu
werben, sind gleichzeitig in den historischen Bedingungen, politischen Auflagen und
mentalen Eigenheiten auszumachen, welche die Schweiz und die Schweizer Juden
ebenso wie die europäischen Gesellschaften und das europäische Judentum insgesamt
charakterisieren. Dazu gehören das allgemeine Arbeitsverbot für Emigranten und
Flüchtlinge in der Schweiz, die am eigenen Arbeitsmarkt orientierte Drosselung des
Wanderungsstroms, die vehementen antisemitischen Anfechtungen mit dem Schlag-
wort von angeblich «verjudeten» Berufen und die lange Geschichte der vergeblichen
Flucht der Juden aus ihren angestammten Berufen. Der weitverbreitete Ruf nach
Umschulung der Juden in «produktive» Berufe, insbesondere in landwirtschaftliche
und handwerkliche «Traditionen», spiegelt damit mehr als nur die tagesnahen Erfor-
dernisse einer gelenkten Weiterwanderung der Flüchtlingsmasse. Er ist gleichzeitig
Ausdruck jener utopisch oder pädagogisch motivierten Versuche zur «moralischen
Besserung», die berufliche Umgruppierung der Juden vorsätzlich zu lenken, wie sie
seit dem späten 18. Jahrhundert von Behörden und Reformern gefordert wurde.
MINHAG SUISSE 331

Beruflicher Wandel und Reformansätze im 19. und20. Jahrhundert

In der langen Anlaufzeit der Emanzipation lagen, insgesamt im westlichen Europa, die
traditionellen Berufszweige der Juden im Handel, zu dem sie durch ihr Sonderdasein
designiert geblieben waren. Berufsmässig konnte man die jüdischen Händler in drei
Gruppen aufteilen, nämlich eine dünne Oberschicht von Kapitalisten und Hoflieferanten,
dann eine wohlhabende Mittelklasse von Unternehmern, die ihre Kapitalien im Geschäft
mit der Landbevölkerung einsetzten, und schliesslich eine dritte grosse Gruppe von
Hausierern, Kleinhändlern und Gelegenheitskäufem, die das oft negative Judenbild der
christlichen Umgebung bestärkten. Viele unter den Befürwortem der Emanzipation und
später der jüdischen Integration hatten behauptet, rechtliche Gleichstellung und liberale
Bewegungsfreiheit würden die Juden veranlassen, sich neuen Betätigungsgebieten zuzu-
wenden. Doch trotz des Wandels im politischen Status der Juden in verschiedenen
Ländern änderte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die berufliche Struktur der jüdischen
Gemeinschaft nur wenig. Die Juden hielten an den herkömmlichen Berufsbereichen fest,
wenn sie einen Vorsprung hatten, oder sie wandten sich neuen Absatz- und Betätigungs-
feldern zu, die ihnen im Zuge der allgemeinen Verstädterung Erfolg versprachen. Die
früher im Aufenthalt eingeschränkten und gezwungenermassen herumziehenden Händler
und Hausierer eröffneten zwar neue Geschäfte, wo sie sich nun frei niederlassen konnten.
Doch man blieb in der gleichen Branche, selbst wenn sich die Handels- und Verkaufs-
formen wandelten. Allenfalls wechselte der jüdische Händler in einen verwandten oder
spezialisierten Zweig über, indem er aus der einstigen Reisetätigkeit heraus sehr schnell
die Bedürfnisse einer zunehmend urbaneren Kundschaft erkannte. Familiäre Bindungen,
soziales Zusammengehörigkeitsgefühl und branchenmässige Gewohnheiten erlaubten
zwar sozialen Aufstieg, doch blieben damit dem Wandel der Berufsstruktur Grenzen
gesetzt. Hinzu kam, dass die aus dem Osten einsetzenden Immigrationen die Tendenz, im
Handel zu wirken, noch einmal verstärkten. So blieb die jüdische Gemeinschaft im
Westen in angestammten Berufsbereichen und urbanisierte sich andererseits sehr
schnell.96
Die Langsamkeit des beruflichen Wandlungsprozesses kontrastiert so vielerorts
noch bis in das 20. Jahrhundert hinein mit der Fähigkeit zu wirtschaftlichen Innovatio-
nen, einer starken Verstädterung und leicht zunehmender Tendenz zu selbständiger
Wirtschaftstätigkeit Im Deutschen Reich verschob sicn bis 1933 der Anteil der Juden
an den verschiedenen Berufs- und Gewerbezweigen nicht wesentlich und nahm nur in
den Dienstleistungen und freien Berufen zu. Während sich dort das Bild einer überwie-
gend mittelständischen Sozialgruppe ergibt, so hatte die polnische Judenschaft als
bevölkerungsreiches Zentrum einen mittelständischen Charakter mit teilweise
proletarischem Einschlag. Die Verhältnisse in Deutschland und Polen waren für die
Schweiz nicht unwesentlich, stammten doch erhebliche Teile der jüdischen Immigration
nach der Emanzipation aus diesen Herkunftsräumen. Die Berufsstruktur der Schwei-
332 5. KAPITEL

zer Juden erscheint insgesamt von jener in Deutschland denn auch nicht abweichend,
zeigt aber, wie schon einmal erwähnt, noch die besondere Präferenz für die Textil-
branche. In allen anderen Berufen waren die Juden in der Schweiz gleichrnässig
vertreten und faktisch einflusslos. Juden waren in allen drei Ländern in der Land- und
Forstwirtschaft sehr selten anzutreffen und bildeten auch in Industrie und Handwerk
nur einen untervertretenen Anteil, der zudem vornehmlich aus selbständigen Inhabern
von mittleren Betrieben oder Verkaufsstellen bestand. Ganz anders sahen demgegenüber
die Zahlen für die christliche Bevölkerung aus. Damit wichen die beruflichen Präferenzen
der Juden von der nichtjüdischen Bevölkerungsmehrheit ab, was in der Öffentlichkeit
genau registriert und von den Antisemiten propagandistisch ausgeschlachtet wurde. 97
Die unterschiedliche Berufswahl, die der Volkswirtschaftler Werner Sombart be-
sonderen jüdischen Charaktereigenschaften zuschrieb, war in Wirklichkeit das Ergeb-
nis einer jahrzehntelangen Entwicklung und einer weiterhin vorhandenen gesellschaft-
lichen Ablehnung der Juden als Minderheit, die in der Folge nach unabhängigen
Positionen strebte.98 Die antisemitische Propaganda sprach von der «Verjudung»
einzelner Berufszweige und lancierte Behauptungen, die mit verzerrten oder übertrie-
benen Zahlen auf besonders sensible oder schwer durchschaubare Bereiche, wie
Rechtswesen, Medizin, Finanzen oder Warenhandel, zielten. Dabei wurde der geringe
Anteil der jüdischen an der gesamten Bevölkerung unterschlagen oder durch
«qualitative» Argumentationen wettgemacht. Wir haben bereits erwähnt, dass wäh-
rend den dreissiger Jahren die jüdische Berufsstruktur in der Schweiz zu Anfeindungen
und Polemiken führte. 99
Reformansätze und Versuche, diese Berufsstruktur zu ändern oder zumindest zu
beeinflussen, um Anfechtungen zu entgehen, hatte es seit dem frühen 19. Jahrhundert
immer wieder gegeben. Moralische Kritik an Verhalten und Berufswahl wurde anband
einer aufklärerischen und reformerischen Didaktik vorgetragen, die sowohl von wohl-
meinenden Nichtjuden wie auch von jüdischer Seite selbst ausging. Der spätere
Antisemitismus speiste das jüdische Bemühen von neuem, die emanzipierten Juden in
die «ehrbaren» Berufe des Handwerks zu treiben. Im zaristischen Russland erhielt
Ende des 19. Jahrhunderts der ORT gerade wegen den Pogromen und Krisenstimmungen
eine besondere Aktualität und propagierte ab 1920, als die Organisation sich in Berlin
niederliess, die berufliche Umschichtung wiederum im Westen. Mit dem Aufstieg des
Faschismus und Nazismus und dem Auftreten der Frontisten gerieten auch die Schweizer
Juden unter Druck. Dies ist in den Protokollen der jüdischen Abwehr, die hier mehr-
fach zitiert worden sind, deutlich ab lesbar, besonders an der «Warenhausfrage». In der
jüdischen Presse der dreissiger Jahre wurde daher teilweise vehement der beruflichen
Umschulung und sozialen Umschichtung das Wort geredet, lange bevor es um die
Emigranten und Flüchtlinge ging. Erst die Ereignisse von 1938 Hessen eine Anwen-
dung der Umschulungsidee auf die transitbestimmten Flüchtlinge vordringlich er-
scheinen.
MINHAG SUISSE 333

Frauenarbeit als Beispiel verfehlter Beschäftigungspolitik

Anfangs 1935 machte Saly Mayer, damals noch nicht als SIG-Präsident, sondern als
Aktionschef der jüdischen Abwehr, den Bund Schweizerischer Israelitischer Frauen-
vereine auf die «Notwendigkeit» aufmerksam, jüdische Haushälterinnen, Kranken-
pflegerinnen, Kindergärtnerinnen und Erzieherinnen heranzubilden. Diese Aufforde-
rung passt einerseits in das Bild der Abwehr, der frauenfeindlichen Geschlechter-
ideologie des Frontismus nicht auch noch mit modernen Frauenberufen, dieNazigrössen
als «jüdische Erfmdungen» abgetan hatten, vor das Geschütz zu fahren. Zum anderen
fand sie ihren konkreten Anlass in einem Schreiben des BIGA, «dem Wunsch des
Bundesamtes für Industrie, Gewerbe und Arbeit, die Gewinnung von einheimischen
Nachwuchs für den Hausdienst zu fördern». 100 In der Schweiz sollten die Frauen, nach
Auffassung des rechtskonservativen Bundesrats Musy, aus Büro und Fabriken
hinauskomplimentiert werden. Die jüdischen Männer folgten wie die übrigen Schwei-
zer diesem Ruf, und mit der Bereitschaft des BIF gegenüber SIG und BIGA, die
jüdischen Sozialeinrichtungen für die gewünschten Lehrstellen zu gewinnen, auch die
Frauen. In der Presse wurde Stimmung gemacht, so zum Beispiel in der Jüdischen
Presszentrale, dem Hausblatt der ICZ. Es sei der <<Abneigung gegen den Haushalt, die
eine allgemeine Erscheinung in der Schweiz ist, zu steuern», wobei nun die «Dinge bei
unseren jüdischen Mädchen noch im Argen liegen», weil sie sich zu schade für den
Haushalt Hinden und lieber höhere Berufe ergriffen. Brüschweiler vermerkt, es sei
Ausdruck einer günstigen sozialen Lage, wenn weniger jüdische Frauen im Gegensatz
zu den übrigen Schweizerinnen berufstätig seien. Jüdische Töchter aus gut situierten
Häusern wollten also nicht in der ihnen zugewiesenen Domäne des Haushaltes arbei-
ten, es sei denn erst nach der Heirat als Arbeitgeberinnen von fremden Lehrtöchtern.
Die BIGA-Forderung, die auch gerade auf die ausländischen Hausangestellten
zielte, bescherte den religiösen Juden ein besonderes Problem, weil sie auf jüdische
Ausländerinnen, die rituell kundig waren, angewiesen blieben. Vielerorts hätten es
vermutlich die Schweizer Juden lieber gesehen, weiterhin ausländische Jüdinnen im
Haushalt zu haben, doch der Druck von aussen bestimmte es anders. Der BIF schloss
zwar die lange im Lande niedergelassenen Frauen, die eine Arbeitsbewilligung hatten,
in sein BIGA-konformes Programm ein, glaubte aber frisch zugezogene Ausländerin-
nen fernhalten zu müssen. Von dieser durch Bern aufgezwungenen Unterscheidung
rückten BIF und SIG sofort ab, als sich ihnen das Flüchtlingsproblem stellte. Der Ruf
nach beruflicher Rückschichtung der jüdischen Frauen musste bei den weiblichen
Flüchtlingen um so mehr Geltung haben, als sie in den Augen der Verantwortlichen
die Chance zur Weiterwanderung erhöhte. Andererseits hoffte man wohl im stillen,
den jüdischen Haushalten endlich die gesuchten Kräfte zuführen zu können. SIG und
VSJF wollten jetzt für die Flüchtlinge ähnliche Haushaltlehren einrichten wie für die
eigenen Frauen und damit die soziale Umschichtung auf den Bereich der Transmigration
334 5. KAPITEL

anwenden. Aber Rothmund in Bern wies die kantonalen Fremdendienste an, Bewilli-
gungen für diese Umschulungen nur für drei Monate zu gewähren. Eine solche
Schnellbleiche sollte aus fremdenpolizeilicher Sicht verhindern, dass die Mädchen
ihre Auswanderung «nicht mehr eifrig genug betreiben» würden. 101

Jüdische Propaganda für Berufsumschichtung und schweizerische Arbeits- und


Flüchtlingspolitik

Die Propaganda für eine soziale und berufliche Umschichtung seit den frühen dreissiger
Jahren übernahm die bekannten Forderungen des ORT, des Agro-Joint und des Auf-
bauwerkes in Palästina. Über die Tätigkeit dieser Hilfswerke wurde regelmässig
berichtet. Die soziale Umschichtung, die in Russland und Deutschland zweifelsohne
notwendig war, wurde auf die Schweiz und die Schweizer Juden bezogen. Die Propa-
ganda erblickte darin vor allem eine Abwehraktion gegen den befürchteten sozialen
Antisemitismus und verinnerlichte den Konflikt, indem regelmässig ein Generationen-
problem ausgemacht wurde, das erzieherisch angegangen werden könne. Landwirt-
schaft und Handwerk wurden in historisierenden Rückwendungen als Grundlagen
biblischen Lebens und als talmudische Ideale der Rabbinen, die selbst immer einen
handwerklichen Beruf ausübten, gepriesen. Dabei wurde oft ein Zusammenhang zwi-
schen der Technisierung der Welt, der seelischen wie sozialen Entfremdung und dem
Aufkommen des Antisemitismus hergestellt. Illustrativ für diese Reaktionen auf die
Moderne ist ein mehrseitiger Leitartikel in der 1 üdischen Presszentrale vom Juni 1934,
mit zwei Fotos, die junge Landwirte an der Arbeit zeigen. Die Bildlegenden sprechen
beidemal von der «Überführung jüdischer Akademiker in Handwerk und Landwirt-
schaft». Nicht nur wurden die ORT-Arbeit in Deutschland und Osteuropa beschrieben
und Kolonialprojekte des JDC und der JCA in der Sowjetunion und in Übersee
bekannt gemacht, sondern daran der Hinweis geknüpft, dass diese Bestrebungen auch
für die Schweiz aktuell seien. Hier handle es sich um einen «Dienst der Schweizer
Juden an der Schweiz». Der Weg aus der scharf angeprangerten Berufsenge wurde
psychohygienisch und politisch begründet: «Der Ruf: Zurück zur Urproduktion! ist
das allein gültige Stichwort. Der Abkehr von der Einseitigkeit des Kaufmannberufes
sollte, wie wir glauben, die Hinwendung zu handwerklichen und auch zu land-
wirtschaftlichen Berufen entsprechen. Es gilt zur Verwirklichung dieser Zielsetzung
mit mancherlei zählebigen Vorurteilen auf jüdischer wie nichljüdischer Seite ein Ende
zu mache. Es gilt sogar, ganz offen gesprochen, bei den Juden ein neues Berufs- und
Arbeitsbewusstsein zu wecken. Aber man darf wohl gewiss sein, für diesen Gedanken
vor allem bei der jüdischen Jugend Verständnis und Bereitschaft zu finden. [... ] Es
lässt sich begreifen, dass auf die Erscheinung der jüdischen Berufseinseitigkeit in der
Schweiz sowohl der jüdische Organismus wie der Organismus der nichtjüdischen
MINHAG SUISSE 335

Umwelt nicht normal reagiert. Die anormale Reaktion des jüdischen Organismus ist
vielleicht eine Verengung des seelischen Lebens. Die gleiche Berufsarbeit aller oder
fast aller Mitglieder einer Gemeinschaft wirkt verödend und abstumpfend auf sie
selbst.» 102
Der einzelne Schweizer Jude hatte freilich entgegen einer romantisierenden Propa-
ganda keinen Anlass, seinen Beruf zu verlassen. Warum sollte er eine selbständige
Position aufgeben, die ihm ein Gebot wirtschaftlicher Vernunft war? Das Unbehagen
an den angeblich <~üdischen Berufen» lag nicht bei ihm, sondern in den Brüchen und
Verwerfungen seiner ihn umgebenden Gesellschaft, die ihn stigmatisierte. Kein Wun-
der, dass die Stellenvermittlung des SIG, die seit 1934 unter dem Ressort «Abwehr und
Aufklärung» eingerichtet wurde, kaum zur verlangten Umschichtung in Richtung
«Urproduktion» beitrug, sondern Arbeitslose in das Ausland exportierte und vor allem
Haushälterinnen in die Schweiz vermittelte. 103
Erst die zunehmende Zahl von Flüchtlingen machte ab 1938 die Berufsumschichtung
zur Forderung des Tages. Es ist evident, dass die Regulierung des heimischen Arbeits-
marktes und ein fremdenpolizeiliches Regime sich in der Flüchtlingsfrage am ehesten
die Hand reichten. Dies war in vielen Ländern Europas und der Welt der Fall, wobei
zudem antisemitische Überzeugungen ein irrationales Motiv bildeten. Wilhelm Graetz,
Vizepräsident der von Berlin nach Paris emigrierten ORT-Union, sah in der
Berufsumschichtung für Flüchtlinge und Migranten eine «zwingende, weil duiJh die
Not erzwungene Selbsthilfe», um sich in den Einwanderungsländern zurechtzufinden.
Die Pläne und Tätigkeiten des ORT, über den man in der Schweiz bisher erst aus
benachbarten und fernen Landen wusste, wurden nun mit handfestem Interesse und
sehr viel Optimismus bedacht. Während in der jüdischen Presse Graetz und andere die
Umschichtung und Berufsbildung propagierten, begann der VSJF, so gut es ging, unter
den Flüchtlingen diese Selbsthilfe zu organisieren. Sie beruhte zunächst darauf, die mit
Arbeitsverbot belegten Flüchtlinge sich gegenseitig unterrichten zu lassen. Dabei
wurde das Erlernen von Fremdsprachen und produktiven Fertigkeiten in den Vorder-
grund gerückt. In New York wies der SIG in Gestalt von Armand Dreyfus das JDC auf
diese ersten Anstrengungen hin, die der VSJF in eigener Regie unter den Flüchtlingen
organisierte. 104
Die internationalen jüdischen Organisationen, die sich mit der Transmigration
befassten, legten viel Gewicht auf die «Arbeit» der Flüchtlinge selbst. Das galt
natürlich für die zionistische Seite, die eine gute Vorbereitung für die Palästina-
Wanderer in landwirtschaftlichen und industriellen Berufen verlangte, ebenso wie für
die HICEM, die Auswanderer nicht als Kaufleute oder ehemalige Beamte nach Über-
see bringen konnte. Die Emigranten sollten in Buropa nicht «vergammeln», sondern
maximal für die Zukunft motiviert werden. Wie eine JDC-Direktive an den SIG
lautete, sollten die Flüchtlinge in der Schweiz entgegen allen Hindernissen einer guten
und menschenwürdigen Berufstätigkeit ( «square deal») nachgehen können und durch
336 5. KAPITEL

ALTER UND BERUFE VON TRANSIT- Gernäss dieser Quelle waren 15% der
FLÜCHTLINGEN IN DER SCHWEIZ 1941 Migranten «arisch» und der Rest Juden. Bei-
nahe drei Viertel wurden als deutsche
Eine Ende 1938 vom VSJF grob zusammen- Staatsbürger bezeichnet, die restlichen als
gestellte Übersicht ergab folgende Berufs- polnische, ungarische, italienische, rumäni-
gruppierung unter den jüdischen Flüchtlin- sche, lettische, russische, spanische o.a. Bür-
gen: 35% kaufmännische Berufe, 10% aka- ger. Die gelernten oder ausgeübten Beruf
demische und freie Berufe, 5% Techniker verteilten sich nach Prozenten wie folgt:
und Ingenieure, 25% Handwerker sowie
Landwirte und 25% Kinder, Jugendliche, % Berufss~arten
Studenten und Frauen, die nicht berufstätig 3,8 Landwirte, Förster, Gärtner
waren. Bei den kaufmännschen Berufen do- 7,8 Bekleidungsindustrie, Textilgewerbe
minierten selbstständige Unternehmer und (davon 30% Frauen)
Angestellte aus den Branchen Textil, Ban- 3,0 Lederindustrie und -handwerk
ken und Versicherungen sowie Beamte. Un- 3,0 Bauwirtschaft und Holzbranchen
ter den Handwerkern wird bei Meistem und 2,5 Chemische und pharmazeutische
Gesellen eine breite Berufs- und Sparten- Berufe
streuung berichtet. Drei Viertel der Ankom- 1,8 Grafisches Gewerbe
menden waren Erwachsene, und zwar zu 4,6 Metallurgische Industrie, einschl.
gleichen Teilen in den Altersgruppen der Uhrenmacher
zwischen 20 und 30, zwischen 31 und 40 22,0 Handel und kaufmännische Berufe
und der über 40 Jahre alten Flüchtlinge. (davon 15% Frauen)
Vierzehn Prozent waren Kinder bis zu 15 10,5 Freie Berufe (davon 20% Frauen),
Jahren, der Rest Jugendliche bis 20 Jahre. zur Hälfte Juristen/innen
Die jüdische Flüchtlingshilfe St. Gallen kam 6,7 Künstlerische Berufe (davon 25%
drei Jahre später, im April1941, auf einen Frauen)
vergleichbaren Befund in der beruflichen 6,3 Medizinische und pflegerische Be-
Gruppierung ihrer Flüchtlinge. rufe (davon 27% Frauen)
Im August 1941, das heisst nach dem 2,1 Architekten und Ingenieure
Versiegen der Aussichten auf schnelle 1,2 Ernährungsbranche (Bäcker, Metz-
Weiterwanderungen, bezifferte das Bundes- ger usf.)
haus die für den Transit bestimmten Flücht- 2,1 Restaurations- und Hotelfach (davon
linge wie folgt: 25% Frauen)
19,8 Haushälterinnen
Alter Alleinstehende Verheirate Total 0,7 Haar-, Schönheits und Gesundheits-
männl. weibl. ohne mit pflege (davon 50% Frauen)
Kinder(n) 4,6 Verschiedene Berufe (Optik, Foto-
1-15 95 95 190 grafie, Funk, Marine usw.)
16-20 169 125 294 100,0
21-30 584 279 48 19 930
31-40 594 182 118 127 1021 Quellen: VSJF: Bericht über die Israelitische
41-50 380 166 119 131 796 Flüchtlingshilfe in der Schweiz 1938, Zürich/
51-60 208 163 155 60 586 St. Gallen 1939. JDC: # 972-73, Berichte der
61-70 96 126 126 7 355 Israelitischen Flüchtlingshilfe St. Gallen vom
>70 40 80 46 166 Apri11941. AFS: 2001 D 3, Nr. 271, Statistik
Total 2166 1216 612 344 4338 vom 15. 8. 1941.
MINHAG SUISSE 337

«entsprechende Ernährung, Bekleidung und Wohnung physisch und psychisch für die
spätere Emigration vorbereitet werden». 105 In keinem Falle wollten JDC und SIG
angesichts des Arbeitsverbotes die Flüchtlinge einem «Nichtstun» überlassen, sondern
die gezielte Umschulung auf manuelle Berufe vorantreiben, «auch wenn die hierfür
von den Behörden gestatteten Möglichkeiten noch so primitiv sind». Besonders ge-
pflegt werden müssten nebst den Fremdsprachen, Geographie und Geschichte, die den
Auswanderer mit dem Zielland vertraut machen sollten, auch Turnen und Sport, um
die Flüchtlinge fit zu halten. Das JDC kündete denn auch die Durchreise eines
Inspektors an, der diese Massnahmen kontrollieren und Kandidaten bestimmen würde.
Auch ohne diesen moralischen Druck hatten im VSJF die lokalen Fürsorgen in den
betroffenen Kantonen seit Ende 1938 Umschulungen und Berufskurse organisiert.
Meist bestand die Anfangsschwierigkeit darin, ein geeignetes Lokal und die nötige
Ausrüstung zu finden. Hingegen waren Fachkräfte, die als Kursleiter und Kurs-
leiterinnen den Umgang mit Hammer, Hobel, Nähnadel oder Elektrozange lehrten,
unter den Flüchtlingen selbst leicht zu finden. Rasch organisiert werden konnten
Kurse, wenn die eingesessene Berufsbranche für den Flüchtling Verständnis aufbrach-
te, die kantonale Behörde vorübergehend eine Arbeitsbewilligung erteilte, ein Fabri-
kant das Lokal zur Verfügung stellte und Emigranten als Fachleute zur Hand waren.
So konnte ein Umschulungskurs für Schreiner in Basel auf die geräumige Werkstatt
einer jüdischen Holzwarenfabrik in Binningen rechnen, während verschiedene christ-
liche und jüdische Schreinereien der Region bereitwillig Hobelbänke und Werkzeuge
liehen. Während einem ersten Halbjahr unterwies dann ein aus Wien stammender
Schreinermeister die dreissig Flüchtlinge - über achtzig hatten sich für den Kurs
angemeldet hatten - im Handwerk, damit «Sie in fernen Landen die gebräuchlichsten
Gegenstände, wie Tisch, Stuhl und eventuell ein Blockhaus selbständig errichten
können». 106 Nicht immer und auch nicht überall ging freilich eine solche Kurs-
organisation so reibungslos von der Hand wie in Baselland, besonders wenn sich in
einer Branche, wie zum Beispiel bei den Lederwarenherstellern im Kanton St. Gallen,
Widerstand gegen befürchtete Berufskonkurrenz regte. Gemessen am Schwung der
Absichtserklärungen und der Umschulungspropaganda lief die Selbsthilfe anfanglieh
in bescheidenem Mass und unter Einschränkungen von Arbeitsverboten.
Am 17. Oktober 1939 zentralisierte der Bundesrat mit einem Vollmachtenbeschluss
das Flüchtlingswesen und damit auch die Erwerbstätigkeit aller Emigranten. Kurz vor
Weihnachten legten die in der SZF zusammengeschlossenen Hilfswerke eine Reihe
von Forderungen vor, die neben finanziellen Leistungen durch den Bund auch zwei
widersprüchlich scheinende Massnahmen vorschlugen. Einmal sollten mit der Grün-
dung von Internierungslagern in vom Bund angewiesenen Zonen die Flüchtlinge auf
alle Kantone verteilt werden, zum andern verlangte man eine beschleunigte Arbeits-
beschaffung für Emigranten in grosser Zahl statt nur in einzelnen Fällen. Der Bundes-
rat nutzte diese Eingabe zur weitgehenden Disziplinierung der Flüchtlinge und Emi-
338 5. KAPITEL

granten im Sinne des Transitimperativs. In seiner Antwort sagte er nein zu den


Internierungslagern wie zu Arbeitsbewilligungen, was beides, im grossen Stil betrie-
ben, die Flüchtlinge langfristig im Land gehalten hätte. Hingegen sagte er ja zu einer
Einberufung in zivile Arbeitslager «im Dienste der Landesverteidigung» und sah hier
die Möglichkeit einer besseren Vorbereitung für die Weiterwanderung mittels Um-
schulung und Arbeitsdienst. Dies bedeutete, dass der Bund Emigranten und Flüchtlin-
ge jederzeit auf Zusehen hin in den Arbeitsdienst einberufen und in Lagern internieren
konnte.
Mit den Arbeitslagern, die auf Antrag des Volkswirtschaftsdepartements beschlos-
sen und seit April 1940 von der Eidgenössischen Zentralleitung für Heime und Lager
betrieben wurden, geriet auch die Frage der Umschulung von privaten in eidgenössische
Hände. Anstelle der Kantone, die noch eher eine verständnisvolle Arbeitspolitik von
Fall zu Fall zu erlauben schienen, regierte nun Bern mit strikten Prinzipien. 107 Aus dem
ursprünglichen Bestreben der Hilfswerke, der lähmenden Untätigkeit entgegenzu-
treten, zu der das generelle Arbeitsverbot die Flüchtlinge nötigte, hatte der Bundesrat
unter dem Vorwand der Berufsumschulung politisches Kapital geschlagen. Hinzu kam
beim SIG und VSJF, wie die JUNA vermerkte, die finanzielle Zwangslage, die
natürlich eine schulische Betreuung illusorisch machte. 108
An eine ernsthafte Umschulung in den Arbeitslagern, in die alle arbeitsfähigen
Emigranten und später auch Flüchtlinge eingewiesen wurden, war kaum zu denken.
Geleitet wurden die Lager von Offizieren, die teils ein gewisses Verständnis für die
Eingewiesenen entwickelten, teils als Lagergewaltige ihre Machtfülle primitiv aus-
lebten und gar antisemitischen Gefühlen freien Lauf Hessen. Das Lager wurde von
ihnen als Ort der «Ertüchtigung» gesehen, und die Arbeitsdienstler, zumal die jüdi-
schen, stellten oft allerhand rührende Beweise an, das Vorurteil, Juden seien zu
produktiver Arbeit nicht zu gebrauchen, Lügen zu strafen. 109 Doch allein die Prinzipien
des Arbeitsdienstes, das heisst Ziel und Zweck der Lager, wie sie aus verschiedenen
Erlassen und Merkblättern des EJPD hervorgehen, kamen einer verfehlten Arbeits-
therapie gleich. Zwar suchten PolizeichefRothmund und Otto Zaugg, Chef der Zentral-
leitung, Sinn und Aufgabe als einen «erzieherischen Umwandlungsprozess» zu ver-
kaufen und die für Migranten wichtige «Arbeitsverbundenheit mit dem Erdboden»,
die für die aus dem Osten stammenden Flüchtlinge etwas vollkommen Neues sei,
herauszustreichen. 110 Das straffe Lagersystem verordnete seinen männlichen Insassen
einfache «Arbeiten von nationalem Interesse», das heisst Erdarbeiten, Strassenbau,
Rodungen und Meliorationen, ohne Rücksicht auf vorhandene berufliche Qualifikation,
so dass zum Beispiel Schneider oder Musiker, die beide auf feine Hände angewiesen
waren, ihre berufliche Zukunft viel eher gefährdeten.
Entmutigend und die Würde der Arbeit verletzend wirkte auch das enge Klima.
Widersprechende oder allzu selbständig denkende Insassen wurden mit Versetzungen
oder Strafmassnahmen diszipliniert. Für die «Ertüchtigung» und Vorbereitung auf ein
MINHAG SUISSE 339

künftiges Ziel- und Auswanderungsland bildeten die Arbeitslager kein motivierendes


Umfeld und schreckten die Kandidaten für koloniale Siedlungen nur noch mehr ab.
Zunehmend geriet daher nicht nur die Institution der Lager als Massenform, «als eine
Frucht des totalitären Geistes», in der Öffentlichkeit unter Kritik, die sich nach dem
Krieg auch gegen die Person des eidgenössischen Flüchtlingskommissars richtete. 111
Besonders die unsinnige Verschleuderung von Arbeitsressourcen, die entwürdigende
Behandlung der Internierten, antisemitische Ausfälle von unfähigen Lagerkom-
mandanten, die ständigen Verschiebungen in neue Einsätze und Gebiete und der
Missbrauch der Arbeitskraft kamen ab 1943 unter Beschuss. In der jüdischen Presse
fiel im Oktober 1943 das Wort vom «Sklavenmarkt}}, und in einigen Schweizer
Blättern wurde die «Verdingung von Arbeitskraft» scharf kritisiert. Die Welt brauche,
wie die sozialdemokratische Berner Tagwacht und andere vermerkten, keine Hand-
langer und Bäumeausreisser, sondern gelernte Handwerker, Techniker, Facharbeiter,
gewerbliche und agrarkundige Spezialisten und nicht zuletzt auch Wissenschaftler und
Künstler.U 2
Erst gegen Mitte 1944 wurde die berufliche Schulung, die über Freizeitkurse und
einige Lehrlingsaktionen hinausging, umfassend ermöglicht, nachdem auf national-
rätliche Anregung hin der Bund im März für das Flüchtlingswesen vier Experten-
kommissionen für Rechtsfragen, Bildung, Unterkunft und Weiterwanderung berufen
hatte. Damit war auch klar, dass nach wie vor das Diktum des Transits in der
Nachkriegszeit Gültigkeit haben würde, wenn auch jetzt keine Anstrengung gescheut
wurde, die Arbeitslager plötzlich als emanzipiertes Bildungs- und Freizeitunternehmen
erscheinen zu lassen. Wie später dem Schlussbericht der Zentralleitung der Heime und
Lager (1942-1947) zu entnehmen war, sei 1944 eine «eigentlich umfassende Schulungs-
aktion» durchgeführt worden und mit dem am 26. Oktober des gleichen Jahres in Kraft
gesetzten Freizeitreglement auch das Ziel einer «Aktivierung der Persönlichkeitswerte
der von uns betreuten Flüchtlinge und Emigranten» verfolgt worden. 113 Doch hier hat
die Eidgenossenschaft keine Pionierarbeit geleistet, sondern vor allem Forderungen
aufgegriffen, die schon früh programmatischer Bestandteil jüdischer Hilfswerke und
der in der SZF zusammengeschlossenen Hilfsorganisationen waren. Sie existierten oft
genug nur auf dem Papier oder waren mit bescheidenen Mitteln in die Praxis umge-
setzt worden. Nun machte Bern aus der alten Idee der Selbsthilfe und der langjährigen
Forderung der Hilfswerke eine bescheidene Umschulungsaktion, die eidgenössisch
kontrolliert werden konnte. Von Mitte September 1944 an besuchten in den sechs
Monaten bis Frühjahr 1945 von den insgesamt 40'000 Zivilflüchtlingen, von denen
damals 12'000 in Lagern und Heimen interniert waren, 385 Männerund Frauen einen
handwerklichen Fachkurs der Zentralleitung, die ausserdem in ihren Büros und einer
zentralen Flickstube 831 Flüchtlinge beschäftigte.U4
340 5. KAPITEL

Die ORT-Initiative 1942-1951

Mehr als ein Jahr vor dieser Aktion der Zentralleitung hatte der ORT zielstrebig damit
begonnen, die durch die Misere des schweizerischen Lagersystems entmutigten Ar-
beitskräfte mit attraktiven Angeboten zur beruflichen Schulung zu motivieren. Zur
Vorgeschichte der jüdischen Eigeninitiative in der Schweiz gehört das Schicksal der
Organisation selbst, die ihre Aktivitäten im Verlaufe des Winters 1942/43 von
Südfrankreich nach der Schweiz verlagern musste und in Genf ihren neuen Hauptsitz
begründet hatte. In New York war im Spätsommer 1942 gleichzeitig die Gründung
eines Notkomitees des ORT erfolgt, das bald seine Unterstützung in die noch offenen
europäischen Länder fliessen liess. Dem ORT-Aktivisten und Vizepräsidenten der
Union, Aaron Syngalowski, war die Flucht in die Schweiz mit der Flüchtlingswelle
geglückt, die im Dezember 1942 teilweise über die Westgrenze gelangen konnte.U 5
Syngalowski und weitere ORT-Aktivisten, die es über Jahre gewohnt waren, den
Flüchtlingen auf dem Fuss zu folgen und unter sehr widrigen Bedingungen zu arbeiten,
suchten nun ihr neues Betätigungsfeld in der Schweiz. In Genf und andernorts fand
Syngalowski sofort Unterstützung bei Gesinnungsgenossen wie Liebman Hersch,
Boris Tschlenoff, Erwin Haymann und stiess bei dem Basler Bankier Paul Dreyfus de
Günzburg, dem das tägliche Schicksal der Flüchtlinge besonders naheging, mit seinen
Ideen auf Gehör. Armand Brunschvig, der Präsident der jüdischen Flüchtlingshilfe in
Genf, dem im Oktober 1943 durch die Verfügung des Armeekommandos die Bewilli-
gung zum Besuch der Auffanglager entzogen worden war, gehörte ebenfalls zu den
engen Freunden Syngalowskis. Vom JDC, das in der Schweiz von Saly Mayer nach
dessen Rücktritt als SIG-Präsident repräsentiert wurde, hatte der ORT während seines
Untertaueheus im besetzten Frankreich gelegentliche Unterstützung erhalten.U6
Syngalowski zog vom Herbst 1943 bis Spätsommer 1944 ein Schulungsprogramm
auf, das auf dem Grundsatz der Selbsthilfe durch Arbeit beruhte. In den 43 ORT-
Institutionen, darunter allein 5 Tagesschulen, 4 Lehrwerkstätten, 9 Kinderwerkstätten,
20 Fachkursen sowie Laboratorien und Lehrgärten, erlernten binnen Jahresfrist 650
Flüchtlinge handwerkliche und technische Berufe. Hinzu kamen die 19 Produktions-
werkstätten, die na~h den Bedürfnissen der Flüchtlinge arbeiteten und dem Grundsatz
«Unterstützung durch Selbsthilfe» folgten. Ausbildungs- und Lehrangebote deckten
ein breites Berufsspektrum ab, vom Schreiner bis zum Kinooperateur, von den land-
wirtschaftlichen bis zu technischen Berufen, den mechanischen Werkstätten bis zum
chemischen Laboratorium. Die ersten Tätigkeitsberichte und vor allem der Auf-
bauplan zeigen, dass der ORT vornehmlich Flüchtlinge in den Schulrat einsetzte und
als handwerkliche und technische Kader gewinnen konnte. Schweizer Schulräte oder
Ausbildner sind selten angeführt. Dafür fanden schweizerische Gewerbelehrer und
auch Lehrmeister Anstellung beim ORT, wenn als Ausbildner keine qualifizierten
Flüchtlinge zu finden waren.
MINHAG SUISSE 341

Bemerkenswert ist auch die Weitsicht, talentierte Flüchtlinge als Ausbildnerweiter-


zuschulen. Sie wurden für einen ORT-Einsatz als Kaderleute, Lehrer und Trainer
vorbereitet und sind nach dem Kriegsende in ihren Herkunfts- oder Weiterwanderungs-
ländern zum Einsatz gekommen. In Genf eröffnete der ORT ein berufspädagogisches
Institut für die Ausbildung von Instruktoren, Gewerbelehrern und -Iehrerinnen, die in
der Nachkriegszeit als qualifizierte Fachkräfte in alle Welt reisten. Konsequent achtete
die Organisation in ihren Lehrplänen auch darauf, dass Weiterwanderer in fremden
Ländern ihre Ausbildung an den dort ansässigen ORT-Schulen würden fortsetzen oder
ihre Kenntnisse weitergeben können. Vom Herbst 1944 datiert auch das erste ORT-
Diplom, das anlässtich der Abschlussprüfung eines Jahreskurses in Damenschneiderei
ausgestellt wurde. Der Gestalter dieses Dokumentes, Jacob Pakciarz, war selbst Flücht-
ling polnischer Abstammung und vom ORT an die Genfer Ecole des Beaux Arts
geschickt worden. 117
Im September 1944, als die eidgenössische Zentralstelle immer noch eine Weiter-
bildung an die Hand zu nehmen gedachte, plante Syngalowskis ORT bereits die
weitere Eröffnung von fast 30 neuen Schulen, Lehrwerkstätten und Fachkursen. 1945
bis 1946 bildete der ORT in 9 Tagesschulen Jugendliche als Mechaniker, Tischler,
Elektriker, Radiotechniker, Kinooperateure und Schneider aus. Er unterhielt in der
ganzen Schweiz 60 Lehrwerkstätten, 17 Kinder- und Jugendwerkstätten, zahlreiche
Fachkurse und 20 eigene Produktionsbetriebe, die auch Werkzeuge und Maschinen an
ausländische ORT-Schulen exportierten oder weiterwandemde ORT-Absolventen mit
Berufsausrüstungen versorgten. Wertvolle Dienste leistete die Organisation bei der
Ausbildung und Integration von geheilten Tbc-Kranken, Kriegsversehrten und körper-
lich Behinderten. Zwischen 1943 und 1951, als der ORT in der Schweiz sich der Aus-
und Umschulung von Flüchtlingen annahm, wurden mehr als 3000 Jugendliche und
Absolventen beruflich auf die Auswanderung vorbereitet. Migrationsförderlich wirk-
ten die Instruktorenkurse, die im eigenen Institut und in öffentlichen Schulen, die der
ORT bezahlte, durchgeführt wurden. Kein Wunder, dass die Organisation, die erst
noch finanzielle Mittel aus dem Ausland mobilisierte, mit diesem Tempo ihrer beruf-
lichen Weiterbildungsoffensive schon bald von sich reden machteY 8
Die Erfolgsgeschichte des ORT in der Schweiz verdankte sich zum einen den
günstigen Bedingungen im politischen Wendeklima von 1943/44 und zum andem der
Erfahrung und Energie der ORT-Aktivisten, die mit dem schlechtem Gewissen der
eidgenössischen Flüchtlings- und Lagerbetreuung kontrastieren. Nach seiner Ankunft
im Frühjahr 1943 hatte Syngalowski für den ORT das Wohlwollen von EJPD und
Fremdenpolizei gewinnen können und geschickt den Versuch des SIG, seine Organi-
sation zu kontrollieren, aus dem Weg geräumt. 119 Die internationale ORT-Union
wollte sich weder von der eidgenössischen Zentralstelle noch von SIG und VSJF ihr
Programm bestimmen lassen und bestand aufweitgehender Autonomie. Im Gegenzug
bot der ORT finanzielle Mittel, technische Einrichtungen, Personal und besonders eine
342 5. KAPITEL

reichhaltige berufspädagogische Erfahrung und verwies auf die konjunkturelle Unab-


hängigkeit der weltweit tätigen Union. Syngalowski definierte im weiteren die Rolle
des SIG als politische Aufgabe, um die Interessen des neutralen und apolitischen ORT
in Bem vertreten zu können. Im November 1943 wurde schliesslich als taktisch längst
angesteuerter Kompromiss eine gemeinsame Plattform begründet. Diesem Ort Suisse,
der von allen namhaften jüdischen Führungsgestalten patronisiert wurde, stand eine
mehrheitlich durch die Freunde Syngalowskis zusammengesetzte Exekutive vor, die
von Armand Brunschvig präsidiert wurde. 120
Mit dem Ort Suisse war die internationale ORT-Union, die ganz allgemein dem
Prinzip lokal getragener ORT-Gesellschaften folgte, auch in der Schweiz legitimiert.
Sie intensivierte nun die Propaganda für geplante und bereits eingerichtete Aus-
bildungsstätten. Das Israelitische Wochenblatt berichtete, die sogenannte Umschulung,
bislang nur «nahezu zerredet und kaum mehr ernst genommen», seijetzt endlich durch
den ORTohne Verzug ins Werk gesetzt worden. «Hilfe durch Arbeit» und «Ort macht
Schule», diese zwei Slogans der Organisation, wurden wie ein Vorwurf an die
eidgenössischen Behörden zitiert. 121 Bei dieser Kritik an Regierung und Beamten-
schaft sowie an die Adresse der allzu braven Anpasser innerhalb der jüdischen Eliten
konnte sich die Redaktion des Wochenblatts auf ihren Standpunkt abstützen, den sie
seit 1941 eingenommen hatte. Nach einem Jahr Arbeitslager hatte das Wochenblatt auf
die körperlichen und psychischen Schäden und die politischen Gefahren der Unfreiheit
hingewiesen, die mit dem Lagersystem verbunden waren. Jetzt lag die Forderung
nahe, dass den Flüchtlingen, die ihre Dienstzeit geleistet hätten, für die weitere Dauer
ihres Aufenthalts in der Schweiz die Erlaubnis zu freier Arbeit erteilt werden müsse. 122
Dass die Flüchtlinge dieses Recht erhielten, blieb auch nach dem Krieg illusorisch.
Keine einzige Partei oder Gewerkschaft machte sich für den bleibenden Aufenthalt der
fremden Juden stark. Einem Interpellanten in der Legislative des Kantons Zürich, wo
sich unter den 3500 Emigranten und Flüchtlingen besonders viele Juden aufhielten,
beschied 1946 die Regierung, dass eine generelle Arbeitsbewilligung aufgrund der
eidgenössischen Bestimmungen nach wie vor nicht erteilt werden könne. 123 Trotz
humanitärem Tauwetter für die Flüchtlinge blieb die Schweiz frostig, wenn es um das
Recht auf Arbeit, feste Niederlassung und dauerndes Asyl ging.
Hier lagen denn auch die Grenzen und gleichzeitig die Chancen der ORT-Initiati-
ve. Syngalowski, der die Emigranten und Flüchtlinge auf die Idee der Selbsthilfe
eingeschworen und zur Arbeit motiviert hatte, förderte mit emanzipatorischen Bildungs-
idealen einerseits den Anspruch auf politische Mündigkeit und Selbstbestimmung.
Denn die Ideale des ORT, in Syngalowskis Person gleichsam repräsentiert, beruhten
auf einer Ethik der Arbeit, die sich wohl unabhängig von Ideologien verstand, aber die
Würde des arbeitenden Menschen voraussetzte und anstrebte. Syngalowskis Grund-
sätze prononcierten begrifflich die Einheit und Unantastbarkeit von Körper und Seele,
von Kultur, Freiheit und Arbeit. 124 Ein solches Programm der Arbeit hintertrieb letztlich
MINHAG SUISSE 343

die von der Schweiz strikt geübte Fremdbestimmung des Flüchtlings in der politischen
Praxis, wie sie das autoritäre Vollmachtenregime ausübte. Doch zum andern war der
«apolitische» ORT in seinem Selbstverständnis «philanthropisch» und international
orientiert und nicht auf eine politische Durchsetzung des Rechts auf Arbeit in einem
einzelnen Land ausgerichtet. Dass sich Syngalowski mit praktischen Erfolgen in der
Schweiz durchsetzte, war gerade durch die Aussicht der Regierung in Bern begünstigt,
dass die Flüchtlinge dank der internationalen Tätigkeit der ORT-Union bald aus der
Schweiz ausreisen würden.
Zieht man ein Fazit, so wird man kurz zusammenfassen können, was die drei
Säulen der beruflichen Aus- und Umschulung, der Arbeit und der Migration politisch
miteinander verband. Was der SIG und VSJF vor dem Krieg gerne gesehen hätten,
aber aus politischer Nötigung, finanziellem Mangel und auch organisatorischer Über-
forderung nicht realisieren konnten, und was dabei insbesondere die eidgenössischen
Behörden tunliehst zu vermeiden wussten, nämlich die Schulung der fremden Arbeits-
kraft mit der gefürchteten möglichen Folge, marktwirtschaftliche Konkurrenz und
gesellschaftliche Integration zu erwirken- all dies hatte der ORT nun in kürzester Zeit
vorexerziert und auf die Weiterwanderung der Flüchtlinge programmiert. Die interna-
tionale Organisation wollte den jüdischen Flüchtling beruflich dort ausbilden, wo er
sich befand, um ihm mit produktiven Fähigkeiten zu einer Chance zu verhelfen, wo
immer auch diese gebraucht würden. Demgegenüber nimmt sich der eidgenössische
Arbeitsdienst der Lager aus, als wäre es darauf angekommen, die Emigranten und
Flüchtlinge beruflich so weit unten zu halten als nur möglich. Der Wandel im militäri-
schen und politischen Kraftfeld, der Wechsel der Kriegslage, liessesden verantwortli-
chen Wendehälsen in der Politik aber nach 1943 geraten erschienen, sich human und
verständnisvoll auch dort zu geben, wo vor Jahren noch der Wind der «Herrenmoral»
geweht hatte. Die Initiative der ORT-Leute ist in diesem Klima gediehen, und sie hätte
vielleicht auch zur Integration vieler Emigranten und Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt
der Schweiz führen können. Doch der SIG hat sich hier gegenüber Bern nicht durchge-
setzt, und der ORT als international tätige und politisch neutrale Organisation hatte
weltweit andere Sorgen und Pflichten. Nach wie vor blieb der Flüchtling, der jahrelang
im Land gelebt und Dienst geleistet hatte, von Bern zum Transit bestimmt. Viele unter
ihnen haben es vorgezogen, die Schweiz nach den schlechten Erfahrungen im Lager-
system zu verlassen. Es bleibt unklar, wie viele innovative Kräfte dem Land damit
verloren gegangen sind. Die Schweiz hatte eine Chance zu neuen wirtschaftlichen und
kulturellen Impulsen vertan.
344 5. KAPITEL

JÜDISCHE FLÜCHTLINGE WOHIN?


DIE FRAGE DER RÜCK- ODER WEITERWANDERUNG ZWISCHEN BEVOR-
MUNDUNG UND SELBSTBESTIMMUNG

Lange bevor die Niederlage des Deutschen Reichs sich deutlich abzeichnete, und noch
vor dem Holocaust, wurde vereinzelt unter den jüdischen Organisationen und Flücht-
lingen die Frage nach der Rück- und Weiterwanderung und der Gestaltung der Nach-
kriegszeit gestellt. Im März und Dezember 1941 brachte der WJC in Genf und Zürich
seine Forderung nach einem Minderheitenrecht auf einer künftigen Friedenskonferenz
mit Podiumsdiskussionen zur Sprache. Hans Klee, ein prominenter Emigrant, behan-
delte auf diesen Veranstaltungen das Nachkriegsproblem aus zionistischer Sicht, in-
dem er das «Nachtasyl» eines Minderheitenrechts ablehnte. 125 Brennend wurde die
Frage des jüdischen Schicksals in einer Nachkriegsordnung aber im Verlaufe des
Jahres 1944 und hielt dann, mit allen Folgeproblemen, in der Schweiz noch mehr als
ein Jahrzehnt an. In Genf beschäftigten sich WJC und Jewish Agency in einem
Ausschuss privater internationaler Organisationen mit soziologischen und völker-
rechtlichen Überlegungen. Der SIG stellte die Erwartungen für die Nachkriegszeit
unter der Leitlinie von Umschulung und Weiterwanderung noch einmal eingehend
zusammen. 126 Mit dem Kriegsende war das schlimmste Kapitel des jüdischen Leidens
abgeschlossen, doch Not und Verzweiflung blieben überall in Europa bestehen. Hundert-
tausende hatten keine Heimat mehr, was für die dem Völkermord entkommenen Juden
in besonderer Weise galt.
In der Schweiz stellte sich dieses Problem den jüdischen Organisationen und
schweizerischen Hilfswerken mit vielfältigen Aufgaben: mit der äusserst kontroversen
Frage um die Rück- oder Weiterwanderung, den Diskussionen zwischen Zionisten und
Nichtzionisten, dem Problem der Staatenlosen und der verwaisten Kinder, der schnel-
len Hilfe für die Überlebenden in den Lagern und der Suche nach deportierten
Verwandten und vermissten Angehörigen. Die offizielle Schweiz war nach wie vor
besorgt, dass ihre Flüchtlinge, und unter ihnen besonders die staatenlosen Juden, nicht
schnell genug die massenweise oder individuelle Weiterwanderung betreiben würden.
Schliesslich stritten sich Regierung und jüdische Organisationen mit Schweizer Ban-
ken, Treuhändern und Versicherungen um erblose Gelder ermordeter Juden, deren
Hinterlassenschaften schliesslich 1974 zu zwei Dritteln dem SIG und einem Drittel der
Schweizerischen Flüchtlingshilfe zugesprochen wurden, soweit sie in Bern durch
Banken und Treuhänder angemeldet wurden. 127
Allen diesen Fragen um die Nachkriegszeit kann in dieser Studie nicht nachgegan-
gen werden. Allein die jüdischen Flüchtlinge, die zwischen 1944 und 1952 in ihre
Domizilländer zurückkehrten, nach Übersee auswanderten oder über ein weitverzweigtes
zionistisches Netz von Stützpunkten nach Palästina gelangten, würden eine Darstel-
MINHAG SUISSE 345

lung verlangen, die auf dem Studium zahlreicher Quellen und Dokumente gründen
müsste. Eine solche Studie, die für das Nachkriegsösterreich bis 1948 vorliegt, zeigt
das jüdische Palästina als die letzte Hoffnung für die in den Lagern lebenden «displaced
persons», die von den zionistischen Aktivisten durch Österreich illegal in Richtung
Palästina geschleust wurden. 128 Die Ergebnisse von Forschungen, die sich der
Remigration in die alten Herkunftsländer widmen und dort die Situation beschreiben,
zeigen im weiteren, dass tendenziell den Rückkehrern und Überlebenden Ablehnung,
Vorwürfe oder gar ein Pogrom entgegenschlugen. 129 Judenhass, Fremdenfeindlichkeit
oder andere Formen des Rassismus waren in Europa überall virulent, auch wenn dies,
wie etwa in Frankreich, den Zeitgenossen nicht immer sofort sichtbar war. Auch in der
Schweiz zeigten Schlägereien und wiederholte Zusammenstösse zwischen Einheimi-
schen und Flüchtlingen, dass 1944-1945 Spannungen in der Luft lagen. Für den
jüdischen Flüchtling stellten sich die Probleme noch schärfer als für die Nichtjuden,
die in ihre Heimat zurückkehren konnten. Der Wunsch, Europa den Rücken zu kehren,
um als Jude unter Juden leben zu können, kontrastierte mit dem Verlangen, in einem
freien Land zu leben, das oft unerreichbar oder verschlossen blieb. Die heimatlosen
Juden waren nicht willkommen, und einen eigenen Staat besassen sie nicht. Wohin
also sollte sich der jüdische Flüchtling wenden?
Im folgenden wird vor allem die 1944 und im folgendenJahrgeführte Kontroverse
um die Zukunfts- und Wanderungspläne der Flüchtlinge überblickt. Dies kann aber
nur geschehen, wenn eine ganze Reihe von Fragen und Randbedingungen berücksich-
tigt werden. Einmal wird die Frage angeschnitten, wieweit die Flüchtlinge über sich
selbst bestimmen konnten oder sich wie bisher fremdbestimmt fanden. Daher ist das
Thema der politischen Bevormundung und Emanzipation der Flüchtlinge einzubezie-
hen, was wiederum das Gegensatzpaar Massen- und Einzelwanderung in Erinnerung
ruft. Politische Selbstbestimmung, wie sie einige Aktivisten unter den Flüchtlingen
forderten, hätte bedeutet, dass die Flüchtlinge nicht mehr gruppenweise gelenkt,
sondern nach individuellem Entschluss sich bewegen oder gar vor Ort eingliedern
würden. Am Horizont zeichnete sich im weiteren die Entstehung des jüdischen Staates
ab, was in den Augen der Fremdenpolizei, die individuelle Entscheide der Migranten
als Anfang einer bleibenden Integration fürchtete, wiederum neue Aussichten auf die
«Massenlösung» bei der Bewältigung ihrer «Judenfrage» bieten konnte. 130
Für die Schweiz ist aus dem vorliegenden Material der damals heftig geführte
Streit deutlich ab lesbar, wie und wohin der Flüchtling gehen solle. Die schweizerische
Flüchtlingspolitik erscheint schon widersprüchlich durch das offensichtliche Bemü-
hen, im Gegensatz zu den vergangenen Jahren plötzlich nicht mehr zwischen Juden
und Nichtjuden unterscheiden zu wollen. Doch Behörden und Hilfswerke waren sich
in der jüdischen Frage ebenso uneinig wie die jüdischen Organisationen und die
jüdischen Flüchtlinge unter sich selbst. Mit einer Reihe von Interpellationen lebte
zudem wegen den Spannungen in der Bevölkerung 1944/45 die Flüchtlingsdebatte im
346 5. KAPITEL

Nationalrat von neuem auf, wobei die Frage nach der «möglichst raschen und rei-
bungslosen» Aus- und Rückwanderung im Oktober 1944 aufgeworfen wurde. 131 Dies
alles ist wiederum nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass nach Holocaust und
Kriegsende auch die verbündeten USA und England hinter den Kulissen uneinig
waren. Washington förderte, gegen den britischen Willen, die Einwanderung nach
Palästina, nicht zuletzt mit Blick auf den innenpolitischen Druck in den USA; London
hingegen suchte die Überlebenden in den europäischen Ländern auf dem Kontinent
festzuhalten und schielte weiterhin auf den schwindenden Einfluss in den arabischen
Ländern. Die gemischte englisch-amerikanische Kommission, die 1946 das Problem
der europäischen Juden untersuchte, nahm nun auf diesem Hintergrund auch vom
Bundesrat Angaben über die Weiterwanderungspläne jener 9300 Juden entgegen, die
sich noch im Land befanden. Diese waren nach bundesrätlicher Überzeugung natür-
lich «nur zu vorübergehendem Asyl hier und verpflichtet, die Schweiz bei sich
bietender Gelegenheit zu verlassen». Dersattsame Imperativ der Weiterwanderung
widerspricht deutlich der zwei Jahre zuvor bundesrätlich gewährten «Einräumung
eines Mitspracherechts an die Flüchtlinge in der Regelung ihrer Angelegenheiten» -
was auch immer darunter verstanden wurde. 132

Die Konferenz von Montreux 1945

Ende Februar 1945 fand in Montreux am Genfersee, auf der gegenüberliegenden Seite
von Evian, eine Tagung der SZF zum Thema der Rück- und Weiterwanderungen
statt. 133 Treibende Kraft dieser Veranstaltung war Bertha Hohermuth vom I nternatio-
nal Migration Service, welche die zitierte Erhebung über die Zukunftspläne der
Flüchtlinge initiiert hatte und deren Resultate an der Tagung erstmals vorgelegt
wurden. Hohermuth hatte im Oktober 1944 und Januar 1945 an den ersten Sitzungen
der eidgenössischen Expertenkommission für Flüchtlingsfragen einen Zwischenbericht
erstattet. Im November 1944 forderte Nationalrat Hans Oprecht bei von Steiger einen
«Flüchtlingsrat» als konsultatives Organ in Fragen der Weiterwanderung und Freizeit-
gestaltung. Rothmund wiederum wies von Steiger darauf hin, dass sich unter den
jüdischen Flüchtlingen schon längere Zeit regionale Initiativausschüsse gebildet hat-
ten, die nun in einem Zentralrat der Flüchtlinge Einfluss im VSJF haben sollten. 134
Solche Mitsprache war seit 1943 immer wieder von einzelnen Organisationen, vorab
linken und kirchlichen Kreisen, dem Escherbund und einigen Hilfswerken, verlangt
worden und erschien nun erneut als Forderung für die vorgesehene Tagung. Jetzt
hatten das International Migration Service und die SZF als Veranstalterinnen von
Montreux politisch zunehmend Rückenwind für ihre Konferenz. Nach ihrem eigenen
Verständnis sollte es sich um eine «Aussprache zwischen Behörden, Hilfswerken und
Flüchtlingen» handeln. Vom Stand der bisher geübten behördlichen Disziplinierung
MINHAG SUISSE 347

her betrachtet, musste dies geradezu umwälzend erscheinen, zum andem erforderte es
eine sorgsame Auswahl der nach Montreux eingeladenen Flüchtlinge, um das Gesche-
hen nicht unkontrolliert zu lassen. Die Konferenz in Montreux selbst wurde be-
zeichnenderweise nicht von den Flüchtlingen selbst beschickt, sondern setzte sich aus
von der SZF eingeladenen Personen zusammen. Hingegen forderten die Initiativ-
ausschüsse von Flüchtlingen, die sich in einzelnen Städten formiert hatten, nunmehr
immer deutlicher das Recht auf Mitsprache und Selbstbestimmung. Der VSJF hatte
bereits im Oktober 1944 «den Wunsch der Flüchtlinge, in den Fragen der Weiter-
wanderungen mitzuberaten als berechtigt anerkannt». 135
Die Konferenz von Montreux verabschiedete eine Reihe von Resolutionen, die
nicht nur in einem demokratischen «Stil» durch Diskussionsgruppen vorbereitet und
vom Plenum verabschiedet wurden, sondern auch Forderungen enthielten, die als das
Gegenteil der bisher geübten Maximen der Flüchtlingspolitik erscheinen mussten.
Danach sollten für die Rück- und Weiterwanderungen keine «Massenlösungen» ge-
troffen werden, individuelle Wünsche und Bedürfnisse der Flüchtlinge ausschlagge-
bend sein, politischer Zwang und zeitlicher Druck ausgeschlossen bleiben und die
Arbeitslager aufgehoben oder völlig selbstverwaltet werden. Die Wahl und Gestaltung
der Rück- und Weiterwanderung sollte von den Flüchtlingen mitbestimmt oder grund-
sätzlich durch Konsultationen abgestimmt werden. Für Staatenlose sollte kein Zwang
zur Annahme einer Staatsbürgerschaft bestehen, sondern für diese in der Schweiz ein
provisorischer Ausweis ausgestellt werden, um ihnen freie Wahl und grössere Chan-
cen für ein Heimatland zu schaffen. Die Konferenz wies auf die Arbeits- und Dienstlei-
stungen hin, die von den Flüchtlingen erbracht wurden. Aufgehoben werden sollten
sofort sämtliche behördliche Diskriminierungen, wie administrative Justiz, Reise-
beschränkungen, Beschränkungen des Ausgangsrayons, Einschränkungen der Heira-
ten, Publikationsverbote, Benachteiligung gegenüber andem Gruppen von Ausländern
und Einfrierung von Einkommen. 136
Liest man den Tagungsbericht, so fanden sich die von Bern vorgeschickten Vertre-
ter der Behörden, drei Mann von der Fremdenpolizei sowie der Leiter der Zentralstelle,
deutlich in defensiver Frontstellung. Sie beharrten auf den alten Standpunkten von
Überfremdung, Massenausreise und Bevormundung. Rothmund kündigte seine Beur-
laubung als Polizeichef und seine Berufung als Schweizer Vertreter beim IGCR in
London an, was ihm übrigens später von seiten des SIG kühle Ablehnung einbringen
sollte. Der neu designierte Chef der Fremdenpolizei, Robert Jezler, wollte den Zeit-
punkt der Weiterwanderung polizeilich kontrolliert und das geforderte Mitsprache-
recht der Flüchtlinge, wie es in Montreux verlangt wurde, stark eingeengt sehen. Die
Tagung richtete indessen an Bundesrat von Steiger telegraphisch einen Appell, der die
Mitbestimmung in allen Flüchtlingsfragen in Form von demokratisch gewählten
Flüchtlingsvertretungen forderte, um Behörden und Hilfswerken gegenüber mehr
Gewicht zu erlangen. Besonders die Staatenlosen, zumeist ausgebürgerte Juden, mussten
348 5. KAPITEL

daran interessiert sein. Paul Guggenheim leistete ihnen an der Tagung juristischen
Sukkurs in einer völkerrechtspolitischen Betrachtung, die dem Landesrecht und natür-
lich der administrativen Willkür deutlich Grenzen setzte. Die Flüchtlinge begannen,
ihre Emanzipation zu betreiben, gerade auch, um die Frage der Weiterwanderung
selbst an die Hand nehmen zu können. 137
Von Steiger, in diesem Jahr auch Bundespräsident, verkannte die Zeichen der Zeit
nicht, instrumentalisierte aber die Vertretung im Sinne Jezlers. Er «anerkannte» zwar
ein Mitspracherecht, nutzte dies jedoch vor allem zur Eindämmung und Liquidierung
der bereits entwickelten Initiativen der Flüchtlinge, indem er seine Zustimmung zur
Schaffung einer Vertretung der Flüchtlinge an Bedingungen knüpfte, die ihr jede
politische Wirksamkeit nahmen. Die bestehenden Initiativausschüsse und politischen
Komitees der Flüchtlinge waren aufzulösen, die Tätigkeit der neuen Vertretung sollte
der Verantwortung der SZF unterstellt werden, politische Betätigung war zu unterlas-
sen und die Aufgabe der Vertretung strikt auf die Frage der Weiter- und Rück-
wanderung zu beschränken. Von Steigers Diktat machte die Tagung in Montreux,
deren Teilnehmer telegraphisch nur dankend zustimmten, und die künftige Vertretung
der Flüchtlinge zu einem reinen Transit- und Liquidationsorgan in der Wanderungs-
frage. Zwar war das Mitspracherecht in einem eingegrenzten Umfang anerkannt, aber
anstelle eines selbständigen Verbandes der Flüchtlinge nur ein höriges Vollzugsorgan
geschaffen worden. 138
Das Israelitische Wochenblatt hielt mit seiner Enttäuschung über dieses Umbiegen
des Mitspracherechts nicht zurück. Auch die jiddisch erscheinende Flüchtlingszeitschrift
Der Beginen war von den politischen Abstrichen enttäuscht, doch wertete man Montreux
insgesamt als einen «Gewinn» für die Flüchtlinge. Beide Blätter sahen als einzige,
doch wichtige Frucht der Konferenz, dass nun wenigstens eine polizeiliche
«Verfrachtung der Flüchtlinge in neue Lager im Ausland» nicht mehr möglich sein
würde. 139 Solche Befürchtungen waren zu diesem Zeitpunkt durchaus nicht aus der
Luft gegriffen. Seit Ende August 1944 und zuletzt anfangs Februar 1945 waren
aufgrundjüdisch-schweizerischer Rettungsversuche in Ungarn 1620 Flüchtlinge aus
Bergen-Belsen und 1200 aus Theresienstadt eingereist, die der Bundesrat und die
Fremdenpolizei am liebsten so schnell wie möglich in ein neues UNRRA-Lager unter
britischer Kontrolle im algefischen Phillipsville abgeschoben hätten. Viele Juden unter
den Flüchtlingen verweigerten die Ausreise oder zogen es vor, illegal nach Frankreich
zu gehen, um einer befürchteten Internierung in Nordafrika oder anderswo zu entge-
hen.140 Mit dem bescheidenen Stück Selbstbestimmung, das Montreux gebracht hatte,
war eine solche Abschiebung politisch nicht mehr denkbar, weil sie von den Flüchtlin-
gen selbst vor einem demokratisch legitimierten Forum als brutale Massnahme
diskreditiert werden konnte.
Kritisch vermerkt wurde in Kommentaren der jüdischen Presse auch, dass der SIG
und VSJF in Montreux überhaupt kein Profil gezeigt hätten. Unwidersprochen habe
MINHAG SUISSE 349

eine jüdische Rednerin für die Remigration der Juden in das antisemitische Polen
plädiert, und Gertrud Kurz wie Pfarrer Paul Vogt, deren humane Haltung man in
hohen Ehren halte, hätten sich gar für eine Rückkehr nach Deutschland ausgesprochen.
Dann sei eine Debatte über Palästina als Einwanderungsland aus Rücksicht auf die
schweizerische Neutralität überhaupt nicht zugelassen gewesen, so wie auch zionistische
Redner in den Lagern unerwünscht seien und nicht auftreten dürften. Der Präsident des
VSJF habe sich gar in der Diskussion behördenkonform gegen die Erwähnung Palästi-
nas in den Resolutionen gewandt. 141 Diese Unmutsäusserungen weisen auf die heftige
innerjüdische Debatte über die Rückwanderung hin, die international ausgetragen
wurde. Als erstes meldete der Genfer WJC Bedenken an den Ergebnissen von Montreux
wie auch an den statistischen Interpretationen der Flüchtlingsbefragungen, sofern sie
sich auf die Rückkehr von Juden nach Deutschland, Österreich oder Polen bezogen.
An einer Veranstaltung der Genfer Zionisten, kurz nach der Flüchtlingstagung, kriti-
sierten liberale, orthodoxe und zionistische Redner, unter ihnen Elie Munk und Hans
Klee, den «Geist von Montreux» und wetterten gegen die Rückkehr nach Deutschland.
In Zürich folgte Mitte April eine Veranstaltung im vollbesetzten ICZ-Saal an der
Lavaterstrasse, wo hitzige Voten gegen die jüdischen Rückkehrer fielen. In der neu
erscheinenden Flüchtlingszeitung Über die Grenzen wie auch im jiddischen Beginen
polemisierten Gegner und Befürworter einer Rückkehr. Wortführer der jüdischen
Remigration war übrigens der Literaturwissenschaftler Hans Mayer. 142
Mit dem Ende des Kriegs wurde die Schweiz wieder vermehrt zum Reiseland von
Repräsentanten internationaler jüdischer Organisationen. Sie kritisierten nicht nur die
Politik der Remigration, sondern traten, portiert von jüdischen Gruppen, wie den
Zionisten, dem WJC und selbst dem SIG, in aller Öffentlichkeit auf - ein doch
bemerkenswerter Stilwechsel für die Schweizer Juden, die sich bis zuletzt ganz dem
Niedrigprofil des «Minhag Suisse» unterzogen hatten. Besonders intensiv machte
Leon Kubowitzki, WJC-Exekutivmitgli~9 und Teilnehmer an der Konferenz in Atlantic
City, denjüdischen Standpunkt klar, als er im Frühjahr 1945 die Schweiz bereiste, wo
er in Zürich und Genf auftrat, vor der bürgerlichen wie linken Presse Verständnis fand
und in Bern mit von Steiger und IKRK-Grössen konferierte. 143 Die Aktivisten jüdi-
scher Gruppen und Organisationen brachten für zahlreiche Tagungen und Konferen-
zen, die das hektische Geschehen um die jüdische Zukunft auf internationaler Ebene
spiegelten, zumeist zionistische Repräsentanten in die Schweiz, traten neu mit öffentli-
chen Kundgebungen hervor und fanden sich im Dezember 1946 durch die Abhaltung
des Zionistischen Kongresses in Basel bestätigt. 144 Leo Baeck, früherer Oberrabbiner
von Berlin und geistiges Symbol des deutschen Judentums, predigte am jüdischen
Neujahr in der Zürcher Synagoge auch für die Erneuerung der jüdischen Existenz in
Buropa- freilich nicht in Deutschland, wohin Baeck nicht mehr zurückkehrte, sondern
in der Schweiz und anderen westeuropäischen Staaten. 145 Die Rückkehr von Juden
nach Deutschland und Polen war aus jüdischer Sicht mehrheitlich erledigt. Gekämpft
350 5. KAPITEL

und debattiertwurde jetzt um die Weiterwanderung nach Palästina oder nach Übersee,
nach dem künftigen Staat Israel oder nach dem goldenen Land Amerika.
Die Wahlen zur in Montreux gewährten Flüchtlingsvertretung bestätigten für die
jüdischen Flüchtlinge den Trend, nicht mehr zurückkehren zu wollen. «Wähle jüdisch,
wähle keine Rückkehrer», lautete der Slogan. Der SIG hatte am 11. Mai 1945 an
seinem Delegiertentag eine Resolution gegen die Rückwanderung verabschiedet, die
von den zionistischen Organisationen in ihrem Aktionsprogramm verwendet wurde. 146
Das Resultat bestätigte die stille Koalition jener Flüchtlinge, die nach Palästina,
Amerika und Frankreich gehen wollten. Von den vier gewählten jüdischen Vertretern
war kein einziger ein Rückkehrer. Für die schweizerischen Belange blieb das Resultat
indessen symbolische Geste. Selbst Kritiker der Regierung in Fragen der jüngsten
Flüchtlingspolitik, zum Beispiel Nationalrat Albert Oeri, machten früh deutlich, dass
die Schweiz aus wirtschaftlichen Gründen, das hiess im Blick auf den Arbeitsmarkt,
«kein sehr grosses Entgegenkommen» zeigen könne. 147 Das Prinzip der Transmigration
wurde auch von den jüdischen Flüchtlingen höchst selten angefochten. Sie waren,
nach ihren eigenen Worten, bereits froh, in der Schweiz überlebt zu haben, um ein
neues Leben in einem Zielland ihrer Wünsche beginnen zu können. 148 Das tiefe Gefühl
der Dankbarkeit verpflichtete auch psychologisch, das Land, dem man sich zur Last
gefallen wähnte, möglichst bald zu verlassen.
Wie also dachten die Flüchtlinge selbst über ihre Zukunft und Weiterwanderung?
Eine Antwort kann kaum erschöpfend und genau ausfallen, zumal die individuellen
Schicksale, wie sie in den Flüchtlingskarteien des VSJF dokumentiert sind, zuerst
immer die oft tragische Geschichte des einzelnen Menschen vorführen. Eine quantita-
tive Auswertung der 1945 bei zehntausend VSJF-Flüchtlingen erhobenen Daten über
Geschlecht, Herkunft, Beruf, Alter usw. gibt keine Auskunft über Zukunftspläne. 149
Hingegen erhalten wir Angaben durch zwei sehr verschiedene Medien, die freilich nur
als trendmässige Anhaltspunkte interpretiert werden sollten. Einmal ist die Stimmung
unter den Flüchtlingen, wie sie sich im Verlaufe von zehn Jahren veränderte, aus den
wenigen Flüchtlingszeitungen herauszulesen. Diese Stimmung ist nicht unwesentlich,
weil sie auch die statistischen Daten, die uns zum anderen zur Verfügung stehen, stark
beeinflusst hat. Diese statistischen Angaben bieten uns dann die zitierten Erhebungen
des International Migration Service und der SZF aus den Jahren 1944 und 1946.

Jüdische Flüchtlingszeitungen in der Schweiz

Unter den «Flüchtlingszeitungen>~ darf man sich technisch und redaktionell kein
selbständiges Produkt vorstellen, mit Ausnahme der verschiedenen am Ende des
Krieges hergestellten Zeitungen. Es waren vielmehr im sogenannten xerographischen
Umdruckverfahren hergestellte Blätter, die redaktionell von VSJF-Fürsorgerinnen
MINHAG SUISSE 351

betreut wurden. Eigenständige Emigrantenzeitungen waren in der Schweiz nur aus


dem Ausland, vorab aus Paris, zu beziehen, aber nicht als «schweizerische» Emigrations-
presse zu kaufen. In einer eigenständigen Emigrantenpresse in der Schweiz wäre nur
eine Gefahrenquelle für die ideologische Front im Innern und eine unwillkommene
Provozierung des Auslands gesehen worden, was schon bei der eigenen Schweizer
Presse mit Zensur vermieden wurde. Verdächtigt und argwöhnisch verfolgt wurden
Emigranten, die heimlich und unter falschem Namen für schweizerische Blätter arbei-
teten. So gab es unter den Flüchtlingen und Internierten lediglich für den Eigen-
gebrauch produzierte kleine Mitteilungsblätter. Neben den Juden führten 1939-1940
auch die Polen und Franzosen solche «Lagerzeitungen~~. 150
Erst 1944/45 kamen dann Emigranten- und Flüchtlingsschriften, die diesen Namen
verdienen, während kurzer Zeit auf. So erschienen neben der jiddischen und der
deutschen auch eine italienische und britische Zeitung für die Internierten. 151 Doch
auch diese Blätter waren strikt für den internen Gebrauch bestimmt und wurden von
verantwortlichen schweizerischen Offizieren überwacht. Sie fanden daher nur eine
beschränkte Beachtung und wirkten kaum als Stimme nach aussen. Ohnehin war der
jiddische Beginen, mit zweitausend Lesern zwar die meistgekaufte Zeitung unter den
jüdischen Flüchtlingen, für die Schweiz nicht von Belang. Mit seinen hebräischen
Lettern war er für den Unkundigen gar nicht lesbar. Öffentliche Beachtung fanden
hingegen Bücher von Emigranten, die dank den beiden Verlagen von Emil und Emmie
Oprecht erschienen und auch das Thema der jüdischen Zukunft und Weiterwanderung
mehrfach behandelten. 152
Die früheste «Flüchtlingszeitung» waren die «HasenbergeD~ genannten H. B.-
Nachrichten, erschienen vom November 1939 bis April1940 und redigiert von der
VSJF-Fürsorgerin Marianne Kater, die später selbst ihr Glück in Übersee versuchte.
Der Name der insgesamt fünf Nummern leitet sich ab vom Lager Hasenberg in der
Nähe von Baden und den einstigen aargauischen Judendörfern Lengnau und Endingen.
Wegen der Aufhebung dieses Lagers nach Kriegsausbruch und der Weiterwanderung
der dort internierten Flüchtlinge, ausnahmslos deutsche und Österreichische Juden, war
das Bedürfnis entstanden, Solidarität und Kontakte unter den ehemaligen
«Hasenbergern» aufrechtzuhalten. Auch der Wunsch, die Verbundenheit zwischen
Betreuern und Betreuerinnen, Flüchtlingen und Besuchern zu verlängern, hat die
weggefahrenen Emigranten zur Feder greifen lassen. Die Funktion der im einfachen
Umdruckverfahren hergestellten Blätter bestand also darin, mit Berichten und Briefen
Eindrücke aus jenen Ländern, in die «Hasenberger» emigriert waren und weitere
vielleicht noch emigrieren würden, zu vermitteln.
Ernüchternde wie abenteuerliche Reiseberichte, Länderporträts, Namenlisten mit
Ankunftsadressen, Reflexionen über das Flüchtlingsdasein und selbst eine «Psycholo-
gie der Transmigranten» stehen neben gelegentlichen Gedichten und Notizen, die das
Leben im schweizerischen Lager zum Gegenstand haben. Die H. B.-Nachrichten
352 5. KAPITEL

waren also wesentlich auf die Weiterwanderung angelegt und zeigten anfänglich eine
optimistisch-kameradschaftliche Stimmung sowie die weitgehende Bereitschaft, in
fernen Ländern das Glück zu suchen. Ziemlich einmütig geht aus den Beiträgen
hervor, dass das jüdische Leben in Deutschland vorbei sei, besonders nach der
Reichspogromnacht vom November 1938. Die Zukunft lag für die «Hasenbergen~ in
Übersee, allenfalls in Palästina oder anderen westeuropäischen Ländern. Das Versie-
gen der Wanderungsmöglichkeiten, das Abwarten und die erzwungene Untätigkeit der
Flüchtlinge, die Zunahme des äusseren wie inneren Druckes seit 1940 kamen in den
letzten beiden Nummern des Hasenhergers zum Ausdruck. Die erlittenen Spannungen
des Alltags wurden zu Papier gebracht. Gerade das Thema der Bevormundung des
Flüchtlings durch die behördlichen und privaten Fürsorgestellen und die Konflikte
unter den Flüchtlingen selbst kamen zur Darstellung. So verlangte ein Einsender, die
Flüchtlinge seien «von Objekten der Fürsorge zu Mitträgem der Verantwortung zu
verwandeln» .153
Mehr als ein Jahr nach dem letzten Hasenherger erschien die erste und einzige
Nummer der Zeitschrift Der Transmigrant, neu redigiert von der VSJF-Fürsorgerin
Regina Boritzer, die später nach Israel ausgewandert ist. Der Transmigrant übernahm
nicht nur seinen Namen einem Artikel aus den H. B. -Nachrichten, sondern wollte auch
dessen Linie der «Weiterwanderung» in einer nunmehr lagerübergreifende Zeitschrift
weiterführen. Die wenigen Seiten bestanden denn auch aus einem Bericht aus dem
dominikanischen Sosua und einem spassig gemeinten New-York-Future. Gutgemeint
als «Nachrichten aus den Arbeitslagern» vorgestellt, die von Flüchtlingen für Flücht-
linge verfasst würden, berücksichtigte die Fürsorgerin die Errichtung der neuen Arbeits-
lager und versandte das neue Blatt an die Internierten in den Lagern Davesco, Gordola,
Locamo, Murimoos, Malvaglia, Schauenburg, Thaiheim und Vouvry. Doch die Zei-
tung stiess auf wenig freundliches Echo, weil sie «für die Lager, aber nicht aus den
Lagern geschrieben war». Die Flüchtlinge, von der Schweiz seit Jahren mit Arbeits-
verbot belegt, von einem Lager ins andere versetzt und dort oft genug mit dem
autoritär-militärischen Gehabe behandelt, waren empfindlich geworden für alle
fürsorgerische Bevormundung. Vier Monate nach dem wohlgemeinten, aber falsch
initiierten Transmigrant erschien die Lagerstimme.
«Wenn auch das Erscheinen des <Transmigranten> den äusseren Anstoss zur
Erfüllung eines allgemeinen Lagerwunsches gab, so beweist aber die Reaktion auf sein
Erscheinen, dass initiative Kräfte schon lange in den Lagern vorhanden waren», hiess
es im Leitartikel. 154 Man wollte sich nicht mehr von aussen fremdbestimmen lassen.
DieLagerstimme thematisierte ganz andere Fragen als die früherenH. B.-Nachrichten
und der unglückliche Transmigrant, die auf die «Weiterwanderung» eingeschworen
waren. Jetzt stand die Arbeit in der Schweiz im Vordergrund: der Arbeitsdienst, die
Um- und Berufsschulung, der Arbeitsplatz, die Freizeit und die Achtung und Autonomie
der Betroffenen. Von «Transmigration» war kaum mehr die Rede. So war die Lager-
MINHAG SUISSE 353

stimme zu einem guten Teil auch die Stimme der Arbeit, mit der sich die Flüchtlinge in
den Lagern identifizierten. Die Solidarität untereinander sollte gefördert werden, und
ebenso rief man zur Unterstützung der Hilfsaktionen für die ausländischen Juden auf,
die damals im südfranzösischen Gurs hungerten. Die Lagerstimme suchte den
Zusammenhalt durch in verschiedenen Lagern agierende Redaktionen organisatorisch
zu begründen, wobei die Fäden bei Georg Ungar in Murimoos zusammenliefen. Doch
die Lagerstimme ist nur einmal erschienen. Vermutlich haben Lagerversetzungen,
Briefzensur, Papiermangel oder gar Disziplinierung den Versuch einer selbstbestimmten
Meinungsäusserung fehlschlagen lassen. Auch dürften wohl die Infrastruktur, die bei
den Vorgängerblättern durch die redigierenden Fürsorgerinnen doch gesichert war,
gefehlt haben. Jedenfalls ist die Lagerstimme ein bemerkenswertes Indiz, dass die
Flüchtlinge und Emigranten in der Schweiz ihre Emanzipation anstrebten und ihnen
die Weiterwanderung nicht mehr aktuell schien.
Eine weitere Publikation, äusserlich ähnlich gestaltet wie alle Flüchtlingsblätter,
aber inhaltlich das Exil literarisch und intellektuell dokumentierend, hat den Bezug
von Eigen- und Fremdbestimmung ebenfalls thematisiert. Im Februar 1940 gab ein
Kreis von Zürcher Studenten, Künstlern und Emigranten, nämlich der Schweizer
Amold Künzli und die beiden Berliner Emigranten Hermann Levin Goldschmidt und
Robert Jungk (Robert Baum), zu denen später auch Peter Weiss stiess, die nur einmalig
publizierte Zeitschrift Die Arche heraus. Allein Titel und Form zeigen die Stimmung
metaphorisch an: die Autoren tragen sich mit ihren Beiträgen von Tag zu Tag in das
Bordbuch der «Arche» ein. Der biblisch verankerte Name der Zeitung veranschaulich-
te auch die in den Beiträgen umschriebene Spannung zwischen Vertrauen und
Ungewissheit im EmigrantenschicksaL Von Transmigration ist hier nicht die Rede,
zumal die Studenten und Künstler schon gar nicht daran denken wollten, freiwillig den
eidgenössischen Vorstellungen eines erzwungenen Arbeitsdienstes mit anschliessender
Emigration in die Feme zu genügen. Im Vordergrund stand die politische und philoso-
phische Frage, wohin die Welt treibt und ob der Wanderer den Lauf der Dinge selbst in
die Hand nehmen kann. Einige verstanden ihre Beiträge als «Flaschenpost», die
zufällig und ziellos im Meer treibt. Die Arche nahm mit teilweise jugendlichem
Übermut, doch äusserst ernst gemeint, jenes Bild vorweg, das zwei Jahre später mit
dem Wort vom <<Vollen Boot» die triste Bilanz der eidgenössischen Juden- und
Flüchtlingspolitik charakterisieren sollte. 155
Mit dem scheinbaren flüchtlingspolitischen Tauwetter, das die Konferenz von
Montreux ermöglichte, entstanden die beiden Flüchtlingszeitungen Über die Grenzen
und Der Beginen, die auch in der Schweizer Presse beschränkte Beachtung fanden.
Beide waren «Spätgeburten», denen die Skeptiker kein langes Leben einräumten, doch
die Redaktion des deutschen Blattes meinte, dass «es nicht unsere Schuld war, wenn
wir lange nicht zu Wort kamen». 156 Es wurde bereits gesagt, dass in diesen beiden
Blättern die jüdischen Flüchtlinge die Frage der Rück- und Weiterwanderung zum
354 5. KAPITEL

Thema machten. Ebenso ging es um die Frage, die uns schon früher begegnete, ob der
jüdische Migrant «zionistisch oder assimilationistisch» wählen solle, das heisst nach
dem jüdischen Palästina oder nach Übersee, vorab in die Vereinigten Staaten, gehen
solle. Die Heftigkeit der Kontroversen und Polemiken um die moralische Legitimität
und die Zukunft war natürlich genährt von den zurückliegenden Erfahrungen. Der
Diskussion haftete jedenfalls nicht mehr die optimistische Zuversicht an, die in den
schmalen H. B.-Nachrichten und im Transmigrant begegnen, sondern sie wurde jetzt
mit grundsätzlicher und ideologischer Bestimmtheit geführt.
Der jiddische Beginen kritisierte zwar an der Konferenz von Montreux, dass die
Verantwortlichen in einer mit wahrem demokratischem Verständnis unverträglichen
Art und Weise dafür gesorgt hätten, die jiddisch sprechenden Flüchtlinge auszu-
schliessen, die ganz anders als die Westjuden denken würden. Der Beginen nahm in
den drei Nummern seines Erscheinens gerade in der Rückkehrkontroverse eine laue
Haltung ein, die Montreux eher bestätigte, als in Frage stellte. Die Redaktion sprach
sich sogar in einigen Beiträgen für das «Recht auf Rückkehr» aus. Grund für diese
Haltung war die redaktionelle Besetzung der Zeitung durch den Bundisten Mendel
Gliksman, der die Zeitung auch initiiert hatte und vom Lager Bonstetten aus betreute.
Aus zionistisch gesinnten Heimen und Lagern wurde Gliksmans Linie sofort kritisiert,
aber auch die nichtzionistischen Juden aus Polen wandten sich gegen die einseitige
Verfechtung des Rechts auf Rückkehr. Liebman Hersch, Streitgefahrte Gliksmans,
objektivierte die Frage und stellte fest, dass die jüdische Gemeinschaft in Buropa trotz
ihrer Dezimierung zerrissen und uneinig sei. Nach drei Nummern stellte der Beginen
sein Erscheinen ein, nachdem der Verkauf zurückgegangen war und die jüdischen
Flüchtlinge jetzt massiv abzuwandern begannen. 157
Unter den zionistisch gesinnten Flüchtlingen trat auch eine Gruppe mit einer eigenen,
offiziell nicht genehmigten Zeitung auf, die im handgeführten Umdruckverfahren gefer-
tigt und unter der Hand verteilt wurde. Es handelte sich um das Organ einer jener
zahlreichen Initiativen, die nach Montreux auf von Steigers Bedingung hin aufgelöst
werden mussten. Das Wort erschien vom August 1944 bis Januar 1945 nicht in
. hebräischer, sondern in jiddischer Sprache, ein ungewöhnlich anmutendes Unter-
fangen.158 Doch die linkszionistische, marxistisch-leninistische Poale-Gruppe, die enge
Verbindung mit den Herausgebern gleichnamiger Blätter in Paris und Belgien pflegte,
wollte in dieser Sprache die Juden in den Heimen und Lagern unvermittelt ansprechen.
Der Ton des Worts war kämpferisch und polemisch, richtete sich oft gegen die «polni-
schen Reaktionäre und Antisemiten», kritisierte die britische Politik und verbreitete
Erklärungen zionistischer Führer und Informationen über die antikolonialistische Hal-
tung der Poale-Gruppen. In der Rückkehrfrage wollte man es den Flüchtlingen überlas-
sen, das Land ihrer Weiterwanderung zu wählen, sofern dort sozialistischer Fortschritt,
jüdische Selbstbestimmung und keine antisemitische Vergangenheit warteten. Dass diese
konkrete Utopie in den Kibbuzim zu suchen war, verstand sich von selbst.
MINHAG SUISSE 355

Der Streit um die Weiterwanderung wird auch veranschaulicht durch zwei Publi-
kationen, die in der jüdischen Presse sehr unterschiedlich aufgenommen wurden.
Rafael Ryba, ein Flüchtling, der im Lager Bourrignon Vorträge über jiddische Litera-
tur gehalten hatte und später nach dem kanadischen Montreal emigrierte, trat 1944 als
erster Flüchtling überhaupt publizistisch hervor. Seine von der Aarauer Gewerkschafts-
presse gedruckte Broschüre widmete sich der Weiterwanderung mit der Frage
«Zionismus oder Judentum in der Völkergemeinschaft» im Sinne der Bundisten, deren
Theorie der Diaspora mit jener von Sirnon Dubnow übereinstirnmte. 159 Ryba lehnte
Zionismus als Antwort auf die antisemitische «Judenfrage» ab, weil er die Idee des
Nationalstaates bekämpfte, das jüdische Palästina als britischen Vorposten identifi-
zierte und den Konflikt mit dem arabischen Nationalismus fürchtete. Statt dessen sollte
Palästina im Sinne von Achad Ha-Am ein geistiges Zentrum für die Diaspora sein. Das
Judentum in der Völkergemeinschaft würde nach Ryba im Sinne der Arbeiterbewegung
aufgebaut: durch soziale und politische Gleichberechtigung, kulturelle Autonomie und
nationale Minderheitenrechte sowie mit einer produktiven Beschäftigungsstruktur.
Ähnlich wie in der Schweiz jeder Bürger des Landes sich der Kultur seines Kantons
zugehörig fühle, werde der Jude seine unterschiedliche Herkunft und jiddische Spra-
che gleichberechtigt in das Land einbringen, dessen Bürger er sei. Ryba forderte daher
die freie Wahl bei der Frage der Rück- oder Weiterwanderung, die Beseitigung aller
Migrationshemmnisse, die Freiheit der Niederlassung und Anerkennung des Bürger-
rechts sowie eine materielle Wiedergutmachung an alle Juden für erlittene Verluste.
Dies galt auch ausdrücklich für die Schweiz, der das Recht abgesprochen wurde, die
jüdischen Flüchtlinge aus dem Land zu treiben.
Rybas theoretische Konzepte hatten durchaus intellektuelle Qualität, und das Erbe
der säkularen Kultur des litauisch-polnischen Judentums, aus dem Ryba stammt, ist in
Europanach dem Krieg besonders im Frankreich von 1968 wieder aufgelebt. 160 In der
Schweiz von 1944/45 indessen stiess Ryba als linker Nichtzionist unter vielen Flücht-
lingen und besonders bei den Schweizer Juden, ob sie bürgerlich oder zionistisch
dachten, weitgehend auf empörte Ablehnung. Den Schwung der zionistischen Sache,
die Palästina als Migrationsziel durch die Katastrophe legitimiert sah, bezeugt eine
Publikation, der gar Jean-Rodolphe von Salis ein Geleitwort widmete. «Sieg des
zionistischen Gedankens» lautete der Titel eines Buches von Norbert Weldler, dem
Ehemann der Historikerin Augusta Weldler-Steinberg. Er stellte Ryba und den Befür-
wortemeiner Rück- und Weiterwanderung die Erstrangigkeit Palästinas für die «Lö-
sung der Judenfrage» gegenüber. 161
356 5. KAPITEL

EINE BEFRAGUNG DER ANDERN ART:


DIE FLÜCHTLINGSENQUETEN 1944 UND 1946 ZU ZIELEN UND
ZUKUNFT

Es wurde schon mehrfach aus den beiden Erhebungen der SZF und des International
Migration Service (in der Schweiz Aide aux Emigres) zitiert. So wurden die sehr
unterschiedlichen Erfahrungen der polnischen und deutschen Juden vor ihrer Einreise
in die Schweiz und der erhebliche Einfluss dieser Vorgeschichte auf ihre späteren
Wanderungspläne genannt; dazu gehörte, dass die polnischen Juden noch viel weniger
in ihr antisemitisch geprägtes Herkunftsland zurückkehren wollten als die deutschen
und Österreichischen Juden. Eine Grundtendenz der Flüchtlinge, nämlich mehrheitlich
Europa als Zielregion den Überseeländern und Palästina vorzuziehen, ist ebenfalls
belegt worden. Erwähnt worden sind hier im weiteren das Widerstreben der Fremden-
polizei gegen die Enquete, deren Resultate möglicherweise den Wunsch der Flüchtlin-
ge zum Ausdruck bringen würden, in der Schweiz bleiben. 162

Ängste der Flüchtlinge, fehlendes Dauerasyl

Besonders betont werden muss hier die Angst der Flüchtlinge, die erfassten Daten
würden ihrer Verfrachtung ins Ausland dienen. In beiden Berichten wird ausdrücklich
das tiefe Misstrauen gegenüber den Erhebungen festgehalten. Die Flüchtlinge wiesen
auf die Namenlisten hin, mit denen die Nazis ihre Opfer für den Abtrausport in die KZ
erfasst hatten. Zunächst mussten also Vorbehalte abgetragen und durch die Fürsorger
undBefragerein Vertrauensverhältnis hergestellt werden. Dieser Umstand hat mögli-
cherweise die Resultate der Erhebung ebenso beeinflusset wie die gesamte Situation,
der sich der Flüchtling gegenüber sah. Auf den Wandel der Stimmung wirkten die
ständig eintreffenden Nachrichten über das Ausmass des Holocaust, der ungeklärte
Verbleib von Angehörigen, die Situation in einzelnen Herkunfts- und Zielländem, die
politischen Bedingungen und Veränderungen auf dem Weg zu einer Nachkriegs-
ordnung sowie das Verhältnis der Flüchtlinge zur Schweiz. Die negativen und bedrük-
kenden Momente kontrastierten mit der Hoffnung, möglichst bald ein neues Leben
beginnen zu können und die Zukunft in die eigene Hand zu nehmen.
All dies beeinflusste die Pläne der Trans- und Remigranten laufend. So geben die
beiden Erhebungen kein definitives Bild, sondern zeigen weit mehr die momentane
Stimmung auf. Gerade für die Juden beruhte das heikle Remigrationsproblem auf
einem vielschichtigen Komplex psychologischer, sozialer und politischer Faktoren,
die wechselseitig und mehrfach bedingt seinen Verlauf und seine Resultate erklären.
Die vorausgegangenen Erfahrungen, die veränderte Perzeption der Herkunfts- und
MINHAG SUISSE 357

Zielländer, die persönlichen und materiellen Ausgangsbedingungen - all dies wirkte


nachhaltig auf den Entscheidprozess der Flüchtlinge in allen europäischen Ländern. 163
Auf diesem Hintergrund stellen die Enqueten der Forschung wertvolle Aussagen
bereit, wohin sich die Flüchtlinge wenden würden, wenn ihnen, wie es tatsächlich
geschehen sollte, die Schweiz verschlossen blieb. Sie dokumentieren auch ein Stück
weit die Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Flüchtlinge. Berücksichtigte die erste
Enquete von 1944/45 gerade auch die «inneren» Problemlagen der Flüchtlinge, ange-
fangen von Vorgeschichte und sozialen Vorgaben bis zu psychologischen Ver-
unsicherungen und Zukunftsängsten, so konzentrierte sich die zweite Erhebung von
1946 sehr viel mehr auf die festen Weiterwanderungspläne, deren Angaben für die
Absicht der Flüchtlinge selbst sprachen. Dass die Enqueten in eine Zeit fielen, in der
mit dem Vormarsch der Alliierten und den sich abzeichnenden politischen Fronten der
Nachkriegszeit das Gesicht Europas verändert wurde, steht eng im Zusammenhang
mit den schwankenden Stimmungen und brüchigen Hoffnungen unter den befragten
Flüchtlingen.
Es wurde ebenfalls bereits gesagt, dass Emigranten und Flüchtlinge in der Schweiz
nach 1945 kein allgemeines Dauerasyl zugestanden wurde. Das Institut des Dauer-
asyls, am 7. März 1947 durch einen Bundesratsbeschluss geschaffen, garantierte einen
Verbleib im Land nur Alten, Kranken, Jugendlichen und besonders verdienstvollen
Persönlichkeiten. Diese Regelung entsprach einem Kompromiss zwischen dem EJPD,
dessen Fremdenpolizei nach der Tagung in Montreux am Imperativ der Weiterreise
festgehalten hatte, und einem von der SZF ausgearbeiteten Vorschlag, die ein Dauer-
asyl für einen breiten Kreis von Flüchtlingen gefordert hatte. Kurz danach wurde für
die Schriftenlosen, die mit 14'000 Flüchtlingen das international grösste Problem
darstellten, die Möglichkeit zu einer ordentlichen Aufenthaltsbewilligung geschaffen.
Die Position von SIG und VSJF in allen diesen Fragen war deutlich und spiegelt auch
die Opposition gegen eine Rückkehr nach Deutschland und anderen Staaten, wie Polen
oder Österreich, die eine antisemitische Tradition aufwiesen. Die Lösung des Asyl-
problems konnte nachjüdischer Sicht solange nicht befriedigen, als die gesamte Praxis
von Niederlassung und Erwerbstätigkeit nicht frei und grasszügig gehandhabt würde.
Für das eingeschränkte Dauerasyl kamen nach fremdenpolizeilichen Erwartungen
insgesamt rund 2000 bis 3000 Personen in Betracht, wobei dann der VSJF für jüdische
Flüchtlinge 1500 Gesuche einreichte. Bewilligt wurde 896 VSJF-betreuten Personen
das Dauerasyl, von denen 562 fürsorgerisch dauernd unterstützt werden mussten.
Weitere Juden, die nicht unter den Bereich des Dauerasyls gefallen waren, vermochteil
in einzelnen Kantonen sich eine dauernde Niederlassung zu verschaffen. Waren bei
Kriegsende 25'000 jüdische Flüchtlinge in der Schweiz gewesen, so waren es dreissig
Jahre später noch 1600 Menschen. 164 Mit dem Dauerasyl waren hauptsächlich alte
Menschen in der Schweiz geblieben, die für die Schweiz kaum die biologische
«GefahD> einer Vermehrung der jüdischen Bevölkerung darstellten. Der behördliche
358 5. KAPITEL

Imperativ des Transits von 1933 und letztlich der rassistische Zug in der Fremden- und
Flüchtlingspolitik seit 1919 hatten nachträglich ihren stillen Triumph erhalten.
Entsprechend trieben in dieser Zeit die Behörden auf autokratische und diszi-
plinierende Weise die Heimschaffungen von Flüchtlingen nach Gruppen und Staatsan-
gehörigkeit voran. Seit der Befreiung Frankreichs im August 1944 bis Ende 1947
erfolgten zahlreiche Transporte nach europäischen und auch aussereuropäischen
Herkunfts- bzw. Rückkehrländern. Belgien und die Niederlande hatten sich gar zur
Aufnahme von sogenannten Drittausländern, die dort einmal vorübergehend gewohnt
hatten, bereit erklärt. Mit den Instrumenten der Vereinten Nationen, die sich mit der
UNRRA und der IRO dem weltweiten Flüchtlingsstrom der Nachkriegszeit anzuneh-
men begannen, konnte die Schweiz Auswanderungen von Flüchtlingen nach Palästina,
Argentinien und Australien realisieren. Doch viele Tausende in der Schweiz lebende
Flüchtlinge benützten für ihre Ausreise keinen Kollektivtransport, sondern suchten ihr
Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Dies musste bedeuten, dass zahlreiche
Flüchtlinge in der Schweiz verblieben, weil sie weder zurückkehren noch weiter-
wandern wollten. «Obwohl den Flüchtlingen wiederholt in Erinnerung gerufen wor-
den ist, dass die Schweiz für sie nur als Transitland in Betracht komme, stellen wir
immer wieder fest, dass einzelne Flüchtlinge glauben, dauernd in unserem Land
bleiben zu können», meinte die Fremdenpolizei in ihrem Kreisschreiben vom 14. Sep-
tember 1945, mit dem erstmals eine beaufsichtigte Unterbringung von Flüchtlingen
ausserhalb eines Lagers oder Heimes gestattet wurde. 165 In der zitierten Aussage der
Behörde wirkt im Grunde das frühere Problem der schweizerischen Judenpolitik im
Tarnkleid der Flüchtlingspolitik nach. Denn die Flüchtlinge, die sich nicht mit den
behördlich organisierten Transporten in ihre Länder zurückführen lassen wollten,
waren eben in ihrer Mehrheit Juden. Die Enqueten von 1944 und 1946, die sich auf die
verbliebenen zivilen Flüchtlinge und Emigranten konzentrierten, dokumentieren so
ein weiteres Stück der schweizerischen Judenpolitik.

Zahlen, Trends, Hintergründe in den Flüchtlingsbefragungen

Eine Enquete zum Problem der jüdischen Flüchtlinge hatte es zwar bereits zehn Jahre
zuvor gegeben, doch kann diese 1936 von der Revue Juive initiierte Umfrage nicht mit
den beiden Erhebungen von 1944 und 1946 verglichen werden. 166 In den folgenden
Jahren, unter dem Eindruck der Kriegsereignisse, hatten weder die SZF noch der VSJF
eine Möglichkeit gesehen, Erhebungen über die Wünsche der Flüchtlinge anzustellen.
Die Resultate der vom VSJF verwirklichten Weiterreisen (vgl. die Tabelle zu den
VSJF-Weiterreisen) geben zwar genaue Angaben über Ausreiseländer von Trans-
migranten, aber keinen Aufschluss über die eigenen Wünsche und endgültigen Ab-
sichten der Flüchtlinge. Keine Angaben über Pläne zur Weiterwanderung enthielten
MINHAG SUISSE 359

die von der Polizeiabteilung auf den 1. Dezember 1946 veröffentlichten Zahlen, die
lediglich die in der Schweiz lebenden Flüchtlinge erfassten. Im Gegensatz zu den
Statistiken der Polizeiabteilung des ETPD, die nur einen relativ kleinen Prozentsatz
aller zivilen und militärischen Flüchtlinge als Juden auswiesen, erfassten die Enqueten
von 1944 und 1946 ausschliesslich zivile Personen und damit mehrheitlich Juden.
In der ersten Enquete repräsentierten die Befragten auch ihre Familienangehörigen,
womit rund 10'000 Personen erfasst waren. Davon waren fast 80 Prozent oder 4274
von 5490 Befragten Juden. In der zweiten Enquete waren es noch knapp 60 Prozent
oder 5157 von 9038 aller erfassten Personen. Der Anteil der Flüchtlinge jüdischer
Herkunft war aber in beiden Erhebungen grösser, weil die erfassten christlichen
Flüchtlinge sich auch weitgehend aus einstmals getauften oder assimilierten Juden
zusammensetzten, die nach den nazistischen Rassengesetzen als «Halbjuden» oder
«Mischlinge» galten und wegen ihrer jüdischen Abstammung verfolgt worden waren.
Ausserdem befanden sich auch jene Juden aus Ungarn und Jugoslawien darunter, die
in der Not die Schutztaufe angenommen hatten und nun teilweise wieder jüdisch leben
wollten. Insgesamt darf also in den nachfolgenden statistischen Aussagen ein für die
Juden durchaus repräsentativer Richtwert gesehen werden. Dies spiegelt sich auch in
der Frage nach den Herkunftsländern und im Problem der Staatenlosen. Knapp die
Hälfte, nämlich 2604 von 5490 Befragten erklärten sich staatenlos, in 75 Prozent der
Fälle aufgrund ihrer Ausbürgerung aus Rassengründen. Unter den meistvertretenen
Herkunftsstaaten, nämlich Polen, Deutschland, Österreich und Jugoslawien, machten
die Juden zwischen 80 und 97 Prozent der erfassten Flüchtlinge aus. 167
Besondere Aufmerksamkeit verdienen die zahlreichen Staatenlosen. Hier bestan-
den erhebliche Abweichungen der Enqueten im Vergleich zur Behandlung des Pro-
blems durch die Polizeiabteilung. Diese Abweichung wurde von der SZF gar als ein
Grund für ihre zweite Erhebung genannt und birgt denn auch einen gravierenden
politischen Widerspruch. Denn die polizeilichen Zahlen wollten überhaupt keine
Staatenlosen kennen, obwohl ihre Angaben sämtliche in der Schweiz lebenden Flücht-
linge umfassten, jene der SZF hingegen nur den zivilen Teil. Während die
eidgenössischen Behörden bei ihrer Zuweisung der insgesamt 13'468 verbliebenen
Emigranten und Flüchtlinge strikt die ursprüngliche Staatsangehörigkeit vermerkten,
hielten die jüdischen Flüchtlinge in den Enqueten der Hilfswerke an der Ausbürgerung
fest, weil sie mehrheitlich nicht remigrieren wollten. Bei der Polizeiabteilung darf als
Grund für das Iegalistische Beharren ohne Zweifel die Befürchtung vermutet werden,
dass die staatenlosen Juden in der Schweiz zu bleiben wünschten. Die beiden Enqueten,
besonders die erste Befragung, warben hingegen deutlich für ein Verständnis für die
jüdische Situation. Besonders viele deutsche und Österreichische Juden hatten mit
ihrem Herkunftsland gebrochen, aber auch die polnischen Juden erinnerten sich an das
antisemitische Klima ihrer einstigen Heimat. Die Zahlen sind oben schon einmal
genannt worden: Nur 1,5 Prozent der polnischen Juden wollten in ihr Ursprungsland
360 5. KAPITEL

zurückkehren, bei den deutschen Juden waren es 13 Prozent und bei den Österreichi-
schen fast ein Drittel. Gegenüber diesen Zahlen kommen internationale Schätzwerte
zu Rückkehrern nach Deutschland allerdings nur auf 3--4 Prozent unter den jüdischen
Emigranten. 168 Die Enquete der SZF kam zu einem Schluss, der vom EJPD missliebig
aufgenommen wurde, weil er das Dauerasyl in der Schweiz nahelegte: «Die Naturali-
sierung in den Staaten, in denen den Flüchtlingen auf ihren Wunsch Aufnahme
gewährt wird, scheint uns die Lösung des Problems der Staatenlosen zu sein.» 169
Besonders eindringlich wandte sich Bertha Hohermuth gegen einen Zwang zur Rück-
kehr der Staatenlosen in das ursprüngliche Herkunftsland.
Der Trend zur Weiterwanderung von Staatenlosen und ausländischen Staatsan-
gehörigen in ein drittes Land zeigt die bereits erwähnte Neigung, mehrheitlich in
Buropa zu bleiben. Bei den jüdischen Flüchtlingen stellte die Enquete den Vorrang von
Weststaaten fest, was die historische Kontinuität der Ost-West-Migration in der jüdi-
schen Geschichte bestätigt. Unter den beliebtesten Zielländern bei den jüdischen
Flüchtlingen figurierten Frankreich und Belgien. Von den 1930 befragten Personen,
die in diese beiden Länder weiterreisen wollten, waren 1850 Juden. Sie repräsentierten
mit ihren Angehörigen insgesamt 4307 Menschen, die nicht französischer oder belgi-
scher Staatsbürgerschaft waren. 1110 oder mehr als ein Viertel der Befragten, die
Frankreich und Belgien als Land ihrer Wünsche nannten, stammten ursprünglich aus
Polen, gefolgt von etwas mehr als 560 ehemaligen deutschen und Österreichischen
Staatsangehörigen. Diese Zahlen lassen sich historisch ohne weiteres zuordnen: Von
den 300'000 Juden, die vor 1939 in Frankreich gelebt hatten, war eine grosse Mehrheit
osteuropäischen Ursprungs gewesen; dies galt annähernd auch für die 180'000 Überle-
benden, die im In- und Ausland untergekommen waren, und besonders für die 3000
Rückkehrerund Rückkehrerinnen, welche die Todeslager überlebten. Von den Flücht-
lingen, die von der Enquete erfasst wurden, wollten also 22 Prozent nach Frankreich,
ohne die französische Staatsbürgerschaft zu besitzen. Die meisten Befragten hatten
dort bereits vor dem Krieg gewohnt, davon mehr als ein Drittel vor 1933. Nach
Palästina bzw. Israel sind später im Verlauf von fünfzehn Jahren nur rund 5000 Juden
aus Frankreich emigriert. 170 Die Anziehungskraft Frankreichs, als überhöhtes Symbol
der politischen Freiheit, erwies sichtrotz der Ablehnung undder Verfolgungen, denen
die Juden in Vichy-Frankreich ausgesetzt waren, auch für die Zukunft als sehr gross.
Fremdenpolizei, SZF und VSJF standen vor der Tatsache, dass «viele Nichtfranzosen,
für welche die Rückkehr noch nicht organisiert war, trotz aller Verbote und Massnahrnen
auf verschiedensten Wegen bereits kurz nach der Befreiung Frankreichs dorthin illegal
zurückgekehrt sind» .171 Freilich konnte auch die Enge der schweizerischen Flüchtlings-
politik ein zusätzlicher Grund für die eiligen Abreisen gewesen sein.
Bei den belgiseben Ausländern in der Schweiz fällt deren soziale Gruppen-
zugehörigkeit auf. Nach Belgien wollten besonders jüdische Handwerker, meist ortho-
dox lebende und kinderreiche Familien, zurückkehren, die einst aus Polen ausgewan-
MINHAG SUISSE 361

dert waren und sich in Antwerpen als Diamantenschleifer niedergelassen hatten. Für
Belgien spielte die Tatsache eine Rolle, dass nach dem deutschen Überfall im Mai
1940 viele Tausende Ausländer nach Frankreich abgeschoben wurden oder selbst
dorthin flüchteten, um später in die Schweiz zu gelangen. Nach Belgien einreisen
konnten bereits kurz nach dem Krieg auch alle Nichtbelgier, Männer und Frauen, die
dort vorher niedergelassen waren. Ähnliches gilt für die wenigen Juden, die zuvor in
den Niederlanden gewohnt hatten und dorthin als Ausländer zurückkehren konnten.
Etwas anders als bei den Westländern lag der Fall bei Italien als jüdischem
Zielland. Während in Frankreich und Belgien die polnischen Juden, die nach dem
Ersten Weltkrieg schon migriert waren, und die deutschen Juden aus der Zeit der
nazistischen Vertreibung überwogen, war in Italien ein auffallendes Gemisch von
Ursprungsländern zu verzeichnen. Juden aus Polen, Deutschland, Österreich, Jugosla-
wien und anderen Balkanstaaten hatten sich schon vor 1933 in Italien niedergelassen
und waren dort überwiegend Handelsberufen nachgegangen. Unter der faschistischen
Herrschaft hatten auch die italienischen Juden schlecht und recht überleben können.
Die jugoslawischen Juden, die aus Italien in die Schweiz flüchteten, waren fast
durchwegs nach der deutschen Eroberung des Balkans nach Italien deportiert worden
und weigerten sich nach 1945, nach Jugoslawien zurückgeschoben zu werden. Der
dramatische Zustrom jüdischer Flüchtlinge in die Schweiz hatte im Winter 1943/44
eingesetzt, nachdem im September 1943 die Deutschen Italien besetzt hatten. Von den
insgesamt 605 Personen, darunter drei Viertel Juden, die jetzt nach Italien ausreisen
wollten, hatten die meisten lange dort gelebt. Es ist kaum anzunehmen, dass diese
Leute nur die italienischen Häfen zur Weiterfahrt nach Palästina nutzten. Eher zogen
die Ereignisse der zurückliegenden Monate, die in Italien den Trend zur Demokratie
offenbart hatten, die jüdischen Ausländer nach Italien zurück.
Der Wunsch von 80 Prozent aller befragten Flüchtlinge, in erster Linie in Buropa
zu bleiben, kontrastiert mit dem - zwar abnehmenden - Trend, nach Übersee oder
Palästina zu gehen. Die Auswanderung nach Überseeländern, insbesondere nach
amerikanischen Staaten, war vor und während des Krieges im Vordergrund gestanden.
Wir haben gesehen, dass die jüdische Propaganda die Option «Übersee» besonders
bevorzugte und dass tatsächlich die vom Naziterror Verfolgten sich dort eine neue
Zukunft erhofften. Die zionistische Bewegung lenkte den Strom der nach Palästina
drängenden Opfer der Rassengesetze ebenfalls von Buropa weg. Die Verfolgten waren
angesichts des antisemitischen Klimas und in Erwartung eines Kriegs ebenso über-
zeugt gewesen wie viele jüdische Schweizer, dass wirkliche Sicherheit nur ausserhalb
von Buropa zu finden war. Die politisch und bürokratisch inszenierten Erschwerungen,
die Politik von Evian und schliesslich der Krieg hatten die gelenkte Migration behin-
dert und nach 1939 endgültig verunmöglicht. Nach dem Zusammenbruch der
nazistischen und faschistischen Regimes sank nun aber unter den Befragten der
Prozentsatz der für Übersee und Palästina optierenden Flüchtlinge deutlich. Die erste
362 5. KAPITEL

Enquete folgert daher: «Je mehr sich der Krieg seinem Ende näherte und die Angst vor
dem Sieg des Naziregimes schwand, desto geringer wurde die Zahl derer, die an dem
Wunsch, nach Übersee auszuwandern, festhielten. Viele, die sich durch abenteuerliche
Flucht, von Land zu Land, von einem Versteck zum andern gehetzt, durch die
Schrecken des Krieges in Europa durchgerettet haben, zeigen nun, da keine Gefahr
mehr besteht, nur noch geringes Interesse an der Auswanderung, sondern ziehen es
vor, an dem Wiederaufbau Europas mitzuwirken.»
Von den 2581 Personen, die Europa zu verlassen wünschten, gaben knapp 1000
Befragte Palästina (1880 Personen einschliesslich Familienangehörige), 1143 die Ver-
einigten Staaten (2075 inklusive Familienangehörigen) und 472 Befragte (geschätzt
600 inklusive Familie) weitere aussereuropäische Staaten an. Von besonderem Interes-
se ist jedoch die Ausdifferenzierung nach kombinierten Wünschen: Nur 953 Personen
wollten Europa eindeutig verlassen, davon je rund 400 nach Palästina und den USA
Diese Länder bildeten für 1628 Weiterwanderer nur zweit- und drittplazierte Wander-
ziele, die für den Fall, dass eine gleichwertige Alternative oder die Einreise in das
einstige Domizilland verunmöglicht blieb, als weitere Eventualität genannt wurden.
Für die Vereinigten Staaten optierten zwar 21 Prozent aller Befragten, doch nur sieben
Prozent nannten dieses Ziel als Hauptwunsch. Ähnlich gaben 22 Prozent Palästina als
Wanderziel an, aber nur neun Prozent wollten primär und einzig dorthin emigrieren.
Bei den Begründungen für dieses Verhalten dominierten zwei Angaben. Erstens die
konsequente Verfolgung von mehreren Alternativen gleichzeitig, was den Schluss
erlaubt, dass Fragen der Aufnahmepolitik, des Arbeitsmarktes und der persönlichen
Entfaltungsmöglichkeiten wichtig waren. Zweitens wollte man vor dem Entscheid zur
endgültigen Weiterwanderung oder Niederlassung zuerst in das frühere Aufenthalts-
land zurückkehren, um von dort weiterzusehen oder Angehörige zu suchen.
Allgemein ausschlaggebend blieb natürlich die Frage der Verwandten. Menschen,
deren nahe Angehörige in Palästina oder einem Überseestaat angesiedelt waren und
dort vielleicht bereits die Staatsangehörigkeit erworben hatten, sahen mehr Grund,
diese Ziele direkt anzustreben oder als Eventualität zu nennen. In den USA besassen
vonjenen 692 Flüchtlingen, die in erster Linie dorthin wollten, 398 nahe Angehörige.
Auffallend ist aber, dass 746 befragte Flüchtlinge, die dort nahe Angehörige besassen,
dieses Ziel nur als zweite oder dritte Eventualität ins Auge fassten. Oft mit den
familiären Gründen zusammenhängend, konnten auch der Besitz von ausgelaufenen
Visa oder die Aussicht auf neue Visaausschlaggebend für die Resultate der Befragung
sein. Weniger ersichtlich wird aus den erhobenen Zahlen eine Bevorzugung von
Überseeländern aus Motiven der beruflichen Qualifikationen der Flüchtlinge. Immer-
hin fällt die grosse Zahl von handwerklichen Berufen auf, die gleich stark vertreten
waren wie sämtliche Berufe aus dem tertiären Erwerbssektor. Ob darin das Resultat
der ORT-Ideale und der Umschulung zu produktiver Arbeit gesehen werden kann,
muss offen bleiben, kann aber als wahrscheinlich angenommen werden.
MINHAG SUISSE 363

Die familiären und sozialen Motive besassen hinsichtlich Palästina eine ganz
andere Qualität, indem die zionistische Heimat oft die zerstörten Familien durch eine
kollektive Bindung ersetzen konnte. Von den Flüchtlingen, die in das zukünftige Israel
emigrieren wollten, besassen im Verhältnis zu den USA weitaus weniger Flüchtlinge
nahe Angehörige im Nahen Osten, aber auch öfters keine mehr auf dem alten Konti-
nent. Indessen erscheint die berufliche Struktur ähnlich wie bei den USA- oder
Frankreich-Wanderern. Auch bei Palästina ist wie im Falle der anderen Zielländer zu
berücksichtigen, dass eine bedeutende Anzahl der Befragten, die einst berufslos waren
oder einen kaufmännischen Erwerb ausgeübt hatten, soeben auf Landwirtschaft und
Handwerk umgelernt hatten. Besonders deutlich galt dies bei jenen fast zehn Prozent
aller jüdischen Flüchtlinge, die Palästina als Erstzielland nannten. Die Zahlen müssen
freilich nach oben korrigiert werden, weil in der Enquete Kinder und zionistisch
betreute Jugendliche, die erst gerade die Hachscharah begonnen hatten, nicht figurierten.
Ansonsten wurde die Enquete nachträglich durchaus von den Tatsachen bestätigt.
Obwohl der hohe Anteil an Nennungen Palästinas als zweite oder dritte Eventualität
(13 Prozent der jüdischen Flüchtlinge) besonders auffallig war, blieb in ganz Buropa
die Alija von der Einsammlung der Verfolgten und vom Ideal der Urbarmachung am
nachhaltigsten geprägt.
Die politischen und ideologischen Überzeugungen der Palästina-Wanderer sind auch
ablesbar an der organisatorischen Form der gelenkten Massemnigration, die ganz im
Gegensatz zu den individuellen Übersee- und Buropawanderungen der jüdischen Flücht-
linge stand. Organisierte Massentransporte waren auch durchwegs im Sinne der
eidgenössischen Politik der Transrnigration. Von einem zukünftigen Staat Israel erhoffte
sich zum Beispiel Rothmund, dass der Jude und Flüchtling sich zu einem «normalen
Ausländer>>· wandeln würde, der zwischenstaatlich nach bilateralen Kriterien behandelt
werden konnte. 172 Die ersten Flüchtlinge, die auf diese Weise die Schweiz verliessen,
waren denn auch verwaiste Kinder, handwerklich ausgebildete Jugendliche der Hach-
scharah und ehemalige Insassen von Bergen-Belsen, Theresienstadt und Buchenwald, die
kurz vor Kriegsende in die Schweiz gekommen waren. Für die Überführung der Kinder
und Erwachsenen aus den drei ehemaligen KZ hatte die zionistische Seite besonders
energisch gekämpft, sowohl gegen schweizerische Rücksichtnahmen aufbritische Inter-
essen wie auch gegen religiöse Avancen seitens des Schweizerischen Roten Kreuzes und
orthodox-jüdischer Kreise in der Schweiz. Noch während der Auswertung der ersten
Enquete verliess Ende Mai 1945 ein erster Transport von 361 Palästinawanderern die
Schweiz, der am 19. Juni in Haifa einlief. Binnen weniger Monate folgten, ebenfalls
organisiert durch das Genfer Palästina-Amt, die weiteren Transporte mit je 700 Flüchtlin-
gen, darunter die Kinder aus Buchenwald. 173
Bleibt hier noch abschliessend der Blick auf die 174 Befragten mit weiteren 74
Angehörigen, die in der Befragung unvorhergesehen den Wunsch äusserten, in der
Schweiz verbleiben zu können. Neben 30 alten Leuten handelte es sich um Personen
364 5. KAPITEL

mit Angehörigen in der Schweiz, Emigranten mit gesuchten Mangelberufen und um


junge Menschen, die hier ihre Ausbildung oder das Studium beenden wollten. Nur
hundert Juden gaben in der Enquete diesen «unvorhergesehenen>> Wunsch an. In den
späteren Jahren sind aufgrunddes Dauerasyls, durch Heiraten oder aus eigener Durch-
setzungskraft aber sehr viel mehr jüdische Emigranten und Flüchtlinge in der Schweiz
geblieben. Hatten 1930 noch knapp 18'000 eingebürgerte oder niedergelassene Juden
im Land gelebt, so war ihre Zahl 1940 auf fast 19'500 geklettert, die sich 1950 auf
leicht mehr als 19'000 einpendelte. Ein Teil dieser Zunahme ist im ersten Jahrzehnt auf
schweizerische Rückwanderer zurückzuführen. Zur Entwicklung von 1941 bis 1950,
mit einer erhöhten Ausländerquote am Anfang und einer wiederum wachsenden
Schweizerquote am Ende dieser Periode, trug der Verbleib von Flüchtlingen und
Emigranten mehr bei. Doch insgesamt gesehen, und das heisst gemessen an den
beinahe 20'000 Flüchtlingen, die das Land wieder verlassen mussten, bleibt die reale
Einwanderung unbedeutend. 174 Die rund 1600 Juden, die letztlich blieben, veränderten
das demographische Gesicht der jüdischen Schweiz kaum, bereicherten aber verein-
zelt das kulturelle Profil wesentlich. Von ihrer Einreise in die Schweiz bis zur Gewäh-
rung ihre~ Niederlassung konnten gut fünfzehn Jahre verstreichen, bis zur Einbürgerung
unbegüterter Bewerber fast noch einmal soviel Zeit. Für sie alle war die als «menschli-
che Landschaft» (Hermann Levin Goldschmidt) empfundene Schweiz nicht länger
etwas Fremdes, sondern zur Heimat geworden. 175

SUMMA UND EXKURS: POINT D' ARGENT, POINT DES SUISSES.


WARUM UND WIE DIE JUDEN DIE FLÜCHTLINGSPOLITIK
FINANZIERTEN

Die Politik der Transmigration kostete Geld, viel Geld. Im Herbst 1942 führte Saly
Mayer mit dem Präsidenten der Schweizerischen Nationalbank, dem Winterthurer
Nationalrat Gottlieb Bachmann, eine Unterredung, die den Dollartransfer nach der
Schweiz zum Gegenstand hatte. Mayer suchte nach Mitteln und Wegen, amerikani-
sche Gelder, die das JDC dem SIG-Präsidenten zugesagt hatte, in Schweizer Franken
frei konvertieren zu können; die eidgenössische Notenbank hingegen, die ohnehin zu
viele Dollars eingekauft hatte, wollte statt dessen nur aufblockierte Schweizer Franken
zurückgreifen, die in den USA lagen und durch Washington kontrolliert wurden.
Bachmann hoffte hier wohl einen «humanitär» scheinenden Hebel gefunden zu haben,
mit dem sich die kriegswirtschaftlich motivierten Restriktionen der USA lockern
lassen würden. Mayers Bericht über die ablehnende Haltung Bachmanns gegenüber
einem direkten Transfer notiert unter anderem, der Nationalbankpräsident «meinte,
MINHAG SUISSE 365

man hätte ja als Jude gute Beziehungen zu Morgenthau. Ich lehnte solches stricte ab
bez. der Beziehungen.»
Diese Überschätzung eines vermeintlichen Einflusses der amerikanischen Juden
auf die US-Regierung ist vergleichbar mit ähnlich lautenden Stimmen in Europa. Auch
Rothmund war der Meinung, dass die Juden jenseits des Atlantiks einen entscheiden-
den Zugang zu ihrer Regierung hätten; in einer Anfrage an das JDC im August 1941
wundert er sich daher etwas fassungslos über die amerikanische Absicht, die Grenzen
für Flüchtlinge (und dies meinte bei Rothmund: für Juden) sperren zu wollen. 176
Bachmann wie Rothmund scheinen keine Einzelfälle gewesen zu sein. An dem Glau-
ben, das amerikanische Judentum verfüge über Kanäle zu Präsident Roosevelt und
seinem jüdischen Finanzminister Henry Morgenthau, war indessen wenig wahr und
sehr viel illusionärer Wunsch. Auch dürfte darin ein Stück weit der hartnäckige
Mythos einer jüdischen Weltverschwörung nachgeklungen sein, der in den zwanziger
Jahren gerade durch Henry Ford weiterverbreitet worden war. In Wirklichkeit war die
Roosevelt-Administration nicht an den Juden interessiert, selbst wenn der Präsident
sich von ihnen gerne als väterlicher Wohltäter feiern liess. Die Juden selbst hatten
einen nur beschränkten und sehr selektiven Zugang zum Weissen Haus. Im fernen
Europa freilich glaubte man an die finanzielle Kraft und das machtpolitische Gewicht
der amerikanischenJuden. 177
Der wirtschaftliche und politische Hintergrund dieser Angelegenheit sind die
Probleme der schweizerisch-alliierten Finanzbeziehungen während des Zweiten Welt-
krieges. In diesem internationalen Rahmen wird dann, als sekundäres Geschehen, die
finanzpolitische Seite im Verhältnis der Schweiz zu den eigenen Schweizer Juden
sichtbar. Um diesen Aspekt der eidgenössischen Juden- und Flüchtlingspolitik zu
verstehen, müssen wir den Blick einen kurzen Moment auf den globalen Rahmen
wirtschaftlicher Kriegführung werfen.
Wirtschaftliche Massnahmen waren in Kriegszeiten zwar schon immer bedeu-
tungsvoll gewesen und wurden in Form von kriegswirtschaftlicher Organisation be-
reits in den Jahren 1914-1918 systematisch ausgebaut. Das Phänomen des Kriegs
erfuhr im 20. Jahrhundert, besonders aber mit dem Zweiten Weltkrieg, seine Auswei-
tung vom rein militärischen auf den zivilen Bereich. Die Trennung der als klassisch
angesehenen Bereiche Politik, Militär und Wirtschaft liess sich in einem langwierigen,
strategisch umfassend geplanten und material- wie kapitalintensiven Abnutzungskrieg
nicht aufrechterhalten. Das militärische Kräftemessen war zu einem «totalen Krieg»
gewordenP8
Die wirtschaftlichen Aussenbeziehungen der Schweiz während und kurz nach dem
Krieg zeigen die Schweiz in Abhängigkeit von aussen in bezilg auf Rohstoffe, Rüstungs-
güter und Zahlungsmittel. Umgekehrt setzte der Kleinstaat seine Neutralität und
attraktive wirtschaftliche Kapazität, so die Verkehrswege und seine Angebote an
Dienstleistungen, als dissuasive Elemente ein. Besonders das schweizerische Finanz-
366 5. KAPITEL

und Wirtschaftskalkül gegenüber dem Nazistaat, an den finanzielle und wirtschaftliche


Zugeständnisse gemacht wurden, zeigt diese kriegswirtschaftliche Dimension auf, die
man nach dem Krieg beschwichtigend herunterspielte. 179 Aber die geographische
Nähe zum Kriegsschauplatz und die leistungsfähige Palette an Produktions- und
Dienstleistungen machte die Schweiz beiden Kriegsparteien verdächtig. Der völker-
rechtliche Status der Neutralität erwies sich als schwacher Schutz, um nicht in die
globale Politik des Wirtschaftskriegs hineingezogen zu werden. Nach dem Kriegsaus-
bruch, besonders aber mit dem Kriegseintritt der USA, zogen die Alliierten ein
umfassendes Instrumentarium an Massnahmen auf, das auf von Hitler besetzte Staaten
wie Dänemark, Norwegen oder Frankreich angewendet wurde, bald aber für sämtliche
kontinentaleuropäische Staaten galt. Das alliierte Instrumentarium für diese Länder
zielte auf die Blockierung und Lenkung von Handelsströmen, die Aufdeckung von
Tarnoperationen zugunsten Deutschlands und Italiens, die Sperrung und Beschlagnah-
rnung von Feindguthaben und den Transfer von Kapitalien nach und aus Deutschland.
Angesichts dieser Konfliktlage zwischen deutschen und alliierten Wünschen konnten
auf dem Feld der amerikanisch-schweizerischen Wirtschaftsbeziehungen die Proble-
me nicht ausbleiben. 180
Am 14. Juni 1941 erliess Schatzkanzler Henry Morgenthau eine Guthabensperre
über alle in den USA liegenden Werte aus kontinentaleuropäischen Ländern. Ur-
sprünglich war es den Vereinigten Staaten bei diesen einschneidenden Massnahmen
um den Schutz ausländischer Werte vor dem Zugriff der deutschen Besatzungsmacht
gegangen. Washington wollte perGesetzdas leisten, was in der gleichen Zeit auch das
schweizerische Bundesgericht für jüdische Kapitalien getan hatte. Die umfassende
Sperre erwies sich aber bald als Instrument der alliierten Wirtschaftspolitik schlecht-
hin. Die Folgen für die Schweiz waren von grosser Bedeutung: In den USA lagen
knapp 1,5 Milliarden Dollar an schweizerischen Werten, darunter auch die Einlagen
der Nationalbank, blockiert. Trotz eines einigennassen noch liberalen Lizenzsystems
war die Verfügungsfreiheit über diese Guthaben stark eingeschränkt. Die Schweiz
musste eine Dollarbewirtschaftung einführen und die Frage der staatlichen Garantie-
übernahme beantworten.
Aufgrund dieser unangenehmen Lage der Schweiz versuchten die Schweizer Juden
zunächst, ihre amerikanischen Freunde zu Interventionen in Washington zu bewegen.
Doch das JDC kam dort mit seinem Wunsch nach Deblockierung von Guthaben für ein
Clearing nicht durch. Mayers Vorsprechen bei Bachmann, das eingangs zitiert wurde,
hatte seinen Grund also im Scheitern der amerikanischen Juden, das Treasury
Departrnent der US-Regierung zu überzeugen, die blockierten Schweizer Franken freizu-
geben. Die für die Schweiz bestimmten Beträge in der Höhe von 1 '550'000 Dollar sollten
erst Ende September 1943 verfügbar sein, als Mayer schweizerische Obligationen in
Dollars kaufen liess und diese dann im eigenen Land mit einem Abschlag absetzte. In
dieser misslichen Lage geriet 1942 Mayer unter doppelten Druck: Wenn die Schweiz
MINHAG SUISSE 367

schon zu einem unilateralen Vollziehungspartner der USA zu werden drohte, musste


dieser Druck nach innen auf die eigenen Schweizer Juden Ableitung finden. So wird
verständlich, wie wir noch sehen werden, dass gerade während dem Schwarzen August
1942 die amerikanische Guthabensperre von Bem als willkommenes Argument für ihre
antisemitische Flüchtlingspolitik eingesetzt wurde.
Bevor wir aber auf diese politische Instrumentierung der Schweizer Juden und der
jüdischen Flüchtlinge auch für die schweizerisch-amerikanischen Finanzbeziehungen
zurückkommen, müssen wir den Blick nochmals auf eine weitere Ebene richten. Aus
jüdischer Sicht steckte hinter der Geschichte mit dem Transfer mehr als nur der
einmalige Versuch, amerikanisch-jüdische Gelder für die Flüchtlinge in der Schweiz
zu erhalten. Die Solidarität des amerikanischen JDC, das 1941/42 grasszügig mehr als
zehn Prozent seines Budgets dem SIG zukommen liess, hat zwei Dimensionen.
Erstens wirft dies ein Licht auf den Umstand, dass Bern vorsätzlich seine Schweizer
Juden für die jüdischen Flüchtlinge bezahlen liess; deren finanzielle Auslaugung
führte bald dazu, dass der SIG beim JDC in New York um Hilfe bat und diese auch
tatsächlich und reichlich erhielt. Zweitens entwickelte sich die Schweiz nach dem
Kriegseintritt der USA zum finanziellen Umschlagplatz des JDC, der hier, in der
Gestalt Mayers, einen vorgeschobenen Horch- und Aussenposten im deutsch besetzten
Europa aufrechterhielt. Ein finanzpolitischer Blick lässt die systematische Linie er-
kennen, die Mayer im Interesse der Schweiz und der Schweizer Juden betrieb und
zugleich als Hilfe an die leidenden Juden in den europäischen Ländern konzipierte.
Mayer kombinierte beide Momente, indem er schweizerische Sammelgelder des
SIG für die Hilfe an die notleidenden Juden im Ausland einsetzte, während die
amerikanische Unterstützung teilweise in die Tasche des SIG floss. In anderen Wor-
ten, die Dollars des JDC, das als amerikanische Organisation kriegswirtschaftlich
gebunden war, wurden vom SIG in der neutralen Schweiz weissgewaschen, um
humanitären Zwecken im deutschen Machtbereich zu dienen. Durch Mayers Hände
sind Millionen von Dollars geflossen, und zugleich haben seine Kuriere über den
Zustand und das Leiden der Juden in europäischen Ländern zahlreiche Informationen
geliefert, die dann an das JDC in New York zurückflossen. Wie es im Februar 1942
zum Mayer-Plan des JDC während den jüdischen Hilfsaktionen für Gurs überhaupt
gekommen ist, wird später noch eingehender dargestellt. Für die Geschichte des JDC
kann auf die Arbeiten von Herbert Agar und besonders Y ehuda Bauer zurückgegriffen
werden, die Mayers Rolle im JDC viel Raum gegeben und grossen Tribut gezahlt
haben. 181 Unser Augenmerk ist aber zunächst auf die Rollen des JDC und des VSJF im
flüchtlingspolitischen Kalkül der offiziellen Schweiz gerichtet sowie auf den behördli-
chen Druck gegenüber dem SIG, wo dieses Kalkül stellenweise den Charakter einer
stillen Erpressung annahm.
368 5. KAPITEL

Die finanzielle Erpressung der Schweizer Juden

Seit 1933 hatte der VSJF bis Ende 1937 für die mehr als 6000 betreuten Flüchtlinge
rund 680'000 Franken ausgegeben; der SIG hatte daher in seinen Flüchtlings-
sammelaktionen während fünf Jahren insgesamt 1 '044'000 Franken zusammengebracht.
Anfangs 1938 rechnete der SIG mit Ausgaben für die Flüchtlingshilfe in der Höhevon
80'000 Franken, ein Betrag, der an der Delegiertenversammlung vom März als ver-
mutlich zu niedrig eingeschätzt wurde. Dass die tatsächlichen Ausgaben dann 25mal
höher ausfielen als das vorgesehene Budget, resultierte aus den Folgen der bekannten
politischen Ereignisse und der nazistischen Verdrängung der Juden aus Deutschland,
von denen sich der Verband kurzfristig «Vollständig überrumpelt» und zur schnellen
Improvisation gezwungen fand. Der VSJF-Jahresbericht nennt als Ursache den
Anschluss Österreichs, das Münchner Abkommen, die fortschreitende Vermögensent-
eignungen und den beruflichen wie gesellschaftlichen Ausschluss der Juden in Deutsch-
land, die Novemberpogrome, die rassistische Gesetzgebung in Italien und die «mit List
und Gewalt im Juli-August nach der Konferenz von Evian begonnene planmässige
Abschiebung von Juden aus Österreich und Deutschland». Nach einer Auflistung der
einzelnen Hilfsaktionen, die «schon längst über die sogenannte Vereinsarbeit hinaus-
gewachsen» waren und ein permanentes Engagement erforderten, kommt der Rück-
blick auf die finanziellen Lasten zu sprechen: «Eine erste Konferenz im Bundeshaus
ergab, dass man behördlicherseits darauf rechne, dass die Judenschaft der Schweiz
sich darüber klar sei, dass es sich bei der Betreuung der jüdischen Flüchtlinge, der
Bearbeitung ihrer Weiterreise und den finanziellen Folgen in erster Linie um eine
Sache des Judentums der Schweiz handle.» 182
Zahlreiche Hinweise aus jüdischen Quellen stimmen darin überein, dass die offizielle
Schweiz ihren Juden klargemacht habe, die Finanzierung des Flüchtlingswesens sei von
den Juden zu bezahlen und deren eigene Zahlungsfähigkeit sei ausschlaggebend für die
Aufnahme von Verfolgten. Einhellig wird dabei die Polizeidirektorenkonferenz vom 17.
August 1938 als Quelle eines solchen Beschlusses genannt. Auch die Sitzung des Zürcher
Regierungsrats vom 21. November 1940, wo zwar kein Beschluss gefasst, aber die
«Frage» der Aus- und Abwanderung von Schweizer Juden durch den Finanzdirektor
angeschnitten wurde, ist vom SIG als bedrohliches Signal in diese Richtung interpretiert
worden. 183 Die Juden fanden sich also unter Druck gesetzt, wenn nicht gar bezichtigt,
moralisch und finanziell selbst Schuld an ihrem Unglück zu sein. In jedem Fall sollten sie
bezahlen, auch wenn dies demokratischen Gepflogenheiten und rechtlichen Grundlagen
gänzlich widersprach. Für diese Behaftung eines Kollektivs nach rassistischen Kriterien
gibt es auch genügend Belege aus anderen Quellen, meistens als Aufzeichnung mündli-
cher Äusserungen, die in privaten Gesprächen oder am Rande von Konferenzen fielen.
Ziemlich grob und zugleich ohne konkrete Nennung der Sündenböcke meinte der
Polizeichef an einer Sitzung der SZF im März 1940, für den Unterhalt der verarmten
MINHAG SUISSE 369

Flüchtlinge müssten eben jene Leute herangezogen werden, die sie hereingeholt hätten.
Doch stellten die Amtsträger den Vorgang offiziell immer so dar, wie etwa Bundesrat
Baumann im Dezember 1938 die Situation im Nationalratssaal präsentierte: Der SIG
habe sich, seiner Zusicherung treu bleibend, der Flüchtlinge angenommen. Auch der
Ludwig-Bericht rüttelt nicht an diesem Glauben, wonach der SIG die Zusicherung
abgegeben habe, dass «die Juden der Schweiz ihr Flüchtlingswerk mit Hilfe der ausländi-
schen Judenschaft ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel selbst finanzieren würden».
Und schliesslich zitierte der VSJF selbst eine Rede Rothmunds, der die Schweizer
Asyltradition als Wagnis lobte, weil man Aufenthalt und Weiterwanderung des Flücht-
lings durch die finanziellen Zusicherungen des SIG garantiert gesehen habe. 184
Schweizer Behörden und Schweizer Juden interpretierten die Zeichen und Codes
gleichzeitig übereinstimmend und doch sehr verschieden. Dieses Spiel, das die politi-
schen Ängste und Abhängigkeiten widergibt, schuf eine Realität, die nach dem Buch-
staben der Rechtsordnung nicht hätte existieren dürfen. Bezeichnend für die Kommu-
nikation zwischen SIG und Bundeshaus, aber auch für den funktionalen Vorgang
innerhalb der Administration sind die deutlich unterschiedlichen Lesarten der Konfe-
renz der kantonalen Polizeidirektoren vom 17. August 1938. In den jüdischen Belegen
steht die Konferenz für einen festen Beschluss mit quasi amtlichem Charakter, dass der
SIG die gesamten Kosten für die jüdischen Flüchtlinge zu tragen habe, oder es wird gar
von einem «Abkommen» zwischen Bund und SIG gesprochen. Das Central-Comite
des SIG vermerkte gernäss Protokoll, dass die Konferenz eine Aufbringung der finan-
ziellen Mittel verbindlich «erwartet», und beschloss, unverzüglich eine grosse Samm-
lung durchzuführen. Was das Judentum der Schweiz fünf Jahre lang freiwillig getan
habe, sei jetzt von den Behörden als Pflicht auferlegt worden. Auch das Rundschreiben
an die Gemeinden sprach davon, die Eidgenossenschaft habe dem SIG «die Verpflich-
tung auferlegt, die Flüchtlinge unter ihre Obhut zu nehmen und um Beistellung der
finanziellen Mittel für deren Aufenthalt sowie für deren Emigration besorgt zu sein» .185
Laut Protokoll der Konferenz der Polizeidirektoren wurde aber über eine solche
finanzielle Behaftung des SIG überhaupt nie diskutiert, geschweige denn ein Beschluss
gefasst oder ein Junktim zwischen Asyl und Finanzen hergestellt. Es wird darin
lediglich die Mitteilung gemacht, man stehe in Fühlung mit den Herren vom SIG und
VSJF, die sich selbst «der Angelegenheit angenommen, organisiert und Geldmittel zur
Verfügung gestellt» hätten. Sehr viellieber faselte Rothmund von einer angeblichen
«Verjudung Amerikas», und ein kantonaler Polizeichefhätte bloss gerne gesehen, dass
auf Fragebögen für Flüchtlinge die Rubrik «Konfession» durch «Rasse» ersetzt wor-
den wäre, da sich gar mancher, der sich als Christ einschleiche, ein jüdischer Flücht-
ling sei. Mehr ist dem Protokoll- bezeichnenderweise -nicht zu entnehmen. Erst die
offizielle Pressemitteilung formulierte die zitierte finanzpolitische Passage, dass die
Schweiz bereit sei, Flüchtlinge aus Österreich zu dulden, nachdem sich der SIG
verpflichtet habe, für die Kosten ihres Aufenthalts aufzukommen. 186
370 5. KAPITEL

Tab. 1: Vom VSJF betreute und unterstützte Flüchtlinge und von VSJF mit HICEM realisierte
Weiterreisen sowie VSJF-Ausgaben, SIG-Sammlungen und JDC/HICEM Beiträge 1933-1952

Jahr VSJF-Fiüchtlinge Emigrationen Ausgaben Sammlungen JDC/H!CEM


betreut unterstützt durch VSJF VSJF(Fr.) S!G (Fr) (Fr.)

1933/34 3'094 1'073 299'110


1935 580 267 111'576
1936 704 * 115 98 152'632 * 701'000
1937 841 90 138'648
1938 8'980 3'060 445 1'632'824 1'527'000
1939 6'319 2'530 1'840 3'688'185 1'519'000 2'000'000
1940 3'053 2'290 384 2'364'965 546'000 1'500'000
1941 2'558 2'200 222 2'144'488 359'000 1'500'000
1942 7'344 2'260 66 2'476'234 495'000 1'000'000
1943 16'600 8'000 1 3'325'805 892'000 2'123'000
1944 14'700 10'000 1'889 5'688'000 685'000 4'951'000
1945 6'502 8'000 9'873 8'693'000 406'000 8'136'000
1946 4'341 5'000 2'032 8'360'000 420'000 7'432'000
1947 3'694 2'000 1'283 6'909'000 404'000 5'405'000
1948 2'759 1'750 1'070 6'143'000 425'000 4'550'000
1949 2'128 1'400 808 5'093'000 521'000 2'881'000
1950 Dauerasyl 1'200 404 3'700'000 420'000 1'680'000
1951 Dauerasyl 876 359 2'878'466 389'000 1'310'000
1952 Dauerasyl 148 150 2'195'809 340'000 606'631

Total der Unterstützung (Fr.): 65'995'000 10'049'000 44'062'631

*Summe 1933-1937
Zur Beachtung: Bei den JDC!HICEM-Beiträgen an den VSJF handelt es sich um Fr. 35'400'000 Joint-
Direktsubventionen und restlich um JDC-Beiträge an die HICEM, ORT und andere jüdische Organisatio-
nen zugunsten des VSJF. Die VSJF-Ausgaben enthalten die für die Flüchtlinge und Migranten verausgab-
ten Gesamtkosten. Hinzu kommen für Spesen und Saläre insgesamt 4'100'000 Franken der VSJF-
Administration, die damit zu den direkten Ausgaben für die Flüchtlinge in einem Verhältnis von 1 zu 16,5
stehen.
Als «betreute>> Flüchtlinge gelten Personen, die dem VSJF in Obhut unterstanden; bei den <<Unterstützten»
Flüchtlingen handelt es sich um Personen, die unabhängig davon, ob sie durch den Verband betreut
wurden, VSJF-Gelder zur Bestreitung ihrer persönlichen Lebenskosten zugesprochen erhielten.
MINHAG SUISSE 371

Tab. 2: Subventionen an den VSJF durch verschiedene Stellen und Organisationen (Fr.)

Subventionierende Stellen 1933-1943 1944-1952 Total

Bund und Kantone an Weiterreisen 428'072 9'211'928 9'640'000


SZF-Sammlungen und Dritte 1'225'215 3'864'785 5'090'000
Direkte JDC-Subventionen 7'322'000 28'079'000 35'400'000
HICEM und Hias für Emigrationen 4'220'000 4'220'000
Andere jüdische Hilfswerke gesamt
nach VSJF-Schätzungen: 5'000'000
SIG-Sammlungen (Schweizer Juden) 7'039'000 3'010'000 10'050'000
«Solidaritätsopfer>> (Sondersteuer) 1'290'000 310'000 1'600'000

Total Subventionen zugunsten VSJF 1933-1952 71'000'000

Quellen und Zusammenstellung der Tabellen 1 und 2: JDC: SM-2 u. SM-3, Tabellarische Bilanzen SIG.
VSJF: Tätigkeitsberichte 1943-1952. VSJF, Ein Jahrzehnt Schweizerische Jüdische Flüchtlingshilfe,
S. 57--60. JDC, Annual Reports 1933-1945. SIG, Festschrift, S. 52. Jehuda Bauer, American Jewry and
the Holocaust, S. 231. Ludwig, Flüchtlingspolitik, S. 366-370.

An der Delegiertenversammlung des SIG im März des folgenden Jahres, zu der


Rothmund eingeladen wurde, um «Mitteilungen über den Stand der Flüchtlingsfrage»
zu geben, wurde im Anschluss an sein Referat die Finanzierungsfrage in der Diskussi-
on aufgeworfen. Auf die Frage eines Delegierten, ob tatsächlich eine bindende Ver-
pflichtung zu Zahlungen durch den SIG existiere, antwortete der Polizeichef, dass
keine rechtlichen Grundlagen vorhanden seien, die Betreuung der Flüchtlinge den
Schweizer Juden zu überantworten. Es liege allerdings im Interesse der schweizeri-
schen Judenheit, das Flüchtlingswerk weiterhin vollumfanglieh zu tragen, um jeden
Antisemitismus im Lande zu vermeiden. 187
Aufschlussreich ist auch eine Tagebuchnotiz Mayers vom Oktober 1941, die
gewiss nicht den Schluss zulässt, die Schweizer Juden hätten sich freiwillig auf ein
«Abkommen» zur Verknüpfung finanz- und asylpolitischer Bedingungen eingelassen.
Mayers Eintrag dokumentiert eher die jüdische Not: «Wir können menschlich betrach-
tet nicht Nein sagen. Wenn man uns fragt, wie August 38, übernehmen SIG die
Fürsorge, auch wieder antworten, soweit uns möglich ist. Finanzielle Kapazität Höhe-
punkt erreicht, Joint müsste mehr geben.» In einem Entwurf zu einem Bericht an das
JDC notierte Mayer auch ein paar Sätze zum Thema «Mission, Politik und Geld» in
der christlichen Schweiz. Er bemerkt, dass man trotz konstitutioneller Freiheiten die
sonst gern gesehenen Übertritte von Juden «in andere Religionen» keineswegs schät-
372 5. KAPITEL

ze, und zwar aus finanziellen Erwägungen, um die Kosten für die jüdischen Flüchtlin-
ge zu garantieren. Die kantonalen Flüchtlingsdebatten seien meistens farblos, nicht nur
weil in den meisten Kantonen kaum Flüchtlinge seien, sondern weil bisher nur davon
gesprochen worden sei, wer nichts zu bezahlen habe, nämlich Bund und Kantone.
«Wenn man einmal ein direktes Subventionsgesuch zu behandeln hat, dann wird sich
auch in der Diskussion die Opposition regen, denn: Point d' argent- pointdes Suisses.»
Mayer schliesst mit der Reminiszenz, leider sei Banknotenfälschung für philanthropische
Zwecke immer noch verboten. 188
Nachdem das Flüchtlingswesen zentralisiert und durch bundesrätlichen
Vollmachtenbeschluss am 17. Oktober 1939 ganz in die Hände der Eidgenossenschaft
gelegt worden war, war noch weit weniger zu erwarten als von den Kantonen, obwohl
nun eine umfassende Finanzverpflichtung des Bundes im Flüchtlingswesen hätte
abgeleitet werden können. Der VSJF hoffte anfänglich auf Entlastung, als die SZF, der
er angehörte, am 22. Dezember 1939 mit ihrer bekannten Eingabe an den Bundesrat
gelangte, die neben dem Vorschlag für bundeseigene Interniertenlager und beschleu-
nigte Arbeitsbeschaffung für Emigranten auch erhebliche finanzielle Forderungen
vortrug. Dazu gehörten ein umfassender Bundeskredit für die gesamte schweizerische
Flüchtlingshilfe und eine maximale Ausdehnung der Auswanderungsbeihilfen. In
seiner Antwort war der Bundesrat zwar bereit, über Auswanderungsbeiträge mit sich
reden zu lassen. Von einem Bundeskredit wollte der EJPD-Chef aber nichts wissen.
Die Finanzierung sei allein den privaten Werken zu überlassen, die bei «Einzelnen»
auch aus dem Ausland erfolge, das heisst «von internationalen Organisationen, denen
ja die Lage in unserem Land und die Aufgabe, die die Schweiz mit der vorübergehen-
den Zulassung von Flüchtlingen auf sich genommen hat, bekannt sind». Unverhohlen
wurde hier bedeutet, sich an anderer Stelle zu bedienen. Auch der SIG schätzte die
Lage als so schlecht ein, dass er kaum wagte, allein vorzuprellen. Im Sommer 1940
sprach man im SIG davon, die vom Bund überbürdeten Lasten mit einer «noch
... grösseren Anstrengung bemeistern» zu wollen. 189 Nur waren jetzt die Taschen ziem-
lich leer, weil der SIG von solchen Anstrengungen bereits ausgepumpt war.
Gernäss ihrem eigenen traditionellen Selbstverständnis, das ihnen Hilfe und Für-
sorge als religiöse Mizwa gebot, hatten sich die Schweizer Juden seit 1933 freimütig
der Verfolgten angenommen. Das von den Bundesstellen geübte diabolische Druck-
und Versteckspiel hatte indessen Methode, indem Bern für den Grenzübertritt die
prinzipielle Gleichbehandlung der Juden mit anderen Flüchtlingen nicht bloss aufgab,
sondern sogar umgekehrt durch eine Art «Rassenhaft» die materielle Opferbereitschaft
der jüdischen Schweizer zum Kriterium der Asylpolitik erhob. In der Lesart der
Schweizer Juden hört sich die massive Drohung aus Bern so an: Falls der SIG nicht
alle Garantien für den Unterhalt der Flüchtlinge geben könne, lehne man behörd-
licherseits jede Verantwortung für die Folgen ab; um bei niemandem Zweifel aufkom-
men zu lassen, bestehe die Instruktion, sämtliche Flüchtlinge im Fall eines Versagens
MINHAG SUISSE 373

der Schweizer Juden an die Grenze zu stellen. Im Bundeshaus unter diesen Umständen
ein Postulat der Bundeshilfe vorzubringen war undenkbar, wie ein SIG-Rundschreiben
festhielt, aus «psychologischen und politischen Erwägungen», weil man die in den
letzten Jahrzehnten errungenen Positionen unter allen Umständen zu erhalten suchen
müsse. 190
Zu dieser Angst vor einem moralischen und politischen Versagen oder gar einem
Verlust emanzipatorischer Gleichheit kam auf internationaler Ebene der negative Ein-
druck von Evian, wo die Regierungen der Asyl- und Niederlassungsländer, unter ihnen
die Schweiz, sich gerade jegliche finanzielle Verpflichtung wegbedungen hatten. Die
Juden sind diesen internationalen und eidgenössischen Erwartungen voll nachgekom-
men, um das rettende Tor in die Schweiz offenhalten und den Transit und die Asyl-
gewährung garantieren zu können. Auf diesem Hintergrund erscheinen nachträglich die
beiden schwarzen Flecken in der eidgenössischen Flüchtlingspolitik, das heisst die
Erfindung des J-Stempels von 1938 und die Rückweisung von Flüchtlingen nach
rassistischen Merkmalen im August 1942, in einem merkwürdigen Licht. Die Bezahlung
der eidgenössischen Flüchtlingspolitik durch die Juden erinnert an das historische Muster
aus voremanzipatorischen Zeiten, die eigenen Juden finanziell mit Kopf- und Leibsteuern
zu schröpfen, um am Ende das Tor ganz verschlossen zu halten. Unter dem Druck der
Ereignisse, nach der Enttäuschung von Evian und wegen der Drohungen aus dem
Bundeshaus rappelten sich die Schweizer Juden zu einer enormen finanziellen Leistung
auf, die unverhältnismässig hoch über ihren wirklichen Kräften lag.

Jüdische Sammlungen, Emigrantensteuer und ein Lastenvergleich


mit der Eidgenossenschaft

In der Sammlung von 1938 brachte der SIG 1'700'000 Franken zusammen, das heisst
weit mehr als in den fünf Jahren zuvor. Die Gemeinden wurden angewiesen, bei allen
Juden, ob sie nun Mitglieder dieser Gemeinden waren oder nicht, massiv Druck
aufzusetzen, um Gelder einzutreiben. Die jeweils persönlich von Haus zu Haus vor-
sprechenden Sammler richteten ihr Augenmerk besonders auf die vermögenden Juden
ihrer Stadt und Region. Auch suchte der SIG die vermögenden Flüchtlinge sofort zu
erfassen und zu freiwilligen Beiträgen anzuhalten- eine Massnahrne, auf die man bei
den Behörden hinwies und die gleichsam das 1942 von der Eidgenossenschaft zwangs-
weise verfügte «Solidaritätsopfer» der Flüchtlinge vorwegnahm. Im Jahr des Kriegs-
ausbruchs brachte der SIG noch eine weitere Million aus der Sammelaktion zusam-
men, neben den sonst üblichen ordentlichen und ausserordentlichen Budgetbeiträgen.
Doch dann fiel das Ergebnis während der entmutigenden Kriegsjahre stark ab und ist
erst wieder im Wendejahr 1943 angestiegen. In diesem Jahr geruhte ein Bundesrat
denn auch erstmals, die Geldopfer der Schweizer Juden zur Kenntnis zu nehmen, um
374 5. KAPITEL

sich in Hinblick auf das Kriegsende an den Gedanken von Bundessubventionen auch
für seine jüdischen Schweizer zu gewöhnen. Die jüdische Sammeltätigkeit sollte bis
weit in die Nachkriegsjahre, die noch massivere Ausgaben für die Flüchtlinge und
«displaced persons» erforderten, anhalten, bis 1952 der letzte jüdische Flüchtling die
Schweiz verlassen hat. Nicht zu sprechen ist hier von den weiteren Aufwendungen
nach diesem Zeitpunkt, als die Schweiz den älteren und gebrechlichen Personen das
Dauerasyl zugestand, was die Fürsorgelasten des SIG noch ein gutes weiteres Jahr-
zehnt hinaus strapazieren sollte.
Insgesamt belief sich der Beitrag der Schweizer Juden im Zeitraum von knapp
zwanzig Jahren auf 15 Millionen Franken, ohne die vielen persönlichen und verwandt-
schaftlichen Hilfen gerechnet - eine Summe, die umgerechnet auf die Gesamtbevöl-
kerung der Schweiz einem Sammelergebnis von damals drei Milliarden Franken gleich-
gekommen wäre. Im Vergleich dazu haben in der gleichen Periode sämtliche staatlichen
Stellen und privaten Hilfsorganisationen der Schweiz für das Flüchtlingswesen im Innern
wie für die internationale Hilfe im Ausland 995 Millionen Franken verausgabt. Ange-
sichts der Lastengrösse verwundert es nicht, dass 1939 die rund 18'000 Juden in der
Schweiz- mit rund 5000 Erwerbstätigen, von denen zudem nur die Hälfte steuerzahlende
Gemeindemitglieder waren- mit den Ausgabebelastungen nicht mehr mithalten konnten.
Die Gesamtausgaben des VSJF übertrafen in diesem Jahr das Sarnmelergebnis um
beinahe die vierfache Summe. Am Ende der ganzen Periode 1933-1952 schliesslich
waren 66 Millionen Franken beim VSJF und weitere 34 Millionen Franken bei anderen
jüdischen oder von Juden getragenen Hilfswerken verausgabt worden. SIG und VSJF
waren in jeder Hinsicht von den jüdischen Hilfsorganisationen im Ausland abhängig. Die
Schweizer Juden waren denn auch dort für die Ein- und Aufbringung von rund 75
Millionen Franken aus jüdischen Quellen besorgt; dies hätte wiederum, von 18'000
Juden in der Schweiz auf die gesamtschweizerische Bevölkerung umgerechnet, einem
Betrag von 15 Milliarden Franken entsprochen. Mit allen Nachfolgekosten aufgrunddes
Dauerasyls für Alte und Gebrechliche summierten sich die VSJF-Ausgaben von 1933 bis
1965 auf insgesamt 83 Millionen Franken. 191
1938, in einer ungewissen Situation, suchte indes Mayer ziemlich verzweifelt und
nervös Hilfe im Ausland, was zu tun er in Bern selbst versprochen hatte. Die Hilfs-
gesuche an das JDC und den Council of German Jewry datieren bezeichnenderweise
zwei Tage vor der Konferenz der kantonalen Polizeidirektoren vom August 1938.
Zehn Tage später, nach Mayers und Guggenheims Vorsprache im Pariser JDC-Hiiro,
sicherte Bernhard Kahn dem SIG und VSJF erstmals eine monatliche Summe von
20'000 Dollar zu, die bald verdoppelt wurde. Im Oktober bezifferte Mayer an der Rue
de Teheran die Höhe der 1939 benötigten Gelder auf eine Million Franken, zu
beziehen unter der Bedingung, dass der SIG selbst eine weitere Million sammeln
würde. In dieser Situation, mit einem unter eidgenössischen Druck liegenden SIG,
dessen Kassen leer waren, beginnt die weitere Arbeit des JDC in der Schweiz. Als
MINHAG SUISSE 375

ZUM BEISPIEL ST. GALLEN (2) fonds. Hinzu kamen Kosten für das heisse Bad,
das die Familie sich einmal pro Monat gönnen
EIN BAD IM MONAT UND SELTEN konnte. Obst und Schokolade, die Bohenzky
OBST- WAS EINE FLÜCHTLINGS- für seine Töchter ernährungsmedizinisch als
FAMILIE TÄGLICH ASS UND KOSTETE wichtig erachtet hätte, konnten nur sehr gele-
gentlich gekauft werden.
Im Auftrag der Israelitischen Flüchtlingshilfe Der VSJF-Unterstützungsbeitrag belief
St. Gallen stellte der Arzt Dr. Roher! Bohen- sich im wöchentlichen Durchschnitt auf 31.29
zky, der als Flüchtling selbst einem Flücht- Franken und wurde für Lebensmittel, Miete,
lingsheim vorstand, im August 1941 eine Licht- und Kochenergie, Porti, Medizin und
Kostenstatistik und Speisefolge zusammen. das monatliche Bad gewährt. Bohenzky bezog
Bohenzky tat dies am Beispiel seiner eigenen als Heimleiter und Arzt ein wöchentliches Ta-
vierköpfigen Familie (Ehegatten mit zwei schengeld von 2 Fr., das er zur Deckung von
Mädchen im Alter von elf und dreizehn Jah- Spesen zu verwenden hatte. Die Ehefrau ver-
ren), die selbst im Heim lebte und einem diente in dieser Zeit in der Näh- und Flickstube
Durchschnittswert entsprach. Er verglich diese der Flüchtlingshilfe zwischen 3.75 und 7.50 Fr.
Angaben mit einer im August 1939 notierten und trug so zum fehlenden Haushaltgeld der
Zusammenstellung und kam zum Schluss, dass Familie bei, die wie alle Flüchtlinge in der
früher der Speisezettel reichhaltiger war als Schweiz unter Arbeitsverbot stand und sich
mitten in der Kriegszeit Die Portionen waren somit nicht selbst ernähren konnte.
grösser, es waren vermehrt Gemüse und Hül-
senfrüchte statt Kartoffeln aufgetischt worden, Speisezettel der Familie Bohenzky
Fleisch war noch eher erhältlich und zum in der zweitenAugustwache 1941
Abendessen konnten selbst Sardinen, Eier und Das Frühstück bestand abwechslungsweise aus
Wurst angeboten werden. Kakao oder Milchkaffee und Brot, wobei es
Nachfolgend werden illustrativ Angaben auf- nicht immer Butter und Konfitüre gab. Zum
geführt, die ein Bild der Ernährungsqualität Mittagessen kochten die Frauen im Heim mon-
vermitteln; diese war zwar sehr karg, aber zeit- tags Erbsensuppe, Kartoffeln und Quark;
bezogen nicht ärmlich. Als Preisvergleich: dienstags Zwiebelsuppe und Fleischgulasch
1941 kostete ein Kilo dunkles Brot 44 Rappen mit Hörnli; mittwochs Mehlsuppe, Kohl und
(0,44 Fr.). Kartoffeln; donnerstags Restensuppe und
Maisgries an saurer Milch; freitags Mehlsuppe
Ausgaben und Zuwendungen in sieben Tagen und Spaghetti mit Tomatensauce; Samstags
Fixe Ausgaben machte die vierköpfige Familie Suppenfleisch, Reis und Linsen; sonntags
total 44.63 Franken; davon (in Franken) für faschiertes Fleisch, Kartoffeln und Salat. Zum
Mahlzeiten 26.13, Miete 9.00, Licht und Koch- Abendessen wurde im Heim bei den Bohen-
energie 2.50, Wäsche 2.50, Lagerung Fahrhabe zkys regelmässig Brot mit Milchkaffee oder
3.00, Toiletten- und Putzartikel 0.50 und Porti Kakaogetränk aufgetischt; dazu gab es gele-
0.60. Regelmässig überwiesen die Bohenzkys gentlich Käse oder Quark und ein Mal pro Wo-
eine Spende von 40 Rappen an einen not- che Haferflocken. Das begehrte und vitamin-
leidenden Verwandten und einen ehemaligen reiche Obst figuriert nicht auf dem Speisezettel
Nachbarn, die beide im südfranzösischen La- und konnte, wie Bohenzky vermerkt, nur sehr
ger Gurs lebten. Nicht eingerechnet in die selten aufgetischt werden.
durchschnittlichen Gesamtkosten pro Woche
waren gelegentliche oder monatliche Auf-
wendungen für Flickmaterialien (Gummi,
Zwirn, Wolle, Stopfgarn u. ä.), kleinere Schul-
kosten für die beiden Töchter, Flugpostporti Quelle: JDC, # 973, Bericht Bohenzky an
(Bemühungen für die Ausreise) und eine mo- Israelitische Flüchtlingshilfe St. Gallen vom
natliche Einlage von 80 Rappen in einen Spar- 23. August 1941.
376 5. KAPITEL

Prinzip wurde anfänglich vereinbart, dass der SIG einen Drittel und das JDC zwei
Drittel beisteuern würden - ein Verhältnis, das sich am Ende des Kriegs, verglichen
mit den SIG-Sammlungen, gar auf einen zehnfach so hohen JDC-Beitrag an den VSJF
verschieben sollte. In der Zeit vom Herbst 1938 bis Ende 1952 pumpte das JDC 52
Millionen Franken auf die Konten des VSJF, wovon 15 Millionen während der
Kriegszeit Andere jüdische Organisationen wie HIAS, ORT, Board of South African
Jews und zahlreiche kleine Hilfswerke ergänzten diese Subventionen an den VSJF,
indem sie weitere Aufwendungen übernahmen und mit flankierenden Massnahmen
Absieherungen leisteten. 192
Gleichfalls versorgte Mayer eine Reihe schweizerischer Hilfswerke, die sich der
jüdischen Flüchtlingsnot angenommen hatten, mit namhaften JDC-Geldern. Darunter
figurierten besonders das Schweizerische Hilfswerk für Emigrantenkinder, durch des-
sen Hände von 1933 bis 1947 insgesamt 9825 Kinder, davon die Hälfte während der
Kriegszeit, gegangen sind. Das SHEK gab von seinen 8,5 Millionen Franken allein 6
Millionen für jüdische Kinder aus und erhielt entsprechende Subventionen des JDC,
VSJF sowie nicht zuletzt von Georges Bloch, der als jüdischer Philanthrop auch
Kassier des SHEK war. Laufend Subventionen oder Rückvergütungen seitens des
JDC, der HICEM und anderer jüdischer Organisationen erhielten in der Schweiz auch
die in Genf ansässige Intellektuellenhilfe, die mit 4,5 Millionen von 6 Millionen
Franken jüdische Studenten und Studentinnen unterstützte, oder der internationale
Studentendienst sowie die ungarischen und polnischen Studentengruppen. Nicht zu-
letzt figuriert auf den JDC-Listen das Schweizerische Rote Kreuz, das für seine
Leistungen mit mehreren Millionen Franken bedient wurde. 193
Zusammenfassend ergibt sich als Gesamtbild bei den privaten Hilfsorganisationen
eine solidarische Zusammenarbeit, wobei die jüdische Seite mit enormen finanziellen
Anstrengungen beteiligt war und auch auf die tätige Mithilfe schweizerischer Humani-
tät bauen konnte. Besonders deutlich wird dies für die ersten Kriegsjahre, als Bern
massiven Druck auf den SIG und den VSJF ausgeübt hatte. Eine Zusammenstellung
der SZF wies für alle in diesem Dachverband zusammengeschlossenen Hilfswerke die
einzeln geleisteten Unterstützungen von 1933 bis 1941 aus, die sich insgesamt auf 10,5
Millionen Franken beliefen. Davon waren allein rund 80 Prozent durch den VSJF
verausgabt worden, der zugunsten der Flüchtlingshilfe 3,7 Millionen JDC- und HICEM-
Gelder aus dem Ausland hereinholte, selbst 4,1 Million sammelte und nur 174'000
Franken von Bund und Kantonen erhielt. 194 Besonders aufschlussreich für die Hilfsbereit-
schaft von breiten Bevölkerungsteilen ist eine SZF-Analyse der Flüchtlingssammlung
1942 durch die Flüchtlingshilfe und die Junge Kirche (siehe Kastentext). Sie gibt auch
Auskunft über vermutete politische und soziale Faktoren für die Sammlung in der Zeit
nach August 1942.
Aufschlussreich für das finanz- und flüchtlingspolitische Arrangement von Eid-
genossenschaft, Schweizer Juden und amerikanischem JDC ist das Protokoll der
MINHAG SUISSE 377

bereits zitierten Konferenz im Bundeshaus, die am 11. Februar 1940 stattfand. Mayer
brachte für die Besprechung von JDC-Leiter Troper mit Bundesrat Baumann, Polizei-
chef Rothmund und Zwemer vom Auswanderungsamt nebst vier SIG- und VSJF-
Vertretem auch drei prominente jüdische Bankiers mit nach Bem: Armand Dreyfus
(Direktor Bankverein), Walter Bär (Julius Bär & Cie) und Paul Dreyfus de Günzburg
(Dreyfus & Söhne). Troper beschrieb die Umstände des Kriegs und den Rückgang der
Sammelergebnisse in den USA als nicht eben rosig, stellte aber weitere Anstrengun-
gen des JDC für eine projektierte Buropahilfe von rund zehn Millionen Dollar in
Aussicht. Das Joint-Prinzip, die Dollarsfliessen zu lassen, beruhte auf einem Schlüs-
sel, der die Kosten für Flüchtlinge und Migration auf JDC, die europäischen Regierun-
gen und die Juden in Buropa gerecht aufgeteilt wissen wollte. Die Schweiz war dabei
zu den wohlhabenden Ländern zu zählen, und sie hätte durchaus ihren Anteil an den
zivilen Flüchtlingen tragen können. So hatte die belgisehe Regierung für 1940 acht
Millionen belgisehe Franken garantiert, und die Briten hatten sich mit allen Hilfs-
organisationen auf einen Schlüssel von fünfzig zu fünfzig Prozent geeinigt.
Tropers Ausführungen und die Diskussion mit den Bankiers machten deutlich,
dass die Schweizer Juden vom JDC vorzugsweise mit einem Schlüssel von 2 zu 1 oder
sogar noch vorteilhafter bedacht wurden, weil sie ohne Unterstützung ihrer Regierung
erhebliche Pro-Kopf-Summen zusammenbrachten, die selbst die Amerikaner beein-
druckten. Dabei war im Unterschied zu den amerikanischen Finanzierungspraktiken,
wie Dreyfus meinte, in der Schweiz eine schnelle Aufbringung von Mitteln über
Kredite nicht machbar. Die eidgenössischen Partner in diesem Gespräch hielten sich
zum Thema der Finanzierung ebenso stillschweigend zurück wie die anwesenden
Mitglieder des SIG-Centralcomites. Troper konnte nur hoffen und beten, dass die
Schweiz den Status quo in der Asylpolitik aufrechterhalten und den Grundsatz der
Gleichheit künftig bewahren würde. 195 Dass gerade diese mit dem helvetischen Beitrag
zum J-Stempel bereits lange aufgerissen war und mit der «ordre public» weiter
durchlöchert werden sollte, konnte das JDC hier ebensowenig wissen wie die 1942
folgende antisemitische Diskriminierung des jüdischen Flüchtlings. Doch Troper, so
scheint es, hat bei der Erörterung der Geldbeschaffung instinktiv die Verknüpfung der
schweizerischen Asylpolitik mit der finanzpolitischen Bevorteilung herausgespürt.
Geld und Geist also: Wir sind zu einem kurzen Lastenvergleich angehalten, so
unsympathisch die nachträgliche Aufrechnung in «humanitären» Geldbilanzen an-
mutet. Von 1933 bis Kriegsende betrugen die Aufwendungen der Eidgenossenschaft
für die insgesamt 295'000 zivilen und militärischen Flüchtlinge rund 83 Millionen
Franken; für die ganze Periode von 1933 bis Ende 1951 summierten sich diese Kosten
insgesamt auf mehr als 130 Millionen Franken. Doch von dieser Summe fiel die
behördliche Zuwendung an den VSJF mit knapp 10 Millionen Franken gering aus und
begann grösstenteils erst nach Kriegsende zu fliessen. Hinzu kamen die schwierig
einzuschätzenden Beiträge an andere oder teilweise jüdische Organisationen, wie die
378 5. KAPITEL

Kinderhilfe oder die Freiplatzaktion, wohin rund 6 Millionen Franken zur Unterstüt-
zung gingen. Die SZF, an der der VSJF mit anderen Hilfswerken mitbeteiligt war,
figuriert mit 6 Millionen Franken, wobei wiederum über den VSJF auch Gelder aus
jüdischen Quellen in die SZF einflossen. Den grössten Teil in der eidgenössischen
Lastenrechnung machten die Aufwendungen für die Internierungs- und Arbeitslager
aus, die durch die eidgenössische Zentralleitung der Heime und Lager mit mehr als 88
Millionen Franken angegeben wurden, davon allein fast 65 Millionen Franken für die
Zeit von 1940 bis 1945. Der VSJF sc~ätzte darin den Anteil zugunsten seiner 29'500
jüdischen Flüchtlinge mit einer Summe von fünfzig Millionen Franken übermässig
hoch ein. Es macht den Anschein, als hätte man 1954 die Bilanzen für die eidgenössische
und jüdische Seite als ausgeglichen darzustellen versucht. 196
Doch abgesehen von dieser aus politischer Vorsicht geübten Schätzung in der
VSJF-Präsentation bleibt der Flüchtling selbst auch in der Kostenbilanz bevormundet.
Denn die gewiss nicht freiwilligen Internierungen erbrachten neben direkten Lagerein-
nahmen seitens Dritter vor allem enorme Arbeitsleistungen der Flüchtlinge an Bund,
Kantone und Gemeinden, die nirgends verrechnet wurden und auch schwer ein-
schätzbar sind. Das kann hier einfach einmal festgehalten werden. Die eidgenössischen
Aufwendungen sind letztlich der Preis, die Flüchtlinge künstlich vom Arbeitsmarkt
femzuhalten. Sieht man aus historischen Gründen von der volkswirtschaftlichen
Unsinnigkeit dieser Politik ab, so fällt der Vergleich zwischen jüdischen und eid-
genössischen Lastenaufwendungen nicht zugunsten der Schweiz aus.
Wenn wir nun die Angaben auf die Kriegszeit beschränken, gerät der Lasten-
vergleich völlig in ein krasses Ungleichgewicht Während den Kriegsjahren beschränkte
sich der eidgenössische Beitrag an den VSJF und damit an die jüdischen Flüchtlinge
zur Hauptsache auf fremdenpolizeiliche Emigrationsspesen, die im Jahr 1941 den
Höchstbetrag von 172'000 Franken erreichten und 1939-1945 insgesamt kaum 600'000
Franken ausmachten. Von Interesse ist besonders der Stand bis August 1942, das
heisst bis zu dem Moment, wo Bern die Grenzen für Flüchtlinge aus Rassengründen
schloss. Für die darauffolgende Flüchtlingsdebatte im Nationalrat während der Herbst-
session 1942liess sich Bundesrat von Steiger von seinem Departement die finanziellen
Aufwendungen für die zivilen Flüchtlinge zusammenstellen. Im internen Bericht
wurden ohne Vertuschung die Aufwendungen der privaten Hilfswerke in «Jüdische
Flüchtlingshilfe» und «Übrige Organisationen» gruppiert. Aus der Aufstellung geht
deutlich hervor, dass von den insgesamt 17 Millionen Franken die jüdische Seite 9,5
Millionen aufgetrieben, die übrigen privaten Hilfswerke 4,1 Millionen und der Bund
5,4 Millionen Franken aufgewendet hatten. Die von den Juden zusätzlich an andere
Hilfswerke beigesteuerten Gelder waren aus der Aufstellung nicht zu ersehen. Dies
bedeutet, dass der jüdische Anteil an allen ersichtlichen Aufwendungen weit über die
Hälfte betrug und in Wirklichkeit auf zwei Drittel einzuschätzen ist. Der fleissige
Beamte hatte bei den staatlichen Aufwendungen das für Bern ungünstige Kostenbild
MINHAG SUISSE 379

DIE SAMMLUNGEN DER SCHWEIZE- durchschnittliche Höhe der Spendenbeiträge


RISCHEN FLÜCHTLINGSHILFE UND DER gemessen an der Gesamtbevölkerung ver-
JUNGEN KIRCHE IM HERBST 1942 gleicht. Am meisten pro Kopf gespendet
wurde im Kanton Zürich (0,77 Fr.), gefolgt
Die sechszehn in der Schweizerischen von Schaftbausen und Basel-Stadt; am we-
Zentralstelle für Flüchtlingshilfe zusammen- nigsten im Kanton Fribourg (0,08 Fr.) sowie
geschlossenen Organisationen, darunter der der weiteren Westschweiz. Doch diese Re-
VSJF, führten vom Oktober bis November sultate täuschen und vermitteln noch keinen
1942 im ganzen Land eine Sammlung durch. Eindruck über die Opferbereitschaft in der
Neben dem umstrittenen «Solidaritätsopfer», Bevölkerung. Im industriell starken Zürich
das die bemittelten Flüchtlinge sonderrecht- wurde nicht nur ein Viertel durch Gemein-
lieh besteuerte, waren Sammlungen die ein- den und Kanton beigesteuert, sondern auch
zige Quelle der SZF-Hilfswerke, um ihre die Junge Kirche war dort sehr aktiv, grosse
Unterstützungen zu finanzieren. Die Ana- Industrie- und Handelsfirmen steuerten zehn
lyse der Resultate veranlassten die SZF, ei- Prozent zum Gesamtresultat bei, und auch
nige Trends und Ursachen zu nennen, die mehrere karitative Verbände hatten dort ih-
aus ihrer Sicht die Sammlung beeinflusst ren Hauptsitz. Im vorwiegend landwirt-
hatten. Der Umstand, dass diese Sammlung schaftlichen Fribourg, wo keine öffentlichen
nach dem schwarzen August 1942 stattfand, Beiträge eingingen, gab nur die Spende-
macht die Resultate und die SZF-Analyse freudigkeit des einzelnen den Ausschlag.
auch historisch interessant. Die SZF-Analyse verglich daher die einge-
Gesammelt wurde in sämtlichen Kanto- gangenen Zahlungen mit der Zahl der an
nen durch kantonale oder überregionale Ko- Private versandten Einzahlungsscheine. Die-
mitees, denen namhafte Persönlichkeiten se Spendequote konnte unabhängig von der
und Delegierte der angeschlossenen Hilfs- wirtschaftlichen Stärke einzelner Kantone
werke angehörten. Propaganda und Aktion und unbesehen des privaten Wohlstandes
beschränkten sich wegen der eidgenössi- Auskunft über die Zahlungsfreudigkeit ge-
schen Vorschriften aufwenige Wochen. Sie ben. Am fleissigsten zahlten die Schaff-
umfasste Plakate, Inserate, Aufrufe, Presse- hauser (29,5%) ein, gefolgt von den Bünd-
kampagnen, Konzerte, Vorträge und sogar nern und Glarnern. Geringes Verständnis für
Teenachmittage. Wichtigster Sammlungs- die Flüchtlinge schienen die Genfer (4,4%)
träger waren der Versand von Karten und und die übrigen welschen Kantone zu haben.
Einzahlungsscheinen sowie direkte Haus- An beiden Enden des Spektrums stehen also
sammlungen. Die Junge Kirche veranstaltete die exponierten Grenzkantone der deutschen
parallel dazu eine eigene Sammlung, die und welschen Schweiz.
regional ungleichmässig Resonanz fand.
Deren Ergebnis kam der SZF mit zusätzli- Anteil Öffent-
chen 132'000 Franken zugute. Die SZF- Zahlquote Spendenhöhe liehe Hand
Sammlung brachte in eigener Regie
1'452'000 Franken in die Kasse. Die Ana- Deutschschweiz 12,5% 12,0 Fr. 15,0%
lyse der SZF differenziert diese beiden Westschweiz* 6,4% 6,7Fr. 0,0%
Sammlungen und konzentriert sich auf die Südschweiz* 10,0% 5,7 Fr. 7,3%
eigene Tätigkeit, um ein genaueres Bild zu
erhalten.
*Anmerkung: Westschweiz = französischsprachige
Instruktiv ist als erstes ein Blick auf Kantone ohne Berner Jura, inklusive Oberwallis;
Kantone und Landesteile, wenn man die Südschweiz nur Kanton Tessin.
380 5. KAPITEL

Die Junge Kirche erzielte einen Anteil der Durchschnittsbetrag der einzelnen Spen-
am Gesamtresultat von 10% in der deut- de mit 11,08 Fr. erstaunlich hoch. Auch liess
schen Schweiz, 2,3% in der Westschweiz der am häufigsten bezahlte Betrag von 5
und 0,2% im Tessin. Franken, den ein Drittel aller Spender ein-
Als Grund für die unterschiedliche Re- zahlten, die SZF schliessen, dass viele kleine
sonanz der Sammlung in der deutschen und Spender ein wirkliches Opfer bringen woll-
welschen Schweiz nannten die Komitees der ten. Dass städtisch-industrielle Gebiete hö-
SZF vor allem die Haltungen der Presse, die here Erträge brachten als ländliche Regio-
im französischsprachigen Landesteil viel nen, lag auf der Hand, konnte aber noch
eher auf Seiten der Gegner der Flüchtlings- nichts über die Haltung in diesen sozialen
hilfe stehen würden. Die Zurückweisung Schichten aussagen. Bei den Spenden von
von Flüchtlingen an der Grenze seit Spät- Handels- und Industriebetrieben wurde ins-
sommer 1942 habe in der Westschweiz kei- besondere die in einzelnen Kantonen sehr
nerlei Reaktionen ausgelöst. «Charakteri- hohe Quote der Eingänge vermerkt. Als ne-
stisch für diese Einstellung ist ein im No- gativer Faktor wird der Umstand aufgeführt,
vember in der Gazette de Lausanne vom dass in einzelnen Kantonen gieichzeitig
Berner Korrespondenten Pierre Grellet er- auch andere Sammlungen im Gang waren.
schienener Artikel, der einen deutlich Besonders die Winterhilfe schien der SZF
antisemitischen Unterton aufwies>>. Auch das Resultat zu beeinträchtigen, wobei die
sonst seien öfters antisemitische Stellung- Analyse vermerkt, dass auch das Ergebnis
nahmen in der Presse abgedruckt worden. der Winterhilfe schlechter ausfiel als im
Positiv wertet die SZF die breite gesell- Jahr 1941. Zudem hatten die der SZF ange-
schaftliche Abstützung der einzelnen Spen- schlossenen Hilfswerke (darunter der VSJF)
den. Gesamtschweizerisch nach Spender- in den vorangegangenen Monaten auch ein-
gruppen aufgeschlüsselt, kamen 72% von zeln fast 1,4 Millionen Franken gesammelt.
Privaten (Einzahlungen, Kollekten), je 12% Die beinahe ununterbrochene Folge schwei-
von der öffentlichen Hand (Kantone und zerischer und kantonaler Sammlungen wur-
Gemeinden) und von Handel und Industrie de daher wohl als erschwerend, doch
sowie 4% von Vereinen, Verbänden und letztlich positiv gewertet.
Instituten. Bei den Privaten war nicht nur

erst noch mit sachfremden Aufwendungen frisiert. 197 Von Steiger verschwieg aber
dann bei seinen Auskünften im Nationalrat wissentlich die Differenzierungen zwi-
schen jüdischen und nichtjüdischen Quellen, als er Angaben über die Kosten des
Bundes und der privaten Hilfswerke machte. Zwei Monate später wurden der
Bundesratsbeschluss und das polizeiliche Kreisschreiben vom August 1942, wonach
«Flüchtlinge nur aus Gründen der Rassenverfolgung» zurückzuweisen waren, in
verschärfter Form wiederholt. 198 Zuerst hatte man die Flüchtlinge als Last bezeichnet,
dann hatten die Juden bezahlt, jetzt sollten sie laufen.
MINHAG SUISSE 381

Erst im folgenden Jahr, im August 1943, als sich für einen aufmerksamen Beob-
achter die Kriegswende abzeichnete, liess sich von Steiger vom SIG über das Deficit-
spending seitens der in- und ausländischen Judenheit orientieren. Seit Mitte März 1943
übernahm nun der Bund die Unterbringungskosten für die Zivilflüchtlinge, und zwar
rückwirkend auf den 1. August 1942. Vordergründigen Anlass gab von Steiger das
Begehren von zwei christlichen und zwei jüdischen Hilfswerken, die in Vichy-Frank-
reich zusammengearbeitet hatten und jetzt als internationale Verbände auf den Vor-
posten Schweiz setzten, um im Land und vom Land aus humanitär operieren zu
können. Gegenüber Pilet-Golaz suchte von Steiger Bedenken wegen der schweizeri-
schen Neutralität zu zerstreuen und empfahl die Unitarier und Quäker aus den Verei-
nigten Staaten ebenso wie die jüdischen Hilfswerke ORT und OSE. Beim SIG suchte
er daher um Auskunft über die Leistungen und Stärken des VSJF nach. Mayers
Nachfolger im SIG-Präsidium, Saly Braunschweig, legte die beeindruckende Zahl von
14 Millionen Franken vor, versäumte aber schlicht den Hinweis auf die Existenz und
Bedeutung des JDC. Hingegen bot er einen Überblick der vom VSJF und der HICEM
realisierten Emigration aus der Schweiz, die während den letzten zehn Jahren 5838
Weiterwanderungen umfasste. 199 Unter den Einnahmen figurierte neben einer Million
Franken aus allgemeinen schweizerischen Sammlungen auch der Posten «Solidaritäts-
opfer», von dem der VSJF 1,4 Millionen Franken bezog.
Das «Solidaritätsopfer» war eine Vermögensabgabe für Emigranten, denen zusätz-
lich zu allen Belastungen eine Sonderbesteuerung auferlegt wurde, deren Erträge an
die Hilfswerke gingen. Die steuerliche Sonderbehandlung der Emigranten, die zudem
unter Arbeitsverbot litten, zehrte freilich an jenen Vermögen, die für die Weiter-
wanderung vorgesehen waren. Vor allem wirkte sie sich, wie Paul Guggenheim im
Oktober 1942 bei seiner Kritik am SIG feststellte, beinahe ausschliesslich gegen Juden
aus; grundrechtlich verstanden sei die im März 1941 bundesrätlich verfügte «Solidaritäts-
abgabe» für den Emigranten das «erste Diskriminationsgesetz» der Schweiz gewor-
den. Doch der SIG, dem die Sondermassnahme finanziell zweifellos zusetzte, schwieg
sich lieber aus. Im Bundeshaus wurde klargemacht, die Schweizer Juden hätten die
Abgabe gar selbst angeregt, weil sich die vermögenden Flüchtlinge bei den SIG-
Sammlungen zu wenig spendefreudig gezeigt hätten. 200 Unter den rund 500
Abgabepflichtigen waren tatsächlich fast nur Juden, die nach den Worten der Fremden-
polizei «gutes und freudiges Verständnis» für die Sache gezeigt hätten. Während einer
Konferenz der Polizeidirektoren im Mai 1941 bemängelte aber der waadtländische
Polizeidirektor den Verteilerschlüssel, der die jüdische Seite erheblich benachteilige.
Die Erträge aus der «Solidaritätsabgabe» wolle man bewusst nicht zu sehr den Juden
zur Verfügung stellen, verteidigten sich Max Ruth und der SZF-Präsident Robert
Briner. Von den 2,4 Millionen Franken, die bis 1946 erhoben wurden, flossen schliesslich
doch 1,5 Millionen auf die Konten des VSJF. 201
382 5. KAPITEL

Mayers Rolle als JDC-Vertreter in Europa

Im Juni 1939 konferierte Armand Dreyfus, im SIG Genfer CC-Mitglied und als
Direktor des Schweizerischen Bankvereins vorübergehend in den Vereinigten Staaten
tätig, mit den JDC-Spitzen in New York, denen ein Bericht über die politische
Situation in der Schweiz gegeben wurde. Dreyfus zeichnete ein optimistisches Bild der
Schweiz, als einem Land ohne nennenswerte antisemitische Regungen und mit bestens
eingespielten Fürsorgestrukturen. Dies empfahl den neutralen Staat für die JDC-Arbeit
natürlich als besonders geeignetes Territorium, von dem aus sich gut operieren liess.
Dreyfus, den die New Yorker JDC-Zentrale als «Outstanding personality» schilderte,
bat um eine Erhöhung der monatlichen Raten von 20'000 auf 50'000 Dollar, indem er
auf die Möglichkeiten der Schweiz als Transitdrehscheibe und Umschulungsplatz
hinwies. Mayer lieferte Dreyfus noch detaillierte Unterlagen über die Situation der
Flüchtlinge in der Schweiz nach, machte auf die steuerpolitische Drohgebärde der
Zürcher Regierung aufmerksam und empfahl trotz alledem das Land der «grossen
Schwesterdemokratie U.S.A. ideell als der Vorposten im vordersten Schützengraben».202
Denn Mayer hatte auch andere Gründe, als nur für die Sicherstellung finanzieller
Mittel zugunsten der schweizerischen Flüchtlingspolitik zu sorgen. Im Mai 1940 nahm
er den Posten eines «Honorary JDC representative in Switzerland» an, eine Ernen-
nung, die Ende Mai durch das JDC dem Bundeshaus mitgeteilt wurde. Dies musste
den Charakter der Beziehungen zwischen SIG und JDC weitgehend ändern, und die
JDC-Finanzspritzen erhielten jetzt einen umfassenderen Sinn, als blosse Unterstüt-
zung für die Flüchtlinge in der Schweiz zu sein. Mayer erhielt nun durch das JDC
detailliert und regelmässig Bericht über das Notleiden der Juden in den europäischen
Ländern. Der Blick des SIG-Präsidenten wurde zusehends erweitert auf die Sicht einer
umfassenden Hilfe in Europa, unbesehen von jeder religiösen oder parteilichen Rich-
tung oder der alten west-und ostjüdischen Gegensätze. In Mayers persönlicher Philo-
sophie wurde dies mit seiner typischen aschkenasischen Aussprachefarbung «Klal
Ysroel» (das heisst die «Gesamtheit des Volkes Israel») genannt, was als Grundsatzer-
klärung zu verstehen war, die unter den Westjuden oft noch bestenden Animositäten
gegenüber Ostjuden zu bekämpfen und sich auch Sonderinteressen seitens einzelner
Gruppen gegenüber verschlossen zu zeigen. Noch blieb Mayer freilich wenig interna-
tionale Arbeit, abgesehen von einigen hunderttausend Dollar, die im Umtausch gegen
Sammlungsgelder für Palästina in lokale Währungen für JDC-Projekte in Italien,
Polen, Südfrankreich und Jugoslawien transferiert wurden. Nach dem Juni 1940
sanken die JDC-Beiträge, infolge der Niederlage der Westmächte und wegen der
kurzlebigen antisemitischen Stimmungen in den Vereinigten Staaten, auf ein tieferes
Niveau, wobei die monatlichen Zahlungen zeitweise gar aussetzten.
Mayers Rechnung ging auf nach dem Kriegseintritt der USA, durch den das JDC
als eine amerikanische Organisation sich auf neutrale Plätze beschränkt fand. Der
MINHAG SUISSE 383

europäische JDC-Hauptsitz in Lissabon war zwar in Portugal auf neutralem Boden, lag
aber allzufern von den Schauplätzen der jüdischen Not in Mittel- und Osteuropa. Vor
allem wurde das JDC-Büro in Lissabon von Staatsangehörigen einer nunmehr krieg-
führenden Nation geführt. Die Amerikaner gingen nun auf Mayers Vorschlag ein, den
SIG ganz mit JDC-Geldern zu speisen, während die Schweizer Juden ihre «eigenen}}
neutralen Gelder für Hilfsaktionen für die Notleidenden im deutsch besetzten Buropa
nutzten. Zu diesem jüdischen «Clearingsystem}} gehörten auch in hohem Mass private
Darlehen aus dem In- und Ausland, die durch ein blasses JDC-Versprechen, nach dem
Krieg Rückzahlung zu leisten, garantiert wurden. Aus der Sicht des JDC resümiert
Bauer die politische Situation des SIG-Präsidenten als heikel, was ihm letztlich viel
Schweigen abverlangte: Mayer war vom JDC beauftragt, sich für die Juden unter der
Naziherrschaft zu engagieren, aber er war nicht befugt, amerikanische Gelder dafür zu
verwenden. In den Worten von Josef Schwartz, dem Leiter des JDC-Büros in Lissa-
bon: «Saly Mayer als Schweizer konnte eine Menge Dinge tun, die wir nicht tun
konnten, und wir waren immer imstande zu sagen, sieh mal, wir können die Schweizer
nicht kontrollieren[ ... ]. Ich tat eine Menge Dinge, von denen das JDC nichts wusste,
und Saly Mayer tat eine Menge von Dingen, von denen ich keine Ahnung hatte.}}203
Mayer, mit relativ freien Händen, sollte erst nach dem Krieg Rechenschaft able-
gen, und er hat dem JDC seine Geldtransaktionen auf Franken und Rappen genau
belegt. Dabei weigerte er sich von Anfang an, auch eine Entschädigung für seine
Arbeit anzunehmen, die er ehrenamtlich führen wollte. Mayer, der in der Schweiz nur
wenige Personen in seine kaum komfortable Situation und noch weniger in seine
Millionentransaktionen einweihen konnte, hat aber einen hohen Preis entrichten müs-
sen: viele Anfechtungen als Folge von Legenden, die um seinen angeblichen Reichtum
rankten, und später die weitgehende Isolierung und auch eine teilweise Stigmatisierung
seiner Person durch die Schweizer Juden. Er war sich klar, dass das von ihm initiierte
System einer «Finanzgebarung}} gleichkam, die in der gesetzlichen Grauzone und im
Gegensatz zu den Interessen der Achsenmächte wie der alliierten Kräfte stehen konnte.
Die Pauperisierung der jüdischen Massen und später ihre tödliche Drangsalierung
verlangte eben nach aussergewöhnlichen Massnahmen. Mayers Rolle und die Lage
des JDC und anderer jüdischer Hilfsorganisationen sind nur verständlich angesichts
des Diktum des britischen Premiers: Keiner Form von humanitärer Hilfe dürfe statt-
gegeben werden, die direkt oder indirekt dem Feind nützen könne. 204

Flüchtlingspolitisches Spiel der Nationalbank

Hier schliesst sich der Kreis, den wir am Anfang dieses finanzpolitischen Exkurses
nachzuzeichnen begannen. Seit Februar 1942lief die jüdische Europahilfe, der sich die
Finanzierung der schweizerischen Flüchtlingspolitik mitverdankt, auf vollen Touren.
384 5. KAPITEL

Doch auch in der Schweiz wurden die Bremsen angezogen, wenn auch das Brems-
system von alliierter Bauweise war. Bem handelte ganz zum Nachteil der notleidenden
und sterbenden Juden unter der Naziherrschaft Die globale Ursache lag, wie eingangs
gesagt, in der alliierten Blockierung von schweizerischen Guthaben, doch der von der
Nationalbank anfangs August verweigerte· Transfer zeigt, dass die Schweiz dies
antisemitisch zu instrumentieren verstand. Konkret ist die Weigerungspolitik der
Schweizerischen Nationalbank spürbar, als sie im April 1942 erstmals eine Rate von
90'000 Dollar nicht zum vollen Preis umtauschen wollte. Im April und Mai konnte der
SIG über die Federal Reserve Bank immerhin noch 200'000 Dollar zum vollen Kurs
erhalten. Mitte Juni notierte Mayer, die Polizeiabteilung habe es geschafft, dass die
Nationalbank weiter zustimmen werde. Rothmund war denn auch später immer an
einer Dollarkotierung im Sinne Mayers interessiert, schon aus polizeilichen Erwägun-
gen, um die jüdischen Hilfsorganisationen genau kontrollieren zu können. Doch der
Umtausch blockierter Dollars erwies sich bald als leeres Versprechen, das ebenso
illusionär war wie die Hoffnung, die steinernen Herzen mit humanitären Appellen
erweichen zu können. Auch eine Verdoppelung der Summen zugunsten der schweize-
rischen Flüchtlingspolitik, die Schwartz in Lissabon telefonisch sofort zusagte, ver-
mochte die Schweizer Nationalbank nicht zu locken. Am 11. August 1942 musste sich
Mayer vom Direktor der Nationalbank-Zweigstelle in St. Gallen sagen lassen, dass die
Schweiz den bereits hohen Stand der blockierten Gelder nicht zu vergrössem geden-
ke.205 Zwei Tage später erliess Rothmund die bekannten Weisungen der Fremden-
polizei, Flüchtlinge aus «Rassengründen» zurückzustellen. Solange das vermeintlich
«jüdische» Washington die Schweiz nicht «nett» behandelte, waren Fremdenpolizei
und Nationalbank für einmal einig. Offensichtlich war Bem in diesem Fall so wenig an
fremden Dollars wie an fremden Menschen interessiert.
Erst im Juli 1943 bat der SIG in Bem beim Politischen Departement wiederum um
die Möglichkeit einer Überweisung in freien Dollars. In Washington machte der
Schweizer Gesandte, Minister Charles Bruggmann, die angespannte Versorgungslage
des Landes und die hohe Zahl der unterhaltenen Flüchtlinge geltend. Ein freier
Dollarverkehr war aber jetzt nicht in alliiertem Interesse, das auf britische Wünsche
Rücksicht nehmen musste. Erst im November 1943 konnten die Transfers wieder in
kontrollierten Schüben zu einem nicht vollen Preis anlaufen. Der frühere Kurs von
rund 4,40 Franken fiel jedoch im Dezember auf einen Tiefststand von 2,20 Franken,
ein Umstand, der die Sorgen des JDC noch einmal vergrösserte. Mayer ersuchte nun in
Bem, die Nationalbank endlich zur monatlichen Übernahme von blockierten 150'000
Dollar zu vollem Preis zu verpflichten. In Washington sprach ein energischer JDC-
Sekretär Moses A. Leavitt bei der Schweizer Botschaft vor, indem er auf die vielen
jüdischen Flüchtlinge anspielte, die doch wohl die Schweiz so bald und bestens zu
integrieren wünsche. Das Politische Departement beehrte sich kurz nach Jahresanfang
1944, 40'000 blockierte Dollar zu übernehmen, und bald löste Mayer monatlich gar
MINHAG SUJSSE 385

300'000 Dollar zum vollen Kurs ein. Im März nahmen JDC-Vertreter in Absprache
mit Sir Herbert Emerson erstmals auch wieder den freien Umtausch und die mögliche
Lizenzierung von privaten Geldinstituten in Aussicht, wenn auch in Opposition zu den
offiziellen britischen Stellen. 206
Vom Dezember 1941 bis Dezember 1945 flossen 23,5 Millionen Dollar oder 99,2
Millionen Schweizer Franken durch Mayers Hände, was einem durchschnittlichen
Umtauschverhältnis von rund 3,55 Franken je Dollar entsprach. Der grösste Teil aller
Eingänge wurde nach November 1943 verbucht, wobei die Summen gegen und nach
Kriegsende immer höher wurden. Allein 15 Millionen Dollar verbuchte die National-
bank, über den Schweizerischen Bankverein liefen 2 Millionen, während mehr als 4,6
Millionen bereits Rückzahlungen an die privaten Darlehensgeber betrafen. Die Ablö-
sung des Mayerschen «Clearingsystems» bedeutete noch keine Normalisierung, die
erst mit dem Kriegsende eintreten konnte.
Am Rande kann hier noch festgehalten werden, dass nach dem Krieg das JDC und
die SZF in den Genuss unerwarteter Gelder gekommen sind. Es handelte sich um
9'469'000 Franken von 961 verschwundenen Ausländern und Staatenlosen, die vor
und während des Krieges ihre Kapitalien in der Schweiz verwahrt hatten, dann aber im
Holocaust umgekommen waren. Nach langem Drängen wurde 1962 ein Bundes-
beschluss über die zumeist auf Schweizer Banken liegenden Vermögen «rassisch,
religiös oder politisch» Verfolgter ohne Erbnachfolger verabschiedet. Die Werte wur-
den, soweit sie von den Verwahrem angemeldet wurden, zu zwei Dritteln dem SIG
zugesprochen, der diese Gelder an seinen ehemaligen Seniorpartner in New York
weiterleitete. 207
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 387

6. KAPITEL
DIE BOTEN DES HOLOCAUST.
JÜDISCHE HILFE INS AUSLAND,
KONFLIKTE UND KRISE IM INNERN

Ende 1943 zählte der SIG nicht weniger als 17 jüdische Organisationen kleineren bis
grösseren Zuschnitts, die in Hilfs- und Rettungsaktionen von der Schweiz aus involviert
waren. Dazu gehörten das JDC, die Jewish Agency und der WJC ebenso wie orthodo-
xe Organisationen und einige kleine Hilfskornitees, die autonom bleiben wollten und
einen enormen Fleiss an den Tag legten. Die meisten Organisationen waren kurz vor
oder während dem Krieg gegründet worden oder hatten sich in dieser Zeit in der
Schweiz niedergelassen. Nicht eingerechnet in diese Zahl waren die lokalen Hilfsak-
tionen in nahezu sämtlichen SIG-Gemeinden. Ein Versuch des SIG, all diese sehr
verschiedenen Hilfswerke, Vereine und Komitees auf gemeinsame Richtlinien einzu-
schwören, hatte 1943 wenig Erfolg. Auch eine zweite Tagung, diesmal unter den
Auspizien des IKRK und in Anwesenheit Carl J. Burckhardts, brachte im August 1944
keine Ausformulierung gemeinsamer Strategien. 1 Im Angesicht des Holocaust er-
blickten einige Repräsentanten jüdischer Organisationen im neutralen SIG zunehmend
ein politisch schwaches Gebilde, bei dem mutlose Kleinbürger das Sagen hatten, die
von den Ereignissen überfordert schienen. 2 Der SIG brachte jedenfalls die «Organisa-
tionen der schweizerisch-jüdischen Hilfe im Ausland» nicht mehr an einen Tisch
zusammen. Einziges Resultat der Bemühungen blieb die koordinierte Betreibung einer
zentralen Kartothek zur Auffindung von vermissten oder deportierten Angehörigen.
Der Verlust an Autorität weist uns auf eine besonders heikle Spur in der SIG-
Geschichte hin: die Zeichen der Zeit wurden mit dem Bekanntwerden des Holocaust
und dem Niedergang des «Dritten Reichs» anders gelesen. Der bislang auf Kooperation
mit Bem angewiesene SIG stürzte mit dem Versagen der eidgenössischen Flüchtlings-
politik in eine innere Krise. Sein Ansehen und seine Rolle wurden danach aus interna-
tionaler Sicht, aber auch aus eigenem verinnerlichtem Selbstverständnis wieder so
bescheiden wie einst vor dem Aufstieg des Nazismus.
Die Vielzahl der grösseren und kleineren Hilfswerke macht nicht nur die Bedeu-
tung der neutralen und kriegsverschonten Insel Schweiz klar, die durch ihre Nähe zu
den Orten der Katastrophe für viele der Hilfsorganisationen wichtig war. Deutlich wird
durch diese Vielzahl auch die Heterogenität der Milieus, Ideologien, Rollen und
Absichten der 17 Organisationen. Deren Selbstverständnis war teilweise in einem
politischen, ideologischen oder religiösen Hintergrund verankert oder stand zum andem
388 6. KAPITEL

auf strikt neutralem und philanthropischem Boden. Selbst innerhalb einer grösseren
Bewegung finden sich unterschiedliche Richtungen, die ihre eigenen Absichten in
Form organisierter Hilfen verfolgten. Bei den Zionisten figurierten nebst den quasi
offiziellen Stellen, wie der Jewish Agency und dem Palästina-Amt, auch der Hechaluz,
der von Genf aus ein weites Netz mit zahlreichen «illegalen» Rettungsaktionen im
deutsch besetzten Buropa aufgebaut hatte. Unter den nichtzionistischen Orthodoxen
zählt dieSIG-Listeneben der Agudat Israel Weltorganisation mit Sitz in Luzern auch
den HIJEFS auf, der eigenen Praktiken der Hilfe nachging. Die neutralen ORT, OSE
und JDC stehen neben dem Relief Committee des politisch agierenden WJC. Ange-
sichts der unermesslichen Not mutet diese Vielzahl und Gegensätzlichkeit als sinnlose
Zersplitterung der Kräfte an. Daran haben sich schon die Zeitgenossen mit Blick auf
Flüchtlinge und Hungernde gestossen. 3 Doch boten andererseits eben die schon lange
bestehenden Strukturen und eingeübten Verbindungen der einzelnen Organisationen
die beste Garantie, praktische Hilfe möglichst empfängernah leisten zu können.
Gegenüber diesen international tätigen Organisationen heben sich wiederum zahl-
reiche kleine Hilfsvereine in der Schweiz ab. Sie waren aus verwandtschaftlichen
Sorgen entstanden, so wenn Schweizer Juden den Schrei ihrer Brüder und Schwestern
im Ausland empfingen und schnelle Hilfe geboten war. Bindungen an Lands-
mannschaften, die aus der zumeist ostjüdischen Einwanderung vor dem Ersten Welt-
krieg herrührten, waren ebenfalls ausschlaggebend für die Bildung von Notaktionen.
Im weiteren trug auch die Grenznähe zur Formierung von Hilfsaktionen bei, wie in
Kreuzlingen, Basel und Genf, doch hier nicht in eigenständigen Formen, sondern
zumeist in engerem Bezug zur lokalen SIG-Gemeinde. An allen diesen Vereinen lässt
sich ablesen, dass die Hilfe von unten ausging, das heisst von betroffenen Verwandten,
Landsleuten oder vom jüdischen Schicksal direkt Angerührten. Der SIG ergriff selbst
einige Initiativen, um im Ausland Hilfe zu leisten. Doch er bekundete erhebliche Mühe
mit den zahlreichen Vereinen und Komitees, die er schon früh zu koordinieren und zu
kontrollieren versuchte. Dies wird besonders bei den Hilfen für Südfrankreich und
Polen noch einmal erwähnt werden müssen, ging es aus SIG-Sicht doch darum, den
Behörden gegenüber diszipliniert zu erscheinen. Besonders in den finanziellen Ver-
pflichtungen konnte ein uneinheitliches Auftreten nachaussenden Eindruck erwek-
ken, dass die jüdische Giesskanne voller Löcher sei. Jüdische Philanthropie auf dem
neutralen Boden der Schweiz erschien im weiteren dort gefährlich, wo sie mit Blick
auf Deutschland politische Kanten haben konnte.
Erste Hilfsaktionen für die deutschen Juden sind bereits vor 1933 festzustellen.
Bemerkenswert ist hier eine noch strikt eingehaltene Arbeitsteilung. Der SIG leistete
nur vereinzelt finanzielle Unterstützungen ins Ausland und konzentrierte sich nach
1933 auf die Betreuung und das Weiterreisen der deutschen Flüchtlinge im Inland.
Unterstützungen für die deutschen Juden bot vor allem der Zürcher Hilfsverein für
jüdische Auswanderung, der sein vornehmstes Ziel in der direkten Auswanderung von
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 389

deutschen Juden nach Übersee erblickte. Der 1927 gegründete Zürcher Hilfsverein
unter Robert Faller war denn auch ein Ableger des von Mare Wischnitzer geleiteten
Hilfsvereins für Juden in Deutschland. Wir haben davon bereits eingehend im Kapitel
über die jüdische Transmigration gehandelt. Je mehr nun im Reich, und mit dem Krieg
in besetzten Staaten, die Entrechtung und Pauperisierung der jüdischen Massen fort-
schritt, um so dringlicher richtete der Zürcher Verein seine Aktivitäten auf Nothilfe
ein. Mit dem im Herbst 1941 von den Nazis erlassenen Verbot der Auswanderung
erschien ohnehin der ursprüngliche Zweck des Vereins hinfällig. Wir finden den
Zürcher Verein in den ersten Kriegsjahren mit der Befreiungjüdischer Kinder aus dem
deutschen Machtbereich und zum andem mit der Versendung von Lebensmittel-
paketen für Juden in Schlesien, Polen, Südfrankreich, Theresienstadt und Ungarn
beschäftigt. 4
Der Wandel dieser Aufgaben illustriert indessen die gesamte Tendenz der jüdi-
schen Hilfe während diesen Jahren. Der hektischen Suche nach Geld und Ländern, die
für die Politik der jüdischen Abwehr und Transmigration in der Schweiz charakteri-
stisch war, entsprach auf der andem Seite die oft von Verzweiflung gekennzeichnete
Anstrengung, den notleidenden Juden im Ausland zu helfen. Dass beide Aspekte
immer eng verknüpft erscheinen, zeigt auch die Frage der jüdischen Flüchtlinge aus
Österreich. Im April1938, nach dem Einmarsch der Wehrmacht, organisierte der SIG
eine gezielte «Hilfsaktion für die Österreichischen Juden». Das Unterfangen entfachte
unter anderem die Wirkung, dass ein breiter Zustrom von legal und illegal einreisen-
den Juden aus Österreich einsetzte. Die nach Wien geleistete Hilfe kam jetzt in Form
von Flüchtlingen in die Schweiz zurück, was den SIG unter Druck von Bem brachte.
Dies hat die Schweizer Juden freilich nie davon abgehalten, immer und sofort Hilfe ins
Ausland zu leisten, obwohl man seit Herbst 1938 im eigenen Land fmanziell enorm für
die jüdischen Flüchtlinge belastet wurde. Für dieses Einstehen gibt es zwei Gründe:
Erstens musste die Hilfe ins Ausland an die moralische Integrität des ganzenjüdischen
Selbstverständnisses rühren. Zweitens hatte sie Methode, indem sie den Zufluss an
Geldem in die Schweiz legitimierte. Wir haben bei der Frage, wie und warum die
Schweizer Juden die eidgenössische Flüchtlingspolitik finanzierten, bereits gehört,
dass Saly Mayer dazu überging, Gelder des amerikanischen JDC in der Schweiz zu
waschen. In den Konflikten um die Formen der karitativen Hilfe wird diese Absicht,
die man in der Geschichte des SIG und JDC den Mayer-Plan nennen könnte, erstmals
sichtbar.
390 6. KAPITEL

LUBLIN, SCHANGHAI...
DIE HILFE FÜR DIE NOTLEIDENDEN JUDEN VON DER SCHWEIZ AUS

Im Januar 1938 rief der SIG eindringlich zur Polenhilfe auf, nachdem ORT und OSE
bei den Schweizer Juden darum nachgesucht hatten. Anlass war die zunehmende
Pauperisierung der jüdischen Massen, die in Polen Opfer eines gegen sie geführten
Wirtschaftskriegs waren. Vor Ausbruch des Kriegs lebten rund 3,3 Millionen Juden in
Polen, die zehn Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten. Einem antisemitischem
Klima ausgesetzt, litten die polnischen Juden unter der von Krisen geschüttelten
Wirtschaft. Schätzwerte sprechen von fast dreissig Prozent der polnischen Juden, die
ständig am Rand des Hungers lebten. 5 Dagegen agierten eine Reihe von ideologischen
und philanthropischen Organisationen im Land, um eine Antwort auf die Misere und
Aushungerung zu :fmden. Die beiden inzwischen in Paris domizilierten ORT und OSE,
hinter deren Sammlungen sich auch das jüdische Establishment in der Schweiz stellte,
errichteten in Polen und den baltischen Staaten Berufsschulen, Werkstätten und
Gesundheitsstellen. Die drei wichtigsten politischen Bewegungen, nämlich der soziali-
stische Bund, die orthodoxe Agudat Israel und die in linke und rechte Fraktionen
gespaltenen Zionisten unterhielten ihrerseits eigene Sozialeinrichtungen. Das JDC
nahm eine zentrale Stellung in der Polenhilfe ein, indem es ein Netz von gemeinnützigen
Leihkassen einrichtete und vorsichtig ausbalancierend seine Unterstützungen zwi-
schen den im Land tätigen Parteien und Gruppen verteilte. 6 Kein Wunder also, dass
auch die Schweizer Juden ihr philanthropisches Scherflein für Osteuropa seit 1935
immer wieder beitrugen und sich dafür bei den gemeinnützig-neutralen ORT und OSE
einreihten.7
Mit dem deutschen Überfall auf Polen, dessen schlecht ausgerüsteten Truppen
binnen Kürze überrannt wurden, verschlimmerte sich die jüdische Not drastisch. Das
JDC konzentrierte seine europäische Tätigkeit zwischen September 1939 und Dezem-
ber 1941 wesentlich auf Polen. Ein grosser Teil aller JDC-Einkünfte, insgesamt rund
zwanzig Millionen Dollar, flossen in die Polenhilfe. Angesichts des massenweisen
Elends musste es in erster Linie darum gehen, so viele Juden am Leben zu erhalten, als
überhaupt möglich war. Die jüdischen Organisationen arbeiteten dabei unter widrig-
sten Umständen. Denn das nazistische Regime in Polen war auf die Gettoisierung und
Pauperisierung der polnischen Juden ausgerichtet und konnte dabei oft mit der
Kollaboration oder der stillschweigenden Zustimmung weiter Bevölkerungsteile rech-
nen. Seit der Vertreibung der Juden aus den annektierten Teilen «Warthegau» und
«Ost-Oberschlesien» wurde der Kampf um das Überleben zusehends schwieriger. Mit
den Ende September 1939 dekretierten Auflösungen jüdischer Gemeinden und der
Errichtung eines «Generalgouvernement» im polnischen Osten war auch das konse-
quente Abwürgen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens verbunden. Die nazistische
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 391

Wiedererrichtung der Gettomauern und die Deportationen ins «Lublinland», wie das
Generalgouvernement genannt wurde, brachten den Juden in den Städten Warschau,
Lublin, Kraukau, Kieke, Rzesz6w und anderswo entsetzliches Leid. Harte Zwangs-
arbeit, mangelnde Ernährung, ungenügende Kleidung, fehlende Unterkünfte und vor-
enthaltene medizinische Versorgung brachten Tausende zu Tode. Dabei verfolgten die
Deutschen ihre Politik mit dem Instrument der sogenannten Judenräte auch innerhalb
der Mauern des Gettos. Dies wiederum trieb die jüdischen Organisationen, die in
Polen von linken Aktivisten des zionistischen und kommunistischen Lagers dominiert
wurden, zunehmend in den antideutschen Widerstand. Zwischen diesen radikal unter-
schiedlichen Positionen und im Angesicht der deutschen Vernichtungspolitik suchten
die ausländischen Hilfen, vorab das JDC, unter dem Deckmantel kriegsneutraler
Staaten karitativ tätig zu sein. 8
In der Schweiz formierte sich nach der Kapitulation Warschausund dem Auftakt
zu den Gettoisierungen eine private Polenhilfe. Die Hilfsaktion für die notleidenden
Juden in Polen (Hafjp) residierte in Zürich an der Badenerstrasse, wo Lazar Feldstein
in seinem Heim die Sammlung leitete. Die Hafjp lehnte sich dabei der amerikanischen
Vereinigung der polnischen Juden an und ergänzte die massiven Hilfen des JDC mit
ihren kleinen Sammlungen. In erster Linie suchte die Hafjp mit Geldsammlungen die
bereits in Polen unterhaltenen Hilfsmassnahmen zu unterstützen. Doch auch Sendun-
gen mit Medikamenten, Kleidern, Wäsche und Lebensmitteln trafen in Warschau und
Krakau ein. Die Hilfssendungen ergänzten die in Portugal oder New York verschifften
Hilfsgüter des JDC. Ursache für die Materialtransporte waren die Beschränkungen für
Geldtransfers, mit denen sich das JDC in Warschau konfrontiert fand. Als Ausweg bot
sich die direkte Verschiffung von Hilfsgütern an, zu denen das Hafjp von Zürich aus
beitrug. Die Sendungen gingen ab Frühjahr 1940 in Einheiten von fünfhundert bis
fünftausend Kilogramm ab. Bis Ende 1940 wurden mehr als dreissig Tonnen Güter
nach Polen abgeschickt. 9 In Zürich wurde das nötige Geld dafür mit Sammlungen,
Wohltätigkeitsveranstaltungen und Markenverkäufen aufgetrieben. Dabei engagierten
sich auch kulturschaffende Emigranten in den Hafjp-Aktionen, so zum Beispiel Wolf-
gang Heinz, Therese Giehse, Max Lichtegg, Maria Becker, Leopold Lindtberg oder
Symche Bakman. 10
Die Hafjp war jedoch in erster Linie eine Sache der in der Schweiz lebenden Juden
aus Polen und dem übrigen Osteuropa. Bei den ostjüdischen Trägervereinen fällt die
Mischung aus religiösen und säkularen Gruppierungen auf. Unter «Zustimmung des .
SIG» wurde die Aktion von der Zürcher Gemeinde Agudas Achim, dem Hilfsverein
Aschi-Ezer, der polnischen Landsmannschaft, dem Hasornir-Chor und dem dramati-
schen Perez-Verein sowie dem Sportclub Hakoah durchgeführt. Das Zusammengehen
dieser ostjüdischen Kräfte mit den Westjuden war eine der Not gehorchende Selbst-
verständlichkeit, doch damals im Erscheinungsbild noch eher ungewöhnlich. Freilich
harzte, wie Feldstein klagte, die Sammelaktion stark und brachte zuerst nur ein
392 6. KAPITEL

mageres Ergebnis. Die Schwierigkeiten erblickte man in der anfänglichen Zurückhal-


tung der begüterten Juden beider Herkunftsräume. Dies war 1940, in einem Kriegsjahr
mit besonders grosser Verunsicherung in der ganzen Schweiz, wenig verwunderlich.
Hinzu kam, dass die Schweizer Juden durch die SIG-Sammlungen zugunsten der
Flüchtlinge finanziell bereits enorm belastet waren. Im Verlaufe des Jahres zog dann
das Sammetergebnis zunehmend an, zumal die Hafjp auch in den jüdischen Gemein-
den in Basel, Bern und Luzern Boden fasste. 11
Unter den polnischen Juden in der Schweiz ragen einige Persönlichkeiten der
agudistischen Orthodoxie hervor. Der Zürcher Rabbiner Yisroel Chaim Eis wird als
treibende Kraft der Polenhilfe genannt, nicht nur im Sinne materieller Hilfe oder als
autoritative Instanz, sondern auch als seelische Stütze für viele darbende Juden im
«Lublinland» selbst. Die psychologische Hilfe, die mit den Paketsendungen nach
Polen «rnitgesandt» wurde, ist von Helfern und Empfangern nicht gering eingeschätzt
·worden. Von St. Gallen aus operierte der Bikur Cholim, das heisst der jüdische
Krankenverein, unter der Leitung von Eli Sternbuch, der regelmässig Medikamente
nach Polen versandte.

Julius Kuh!, die Sternbuchs und der HUfsverein für jüdische Flüchtlinge (HIJEFS)

Besonders wertvoll erwies sich der orthodoxen Polenhilfe Julius Kuhl in Bem. Kuhl
stammte von einer chassidischen Familie aus dem polnischen Sanok aus, hatte an der
Universität Bern Wirtschaft studiert, wurde nach dem Krieg als Händler in ein Ge-
richtsverfahren verwickelt und ist dann in die USA ausgewandert. In der Kriegszeit
arbeitete er bei der polnischen Botschaft als Konsulatsreferent und fungierte als der
jüdische Arm des polnischen Botschafters, Alexander Lados. Kuhlleistete für eine
Reihe jüdischer Organisationen und Notkomitees informative, konsularische und ret-
tende Dienste, wobei er durch Lados weitgehend gedeckt wurde. Unter anderem gab
Kuhl polnische Pässe ab, die von jüdischen Aktivisten nach Polen verschickt wurden,
um schriftenlosen Juden die Flucht zu ermöglichen; andererseits dienten diese Papiere
auch dazu, staaten- und schriftenlose Flüchtlinge in der Schweiz zu einem besseren
Status zu verhelfen. Auf diese Weise konnte ein Zürcher Anhänger des chassidischen
Rebbe (Rabbi) von Belz die Ausreise seines spirituellen Mentors, Aaron Rokeach, von
Polen nach Istanbul erwirken. Besonders für das Aktivistenpaar Recha und Yitzchok
Sternbuch, die von Montreux aus eine eigene Rettungsorganisation (HIJEFS) aufbau-
ten, erwiesen sich Kuhl und Lados als besonders wertvolle Stützen. Sie betrieben die
Legalisierung der Flucht dank den Kuhl-Pässen im grösseren Stil, wozu auch
paraguayische Pässe dienten, die über Kuhls Kontakte mit dem Zürcher Konsulat von
Paraguay eingehandelt wurden. Die Kontakte zur polnischen Botschaft öffneten den
Sternbuchs auch den Zugang zum päpstlichen Nuntius in der Schweiz, Monsignore
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 393

Phillipe Bernardini, was vor allem die Anbahnung der späteren Zusammenarbeit des
orthodoxen HIJEFS mit alt Bundesrat Musy erleichterte. 12
Die polnischen Juden in der Schweiz klagten bei SIG- und VSJF-Vertretern oft
über den Antisemitismus unter ihren eigenen Landsleuten, mit denen sie in den
eidgenössischen Internierungslagern zusammenlebten. 13 Kuhl und Lados zeigten hier
Sympathie und Verständnis für die oft fremd wirkenden Anliegen der religiösen
Juden, für die der SIG dann getrennte Lager durchsetzte. Aber auch für viele nicht-
religiöse Juden ist Kuhl dank seiner diplomatischen Vorteile und Kommunikations-
wege wichtig geworden. Über die polnische Botschaft konnte der WJC und später das
HIJEFS jene Depeschen und Telegramme absenden, die heute als erste Berichte über
die Gaskammern in die freie Welt gelten. 14
Dank Kuhl gelang es dem Genfer Palästina-Amt, die Flucht des prominenten
Zionisten Jacob Klatzkin zu organisieren. Für den SIG, besonders für Georges
Brunschvig und Saly Mayer, etablierte die polnische Botschaft die Kontakte zu
Bemardini und liess den Schweizer Juden Nachrichten über den Zustand des polnischen
Judentums zukommen. Der VSJF unterstützte über Kuhl die polnisch-jüdischen Flücht-
linge. Das Israelitische Wochenblatt konnte 1940 und später dank Kuhl die Dokumenta-
tionen der polnischen Exilregierung in London einsehen. Schliesslich war Kuhl selbst für
seine darbenden Landsleute in Polen tätig, unbesehen davon, ob es sich um Juden oder
Katholiken handelte. Für das Polnische Hilfswerk für Kriegsgeschädigte organisierte der
gelernte Ökonom eine Sammlung, die vor allem Schweizer Firmen, die vor dem Krieg
nach Polen exportiert hatten, an ihre humanitären Pflichten erinnerte.15
Die Sternbuchs waren lange vor dem Einsetzen der Polenhilfe und der eigentlichen
Gründung des HIJEFS aktiv gewesen. Beide Brüder, Eli (Elias) und Yitzchok (Isaak),
stammten von einer chassidischen Familie aus Czernowitz ab, die sich vor dem Ersten
Weltkrieg in Basel niedergelassen hatte. Kopf und treibende Kraft der Sternbuch-
Familie war indessen Isaaks Ehefrau Recha Sternbuch, Tochter des Antwerpener
Oberrabbiners Mordechai Rottenberg. Beide Familienzweige hatten Gastfreundschaft,
Solidarität und ein offenes Haus aus traditioneller Selbstverständlichkeit gepflegt,
zumal die Sternbuchs als chassidische Ostjuden im Westen oft sehr ungern gesehen
wurden. 1938, mit der Not der Flüchtlinge, speiste diese Erfahrung den Entscheid
Rechas, einen Schlepperdienst an der ostschweizerischen Grenze aufzuziehen. Die
Sternbuchs unterhielten in ihrer St. Galler Privatwohnung und einem gemieteten Heim
ein privates «Durchgangslager». Im Mai 1941 wurde RechaSternbuch unter Verdacht
auf Schlepperdienst, Bestechung von Polizeibeamten sowie Beschaffung von
kubanischen Visa in Untersuchungshaft gesetzt. Die Angeklagte wurde am 30. Juni
1942 mangels Beweisen freigesprochen. Die mit der Haft verbundene Erfahrung hat
bei den Sternbuchs zutiefst die Feindschaft mit Saly Mayer begründet, von dem sie
sich hintergangen fühlten. 16
Die Polenhilfe, die über den Bikur Cholim in St. Gallen lief, führte am Genfersee
394 6. KAPITEL

zur Gründung des HIJEFS, als im Dezember 1941 die Japaner in Pearl Rarbor die
amerikanische Flotte angriffen und der Kriegsschauplatz ausgeweitet wurde. Im chine-
sischen Schanghai lebten zu diesem Zeitpunkt fast 20'000 mittel- und osteuropäische
Juden, die dort seit 1938 ein vorübergehendes Refugium erhalten hatten. Darunter
befanden sich einige tausend polnische Juden, zur Hälfte Lehrer und Studierende der
Mirrer Yeshiva, die im Schanghaier Exil den Lehrbetrieb weiterführte. Die 1817 in der
polnischen Stadt Mir begründete Talmud-Hochschule war 1939 in corpore nach
Litauen geflüchtet, konnte mit Hilfe des japanischen Konsuls Senpo Sugihara nach
Schanghai übersiedeln und ist später in Brooklyn ansässig geworden. Diese Flüchtlin-
ge aus Buropa waren 1941 irrfolge des amerikanischen Kriegseintritts von den Unter-
stützungen des JDC und des orthodoxen Vaad Hatzala in Amerika abgeschnitten
worden. 17 Sternbuchs Hilfsverein für jüdische Flüchtlinge in Schanghai leistete Ende
1941 erste Hilfe vom Montreux aus, wohin das Ehepaar umgezogen war. Mit der
schreienden Not in ganz Osteuropa ist aus dem HIJEFS bald der Schweizerische
Hilfsverein für jüdische Flüchtlinge im Ausland geworden, der in hochherzige Hilfs-
und Rettungsaktivitäten verschiedenster Art involviert war. Als Verbindungsstelle der
Organisation zur nichtorthodoxen und nichtjüdischen Welt fungierte zeitweilig Reuben
Hecht, der zionistisch und nichtorthodox gesinnt war, aber mit den Sternbuchs in der
radikalen Haltung bei allen Hilfsaktionen übereinstimmte. Als Sekretär amtierte der
später nach Kanada übersiedelte Hermann Landau, der 1942 als belgiseher Flüchtling
illegal in die Schweiz eingereist war.
Die Sternbuchs traten mit dem HIJEFS dann gegen Ende des Kriegs als europäi-
sche Aussenstelle der orthodoxen Rabbiner-Union von Amerika und Kanada auf, die
in New York einen Vaad Hatzala, das heisst ein Not- und Rettungskomitee, gebildet
hatte. Darin waren freilich die Anhänger des religiös-zionistischen Mizrahi nicht
eingeschlossen. Doch selbst unter den Agudisten war man nicht einer Meinung, wie
die Konflikte zwischen dem HIJEFS und der agudistischen Landesorganisation in
Luzern zeigen. Führende Hand, die den in der Schweiz schwelenden Konflikt
einzudämmen suchte, war Jakob Rosenheim in New York. Rosenheim war wie ein
anderer orthodoxer Aktivist, Rabbi Abraham Kalmanowitz, 1940 von Buropa nach
den USA übersiedelt und bildete als langjähriger Präsident der Agudat Israel Welt-
organisation auch die Verbindungsstelle für die Hilfe in Europa. Insgesamt war die
praktische Hilfe des St. Galler Bikur Cholim und der HIJEFS, gestützt von der
amerikanischen Agudat und dem JDC, von erheblichen Umfang. Pro Monat wurden
zeitweise um hunderttausend Kilogramm und mehrere zehntausend Dosen Lebens-
mittel in Lager und Gettos in osteuropäischen Ländern versandt, zumeist über das Rote
Kreuz. 18
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 395

Alfred Silberschein und das Committee for Reliefofthe War-Stricken]ewishPopulation


(RELICO)

Operativer Schlüssel vieler jüdischer Hilfsaktivitäten seit 1939 war in der Schweiz das
RELICO des WJC in Genf. Dieses Committee for Relief of the War-Stricken Jewish
Population, kurz RELICO, bildete das Instrument, mit dem der WJC seit September
1939 die Hilfe für die jüdische Bevölkerung in allen von den Deutschen besetzten
Gebieten organisierte. Um Schwierigkeiten mit Nazi-Deutschland inner- und ausserhalb
der Schweiz zu vermeiden, verschleierte der Deckname «RELICO» den wirklichen
Träger WJC, der 1936 zum Boykott gegen das Reich aufgerufen hatte. Nachaussen
hin funktionierte das Relief Committee oder «Komitee zur Hilfeleistung für die
kriegsbetroffene jüdische Bevölkerung» als Kontaktstelle zum IKRK. Nach längeren
Verhandlungen mit dem IKRK erhielt das RELICO anfangs 1940 die Möglichkeit,
Sammelladungen von Lebensmitteln, Kleidem und Medikamenten an die grossen
jüdischen Gemeinden im besetzten Polen zu senden. Es beteiligte sich an jenen bereits
erwähnten Schiffsladungen, mit denen die kleine Hafjp die JDC-Anstrengungen in
Polen ergänzte. Umgekehrt erhielt der WJC über das IKRK durch das Deutsche und
Polnische Rote Kreuz wichtige Hinweise über Vorgänge in diesen Gebieten.
Geleitet wurde das RELICO von Alfred Silberschein, einem ehemaligen Mitglied
des polnischen Parlaments, der in Galizien als zionistischer Aktivist tätig gewesen war.
Silberschein, der nun von Genf aus die Hilfsaktivitäten organisierte, blieb auf der
eingeschlagenen Linie der unbedingten Hilfe auch in dem Moment, als die britische
und später die amerikanische Regierung meinten, dass jede Sendung in die von
Deutschland beherrschten Gebiete nur dem Feind nützen würde. Es wurde schon
einmal erwähnt, dass bei der Hilfe nach besetzten Gebieten den jüdischen Hilfswerken
enge politische Grenzen gesetzt waren: «No form of relief can be devised which would
not directly or indirectly assist the enemy's war effort», hatte Churchill am 20. August
1940 vor dem Unterhaus ausgeführt. Silberschein versandte ungeachtet solcher Erklä-
rungen wöchentlich rund 1500 Lebensmittelpakete in die deutsch-polnischen Gebiete.
Mit Hilfe von Isaac Weissmann in Lissabon erreichten diese Sendungen der Firma
«Kajotes» die ausgehungerten und vom Sterben bedrohten Juden. Auch wenn sie
angesichts des massenweisen Elends noch so gering schienen, linderten diese Pakete
manches Schicksal. In ähnlicher Weise wirkten weitere kleine Gruppen mit ihren
Liebesgabensendungen, wie der Paketdienst auch genannt wurde. Erwähnt wurden
hier bereits der HIJEFS und der Zürcher Hilfsverein für jüdische Auswanderung, die
ihre Sendungen ebenfalls von Portugal aus abgehen liessen. 19
RELICO, Hafjp, SIG, Hilfsverein und die Sternbuchs machten sich im Herbst
1940 auf einen weiteren harten Winter gefasst, der den polnischen Juden bitteres Elend
bringen würde. Dabei war man in der Schweiz schon genug mit eigenen Sorgen und
Problemen belastet. Seit dem Ausbruch des Kriegs waren die Schweizer Juden unter
396 6. KAPITEL

erschwerenden Umständen mit der Ermittlung und danach der sozialen und religiösen
Betreuung der Flüchtlinge beschäftigt. Eigene soziale Einrichtungen, vorab das
langjährigund sorgsam aufgebaute Lungensanatorium in Davos, waren stark defizitär.
In panischer Angst hatten im Mai 1940 die Schweizer Juden den Einfall deutscher
Truppen erwartet. In der politischen Landschaft zeigten sich bereits die ersten Risse
zwischen SIG und dem offiziellen Bern. In diese Situation platzte im Spätherbst die
Nachricht über die Abschiebung der Juden aus dem südwestdeutschen Raum nach
Südfrankreich und deren elendes Schicksal in den Lagern von Gurs und Umgebung .

... UND GURS:


DIE HILFE INS AUSLAND UND DIE LAGE IM INNERN 1940-1942

Am 22. und 23. Oktober 1940 wurden etwa 6500 Menschen aus Baden, der Pfalz und
dem Saarland nach Gurs deportiert. Alte und Kranke, Frauen und Männer, Jugendliche
und Kinder - nur sehr wenige blieben davon verschont. Hinzu kamen Tausende von
weiteren ausländischen Juden, die in Frankreich lebten und wegen der Westoffensive
der Wehrmacht aus Belgien und Nordfrankreich in den Süden geflohen waren. Vichy-
Frankreich versuchte die chaotischen Zustände mit Massnahmen in den Griff zu
bekommen, von denen ausländische Juden besonders bedroht waren. Das Gesetz vom
4. Oktober 1940 gab den Präfekturen denn auch die Vollmacht, ausländische Juden in
Lagern zu konzentrieren. Gurs war nur eines dieser Hauptlager, in denen die in Vichy-
Frankreich aufgegriffenen Juden interniert wurden. Der Name stand und steht aber
symbolisch für die in Südfrankreich internierten Ausländer schlechthin. Im Gegensatz
zum deutschen «Lublinland» im Osten war Gurs kein Lager, in dem Juden systema-
tisch terrorisiert und zu Tode gequält wurden. Aber es war ein Lager des tiefsten
Elends, das die französischen Behörden völlig und aus kalkuliertem Vorsatz gleichgül-
tig liess. Der Hunger trieb in diesen Lagern die Marktpreise für Esswaren hoch und
förderte anfanglieh die Ausbeutung des Elends durch Mittelsmänner. Die Unterernäh-
rung korrespondierte mit den Missständen der Hygiene und des Gesundheitswesens.
In den überbelegten Holzbaracken waren die Insassen von Ungeziefer und Ratten,
Schlamm und Kälte, Krankheiten und Epidemien, Isolation und Ungewissheit geplagt.
Wie in Polen starben schon viele in den ersten Wochen unter den schlechten Lebens-
verhältnissen. 1800 Menschen ruhen seitdem auf dem Friedhof von Gurs, gegen
viertausend Internierte sind 1942 nach Auschwitz verschleppt worden. Die Internier-
ten waren nach dem Oktober 1940 ganz wesentlich auf Hilfe angewiesen, um in den
primitiven «Ilots» überleben zu können. 20
Die allmählich aus Südwestfrankreich eintreffenden Hilferufe berührten in der
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 397

Schweiz in besonderem Masse viele Schweizer Juden. Diesmal ging der Stich bei den
Westjuden besonders tief, stammten doch viele Familien in der Schweiz selbst aus
dem elsässisch-oberrheinischen Raum, der jetzt auf deutscher Seite von den
Deportationen verdunkelt war. Wie die Hilfsaktion für die Österreichischen und polni-
schen Juden lassen auch jene für Gurs erkennen, dass die Initiative oft aus familiärer
Betroffenheit oder als Folge verwandtschaftlicher Nähe ausging. Solche Beziehungen
spielten eine erhebliche Rolle, auch wenn die Hilfe für Gurs bald durch einen Ausschuss
koordiniert und schliesslich durch den SIG politisch abgedeckt wurde. Der Rhein hatte
seit Jahrhunderten gleichzeitig Grenze und Brücke bedeutet; über ihn leiteten sich die
familiären und wirtschaftlichen Bindungen der schweizerischen Juden historisch her. 21
Schon Rothmund hatte zwei Jahre zuvor den SIG unter Druck gesetzt, indem er 1938
auf die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen vielen sanktgallischen und
vorarlbergischen Juden hinwies. Das gleiche galt für die Notleidenden im fernen Gurs.
Um ein Beispiel für die Oktoberdeportation von 1940 zu geben: der Familienname des
SIG-Präsidenten, Saly Mayer, dessen Vorfahren aus Süddeutschland stammten, figuriert
unter den in Gurs verstorbenen Personen zwanzigmaJ.22 Besonders nahe miterlebt
wurde das Schicksal in der jüdischen Gemeinde Kreuzlingen, die zu den Juden in
Konstanz enge Beziehungen aufwies. Auch die jüdischen Bürger in Gailingen wurden
am 22. Oktober 1940 deportiert. Ebenfalls tief erlebt wurde das Unglück im grenz-
nahen Basel, wo das Ehepaar Siegfried und Margarete Horowitz-Stem ein Beispiel für
die Hilfeleistung einzelner bietet. 23 Ganz allgemein mussten sich die Schweizer Juden
durch die Deportation und die Vorgänge in Gurs emotional zutiefst verunsichert
fühlen.
Der erste Aufruf, «ein Liebeswerk jenseits der Grenzen zu tun», stammt von den
jüdischen Frauenvereinen, die zunächst annahmen, bei Gurs handle es sich um ein
Frauenlager. 24 Mitte November gaben die ersten Berichte und ständig einlaufenden
Briefe ein zunehmend deutlicheres Bild der Notlage, die vor allem für Alte, Kranke
und Kinder tödliche Folgen hatte. Die in den südfranzösischen Lagern lebenden
Menschen adressierten ihre Briefe in die Schweiz an Verwandte, an zufällig erinnerte
und in Inseraten gelesene Anschriften oder einfach an die jüdische Gemeinde einer
Stadt. Wirksame Hilfe benötigte aber zuerst ein Aufbau von Verbindungen nach
Südfrankreich, von Wegen zur Abwicklung sowie koordinierte Absprachen. Der SIG
und die jüdische Presse erhielten durch einen nach Gurs abgeordneten IKRK-Delegierten
rasch ein Bild der bitteren Aussichten, die in einem Bericht an die Mitgliedgemeinden
weitervermittelt wurden. 25 Die weitere Formierung der Hilfskomitees erfolgte indes-
sen auf lokaler Basis, wobei zuerst die grenznahen Gemeinden wie Basel und
Kreuzlingen gefordert waren. Eine Fülle von Einzelaktionen seitens Verwandter und
Freunde von in Gurs Internierten schuf einen Bedarf nach schnellem, koordiniertem
Handeln.
398 6. KAPITEL

Hera~sforderungen und Hindernisse für die Helfer

Der SIG konzentrierte sich zunächst darauf, die technischen Details abzuklären, um
die Übersendung von Hilfsmitteln überhaupt ermöglichen zu können. Insbesondere
mussten mit dem Roten Kreuz die Fragen der technischen Realisierung von
clearingfreien Geldsendungen und Medikamentenanschaffungen abgesprochen wer-
den. Ursache der zögerlichen Abwicklung bildeten die einschneidenden Ausfuhr-
beschränkungen der eidgenössischen Kriegswirtschaft Sammelsendungen von Le-
bensmitteln und die Ausfuhr von Kleidungsstücken, Wäsche und Schuhen waren in
diesen Kriegsmonaten nicht gestattet. Eine Anfrage des SIG in Bem ergab, dass selbst
getragene Schuhe und Kleider nicht ausgeführt werden durften, «zufolge Mangel im
eigenen Lande und Inanspruchnahme der vorhandenen Vorräte durch die Schweiz
selbst». Man hoffte daher, mit zahlreichen Einzelpaketen, monatlich auf zwei Kilo-
gramm limitiert, und Bedarfseinkäufen in Frankreich selbst eine erste Soforthilfe zu
erwirken. Für jedes einzelne dieser privat abzufertigenden Pakete musste in Bem ein
Ausfuhrgesuch eingereicht werden. Ebenso waren persönliche Geldsendungen bis zu
monatlich fünfhundert französischen Franken gestattet. Zur Bereitstellung von Medi-
kamenten wurde dem Roten Kreuz durch den SIG sofort ein erster Betrag von
fünftausend Schweizer Franken übergeben. Auch bestand die anfängliche Hoffnung,
mit Hinterlegung von Depotgeldem die Insassen in Gurs und Umgebung auszulösen
und für die Weiterwanderung freizubekommen. Die Schweizer Juden konnten also
anfänglich wegen administrativer Hindernisse gar keine Sammelaktionen abwickeln,
sondern waren technisch geradezu auf verwandtschaftliche und lokale Kanäle ange-
wiesen.26 Als Aktionschef für die Gurs-Hilfe bezeichnete der SIG den Genfer Anwalt
Armand Brunschvig, der sich vor allem um die Kontakte mit den jüdischen Gruppen in
Frankreich und mit den internationalen jüdischen Organisationen bemühte.
In Frankreich selbst hatte nach dem Sieg der deutschen Truppen und der Etablierung
des Vichy-Regimes in der unbesetzten Zone die jüdische Selbsthilfe auf eine neue
Plattform gestellt werden müssen. Eine in Marseille Ende Oktober zusammengerufene
Konferenz, die durch das JDC energisch gefordert und von Oberrabbiner Isaie Schwartz
geleitet wurde, hatte dafür eine erste Grundlage geboten. Diese Commission centrate
des organisations juives d'assistance (CCOJA) teilte die Arbeit unter ihren Mitglied-
organisationen auf. Die F ederation des societes juives kümmerte sich vor allem um die
osteuropäischen Juden, das Comite d'assistance aux refugies um die Lagerinsassen,
das Kinderhilfswerk OSE um die Kinder, und so fort. Diese Marseiller Plattform
vermochte eine wirksame Hilfe zu entfalten, da es dem JDC-Delegierten Herbert
Katzki gelang, die jüdischen Organisationen mit einer Reihe von anderen Hilfswerken
zur Zusammenarbeit zu führen. Dabei spielten die amerikanische YMCA und das
American Friends Service Committee, unter dem Namen der Quäker bekannt, eine
segensreiche Rolle. Das seit dem 20. November 1940 meist über Nacht in Nimes
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 399

tagende Comite des camps, mit Donald H. Lowrie an der Spitze, umfasste 25 Organi-
sationen, wovon sechs jüdisch waren. 27 Es war offiziell von der Vichy-Regierung
anerkannt, konnte trotz aller hemmender Widrigkeiten wirksame Hilfe organisieren,
gab eine gewisse Linie in die sich oft gegenseitig konkurrenzierenden Organisationen
und ermöglichte später auch zahlreiche Rettungsaktivitäten illegaler Art. Erheblichen
Zwiespalt unter den jüdischen Organisationen löste später, im November 1941, der
Zwang der Vichy-Regierung aus, alle jüdischen Gruppierungen einheitlich zusam-
menzufassen. Die Zwangsvereinigung in einer Vichy-genehmen Union Generale des
Israelites de France (UGIF) liess die jüdischen Standpunkte hinsichtlich der ausländi-
schen und französischen Juden auseinandergehen. 28
In den Lagern von Gurs gelang es den internierten Ärzten, Sozialarbeitern und
Rabbinern, eine eigene Lagerorganisation aufzuziehen, die auch mit den französischen
Behörden einigennassen erfolgreich verhandelte. Meistens wurde die Selbsthilfe von
den internierten Exilierten, die schon einige Zeit in Frankreich gelebt hatten, initiiert.
Neben der Tätigkeit der internen Leiter in den einzelnen «Ilots}} erfüllte das Comite
Central d'Assistance (CCA) unter der Führung von Rabbiner Jehuda Leo Ansbacher
eine wichtige Funktion. Es verstand sich als übergreifenden Sozialdienst, der auch den
Baracken ein kulturelles und religiöses Leben einhauchte. Das CCA leitete an Mittel-
lose die Geld- und Paketspenden weiter und belebte das Kantinenwesen. 29
Hot-Chefs und CCA sind auf der Empfängerseite wesentliche Partner für die
Hilfswerke gewesen. Die erste im Lager arbeitende Krankenschwester kam aus der
Schweiz: Zum grossen Erstaunen der Lagerleitung und mit Duldung der Präfektur des
Departements Basses-Pyrenees liess sich Elsbeth Kasser von der «Secours Suisse»
(später vom Roten Kreuz übernommen) Ende Dezember dort nieder. 3° Christliche
Organisationen, wie die CIMADE, das American Friends Service Committee, aber
auch das französische Rote Kreuz konnten sich Zutritt zum Lager verschaffen. Auf der
jüdischen Seite begannen Julien Samuel, ein OSE-Mitarbeiter, und Joseph Weill, der
selbst ein elsässischer Flüchtling war, für die Kinderbetreuung in den Lagern zu
arbeiten. Diese Aktivitäten schlossen bald einmal den illegalen Nachschub an Hilfs-
gütern mit ein. Wichtige finanzielle Säule war, wie schon vermerkt, das JDC.31
Für Armand Brunschvig, den Genfer SIG-Kontaktmann zu Joseph Weill und
anderen Helfern in Frankreich, stand fest, dass Sammlungen in der Schweiz nur in
koordinierter Absprache mit dem Marseiller CCOJA weiterzuleiten waren, sobald dies
überhaupt auf irgendwelchen Wegen möglich schien. Brunschvig machte im SIG klar,
dass eine gezielte anstelle der zufälligen Politik dringlich sei: Zwar handle es sich bei
der Gurs-Hilfe zunächst um Aktionen von Verwandten und um private Paketsendungen,
die weiterhin wertvolle Grundlage seien; doch müssten besondere Sympathien vor der
direkten Koordination zurücktreten. Um den plötzlichen Anforderungen der Zusam-
menarbeit mit dem CCOJA entsprechen zu können, wurden Brunschvig wiederholt
ausserordentliche Kredite von jeweils 20'000 Schweizer Franken eingeräumt.
400 6. KAPITEL

Brunschvig selbst operierte mit seinen Genfer Freunden als eine Art Schweizer
«RELICO» unter dem Titel der F ondation Suisse du Comite de Secours aux Refugies,
die zum CCOJA die Verbindung hielt. Dabei war der Devisenumtausch ein Problem,
weil er an die Möglichkeit von «Kompensationsgeschäften» zwischen der Schweiz
und Frankreich gekoppelt war. Wie auch immer, die «Aide aux Refugies du Camps de
Cours» (ARCC) von Brunschvigs «Fondation» beschaffte ab November 1940 Lebens-
mittel, Kleidung und Bargeld.32
Die eingespielten Strukturen der RELICO, die bei der Polenhilfe wirksam waren,
dienten natürlich auch für die Hilfe an Juden in anderen Ländern, zum Beispiel Griechen-
land und dem Balkan. Sie wurden nun besonders nützlich, als die Oktoberdeportationen
von 1940 auch die Hilfe für die südfranzösischen Lager dringlich machten. Als anfangs
Januar in der Schweiz die Zusammenarbeit von IKRK, CCOJA, RELICO und Hilfs-
werken bekannt wurde, lagen entsprechende Koordinationsschritte nahe, um für die
Einzeltätigkeit auf privater und lokaler Ebene eine Plattform zu schaffen. Die Initiative
ging vom Luzemer Hilfskomitee für Gurs aus, das auf den 26. Januar 1941 eine Konfe-
renz nach Zürich einberief. In ausgedehnten Debatten suchte man eine Annäherung der
verschiedensten Standpunkte über Organisation und Methoden der Hilfe. Im Mittelpunkt
standen die Berichte über die aktuelle Lage in Südfrankreich durch WJC-Sekretär
Gerhart Riegner und die Verhältnisse in Polen durch RELICO-LeiterAlfred Silberschein.
Endlich einigte sich die Versammlung auf eine enge Zusammenarbeit zwischen dem SIG
und den Initiativkomitees in einem gemeinsamen Ausschuss. 33
Eine solche Klärung der Positionen der einzelnen Initiativen und der offiziellen
Politik des SIG spiegelt wieder einmal das politische Dilemma der Schweizer Juden.
Jedes Vorpreschen schien geeignet, auch einen politischen Prüfstein der «loyalen
Gesinnung» des SIG gegenüber dem eigenen Staat abzugeben. Die Solidarität mit den
jüdischen Opfern im Ausland durfte aus SIG-Optik nicht durch einen «Wirrwarr von
Einzelaktionen erreicht werden, sondern nur durch eine wohlgeordnete und systemati-
sche Arbeit». 34 Der SIG wollte vermeiden, das Heft aus der Hand zu geben, um sich
nicht den Vorwurf aus Bem einzuheimsen, die privaten Initiativen seien unkoutrollierte
Verausgabungen, die einen Abfluss von Mitteln aus der Schweiz darstellen würden.
Als anfangs Februar eine neue Zürcher Hilfsgruppe bekanntgab, bereits einige tausend
Franken gesammelt zu haben und im Sinne eigener Ideen handeln zu wollen, stellte der
SIG klar, dass er eine Gefahrdung der zentralen Koordination nicht dulden würde. Die
Rüge wurde in einer Klarstellung veröffentlicht, und das Central-Comite des SIG
wiederholte seine Warnung, dass eine Zersplitterung durch Einzelaktionen und Einga-
ben an Behörden nur «Zweifel an schweizerischer Gesinnung wecken können». 35 Die
neue Hilfsgruppe wurde eingeladen, sich der Plattform von Luzemer Hilfskomitee und
SIG anzuschliessen. In Bem deckten die Behörden den SIG-Appell zur Disziplinierung
ab, indem das eidgenössische Kriegsfürsorgeamt ein Gesuch der Zürcher Hilfsgruppe
um Bewilligung einerneuen Sammlung kurzerhand ablehnte. 36
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 401

Trotz dieser Politik zur Sammlung aller Kräfte im Innem waren es dennoch und
unverkennbar die zahlreichen privaten Initiativen, die zu Leistungen motivierten. Das
zeigt ein Blick auf die ersten Monate der Gurs-Hilfe, wie sie der SIG verzeichnet hat.
Von Mitte November 1940 bis Mitte Februar 1941 wurden insgesamt Leistungen in
der Höhe von 251 '072 Franken erbracht. Wie Brunschvig dann an der Delegierten-
versammlung des SIG vom 22. Mai bekanntgab, konnten zudem für Verwandte
binnen eines halben Jahres Sendungen im Wert von mehr als 100'000 Franken
vermittelt werden. Erträge aus Sammlungen und Devisengewinne verteilte Brunschvigs
ARCC über das CCA von Rabbiner Ansbacher direkt in die Lager. In den ersten
Wintermonaten gingen gernäss SIG über die verschiedenen Versandstellen 3240 Pake-
te, 11'220 Kleidungsstücke, 1658 Geldsendungen. Weitere ungezählte Pakete an
Lebensmitteln und Medikamenten gingen, so kann vermutet werden, in dieser Zeit
durch Private direkt nach Südfrankreich ab.37
Viele Persönlichkeiten und Organisationen unter den Nichtjuden in der Schweiz
waren von der menschlichen Not zutiefst betroffen. Auch wenn eingehende und
aussagekräftige Berichte über Frankreich erst viel später eintrafen, nahmen diese
Schweizer und Schweizerinnen den Ruf ihrer jüdischen Mitbürger emst. 38 Tatkräftig
nahmen sie an der Hilfe für Südfrankreich teil. Ohne Unterstützung und Zusammenar-
beit mit Dritten hätte die Hilfe von der Schweiz aus nicht stattfinden können. Die erste
und freiwillige Pionierin Elsbeth Kasser und ihre Mitarbeiterin, Emma Ott, wurden
bereits genannt. Neben ihrer Kinderhilfe waren es vor allem das Schweizerische
Arbeiter-Hilfswerk und das Schweizerische Rote Kreuz, welche hinsichtlich Gurs mit
den jüdischen Hilfskomitees kooperierten. Unter der Leitung von Regina Kägi-
Fuchsmann unterhielt das Arbeiter-Hilfswerk in Zürich eine Paketversandstelle, ge-
nannt «Le Colis Suisse», über welche die jüdischen Hilfskomitees teilweise ihre
Lebensmittelpakete verschicken konnten. Auch die Genfer Niederlassung des Unitarian
Service Committee bot seine Dienste an, nachdem in New York bereits im Januar
1941, im Rahmen einer vom interkonfessionellenAmerican Committee an Religions
Rights and Minorities abgehaltenen Versammlung, die Soforthilfe beschlossen wor-
den war. Im Lager von Noe, das von älteren und kranken Menschen bewohnt wurde,
besorgten JDC und SIG via Mayer die Finanzen und die Quäker die Verpflegung und
Verarztung. Freilich waren den amerikanischen Organisationen seit dem Kriegseintritt
der USA nun die Hände stark gebunden. 39 Insgesamt war die Hilfe durch Nichtjuden
operationeil und psychologisch von eminenter Bedeutung. Sie eröffnete praktische
Handhaben und gab den jüdischen Hilfen das Gefühl, nicht allein auf der Welt zu sein.
Die unterste Ebene der Hilfstätigkeit von Schweizer Juden lag bei den lokalen
Hilfskomitees. Hier kann uns Bem als Beispiel dienen, um wieder einmal deutlich zu
machen, wie klein solche Hilfskomitees waren. Sie bestanden meistens aus wenigen
Personen, vor allem Frauen, die alles erledigten. Im Hintergrund deckte die jüdischen
Gemeinde, die in Bem 150 zahlende Mitglieder hatte, die Aktion ab. Von den 11'163
402 6. KAPITEL

Schweizer Franken Einnahmen dieses kleinen lokalen Komitees im Jahr 1942 ging der
weitaus grösste Teil an die beiden genannten Versandstellen, zu zwei Dritteln an die
RELICO und einem Drittel an den Colis-Dienst des Arbeiter-Hilfswerks; ein kleinerer
Restbetrag betraf Rückvergütungen an Private. Die Leiterin des Bemischen Hilfs-
werkes für Gurs der Israelitischen Gemeinde Bem vermerkte dazu in ihrem Bericht,
dass nicht nur die materielle Hilfe, sondern der Trost und die Hoffnung zum Inhalt der
Pakete gehörten. Dies wird deutlich in den zahlreichen Dankesbriefen von Internier-
ten, in denen sich das Bedürfnis zu berichten und die Hoffnung aufweitere Unterstüt-
zung mischen. Die Briefe an das Hilfswerk in Bem umfassen drei Aktenordner; jene
an die besonders aktive Kreuztinger Gemeinde, die aber mit knapp 100 jüdischen
Seelen im Ort nur 37 zahlende Mitglieder hatte, gar fünf Ordner; und die Basler Hilfe
des Ehepaars Horawitz-Stern ebenfalls fünf Konvolute. 40 Der Umfang der auch in den
anderen jüdischen Gemeinden dokumentierten Korrespondenzen soll nicht überschätzt
werden, zeigt aber die faktische und menschliche Bedeutung der in die Tausende
gehenden kleinen Pakete. Sie wurden in den Angebotslisten der jüdischen Hilfsstellen
als Liebesgaben-Sendungen angezeigt, um die Absicht und das Gebot der Rettung und
Tröstung deutlich zu machen.

Neue Not im Winter 1941/42 und Verschleppung im Sommer 1942

In den Lagern von Gurs, Rivesaltes, La Vemet, Argeles, Des Milles, Saint-Cyprien
und Recebedou nahm im Verlauf des Sommers 1941 die Zahl der Lagerinsassen
erheblich ab. Ein Teil der Internierten konnte sogar Frankreich verlassen. Hingegen
stieg damit die Zahl der unterstützten Emigranten und untergetauchten Juden in Vichy-
Frankreich an. In der Schweiz gingen Sammlungstätigkeit und verwandtschaftliche
Hilfe für Gurs weiter, nahmen aber an Intensität ab, seit eine vorübergehende Milderung
der Lage dies erlaubte. Von den rund 34'000 Juden der insgesamt 51'000 Internierten
während der ersten Jahreshälfte blieben Ende 1941 noch unglückliche 14'850 Juden
von total 25'610 Gefangenen in den Lagern. Der Winter 1941/42 forderte dann von
neuem Hilfe, die ebenso in unverminderter Dringlichkeit auch von der Hilfsaktion für
die notleidenden Juden in Polen erbracht werden musste. Der dauernde Unterhalt der
Flüchtlinge im Innem, das Aufzehren der eigenen Mittel und der Spendenrückgang
beim JDC angesichts antisemitischer Strömungen in den Vereinigten Staaten verhiessen
aber wenig Gutes. 41
Die Delegierten im VSJF, und mit ihnen die lokalen Komitees, verlangten nach
einer einheitlichen organisierten Aktion für Polen und Südfrankreich.42 Am 11. Febru-
ar 1942 wurde die Hilfe ins Ausland im Central-Comite von neuem diskutiert, für die
sich besonders SIG-Präsident Mayer zugunsten von Frauen und Kindem stark machte.
Hier setzt nun ein, was wir bei der Behandlung der jüdischen Finanzierung der
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 403

eidgenössischen Flüchtlingspolitik bereits eingehend beschrieben haben: der Mayer-


Plan in der Finanzpolitik sowohldes SIG wie des JDC. Mayer schlug eine Woche nach
der Februarsitzung des SIG dem JDC telefonisch vor, sämtliche Kosten für die
jüdischen Flüchtlinge in der Schweiz zu übernehmen, während die Schweizer Juden
ihre Mittel nach Südfrankreich und Polen geben würden. Diese Art, das Geld für einen
humanitären Zweck «politisch neutral zu waschen», bildete den Auftakt zu einer
neuen Phase der JDC-Hilfe, deren europäische Drehscheibe Mayer werden sollte.
Mayer war zwar lange vor Pearl Harbor und dem amerikanischen Kriegseintritt für
diese nützliche und auch doppelgesichtige Politik eingetreten. Er appellierte im SIG
freilich nur, Hilfe ins Ausland zu leisten, weil die gleiche Summe dort ein Mehrfaches
bewirken könne als in der Schweiz. Was Mayer an der Februarsitzung verschwieg, war
seine weitergehende Absicht im Interesse des JDC. Denn dies musste zugleich auch
seine persönliche Stellung im SIG erheblich stärken.43
Die zunehmende Entlassung von Juden aus den Lagern wurde indessen überschattet
durch die Verschlechterung ihrer Situation im besetzten und unbesetzten Frankreich.
Die französische Gesellschaft schien geneigt, die Niederlage der Nation auf die Juden
abzuladen. Nachdem anfangs Oktober 1940 das Vichy-Regime den Status der in- und
ausländischen Juden zu definieren begonnen hatte, errichtete es am 29. März 1941
unter dem Druck des Nazigesandten Otto Abetz ein Commissariat aux questions
juives. Das freie Frankreich verfügte in schneller Reihenfolge ein Gesetzeswerk, das
die Juden politisch diskriminierte und wirtschaftlich entrechtete. Seit Sommer 1942
erfolgte von Paris und Vichy ausgehend die Zusammenarbeit der französischen und
deutschen Behörden bei der sogenannten Endlösung der Judenfrage.44
Bereits im Dezember 1940 war von Bern aus die schweizerische Gesandtschaft in
Paris angewiesen worden, den deutschen Besatzungsbehörden keine grundsätzlichen
Argumente und Vorbehalte gegenüber ihrer Judenpolitik vorzubringen, sondern sich
auf wirksame Interventionen zugunsten einzelner zu beschränken. Diese opportunistische
Diplomatie haben wir bereits kennengelernt Sie wurde mit antijüdischen Vorbehalten
noch stärker eingeschränkt: «Unsere Bemühungen zugunsten von Nicht-Ariern dürfen
keinesfalls einen Umfang einnehmen, welcher in einem Missverhältnis zur Bedeu-
tung, die den Israeliten in unserer Volksgemeinschaft zukommt, stehen würde» - wie
es der Chef der Auswärtigen Abteilung formulierte. 45 Um so mehr galt dies für die
schweizerisch-jüdischen Liebeswerke, die sich im Ausland gar für fremde Juden
einsetzen wollten. In der wenig judenfreundlichen Stimmung der Auswärtigen Abtei-
lung war der gute Dienst Berns für die humanitäre Hilfe in Frankreich kaum denkbar.
In das gleiche Strickmuster passte auch die Weigerung der Fremdenpolizei, jüdischen
Kindern aus Frankreich einen Erholungsaufenthalt in der Schweiz zu gönnen - eine
Haltung, die ein knappes Jahr später, im März 1942, vom Bundesrat nachträglich
sanktioniert wurde. 46
Als Armand Brunschvig im Namen des SIG an das Politische Departement mit der
404 6. KAPITEL

Anfrage um konsularischen Schutz gelangte, winkte das zuständige Schweizer Konsu-


lat ab. Brunschvig hatte nämlich das in Lagemähe gelegene Schloss Idron bei Pau auf
seinen Namen gemietet, um Heim und Schutz für nach dem Süden abgeschobene
Flüchtlinge aus Deutschland zu ermöglichen. Er argumentierte seiner Regierung in
Bem gegenüber, die Deportationen nach Gurs hätten den SIG zu einer Hilfsaktion
veranlasst, weil viele Schweizer Juden verwandtschaftlich mit den Vertriebenen ver-
bunden seien. Angesichts der Judengesetzgebungen in Vichy-Frankreich bitte er für
die Fondation Suisse du Comite de Secours aux Refugies um titularischen Schutz. Das
Departement lehnte ab mit der fadenscheinigen Begründung, die angestellten Betreuer
auf dem Schloss seien ebenso Ausländer wie die Flüchtlinge selbst. 47 Diese Antwort
war nur ein weiterer Baustein in der mutlosen Politik, deren Logik in der Haltung der
offiziellen Schweiz den eigenen und fremden Juden gegenüber wurzelte und bei den
jüdischen Flüchtlingen fortgesetzt wurde.
Im SIG stellte sich angesichts dieser Tatsachen im Februar 1942 von neuem die
Frage einer Eingabe in Bem. Sie hätte zwei Stossrichtungen einschlagen müssen:
einmal gegen die Politik der eingeschränkten Ausfuhren und zum anderen gegen die
Diskriminierung jüdischer Ferienkinder im Vergleich zu den übrigen Kindern. Die
Schweizer Juden haben das Risiko gescheut, in Bem förmlich vorzusprechen. Nicht
nur machte die Möglichkeit Angst, dass das Verlangen von der eigenen Regierung
abgelehnt werden könnte; den Ausschlag gab vielmehr die drohende Infragestellung
der eigenen Position. Nach der erst im Dezember des vorangehenden Jahres erfolgten
Eingabe des SIG um die Frage des «ordre public», welche die Stellung der jüdischen
Schweizer selbst anzufechten schien, wollte man jetzt nicht nachdoppeln. Eine weitere
Eingabe beim Bundesrat lehnte das Central-Comite deshalb mit knapper Mehrheit ab,
zumal die Eingabe um den «ordre public» aufs erste ganz unbefriedigend beantwortet
worden war. Um so schmerzhafter musste dies wirken, als in der gleichen Sitzung
davon berichtet wurde, dass «in gewissen Gegenden die Männer verloren seien und
auch Frauen und Kinder dem Schicksal verfallen, wenn nicht geholfen werde».48
Diese Schilderungen wurden im übrigen von schweizerischen Konsulatsberichten
bestätigt. Im März 1942 trafen die mit der «Judenfrage» beauftragten SS-Vertreter des
Reichssicherheitshauptamts (RSHA), in Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzungs-
behörden und der deutschen Botschaft in Paris, die Vorbereitungen für die Depor-
tierungen nach Auschwitz, Majdanek und Sobibor. Der Polizeichef der Vichy-Regie-
rung, Rene Bousquet, stimmte der Kooperation der französischen mit den deutschen
Behörden zu. Dies schloss die Festnahme von Juden ausländischer Staatsangehörig-
keit durch die französische Gendarmerie mit ein, und zwar in der von den Deutschen
gewünschten Höhe. Wie hier schon erörtert wurde, waren diese Vereinbarungen
betreffend der Verhaftungen ausländischer Juden später auch für die Schweizer Behör-
den der Grund gewesen, Ende des Jahres in einer eiligen Aktion ihre eidgenössischen
Juden, die inzwischen vermögensmässig «arisiert» worden waren, zu repatriieren. Im
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 405

Juli 1942 hatte in Südfrankreich ein Delegierter Eichmanns das Lager Gurs inspiziert.
Anfangs August wurde mit der Zusammenstellung der Transportzüge aus Viehwagen
begonnen. Die erneute Deportierung, diesmal von Gurs nach Auschwitz, bedeutete
endgültig den Tod für die meisten der aus Frankreich verschleppten Menschen.
In den Worten des bereits zitierten Berichts des kleinen bemischen Hilfswerkes für
Gurs erscheinen die zwei Jahre vom Oktober 1940 bis September 1942 aus der Sicht
der besorgten Helfer wie folgt zusammengefasst: «Anfänglich wurde jeder Bittsteller,
der sich an unsere Institution wandte, mit einem Lebensmittelpaket bedacht, sofern seit
der letzten Sendung eine gewisse Frist verstrichen war. In der Folge gelangten jedoch
die Gesuche in immer grösserer Zahl an uns, so dass wir genötigt waren, für eine
möglichst gerechte und gleichmässige Verteilung unserer Sendungen zu sorgen. Zu
diesem Zwecke wandten wir uns an die entsprechenden Lagerleiter, die die bei uns
eintreffenden Bittgesuche auf ihre Berechtigung zu prüfen hatten. Diese Mitarbeit
unserer Vertrauensleute hat sich in der Praxis recht gut bewährt. Die Zusammenarbeit
sollte leider aber nicht von langer Dauer sein. Die meisten unserer Mitarbeiter wurden
uns in jenen traurigen Septembertagen durch Deportation entrissen. Lager, denen wir
am meisten Pakete zukommen liessen, wie Recebedou, Gurs, Rivesaltes, wurden ganz
oder grössten Teils geleert [... ].»49
Die Hilfe für die Juden im Ausland war damit freilich keineswegs beendet. Die
jüdische Kinderhilfe OSE operierte in Frankreich teilweise von Genf aus, indem
Kinder versteckt und nach Spanien und der Schweiz geschmuggelt wurden. Doch
bevor wir darauf zurückkommen, muss deutlich werden, dass der Holocaust jetzt
andere Massstäbe setzte als in allen Jahren zuvor. Die jüdische Welt sah sich im
Verlaufe des Jahres 1942 mit der Tatsache der Schoa, der massenweisen Ermordung
der europäischen Juden, konfrontiert. Die Nachrichten über den Holocaust liefen zu
einem grossen Teil über Kanäle, die schon sehr früh durch die Schweiz in die freie
Welt führten. Dies machte die von den Achsenmächten umschlossene Schweiz zu
einer Insel der Wissenden. Von hier aus suchten später verschiedene jüdische Organi-
sationen mit Rettungsversuchen den bedrohten und sterbenden Menschen beizustehen.
Gurs und die südfranzösischen Lager kündeten vom Unglück, dem die unschuldig
Verschleppten auf Schienenwegen, in hörbarer Feme von der Schweizer Grenze,
entgegenrollten.
406 6. KAPITEL

INSEL DER WISSENDEN:


DIE SCHWEIZ UND DIE JUDEN IM ANGESICHT DES HOLOCAUST

Es gibt keinen Zweifel, dass seit dem Frühling 1942 Juden wie Nichtjuden in der freien
Welt bruchstückhaft Informationen über die deutschen Morde an den Juden in Ost-
europa und im sowjetischen Gebiet besassen. Gleiches gilt in vermehrtem, umfassen-
derem Masse und zu einem noch früheren Zeitpunkt für die alliierten und neutralen
Regierungen im Westen. Gemessen an allen übrigen Informationsträgem ausserhalb
des deutschen Machtbereichs, haben in der Schweiz einzelne Bundesräte und Teile der
Beamtenschaft bereits sehr frühzeitig von den massenhaften Erschiessungen und den
ersten Versuchen mit Vergasung Nachricht erhalten. Doch damit haben sie nicht
eigentlich um den Holocaust «gewusst». Informationen, wie sie damals Berichte,
Depeschen und Korrespondenzen im einzelnen enthielten, ergaben zwar ein zuneh-
mend ZUsammenhängenderes Bild. Doch diesen Zusammenhang wahrnehmen zu
wollen, war etwas anderes. Mit der Frage nach dem politischen Erkenntnisinteresse
kommt eng verbunden das Problem der Internalisierung der Nachrichten über die
Massenmorde in den Blick: Information ist nicht gleich «Wissen», Wissen nicht gleich
Handeln. Wer etwas weiss, kann es oft nicht glauben; und wer es wirklich weiss, will
noch keineswegs handeln.
Die emotionale und willentliche Verdrängung derwirklichen Vorgänge istgesamt-
haft kennzeichnend gewesen für das Verhalten der alliierten und neutralen Regierun-
gen. Freilich genügt ein psychoanalytisches Verständnis nicht, weil es das Verhalten
von politischen Verantwortungsträgem auf individuelle Motive reduziert. 50 Der
Holocaust und das Wissen darum zeigen die kognitive Dissonanz, die zwischen
Erkenntnis und Handlung, zwischen Fähigkeit und Willen in der politischen Wahrneh-
mung besteht, in einem weit breiteren Spektrum.51 Die Ignorierung des Holocaust
durch den Westen reicht von der Langsamkeit der Verinnerlichung bis zur stillschwei-
genden Vorsätzlichkeit, es nicht glauben zu wollen, um nichts tun zu müssen. Im
geschichtlichen Resultat läuft dies alles auf den gleichen Effekt heraus: Was die
deutschen Massenmörder nur sehr schlecht verstecken konnten, halfen ihnen, ob
willentlich oder unwillentlich, die Regierungen und Zensurstellen im Westen indirekt
zu verbergen. Die historische Forschung hat das Problem des Wissens um den Holocaust
daher umfassend thematisiert. Stellvertretend kann Walter Laqueur genannt werden,
der dem Versuch, authentische Nachrichten über die Schoa im Westen bekanntzuma-
chen, in der deutschen Ausgabe seines Buches den Titel «Was niemand wissen wollte»
gegeben hat. Laqueur betont denn auch, dass <~ede europäische Regierung» im Bilde
gewesen sei.52
Die westliche Welt, auf die es am meisten angekommen wäre, unterliess angemes-
senes Handeln auch in dem Moment, als das Schweigen gebrochen wurde. Konnten
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 407

Berichte aus jüdischen Quellen von London anfänglich noch lange als «Schauermähr»
abgetan werden, so unterblieben Massnahrnen, wie zum Beispiel die Bombardierung
der Gaskammern, mit der Begründung, dass andere militärische Prioritäten wichtiger
seien. In den USA boten die republikanische Opposition im Kongress, ein schwerhöri-
ges Aussenministerium und dann Bedenken des Kriegsministeriums dem Präsidenten
zur Genüge Anlass, Handlungsbedarf in Hinblick auf Auschwitz auszuschliessen. Ein
Umdenken Roosevelts zugunsten von Rettungsmassnahmen hat erst im Verlauf des
Jahres 1943 eingesetzt und blieb dann lange von der britischen Überzeugung ge-
hemmt, dass es nur darauf ankomme, erst einmal den Krieg ganz zu gewinnen. Diese
Alibiargumentation blieb auch bestehen, als es 1944 militärisch längstens möglich
war, Auschwitz-Birkenau und die Schienenwege dorthin aus der Luft zu fotografieren
und zu bombardieren.53

«Wenn ich gewusst hätte, was sich drüben im Reich abspielte... »

Nicht wissen wollen, nicht gesehen haben- das gilt buchstäblich und bildlich auch für
die Schweiz, die nicht nur meisterhaft im Tabuisieren der «Judenfrage» war, sondern
es auch in Hinsicht ihrer deutschen «Endlösung» blieb: Im Frühling 1942 gelangten
erste Fotografien über die Greueltaten der Nazis im Warschauer Getto durch Teilneh-
mer der offiziellen Schweizer Ärztemission in die Schweiz.54 Die Bilder und Beweis-
stücke sind aber wegen der absoluten Schweigepflicht, der die Teilnehmer der Ärzte-
mission unterworfen wurden, nicht in «falsche» Hände geraten. Nicht schweigen
wollte einzig Rudolf Bucher, Chefarzt des Armee-Blutspendedienstes, der schonungs-
los über die von den Nazis begangenen Greuel berichtete und von den Bundes-
behörden unter grössten Druck gesetzt wurde. 55 Beweise in Form von Bildmaterial
besass die Bundesanwaltschaft in Bern bereits im Frühjahr 1942. Ein weiterer Teilneh-
mer der Ärztemission, Franz Blättler alias Max Mawick, hatte im Warschauer Getto
heimlich die Greuel fotografiert, wurde aber zu Hause mit Publikationsverbot belegt.
Fast gleichzeitig schickte Franz-Rudolph von Weiss, Schweizer Konsul in Köln, eine
Fotoserie von der Ostfront an den Chef der Schweizer Abwehr, Roger Masson, die den
Auslad vergaster Juden aus Viehwaggons dokumentierte. 56 Alle diese Materialien
blieben unter Verschluss.
Für die Schweiz liegt heute eine Arbeit von Gaston Haas vor, die das Wissen um
den Greuel, der aus den Bildern und Berichten sprach, bei den wichtigen Departementen
in Bem eingehender dokumentiert. Von seiner Untersuchung erfasst sind das Politi-
sche Departement, das Justiz- und Polizeidepartement, die Armee und das Militär-
departement sowie die Bundesanwaltschaft. Das Ergebnis straft nicht nur das von
Bundesrat von Steiger im Nachwort zum Ludwig-Bericht vorgebrachte Wort, «Wenn
man gewusst hätte, was sich drüben im Reich abspielte ... », für alle Teile der Behörden
408 6. KAPITEL

Lügen. 57 Bezeichnend am Resultat dieser Untersuchung ist der Nachweis des frühen
Zeitpunktes, in dem die neutrale Schweiz über genaueund zusammenhängende Infor-
mationen verfügte. Die massgeblichen Instanzen waren «über das Vernichtungs-
programm der Nationalsozialisten gegen die Juden in Buropa praktisch von Beginn an
ausgezeichnet informiert».58 Die ersten Nachrichten, dass das «Dritte Reich» seine
verbalen Drohungen gegen unerwünschte Minderheiten in die Tat umzusetzen gewillt
war, erreichten das Politische Departement bereits Anfang 1941 und dann im Herbst
darauf mit Berichten über die Vernichtung «lebensunwerten Lebens». Nach dem
deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 wurde die Schweizer Regierung
durch ihre Botschafter wiederholt über die Massenerschiessungen von Juden infor-
miert. Besonders Rene de Weck in Hukarest war Ende Juli 1941 überzeugt, dass das
Morden System hatte, und fuhr auch 1942 unablässig fort, Bern über die Massen-
vernichtung in Osteuropa zu informieren. Seine Informanten stammten zumeist aus
Offizierskreisen der Achsenmächte, was ihnengrosse Glaubwürdigkeit verlieh. Bukarest
war dabei nur eine, wenn auch exponierte Station, von der das Politische Departement
mit Nachrichten versorgt wurde. Sein Vorsteher, Bundesrat Marcel Pilet-Golaz, hatte
seine Gewohnheiten nicht geändert und alle Berichte mit seinen Initialen und dem
Datum, an dem er die Berichte gelesen hatte, versehen.
Zu dieser Zeit waren die polnischen Juden längstens ghettoisiert und mussten
hungern und frieren. Seit Sommer 1941 mordeten die deutschen Einsatzkommandos
systematisch an der Ostfront, ab Ende Jahr wurde in Chelmno und Auschwitz
regelmässig vergast, dann kamen Belzec und Sobibor. Ende Januar 1942 wurden an
der Wannseekonferenz in Berlin Ministerien und Ämter zur «Endlösung» mobilisiert,
und im März setzten die ersten Massentransporte nach dem Osten ein. Hitler hatte
1939 bis 1941 in seinen jeweiligen Reden zum Tag der Machtergreifung wiederholt
den «Untergang des jüdischen Volkes in Europa» angedroht. Wie es im einzelnen zu
dieser Politik der faktischen Vernichtung gekommen ist, ob funktional aus einem
bürokratischen Prozess, ob dynamisch aus einem selbsttätigen SS-Staat oder im Ge-
genteil intentional aus befohlener Politik, darüber streiten sich heute die Historiker.59
Im Herbst und Winter 1941 hatte sich in Bern der Kreis der Wissenden auf die
Bundesanwaltschaft und den Sicherheits- und Nachrichtendienst der Armee erweitert.
Beide Instanzen erfuhren durch Augenzeugen und deutsche Deserteure, die teilweise
an den Verbrechen selbst teilgenommen hatten, detailliert und wiederholt, was bei
Erschiessungen und Massakern vor sich ging. 60 Ähnliche Informationen, wie sie
bereits das Politische Departement besass, waren dem Armeestab spätestens im Herbst
1941 zugekommen. Die letzten möglichen Zweifel an der Authentizität solcher Aussa-
gen waren in den höheren Rängen des Abwehrdienstes spätestens im Frühjahr 1942
durch die belegten Bildmaterialien ausgeräumt. Klar über das Ausmass der Vernich-
tung, wenn auch einig in der Unterdrückung ihrer Bekanntmachung waren auch der
konservativ-katholische Bundesrat Philipp Etter und Pierre Bonna, Chef der Auswärti-
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 409

gen Abteilung, als sie im Oktober 1942 mit den IKRK-Spitzen Edouard de Haller und
Carl J. Burckhardt zusammen den vorgesehenen Appell des Roten Kreuzes torpedierten.
Seit 1942 drängte der WJC mit Guggenheirn und Riegner in Genf darauf, die Juden in
den Gettos als Zivilinternierte zu anerkennen. Doch dies blieb ebenso ungehörtwie das
jüdische Verlangen nach einem Appell.M Das IKRK schwieg unaufhörlich; der Filz
aus Politik, Armee, Kriegswirtschaft und humanitärem Dienst hielt dicht. 62
Der Kreis der Wissenden in der Schweiz war also bis Sommer 1942 bereits
erheblich gewachsen, er verfügte über hervorragende diplomatische Verbindungen,
wahrte aber tunliehst sein Schweigen. Ob eine Übermittlung der vielen Berichte an die
Regierungen in London und Washington die langfädigen Abklärungen und das sehr
zögerliche Verhalten der Alliierten beeinflusst hätte, muss dahingestellt bleiben. Was
Bern betraf: Im März und Mai 1943 schoben verschiedene Botschaften dem EPD, dem
EJPD sowie der Abwehr neue Berichte nach, die in aller Deutlichkeit das System und
die Vorgänge in den einzelnen Vernichtungsstätten schilderten.
Im Gegensatz zu dieser frühen Gewissheit waren Berichte in der Presse vor dem
Sommer 1942 kaum zu hören. Das Leiden der Juden im Osten war nicht von Interesse.
Kein Thema war der Genozid bei der Neuen Zürcher Zeitung in dieser Zeit. Auch das
Israelitische Wochenblatt scheute sich, über die Erschiessungen und später die
Vergasungen in aktueller und konkreter Darstellung zu berichten. Selbst Zeitungen aus
dem linken Spektrum, wie die Nation, das Volksrecht und die Sentinelle, taten sich
schwer mit den grauenhaften Informationen, die aus wenig überprüfbaren Quellen
kamen. Massgeblichen Anteil an der Unterdrückung von Nachrichten hatte offensicht-
lich auch die Pressezensur, die der Armee unterstand und unter dem Druck des EPD
und EJPD bisweilen äusserst hart gegen missliebige Redaktionen einschritt. Im Vorge-
hen gegen die Nation spielten ausserdem antisemitische Motive eine Rolle. Noch
lange wurden Meldungen über den Genozid als «Greuelpropaganda» abgetan, die als
antideutsche Haltung interpretiert und somit zensuriert wurde. Erst der Sommer 1942,
als im Westen die Deportationen der Juden aus dem benachbarten Frankreich einsetz-
ten, kann als Wendepunkt in der Berichterstattung betrachtet werden. Die Kritik der
restriktiven Flüchtlingspolitik durch grosseTeile der Bevölkerung sowie die Flüchtlings-
debatte im Nationalrat vom September 1942 waren eine direkte Folge davon. Trotz
Intervention seitens der Deutschen Gesandtschaft und der Erpressbarkeit von Pilet-
Golaz wurde im Verlaufe des Jahres 1943 die Ausrottung in der schweizerischen
Öffentlichkeit publik. Zunehmend bemängelte die staatliche Pressestelle 1943 an den
Berichten der Nation, der Sentinelle, des Volksrechts und des Israelitischen Wochen-
blattes nur noch Details und technische Mängel, nicht aber die berichteten Tatsachen
der Vernichtung. 63
410 6. KAPITEL

Jüdische Nachrichtenbeschaffung über die Schweiz

Die Schweiz im Krieg war nicht nur ein gesuchter Ort für fremde Geheimdienste,
sondern auch der vorgeschobene Posten für die jüdischen Organisationen. Das Wissen
über den Holocaust, so wie es durch die Juden in der freien Welt bekannt gemacht
wurde, lief als erstes über die Schweiz als Nachrichtendrehscheibe. Dies bringt die
Rolle von Schweizer Juden in den Blick und damit wiederum ihr Verhältnis zu
Bundesrat, Beamtenschaft und Öffentlichkeit. Von Interesse ist zunächst aber die
Bedeutung der jüdischen Organisationen in der Schweiz und, international gesehen,
die anfängliche Zurückhaltung der jüdischen Verantwortungsträger in Amerika, die
Langsamkeit der öffentlichen Aufnahme und schliesslich die Ignoranz der alliierten
Regierungen im Westen.
Summieren wir also kurz die Erkenntnisse der ziemlich ausgedehnten Forschung. 64
Nach dem Russlandfeldzug im Sommer 1941 erreichten erste Berichte von vereinzel-
ten Massakern den WJC in Genf und London. Vom Herbst 1941 bis Frühjahr 1942
erschienen in einzelnen jiddischen und englisch-jüdischen Zeitungen die ersten Be-
richte über Massaker, die aber kaum ein Gesamtbild abgaben und keine systematische
Absicht erkennen liessen; die westliche Öffentlichkeit nahm auch kaum Notiz von
solchen Meldungen. Deutlicher erkennbar wurde die Systematik und das Ausmass der
Vernichtungsaktionen denjüdischen Organisationen erst im Frühjahr 1942. Im Febru-
ar und März erstellten in Genf die Jewish Agency und der WJC Berichte über die
Situation der Juden in Deutschland, den Niederlanden, Jugoslawien und Polen, die
detaillierte Angaben über Liquidationen enthalten und mit einer Million Toten bis
Ende Jahr rechnen. Im März 1942 überreichten Lichtheim und Riegner dem päpstli-
chen Nuntius in Bern ein detailliertes Memorandum, in der Absicht und mit der Bitte,
dass der Prozess der Vernichtung wenigstens in den katholischen Ländern unterbun-
den werde, was den Vatikan freilich nicht beeindruckte.65 Die Phrase «Extermination»
oder «Liquidation aller Juden» wird darin bereits mehrfach verwendet und auf die
Lage in den einzelnen Ländern hingewiesen. Im Mai 1942 veröffentlichte die polni-
sche Exilregierung in London autoritativ einen genauen Bericht des Bundes, wonach
700'000 Juden bereits tot seien; kurze Zeit danach sprach der WJC von mehr als einer
Million Opfern. Am 2. und 26. Juni sandte BBC den Bund-Bericht, der von einem
Gesamtplan der Vernichtung sprach, in den Äther.
Ende Juli 1942 erhielt Benjamin Sagalowitz, JUNA-Redaktor der SIG-Presse-
stelle, erstmals aus authentischer Quelle Angaben über den Gesamtplan der Vernich-
tung durch Giftgas. Ein deutscher Grossindustrieller, Eduard Schulte, der Zugang zu
Hitlers Hautquartier hatte, berichtete aus zuverlässigen Quellen eingehend und zwei-
mal darüber. Über Riegner und Guggenheim in Genf gelangten diese Informationen an
den WJC in New York und London. Das Riegner-Telegramm wurde zunächst von
Surnner WeHes, Unterstaatssekretär im State Department, unterschlagen. Einen weite-
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 411

ren frühen Bericht über Vergasungslager erhalten und an Sagalowitz weitergeleitet


haben will auch Chaim Pazner, der im Genfer Palästina-Amt beschäftigt war; seine
Quelle soll Edgar Salin gewesen sein, der die Information nach eigenen Angaben von
Artbur Sommer erhalten und an den amerikanischen BIZ-Präsidenten weitergegeben
hatte. 66 Anfangs September 1942 übermittelten die Sternbuchs und die Agudat Israel
aus der Schweiz konkrete Einzelheiten über Vergasung und Verarbeitung der toten
Körper zu Seife; besonders hoffte man, endlich mehr Publizität und Druck in der
britischen und amerikanischen Öffentlichkeit zu erzielen.67 Im November stellte der
Jewish Frontier erstmals eine zuverlässige und umfassende Dokumentation über den
Massenmord zusammen. Im gleichen Monat begannen die amerikanischen Juden ihre
zögerliche Zurückhaltung aufzugeben und mit Presse- und Aufklärungskampagnen an
die breite Öffentlichkeit zu treten.
Für die Schweizer Juden kann angenommen werden, dass die führenden Kreise in
SIG und VSJF den gleichen Stand an Information besassen wie die Vertreter der
internationalen jüdischen Organisationen im Land. Die Archivablage weist zum Bei-
spiel aus, dass Saly Mayer von Lichtheim und Riegner das Memorandum an den
päpstlichen Nuntius erhalten und einige Tage später, am 22. März 1942, in Bern an
einer Unterredung mit dem polnischen Botschafter Lados und dem päpstlichen Nuntius
in Prag, Monsignore Ritter, teilgenommen hat. Josef Kuhl, der diese Unterredung
arrangierte, hatte Mayer am 12. Juli auch einen kurzen Bericht über Pogrome gegen
Juden in Lernberg und die Lage in Rumänien gesandt. 68 Nicht aktenkundig hingegen
ist in Mayers Archiv, dass der SIG-Präsident von der Augustdepesche Riegners
gewusst hat. Doch kann man davon ausgehen, dass über Guggenheim in Genf und
Sagalowitz in Zürich die Einzelheiten der SIG-Führung bekannt wurden. Obwohl
zwischen diesen beiden und Mayer wenig gegenseitiges Einvernehmen herrschte, gab
es kaum Grund, die Hiobsbotschaft zurückzuhalten. Allgemein darf auch angenom-
men werden, dass in der kleinen jüdischen Gemeinschaft der Schweiz diese Nachrich-
ten schnell von Mund zu Mund zirkulierten - wenn auch mit dem bedeutsamen
Unterschied, dass in den Boten des Holocaust mehr die Zuträger eines unglaublichen
Gerüchts statt einer glaubhaften Tatsache gesehen wurden.

Rassismus und langsame Internalisierung

In den Protokollen des SIG tauchen genaue Benennungen für den Genozid wie
«Tötung», «Vergasung» oder «Vernichtung» nicht auf. Ausgenommen am 20. August
wurde, wie wir sehen werden, in Anwesenheit Rothmunds davon gesprochen, wenn
auch mit dem vorsichtigen Vorbehalt, es handle sich um ein Gerücht. Die Scheu der
Schweizer Juden, die Schreckensnachrichten zu glauben und davon wirklich zu spre-
chen, steht in Übereinstimmung mit den Reaktionen von Juden in anderen freien
412 6. KAPITEL

Ländern. Selbst Riegner, dessen WJC-Kabel den detaillierten Bund-Bericht schock-


artig bestärkte, fügte in seinem Telegramm hinzu, dass die übermittelte Information
nicht gerrau bestätigt werden könne. Und dessen Empfanger, WJC-Präsident Stephen
S. Wise, versprach in Washington anfanglich, die Information zurückzuhalten, bis er
sich dann bald entschloss, sie dennoch publik zu machen. Kein Wunder, dass auch die
amerikanischen Übermittler des Telegramms den Inhalt nicht glauben wollten: In der
Schweiz suchte Konsul Paul C. Squire zunächst herauszufinden, was daran wahr sein
könnte; und in Washington liess dann das State Department das Telegramm in der
Schublade verschwinden. Squire fand sich erst im November restlos überzeugt, als
ihm Carl J. Burckhardt im IKRK bestätige, dass die Wendung <~udenfrei» wirklich
tödliche «Vernichtung» bedeute. Das Wort «Vernichtung» in Hitlers Reden hatte auch
demisraelitischen Wochenblatt bisher etwas anderes bedeutet als systematische Massen-
tötung mit industriellen Mitteln. Man verstand darunter Entrechtung, Niedergang der
Gemeinden und Sozialstrukturen, dann die Vertreibung und allenfalls einzelne Pogrome.
Dies schien alles noch im Bereich des Vorstellbaren zu liegen, nicht aber ein Massen-
genozid.69
Dabei berichtete das Wochenblatt seit April1942 eingehend über alles, was aus
nichljüdischen und jüdischen Quellen öffentlich bekannt war, besonders über die
Deportationen nach dem Osten. Doch Ton und Terminologie sind von Zaudern und
Pessimismus geprägt, die redigierten Texte berichten in gedämpfter und zurückhalten-
der WortwahL Am 22. April1942 wird auf die Not in Polen und die Deportationen aus
Deutschland und Griechenland aufmerksam gemacht; eine Woche später folgt ein
Bericht über die Deportationen aus Wien. In den Juniausgaben fallen Berichte ins
Auge, die von einem «Erwachen der amerikanischen Juden» und der Sensibilisierung
der Öffentlichkeit in den USA sprechen. Am 17. Juni wird über «verschärfte Mass-
nahmen» gegen Juden in Belgien, den Niederlanden und Frankreich berichtet. Zum
ersten und detaillierten polnischen Schwarzbuch titelt das Wochenblatt mit der Frage
«Wie gross sind die Kriegsopfer der Juden in Polen»- als würde es sich bei den Juden
um Kriegsteilnehmer handeln. «Dr. Schwarzbart in London behauptet, dass die Zahl
bereits eine Million übersteige», heisst es. In der gleichen Nummer glaubte das Blatt
noch der «deutschen Auffassung», die zu kleinen Gettos aus den polnischen Städten
auf das Land zu verlegen. Gleichzeitig wird die Ankündigung von Görings Hausblatt,
der Essener Zeitung, berichtet, die Juden Hollands zu «evakuieren». In der Ausgabe
vom 14. August werden die «Behauptungen» Schwarzbarts als Erklärungen des polni-
schen Abgeordneten Zygelbaum ausgewiesen. «Nur mit Zaudern» bekanntgeben will
das Wochenblatt gleichzeitig die «aus Frankreich durchsickernden Nachrichten, in
denen die Deportationen von Juden angekündigt wurden». 70
Ende August erkennt das Wochenblatt erstmals einen Zusammenhang zwischen
allen deutschen Aktionen, die mit erhöhtem Tempo vor sich gingen, spricht aber bloss
von einem «Gesamtplan, mit dem die Juden aus Europa verbannt» werden sollen. Die
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 413

folgenden Nummern im September sind erstrangig der nationalrätlichen Flüchtlings-


debatte gewidmet. Meldungen über Deportationen tauchen weiterhin vereinzelt auf
und nennen genaueZahlen über den Tod von Juden in Warschau, Lodz, Kroatien,
Rumänien, Litauen und Jugoslawien. Zum polnischen Schwarzbuch folgen Bestäti-
gungen in ziemlich generalisierender Weise. Aber eine systematische Absicht zum
Genozid wird nicht vermutet oder skizziert. Nirgends erscheint die Frage, was mit den
«Evakuierten» im Osten geschehe und ob die vielen kursierenden Gerüchte wirklich
wahr seien. Erst am 13. November wird der innerlich aufgestauten Beunruhigung
indirekt Ausdruck gegeben, weil das IKRK keine Antworten auf die Nachforschungs-
gesuche nach verschollenen Juden geben konnte. Erstmals Klartext spricht das Wochen-
blatt am 17. November in der Wiedergabe eines Berichts von Richard Lichtheim, der
auf dem Delegiertentag der schweizerischen Zionisten eine düstere Bilanz gezogen
hatte. «Heute gibt es keine lokalen Pogrome mehr, sondern eine systematische
Vernichtungspolitik», hatte Lichtheim in seinem Bericht festgestellt und scharfe Kritik
an der Lauheit des Diaspora-Judentums geäussert. Vom Wochenblatt wurde dies als
Exkurs über die historische Anomalie der Zerstreuung gelesen. Endgültig und konkret
wird im Wochenblatt zum Jahresanfang 1943 Bilanz gezogen, nachdem die alliierten
Regierungen ihre «Erklärung zur jüdischen Frage» abgegeben hatten. «Ausrottung»
und «Vernichtung» meint jetzt nicht mehr Evakuierung, Deportation, Separation oder
Aufhebung von jüdischen Institutionen, sondern physischen Tod von Millionen Men-
schen. Danach werden die wöchentlichen Berichte über Deportationen weitergeführt.
Am 26. März 1943 erfährt dann der Leser des Wochenblattes erstmals Einzelheiten
über den Genozid, so den Gebrauch von Maschinengewehren, Giftgas und elektri-
schen Zäunen. Im Verlaufe des Jahres 1943 werden Berichte über Deportationen
immer mit Tod und Vergasung identifiziert.
Dass das Israelitische Wochenblatt sehr viel psychischen Widerstand bekundete,
den Berichten über die Vernichtung zu glauben und darin eine systematische Absicht
zum Massenmord zu sehen, hat die Redaktion nach 1943 selbst zum Thema gemacht.
So heisst es am 8. Januar 1943: «Ist demnach alles wahr und wirklich, was man über
die grauenhaften Vorgänge in Polen munkelte und das wir mit einem letzten Rest von
Glauben an die Menschheit als phantasiegeborene Märchen zu nehmen geneigt wa-
ren?» Der Leitartikel vom 29. Juni 1943 reflektiert auf die falsche semantische Spur,
nach der sich der Gebrauch des Wortes «Ausrottung» bisher richtete: Man habe sich
irreleiten lassen, weil mit diesem Schlagwort in Presse- und Amtssprache nur Polemik
und Theorie gemeint gewesen sei, nicht aber die tatsächliche Umsetzung. Bezeichnend
ist auch ein Bericht aus London in der gleichen Ausgabe: «Wir glaubten diese
Nachrichten nicht. Es ist nicht möglich, dass im Krieg unschuldige Menschen erschos-
sen und ganze Völker ausgerottet werden. Es ist undenkbar, dass selbst unsere Feinde
sich derart gegen die Grundsätze des Kriegsrechts vergehen.» 71 Eine solche Notiz
signalisiert keine belanglose Rückschau. In den zwei folgenden Jahren tobten unter
414 6. KAPITEL

den jüdischen Organisationen in der freien Welt heftige Kontroversen über Rettungs-
möglichkeiten. Aufkommende Schuldgefühle wurden mitunter in scharfer Kritik an
den jüdischen Eliten ausgelebt. Auch in der Schweiz spiegeln sich diese Vorgänge in
den unterschiedlichen Berichten und Beiträgen des Wochenblattes. 72 Gleichzeitig drück-
ten die Juden in der Schweiz ihr Mitleiden bereits früh aus, indem sie die Trauer in
religiös-liturgischen und säkularen Formen des Gedenkens kanalisierten. 73
Die anhand desisraelitischen Wochenblattes skizzierte Mühe mit der Internalisierung
des Holocaust lief zu jener der Juden in Grossbritannien und Amerika zeitlich parallel.
Der Unterschied lag darin, dass die Schweizer Juden ein anderes politisches Umfeld
und eine geostrategisch besonders gefährdete Position innehatten, was ihren Publika-
tionen eine andere Bedeutung gab. Auf dem europäischen Kontinent war das Wochen-
blatt die einzige deutschsprachige jüdische Zeitung. Bezeichnend ist die Urteils-
begründung zum Fall des Nazipropagandisten Julius Streicher in den Nürnberger
Nachkriegsprozessen. In den Aussagen leugnete Streicher hartnäckig, Kenntnis von
den Massenhinrichtungen der Juden erhalten zu haben. Die Militärrichter in Nürnberg
wussten dies zu widerlegen: «Das Beweismaterial ergibt jedoch klar, dass er unausgesetzt
laufend Kenntnis von den Fortschritten der <Endlösung> erhielt [...]. Die jüdische
Zeitung <Israelitisches Wochenblatt>, die Streicher erhielt und las, brachte in jeder ihrer
Ausgaben Berichte über die Greueltaten gegen die Juden im Osten und Angaben über
die Zahl der Juden, die deportiert und getötet wurden[ ... ]. Im November 1943 zitierte
Streicher wörtlich einen Artikel aus dem <Israelitischen Wochenblatt>, in dem es hiess,
dass die Juden tatsächlich aus Buropa verschwunden seien, und bemerkte hierzu: Das
ist keine jüdische Lüge.» 74
Gelesen wurde das Israelitische Wochenblatt auch in Bern, wo sehr viel früher
und mehr Nachrichten über den Massenmord vorlagen, als der SIG «aktenkundig»
nachweisen konnte, wie dies im Bundeshaus als Beleg gefordert wurde. Die entspre-
chenden Aktenbestände des Bundesarchivs enthalten immer wieder Nummern des
Wochenblattes. Ihre jüdischen Schweizer über Einzelheiten oder Ausmass der Ver-
nichtung zu informieren - dazu fanden der Bundesrat, die Auswärtige Abteilung, der
Armeestab oder die Fremdenpolizei keinen Anlass. Im Gegenteil: Zur Logik der
finanziellen Erpressung und der verdeckten Judenpolitik gehörte es, die Grenze für
die Fremden aus «Rassengründen» zu schliessen. Nachrichten über den Holocaust an
ihre loyalsten Schweizer, wie es die Schweizer Juden sein wollten und waren,
weiterzugeben wäre wohl kaum im Sinne der antisemitischen Flüchtlingspolitik
gewesen. Eine solche Einlösung moralischer Verpflichtung wäre vor allem nicht im
Kalkül der eidgenössischen Aussenpolitik gestanden. Die Ereignisse des Tages be-
stimmten das Zensur- und Pressewesen, das sich taktisch nach den Erfolgen des
«Dritten Reichs» orientierte. Die angepasste Aussenpolitik war Leitplanke nicht nur
für die gescheiterte Asylpolitik, sondern auch für die Unterdrückung der Nachrich-
ten. Dass dies keine nachträgliche Interpretation ist, spricht aus dem Kommentar von
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 415

Steigers zum Ludwig-Bericht. Er berief sich schon auf der zweiten Seite darauf, dass
er während seiner gesamten Amtszeit von Riegner (WJC) oder von Sagalowitz (SIG)
«nie irgendwelche Mitteilungen» erhalten habe; wenn man das Departement oder gar
den Bundesrat beurteilen wolle, so müsse man sich klar darüber sein, dass 1942
«diese Unterlagen nicht vorhanden waren». 75 Sie sind in der Tat «nicht vorhanden»:
Es wurde schon einmal erwähnt, dass sich diese apologetische Aussage weder
verifizieren noch falsifizieren lässt, weil die Akten der Magistratur von Steiger,
welche diese jüdischen Organisationen und Personen betreffen und nachweislich
bestanden, vom Departement gar nie ins Bundesarchiv gelangten. 76 Nach Akten- und
Forschungslage lässt sich heute aber für alle Departemente noch einmal feststellen,
dass die Schweizer Regierung ebenso gut, wenn nicht besser und früher als die
alliierten Regierungen informiert war.

EIN SCHWARZER AUGUST 1942 UND SEINE FOLGEN:


DIE SCHWEIZ, DIE FLÜCHTLINGE UND DIE KRISE IM SIG

Am 4. August beschloss der Bundesrat die Massnahmen, die in vermehrtem Masse


Rückweisungen von Zivilflüchtlingen geboten, auch «wenn den davon betroffenen
Ausländern ernsthafte Nachteile (Gefahren für Leib und Leben) erwachsen können».
Diesen Beschluss interpretierte Rothmund am 13. August dahin, dass «Flüchtlinge nur
aus Rassegründen» nicht als politische Flüchtlinge anzusehen seien. Nach heftigen
Protesten in Parlament und Öffentlichkeit wurden die Massnahmen kurzfristig gemil-
dert, dann aber Ende Jahr in verschärfter Form weitergeführt. Der Bundesrat beschloss
am 29. Dezember, die diskriminierende Unterscheidung «Flüchtlinge aus Rasse-
gründen» aufrechtzuerhalten. Die Praxis der Rückweisungen richtete sich in erster
Linie gegen Juden aus dem besetzten Frankreich, unter ihnen Greise und Kinder, die
sich der drohenden Deportation zu entziehen suchten. Insgesamt wurden seit dem
August 1942 binnen Jahresfrist 9703 Flüchtlinge weggewiesen. Die Gesamtzahl von
heute nachgewiesenen Wegweisungen von 24'398 ist tatsächlich weit höher zu schät-
zen. Hinzu kommt die abschreckende Wirkung der Massnahmen, die viele Verfolgte
davon abhielt, überhaupt in die Schweiz zu flüchten. ?6a
Die Vorgänge um den Bundesratsbeschluss und die Weisungen der Fremden-
polizei von Anfang August erscheinen im Ludwig-Bericht hauptsächlich als Werk der
Fremdenpolizei. Der Bundesrat folgte den Erwägungen der Chefbeamten Rothmund
und Jezler. Das Protokoll der Bundesratssitzung selbst erteilt keine Auskunft über die
Diskussion, sondern gibt nur den Beschluss der Regierung wieder. Nachdem Rothmund
am 8. August für einen Augenschein an die Grenze im Jura gefahren war, erliess er
416 6. KAPITEL

fünfTage später sein Kreisschreiben, das von Forschern und Kritikern ins Zentrum der
Aufmerksamkeit gestellt wurde. Die vertrauliche Order vom 13. August ging dabei
nicht nur an die kantonalen Polizeidirektoren und -kommandos, sondern auch an jene
Stellen, die zu diesem Zeitpunkt über Massaker, Massenerschiessungen und Depor-
tationen genauer im Bild waren. Nebst der Oberzolldirektion wurde das Kreisschreiben
vor allem an das Armeekommando, die Abteilung für Auswärtiges und die Bundes-
anwaltschaft gesandt. 77

Abschiebung der Flüchtlinge in den Tod und Desavouierung der jüdischen Flüchtlings-
politik

Zwei Tage vor Rothmunds Kreisschreiben hatte der SIG-Präsident sich vom St. Galler
Zweigstellendirektor der Nationalbank sagen lassen müssen, dass die Schweiz keine
jüdischen Dollars mehr konvertieren werde. Wir haben davon und von Rothmunds
Interesse an der Geldbeschaffung durch die Schweizer Juden schon berichtet. Im Juli
1942 hatte Mayer Rothmund auf die unerfreuliche Aussicht hingewiesen, dass jetzt der
VSJF von der fremden Finanzhilfe abgeschnitten werde. Zwar meinte Mayer im
Central-Comite am 20. August, dass Geld keine Rolle bei den Beratungen mit den
Behörden gespielt habe. Doch erscheinen in den SIG-Protokollen vom Sommer und
Herbst 1942 die finanziellen Garantien und die Schwierigkeiten des Transfers immer
wieder in der Diskussion. Mayer fürchtete andererseits eine gezielte Publizierung der
von JDC und SIG geleisteten Beiträge, weil dieses moralische Druckmittel die öffent-
liche Aufmerksamkeit auf die Juden lenken würde. Das antisemitische Zerrbild vom
angeblichen «Finanzjudentum» und ganz allgemein das frostige Klima der letzten
Jahre sassen im Nacken. Mayer schilderte dem Central-Comite am 24. September
noch einmal den «Dualismus, der darin besteht, dass wir nicht Stellung gegen die
Flüchtlingsinvasion beziehen, aber für deren Folgen aufkommen» müssen. Darauf
beschloss das Comite auf Antrag Saly Braunschweigs, das gesamte Vermögen des
Gemeindebundes vorschussweise der jüdischen Flüchtlingshilfe abzutreten. Die Kasse
wurde also vollständig geleert, aufZusehen hin und in der Hoffnung, dass die National-
bank ihre Blockade gegen die jüdischen Dollars bald aufheben werde. 78
Die ersten Meldungen über die an der Westgrenze einsetzende Flüchtlingswelle
waren dem SIG am 9. August zugegangen. Aus dem Bericht Mayers erscheinen die
Vorgänge anfangs August wie folgt: Der SIG setzte gleichentags die SZF und das SRK
in Kenntnis, dass aus seiner Sicht die neue Situation finanziell und asylrechtlich die
gesamte Schweiz betreffe und eine breitere Abstützung der Hilfe erheische. Der VSJF
versandte zwei Tage später, am gleichen Tag als der Dollartransfer endgültig blockiert
erschien, ein Zirkular an seine Lokalgruppen, das in der Frage der Versorgung auffor-
derte, jetzt an die Behörden zu gelangen. Mayer nahm am 11. August durch das SRK
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 417

einen erschütternden Bericht des französischen OSE-Vertreters JosefWeill entgegen,


der über die Details der Deportationen handelte. Schwartz in Lissabon wurde tele-
fonisch informiert, um die JDC-Zentrale in New York zu unterrichten. Am 13. August
sprach der SIG-Präsident bei Rothmund vor, der gleichentags sein Kreisschreiben
versandt hatte und nun Mayer vor vollendete Tatsachen stellte. Mayer antwortete, das
Asylrecht müsse hochgehalten und dürfe nicht vor aus- oder inländischem Druck
gebeugt werden. Dann versprach er neues Geld, das er sich von Schwartz in Lissabon
erhoffte; angesichtsdes neuen Unglücks würden weitere Mittel von den Juden bereit-
gestellt, nötigenfalls würden die SZF und die konfessionellen Hilfswerke die Basis
erweitern. Doch Rothmund liess sich von der jüdischen Überschätzung, mit Geld die
«Verjudung» der Schweiz lösen zu können, nicht beirren. Er bot sich an, dem Central-
Comite die behördlichen Rückweisungen selbst zu erörtern. An von Steiger schrieb er
gleichentags eine «lange Epistel», um ihm und sich selbst noch einmal «die ersten
harten Tage, auf die es erfahrungsgernäss ankommt», vor Augen zu führen. Inzwi-
schen trafen beim SIG am 15. August weitere Einzelheiten über die Behandlung der
Deportierten im Osten und in Warschau ein. 79
Am 20. August erschien Rothmund mit einem Mitarbeiter vor dem Central-Comite
des SIG, nachdem zwei Tage zuvor in einer Zusammenkunft mit dem VSJF Rothmund
die Massnahme genauer bekanntgegeben hatte. Jetzt suchte der Polizeichef dem SIG
sein eigenes Kreisschreiben zu rechtfertigen, indem er einen umständlichem Rück-
blick auf die eidgenössische Asylpraxis gab. Gernäss SIG-Protokoll, das vom Basler
Anwalt Marcus Cohn angefertigt wurde, scheint Rothmund die Weisungen als einen
«Beschluss» im Sinne eines früheren Bundesratsbeschlusses aus dem Jahr 1939 ver-
kauft zu haben. Rothmund setzte auch politisch Druck auf: Wenn die Schweiz für die
Juden im Land ein Refugium bleiben wolle, sei Ordnung zu halten- auch wenn man
wisse, dass Hunderttausende in Gefahr seien. In der Diskussion wurde Rothmund auf
den Zweck der Deportationen und die Greuel im Osten ausdrücklich aufmerksam
gemacht. Nach einem zweiten, aus der späteren Erinnerung verfassten Protokollzusatz
sprach SIG-Vizepräsident Saly Braunschweig von der «Vergasung der Alten und
Kranken», die zur «chemischen Verwendung» benützt würden. Aus beiden Aufzeich-
nungen spricht die Mühe, den «Gerüchten» zu glauben und «selbst das Grauenhafteste
nicht mehr als unmöglich bezeichnen zu können». Sylvain S. Guggenheim, der sich als
zweiter Votant äusserte, bevor Rothmund und Schürch die Sitzung verliessen, verwei-
gerte seine weitere Loyalität gegenüber den Behörden. Der sonst behördenkonform
agierende VSJF-Chef stellte in Aussicht, der bislang geübten polizeilichen Melde-
pflicht bei illegalen Grenzübertritten nicht mehr nachleben zu können. Seine Mitarbei-
ter könne man nicht zu Komplizen der Verfolger machen, indem sie bei Rückschaffungen
in den Tod mithelfen müssten. 80
In der internen Diskussion wurde am 20. August der Bruch zu Bern sichtbar. Zwar
stand das Central-Comite der Politik Rothmunds ohnmächtig gegenüber, doch ging
418 6. KAPITEL

die jüdische Elite zur bislang geübten Politik des «Minhag Suisse» auf Distanz. Die
Zurückhaltung allen öffentlichen Debatten gegenüber, wie sie seit Jahren eingeübt
worden war, blieb zwar weiterhin bestehen. Doch wurde Rothrnund, dem an der
Sitzung soeben strikte «Vertraulichkeit» versprochen worden war, durch gezielte
Indiskretion torpediert. Der taktische Kompromiss sollte trotz aller Vorsicht das Ende
der Zusammenarbeit mit den Polizeibehörden bedeuten. Das Central-Comite beauf-
tragte als erstes zwei seiner Mitglieder damit, die «Öffentlichkeit zu alarmieren»,
zumal von nichljüdischer Seite der Unmut über die eidgenössische Bürokratie sich
abzuzeichnen begann. In Basel sollte Paul Dreyfus de Günzburg eine von den Basler
Juden inszenierte Intervention von Nationalrat Oeri bei von Steiger anlaufen lassen. In
Bern würde Georges Brunschvig seinen Freund, den Journalisten Hermann Boeschen-
stein, zu einer «Richtigstellung» der Zusammenarbeit des VSJF mit Rothmund veran-
lassen. Vor allen Dingen aber wollte der SIG die SZF über die Politik Bems und die
tödlichen Vorgänge im Ausland orientieren.
Oeri drohte zwei Tage später per Telegramm von Steiger eine innenpolitische
Krise an und forderte den sofortigen Empfangzweier Vertreter der Hilfswerke. Ger-
trud Kurz und Dreyfus de Günzburg wurden tags daraufbei von Steiger auf dem Mont-
Pelerin empfangen, wobei die mutige «Flüchtlingsmutter» weitgehend das Wort führ-
te. Ihre intensive Schilderung der deutschen Greuel beruhte auf einem mündlichen
Bericht des Genfer RELICO-Leiters Alfred Silberschein, der sie aus dem Munde eines
aus Polen zurückgekehrten Schweizers vernommen hatte. In Bem liess sich Brunschvigs
Freund Boeschenstein nicht zweimal sagen, was Not tat. Er rückte in der National-
Zeitung eine «Richtigstellung» der vertraulichen Zusammenkunft Rothmunds mit den
Schweizer Juden ein und machte damit den Bruch von SIG und VSJF mit dem
Polizeichef publik. Zugleich entfachte er mit dem Philosophen Hans Zbinden eine
Pressekampagne, die besonders gegen Rothmund gerichtet war. Beide Aktionen ver-
fehlten ihre Wirkung kurzfristig nicht: Am 23. August ordnete von Steiger an, in
besonderen Fällen von Zurückweisungen abzusehen, und Rothmund fand sich diesmal
in die Defensive gedrängt} 1
Beide Aktionen zeigen einmal mehr, dass die Schweizer Juden als kleine Gemein-
schaft weitgehend von stützenden Allianzen und der öffentlichen Stimmung abhängig
waren. Man wartete auf diese Stimmung, aber man konnte nicht als Windmacher
auftreten. Der Riss in der Zusammenarbeit mit den Behörden sollte möglichst nicht als
Werk des SIG erscheinen: Mayer war gegen die Publikmachung durch Boeschenstein
gewesen, und Dreyfus de Günzburg bedankte sich für die Audienz bei von Steiger in
emphatischem Ton, ohne Forderungen festzuhalten oder neu zu stellen. Über diese
zimperliche, aber begründete Vorsicht hinaus neigten die Juden dann eher dazu, diese
Interventionen als singuläre Erfolge zu deuten. Doch die Aktionen sind nur zu verste-
hen auf dem Hintergrund einer breiten Empörung, die durch das Land fegte. Nach
Bekanntwerden der Rückweisungen wurde in der Presse das Vorgehen moralisch
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 419

abqualifiziert und als unmenschlich, entsetzlich und lieblos angeprangert. Bei von
Steiger liefen in Bem wie an seiner Ferienadresse auf dem Mont-Pelerin seit dem
18. August Telegramme und Briefe ein, die mehrheitlich Proteste enthielten. Die
antideutsch eingestellten Kreise fürchteten mit der Verletzung des Asylprinzips den
Ausverkauf der politischen Heimat. Die Sozialdemokratische Partei und die liberalen
«Rebellen» im bürgerlichen Lager appellierten an von Steiger ebenso wie die Frauen-
organisationen, der Schweizerische Kirchenbund, die Guttempler, die Schweizer Liga
für Menschenrechte oder einzelne wie beispielsweiseRobert Grimm und der Luzemer
Stadtpräsident Max Wey. 82 Das Echo in der Öffentlichkeit brachte mit dem Thema der
«Juden» endlich das schon lange schwelende Misstrauen gegenüber der Aussenpolitik
zum Ausdruck. Der Protest gegen die Flüchtlingspolitik richtete sich also indirekt
gegen die Tendenzen der Anpassung an Nazi-Deutschland.83
Darin lag die Chance, aber auch die Grenze der Empörung in Presse und breiten
Volkskreisen. Dies zeigt die weitere Erfolgskurve der Flüchtlingsfreunde, auf die
gerade die mutigeren Geister im SIG angewiesen waren. Am 24. August wiederholte
Rothmund an einer Konferenz der SZF seine Erklärungen, die er vor dem Central-
Comite abgegeben hatte. Er musste sich diesmal «die tatsächlichen Zustände in
Frankreich, zum Teil von Augenzeugen geschildert», von nichtjüdischen Vertretern in
der Zentralstelle vorhalten lassen. In der stürmisch verlaufenen Sitzung entfachte sich
die Empörung an der fremdenpolizeilichen Interpretation, dass der Jude nicht als
politischer Flüchtling anzusehen sei. Rothmund und SZF einigten sich, die Ergebnisse
der Polizeidirektorenkonferenz abzuwarten, die vier Tage später in Lausanne tagte. Sie
brachte das Ergebnis, illegal Eingereiste im Land zu belassen und Flüchtlinge im
hohen Alter, im Kindesalter, mit Verwandten in der Schweiz sowie Kulturträger legal
anzuerkennen. Doch bereits eine neue, nach Altdorf einberufene Konferenz der Polizei-
direktoren zeigte den Unmut vieler Kantone, Flüchtlinge aufzunehmen oder finanziel-
le Mittel zu beschaffen. Auch politisch gerieten die Freunde einer weitherzigen
Flüchtlingspolitik unter Druck. Zwar war am 25. August eine entscheidende Lockerung
des Bundesratsbeschlusses vom 4. August erfolgt. In einer Flüchtlingsdebatte im
Nationalrat begegnete die These von Steigers, die Schweiz könne höchstens 7000
Flüchtlinge beherbergen, ablehnender Skepsis, besonders bei den Sozialdemokraten,
Liberal-Konservativen und Unabhängigen, die kein Regierungsmitglied stellten. Doch
erhielt von Steiger von den Fraktionen weitgehend Sukkurs für seine Haltung, das
Asyl als Akt der Gnade zu wahren, aber mit harter Hand und festen Grenzen zu
praktizieren.
Befürworter und Gegner: Die Tragödie um die Schliessung der Grenze war mit der
nationalrätlichen Debatte nicht zu Ende. Während die Neue Helvetische Gesellschaft
vehement für eine offene Schweiz eintrat, forderte der Vaterländische Verband wie-
derholt, die Grenzen überhaupt zu schliessen. In der Flüchtlingspolitik registrierte eine
vom ZürcherForum Helveticum durchgeführte Gesprächsrunde, die von der Bundes-
420 6. KAPITEL

anwaltschaft an das EJPD gemeldet wurde, einen zunehmenden Antisemitismus unter


Jugendlichen, Kleinbürgern und Offizieren. Der «Antisemitismus» wurde nun wieder
als politischer Hebel eingesetzt. Der Vaterländische Verband setzte von Steiger wie-
derholt unter Druck, die <Judenfrage» durch eine harte Hand in der Flüchtlingspolitik
zu vermeiden. Im Gegensatz dazu dachte die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft
Frau und Demokratie daran, in einem «eidgenössischen Brief» solchen Anfängen zu
wehren und sich für die Verfolgten einzusetzen. 84 Schuld und Unschuld auch in den
Zuweisungen der patriotischen Populisten: Eugen Bircher, einst Leiter der Ärzte-
missionen und autoritäre Figur in den Rollen als Militär, Arzt und Politiker, bekämpfte
vehement die Pressefreiheit und schob dafür den Flüchtlingen die Schuld zu. Im
Gegensatz zu diesem trüben Spiel nahm der bekannte Reiter und Journalist Hans
Schwarz die Presse- und Flüchtlingspolitik in Bern scharf aufs Korn und unterlief die
Zensur mit Flugblättern, die unter der Hand weitergereicht eine «Auflage von mehr als
100'000 erreicht haben» sollen. 85 Von Steiger und Bundesanwaltschaft intervenierten
bei den Redaktionen der Presse, Schwarz nicht zu Wort kommen zu lassen. Dafür fand
sich von Steiger durch einige Schreiben mit antisemitischen Untertönen sekundiert,
darunter vom Schriftsteller-Verein aus Zürich, der auf drei gestopften Seiten sich in
Berufsneid übte. 86
Staatsräson und Menschlichkeit also in Bern: Zunehmender Druck der Armee-
leitung, mangelnde Bereitschaft der meisten Kantone und die Abschreckungspolitik
des Justizchefs kontrastieren mit einem unvermittelt anschwellenden Strom von flüch-
tenden Juden. Die Polizeidirektoren sperrten sich gegen die Aufnahme von Flüchtlin-
gen. Indes zitierten diplomatische und jüdische Kreise in London von Steigers Wort,
dass hunderttausend Juden in die Schweiz zu gelangen suchten, von denen aber das
Land nicht einmal zehn Prozent aufnehmen wolle. Die Schweizer Botschaft in Wash-
ington meldete dem EJPD, keinerlei offizielle Kritik der Amerikaner an der Schweiz
zu verspüren, zumal das Verlangen humanitärer Organisationen, vermehrt US-Visen
zur Entlastung der Schweiz auszugeben, erfolglos bleibe. Dafür geiferte der national-
sozialistische Völkische Beobachter, die Schweiz mache sich zur Plattform einer
jüdischen Hetze gegen das Reich, was im neuen Europa nicht geduldet werden
könne. 87 Die weiterhin aussenorientierte und schwankende Politik des Bundesrates
endete mit der endgültigen Abriegelung im Winter 1942/43: Am 26. September
wurden die Grenzorgane wiederum angewiesen, Juden nicht als politische Flüchtlinge
zu betrachten; Ende November wurde die Weisung kurzfristig zurückgenommen, als
die Deutschen die unbesetzte Zone Frankreichs okkuppierten; und am 29. Dezember
ordnete eine weitere Weisung die sofortige Rückweisung aller «illegalen» Flüchtlinge
an. Am Ende blieb eine verbal harte Politik, mit der infamen rassistischen Diskriminie-
rung in den offiziellen Texten, die in der Praxis dank Freunden und zum Widerstand
entschlossenen Helfern der Flüchtlinge aber nicht rigoros durchgesetzt werden konn-
te.ss
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 421

Die Schweizer Juden wussten: Die Freunde der Flüchtlinge hatten so lange etwas
Wind im Rücken, wie die öffentlichen Gemüter noch bewegt waren und das behördli-
che Portemonnaie stimmte. Auch aussen- und kriegspolitisch war die Lage der Schweizer
Juden nicht ermutigend. Die deutsche Invasion im Osten schien wohl die Kräfte, die
das «kleine Stachelschwein Schweiz» bedrohen konnten, zu binden, aber die Wende
von Stalingrad war noch lange nicht absehbar. Und der amerikanisch-jüdische
Geldzufluss war nun also unterbunden. In der SZF hatte der VSJF zweimal erklärt,
zahlungsunfahig zu sein, solange «einerseits das Solidaritätsopfer wegfällt, anderer-
seits der Transfer der amerikanischen Beiträge fragwürdig geworden ist». 89 Den Mit-
gliedern der SZF wurden die von den in- und ausländischen Juden aufgebrachten
Gelder vorgerechnet. Die SZF stellte zwar spontane Mithilfe in Aussicht, die in jener
schweizerischen Sammlung resultierte, die oben analysiert worden ist. Doch kam der
VSJF mit seinen politischen Anträgen im SZF nicht oder nur langsam durch. Zustim-
mung, aber lange kein breiteres Gehör fand das Verlangen, den Status des «politischen
Flüchtlings» auf die Juden auszudehnen. Der VSJF hatte bereits im August 1942 dem
SZF-Präsidenten eine entsprechende Definition des Flüchtlings gegeben, die Briner an
der Konferenz der Polizeidirektoren in Altdorf vorlegen sollte. Doch der linksbürgerliche
Briner war hier in seiner Doppelrolle deutlich mehr Zürcher Regierungsrat und Poli-
zeidirektor als Präsident der Zentralstelle, die er offensichtlich gouvernemental kon-
trollierte. Er setzte von Steiger, Rothmund und den Polizeidirektoren zwar die Finanz-
leistungen der Juden und noch mehr deren Schwierigkeiten, diese auch künftig zu
beschaffen, auseinander. Doch politisch stellte er sich grundsätzlich hinter die Polizei-
abteilung, verlangte eine schärfere Prävention durch eine viel besser abgeschlossene
Grenze, verneinte einen Rechtsanspruch auf Asyl und meinte gleichzeitig, es müsse
«vielleicht eine Verständigung über einen neuen Begriff des politischen Flüchtlings»
geschaffen werden. 90
Im Frühjahr 1943 stemmte sich der VSJF in der SZF von neuem gegen die infame
Ausgrenzung der Juden aus dem Begriff und Status des politischen Flüchtlings. Die
endgültige Sanktionierung der Weisungen, die am 29. Dezember 1942 wiederholten,
dass «Flüchtlinge nur aus Rassegründen» nicht anerkannt würden, brachte auch eine
Mehrheit im SZF dahin, schriftliche Forderungen an von Steiger zu stellen. Briner
stimmte zwar diesem wichtigsten Punkt wie schon früher zu, wollte aber von der
praktischen Konsequenz, an der Grenze Flüchtlinge nicht mehr zurückzuschaffen,
nichts wissen. Briner drohte mit einem Rücktritt, wie Guggenheim notierte: «Sollte die
Mehrheit der Zentralstelle darauf bestehen, dass in Bern das Verlangen gestellt werde,
keine Flüchtlinge zurückzustellen, so müsste er zu seinem Leidwesen als Präsident der
Zentralstelle zurücktreten.» Mit 22 zu 2 Stimmen scheiterte in der Sitzung vom
1. März 1943 der VSJF-Antrag, der die SZF verpflichtet hätte, beim Bundesrat gegen
die Rückweisungen zu protestieren. Im Central-Comite des SIG wurden daraufbereits
Stimmen laut, die der SZF die Mitgliedschaft aufkünden wollten. Doch war man im
422 6. KAPITEL

VSJF nüchtern genug, es nun mit Interventionen von Fall zu Fall zu versuchen. In der
Schweiz wurden im Verlaufe des Jahres 1943 offiziell insgesamt 3344 Flüchtlinge in
den Tod zurückgeschickt. Erst im Juli 1944 sollten die Weisungen von Ende Dezem-
ber 1942 aufgehoben werden.

Krisenstimmung und Umsturz in den jüdischen Organisationen

Um so mehr richtete sich bei den Juden das Versagen der offiziellen Schweiz gegen
innen. Der ständige äussere Druck, die offenen und verdeckten Anfechtungen, die
Gefühle der Ohnmacht, die Lasten vergangeuer Jahre-all dies zermürbte die Moral des
Standhaltens. Vor allem setzte der Schock des Holocaust, dessen Ausmass mehr und
mehr deutlich wurde, unter der kleinen Minderheit Energien frei, die gerade auch nach
innen kanalisiert wurden. Besonders aufwühlend wirkte der Fall eines belgiseben Ehe-
paars, das Ende August auf dem jüdischen Friedhof in Bern aufgefunden, von der
jüdischen Flüchtlingshilfe beim zuständigen Amt korrekt angemeldet, aber danach von
der Polizeiabteilung in den Tod ausgeschafft worden war.91 Die Schweizer Juden erlebten
insgesamt die asylpolitische Situation in einem Zustand der Lähmung, Anspannung und
Empörung zugleich. Hinzu kam, dass im Vorfeld der Asylproblematik von 1942/43 die
Affäre um den «ordre public» in Frankreich das Gefühl der Rechtssicherheit und das
eigene Selbstverständnis schwer augekratzt hatten. Der SIG geriet nun vollends in eine
innere Krise, die aus der Sicht vieler Zeitgenossen im Rücktritt Saly Mayers als SIG-
Präsident resultieren musste. Zwischen März und erst recht nach dem August 1942
zermürbte der Streit bis April1943 den SIG und auch einzelne Gemeinden.
Die tieferen Ursachen lagen indes weiter zurück. Wir haben bereits gesehen, dass
im Mai 1940, als in der ganzen Schweiz eine deutsche Invasion erwartet wurde, das
Central-Comite schnell und formlos den Beschluss gefasst hatte, den Sitz und die
Kasse nach Genf zu verlegen. Die fünfköpfige SIG-Leitung wurde auf drei Mitglieder
reduziert, wobei Georg Guggenheim als Aktuar und Alfred Goetschel als Kassier
entfielen. Der Dreierausschuss bestand demnach aus Mayer, seinem Genfer Vertrauten
Pierre Bigarund dem ICZ-Präsidenten Saly Braunschweig, der im Central-Comite
eine oft vermittelnde Position eingenommen hatte. In den späteren Diskussionen,
diesen Dreierausschuss wieder auf fünf Köpfe zu erweitern, gerieten im Central- ·
Comite vor allem Mayer und Guggenheim aneinander. Mayer hatte zwar für einen
neuen Fünferausschuss plädiert, doch deckte er in Sachtragen Pierre Bigar, der wie
Braunschweig eine Aufnahme Guggenheims bekämpfte. Den persönlichen Animositäten
lagen neben Fragen des politischen Stils sachliche Auseinandersetzungen zugrunde,
die hier bereits beschrieben worden sind. So hatte Georg Guggenheim 1941 Benjamin
Sagalowitz im SIG verteidigt und in seiner Position gehalten, als der JUNA-Redaktor
an Mayer interne Kritik geübt hatte. Guggenheim als SIG-Aktuar hatte während der
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 423

Affäre um den «ordre public>> auch darauf bestanden, die Eingabe an Pilet-Golaz zu
unterzeichnen. Mayer und vor allem Bigar waren hingegen bemüht gewesen, sowohl
Georg Guggenheim wie dessen Bruder Paul Guggenheim politisch den Wind aus den
Segeln zu nehmen. Mayer befürchtete damals, dass die sich in Bem beim Bundesrat
weit vorwagenden Brüder mit ihrem prinzipienorientierten Kurs dem vorwiegend
taktierenden «Minhag Suisse» entlaufen würden.
Im wesentlichen ging es also um die Frage, ob der SIG ein sehr niedriges oder ein
kantiges Profil gegenüber Bundesrat und Behörden einhalten solle. Im März 1942
waren erstmals die lang angestauten Konflikte und persönlichen Gegnerschafren in
einer offenen Aussprache des Central-Comites auf den Tisch gelegt worden. Bigarund
Braunschweig hatten ihren Rücktritt eingereicht, nachdem sich auf Anregung Goetschels
die Wiederbelebung des Fünferausschusses abzeichnete. Mayer glättete mit Hilfe des
Bemers Georges Brunschvig die Wogen der Kritik, indem der Dreierausschuss
suspendiert und eine Kommission gebildet wurde, die Vorschläge für die Zukunft
unterbreiten sollte. Diese beantragte im September, den SIG zu reorganisieren und an
einem ausserordentlichen Delegiertentag neue Statuten zu verabschieden. Zugleich
sollten sämtliche vom Central-Comite vergebenen Mandate annuliert und in der
Zwischenzeit ein fünfköpfiger Ausschuss zur Führung der Geschäfte eingesetzt wer-
den. Mayer gab für dieses Vorgehen den Stichentscheid. Gewählt wurde dann ein
Ausschuss, dessen fünf Köpfe mehrheitlich die Kontinuität der bisherigen SIG-Politik
verkörperten, während Guggenheim als bürgerlicher «Rebell» draussen blieb. 92
Inzwischen regte sich an der Basis, und dies hiess in den Gemeinden, in der
jüdischen Presse und bei Organisationen und Vereinen, vehemente Kritik. In öffentli-
chen und geschlossenen Versammlungen wurde dem SIG vorgeworfen, seine gesamte
Politik habe Schiffbruch erlitten und besonders in der Flüchtlingsfrage versagt. Beson-
ders markante Begründung der Kritiker: Der SIG politisiere nicht demokratisch und
pflege mehr die Beziehung zu den Behörden statt zu den eigenen Leuten. Unter den
SIG-Delegierten der ICZ rumorte es besonders stark, was Braunschweig als Präsident
dieser Gemeinde im Februar 1942 zu einer taktischen Rücktrittsdrohung als SIG-
Vizepräsident veranlasste. In der Aussprache des Central-Comites zielte Braunschweig,
der selbst das SIG-Schiff massgeblich mitgesteuert hatte, nicht auf den Kopf des SIG-
Präsidenten, sondern drehte die Kritik gegen das Central-Comite, das sich nur noch
selbst beweihräuchere. Die Kritik aus den ICZ-Reihen kumulierte dann im Herbst und
Winter 1942/43, als in der Budgetdebatte der Cultusgemeinde David Farbstein in
deftigen Worten die Leistungen des SIG und VSJF als mutlose «Erbschaften der
Ghettopolitik» abqualifizierte. Man habe wohl autoritär führen wollen, es aber in Bem
nicht gewagt, selbst aufzutreten und lieber die «Sonntags-Goijm» vorgeschickt. Als
besonders stossend prangerte Farbstein die frühere Mitgliedschaft eines SIG-Aktuars
beim Vaterländischen Verband an. Im Konflikt um den «Fall Guggenheim» sei der
Präsident nicht fähig gewesen, den SIG zu führen. 93
424 6. KAPITEL

Die Opposition gegen Mayer formierte sich denn auch vor allem um Georg und
Paul Guggenheim, die als Bürgerliche und Nichtzionisten zu einer Allianz mit Zionisten
und Sozialisten zusammenfanden. Im März 1942 war der Genfer Professor auf einer
Veranstaltung der Zürcher Kadimah aufgetreten, wo er die politische Unfahigkeit der
«von oben herab» regierenden jüdischen Führerschaft bemängelte und eine auf
Philanthropie verkürzte Denkart ausmachte. Anfangs November doppelte Paul
Guggenheim auf einem Forum der Zürcher Zionisten konkret nach: Die «Politik der
guten Beziehungen» zwischen SIG und Bundesverwaltung habe nicht zur «Normierung
eines allgemeinen Weges» geführt, sondern bloss zu Interventionen von Fall zu Fall;
der SIG-Präsident führe ein «autoritäres Regime» und übe bei der JUNAjene «innere
Zensur» aus, die deren Arbeit unwirksam mache; die Führung der Schweizer Juden
habe in der Flüchtlingspolitik geschwiegen, statt mit Bem zu verhandeln; der SIG
sperre sich gegenüber der Zusammenarbeit mit den internationalen politischen Organi-
sationen wie ZO und WJC. 94
Guggenheims Kritik formulierte das Unbehagen am «Minhag Suisse» besonders
deutlich, blieb aber nicht die einzige Stimme im Konzert der Opposition. Guggenheims
Bruder in Zürich hatte die gleichen Punkte ständig unter den ICZ-Delegierten im SIG
vorskizziert und fand seit dem August 1942 genügend Anlass, das Kritikpotential zu
handfester Opposition zu formieren. Der zionistischen Linken, Farbstein, Sagalowitz,
Gumy, Wyler und anderen, war die «unpolitische» Haltung des SIG ohnehin ein steter
Dom im Auge gewesen. Vermehrt meldeten sich auch die Leser im Israelitischen
Wochenblatt mit Forderungen nach Demokratisierung des SIG zu Wort. Höhepunkt
der Debatte bildeten im März 1943 zwei Gemeindeversammlungen der ICZ, kurz vor
dem SIG-Delegiertentag, als schon längst feststand, dass Mayer zurücktreten würde.
Hier ist noch einmal acht Stunden und 85 protokollierte Folioseiten lang zum Aus-
druck gekommen, was die Gemüter seit Jahren bewegte. Um das Verhältnis Mayers
mit Rothmund, die Linie der jüdischen Antisemitismusabwehr, die Angst der Schwei-
zer Juden vor ihren Behörden und die Distanz zu den jüdischen Flüchtlingen entbrannte
eine hitzige Debatte. Was lange unter den Nägeln brannte und innerlich angestaut
wurde, konnte sich endlich Luft verschaffen. Die internen Spannungen im SIG, der
zensurierende Druck auf die JUNA, die Kompetenzansprüche des Dreierausschusses
und die Behandlung der Flüchtlinge durch den VSJF kamen in der heftigen Rede-
schlacht an die Oberfläche. Dabei ging es um die Frage des politischen Stils. Allein die
Tatsache, dass eine Opposition sich überhaupt formiert hatte und in parteipolitischer
Absicht äusserte, war dem vorsichtig um Konsens bemühten jüdischen Establishment
unangenehm und unerwünscht. In Bem musste der Präsident der jüdischen Gemeinde,
Georges Brunschvig, seine Gemeinde anlässlich eines Ausspracheabends beruhigen,
der SIG habe entgegen allen Gerüchten 1942 die Ausschaffung von Flüchtlingen nicht
stillschweigend gebilligt. Solche «Ausspracheabende», wie sie in der mild modulierten
Berner Gemeinde stattfanden, dienten der Lenkung im Hinblick auf den SIG-
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 425

Delegiertentag. Man wollte endlich auch Klarheit in die Gerüchteküche bringen und
um Verständnis für das «Fingerspitzengefühl» in der Flüchtlingsfrage werben. 95
Die gesamten Vorwürfe der Opposition an die Adresse der SIG-Leitung waren
gleichzeitig eine indirekte Kritik am Bundesrat. Die Summe der innerjüdischen Ankla-
gen dürfte sich jedenfalls für einen Zeitgenossen wie eine Auflistung der Auswüchse
in der aussenorientierten Vermeidungspolitik Bems gelesen haben. Jedenfalls betref-
fen die Klagepunkte alle Elemente der Bundespolitik, wenn auch im Zeichen einer
Verdrängung nach unten und innen projiziert: autoritäres Regime des SIG-Dreieraus-
schusses mit «Notvollmachten>} seit Mai 1940, innere «Zensun} der JUNA und Kalt-
stellung ihrer Pressepolitik, ängstliche Abschottung der jüdischen Kritik vor der schwei-
zerischen Öffentlichkeit, Distanz und Funkstille in den Beziehungen zu den internatio-
nalen jüdischen Organisationen und über allem das vorsichtige Taktieren gegenüber
Regierung und Behörden in Bem. Allein die dringliche Forderung nach mehr «Basis-
demokratie}} und entsprechender Statutenrevision war - mitten im Krieg - eine
symbolhaft empfundene Kundgebung, dass man dem System einer autoritären Demo-
kratie, das die Schweiz mit Notvollmachten regierte, misstraute, ohne dies aber sagen
zu können. Stellvertretend wurde so der verborgene Kampf mit ungleichen Spiessen,
wie er sich um die schweizerische Juden- und Flüchtlingspolitik entwickelt hatte,
zunächst in den eigenen Reihen geführt.
Im SIG flogen die Fetzen: Auf dem ausserordentlichen Delegiertentag, der am
13. Dezember in den Räumen der ICZ stattfand, gerieten Establishment und Oppositi-
on, Loyalisten und Rebellen scharf aneinander. Die Zürcher Delegierten interpellierten
gleich mit fünf verschiedenen Forderungen. Sie verlangten eine Statutenrevision zur
Demokratisierung des SIG, beantragten eine klare Haltung und schärfere Gangart der
Schweizer Juden in der Flüchtlingsdebatte, legten eine Resolution betreffend die
Unvereinbarkeit von jüdischen Ehrenämtern mit der Mitgliedschaft im Vaterländischen
Verband vor und forderten eine sofortige Umgestaltung des SIG-Geschäftsausschusses.
Die Zürcher Anträge unterlagen in den Abstimmungen, und über die Umgestaltung der
SIG-Leitung entbrannte eine erregte Debatte, so dass die Traktanden des Tages schon
gar nicht erledigt werden konnten. Angenommen wurde von den SIG-Delegierten nur
eine Resolution, die eine neue Sammlung zur Finanzierung der Flüchtlingshilfe vorse-
hen wollte, ohne daran Forderungen an die Adresse Bems zu knüpfen. In der Flüchtlings-
frage erlangten damit die Befürworter der bisherigen Politik einen Teilsieg über die
Opposition, die das offizielle Bem öffentlich kritisieren wollte. Ob dieses Schweigen
zwei Wochen später den verschärften Beschluss des Bundesrats in der Flüchtlings-
frage beeinflusst hat, ist nicht aktenkundig und auch kaum anzunehmen. Die jüdische
Gemeinschaft in der Schweiz war im eigenen wie im eidgenössischen Selbstverständnis
ohne grosses Gewicht. 96
Am Ende des Tages gab Mayer, der sich aus dem Gefecht heraushielt, seinen
Rücktritt bekannt, ein Entschluss, den er schon Ende September vor dem Central-
426 6. KAPITEL

Comite angedeutet hatte. Ende März 1943 wurde Saly Braunschweig, der die Vermittler-
rolle zwischen Mayer und Guggenheim gespielt hatte, zum neuen SIG-Präsidenten
gewählt. Die Opposition hatte ihre Zusage zur Wahl Braunschweigs, den man lange im
Dreierausschuss hatte mitwirken sehen, an dessen Versprechen gebunden,
Statutenrevision und Demokratisierung des SIG zügig vorzunehmen. Georges
Brunschvig blieb Aktuar, Paul M. Blum Vizepräsident des SIG. Fünf Monate später,
Ende Oktober 1943, legte auch VSJF-Präsident Sylvain S. Guggenheim, mit Mayer
über alle Jahre eng verbunden, unter Protest sein Amt nieder, blieb aber bis zur
Realisierung der angekündeten Struktur- und Statutenrevision des alten VSIA noch ein
weiteres Jahr im Amt. Gleichzeitig mit diesem Rücktritt gingen auch die Kündigungen
zweier bewährter Fürsorgerinnen ein. Neuer VSJF-Chef wurde 1944 Pierre Bigar,
langer Vertrauter Mayers, für den indes schon ein Jahr später Otto Heim nachrückte. 97
Ein bedeutendes Nachspiel hatte der ganze Konflikt in der ICZ. Bei der Wahl eines
neuen Präsidenten, der den vakanten Sitz von Braunschweig in der grössten Gemeinde
der Schweiz einnehmen sollte, kam es zu einem Kampfentscheid. Die Allianz der
bürgerlichen und nichtzionistischen Rebellen um Guggenheim mit den teilweise links
profilierten Zionisten kippte den mehrheitlich vorgeschlagenen Kandidaten Saly Levy
aus dem Rennen. Georg Guggenheim wurde nun neuer ICZ-Präsident, und sieben
neue Gesichter zogen in den achtköpfigen Vorstand ein, darunter Veit Wyler, der
kaum vier Monate zuvor erst der ICZ als Mitglied beigetreten war. Bedeutsam an
dieser Wahl, deren Protokoll von der erhitzten Debatte zeugt, waren zwei Dinge.
Einmal wurde vom üblichen und auch später weiterhin praktizierten Modus eines
Einheitskandidaten, der einen breiten Konsens zu garantieren hatte, abgerückt. Bereits
die Wahlkommission der ICZ, die sich als «Einheitsgemeinde» verstand, hatte sich
nicht wie sonst üblich auf eine einzige Empfehlung einigen können. Zum andern
demonstrierten die Zionisten, was sie unter «Demokratie» und «Basispolitik» verstan-
den, nämlich Wettbewerb, politisches Rollenspiel von Regierung und Opposition
sowie Einbringung von Parteipolitik in das Gemeindeleben. Solche politische Regeln
waren und blieben auch später dem konsensbeflissenen und postemanzipatorischen
Gemeindejudentum verpönt, weil man um das lange beschworene Prinzip der «Ein-
heit» fürchtete. Die Zionisten setzten nicht nur ihre Mitsprache im Vorstand und als
SIG-Delegierte durch, sondern politisierten mit ihrer Offensive die Gemeinde, die an
den Stil des stillen Konsenses gewöhnt war. 98

Härte und Enge als flüchtlingspolitische Konstanten

Die inneren Narben sollten noch lange nicht verheilen, doch die Kontinuität der
Themen blieb weitgehend gewahrt. Als Braunschweig und Brunschvig einen Monat
nach den SIG-Wahlen mit der Regierung in Bem wieder Kontakt suchten, liefen sie
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 427

auf alten Grund auf. Am 7. Juni 1943 wurden sie durch von Steiger, der Rothmund
heranzog, zur Audienz empfangen. Der SIG legte dabei keine Unterlagen zum Holocaust
vor, weil er jene Beweise, die in eidgenössischen Aktenordnern ruhten, schon gar nicht
besass. Statt dessen wies man daraufhin, dass «nach unseren allerdings nicht aktenmässig
zu belegenden Informationen» die Männer arbeitsdienstlich versklavt werden und die
Frauen in Bordelle kommen. Der SIG verlangte keine Aufhebung der die Juden
diskriminierenden Weisungen vom 29. Dezember 1942, sondern begehrte in erster
Linie unnötige Härten in der Praxis zu vermeiden. Auch das alte SIG-Postulat, die
«brachliegenden Emigrantenkräfte» befristet in den Arbeitsprozess einzureihen, wur-
de vorsichtig wiederholt. Von Steiger verlangte als erstes die «vertrauliche Zusam-
menarbeit» - das heisst keine öffentliche Kritik - und erhielt auch prompt die SIG-
Zusage zu solcher Verpflichtung und Diskretion. Dann blieb der Magistrat wie zuvor
schon immer in materieller Hinsicht hart und unnachgiebig. Dies hiess, keine Integrati-
on, sondern weiterhin Transit, keine large Asylpraxis, sondern die alte Politik der Ab-
und Rückweisungen. Von Steiger verteidigte sich kategorisch gegen den Vorwurf,
sich an aussenpolitischen Kriterien zu orientieren, und nahm gleichzeitig die finanziel-
len Leistungen der in- und ausländischen Juden erstmals zur Kenntnis. 99
Braunschweig hatte im Bundeshaus besonders gewünscht, dass die Schweiz in
Washington eine Erklärung anstrebe, dass die USA der Schweiz Flüchtlinge abneh-
men würden. Ebenso solle «versucht werden, die Transferschwierigkeiten zu behe-
ben», welche die Nationalbank beim Clearing der JDC-Dollars verursacht hatte. Diese
beiden Wünsche zeigen an, dass auch nach den Neuwahlen in SIG und VSJF die
Konstanten der jüdischen Transmigrations- und Flüchtlingspolitik sich nicht änderten.
Trotz der Wende von Stalingrad und etwas mehr Mut der Schweizer Juden - die
eidgenössische Juden- und Flüchtlingspolitik blieb im engen Rahmen, in den sich der
SIG weiterhin einpassen musste.
Blenden wir noch einmal auf den August 1942 zurück: Mayer hatte während der
Sitzung des Central-Comites mit Rothmund, an der die Weisungen der Fremden-
polizei bekanntgegeben wurden, kein lautes Wort der Kritik an Bern vernehmen
lassen. Mayer dürfte sein politisches Konzept des «Minhag Suisse» und der
Transmigration, die den Flüchtlingen den Sprung in das Rettungsboot garantieren
sollten, durch Rothmund und von Steiger verraten gesehen haben. Die Kritik an seiner
Person, die im August neue und rauhe Reibungsflächen erhalten hatte, bewegte ihn
Ende Jahr zur Ankündigung seines Rücktritts. Doch Mayer war bereits anfangs Sep-
tember 1942, wie er Schwartz nach Lissabon meldete, zum Rücktritt entschlossen
gewesen. Er war zugleich auch bereit, auf seine Funktion als JDC-Repräsentant in der
Schweiz zu verzichten. Doch hier spielte für den SIG eine andere, von aussen be-
stimmte Logik hinein: Schwartz in Lissabon wollte nun, dass Mayer statt nur ehren-
halber als ordentlicher JDC-Repräsentant von der Schweiz aus wirken würde. Im März
1943, vor der Wahl seines Nachfolgers im SIG, stellte Schwartz ihm das Schreiben zu,
428 6. KAPITEL

das Mayer nun als offiziellen Vertreter des JDC in Zentraleuropa auswies. Schwartz tat
dies zwar wider besseren Wissens seiner New Yorker Zentrale, die sich nur einen
Amerikaner, aber keinen Neutralen als europäischen JDC-Repräsentanten vorstellen
konnte. Damit war Mayer in eine Position gerückt, die den SIG von seinem geschmähten
Expräsidenten finanziell abhängig machte. Wie man in Zürich feststellte, gingen die an
den SIG und VSJF überwiesenen JDC-Gelder für die Schweiz denn auch nicht direkt
an die Schweizer Juden, sondern an den Vertreter des JDC in Europa, der Mayer hiess.
Paul Guggenheim regte wiederholt und vergeblich an, dass der SIG sich deswegen mit
der JDC-Zentrale in Verbindung setzen solle.H10 Doch Saly Mayer war nicht zu
umgehen und schon gar nicht auszubooten.
Mayer kümmerte sich nicht weiter um die Angriffe auf seine Person, die auf der
Ebene des Konflikts zwischen JDC und WJC, zwischen «Philanthropie» und «Politik»
lagen. Sein Blick war auch nicht mehr aufBern und die SIG-Politik, sondern erstrangig
auf die notleidenden Juden in Buropa gerichtet. Dabei sollte er in der Schweiz und von
der Schweiz aus nicht nur die «legalen» Pfade der Hilfe beschreiten. Die brennende
Erfahrung, von den eigenen Behörden hintergangen worden zu sein, hat ihn, wie viele
andere Schweizer Juden auch, zunehmend auf Wege gebracht, die in den Augen Berns
halb- oder illegal waren. Ob man dabei unter der Etikette philanthropischer Neutralität
operierte oder nicht, war gleichgültig, solange dies den Verfolgten und Leidenden
nützte.

KINDER IM KRIEG ...


JÜDISCHE UND CHRISTLICHE HILFE FÜR KINDER UND WAISEN

Am 7. September 1942 schrieben 19 Schülerinnen einer Mädchenklasse der Real-


schule Rarschach aus eigenem Antrieb an Bundesrat von Steiger einen kurzen Brief, in
dem sie ihre Empörung über die Grenzschliessung und ihre Bitte um Menschlichkeit
gegenüber den Flüchtlingen vortrugen. Anlass war die Rückweisung von sechs Flücht-
lingen über die Grenze im Jura. Die Mädchen meinten naiv, aber treffend, dass «wenn
Sie den Befehl erhalten haben, keine Juden aufzunehmen», dies doch kaum der Wille
Gottes sei, dem man allein zu gehorchen habe. «Den Befehl erhalten» - das heisst, dass
die Mädchen glaubten, der Bundesrat orientiere sich aussenpolitisch an den Wünschen
Berlins. Von Steiger ist zunächst «angetan» vom Zorn seiner frommen Landestöchter
und versuchte den kindlichen Protest als Anlass für eine vierseitige Epistel zu nutzen,
die als öffentlicher «Brief an die junge Schweizerin» gedacht war. Der Entwurf lag
alsbald auf dem Schreibtisch von Bundespräsident Etter und Bundesrat Pilet-Golaz,
die ihrem angerührten Kollegen mit redaktionellen Vorschlägen und stilistischen
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 429

Verbesserungen unter die landesväterliehen Arme griffen. Pilet-Golaz versäumte bei


dieser Gelegenheit nicht den Hinweis, dass wegen der Rückweisungen zwar keinerlei
diplomatische Reaktionen vorlägen, die Welt sich indes eher eine offene Schweiz
wünsche, dies wiederumjedoch von der aussenpolitischen Kommission als Sicherheits-
risiko eingestuft werde.
Von Steiger, der nicht weiter wusste, wandte sich alsbald an die Nationalräte
Theodor Gut und Alfred Müller, um Rat zu holen. Während Gut dringend keine
Fortsetzung der öffentlichen Debatte wünschte und auch keine Opportunität sah, bei
den Kindem «von höchster Stelle auf die Frage zurückzukommen», witterte Müller
den Drahtzieher des Briefs in einem antimilitaristisch eingestellten Lehrer in Amriswil.
Die flugs eingeschaltete Bundesanwaltschaft kam zwei Wochen später zur Erkenntnis,
der Inhalt des Briefs sei «geeignet, die Bevölkerung in Unruhe zu versetzen und die
Sicherheit des Landes zu gefährden», indem der Bundesrat namentlich der Verletzung
der Neutralität verdächtigt werde. Über die Mädchen brach statt landesväterlicher
Milde nun eine ausgedehnte Untersuchung herein. Das peinliche Verhör brachte aber
nur das Bedauern der jungen Briefschreiberinnen zutage, sie hätten den Bundesrat
nicht beleidigen wollen. Den eingeschüchterten Mädchen tat leid, dass der Brief eine
solche Wirkung gehabt hatte. Die selbstinszenierte Affäre wurde erledigt, indem der
Rarschacher Schulrat Stillschweigen anordnete und alles inkriminierte Material,
einschliesslich des Briefentwurfes, einziehen liess. 101
Die Mischung von zugleich hilfloser und harter Reaktion in der patemalistischen
Gebärde von Steigers bietet uns ein Fallbeispiel, wie irritierend Kinder die gesetzte
Welt der Erwachsenen aufscheuchen können. Politisch war dieser Brief eine Bagatelle,
aber die völlig unangemessene Reaktion der Regierung dazu lässt ermessen, dass es
nicht um rationale und politische Dinge allein ging. Das erzieherische Verständnis
gegenüber den eigenen Landeskindem offenbart den patriarchalen Gefühlshorizont
angesichts solcher «Störursachen». Er ist gezeichnet von Verunsicherung, die zu
demütigender Massregelung führt, dann gestenreich weggeschoben und schliesslich
verschwiegen werden muss. Spontane seelische Äusserungen von Kindem wirken auf
die Welt der Erwachsenen als unerwünschte Erinnerung auch an die eigenen Schmerz-
en. Wir wissen heute, dass dieser Konflikt historisch aus einem negativen System von
Erziehung resultiert, das uns als «Schwarze Pädagogik» bekannt ist. Bestimmte Seiten
im Verhalten der eigenen Söhne und Töchter werden oft nur schwer toleriert und
provozieren den Rückgriff auf harte Strafnormen, um Ausdruck und Verhalten von
Kindem zu konditionieren. 102 Dabei ist die Sicht des Kindes der primäre Aspekt der
Geschichte, zu der als zweites auch die bürgerliche Reduktion der Frau und Mutter auf
ihre biologische Funktion hinzukommt. Empfindlich und autoritär zugleich musste
von Steiger schon deshalb reagieren, weil die Gestalt des Kindes und der Frau hier in
einem personifiziert erscheinen, nämlich in den jungen Töchtern. Kaum auszudenken,
dass die Schweizer Mädchen sich dann noch für Juden einsetzten ...
430 6. KAPITEL

Was einer allzu lebendigen Jugend gegenüber gilt, trifft erst recht auf die Kinder
von Fremden zu, besonders wenn sie das eigene Revier stören. Kindliches Leiden rührt
wie kindliche Lebendigkeit in besonderer Weise an, weil sie für den Erwachsenen der
verschlüsselte Ausdruck eigener Erfahrungen sein können. Das Leiden von Kindern
kann in der Welt der Erwachsenen tiefe Wut, Empörung und Anteilnahme bewirken
und darin die selbst gelebten Gefühle aus der eigenen Kindheit von neuem auslösen.
Oder es wird, im Gegenteil, dieser «Wiederholte» Schmerz tabuisiert oder gar nach-
träglich in eine «Charakterstärke» mystifiziert, wenn dabei die eigenen Abwehr-
mechanismen gefordert erscheinen. Viel schwerwiegender als psychische Manipulation,
aber damit verbunden, sind die politischen Auswüchse der Gewalt gegen Kinder. Dazu
gehört auch die perfekte Verleugnung des eigenen Schmerzes, indem Kindern gegen-
über sinnlose Härte propagiert und eine Mauer der Abweisung errichtet wird, die ihre
seelische Verstümmelung oder gar physische Vernichtung bringt. Kinder sind solchem
Grauen immer wieder ausgesetzt worden. Was dabei eigenen und fremden Kindern
familiär und erzieherisch oft zugemutet worden ist, lässt sich in der Geschichte der
Kindheit unschwer nachlesen. 103 Die frühere physische Verstümmelung des Kindes
machte später offenbar einer seelischen Grausamkeit Platz, die mit dem Nazismus sich
dann wiederum in einer physischen Vernichtung ausgelebt hat, die ganz zuerst auf die
Kinder zielte. Falls Kinder den Holocaust überlebten, haben sie später die seelische
Verwüstung als Folge der Grausamkeiten erleiden müssen. 104

Hindernisse für die Kinderhilfe

Den Juden ging der Schrei der Opfer durch das eigene Mark und Bein. Wir haben
schon einmal angedeutet, dass der SIG bei der Hilfe im In- und Ausland die Aktionen
für jüdische Kinder in Europa begünstigte. Namentlich in Frankreich, das mit dem
Fanal von Gurs die Gemüter aufrührte, sollte der SIG sich laut dem Central-Comite an
der Kinderrettung beteiligen. Wenn schon die Ausfuhrbestimmungen der Schweiz die
direkte Versendung von grösseren Hilfsgütern einschränkten, so erhoffte man sich mit
der Kinderhilfe gewissermassen die «Einfuhr» der am brutalsten Getroffenen. Für die
Verwaisten und Verlassenen sollten Heimstätten in Frankreich und die Möglichkeit
ihrer Aufnahme in die Schweiz geschaffen werden. Die Kinder sollten in den Genuss
von Ferien- und Erholungsaufenthalten kommen. Gleichzeitig unterstützte der SIG ein
OSE-Heim in der Nähe von Gurs, auf dem Schloss Idron bei Pau, wo flüchtende
Mütter und Kinder aufgefangen und betreut wurden. Alle diese V arschläge und Hilfen
wurden im Einvernehmen mit jenen Hilfswerken getroffen, auf welche die Schweizer
Juden angewiesen waren. Im Januar 1941 besuchte der Initiator der schweizerischen
Kinderhilfe in Spanien, Rudolfo Olgiati, das Lager Gurs, wo das von ihm geleitete,
ursprünglich wegen des spanischen Bürgerkrieges entstandene Hilfswerk eine Speise-
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 431

stelle für Kinder unterhielt. 105 Das Rote Kreuz erfasste im Verlauf des folgenden Jahres
die bedürftigen Kinder in Frankreich. Während des ganzen Krieges hatten das private
Schweizerische Hilfswerk für Emigrantenkinder, das vom JDC finanziell gestützt
wurde, und die Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes- in Zusammenarbeit
mit den Behörden - in organisierten Transporten Kinder zur ferienweisen Erholung in
die Schweiz gebracht.
Die Idee, ausländische Kinder zur Erholung in die Schweiz kommen zu lassen, war
nicht neu. Ursprünglich waren die «Ferienkolonien» für die eigenen Kinder aus dem
sozial schwachen Milieu gedacht und seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts
als sinnvolle Feriengestaltung mit sozial-präventiver und erzieherischer Zielsetzung
durchgeführt worden. 106 Nachdem die Idee von Kinderferien sich in vielen europäi-
schen Industrieländern verbreitet hatte, kam mit dem Ersten Weltkrieg eine neue
Komponente hinzu. Ausländische Kinder sollten sich in der gesunden Luft des neutra-
len Alpenstaates von den Heimsuchungen des Krieges erholen können. Mit dem Krieg
von 1914 bis 1918 wurden also die schweizerischen Ferienkolonien durch einen
humanitären Auftrag gegenüber fremden Kindem bereichert. Mit dabei waren auch
jüdische Kinder, die seit 1917 zu einem Aufenthalt in die Schweiz kamen, zumal die
jüdischen Frauenvereine aktiv zu dieser Idee beitrugen. 107 Nach der Einrichtung eines
jüdischen Waisenhauses in Basel (1903) hatten sich der Israelitische Frauenverein und
die Augustin-Keller-Loge in Zürich seit 1912 um eine Ferienkolonie gekümmert, was
1927 zum Kauf eines Kinderheims in Heiden führte. 108 Besonders den «minder-
bemittelten, schwächlichen oder vernachlässigten Kindern» sollte dieses Heim zugute
kommen.
Die Hoffnung des SIG und der jüdischen Frauenvereine, ausländische Kinder zur
Erholung in die Schweiz zu bringen, gründete also in der Kontinuität einer humanitä-
ren Institution. Die aus privater Initiative entstandene und 1942 im Kinderhilfswerk
des SRK zusammengefasste Hilfsaktion verhalf Kindern, vor allem aus Belgien und
Frankreich, zu einem dreimonatigen Aufenthalt in der Schweiz. Auf diese Weise
konnten fast 60'000 Kinder einen Erholungsaufenthalt im Land verbringen, wobei ein
grösserer Teil auf die Zeit nach dem Sommer 1944 entfiel. Doch gerade die Aufnahme
jüdischer Ferienkinder scheiterte an der antisemitischen Diskriminierung seitens der
Behörden. Im Mai 1941 erhielt die Arbeitsgemeinschaft für kriegsgeschädigte Kinder,
die als gemeinsame Plattform für die Organisation der Erholungsaufenthalte diente,
die Bewilligung für die Einreise von ersten 800 notleidenden Kindem aus Frankreich,
die in der Schweiz drei Monate Ferien machen durften. Zuständig für die
Sammeltransporte war die Kinderhilfe des Roten Kreuzes. Die Fremdenpolizei schloss
aber in einem Kreisschreiben an die schweizerischen Konsulate in Frankreich aus-
drücklich «Kinder von Emigranten nichtarischer Abstammung» von der Einreise zu
einem Erholungsaufenthalt aus. Es waren nur Kinder genehm, die als französische
Staatsbürger keine Ausbürgerung zu erwarten hatten. 109
432 6. KAPITEL

Rothmund wollte also keine Judenkinder, bei denen er einen ständigen Verbleib in
der Schweiz fürchtete. Diese Haltung wurde durch den Bundesrat nach dem Strick-
muster, die Entscheide den C~efbeamten in die Hand zu geben, nachträglich bestätigt.
Der Bundesrat sanktionierte die bestehende Praxis im März 1942, indem er zwar die
Kinderhilfe durch das SRK offiziell zur Kenntnis nahm, aber für Aufnahme und
Aufenthalt die Fremdenpolizei zuständig erklärte. Denn inzwischen hatte Gottlieb
Duttweiler die Idee lanciert, mit Hilfe von Industrie und Konsumenten eine Aufnahme-
aktion für 200'000 Kinder zu finanzieren. Im Nationalrat beeilte man sich, eine so
grosse und finanzstarke Initiative politisch zu kanalisieren. Durch Pilet-Golaz nahm
der Bundesrat im Juni eine von Nationalrat Ernst Reinhard und 53 Mitunterzeichnern
eingereichte Motion entgegen, die alsbald in ein Postulat umgewandelt wurde. Damit
hätte die Regierung freie Hand gehabt, die von Krieg und Epidemien bedrohten Kinder
zu retten - auch die Judenkinder. Eine mögliche Aufnahme der französischen Kinder
wurde schliesslich Ende 1942 von deutscher Seite verhindert, indem die Besatzer
jeden Transport französischer Kinder verboten. 110
Infolge des deutschen Entscheids umschiffte die offizielle Schweiz als erstes die
heikle Frage nach den Kindem von Flüchtlingen und «Nichtariern». Die Massnahme,
die kinder-, fremden- und judenfeindlich in einem Zug gewesen wäre, unterstand
jenem politischen Druck, mit dem antisemitisch agierende Kreise schon immer ope-
riert hatten. Die Frontisten hatten seit 1938 die Ferienaktion für Emigrantenkinder
bekämpft, so mit der Parole «Judenkinder nehmen Schweizerkinder Ferienplätze
weg». Dem Vaterländischen Verband suchte von Steiger im Herbst 1942 darzulegen,
dass es etwas ganz anderes sei, jüdische Kinder aufzunehmen als erwachsene Ehepaa-
re, eine Praxis, die so auch von den Vereinigten Staaten verfolgt werde.m Erst imJuli
1944 sollten dann in den offiziellen Texten die Bestimmungen wegfallen, welche
Juden bei der Einreise diskriminierten und implizit auch die jüdischen Kinder
hintansetzten. Absurde Blütenlese der Geschichte wird fast fünfzig Jahre danach die
späte Entdeckung sein, dass das 1939 der Armee unterstellte Schweizerische Rote
Kreuz die Bundesanwaltschaft über Jahre mit Kinderlisten versorgt hat, um heran-
wachsenden «ausländischen Spionen» vorsorglich das Handwerk zu legen. Diese
mentale Aufrüstung im Zeichen des Kalten Krieges ist schon in der Judenpolitik von
1942 vorskizziert. 112
In den entsprechenden Zirkularen der Arbeitsgemeinschaft musste also 1942 ver-
merkt werden, dass jüdische Kinder von den Ferien in die Schweiz ausgeschlossen
seien. Der SIG, die Arbeitsgemeinschaft und Frauenorganisationen stemmten sich
entschieden gegen solche Massnahmen, ohne freilich Erfolg zu haben. In der Öffent-
lichkeit berichtete die Wochenzeitung Nation erstmals über die skandalöse Weisung
aus Bem. Damit stach das Blatt unter seinem Redaktor Peter Surava bei Fremden-
polizei, Pressezensur und dem SRK, besonders aber bei Rotkreuz-Chefarzt Oberst
Hugo Remund, in ein Wespennest. 113 In der Woche zuvor, am 19. April1942, war im
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 433

SIG am Delegiertentag auf Antrag der zürcherischen und westschweizerischen Dele-


gierten eine Resolution zugunsten der ungehinderten Einreise auch für jüdische Kinder
mit den Ferientransporten aus Frankreich verabschiedet worden. Die Delegierten
Erwin Haymann und J acques Bloch, die in der OSE aktiv waren, beklagten die
Diskriminierung der jüdischen Kinder als indirekte Minderung der Gleichberechti-
gung der Schweizer Juden. 114 Doch die Fremdenpolizei blieb hart, ähnlich wie sie es
zuvor auch bei der Einreise jüdischer Frauen, die vom unbesetzten Frankreich aus ihre
in der Schweiz internierten Ehemänner besuchen wollten, gewesen war. Nichtjüdische
Frauen hatten die Einreisebewilligung ohne weiteres erhalten, und im gleichen Sinne
sollten die Dinge auch bei den Kindem gehandhabt werden. 115
Die Schweizer Juden sahen in solchen Diskriminierungen ein bedenkliches Zuge-
ständnis an antisemitische Tendenzen und verzweifelten über dem Schicksal der
Verfolgten. Sie versuchten zunächst mit dem Angebot, die Ferien für die jüdischen
Kinder zu finanzieren, die Katastrophe einzudämmen. Öffentlich Schützenhilfe erhiel-
ten sie im Gefolge der Flüchtlingsdebatte im Herbst 1942 von der Frauenseite. Vehement
wehrten sich schweizerische Frauenorganisationen gegen die Diskriminierung der
jüdischen Kinder an einer Tagung der Arbeitsgemeinschaft Frau und Demokratie. Es
wurde eine weitgehende Hilfe für die jüdischen Kinder in Frankreich gefordert und
sogar entsprechend verknüpfte Bedingungen zur Aufnahme von nichtjüdischen
Franzosenkindem vorgeschlagen. Dem Bundesrat wurde eine Eingabe eingereicht, die
aber ebenso wirkungslos blieb wie die anderen Appelle und Proteste jüdischer und
nichtjüdischer Kreise. Für die Behörden konnten Kinder, selbst wenn sie eine
privilegierte Gruppe bildeten, keine Ausnahme von den in der Juden- und Flüchtlings-
politik allgemein geltenden Regeln werden. 116
Die Nachrichten aus Frankreich klangen inzwischen immer schlechter. Im Som-
mer 1942 hatten die Nazis beschlossen, die erwachsene jüdische Bevölkerung zu
deportieren. In Paris standen viertausend Kinder auf der Strasse, als im Juli ihre Eltern
zusammengetrieben und nach Osten deportiert wurden. Im nichtbesetzten Frankreich
folgten ähnliche Qualen: Die Vichy-Polizei stellte die Eltern vor die Wahl, entweder
ihre Kinder zurückzulassen oder sie in ein grauenhaftes Schicksal im Osten mitzuneh-
men. Die Familien wurden auseinandergerissen, und Mütter begingen Selbstmord, als
sie hörten, dass Waisen verschont würden. In der westlichen Presse wurde, wie wir
gesehen haben, über die Massenverhaftungen im Juli und August berichtet, wenn auch
die grauenhaften Vorgänge im europäischen Osten beharrlich verschwiegen wurden.
In Vichy-Frankreich tauchten nun die ersten und improvisierten Pläne zur Rettung der
jüdischen Kinder auf. Denn Südfrankreich war, trotz aller Feindseligkeit des Vichy-
Regimes, das einzige Gebiet in Westeuropa, von dem aus eine Flucht nach der
Schweiz oder Spanien möglich war. Wo sie es vermochten, tauchten Familien unter.
Kinder wurden bei französischen, christlichen Helfern versteckt.
Das JDC und die Quäker planten im Verlaufe des Jahres 1942 die Rettung von
434 6. KAPITEL

Tausenden von Kindern, die nach öffentlichen Kampagnen und politischen Pressionen
endlich amerikanische, kanadische, argentinische und andere Visa erhalten konnten.
Die Jewish Agency, mit einem erfahrenen Aktivisten wie Richard Lichtheim, verlang-
te Zertifikate für Kinder, die von der britischen Mandatsmacht in Palästina ausgegeben
wurden. Wie Lichtheim in Genf, der seine Kollegen in Jerusalem und in den westli-
chen Hauptstädten dauernd zum Handeln drängte und zuerst lange ignoriert wurde,
plädierte ein anderer Rettungsaktivist, Wilfrid Israel in London und Lissabon, ständig
dafür, die Kinder zu evakuieren, bevor es zu spät sei. 117 Doch die politischen Mühlen
der Regierungen verzögerten eine zügige Aktion, wie dies die im Comite de Nimes
beteiligten Organisationen anstrebten. Im November 1941 bereits waren 1246 Kinder,
davon auch 41 durch die Schweizerische Kinderhilfe, zur Ausreise nach Übersee
angemeldet worden. Ein Jahr später, als das JDC und andere Partner ihre Betreuer nach
Buropa geschickt hatten und die Reise der Kinder endlich hätte stattfinden können,
marschierte die deutsche Wehrmacht in Südfrankreich ein. Am 11. November, drei
Tage nach der Landung der Alliierten in Nordafrika, besetzten die deutschen Truppen
Vichy-Frankreich und schlossen damit auch den Ring der Achsenmächte um die
Schweiz, die jetzt ihre «Emigrantenkinder» nicht mehr auf die vorgesehene Weiterrei-
se schicken konnte. Genau vier Jahre nach der Reichspogromnacht sassen in
Südfrankreich die jüdischen Kinder in der Falle, wie Tausende anderer Kinder, die
noch unter deutscher Besatzung lebten.
Letzte Hoffnung war jetzt das Schweizer Boot. Die meisten amerikanischen Kind-
erbetreuer schafften es, sich in die Schweiz abzusetzen. Donald Lowrie, in Südfrankreich
Leiter der amerikanischen Young Men's Christian Association, sammelte und
reorganisierte in Genf die geflüchteten Repräsentanten der Hilfskräfte von neuem.
Man versuchte, die Schweizer Regierung zu überzeugen, die reisebereiten Kinder in
die Schweiz aufzunehmen. Lichtheim, Wilfrid Israel, die Quäker, das JDC, der WJC-
von überall her appellierte man an die Schweizer Regierung und das IKRK., diese
Pläne dringlich zu fördern. Carl J. Burckhardt erklärte Lichtheim im Mai 1943, dass es
nicht in seiner Macht liege, etwas zu tun.U 8 Und Bern war zu diesem Zeitpunkt schon
lange in delikater Angelegenheit eingebunden: Im Juli 1942 war auf dem SRK-Schloss
La Rille bereits eine Razzia durchgeführt worden, und nur das Vorgehen des dort
zuständigen SRK-Leiters Maurice Dubois hatte eine Deportation der La-Rille-Kinder
verhindem können. Die Kinderhilfe des SRK war also überzeugt, dass in Frankreich
für ihre Schützlinge Gefahr für Leib und Leben bestand. Minister Stucki erreichte bei
Pierre Laval für die SRK-Kinder einen vagen Dispens vor Deportationen, und vor
Marschall Petain soll er gar mit der Faust auf den Tisch geklopft haben. 119 Doch
Stuckis bestimmtes Auftreten war vergeblich, die weitergehenden Deportationen und
die vollständige Besetzung Frankreichs kamen allen guten Absichten zuvor. Lowrie
und die anderen Amerikaner hatten also doppelten Grund, auf die Schweiz zu zählen.
Doch Rothmund meldete seine Bedenken an. Der Polizeichef wollte Garantien von
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 435

amerikanischer und britischer Seite, die Kinder nach dem Krieg bei sich aufzunehmen.
Bems Anfrage und Lowries Bemühen gab das US State Department eine Absage mit
der Begründung, dass nach dem Krieg die Kinder dann als Erwachsene gelten würden.
In gleicher Weise scheiterte in London das IGCR mit Sir Herbert Emerson bei den
Briten, die ohnehin ihre Weissbuchpolitik von 1939 fortführten. Wertvolle Wochen
gingen mit diesem Geplänkel verloren, und die Suche nach Kindervisa sollte sich noch
über Monate bis zum nächsten Jahr hinziehen. Doch selbst wenn nun die Schweizer,
wie die Quäker, YMCA und OSE glaubten, trotzwestlicher Absagen weiterhin bereit
gewesen wären, Kinder aufzunehmen, so war dies faktisch unter dem Druck der
Achsenmächte nicht mehr möglich. Unter deutscher Vormundschaft weigerte sich
Vichy, die jüdischen Kinder ziehen zu lassen.l2°

Der «Kinderschmuggel» aus Frankreich und Belgien

Seit Juli 1942, und erst recht nach dem deutschen Novembereinmarsch, lautete die
dringliche Maxime der Organisationen, die sich um Kinder kümmerten, «verschwin-
den lassen». Im Gegensatz zur UGIF war den Verantwortlichen der OSE nur zu
deutlich klar, dass die Deutschen Jagd nicht nur auf jüdische Erwachsene machen
würden. «Die Ausrottung des Judentums aber soll durch die methodische Vernichtung
der Kinder besiegelt werden», notiert einer der rund zehn Berichte, die dem SIG und
JDC im Verlaufe des Jahres 1943 zugingen. 121 Dreijüdischen Organisationen kam nun
eine besondere Rolle zu, wenn es galt, Kinder unterzubringen, zu verstecken oder in
Sicherheit zu schmuggeln. Die Eclaireures israelites de France (ElF) zählten rund
1800 Mitglieder, waren tendenziell religiös-liberal und französisch-patriotisch orien-
tiert und standen somit dem Consistoire Central nahe, bevor sich auch erste zionistische
Einschläge durchzusetzen begannen. Die Frauen der ElF waren anfanglieh im gesam-
ten Frankreich mit Jugendkolonien auf dem Land und in Gurs mit der Betreuung von
Internierten beschäftigt. Im Januar 1943 vereinigten sich die ElF mit demMouvement
de La jeunesse sioniste (MJS), das die linkszionistischen Gruppen umfasste und auch
zum kommunistischen Widerstand Beziehungen pflegte. Wichtigste Organisation blieb
aber das OSE, welches die ElF und das MJS im Untergrund auf eine gemeinsame
Handlungslinie für die Kinderrettung brachte. 122
Wir haben bereits berichtet, dass die Grundlagen für die Zusammenarbeit verschie-
dener Organisationen und Gruppen mit dem Marseiller Komitee und dem Comite de
Nimes gelegt worden waren, indem jüdische und nichtjüdische, französische und
internationale Organisationen eine gemeinsame Aktion bildeten. Während der Aktion
für Gurs bestanden dabei Kontakte nach Genf zu den verschiedenen Hilfsstellen im
Ausland. Ebenfalls erwähnt wurde im Glossar, dass die Zentrale der OSE in Paris 1940
ins Rhonetal nach Montpellier wechselte und Ende 1942 endgültig nach Genf
436 6. KAPITEL

übersiedelte. Dort hatte bereits Anfang des Jahres deren langjähriger Präsident, der
Mediziner Boris Tschlenoff, vorsorglich ein rechtlich eingetragenes Komitee der OSE
in Genf gebildet und damit die Voraussetzung für den erneuten Sitzwechsel der
internationalen Organisation geschaffen. 123 In Paris blieben OSE-Aktivisten weiterhin
vor Ort, als 1942 über viertausend Kinder deportiert wurden. Unter der Leitung von
Eugene Minkowsky, dem Bruder des Zürcher Ern-Professors, wurden dort mit Hilfe
französischer Freunde 550 Kinder versteckt, während tausend Kinder in den offiziel-
len UGIF-Heimen weiterhin gefährdet blieben. Die OSE betreute die verwaisten
Kinder und zahlreiche Familien medizinisch und sozial, organisierte Verstecke und
Fluchtrouten und versuchte, verschleppte Kinder zu retten. In der unbesetzten Zone
suchten nach November 1942 die OSE-Helfer zunächst, die medizinische und soziale
Betreuung aufrechtzuerhalten. Die Unmöglichkeit legaler Ausreisen und die
Ungewissheit führten indes dazu, die Kinder «auf die Seite zu nehmen» und in die
Schweiz und nach Spanien zu schmuggeln. 124
Das «Instrument» dafür bot auf südfranzösischem Boden der «Circuit Garel».
Georges Garel (1909-1979), in Vilna geboren und in Kiew, Berlin und Paris aufge-
wachsen, als Ingenieur auch an der E11I Zürich ausgebildet, bot als Nichtjude Gewähr,
von Vichy und der Gestapo unbehelligt wirken zu können. Er war unbelastet und
konnte seine beruflichen Beziehungen als kaufmännisch tätiger Elektroingenieur zum
Aufbau des Schlepperrings nutzen. Denn dieser war auf regionale Helfer in Lyon,
Valence, Limoges und Toulouse angewiesen. 125 Parallel dazu arbeitete ein «Circuit
Andree Salomon» genannter Kreis mit den offiziellen OSE-l..euten weiter, dessen
Aufgabe mehr die Unterstützung der reisenden Sozialhelfer war. Die doppelte Exi-
stenz eines offiziellen jüdischen und geheimen «nichtjüdischen» Circuit bot eine
sichere Taktik, die den Schmuggel der Kinder gewährleistete. Als Verbündeter, aber
unabhängig geführt, wirkte in Nizza der «Circuit Abadi», der vor allem die Routen
zwischen den Alpen und dem Mittelmeer organisierte. 126 Zwei wichtige Spezialdienste
des Circuit Garel bestanden in der Beschaffung von Kleidern und falschen Papieren,
um die jüdische Identität der Kinder zu tarnen. Weiter von Interesse ist auch, dass in
allen drei Circuits mehrheitlich Frauen arbeiteten, die 85 Prozent aller Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter ausmachten, wobei achtzig Prozent davon Jüdinnen waren, die
sich hauptsächlich aus den ElF sowie der WIZO rekrutierten. Um so wertvoller waren
die Verbindungen zu nichtjüdischen Verbündeten, welche die Aktionen deckten und
mittrugen. Sie rekrutierten sich oft aus katholischen und protestantischen Kreisen. Die
Hugenotten in den Sevennen und protestantische Pfarrer auf beiden Seiten der Grenze
um Genf trugen aktiv und pa~siv die Kinderrettung mit. Der Erzbischof von Toulouse
und der Bischof von Montauban stellten hilfreiche Schreiben aus, in denen die Katho-
liken zur Mitarbeit an der Kinderrettung aufgefordert wurden. 127
Schwierig gestaltete sich die Geldbeschaffung. Betreuung, Unterbringung, Ver-
sorgung und Bezahlung der Schlepperdienste kosteten Geld. Das JDC pflegte vor
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 437

1942 Beziehungen vor allem zur Federation des societes juives (FSJ), die den
französischen Judenrat UGIF ablehnte, sowie zu einer Reihe weiterer Organisationen
wie CAR, CC, ElF, MJS, ORT, OSE und HICEM. 1943 flossen rund ein Drittel des
JDC-Budgets nach Frankreich, 1944 waren es zehn Prozent. Bis zum Mai 1943 war
Saly Mayer, den Schwartz in Lissabon anwies, sich abwartend zu verhalten, noch
nicht in diese Aktivitäten involviert, weil das JDC in Frankreich anderweitig agierte.
Das Genfer OSE-Büro versorgte Mayer inzwischen mit Berichten. Erst nach Juni, als
die erste Gruppe der UGIF-Führung verhaftet war, wurde Mayer angewiesen, von der
Schweiz aus aktiv zu werden, aber die bekannten Schwierigkeiten, das Clearing zu
tätigen, verhinderten dies bis zum Jahresende. Zunehmend wandte sich das OSE,
dessen Führung dem konservativ eingestellten und blauäugigen UGIF zutiefst misstraute,
an Mayer, der kleinere Summen zum OSE-Budget beitrug. 19441ief dann die Frankreich-
hilfe des JDC weitgehend über Mayer, der die politisch gegensätzlichen FSJ und das
OSE vorsichtig ausbalancierte. Entgegen den JDC-Anweisungen aus Lissabon finan-
zierte Mayer schliesslich auch den Kinderschmuggel über die spanische Grenze,
wobei er eigene Geldkuriere nach Frankreich entsandte. Hinzu kam in der Schweiz,
dass Mayer für die geretteten Kinder die Finanzierung der weiteren Betreuer-
organisationen sicherte. 128
Ursprünglicher Grund, die versteckten Kinder nach der Schweiz und Spanien zu
schaffen, war das Risiko, dass die Kleinen ihre falsche Identität verraten würden.
Weiter kam hinzu, dass Kinder aus religiösen Familien sich in der katholischen
Umgebung, in die sie sich plötzlich versetzt sahen, nicht mehr zurechtfanden. Andere
wiederum sahen zu <~üdisch» aus oder hatten als Kinder von Emigranten einen zu
fremden Akzent, um nicht als verdächtig aufzufallen. Beunruhigend war auch das
politisch ständig scharfere Klima unter der deutschen Besatzung, was die Schliessung
der Kinderheime und den Wegzug in sicheres Territorium nahelegte. Im Januar 1943,
einige Monate vor seiner Flucht in die Schweiz, versammelte Joseph Weill seine
wichtigsten Helfer und bestimmte den OSE-Sportleiter Georges Loinger, eine «filiere
d'evasion vers la Suisse» aufzubauen. Eine Vereinbarung der OSE mit den ElF und
dem MJS sowie der Migrationssektion der UGIF, der sogenannten Sixieme, brachte
die Operationsbasis zusammen.
Die «Schweizer» Gruppe umfasste zunächst Mila Racine (ElF) und Marianne
Cohen (MJS), zusammen mit Sirnone Uvitte, Theo Klein und Tony Gryn, die sich
zuerst in Hochsavoyen installierten, weil in der italienisch besetzten Zone bessere
Aussichten für das Unternehmen bestanden. Haymann schildert die psychische wie
physische Anstrengung der alpinen Passagen am «Ende der Welt». 129 Nachdem
Mussolini sich im März den deutschen Wünschen nach schärferer Rassenpolitik zu
beugen schien, endgültig aber nach der deutschen Besetzung der italienischen Zone im
September 1943, lief dann der «Schlepperdienst» über unterschiedliche Wege. Insge-
samt arbeiteten drei Hauptlinien, die aus Sicherheitsgründen personell und geogra-
438 6. KAPITEL

phisch unabhängig voneinander wirkten. 130 Die koordinierenden OSE-Leute waren


über die wechselnden eidgenössischen Bestimmungen, die Kinder unter 16 Jahren und
Familien mit Kleinkindern verschonten, genau orientiert und handelten entsprechend.
Garel in Lyon und Julien Samuel in Limoges stellten durch ihre Mitarbeiter Jenny
Mazour, Robert Job und Alice Bloch reisebereite Gruppen von 12-25 Kindern zusam-
men. Die bisherigen und nun gefährdeten Kinderheime wurden geleert.
«In kleinen Gruppen wurden die Kinder in nächtlichen Reisen etappenweise unter
sachgemässer Führung ihrem Ziele zugeführt; in den Heimen musste ihre Abwesen-
heit wegen der ständigen Polizeikontrolle verschleiert werden. In den Zwischenstatio-
nen, wo die Kinder vor der Dämmerung ankamen, wurden sie in Klöstern, Spitälern,
Preventorien, Privathäusern, abgelegenen Gastschenken versteckt», schildert das OSE
in einem Bericht vom Mai 1943 die etappenweisen Verschiebungen, «und bei An-
bruch der Dunkelheit wurden sie dann zu Fuss, auf Fahrrädern und vorsintflutlichen
Kutschen nach ihrem Bestimmungsort gebracht». 131 Wichtigste Sammetorte vor dem
Grenzübertritt waren Annecy, Aix-les-Bains, Annemasse und Saint-Gervais. Nach
späteren Aussagen der beteiligten Helfer haben die Kinder den Ernst der Lage instink-
tiv erfasst und den Übertritt ernst und unauffällig vollzogen. Erst in der Schweiz löste
sich die Spannung in den Tränen der Kleinen etwas auf. Rund 1300 Kinder konnten so
in die Schweiz geschmuggelt werden. Tragisch blieb, dass zwei der aktivsten Helferin-
nen, Mila Racine und Marianne Cohen, in Auschwitz starben. 132
Andere Schlepperpfade im humanitären Auftrag: die Antwerpen-Pruntrut-Linie,
die belgisehe Judenkinder in Sicherheit brachte. Vor dem Krieg belief sich die Zahl der
Juden in Belgien aufgrund von Schätzungen auf 85'000 Seelen, wovon nur sieben
Prozent belgisehe Staatsbürger und sehr viel mehr Immigranten aus osteuropäischen
Staaten waren. Nach Ende des Kriegs gab es in Belgien 26'000 überlebende Juden,
dazu weitere 3000 in Lagern. Nach dem deutschen Angriff auf Belgien im Mai 1940
waren bereits zahlreiche Juden aus Belgien nach Frankreich geflohen und später
teilweise zurückgekehrt. Ende des Jahres registrierten die Deutschen dort mehr als
46'000 Juden. Diese deutlichen Zahlen illustrieren, dass in Belgien relativ viele Juden
überleben konnten: dank privater, kirchlicher, ziviler und königlicher Initiativen, auf-
grundfehlender Kollaborateure von politischem Gewicht und wegen der antideutschen
Einstellung in beiden Landesteilen. Aus London kam eine Erklärung der belgiseben
Exilregierung, welche die eigene Administration im besetzten Land in die antirassistische
Haltung einband. 133 In Belgien wurde gegen die deutschen Massnahmen aber nicht nur
laut protestiert, sondern auch die Rettung von Juden vor den deutschen und belgiseben
Nazis aktiv und wirksam betrieben.
Dies nährte den Boden für den jüdischen Überlebenskampf, der auf massive und
engagierte Hilfe zählen konnte. Die Bildung eines belgiseben Judenrats, der die Listen
für die Deportationen hätte zusammenstellen sollen, führte nicht zur fügsamen Er-
füllung deutscher Absichten, indem sich diese Association juive de Belgique auf
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 439

Sozialarbeit beschränkte. Zwischen Juli 1942 und November 1943 formierte sich ein
politisch breit abgestütztes Comite national de defense des juifs (CNDJ), das Kommu-
nisten, Bundisten, Zionisten, Unabhängige und einige Prominente umfasste. Nach
aussen standen über Kuriere zwei Kanäle zur Verfügung, einmal zur Exilregierung in
London, dann zum JDC in der Schweiz. Bedeutsam im Innem war, dass Nichtjuden im
vorwiegend jüdischen CNDJ, das einen Nichtjuden auch zum Präsidenten hatte, eine
Rolle spielten. So trat Yvonne Nevejean, Direktorin des belgiseben CEuvre national
d'enfance, dem CNDJ bei. Im Frühling 1943 waren bereits über 1300 Kinder ver-
steckt, und ein System, ähnlich dem Circuit Garel in Frankreich, sorgte für die
Verschiebung der Kleinen. 134 Anfangs 1943 tauchte in der Schweiz erstmals Benjamin
Nieuwkerk als Kurier aus Belgien auf, ein junger Zionist, der für das CNDJ Geld für
die versteckten Kinder suchte. Nathan Schwalb in Genf verwies Nieuwkerk nach St.
Gallen zu Mayer, der dann über einen schweizerischen Geschäftsmann in Belgien dem
CNDJ rund 360'000 Schweizer Franken bis zur Befreiung des Landes zahlte. 135
Benjamin Nieuwkerk wurde während seiner dritten Reise in die Schweiz von den
Deutschen getötet, worauf sein Bruder Alfred die Verbindung organisierte. Schwalb in
Genf und seine jungen Schweizer Chaluzim besorgten dann den Empfang der mit
diesen Geldem geschmuggelten Kinder.'36
Unabhängig und natürlich ohne Wissen um die OSE-Linie und der CNDJ-Hechaluz-
Linie waren auch Schweizer und besonders Schweizerinnen in ähnliche Rettungs-
aktivitäten involviert. Auffallig ist hier der individuelle Charakter der Rettung, was auf
den starken persönlichen Mut hinweist, auch allein zu handeln. So hat Rösli Näf, die
mit Emmi Ott bereits in den Lagern Vemet und Rivesaltes (Gurs) und dann im SRK-
Kinderheim La Hille tätig war, die Flucht jüdischer Jugendlicher nach Spanien begün-
stigt. In La Hille konnte Maurice Dubois die Deportation knapp aufhalten. Mehrere
jugendliche Gruppen fanden dann mit Hilfe der Betreuerinnen den Weg in die Schweiz.
Doch eine der Reisen scheiterte, führte zur Aufdeckung des Unternehmens und
veranlasste in Bem SRK-Chef Oberst Hugo Remund zu scharfem Durchgreifen.
Germaine Hommel und Renee Famy wurden ihrer Funktion in La Hille enthoben,
Rösli Näf entlassen. Die junge Anne-Marie Piguet in La Hille führte danach auf eigene
Faust die Fluchtreisen mit den jugendlichen Schützlingen weiter, wobei ihr die im
Grenzgebiet wohnhaften Victoria und Madeleine Cordier zu Hilfe kamen. Dank ihrer
Ortskenntnis im Vallee de Joux wurden auf diese Weise zwölf weitere Jugendliche
gerettet. Die Kindergärtnerin Gret Tobler passierte im Dezember 1943 mit zwei
Kindem die Grenze. Sebastian Steiger, der später in Basel die «Tage des jüdischen
Kindes» organisierte, begann sein Engagement in La Hille, indem er dort die Kinder
versteckte und reisebereit hielt. 137
Die Ankunft der Kinder auf helvetischem Territorium machte hier eine organisier-
te Aufnahme, Verteilung und Betreuung notwendig. Die OSE-Aktivisten in Genf, die
teilweise selbst illegal in die Schweiz einreisten, unter ihnen Lazare und Olga Gourvitch
440 6. KAPITEL

(Gmvic), Jacques Bloch, Gaston Uvy und Joseph Weill, kümmerten sich mit Boris
Tschlenoff, Emanuel Olswanger und andem um eine erste medizinische Betreuung
und besorgten behördliche Aufenthaltspapiere. Die ORT-Aktivisten sorgten für die
soziale Reintegration und berufliche Ausbildung der Jugendlichen. In Versoix und
Bex unterhielten die Zionisten Heime für die Jugend-Alijah. Quäker und OSE sowie
die anderen in Genf erst kürzlich eingetroffenen Helfer konzentrierten sich indes bald
auf die Kinderhilfe im befreiten Frankreich, weil dort die völlig pauperisierten jüdi-
schen Überlebenden dringend Hilfe benötigten. 138 In der Schweiz war man auf die
Kinderhilfe des SRK und besonders das SHEK angewiesen, die im Land auch von
Amtes wegen für die weitere Fürsorge bestimmend waren .

.. . UND EIN KRIEG UM JÜDISCHE KINDER?


RIVALITÄTEN UND HOFFNUNGEN, MISSIONSGEFAHR UND ZUKUNFTS-
PLÄNE

Das Schweizerische Hilfswerk für Emigrantenkinder (siehe nebenstehende Seite) über-


nahm bis Ende 1944 rund 2500 illegal eingereiste Kinder. Das SHEK teilte die Arbeit
in materieller und fürsorgerischer Hinsicht mit der Kinderhilfe des Roten Kreuzes, das
besonders für Kleinkinder und ganze Familien zuständig war. Gernäss Bundesrats-
beschluss vom Dezember 1942 hielt das SHEK die Betreuung für sämtliche Flüchtlings-
kinder im Alter von 6-16 Jahren inne. Die Funktion des SHEK bestand also in der
Koordination und Finanzierung der Fürsorge und dann in der Fürsorge selbst, die aber
teilweise delegiert wurde. Damit war für die jüdischen Kinder nicht der VSJF zustän-
dig, sondern die Kinderhilfe des SRK und das SHEK. Über neunzig Prozent all dieser
Kinder waren 1943-1945 jüdischer Herkunft und wurden in fast dreissig Heimen und
an zahlreichen Freiplätzen, das heisst bei privaten Familien, untergebracht. Mit dem
bundesrätlichen Plazet und den geschmuggelten Kindem wuchs die Bedeutung des
SHEK für die jüdischen Organisationen schlagartig an, nachdem in den Jahren zuvor
das Hilfswerk bereits wichtiger Partner des VSJF gewesen war. Entsprechend versorg-
ten nun das JDC und der südafrikanische Jewish War Appeal das SHEK mit dem
nötigen Geld, das im SHEK von Georges Bloch, selbst jüdischer Philanthrop und
Mäzen, verwaltet wurde.
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 441

KURZER ABRISS ÜBER DAS SCHWEIZE- gration gewesen zu sein, die hier unterstützt
RISCHE HILFSWERK FÜR EMIGRAN- werden mussten. Insgesamt wurden zwi-
TENKINDER (SHEK) schen Oktober 1933 und August 1939 rund
5000 Emigrantenkinder verschiedenster Na-
Das SHEK formierte sich aus einem Comite tionen durch die SHEK-Sektionen betreut.
suisse d'aide aux enfants d'emigres in Zü- In einer zweiten Phase, vom <<An-
rich und der Basler Hilfe für Emigranten- schluss>> Österreichs bis zum Sommer 1942,
kinder im ersten Jahr nach der Macht- verlagerte sich das Gewicht von der Aus-
übernahme der Nationalsozialisten. Nach landshilfe zur Fürsorge in der Schweiz.
mehreren lokalen Gründungen gleichen Na- Nach dem Kriegsausbruch arbeitete dann
mens in Bern, Zürich, Luzern, St. Gallen das SHEK nur noch innerhalb der Schweiz.
und Winterthur entstand im Januar 1935 das Heimschulen, Kinderhorte und Tagesheime
SHEK als Dachorganisation. Geleitet wurde entstanden zuerst in Basel und Zürich, dann
das SHEK von Nettie Sutro-Katzenstein an weiteren Orten. Zunehmend wurden in
(1890-1967). Im Hintergrund wirkte als Zusammenarbeit mit dem BIF, VSJF und
Kassier massgeblich Georges Bloch, ein HI CEM jüdische Kinder betreut; die Mög-
kinderloser Zürcher Fabrikant und Mäzen, lichkeiten zur Weiterwanderung von Famili-
eng befreundet mit dem späteren VSJF-Prä- en versiegten sehr bald. 1941 betreute das
sidenten Otto Heim und nach dem Krieg SHEK erst 330 Flüchtlingskinder verschie-
bekannt als bedeutender Kenner und denster Herkunft. Dies ändert sich im Som-
Sammler der Druckgrafik Picassos. mer 1942, als in den westeuropäischen Staa-
Entwicklung und Arbeit des SHEK las- ten die Deutschen Jagd auf die Juden zu ma-
sen von 1933 bis 1947 folgende vier Haupt- chen begannen und die Schweizer Regie-
phasen unterscheiden: rung die Grenze sperrte.
In einer auslandorientierten ersten Phase Mit dem zweiten grossen Flüchtlings-
von der Gründungszeit bis zum Sommer strom aus dem Westen und Süden in die
1938 folgte das SHEK dem Ruf der ameri- Schweiz gelangten Kinder von <<rassisch>>
kanischen Quäker (Service international verfolgten Familien ins Land. Der Anteil der
d'aide aux refugies europeens) und Pariser jüdischen Kinder wuchs schlagartig und
Hilfswerken (vor allemAssistance medicale umfasste nun rund neunzig Prozent aller
aux enfants de refugies) zu einem Hilfs- SHEK-Kinder. Diese dritte Phase brachte
programm für zumeist deutsche, aber auch dem SHEK bis Ende 1943 zahlreiche neue
russische Emigrantenkinder in Frankreich. Herausforderungen: Besuche in den 47
Zunächst konzentrierte sich das SHEK auf eidgenössischen Auffanglagern, legal und
Sendungen von Medikamenten und Hilfs- illegal eingereiste Kinder, Trennung von
gütern nach Frankreich und später auch in Müttern und Kindern von Amtes wegen,
die Tschechoslowakei und nach Oberitalien. <<Verwilderung>> und Verwahrlosung von
Aus diesen Kontakten gingen auch erste Kindern. Die SHEK-gestützten Heime in
Schweizer Ferienaufenthalte für die Kinder Wartheim, Ascona und Langenbruck erhiel-
aus Paris hervor. Bei Divergenzen mit den ten für die zuvor umhergetriebenen und ver-
Behörden wegen dieser Ferienaufenthalte steckten Kinder vorübergehend den Charak-
zögerte das SHEK nicht, auch die öffentli- ter von <<Auffangstationen>>. Schulpflichtige
che Meinung zu mobilisieren. Kinder kamen vor allem in den christlichen
Anlass für die Bildung eines Dach- und jüdischen Pflegefamilien, in bestehen-
verbandes scheinen auch die in der Schweiz den Heimen (zum Beispiel die Ecole
lebenden Familien aus der politischen Emi- d'Humanite in Goldern oder das Institut
442 6. KAPITEL

Ascher in Bex) oder in neuen Heimen des Kinder, die seit Kriegsausbruch registriert
SHEK, des ORT, der Jugendalijah oder der worden waren, das Land verlassen. Davon
jüdischen Logen unter. Viele schweizerische waren zwei Drittel mit den Eltern ausgereist
Pflegefamilien boten auf sogenannten Frei- und ein Drittel als Alleinstehende zu ihren
plätzen den fremden Kindern einen geborge- Angehörigen ins Ausland weggereist Knapp
nen Ort; der Wert dieser freiwillig geleiste- hundert Kinder, von denen der grössere Teil
ten Pflege wurde vom SHEK auf fünf Mil- nach Palästina gelangte, erwiesen sich als
lionen Franken geschätzt. vollkommen «verlassen>>, das heisst, sämt-
Politische Bedingung waren der liche Angehörige waren deportiert und er-
eidgenössische Grundsatz des «Transits>> mordet worden. Wichtigste Zielländer der
und die Planken der Flüchtlingspolitik In- Trans- und Remigration bei den SHEK-Kin-
nerhalb dieses Rahmens waren für die ge- dern waren Frankreich (mehr als 2000 Kin-
samte organisatorische Ausweitung der der), Belgien (rund 450), Italien (680), Palä-
SHEK-Tätigkeit vier Momente bedeutsam: stina (450) und die Vereinigten Staaten
Im Januar 1942 wurde die Kinderhilfe des (130).
SRK gegründet, und mit dem SHEK wurde In der dritten und besonders in der letz-
eine temporäre Arbeitsteilung angestrebt; ten vierten Phase war die Zusammenarbeit
die «Emigrantenkinder>> wurden dabei als mit jüdischen Verbänden sehr eng und deck-
kriegsgeschädigte Kinder anerkannt. Ende te verschiedene Funktionen ab: Der ORT
Jahr beschloss die Schweizer Regierung, die sorgte für Kurse und Fachschulen, der VSJF
Flüchtlingskinder dem SRK und dem SHEK für die religiöse Betreuung, das OSE für die
zur Unterbringung und Betreuung zu unter- Suche und Kontakte zu den vermissten Fa-
stellen. Im unauffälligen Zusammenspiel der milien oder Verwandten, die HIAS für
schweizerischen und jüdischen Hilfswerke Weiterwanderungen nach Übersee, die JA
finanzierten JDC und andere einen grösseren für Transporte nach Palästina und das JDC
Teil des SHEK-Budgets in den Jahren 1943 für Subventionen. Ende des Jahres 1947
bis 1945. schloss das SHEK seine Akten.
Die vierte Phase setzte anfangs 1944 ein
und war gekennzeichnet durch die Rück-
und Weiterwanderungen. Hinzu kamen aus
KZ gerettete Kinder und später wieder Kin- Quellen: Nettie Sutro, Jugend auf der Flucht
der aus DP-Lagern, die zum Transit in die 1933-1948, 15 Jahre im Spiegel des Schweizeri-
Schweiz überführt worden waren. Dauernd schen Hilfswerks für Emigrantenkinder, Zürich
in der Schweiz blieben nur sehr wenige der 1952. SLB: Bestand V Schweiz 1487, Tätigkeits-
SHEK-Kinder, die von ihren Pflegefamilien berichte 1936-1947 des SHEK und Sektion.
adoptiert wurden. Bis zur Einrichtung eines JDC: # 945, Berichte SHEK in englischer Spra-
Dauerasyls durch den Bundesrat (März che und diverse Korrespondenzen von Sutro und
1947) hatten bereits mehr als 4000 von 4900 Bloch mit Mayer von 1943-1950.
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 443

Kinderheim Wartheim

Aufschlussreiches Fallbeispiel eines jüdischen Kinderheims, dem vom SHEK Kinder


zugewiesen wurde, bildet die Kolonie in Wartheim. Wie erwähnt, war das Kinderheim
aus dem fürsorgerischen Ferienwesen seit 1912 entstanden und 1927 im Appenzell fest in
Betrieb genommen worden. Über die Zustände und Probleme in den Jahren 1938-1947
liegt eine unpublizierte Untersuchung von Erna Guggenheim vor, die dort heim-
geschichtliche und psychologische Materialien gesammelt und ausgewertet hat. 139 1938
waren die ersten, insgesamt dreihundert Flüchtlingskinder aus Deutschland in Wartheim
auf «Transit» vorübergehend eingewiesen worden, von denen nach Kriegsausbruch ein
Teil ständig aufgenommen blieb. Diese Kinder kamen grösstenteils aus bürgerlichen
Verhältnissen, oder sie stammten aus dem evakuierten Israelitischen Waisenhaus in
Frankfurt, wo sie eine gute Erziehung genossen hatten. 1942 wies das SHEK erneut
Kinder aus den eidgenössischen Auffanglagern in Wartheim ein, doch handelte es sich
diesmal meist um verwahrloste Kinder, die bittere Schicksale hinter sich hatten. In den
Jahren des Kriegs litten die Kinder unter der Ungewissheit über den Verbleib von Eltern,
Geschwistern und Verwandten. Flucht, Kriegsschädigung, Sprachenvielfalt, Lagerkoller,
ständige Wechsel, Trennung der Kinder von ihren Müttern, Verwaisung und Banden-
bildung Iiessen Wartheim bis 1944 zu einer Auffangstation werden, die nur noch sozial
schwer integrierbare «Problemfälle» beherbergte. 1945 kamen 27 Kinder aus Hergen-
Belsen hinzu, die nicht nur verschlossen und misstrauisch waren, sondern aus ihrer KZ-
Erfahrung in den Leitern und Leiterinnen anfänglich nur Feinde erblickten. Fehlende
Mittel, ungenügende Bekleidung, interne Spannungen, Mangel an qualifiziertem Perso-
nal und besonders ein ständig überfülltes Heim belasteten Wartheim zusätzlich. Chaoti-
sche Zustände, tumultartige Szenen und Bandenbildungen ergänzen das Bild. Masern,
Grippe und eine Gelbsuchtepidemie setzten schliesslich dem Kinderheim weiter zu.
Aufgefangen wurden diese Schwierigkeiten 1944 durch den Zuzug ausgebildeter
Leiterinnen und pädagogisch erfahrener Emigranten und Flüchtlinge. Dazu gehörten
ORT-Pädagogen, die einzelne Kinder und Jugendliche in ORT-Schulen schickten und
in Wartheim selbst eine Werkstatt und eine Bibliothek eröffneten. Sehr bald eiferten
die Kinder chaluzischen Idealen nach, die von zionistisch gesinnten Pfadfindern
verbreitet wurden. Ein Kinderparlament übte die Formen der Selbstverwaltung ein und
diente dem Erlernen, Konflikte friedlich auszutragen und sich in das Heimleben
einzuordnen. Die Heimleiterinnen kombinierten die Konflikteinübung auch mit der
Stiftung einer neuen Identität. Dieses pädagogische Ziel wurde mit Morgenkreisen,
Wochenfeiern und Jahresfesten realisiert, wozu Rezitation, Tanz und ähnliches gehör-
te. Dabei wurden traditionell jüdische Feste und Inhalte mit den Ideen und Formen der
Reformpädagogik der zwanziger Jahre in Einklang gebracht. Durch die Darstellung
der jüdischen Leidensgeschichte und die Anregung, selbst ein Tagebuch zu schreiben,
sollten die Kinder ihre Gefühle der Trauer auszudrücken lernen.
444 6. KAPITEL

Besonders wirkungsvoll arbeitete Izchak Schwersenz mit den als «schwierig»


eingestuften Kindern. Schwersenz hatte mitten in Berlin den Chug Chaluzi, eine
jugendliche Hechaluz-Pioniergruppe im Untergrund, organisiert und geleitet. Anfangs
1944 kam er als deutscher Luftwaffenoffizier verkleidet über die grüne Grenze in die
Schweiz. Hier gründete er den zionistisch orientierten Bund jüdischer Pfadfinder und
begann in Wartheim und anderen Heimen mit der Betreuung von «Problemkindern»
aus Bergen-Belsen und später aus den Displaced-person-Camps. 140 Überall wurden
Kinder und Jugendliche für das Pionierideal der Chaluzim motiviert und dann auf die
Weiterreise vorbereitet. Dies gilt auch für alle Heime, in denen sich jüdische Kinder
des SHEK, des OSE, des BIF oder des VSJF aufhielten. Bei einigen jüdischen wie
christlichen Verantwortungsträgem der Kinderhilfe anfänglich nicht gern gesehen,
aber aufgrundihres Elans bei Kindem und Jugendlichen sehr beliebt, trug die zionistische
Jugendbewegung eine eigene Dynamik und Lebenskultur in die verschiedenen Heime
hinein. Die Kinder- und Jugend-Alijah, wie sie vor dem Krieg in Deutschland und
anderen europäischen Ländern existiert hatte und in Palästina durch Henrietta Szold
repräsentiert wurde, kam wieder in Schwung. Die Jugendlichen des Hechaluz, des
Haschomer Hazair und des Bachad wurden nebst ihrer landwirtschaftlichen und
handwerklichen Ausbildung mit Sprachkursen und besonders mit gruppenbezogenen
Erlebnissen motiviert. Der «Geist der Kameradschaft», wie ihn die zionistischen
Gruppen vorlebten, kanalisierte das Bedürfnis nach gemeinsamer Orientierung auf
eine neue Zukunft hin. 141

Der Taufkonflikt als Folge eidgenössischer Flüchtlingspolitik

Das SHEK wurde von aufgeschlossenen Juden und Christen als praktizierte Solidarität
der Konfessionen empfunden und war seinen Statuten gernäss auch strikt neutral.
Dass die SHEK-Arbeit bei der Aufnahme und Betreuung jüdischer Kinder ohne
Zweifel von Kontinuität geprägt war, zeigt nicht nur das langjährige Bestehen der von
Nettie Sutro-Katzenstein geleiteten Organisation, die 1947 die SHEK-Akten schloss.
Als Erwin Stiebe!, ein rühriger Schweizer, den das Elend versteckter und überleben-
der KZ-Kinder nicht mehr in Ruhe liess, in Israel ein Grundstück kaufte, übernahm
Nettie Sutro das Präsidium für das dort gegründete Schweizer Kinderdorf Kirjath
Jearim, das der Jugend-Alijah unterstellt wurde, von der Schweiz aus aber von einem
politisch und religiös neutralen Verein bis heute getragen wird. 142 Die Idee des 1951
eingeweihten schweizerischen Kinderdorfes in Israel geht also auf das Schicksalsjahr
1933 zurück, als die ersten deutschen Emigrantenkinder in Frankreich eintrafen und
zu einem Erholungsurlaub in die Schweiz geschickt wurden, bis dies 1941 fremden-
polizeilich verunmöglicht wurde. Auf dem Weg zu dieser schweizerischen Erfolgs-
geschichte in Israel hatte man freilich noch einige Proben zu bestehen. Sie weisen auf
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 445

das gespannte Verhältnis von Juden und Christen auch in der Schweiz und gerade
beim SHEK hin.
In der jüdischen Presse tauchte im Herbst 1943 erstmals Kritik am SHEK auf.
Tiefere Ursache und Hintergrund des Konfliktes war die Trennung von Müttern und
Kindern, von verheirateten Männern und Frauen. Der Bundesrat verordnete in seinem
Beschluss vom 12. März 1943, die «arbeitstauglichen>> Männer und Frauen im Alter
von zwanzig bis sechzig Jahren strikt von den zur Arbeit «untauglichen» Flüchtlingen
zu separieren, die aus Kindern, Schwangeren, Müttern mit Säuglingen, Alten, Kranken
und Gebrechlichen bestanden. Fast unnötig zu wiederholen, dass damit der freie
Zugang zum Arbeitsmarkt verboten blieb und das Begehren der Hilfswerke in dieser
Richtung bei den Behörden kein Gehör fand. Entsprechend unterstanden diese beiden
Kategorien verschiedenen administrativen Instanzen, obwohl beide unter EJPD-Auf-
sicht figurierten. Kinder und Alte wurden dem SRK und der SHEK zugewiesen,
während die Kategorie der Arbeitstauglichen der eidgenössischen Zentralleitung der
Heime und Lager unterstand.
Familien, die in der Schweiz bis zum März 1943 zusammengelebt hatten, wurden,
wenn dies nicht bereits vorher geschehen war, plötzlich auseinandergerissen. Nicht
weniger gefühllos war der Umgang mit den frisch Eingereisten. Diese Flüchtlinge, und
besonders die Mütter und Kinder, erlebten den Weg von der Grenze an mit einem
Gefühl von Sicherheit und erneuter Verunsicherung zugleich: Anfänglich wurden sie
in Sammel- und Quarantäne-, dann gemeinsam in ein Aufnahmelager eingewiesen,
von wo auch die Abschiebung aus der Schweiz erfolgen konnte. Waren sie im Land
aufgenommen, so wurden die meisten Erwachsenen i~ Arbeitslager eingewiesen,
während der Rest, darunter die Kinder, den privaten Fürsorgen überlassen wurde.
Resultat dieser unsinnigen Vollzugspraxis, die Rationalisierung, Disziplinierung und
Kontrolle der Flüchtlingsmasse verlangte, war das Gegenteil einer sinnvollen Ord-
nung: Oft unfähige, überforderte und teilweise auch antisemitische Lagerleiter, zum
andern viele zermürbte und entwürdigte Lagerinsassen, schliesslich die erzwungene
Wegnahme der Kinder. So hausten in den Massenunterkünften Frauen mit fremden
Männern, Männer getrennt von ihren Familien und Leute unterschiedlichster Nationa-
lität und Herkunft unter einem Dach. Kleinkinder schliefen und assen von ihren
Müttern getrennt oft in einemandem Haus oder Stockwerk. Kinder zwischen 7 und 16
Jahren wurden durch die Vermittlung des SHEK und SRK in Familien untergebracht
und sahen ihre Eltern nur selten. Mitte April 1944 lebten 2455 Flüchtlingskinder in
fremden Familien. 143
Die Trennung der Ehegatten und besonders der Mütter von ihren Kindern erregte
unter den jüdischen Organisationen Argwohn in unterschiedlichen Graden, dann zu-
nehmend Entrüstung bei Frauenvereinen, Orthodoxen und Zionisten und schliesslich
massive Kritik in der jüdischen und allgemeinen Öffentlichkeit. Die Kritik ging zuerst
nach innen statt an die staatliche Adresse, wo die wirklichen Verursacher sassen.
446 6 .. KAPITEL

Überblicken wir kurz gerafft die Meinungsbildung: Im Sommer 1943 bereits stritten
sich innerhalb der jüdischen Gemeinschaft die Geister, ob jüdische Kinder und Waisen
aus nichtreligiösen Familien die hohen Feiertage bei jüdischen Gastfamilien verbrin-
gen oder einfach bei ihren christlichen Pflegefamilien bleiben sollen. Der
Rabbinerverband rief dazu auf, neue jüdische Kinderheime zu gründen, die Zionisten
initiierten Alijah-Heime, die jüdischen Gemeinden suchten mühevoll und oft vergeb-
lich nach Freiplätzen bei jüdischen Familien. Die alte Angst vor der christlichen
Mission ging um, die Fronten waren gezogen. Der Jahresbericht 1943 des SHEK
wurde im Israelitischen Wochenblatt ebenso attackiert wie das Verständnis, das der
SIG in seinem Geschäftsbericht dem SHEK gegenüber aussprach. 144
Im Oktober 1943 verteidigte Nettie Sutro erstmals vor dem Israelitischen Frauen-
verein Basel die Trennung von Müttern und Kindern, die «sich aus materiellen
Gründen als notwendig und für die Kinder als gut und förderlich erwiesen habe». Die
SHEK-Leiterin wies daraufhin, dass die Aufnahme von Kindern in christliche Pflege-
familien spontan erfolge, während die jüdischen Familien sich damit schwer tun und
sich vorwiegend auf Patenschaften und Unterstützungen verpflichten würden; «Be-
fürchtungen» seien durch jüdische Wanderleheer und den Besuch von jüdischen
Religionsschulen aus dem Weg geräumt worden. Der SIG hatte, angesichts der hefti-
gen Kritik, drei Wochen zuvor beschlossen, im VSJF zwei neue Ressorts zu schaffen,
die sich den negativen Folgen des Lagersystems annehmen sollten, ohne freilich die
tieferen politischen Ursachen in Frage zu stellen. Neben einem säkularen Kulturressort
entstand auch ein Ressort «Religiöse Betreuung», das in die Hände von SHEK-Kassier
Georges Bloch gelegt wurde. Es sollte den Kindern mittels Wanderleheer «Ersatz für
die ihnen mangelnde jüdische Atmosphäre» bieten. Der VSJF machte die jüdische
Unterbringung der Kinder zu einem Hauptpostulat seiner Politik. 145
Doch das Misstrauen gegenüber SHEK und SIG hielt in allen Kreisen weiter an-
zu tief sassen die historischen Vorgaben aus der Taufgeschichte. An einer Arbeits-
konferenz in Grindelwald machte ein Jahr später der Verband Israelitischer Kantoren
und Religionslehrer eine Gefährdung der Freiplatz-Kinder durch christliche Missions-
tendenzen aus. In einer Resolution verlangte der Verband neue jüdische Kinderheime
und eine intensivierte Betreuung der Kinder, die in den christlichen Pflegefamilien
lebten. In der ICZ wollte man indes von der «Behauptung, dass Kinder in jüdischen
Pflegefamilien nicht gern gesehen» seien, gar nichts wissen. Die Zürcher Cultusgemeinde
überwies ihrem Vorstand einen Antrag, beim SIG Druck aufzusetzen, um sofort mobil
für eine Unterbringung der Kinder in einem jüdischen Milieu zu machen. 146 Inzwi-
schen nannte das Wochenblatt die eidgenössische Politik als wahre Ursache und
zitierte die Verbündeten, die sich öffentlich gegen die amtliche Trennung von Müttern
und Kindern wandten. Allen voran waren dies Frauenverbände oder einzelne, wie die
mit einem Emigranten verheiratete Schauspielerirr und Kinderbuchautorirr Elsi
Attenhofer. Ein Feldprediger der Armee wurde besonders erwähnt, weil der Geistliche
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 447

auf einer Frauentagung im Bemer Oberland in «soldatischer Kürze» von einem


schmachvollen «Kinderkreuzzug» gesprochen hatte. 147
Auf der Konferenz der Flüchtlinge in Montreux warnte die Zürcher
Kinderpsychologin Dora Benjamin eindringlich vor einer Sicht der Dinge, die am
Kind selbst vorbeigehe. Eine vorschnelle Weiterreise in andere Länder oder eLn
ständiges Umplazieren innerhalb der Schweiz hielt sie besonders bei den verlassenen
Kindern für verfehlt. Plötzlicher Entzug von vertrauten Pflegeplätzen gehe genauso
wenig reibungslos an der Wärme und Geborgenheit suchenden Kinderseele vorbei wie
eine schnelle Rück- oder Weiterwanderung. «Wir müssen uns darüber klar sein, dass
ein erneutes Fortschicken dieser Kinder, die wirklich ein neues Zuhause gefunden
haben, ein Fortschicken, vielleicht bald nach der Nachricht vom Tode der eigenen
Eltern, sich für die Auffassungsfähigkeit eines jüngeren Kindes nicht von einer neuen
Deportation unterscheidet.» 148

Weitere Kontroversen: Die Kinder aus Bergen-Belsen und Buchenwald

Mit der Verquickung von Weiterreise und Taufgefahr wurde der Streit im Alpenland
zu einer Sache von internationaler Beachtung und verlor gleichzeitig an Bedeutung.
Seit anfangs Mai 1945 in Europa die Waffenruhe galt, wurden viele Kinder mit ihren
Eltern wieder vereinigt, indem sie aus der Schweiz ausreisten. Binnen Jahresfrist
verliessen zweitausend von 2850 Kindern, die vom VSJF pädagogisch und religiös
betreut worden waren, die Schweiz. Der grösste Teil reiste mit seinen Angehörigen
weiter oder begab sich ins Ausland, wo die Kinder von ihren vermissten Eltern oder
nahen Angehörigen erwartet wurden. Besonders Frankreich und die USA, wohin viele
Flüchtlinge oder Überlebende emigrierten, waren jetzt Zielländer der nachreisenden
Kinder. Viele wanderten nach Palästina aus, besonders die Verwaisten, und einige
Kinder wurden von der OSE in französischen Heimen untergebracht. 149 Doch konzen-
trierte sich in der Schweiz jetzt das Interesse auf die letzten Waisen und Verlassenen,
die zum Gegenstand des Streites wurden. Numerisch handelte es sich noch um 164
Kinder, von denen 103 nach SHEK-Angaben in der Jugend-Alijah beheimatet waren.
Zu den 61 umstrittenen Fällen kamen aber bald 70 neue Kinder aus Bergen-Belsen und
rund 300 Jugendliche aus Buchenwald hinzu, die als geladene Gäste in der Schweiz
weilten. 150
In den europäischen Ländern waren inzwischen zionistische Emmissäre und
Aktivisten unterwegs, um die Einsammlung und Weiterleitung gerade dieser elternlo-
sen Kinder und Jugendliche nach Palästina zu organisieren. Allerorts in Europa stellten
jüdische Helfer eine Pauperisierung der Kinder, die Vernachlässigungjüdischer Erzie-
hung, eine galoppierende Assimilation bei Jugendlichen oder gar heimliche Taufen
fest. Das Thema «christliche Taufe» von versteckten oder in Heimen lebenden Kin-
448 6. KAPITEL

dem bewegte die Gemüter in Frankreich und Belgien, also in jenen Ländern, aus denen
auch die meisten geretteten Kinder in die Schweiz kamen. 151 Damit musste der Kon-
flikt von der politischen Ebene, die in der amtlichen Trennung von Müttern und
Kindem bestand, auf die sekundäre Ebene der Tauffrage abgleiten, die eine Folge der
ersteren war. Doch gerade in der neutralen Schweiz lag in dieser Schieflage mehr
Potential zu öffentlichem und sogar internationalem Aufsehen, aber auch zu
innerjüdischen Kontroversen, als in der anfänglichen Ursache, die nur einige Beamten-
köpfe zur Zielscheibe gehabt hätte. 152
Der Rahmen bildete die bereits erwähnte Kontroverse um die Rück- oder Weiter-
wanderung, in deren gesamten Sog die Kinderfrage geraten musste. Neben den Kindem
erregte in diesem Augenblick auch der Streit um die geretteten Flüchtlinge aus Bergeu-
Belsen und Theresienstadt die Gemüter. Wohin sollten diese gehen? Die Fremdenpolizei
wollte sie nach dem algensehen Philippeville in ein Lager der UNO abgeschoben wissen.
Schliesslich blieben sie in der Schweiz, um später nach Italien auszureisen. 153 Zu den
Vektoren, die insgesamt bestimmend waren, gehörten alliierte Garantien für die Abnah-
me der in der Schweiz lebenden Flüchtlinge, dann die Absichten der Flüchtlings-
organisation der Vereinten Nationen (UNRRA) und schliesslich die Ansprüche der
jüdischen Organisationen sowie die Selbstbestimmung der Flüchtlinge. Hinzu kommt,
dass die Schweiz nicht UNO-Mitglied war, was aus der Sicht des UNRRA-Direktors
Herbert Lebmann ungünstig für schweizerische Begehren sein musste. Kein Wunder
also, dass wegen der verlassenen Kinder die Schweiz politisch und die Schweizer Juden
emotional in Bewegung gerieten und sich beeilten, die Sache eilends zu bereinigen.
Von orthodoxer Seite sprach im Bundeshaus zuerst Recha Sternbuch vor, im
Namen der amerikanisch-kanadischen Rabbiner-Union und in Begleitung des Ameri-
kaners Isaac Lewin. Sie verlangten tausend oder mehr Kinder, vor allem Waisen und
Alleinstehende, die auf Kosten der Union nach Frankreich remigriert und dort religiös
erzogen werden sollten. Die agudistische Jeschiwa Ez Chaim in Montreux schrieb
wegen der Kinder und der Flüchtlinge aus Bergen-Belsen empörte Briefe nach Bem
und veröffentlichte danach kurzerhand die gesamte Korrespondenz. Demgegenüber
protestierten die Verantwortlichen der SHEK und der SRK-Kinderhilfe gegen die
geplante «Verfrachtung» der noch in der Schweiz verbliebenen Kinder, die man in der
Polizeiabteilung ganz gern und möglichst bald hätte über die Grenze entschwinden
sehen. 154 Der agudistische Vorstoss im Bundeshaus war aber auch als Schlag gegen die
zionistische Seite gemünzt. Die Zionisten zielten zur gleichen Zeit gegen den An-
spruch der Agudisten, die immer noch antizionistisch eingestellt waren. Beide Seiten
warfen der Kinderhilfe des SRK missionarische Tendenzen vor und hackten nach den
Spitzen des SIG, die in vielen jüdischen Augen nach wie vor allzu gouvernemental
eingestellt blieb. Stein des Anstosses waren die aus dem KZ Buchenwald in die
Schweiz geholten Kinder und Jugendlichen, die in Rheintelden von Armee und SRK
hinter Stacheldraht interniert und betreut wurden. Der Zustand erregte die Gemüter in
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 449

der Israelitischen Gemeinde in Basel, die Arbeiter-Zeitung schoss sich auf den Filz von
Armee und SRK ein und das in Basel begründete Organ des Makkabi, die spätere
Jüdische Rundschau, kritisierte die Interessenverflechtung von schweizerischen und
jüdischen Organisationen, von der sich die Zionisten ausgeschlossen fühlten. Im
Herbst sondierte Gad Frumkin, Mitglied des Obersten Gerichtshofs von Palästina, die
Lage der Flüchtlingskinder. 155
Am 6. April1946 schloss der VSJF mit der Kinderhilfe des SRK und dem SHEK
eine Vereinbarung, die es dem VSJF erlaubte, die jüdischen Mitarbeiter des SHEK
eingehend zu instruieren. Bei Kindem mit Eltern oder nahen Verwandten in der
Schweiz bestimmten diese die Unterbringung; den jüdischen Betreuern wurde Gele-
genheit zur vorangehenden Kontaktnahme eingeräumt. Bei den alleinstehenden Kin-
dem in christlichen Familien sollte bei einer Umplazierung eine jüdische Familie oder
ein jüdisches Heim gesucht werden. «Da die Voraussetzungen dafür aber nicht vor-
handen sind, soll eine Umplacierung nur dann erfolgen, wenn konkrete Vorkommnisse
befürchten lassen, dass das Kind dem Judentum verlorengehen kann», musste man
gleichzeitig eingestehen. Abschluss der Vereinbarung bildete eine Solidaritätserklärung
des VSJF mit der SHEK und dem SRK bei allfälligen Verunglimpfungen. 156 Die
Delegierten des SIG bestellten zur Abwicklung des Arrangements eine Kommission.
Inzwischen legte auch Saly Mayer seine Hand auf die Sache, indem das JDC als
Geldgeber beim SHEK genaue Auskünfte anforderte und Nettie Sutro während einer
Überfahrt mit Kindem in der New Yorker JDC-Zentrale persönlich befragt wurde. 157
Der das christlich-jüdische Verhältnis belastende Taufkonflikt war damit im grossen
und ganzen beigelegt, selbst wenn die tatsächlich vorhandenen Missionstendenzen
bzw. Missionsängste die Gemüter bis in die fünfziger Jahre bewegt haben.
Die agudistische Flüchtlingshilfe unter Fransie Goldschmidt, die bereits im Mai 1943
konstituiert worden war, eröffnete im Sommer 1946 ihre Kinderheime in Bex, Tavannes,
Schwendibach und Montreux, wo über dreihundert Kinder aufgenommen wurden. 158 Die
zionistische Jugend-Alijah war seit Kriegsende, wie wir gesehen haben, von neuem mit
der Durchführung ihrer Palästinareisen von Kindem aus den eigenen Heimen in der
Schweiz beschäftigt. Letztes Nachhutgefecht in der Tauffrage bildete eine verspätete
Intervention des Oberrabbiners von Palästina beim JDC, als Mayer schon längstens ein
skeptisches Auge auf die Angelegenheit geworfen hatte. Alle verlassenen Kinder, das
heisst Kinder ohne Eltern und ohne Verwandte, waren nun in jüdische Heime überführt.
Im November 1946 betreute das SHEK noch 600 jüdische Kinder, davon 420 in jüdi-
schen Heimen und 140 mit Einwilligung ihrer Eltern oder naher Verwandten in christli-
chen Familien. 59 Kinder lebten in Heimen der Zentralstelle, 394 waren dem VSJF direkt
unterstellt, und die 270 Jugendlichen aus Buchenwald waren in Heime und Kurse verteilt
worden, wo sie einer Lehre, einer ORT-Ausbildung oder dem Schulbesuch nachgehen
konnten. Bis Ende 1946 machte der VSJF unter den insgesamt 1238 jüdischen
Flüchtlingskindem nur noch einige wenige «gefährdete Fälle» aus. 159
450 6. KAPITEl

Ambivalente Erinnerung an die Schweiz

Der peinliche und heikle «Krieg» um Kinder war vorbei. Es bleibt abschliessend eine
psychologische Einschätzung und dann eine schweizergeschichtliche Situierung der
Episode zu leisten. Wir haben oben bereits die emotionale Heftigkeit oder die starke
innere Abspaltung erwähnt, wenn das Thema Kinder auftaucht. Bemerkenswert sind
einige Sätze, die ehemalige Kinder fünfzig Jahre später am Schweizer Fernsehen über
ihre Erfahrungen äusserten. 160 «Natur» und «Luft» sind erste Aspekte der Erinnerung
vor laufender Kamera. Eine jüdisch-amerikanische Psychologin, Ruth Westheimer,
damals als Karola Siegel selbst betroffen, hebt das «tiefe Gefühl der Dankbarkeit» den
Schweizer Pflegeeltern gegenüber hervor und interpretiert es als Folge der alles
überschattenden Traurigkeit, dass man in der Welt sich letztlich allein gelassen fühlte.
In den fremden Familien hatte man es wohl sehr gut, doch fehlte das vertraute Milieu,
was das Gefühl der Fremdheit vertiefen musste. Plötzliches oder allmähliches
Gewahrwerden, verwaist zu sein, zum Beispiel mit dem Abbrechen der Postsendungen
aus Deutschland, brachten Ungewissheit und Gefühle der Verlassenheit und Wut
hervor. In der Erinnerung werden die verlorenen eigenen Eltern dann oft zu «Raben-
eltern», während die Pflegefamilien oder auch Heimleiterinnen als «rettende Engel»
erscheinen. Zum andem entstand das Bedürfnis nach einer eindeutigen Grundlage,
emotionaler Sicherheit und kollektiver Selbstvergewisserung. Vielen Heranwachsenden
bot die zionistische Identität eine «selbstverständliche» Heimat, weil es keine Alterna-
tive gab. Das gilt auch für Raphael Gvir, der 1942 als achtjähriges Flüchtlingskind aus
Belgien in die Schweiz geschleust wurde, im Kinderheim Wartheim aufwuchs und
knapp fünfzig Jahre später als israelischer Botschafter in die Schweiz zurückkehrte. 161
Die Schweiz, als Ort der Erinnerung, wird also dankbar, aber ambivalent erlebt. Sie
ist ein Hort des Schutzes gewesen und konnte zugleich als Schauplatz der Entfremdung
erlebt werden. Einerseits entspricht die retrospektiv erinnerte Erfahrung der engagierten
und hochherzigen Arbeit von vielen Helfern und Helferinnen. Zum andem scheinen
Verständnis und Auslassung im Verhalten den fremden, unerwünschten oderungetauften
Kindem gegenüber eng beieinander gelegen zu haben. Besonders der administrative
Vollzug öffnet manchen Ausblick auf den Anspruch und die Maximen der damaligen
Normen für die Erziehung. Aufschlussreich für das politische Klima, wenn auch nicht
vergleichbar mit anderen Fällen, ist das belastende Beispiel der Pro Juventute. Dieses
unter dem Namen «Kinder der Landstrasse» operierende Hilfswerk zog mit Hilfe von
Bund, Kantonen und Gemeinden die Konsequenzen aus der bundesrätlichen Schliessung
der Grenze für Zigeuner von 1925. Das Hilfswerk erstellte in augenscheinlicher Parallele
zu den rassenhygienischen Methoden des Nazismus ein genaues Zigeunerregister und
entriss von 1926 bis 1973 zwangsweise rund 700 jenische Kinder und Jugendliche ihren
Eltern. Die amtlich entführten Kinder versorgte man zwangsweise in Säuglings- und
Kinderheimen, Anstalten, bei Pflegefamilien oder in Bauembetrieben.162 Historisch wirkt
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 451

hier auch die Armenpolitik der Schweiz nach, die der bürgerliche Ordnungsstaat des 19.
Jahrhunderts mit den Mitteln der Auswanderung, der Bettelverbote und eben der «Aus-
merzung der Vagantität» betrieb.
Die Trennung von Eltern und Kindem ist mit Blick auf die Juden ein Thema, das
nicht nur aufgrund der deutschen Verfolgung, sondern ebenso durch die eidgenössischen
Massnahmen gegeben war. Gewiss, eine unmittelbare Parallele zwischen den Zigeu-
nern und Juden hinsichtlich nazistischer Vorbilder der staatlichen Verfügungsgewalt
zu konstruieren, würde die Geschichte auf eine einzige, offenkundige Gemeinsamkeit
verkürzen. Der Zeitgeist, in dessen Zeichen die Fahrenden und Fremden diszipliniert
oder separiert wurden, war aber aus unzweifelhaft ähnlichem Holz. Wenn die Jenischen
nicht sesshaft werden wollten, so erlebten die Juden gerade das Gegenteil, nämlich
dass eine feste bürgerliche Einfügung keine Garantie bot, dass fremde Kinder einreisen
und als Juden leben durften. Denn diese hatten, wie auch immer, entweder die falsche
Religion oder eine verdächtige Herkunft.

Alleinstehende und elternlose Kinder 1944-1947: Zahlen, Pläne und Schicksale

Ende 1947, als das SHEK seine Arbeit beendete, stand fest, dass «nur» rund achtzig
der seit Kriegsausbruch betreuten knapp fünftausend Kinder als «verlassen» zu gelten
hatten. Diese verwaisten Kinder hatten auch keine näheren Verwandten mehr, also
weder Eltern und Geschwister noch Onkel und Tanten. Mit «elternlosen» Kindem
bezeichnete man die Kategorie von Verwaisten, die indes Verwandte, zumeist im
Ausland, hatten. Als «alleinstehend» galten zunächst alle Kinder, die ohne Eltern in
der Schweiz lebten oder, wenn diese in der Schweiz lebten, von den Eltern getrennt
worden waren. Mit Blick auf das Ende des Kriegs und die erneuten Weiterreisen
verstand man dann unter den «alleinstehenden» Kindem nur jene, deren Eltern im
Ausland lebten. Anfänglich war noch ungewiss, wie viele von den alleinstehenden
Kindem tatsächlich als «elternlos» oder gänzlich «verlassen» gelten mussten, da man
am Kriegsende noch keine Nachricht über Eltern oder Verwandte besass.
Diese Kategorien waren nicht unwesentlich, weil in den Kontroversen und Ab-
klärungen um die Weiterwanderung sich erst allmählich ein gerraueres Bild über den
Verbleib von Eltern oder Verwandten ergab. Ob schliesslich ein elternloses Kind den
Händen seiner fernen Verwandten anvertraut oder als «verlassenes}} Kind einer kollek-
tiv auswandernden Gruppe beizugesellen war, ermisst die Rolle des SHEK bei solchen
Entscheiden. Deren Kommission für Nachkriegsfragen klärte in einem Arbeitsausschuss,
dem je ein Vertreter des OSE, der HICEM, des JDC und der JA (Palästina-Amt)
angehörte, solche Grenzfälle ab. Insgesamt musste für alle «ZUm Teil schon recht
verschweizerten, meist jüdischen Kinder» das SHEK eine möglichst «sinnvolle»
Migration vorbereiten. Dazu wurde nach Vorlagen des OSE eine Erhebung bei allein-
452 6. KAPITEL

stehenden Kindern durchgeführt, die in der bereits erwähnten und eingehend zitierten
Erhebung der Aide aux Emigres separat publiziert wurde. Obwohl der praktische
Nutzen sich für das SHEK letztlich als sehr gering herausstellte, verdanken wir dieser
Erhebung heute interessante Meinungsdaten von 705 Kindem (davon 33 nichtjüdisch).
Nicht darin inbegriffen waren rund tausend Kinder, deren Familienzusammenführung
damals bereits feststand. Ebenso wurden die Kinder aus ehemaligen KZ und DP-
Camps, die erst in die Schweiz einreisen sollten, darin noch nicht erfasst. Die 705
erfassten Kinder repräsentieren aber einen erheblichen Anteil aller SHEK-betreuten
Kinder der Kriegszeit. 163
Mehr als ein Drittel war polnischer Nationalität und ein Drittel staatenlose deutsche
Kinder; dann folgen kleinere Gruppen um zwanzig Kinder aus Belgien, Frankreich
und der Tschechoslowakei. Doch diese Kinder, bzw. deren Eltern hatten eine lange
Vorgeschichte der Migration hinter sich. Es differierten entsprechend Nationalität,
Geburtsland und letztes Domizilland. Von den 275 polnischen Kindem waren nur 93
in Polen geboren; umgekehrt hatten nur 230 staatenlose Kinder die deutsche
Staatsbürgerschaft besessen, während 307 Kinder in Deutschland geboren waren. 40
staatenlos gewordenen Österreichern steht die Zahl von 55 im Land geborenen Kinder
gegenüber. Noch krasser ist das Verhältnis in Belgien, wo den 96 dort geborenen
Kindern nur 13 mit der Staatsangehörigkeit dieses Landes gegenüberstehen; die mei-
sten dürften Kinder jener polnischer Immigranten gewesen sein, auf die wir schon
einmal hingewiesen haben. Mehr Übereinstimmung bestand nur bei den kleineren
Gruppen aus der Tschechoslowakei, Ungarn und Jugoslawien. Die Mehrheit aber, 454
Kinder, kamen aus Frankreich, wo ihre Eltern teilweise deportiert worden waren. Aus
Deutschland stammten 145 Kinder, die einst von ihren Müttern direkt in die Schweiz
geschickt worden waren. Kleinere Gruppen waren aus Belgien (44) und Italien (44)
gekommen. Dass Nationalität und Herkunft mit dem letzten Domizilland oft nicht
übereinstimmen, zeigen die gesprochenen Sprachen. Die Kinder waren in der Emigra-
tion meist mehrsprachig geworden: Je drei Viertel sprachen sowohl Deutsch wie
Französisch, vierzehn Prozent Jiddisch, zehn Prozent Englisch. Von den 275 Kindern
polnischer Nationalität sprachen nur noch zehn Kinder Polnisch. Insgesamt beherrsch-
ten drei von zehn Kindem drei Sprachen und drei von vier Kindem zwei Sprachen.
Zur Zeit der Datenerhebung musste noch angenommen werden, dass 70 Prozent
aller Kinder keine Eltern mehr hatten. Diese Zahl konnte zwar später zunehmend nach
unten korrigiert werden, indem sich nach der Befreiung immer wieder Eltern oder ein
Elternteil meldeten. Doch anfangs 1945 glaubten 75 Prozent aller Kinder, dass ihr
Vater deportiert oder zumindest vermisst sei; knapp 70 Prozent meinten, keine Mutter
mehr zu haben; und jedes siebte Kind wies darauf hin, dass seine Geschwister deportiert
worden waren oder vermisst wurden. Nur gerade ein einziges Kind erklärte, keine
deportierten Angehörigen zu haben. Die meisten Eltern oder Elternteile sowie Ge-
schwister befanden sich, nach Kindermeinung, in Frankreich (durchschnittlich 15
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 453

Prozent), mit Abstand gefolgt von anderen Länderangaben wie England, Belgien,
Deutschland und Palästina (je 2-5 Prozent). Viele Kinder verweigerten eine Auskunft
über den genaueren Aufenthalt ihrer Eltern und Geschwister, sofern sie davon über-
haupt wussten, weil sie diese nicht gefährden wollten und dem Schutz der aufgenom-
menen Daten misstrauten. Ähnlich hatten sich die Jugendlichen auch lange geweigert,
ihr richtiges Alter anzugeben, weil damals an der Schweizer Grenze nur alleinstehende
Kinder unter dem 16. Altersjahr aufgenommen worden waren. In der Todesgefahr
wollten die Kinder weder sich selbst noch Eltern oder Geschwister durch korrekte
Angaben gefährden.
Bei den Plänen und Möglichkeiten zur Weiterwanderung musste die Enquete
natürlich von andem Voraussetzungen ausgehen als bei den Erwachsenen, die einfach
ihre Wünsche registrieren liessen. Bei den kleineren Kindem wurde lediglich geprüft,
wo und bei wem das Kind untergebracht werden konnte. Die grösseren Kinder und
Jugendlichen äusserten jedoch sehr viel entschiedener Pläne als selbst die Erwachse-
nen. Sie wollten in keinem Fall in ihr Ursprungsland zurückkehren, das auch viele gar
nicht kannten, weil sie nicht einmal dort geboren worden waren. Die meisten gaben
ihre Zielländer der Weiterwanderung eindeutig an, ohne Eventualländer als Alternati-
ven zu äussem. Dennoch wussten acht Prozent keine Antwort und befanden sich in
tiefer Ungewissheit. Sieben Prozent wünschten fest in der Schweiz zu bleiben. Ein
Drittel wollte innerhalb Europas weiterwandem, oft auch mit dem Ziel, zunächst das
letzte Domizilland ihrer Emigration aufzusuchen (Frankreich 23 Prozent und Belgien
5 Prozent) oder nach England (5 Prozent) zu gehen. Jedes fünfte Kind wollte nach
Übersee, wobei die Vereinigten Staaten (17 Prozent) als Ziel dominierten. 28 Prozent
aller Kinder wünschten nach Palästina auszuwandern. Die SHEK-Erhebung interpre-
tiert diese Entschiedenheit in der Wahl der Zielländer als Resultat der Beeinflussung
durch die Altersgenossen und die Erzieher in den Heimen. «So zeigte es sich, dass der
besonders gepflegte Gemeinschaftssinn und die zielgerichtete Haltung in den beson-
ders für die Vorbereitung auf die Auswanderung nach Palästina eingerichteten Heimen
auf manche Jugendliche einensogrossen Eindruck machte, dass sie die Auswande-
rung nach Palästina als einzigen Wunsch angeben, obwohl sie vorher ideologisch nicht
in dieser Richtung orientiert waren», meint Nettie Sutro. Ähnliches berichtete auch
Ema Guggenheim in ihrer Arbeit über das Kinderheim Wartheim.
Bei mehr als einem Drittel erwies sich im Verlaufe der Zeit, dass das Aus-
wanderungsziel bereits vorgezeichnet war, weil sich ein Elternteil in einem anderen
Land aufhielt und sich als Überlebender von dort meldete. Andere fanden im Ausland
aufnahmebereite Verwandte. Schliesslich blieben, wie gesagt, nur noch wenige Kin-
der, die als vollständig «verlassen» gelten mussten. Doch dies darf nicht über die
Konflikte hinwegtäuschen, denen die alleinstehenden Kinder und Jugendlichen ausge-
setzt waren. So erfuhr ein Jugendlicher von 16 Jahren, der sich im Kreise seiner
Chaluzim ganz auf Palästina eingestellt hatte und bereits für den Maitransport 1945
454 6. KAPITEL

eingeteilt war, knapp vor der Abreise, dass sein Vater aus dem KZ Buchenwald
gerettet worden war und ihn in Belgien erwartete. Der Junge kam in schwere Gewissens-
not und ging dann schliesslich nach Belgien. Ein anderes Fallbeispiel zeigt, dass ein
Jugendlicher sich gegenüber der in Frankreich lebenden Mutter mit seinem Wunsch
durchsetzte und nach Palästina reiste. Ehe ein Kind in ein anderes Land ausreiste,
wurde vom SHEK das Einverständnis der Eltern oder eines Elternteils eingeholt, in
diesem Falle der Mutter. Das Kind war nun bereits in Palästina, als der Vater aus einem
deutschen KZ zurückkehrte und darauf bestand, dass es aus Palästina wieder nach
Frankreich zurückgeschafft werde.
Aus solchen Erfahrungen mit Einzelfällen heraus blieb das SHEK vorsichtig in der
Freigabe von Kindem an die Jugend-Alijah oder gar orthodoxe Vereine. Ähnlich
vorsichtig blieb man hinsichtlich der neuen Zielländer in Buropa und besonders in
Übersee. Die Berichte von Kindem und Jugendlichen, die nach Übersee zu Verwand-
ten gefahren waren, erschienen dem SHEK wenig optimistisch. Nach einer anfängli-
chen Begeisterung holte die meisten Jugendlichen die harte Realität des amerikani-
schen Alltags ein, der eine gewisse Bitterkeit hinterliess. Im SHEK-Jahresbericht von
1946 werden die Startchancen in der Schweiz angeführt, mit kostenlosem Schul-
besuch, Lehrlingswesen, OSE- und ORT-Ausbildungen, Gymnasien und Universitä-
ten, die 1947 fast 600 Kindem und Jugendlichen als Emigranten und Flüchtlinge frei
zur Verfügung standen. In Kontrast dazu klingen im Brief eines Jugendlichen aus New
Y ork die Schwierigkeiten im Zielland deutlich an: «Viele, ganz auf sich alleine
gestellt, stehen im Kampf ums Brot, der sich von einem Tag auf den andem erstreckt.
Denn die Löhne sind relativ niedrig und die Preise sowohl. der Lebensmittel wie auch
die Mietpreise in die Höhe geschnellt. Dabei ist zu bemerken, dass viele, die eben
keine Handwerker sind, wenig gut bezahlte Stellen annehmen (sofern sie solche
finden, was heute schon gewisse Schwierigkeiten in sich birgt), und andere, die einen
Beruf erlernt haben, wie z. B. Bäcker, diesen nicht ausüben, weil die körperlichen
Anforderungen enorm gross sind. Derselbe Grund hat auch mich bewogen, einen
leichteren Job anzunehmen, der natürlich viel schlechter bezahlt ist als die Schreinerei.
Schliesslich wollte ich doch nicht, dass meine Hände zu sehr mitgenommen werden,
da ich immer noch an das Wunder einer Medical School glaube, trotzdem die Chancen
gleich null sind.»
Der Brief ist bemerkenswert nicht nur wegen der Nachkriegsdepression, sondern
vermutlich auch als Zeugnis für das antijüdische Quotensystem in den Vereinigten
Staaten, wo nach wie vor der akademische «melting pot» in vielen Schulen und
Universitäten eine Illusion mit nur halboffenen Türen darstellte. Doch ebenso «halb-
offen» war auch das Land, das sich das SHEK als Lösung des Problems gewünscht
hätte, die Schweiz. Immer wieder ist in der Erhebung und den SHEK-Jahresberichten
das leise Bedauern über die vorschnellen Ausreisen zu spüren. Doch die Kinder im
Lande zu behalten hätte eben auch bedeutet, die Eltern oder Verwandten in der
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 455

Schweiz aufzunehmen. Unbesehen davon, ob dies aus ihrer Sicht jetzt überhaupt noch
gewünscht worden wäre, weist diese Spur noch einmal auf das ursprüngliche Motiv
zurück. Am Anfang stand die Trennung von Kindem und Eltern, die durch die
Ereignisse des Krieges, die Flucht vor der Verfolgung und die Politik Bems erzwun-
gen worden war.

SCHWARZE RIVALITÄTEN UND WEISSE WESTEN:


AUSBLICK AUF DIE VERHANDLUNGEN MIT DER SS VON NEUTRALEN
LÄNDERN AUS

Zwischen August 1944 und April1945 verhandeltenjüdische Kreise von der Schweiz
aus direkt und indirekt mit Repräsentanten der SS in der Absicht, Juden aus den
deutsch besetzten Gebieten in die Freiheit zu bringen oder der Kontrolle einer Schutz-
organisation zu unterstellen. Diese Versuche, das verbliebene jüdische Leben in Ost-
europa in den letzten Stunden vor dem deutschen Zusammenbruch vor weiterem
Massenmord zu schützen, waren an unterschiedlichen Taktiken orientiert, die einer-
seits von den handelnden Persönlichkeiten geprägt, andererseits von den jeweiligen
Umständen und Bedingungen diktiert blieben. Wichtigste Ergebnisse waren ein zeit-
weiliger Aufschub der Deportationen und mehrere organisierte Transporte von Juden
nach Schweden und der Schweiz.
Die Verhandlungen Saly Mayers mit Hirnmlers Vetrautem, dem SS-Wirtschafts-
fachmann Obersturmbannführer Kurt Becher und seinem Kreis, bei denen der Vertre-
ter des amerikanischen War Refugee Board in der Schweiz, Ross McClelland, einbe-
zogen wurde, begannen am 21. August 1944 und gingen Mitte Februar des folgenden
Jahres zu Ende. Dabei vermittelte Mayer, dem die Hände gebunden waren, ein
«Gespräch» zwischen Becher und McClelland, der dazu in seiner Offiziersuniform
erschienen war. Ein Resultat dieser Verhandlungen, die Mayer mit dem von den
Amerikanern vorgegebenen Ziel führte, die Deportationen von Juden auf möglichst
lange Zeit hinaus zu unterbinden, war der von Reszoe Kasztner in Budapest organisier-
te Zugtransport, der am 7. Dezember 1944 aus Bergen-Belsenmit 1368 Juden in der
Schweiz eintraf. Bereitsam ersten Verhandlungstag waren 318 Juden als Beweis, dass
es die Deutschen ernst meinten, in Basel eingetroffen.
In Parallele und Nachgang zu diesem Geschehen stehen die Reisen von alt Bundes-
rat Jean-Marie Musy zu Heinrich Hirnrnler in Berlin, die der rechtskonservative
Freiburger im Auftrag der Schweizer Vertretung der orthodoxen Rabbiner-Union der
USA und Kanadas unternahm. Aus den Aktivitäten um Isaac und Recha Sternbuch
und Musys beiden Treffen mit Hirnrnler im November 1944 und Januar 1945 resultierte
456 6. KAPITEL

letztlich der Transport mit 1200 Juden aus Theresienstadt, der am 7. Februar 1945 in
Kreuzlingen eintraf. Die Musy-Aktion schlug in die gleiche Kerbe, die Mayer bereits
geschlagen hatte. Im weiteren wird man für beide Verhandlungslinien das Doppelspiel
des Glarners Curt Trümpy im Auge behalten müssen. Trümpy war Vertreter der
Messerschmidt-Werke und des Bührle-Konzerns, denen er als Zwischenhändler von
Rüstungsgütern gedient hatte, und mischte nun auf beiden Seiten der Grenze im
Wissen von Gestapo und eidgenössischer Bundesanwaltschaft mit.
Schliesslich kommen in Schweden die erfolgreichen Versuche des Vertreters des
WJC hinzu, indem Hilel Storch zusammen mit dem WRB und dem schwedischen
Roten Kreuz das deutsche Bedürfnis nach Verhandlungen mit den Alliierten in die
gegen Kriegsende erfolgte Rettung von 7000 Frauen ummünzte. Eine weitere, aber
belanglose Linie ergab sich durch die Verhandlungen des IKRK, bei denen Carl J.
Burckhardt mit Gestapo-Chef Ernst Kaltenbrunner zusammentraf. Alle diese Entwick-
lungen zu verschiedensten Zeitpunkten blieben für die Verhandlungenjüdischer Krei-
se mit den SS-Grössen von der Schweiz aus nicht ohne Wirkung hinsichtlich Verlauf
und Ergebnis.
Als zentrale Figur erschien in den Verhandlungen Reszoe Kasztner, der in Budapest
dem von zionistischer Seite im Januar 1943 initiierten Rettungskomitee Vaadat Ezra
VeHatzala angehörte. In dieser Gruppe sorgte Otto Komoly vor allem für die
Repräsentation und Kontakte zur ungarischen Regierung. Weitere Mitglieder waren
Rafi Friedl und Joel Brand, die bei illegalen Schlepperdiensten wirkten, die Kasztner
im slowakischen Raum mit Gisi Fleischmann seit 1942 angebahnt hatte. Ein weiteres
wichtiges Mitglied, Moshe Krausz, stand dem religiösen Flügel der zionistischen
Gruppe nahe. Er diente unter anderem auch als Kurier zum jüdischen Widerstand in
der Slowakei, aus der 1944 authentische, gerraue und detaillierte Berichte über die
Morde in Auschwitz in den Westen gelangten. Brand war im weiteren an der Flucht-
organisation von Juden aus Polen beteiligt gewesen und wurde später auf eine Mission
nach Instanbul geschickt, von der sich die Deutschen Kontakte zu den Westmächten
erhofften. Die Brand-Mission, bei der es vordergründig um das Angebot eines Tausch-
handels von Juden gegen Lastwagen ging, wurde von den Briten abrupt beendet. Über
Verbindungen zur Unterwelt, die durch Andor «Bandi» Grosz hergestellt wurden,
verschaffte sich der Vaadat die Möglichkeit, mit gefälschten Papieren Juden eine
beschränkte Schutzmöglichkeit zu bieten. Nachaussen stand der Vaadat vor allem mit
dem Hechaluz, der in Genf und Istanbul Verbindungsbüros unterhielt, in engem
Kontakt. 164
Das Hilfs- und Rettungskomitee in Budapest verlief grob gesprochen in drei
Linien: eine «grosse Linie», die mit den Repräsentanten von Reich und SS-Leuten
verhandelte; eine «mittlere Linie», die mit der ungarischen Regierung und unter-
geordneten Stellen in Verbindung stand, sowie für die Kurierdienste in die Slowakei,
die Schweiz und nach Istanbul sorgte; und eine «kleine Linie», die das gesamte
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 457

Fälscherwesen, die Lebensmittelbeschaffung, Ausreise- und Fluchtgelegenheiten und


Organisation von sicheren Orten umfasste. Diese «illegalen>~ Linien des jüdischen
Widerstands konnten sich unter dem Schirm der neutralen Vertretungen «entfalten»,
besonders aber durch die Begünstigung durch Carl Lutz und der «Abteilung für
Fremde Interessen» in der Schweizer Gesandtschaft. 165 Dort sass noch bis Oktober
1944 Maximilian Jaeger, der dann durch den aktiv für die Rettung von Juden tätigen
Legationsrat Harald Feller abgelöst wurde. 166 Gleicherweise war für den Vaadat und
die ungarischen Juden der IKRK-Vertreter Friedrich Born wichtig, der ebenfalls
entschieden weiter ging als sein Vorgänger Jean de Bavier. Moshe Krausz, als Leiter
des Palästina-Amtes, bildete mit Lutz und Born gewissennassen das Verbindungsglied
für den Vaadat, wobei Lutz, der dank Feller die Möglichkeiten des diplomatischen
Schutzes weit ausschöpfen konnte, eine Drehscheibenfunktion für die gesamten
Rettungsaktivitäten zukam. Die «kleine Linie» des Vaadat nutzte das Schutzdach, das
Lutz und Born mit den Schweizer Kollektivpässen und geschützten Häusern bauten,
auf vielf<iltige Weise, bis hin zur Fälschung all jener Papiere, die das Überleben
ermöglichten. Dass die persönlichen Bindungen zwischen Lutz, Born und den Linien
des Vaadat sehr wesentlich waren, wird auch angesichts des ungarischen Klimas
deutlich. In Ungarn selbst war der Antisemitismus eine seit langem populäre und
weitverbreitete Erscheinung. Schon vor dem Krieg hatte der autoritäre Horthy-Staat
diskriminierende Gesetze erlassen, die auf einer «Massenstimmung» gründeten. 167 Erst
recht schaffte der deutsche Einmarsch vom März 1944 den SS-Schergen die Möglich-
keit, in der letzten Stunde des «Dritten Reichs» die Vernichtung der ungarischen Juden
durchzuführen. 168
Die Versuche zu Widerstand und zur Rettung, die persönlichen Taten von hohem
Mut und schierer Verzweiflung, sind aber nur Teil eines Geschehens, das die letzten
Monate des Kriegs in Buropa umfasste. Erst recht sind es die Verhandlungen von der
Schweiz aus gewesen. Die Rettungsversuche von neutralen Ländern aus sind nur ein
Geleise in dieser Chronik, die sich um Leben und Tod der slowakischen und ungari-
schen Juden drehte. Dennoch mussten sie sehr bedeutsam sein: Mit dem Genozid an
den ungarischen Juden im letzten Jahr des Krieges wurde im freien Westen auch die
Frage des Überlebens der europäischen Juden drastisch ins Bewusstsein gehoben. Die
Agonie des «Dritten Reichs» stand unmittelbar vor Augen. Schuld und Mitwissen
erschienen nun mehr und mehr als eine Frage des politischen Überlebens nach dem
Krieg. Bei den neutralen Staaten, den humanitären Organisationen und den kirchlichen
Stellen andererseits wirkte das schlechte Gewissen, zu spät gekommen zu sein.
Die zentrale Frage für den Historiker lautet, warum, wie und unter welchen
Umständen konnten im letzten Kriegsjahr einige hunderttausend Juden im deutschen
Machtbereich trotz widrigster Umstände überleben. Diese Frage wurde von der For-
schung, in autobiographischen Aufzeichnungen und während verschiedener Gerichts-
prozesse in unterschiedlichster Weise beantwortet. Was auffällt, ist das Bedürfnis,
458 6. KAPITEL

dieser Frage, wenn sie so überhaupt gestellt wurde, mit der Schaffung von Helden und
Schuldigen zu begegnen. Jüdische wie auch nichtjüdische Historiographie vollbringt
hier manchmal den illusorischen Kunstgriff, in dieser Parabel des menschlichen Über-
lebens die Figuren auf Seiten der Ohnmacht in dramatisch handelnde Einzelgänger zu
verwandeln. Die Biographien von Saly Mayer, Isaac Sternbuch, Moshe Krausz und
Reszoe Kasztner sind als solche ohne Zweifel wichtig und wertvoll. 169 Doch besteht
deswegen kein Anlass für einen Historiker, den späteren Streitigkeiten um Legitimität
und Beschuldigung nachträglich die Reverenz zu erweisen. Der Ton der Rechtferti-
gung ist hier fehl am Platz, wo es um eine Analyse und Chronik der Ereignisse gehen
sollP0 Die jüdischen Rettungsversuche zeigen ihre Logik, wenn man die parallel-
laufenden Aktionen jüdischer Personen und Fraktionen und andererseits die
Uneinheitlichkeit der Absichten auf deutscher Seite mitberücksichtigt
In ähnlicher Weise gilt dies auch von den wichtigen Helfern und Rettern auf nicht-
jüdischer Seite. Carl Lutz, Friedrich Born, Harald FeUer und Raoul Wallenberg verdienen
ohne Zweifel, angesichts ihres auch sehr tragischen Schicksals für ihren menschlichen
Einsatz gewürdigt zu werden. Doch als Gestalten gehören auch sie einem Umfeld an, aus
dem sie sich mit hochherziger Menschlichkeit hervorheben konnten. Die eigentliche
Frage bleibt aber, warum und unter welchen Bedingungen dies ihnen möglich wurde.
Erst Umstände und Bedingungen lassen die Nischen, in denen sie handeln konnten,
sichtbar werden. Die Forschung müsste also letztlich auf eine Analyse der Gegenseite
dringen: Warum und wie handelten die Nazis, und insbesondere Himrnler und die 55-
Repräsentanten, in dieser bestimmten Weise, die es Juden und Nichtjuden erlaubte, in
diesem «Spiel» um Leben und Tod eine aktive Rolle zu übernehmen?
Diese Frage zielt einerseits auf die Haltung von Alliierten und Neutralen während
den Verhandlungen, zum andern auf die innere Struktur ihrer deutschen Antagonisten.
Was die Alliierten, genauer die Westalliierten, und hier besonders die Briten, anbe-
langt, so wiesen diese bekanntlich ihre eigene starke Befangenheit gegenüber dem
jüdischen Sterben aus. Die britische Seite weigerte sich, auf «Verhandlungen» aus
humanitären Gründen überhaupt einzutreten, besonders mit der Begründung, nicht den
Argwohn Moskaus erregen zu wollen. Die Briten beargwöhnten in der Schweiz alle
privaten Versuche, gegen Lösegelder Juden aus dem deutschen Machtbereich loszu-
kaufen. Wie ein in Bem abgehörtes Telefongespräch zeigt, glaubte die britische
Botschaft, dass sich in der Schweiz zahlreiche Büros und Anwaltskanzleien mit
«solchen Praktiken» beschäftigt und von der Regierung geduldet seien. 171 Amerikaner
und Briten wiederum hatten verschiedene Auffassungen, was auch den Deutschen
nicht entgehen konnte. Die Neutralen, vorab die Schweiz, schwankten indessen in
zögerlicher Haltung hin und her, indem Bern auf die möglichen Vor- und Nachteile
starrte und sich für ihren übervorsichtigen Kurs ein humanitäres Image der Schweiz in
der Nachkriegszeit ausrechnete.
Die gestellte Frage nach der Nische ist aber primär an die inneren Rivalitäten und
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 459

Zersetzungserscheinungen im SS-Staat selbst geknüpft. Und diese wiederum hängen


ab vom Kriegsgeschehen und weisen auf die Spekulationen der Nazis gegenüber den
westalliierten Interessen hin. So wurde SS-General Walter Schellenberg wegen seinen
Versuchen, Himmler für die Westalliierten zu gewinnen, vom Internationalen
Militärtribunal in Nürnberg nur zu einer relativ milden Strafe verurteilt. Die schon
früher bestehenden Zwistigkeiten zwischen Ribbentrop, Himrnler, Heydrich bzw.
dessen Nachfolger Kaltenbrunnerscheinen eine der Fortsetzungen in den «Verhand-
lungen» um die letzten überlebenden Juden und der gegenseitigen Hintertreibung
dieser Vorgänge gefunden zu haben. 172 Die Rivalitäten und die Absetzbewegungen der
SS-Leute angesichtseiner verlorenen Sache macht die merkwürdige Nische, in der die
«Verhandlungen» mit und um Juden geführt wurden, erst verständlich. Dass dabei
einzelne Nazis auch den angeblichen jüdischen Einfluss auf die alliierten Macht-
zentren weit überschätzten, kann daraus erklärt werden, dass sie offensichtlich den von
ihnen kreierten und inständig propagierten antisemitischen Mythen selbst aufgesessen
sind. Aber nicht nur die gesuchten Kontakte zu den westlichen Alliierten oder eine
eiskalt kalkulierte «Humanität» sind Motive. Hinzu kommt wohl noch die Hoffnung
einzelner SS-Leute, sich für spätere Zeiten dank erpressten jüdischen Geldern die
Flucht und ein «anständiges» Leben nach dem Krieg zu sichern.
Bei allen gelungenen und misslungenen Versuchen jüdischer Kreisen und Organisa-
tionen, aus einer Position der Ohnmacht Menschenleben zu retten, standen den Juden
Vertreter des SS-Staates gegenüber, dietrotzder sich schon länger abzeichnenden Nieder-
lage Deutschlands immer noch aus einer Machtposition agieren konnten. Das Interesse der
deutschen Seite war bestimmt von der schlechten Kriegslage und der illusorischen Hoff-
nung, bei den Juden oder Neutralen einen Kanal zu den Westalliierten zu finden, der einen
antibolschewistisch motivierten Separatfrieden ermöglichen würde. Wenn einzelne SS-
Leute, bis hinauf in die Berliner Zentralen der wichtigsten Verfolgungsapparate, dem
eigenen Mythos einer jüdischen «Weltverschwörung» aufsassenund die Möglichkeiten
ihrer jüdischen «PartneD> völlig überschätzten, so machte dies die Ausgangssituation der
jüdischen Vertreter nicht besser. Sie blieben faktisch ohne nennenswerten Einfluss auf den
Westen, wo Himmler Kontakte suchte. Der Verlauf der deutsch-jüdischen «Verhandlun-
gen» war von einer sehr ungleichen Symmetrie geprägt, in der die Juden unter amerikani-
scher Kontrolle blieben und darüber hinaus selbst unter sich ziemlich uneinig waren.
Genau dazwischen schieben sich die schweizerischen «Vermittler», wie Musy und
Trümpy, um ihre etwas befleckten Westen weiss zu waschen.
Wesentlich in dieser Asymmetrie waren die inneren Rivalitäten im deutschen
Lager. Sie sind in Berlin auf dem zerstörten Gelände an der Prinz-Aibrecht-Strasse,
zwischen der Wilhelm- und Stresemann-Strasse, zu suchen, in der zentralen
«Topographie des Terrors», wo sich auf engem Raum SS-Führung, SD, Gestapo und
RSHA befanden. 173 Die polykratische Struktur des SS-Staates, die jüdische und neutra-
le Stellen vermutlich verkannten, macht die Rivalitäten verständlich, die bei den
460 6. KAPITEL

. Verhandlungen über Tausende von Menschenleben eine Rolle spielten. Im Kreis um


den Reichsführer SS, Heinrich Himmler, bekannt für seine unentschlossene und
depressive Natur, bekämpften und denunzierten sich schon vor und dann im Verlaufe
der Verhandlungen mehrere SS-Fraktionen, die seit einigen Jahren auf- und gegenein-
ander eingespielt waren. Das hohe Treiben von Walter Schellenberg und die kleinere
Sache von Kurt Becher standen einander im Weg, und mit Ernst Kaltenbrunner,
Nachfolger Heydrichs im RSHA, wirkte als dritter ein Fanatiker im Kreis um Himmler
mit und operierte gegen die beiden anderen Nazis.
Walter Schellenberg, im Rang eines SS-Brigadeführers und verantwortlich für die
Spionage in der Auslandabteilung im RSHA, drängte Himmler zu einem Separat-
frieden mit den W estalliiertl(n. Schellenbergs Spiel zeigte sich schon bei seinem
früheren Kontakt zum schweizerischen Geheimdienst, bevor dann der SS-General
auch jüdische Kanäle anzapfte und auf der Suche nach russischen Kontakten schliesslich
in Schweden bei Polke Bemadotte fündig zu werden meinte. Schellenbergs Verbindungs-
mann in der Schweiz, Hans Wilhelm Eggen, nannte in alliierter Gefangenschaft zwei
Absichten, die mit dem geheimen Draht in die Schweiz verfolgt wurden: «Die Verbin-
dungen zum schweizerischen Generalstab und zum Chef des Schweiz. Geheimdienstes
wurden meines Wissens von Schellenberg in Zusammenarbeit mit Heydrich bzw. mit
Himmler und Kaltenbrunner mit dazu verwendet, das Amt des Admiral Canaris
(OKW Amt Ausland/Abwehr) zum Reichssicherheits-Hauptamt Amt VI zu bringen
und Canaris abzulösen». Das zweite Ziel sei indes gewesen, «über diese schweizeri-
sche Verbindung [damals kannte er Bernadotte noch nicht] Friedensverhandlungen
mit den Alliierten zu führen und so zumindest als starker Konkurrent des Auswärtigen
Amtes [also Ribbentrops] aufzutreten und diesen gegebenenfalls durch einen dem
Reichsführer-SS genehmen Mann ersetzten zu können (ich verweise auf die
Zwistigkeiten v. Ribbentrop, Himmlerund Heydrich).» 174
Schellenberg bestätigte im November 1946 den Amerikanern gegenüber diese
Vermutung Eggens. Der schweizerische Nachrichtenchef, Oberst Roger Masson, hatte
denn auch wiederholt, aber vergeblich versucht, Schellenberg mit Allen Dulles, dem
amerikanischen OSS-Leiter in der Schweiz, zusammenzubringen. Dass dann ein jun-
ger Himmler-Protege, Kurt Becher, in Zürich mit McClelland zusammengetroffen
war, machttrotzder gescheiterten Brand-Mission nochmals die Bedeutung der «jüdi-
schen Option» für den ganzen Kreis um Himmler verständlich. Dabei ging es Schellen-
berg, der nach aussen einen anständigen und vernünftigen Eindruck zu erwecken
versuchte und im SS-Apparat den unverdienten Ruf eines aussenpolitisch Sachver-
ständigen genoss, in Wirklichkeit aber als schlauer und gemeingefährlicher SS-Typ
gelten muss, nicht um humanitäre Motive. Schellenberg, der nichts gegen die Ausrottung
der Juden einzuwenden hatte, handelte opportunistisch, so wie es auch Becher tat, der
die Juden im Kasztner-Zug nur kalt rechnerisch nach «Stück» zählte. 175
Um die Sache Bechers, der sich von einem alten Juden, Saly Mayer, tatsächlich,
DIE BOTEN DES HOLOCAUST 461

wie er später selbst sagte, an der «Nase herumführen» liess, zu übernehmen, war für
die höheren SS im ausgebombten Berlin Musy gerade der richtige Mann. Schellenberg
konnte sich dabei gleichzeitig auf seine Mitarbeiter und die ihm unterstellte Dienststel-
le im Sicherheitsdienst (SD) verlassen, und natürlich auf die Protektion seitens Himmlers,
der ihn gar «meinen Benjamin» nannte. Himmler liess den vermeintlich aussenpolitisch
fähigen Schellenberg gewähren in der Illusion, dass dank oder wegen der Juden eine
Übereinkunft mit einzelnen Alliierten möglich werden könnte. In den Augen Schellen-
bergs suchte Himmler sich von der Belastung der «Judenfrage» zu entlasten, ohne aber
Hitler gegenüber den Mut zu einer Entscheidung aufzubringen. So ist verständlich,
dass Himmler die Verhandlungen untergeordneten Stellen im Wissen um die mögli-
chen weitreichenderen Folgen überliess und sich zugleich aktiver Beteiligung in
entscheidenden Momenten oft enthielt. In diesen Freiräumen hausten dann die unter-
geordneten SS-Offlziere, die im Geschäft um Menschenleben gegen Geld auftraten.
Die Rivalitäten um und unter Himmler liessen nicht lange auf sich warten. Sie
waren bestimmt von ideologischen Prämissen, vom verächtlich-zynischen Umgang
mit den Juden und von ganz persönlichen Zwecken wie der Beschaffung von Devisen
für das Leben nach dem Krieg. Was an Rivalitäten bei den schwarz uniformierten
Herren des SS-Staates spielte, korrespondierte mit der Suche nach weissen Westen für
die einstigen schweizerischen Bewunderer, deren langjährige Verbindungen dorthin
nun eilends «humanitär» genutzt wurden. Dass der Nutzen nicht voll ausgeschöpft
wurde, lag an der eitlen und blauäugigen Einschätzung von Musy und Trümpy, die den
Zynismus der deutschen Gegenspieler kaum begriffen. Politisch selbst irregegangen
oder als kriegswirtschaftliche Zudiener befangen, hatten sie zwar die Verbindungen,
aber kaum die nötige Distanz, um das delikate Geschäft zu betreiben. Erst an dritter
Stelle wird man dann auch an die zänkische Uneinigkeit der jüdischen Seite erinnern
müssen, die das Beste zur Rettung ihrer verfolgten Brüder und Schwestern zu tun
meinte. Sie war begründet in der verzweifelten Sorge um das Leiden der überlebenden
Opfer und der machtlosen Lage auf dem Hintergrund alliierter Untätigkeit dem jüdi-
schen Schicksal gegenüber. Doch der eigentliche Schlüssel der Geschichte lag in
Berlin, und dort blieb er liegen, weil er in keines der alliierten Schlösser passen durfte.
463

ANMERKUNGEN

Kapitell

1 Im weiteren Alex Bein, Die Judenfrage, Biographie eines Weltproblems, Stuttgart 1980; Bernd
MartinI Ernst Schul in (Hg.), Die Juden als Minderheit in der Geschichte, München 1981; Erhard
R. Wiehn (Hg.), Judenfeindschaft, Konstanz 1989.
2 Jacob Katz, The Term Jewish Emancipation, its Origin and historical Impact, in: Studies in
Nineteenth Century Jewish Intellectual History, ed. Alexander Altmann, Cambridge Mass. 1964,
Bd. 2, S. 1-25.
3 Gesellschaftsorientierte Erhellungen zu den Phasen der deutschen Entwicklung bieten: Reinhard
Rürup, Emanzipation und Antisemitismus, Göttingen 1975, und Detlev Claussen, Grenzen der
Aufklärung, Frankfurt 1981.
4 Herber! A. Strauss, Juden und Judenfeindschaft in der frühen Neuzeit, in: Strauss/Kampe,
Antisemitismus, Von der Judenfeindschaft zum Holocaust, S. 66--87. Leon Poliakov, Geschichte
des Antisemitismus, Bde. 1 und 2, Worms 1977, als Gesamtdarstellung des Zerrbild-Judenstereo-
typs; ebenso auch Joshua Trachtenberg, The Devil and the Jews, The Medieval Conception of the
Jew and its Relation to Modern Antisemitism, Philadelphia 1961. Versuche neuer Darstellung
bieten Bernd MartiniErnst Schulin (Hg.), Die Juden als Minderheit in der Geschichte, München
1981.
5 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Vorwort zur deutschen Ausgabe von Paul W. Massing,
Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt 1959, der deutschen Ausgabe des 1949
geschriebenen Rehearsal for Destruction, das in der Reihe <<Studies in Prejudice>> erschien. Detlev
Claussen, Über Psychoanalyse und Antisemitismus, in: Psyche 1/41. Jg., Stuttgart 1987.
6 Jacob Katz, Vom Vorteil bis zur Vernichtung, Der Antisemitismus 1700--1933, München 1989,
S. 236-252. Shulamit Volkov, Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert,
München 1990, S. 13-36.
7 Siehe Sau) Friedländer, From Anti-Semitism to Extermination, A Historiographical Study of Nazi
Policies, in: Franc<ois Furet, Unanswered Questions, New York 1989, S. 3-31. Ähnlich auch Eric
Dreifuss, Die Schweiz und das Dritte Reich, S. 98.
8 Claude Digeon, La crise allemande de Ia pensee franc<aise (1870-1914), Paris 1959, v. a. S. 390
und 431-452, kommt zum Schluss, die <<deutsche Bedrohung» sei in der Affäre Dreyfus nur eine
nebensächliche, wenn auch latente Komponente gewesen.
9 Pierre Sorlin, <<La Croix» et les juifs (1880-1899), Paris 1967, sowie Stephen Wilson, Ideology
and Experience, Antisemitism in France at the Time of the Dreyfus Affair, London 1982, vor
allem das Kapitel <<Among French Catholics», S. 509ff.
10 Christian Fabia, L' Affaire Dreyfus et Ia presse d'opinion genevoise, Lizentiatsarbeit (Manuskript)
Universität Genf 1988.
11 Unter vielen siehe Michael R. Marrus, Les Juifs de France a l'epoque de I' Affaire Dreyfus, Paris
1971; Jeannine Verdes-Leroux, Scandale financier et antisemitisme catholique, Paris 1969; Zeev
Sternhell, La Droite revolutionnaire 1885-1914, Les Origines franc<aises du fascisme, Paris 1978,
und Rene Remond, La Droite en France, DeIapremiere Restauration a Ia Ve Republique, Paris
464 ANMERKUNGEN

1963. In Einzelaspekten aufschlussreich ist auch Frances Malino u. Bernhard Wasserstein (Hg.),
The Jews in Modern France, Hanover/London 1982. Allgemein siehe auch Uon Poliakov,
Histoire de I' Antisemitisme, Paris 1955-78.
12 Ezra Mendelsohn, The Jews of Bast Central Europe between the World Wars, Bloomington 1987,
gibt den besten Überblick zu diesem Thema, über das laufend neue Forschungen publiziert werden
und seit den politischen Umformungen in diesen Ländern zu erwarten sind. Methodisch weg-
weisend ist der Aufsatz des Politologen Istvan Bibo, Misere des petits Etats d'Europe de l'Est,
Paris 1986, S. 211-392. Im weiteren siehe u. a. Chimen Abramsky (Hg.), The Jews in Poland,
Oxford 1986; Ivar Oxall u. Martin Pollack (Hg.), Jews, Antisemitism and Culture in Vienna,
London/New York 1987; Hillel J. Kieval, TheMakingof Czech Jewry, National Conflict and
Jewish Society in Bohemia 1870-1918, Oxford 1988.
131 Zur Geschichte des Antisemitismus in Deutschland: Werner Jochmann, Struktur und Funktion des
deutschen Antisemitismus, in: Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890-1914, hg. v. Werner
E. Mosse und Arnold Paucker, Tübingen 1976. George L. Mosse, The Crisis of German Ideology,
Intellectual Origins of the Third Reich, New York 1964. Herber! Strauss/Norbert Kampe (Hg.),
Antisemitismus, Von der Judenfeindschaft zum Holocaust, Bonn 1985.
14 Zur Emanzipation siehe Jacob Katz, Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft, Jüdische
Emanzipation 1770-1870, Frankfurt 1986. Zur politischen Romantik vgl. Jacques Picard, Zum
Judenbild der Romantik, in: Wege des Widerspruchs, hg. v. Willy Goetschel/Maja Wicki, Bem/
Stuttgart 1984, S. 119-148. Zur Entstehungsgeschichte des Antisemitismus siehe Eleonore Ster-
ling, Judenhass, Die Anfänge des politischen Antisemitismus in Deutschland 1815-1850, Frank-
furt 1969; Hans Rosenberg, Grosse Depression und Bismarckzeit, Berlin 1967, S. 88--117; Uriel
Tal, Christian and Jews in Germany, Religion, Politics and Ideology in the Second Reich 1870-
1914, Ithaca 1975.
15 Im weiteren die Analyse von Hermann Gram!, Reichskristallnacht, Antisemitismus und Judenver-
folgung im Dritten Reich, München 1988.
16 Walter Boehlich, Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt 1965.
17 Als Titeltext in: Jüdische Presszentrale v. 8. September 1933.
18 Wilhelm Marr, Der Sieg des Judentums über das Germanentum, vom nicht-konfessionellen
Standpunkt aus betrachtet, Bern, Verlag Rudolf Costenoble, 1873. Im Jahr des Berliner Antisemi-
tismusstreites, 1879, war Marrs Schrift dort bereits in der zwölften Auflage erschienen.
19 Bugen Dühring, Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage, Mit einer weltgeschichtlichen
Antwort, Karlsruhe/Leipzig 1881, S. 3ff.
20 Sau! Friedländer, Die politischen Veränderungen der Kriegszeit und ihre Auswirkungen auf die
Judenfrage, in: Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916-1923, hg. v. Werner E. Mosse,
Tübingen 1971, S. 65.
21 Joseph Goebbels, Die verfluchten Hakenkreuzler, Etwas zum Nachdenken, München 1930, zit.
S. 23, erschienen im gleichen Jahr wie Dührings 1920 fertiggestellte und zehn Jahre später als
sechste, <<vermehrte>> Auflage gedruckte Neuausgabe.
22 Augusta Weldler Steinberg, Geschichte der Juden in der Schweiz, 1970, Bd. 2, S. 84-147. Zur
Kultus- und kirchenrechtlichen Seite vgl. Fritz Wyler, Die staatsrechtliche Stellung der israelitischen
Religionsgenossenschaften in der Schweiz, Diss. Zürich 1929.
23 Paul Pictet, Etude sur Je traite d'etablissement entre Ia Suisse et Ia France du 23 fevrier 1882, Diss.
iur. Genf, Bern 1889.
24 Joshua Starr, Jewish Citizenship in Rumania 1878--1940, in: Jewish Social Studies 3-1, 1941,
weist darauf hin, dass vor dem 1. Weltkrieg nur eine schmale Minderheit der rumänischen Juden
die Staatsbürgerschaft erlangen konnten und die grosse Mehrheit als <<Ausländer>> galten.
Aufschlussreich ist Andrew Jonas, Modernization and Decay in historical Perspective, in: Social
Change in Romania 1860-1940, hg. v. Kenneth Jowitt, Berkely/Los Angeles 1978, S. 72-116.
Mehr allgemeine Studien bieten: Carol Iancu, Les J uifs en Raumanie 1866-1919, De I' exclusion a
l'emancipation, Provence 1978; und Yitshak Berkovich, Pirke romanyia, TelAviv 1975.
25 Näheres bei von Salis, Schweizerisches Bundesrecht, Zürich 1893, Bd. IV, S. 432ff. Auf den
KAPITEL 1 465

Schutz von Schweizer Juden gehe ich unten noch ausführlich ein.
26 Im weiteren Külling, Antisemitismus in der Schweiz 1866-1900, 1977, bes. S. 77-95.
27 Robert Uri Kaufmann, Jüdische und christliche Viehhändler in der Schweiz 1780-1930, Diss.
phil. Zürich 1988.
28 Aaron Kamis-Müller, Antisemitismus in der Schweiz, Zürich 1990, S. 79.
29 Zur gesamtschweizerischen Regelung des Tierschutzgesetzes 1981 sowie zur rabbinischen Auf-
fassung siehe Antoine F. Goetschel, Kommentar zum eidgenössischen Tierschutzgesetz, Bern/
Stuttgart 1986, S. 145-153. Es ist vielleicht bezeichnend, dass dieses Kompendium von einem
jüdischen Verfasser geschrieben wurde.
30 Talmud Bablis, Schabbat 128 b und Mezia 32 b, deduziert unter anderen Deut. 22:4 als einen
Imperativ zur Rücksichtsnahme auf das Tier. In der mittelalterlichen jüdischen Literatur sind unter
vielen Rabbi Schmuel ben Meir und Moshe ben Maimon als Autoritäten zu nennen; siehe
Raschbam, Kommentar zu Exodus 23:19, und Maimonides, Moreh Nevuchim, III,48.
31 Külling, Antisemitismus, S. 381-385; Wyler, Stellung der israelitischen Religionsgenossenschaften,
S. 159-170. William E. Rappard, Die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft
1848-1948, Zürich 1948, S. 419f.
32 Külling, Antisemitismus, S. 383. So hat Roland Neff, Der Streit um den wissenschaftlichen
TieiVersuch in der Schweiz des 19. Jahrhunderts, Basel 1989, S. 42-50, die Vivisektion als
Aushängeschild antisemitischer Polemik erwähnt. Bemerkenswert ist das Fehlen von Artikeln
gegen die Vivisektion im Vergleich mit der Fülle von Beiträgen zur Schächtfrage im Zentralorgan
des Schweizerischen Tierschutzvereins während der Jahre 1887-1893. Was noch anzumerken
bliebe, wäre hier die jüdische Ablehnung der Vivisektion wie jeglicher Tierquälerei überhaupt.
33 Dies legten auch die gleichzeitigen Versuche der deutschen Antisemiten nahe, in Berlin ein Gesetz
für den Einwanderungsstop durchzubringen. Die Schächtfrage in der Schweiz wird entsprechend
rezipiert im Antisemiten-Spiegel, Die Antisemiten im Lichte des Christenthums, des Rechtes und
der Wissenschaft, 2. erw. Aufl., Danzig 1900, S. 30-51.
34 AFS: 4001 (B) 1970, 187, Antrag des Eidg. Justiz. und Polizeidepartements an den Bundesrat
v. 26. März 1938.
35 Kamis, Antisemitismus (Anm. 28); und Mare Perrenoud, Problemes d'integration et de naturalisation
dans le canton de Neuchiitel (1871-1955), in: Devenir suisse, Adhesion et diversite culturelle des
etrangers en Suisse, hg. v. Pierre Centlivers, Geneve 1990. S. 63-94.
36 Kurt Guggenheim, Alles in allem, 1954, Bd. 2, S. 66, und Bd. 3, S. 24.
37 Golo Mann, Über Antisemitismus, in: Geschichte und Geschichten, Frankfurt 1961; vgl. ders., Der
Antisemitismus: Wurzeln, Wirkung und Überwindung, TelAviv 1962. J. R. von Salis in: Welt-
woche v. 5. 12. 1991.
38 Kurt Guggenheim, Wir waren unser vier, Zürich 1949, im 10. Kapitel.
39 Friedrich Dürrenmatt, <<Mondfinsternis>>, in: Stoffe I-III, Zürich 1990, S. 194f.
40 Theo Amstutz, Le second avant-guerre dans Ia Iitterature suisse 1929-1938, Lizentiatsarbeit (Manu-
skript) Universität Genf 1973, untersucht 45 Werke von 15 Romands und 12 deutschschweizerischen
Autoren, wobei in Werken von elf Autoren antisemitische Züge behauptet werden.
41 Siehe das Stichwort <<Antisemitismus>> im Register des Buches von HeiVe Dumont, Histoire du
cinema suisse, films de fiction 1896-1965, Lausanne 1987.
42 Eva Reichmann, Flucht in den Hass, Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe, Frankfurt
1962, u. a. S. 39ff., 60 und 197. Siehe auch Shulamit Volkov, Soziale Ursachen des jüdischen
Erfolgs in den Wissenschaften, in: Historische Zeitschrift 245, 1987, S. 315-342.
43 Shulamit Volkov, Jüdisches Leben und Antisemitismus, bes. S. 13-36, bietet eine bemerkenswer-
te methodische Prämisse, indem sie den Antisemitismus als <<kulturellen Code>> versteht.
44 <<Zur gegenwärtigen Lage der Psychotherapie», in: C. G. Jung, Zivilisation im Übergang, Gesam-
melte Werke, Bd. 10, hg. v. Lilly Jung-Metker u. a., Olten/Freiburg 1974, S. 190f.; vgl. dort S. 581
auch das 1933 geschriebene <<Geleitwort>> zum deutschen Zentralblatt Im weiteren: Kar! Falland
u. a., Psychoanalyse bis 1945, in: Mitchell G. Ash und VIfried Gerster (Hg.). Geschichte der
deutschen Psychologie im 20. Jahrhundert, Opladen 1985, S. 133ff.
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45 Ballys Kritik in: Neue Zürcher Zeitung v. 27. 2. 1934; dazu Jüdische Presszentrale v. 2. 3. 1934.
Jungs Erwiderung, in: Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 583-593. Briefvom 9. Juni 1934 an Gerhard
Adler, in: Jung, Briefe, hg. von Aniella Jaffe und Gerhard Adler, Olten 1973-1980, Bd. 1, S. 213f.;
dort auch weitere Erklärungen Jungs aus dem Jahr 1934, so an A. Pupato (2. März), B. Cohen
(26. März), Max Guggenheim (28. März), James Kirsch (26. Mai u. 29. September). Zum
Kongress der Freudianer in Luzern vgl. den Foto- und Dokumentenband von Tim Gidal u. Volker
Friedrich, Die Freudianer auf dem 13. Internationalen Psychoanalytischen Kongress 1934 in
Luzern, München 1990. Für Freud verweise ich auf die bekannten Arbeiten von Peter Gay und auf
die Essays von Jakob Hessing, Der Fluch des Propheten, Drei Abhandlungen zu Sigmund Freud,
Rheda-Widenbrück 1989, und Yosef Hayim Yerushalmi, Freuds Moses, Endliches und unendli-
ches Judentum, Berlin 1991, bes. S. 61-85. Eine kommentierte Dokumentation zu Jungs Abwegen
bei Ludwig Marcuse, Mein Zwanzigstes Jahrhundert, Frankfurt 1968, auszugsweise abgedruckt
unter dem Titel <<C. G. Jung und das arische Unbewusste», in: Schmid, Schalom, S. 65--68. Vgl.
auch Hermann Levin Goldschmidt, Das würde ich einem Juden antworten, in: Israelitisches
Wochenblatt v. 16. 3. 1973 sowie 25. 4. 1952.
46 Einschlägige Äusserungen finden sich in den oben vermerkten Briefstellen. Öffentlich erörterte
Jung seine Rolle nach dem Krieg, als auch Freud schon länger nicht mehr lebte, nur ungern. Eine
Ausnahme bildet <<Nach der Katastrophe>> von 1945, in: Jung, Gesammelte Werke, Bd. 10. S. 219
bis 244; Jung formuliert dort als Schweizer nunmehr den Rat an die Deutschen, eine <<Kollektiv-
schuld» anzuerkennen. In <<Die Beziehung zwischen dem Ich und dem Unbewussten» (Gesammel-
te Werke Bd. 7, S. 160, Anm. 9) ist auch sein Versuch nachzulesen, das Konzept des <<kollektiven
Unbewussten», mit dem 1934 der Wertgegensatz von <<arischer>> versus <~üdischer Psychologie»
auch psychologisch begründet schien, gegenüber dem Vorwurf des Antisemitismus zu verteidi-
gen.
47 Schon allein das Konzept des Unbewussten böte einer historisch-psychologischen Untersuchung
genügend Materialien; dabei müsste die real- und sozialgeschichtliche Situation der Schweiz
berücksichtigt bleiben. Im Gegensatz zu einem <<kollektiven Unbewussten» im Sinne Jungs wäre
es dabei angebracht, von einem <<gesellschaftlichen Unbewussten» zu reden, etwa im Sinne von
Erich Fromms frühen Schriften zur Analytischen Sozialpsychologie, die dieser in den gleichen
Jahren 1932 bis 1936 formuliert hat.
48 Zu Fore! vgl. das Kapitel über die Kirchen. - Mare Rufer, Rassismus und Psychiatrie in der
Schweiz, in: Widerspruch 14/1987, S. 53--68.
49 Eric Dreifuss, Die Schweiz und das Dritte Reich, Vier deutschschweizerische Zeitungen im
Zeitalter des Faschismus 1933-1939, Frauenfeld 1971, konzentriert sich auf die Vorgänge im
Dritten Reich, nicht aber auf die Rezeption des Frontismus im Inland.
50 SIG: Pressesammlung Dossiers <<Antisemitismus» der Jahre 1933-37. Neue Zürcher Zeitung,
24. 1. 1935, Antwort auf einen Artikel <<Antisemitische Verhetzung» von Saly Braunschweig;
Emmenthaler Blatt, Rundfragen zum Judenproblem, Herbst 1936.
51 Der Artikel <<Gibt es eine Judenfrage in der Schweiz» in der National-Zeitung v. 17. November
1938 ist von seinem Erscheinungsdatum her deutlich von der Reichspogromnacht bestimmt und
zum andern von Carl Brüschweilers statistischer Untersuchung Beruf und Konfession in der
Schweiz, Ollen 1938, veranlasst.
52 Loosli in: Jüdische Presszentrale v. 21. 8. 1931, S. 12. Dazu Carl Albert Loosli, DieJuden und wir,
Zürich 1930.
53 SIG: Protokolle DV von 1934, 1935 und 1936; Archivdossiers zu diversen antisemitischen Fällen
in den dreissiger Jahren. Leo Littman, 50 Jahre Gemeindebund, in: SIG, Festschrift, 1954, S. 14ff.
Schmid, Schalom, Wir werden euch töten, 1979, versch. Zitierungen.
54 Zu Henry Ford, der im nachhinein öffentlich seinen Glauben an die Authentizität der Protokolle
widerrief, siehe: Leo P. Ribuffo, Henry Ford and the International Jew, in: The American Jewish
Experience, hg. v. Jonathan D. Sarna, New York 1968, S. 175ff. Zu Rusch und den Republikanern
vgl. Kamis, Antisemitismus, 1990, S. 211; dazu LB: V Schweiz 2642, Vereinigung Schweizeri-
scher Republikaner, Richtlinien, S. 13-20, Erster Jahresbericht 1919/20.
KAPITEL 1 467

55 Kamis, Antisemitismus, S. 287ff.


56 Carl Albert Loosli, Die schlimmen Juden!, Bern 1927, S. 5. Zum Judenbild Looslis und seiner
umstrittenen Rolle in der jüdischen Abwehr, siehe Kamis, Antisemitismus, S. 282-285.
57 Kritische Biographie bietet Johann-Markus Wemer, Consul Carl Lutz im Dienste der Menschlich-
keit, Lizentiatsarbeit (Manuskript) Universität Bern, 1985; dort S. 16.
58 J. B. Rusch, Über die Judengefahr, Eine nicht antisemitische sachliche Betrachtung der Frage,
Mels 1923, Sonderdruck aus den Schweizerischen Republikanischen Blättern. Rusch selbst gibt
vor, kein Antisemit zu sein. Das Machwerk stützt sich auf Fords Buch.
59 Republikanische Blätter v. 28. 7. 1934; dazu Jüdische Presszentrale v. 3. 8. 1934 und 10. 5. 1935
(Vortrag in der Kadimah Zürich).
60 J. B. Rusch Protokolle der Weisen von Zion, die grösste Fälschung des Jahrhunderts, Glarus 1933;
ders. in Nationalzeitung v. 8. 2. 1936 (Gustloft) und 29. 8. 1942 (Flüchtlinge). Verlautbarung bei
Barth: <<die Flüchtlinge tun uns die Ehre an, in unserem Land einen Hort des Rechts und des
Erbarmens zu sehen und aufzusuchen>> (wiedergegeben u. a in: Oberland, Interlaken 28. 9. 1942).
61 Zum Berner Prozess vgl. Urs Lüthi, Der Mythos vom Verrat, Basel 1992 (Publikation der
Lizentiatsarbeit an der Universität Bern).
62 Siehe unten im Kapitel über die jüdische Abwehr.- SIG: Presseauschnitte zu div. Kongressen und
Organisationen. Jüdische Presszentrale v. 12. 11. 1937 (Internationale Frauenliga); zur Völker-
bundsvereinigung siehe unten. Hans Zbinden, Zum Problem des Antisemitismus, in: Wandlungen,
hg. von der Internationalen Panidealistischen Vereinigung, November 1937, wieder abgedruckt in:
Jüdische Presszentrale v. 26. 11. -3. 12. 1937.
63 Vaterland, 1. 4. 1933; und Neue Zürcher Zeitung, 1. 4. 1933; zit. nach Dreifuss, Schweiz und das
Dritte Reich, S. 128.
64 SIG: Dossier «Adolf Alt>>. Tobias Kästli, Zur Geschichte des Judenhasses in der Schweiz, in:
Leben und Glauben v. 11. 11. 1988.
65 Die Ostschweiz v. 11. 4. 1924; und Vaterland 9. 4. 1924. Schweizer Monatshefte 9/Dezember
1923 u. 11/Februar 1924. Darstellung bei Kamis, Antisemitismus, S. 145-157.
66 Hans Ulrich Jost, Die radikale helvetische Rechte, Historische Bezüge und iedologische Kompo-
nenten, in: Widerspruch 21, Juni 1991, S. 95-106.
67 Klaus-Dieter Zöberlein, Die Anfange des deutschschweizerischen Frontismus, Meisenheim a. Glan
1970. Francesco Kneschaurek, Der schweizerische Konjunkturverlauf und seine Bestimmungs-
faktoren dargestellt auf Grund der Periode 1929-1939, Zürich 1952.
68 Frühes Zeugnis der Kritik und Rechtfertigung gibt der dreiteilige Bericht des Bundesrates,
Antidemokratische Tätigkeit von Schweizern und Ausländern im Zusammenhang mit dem Kriegs-
geschehen 1939-45 (Motion Boerlin), Bern 1946, der den Antisemitismus als gewichtige Kon-
stante frontistischer Gruppierungen ignoriert. Historische Einschätzung und Literatur bei Hans
Ulrich Jost, Bedrohung und Enge (1914-1945), in: Geschichte der Schweiz und der Schweizer,
Bd. 3, Basel 1983. Für die innenpolitischen Implikationen der eidgenössischen Aussenpolitik
siehe als Grundlage die entsprechenden Bände von Edgar Bonjour, Geschichte der schweizeri-
schen Neutralität, 5. Aufl., Basel 1970.
69 SIG: Archiv nach einzelnen Parteien und Gruppen geordnet; daraus eine Auswahl frontistischer
Propaganda durch Max Schmid, Schalom, Wir werden euch töten, Texte und Dokumente zum
Antisemitismus in der Schweiz 1930-1980, Zürich 1979.
70 Fritz Roth, Schweizerische Heimatwehr 1925-1937, Diss. Bern 1973.
71 Roger Joseph, L'Union nationale 1932-1939, un fascisme en Suisse romande, Diss. phil. Lausan-
ne, Neuenburg 1975. Catherine Karp, La question juive et l'antisemitisme dans le Canton de Vaud
1930-1940, Lizentiatsarbeit (Manuskript) Universite de Lausanne 1976.
72 Der Waadtländer Maurice Muret, L'esprit juif, 1901, rezipierte bereits früh die rassen-
psychologischen Theorien von Edouard Drumont. Mit der Nouvelle Revue Romande von Gross
und dem Pilori von Oltramare wurde die antisemitische Kampagne in den zwanziger Jahren
gestartet. Vgl. Joseph, Union nationale, 1975, S. 9-39. Dazu Aaron Kamis-Müller, Les Juifs en
pays du Vaud, in: Musee Historique de Lausanne, Vie juive en Suisse, Lausanne 1992, S. 139ff.
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73 Zum Verbot siehe unten im Kapitel über die jüdische Abwehr.


74 Beat Glaus, Die nationale Front, Eine Schweizer faschistische Bewegung 1930-1940, Zürich
1969. Susanne Gisel-Pfankuch, Die <<Pfeffermühle» in der Schweiz 1933-1936, Zwischen
Frontismus und geistiger Landesverteidigung, Lizentiatsarbeit (Manuskript) Basel 1988.
75 SIG: Dossier Pfeffermühle/Kursaal-Krawall; Dossiers der einzelnen faschistischen Pressen: Heimat-
wehr, 33/1943; Volksbund, 25/1934; Grenzbote, Nov. 1943/Januar 1935.
76 Materialien siehe im Kapitel über die jüdische Abwehr (Pestalozzis Schweiz; Bündnisprobleme).
Das Thema «WarenhauS>> war ein Dauerbrenner für den SIG, der mit der Frage nach den richtigen
Bündnispartnern verknüpft war. Auswanderung von Brann ist von mir nicht genauer verifiziert;
dies müsste eingehend untersucht werden. Hingegen wird unten der Abfluss an Steuerkapital ins
Ausland und die Auswanderung von Schweizer Juden insgesamt belegt.
77 AFS: 4260 C 1, Nr. 6, Regierungsrat Kanton Zürich an Bundesrat v. 4. 4. 1935. Polemik gegen
Brann und Bachenheimer in: Das Aufgebot v. 3. 4. 1935.
78 Glaus, Fronten, S. 286. Zu den Emigrantenkindem siehe im Kapitel über die Kinderfragen, die ich
weiter unten beschreibe. - Zum Sprachgebrauch der Fremdenpolizei: Ladislaw Mysyrowicz, Le
Dr. Rothmund et Je problerne juif (1941 ), in: Schweiz. Zeitschrift für Geschichte, 32/1982, S. 348
bis 355, verkennt meiner Meinung nach, dass die spätere Ablehnung des Begriffs «Verjudung>>
durch Rothmund nur die sehr viel frühere und tatsächliche Übereinstimmung mit den frontistischen
Forderungen verschleiert.
79 Waller Rüthemann, Volksbund und SGAD, Nationalsozialistische Schweizerische Arbeiterpartei,
Diss. Fribourg, Zürich 1979.
80 Emil Sonderegger, Ordnung im Staat, Bern 1933.
81 SIG: Dossiers Arthur Bloch/Prozess Verbrechen in Payern. Jacques Pilet, Le crime nazi de
Payerne, Lausanne 1977; ebenso die Sendung des gleichen Autors, zusammen mit Yvan Dalain,
Un crime oublie, im Westschweizer Fernsehen v. 29. 9. 1977.
82 Ralph Weingarten, Gleichberechtigt in die neue Zeit, Die «Gründerzeit>> des Schweizer Judentums
1866-1920, in: Willy Guggenheim (Hg.), Juden in der Schweiz, Küsnacht/Zürich 1983, S. 54ff.
83 Uri Robert Kaufmann, Geografische und berufliche Mobilität der Juden in der Schweiz 1850-
1930, Magisterarbeit HU Jerusalem, Berlin 1982. Schimon Stern, Das Wohnverhalten der Basler
Juden seit 1910, in Judaica 1/1986, S. 41-47.
84 Vgl. Jacob Lestchinsky, Tefuzat lsraelleAchar haMilhamah, TelAviv 1948, vorallem S. 31ff.;
und Libman Hersch, Jewish Population Trend in Europe, in: The Jewish People, Past and Present,
New York 1948, Bd. 2., S. 1-24.
85 Gerald Arlettaz, Les effets de Ia premiere guerre mondiale sur l'integration des etrangers, in:
Relations internationales, 54/1988, bes. S. 161. Perrenoud, in: Centlivers, Devenir Suisse, S. 63 bis
94. Resümierende Darstellung bei Kamis, Antisemitismus, 1990, S. 97-101.
86 Jüdische Presszentrale v. 1. 3. 1936, Leitartikel von Otto Heim.
87 Kamis, Antisemitismus, S. 81-96, aus Akten in ZHST: Bericht des Regierungsrates v. 24. März
1921, Erziehungsdir. lll Eb (f), S. 3.
88 Steven E. Aschheim, Brothers and Strangers, The East European Jew in German and German
Jewish Consciousness, 1800-1923, Madison 1982, S. 21-24. Ergänzend dazu Jack L. Wertheimer,
Unwelcome Strangers, East European Jews in Imperial Germany, New York 1987. Beide Autoren
bringen Fakten und Quellen, die eine erneute und differenzierte Interpretation der vorurteils-
befrachteten «Üstjudenfrage» in der Literatur nahe legen.
89 Zitierte Passage aus SIG: DV v. 3. 6. 1917. Literarisch thematisiert Kurt Guggenheim, Die frühen
Jahre, S. 41-42, den inneren Druck. Eine Schilderung des Konfliktes innerhalb einer ostjüdischen
Familie selbst bietet der Roman von Guggenheim, Alles in allem, Bd. 1, S. 188-194.
90 Jüdische Presszentrale v. 15. Juni 1934; Statistische Nachrichten, hg. v. Statistischen Amt der
Stadt Zürich, Heft 4, 1934.
91 So die beruhigende Erklärung in SIG: CC v. 18. September 1935.
92 NAW: RG 242, T 120 4725, Generalkonsulat Zürich an Auswärtiges Amt v. 27. April1934, unter
Beilegung einer Zeitungsnotiz der Neuen Zürcher Zeitung vom gleichen Datum.
KAPITEL 1 469

93 Bereits im Sommer 1935 häuften sich die konkreten Ankündigungen der beiden Nürnberger
Gesetze vom September 1935, auch in der bürgerlichen Presse der Schweiz. Erste Hinweise auf
Verlust der Staatsbürgerrechte und Eheverbote auf dem bevorstehenden Parteitag brachte die
Neue Zürcher Zeitung vom 5. August 1935.
94 Kamis, Antisemitismus, S. 57, daraus zit. AFS: E 21/20800, Schweizerischer Städtebund v.
10. 1. 1919.
95 Uriel Gast, Aufbau und Entwicklung einer eidgenössischen Fremdenpolizei in den Kriegs- und
frühen Nachkriegsjahren des ersten Weltkrieges (1915-1922), Lizentiatsarbeit (Manuskript) Uni-
versität Zürich 1986. Walter A. Stoffel, Die völkervertraglichen Gleichbehandlungsverpflichtungen
der Schweiz gegenüber den Ausländern, Zürich 1987, S. 69-75, mit zahlreichen Literaturangaben.
96 Alle Nachweise bei Gast, Fremdenpolizei, S. 147, und Kamis, Antisemitismus, S. 54-63. Auf die
jüdischen Kinder werde ich wiederholt zu sprechen kommen; siehe unten entsprechende Kapitel.
97 AFS: E 21/20729, Korrespondenz Dufour-Häberlin v. 5. und 19. 10. 1926, zit. Kamis, Antisemi-
tismus, S. 59: <<Ie Juif oriental qui n'est pas ne dans notre pays et n'y a pas ete eleve, est en general
inassimilable>>.
98 SIG: Jahresbericht 1938, S. 6, Abschnitt <<Einbürgerung>>.
99 SIG: Jahresberichte 1931-1938. JDC: # 973, diverse Ablagen Saly Mayers; insbesondere ein mit
Anstreichungen versehenes Exemplar der Schrift von Max Ruth, Das Schweizer Bürgerrecht,
Basel 1937.
100 JDC: # 974, Korrespondenz Haymann-Mayer v. 23. 10. und 17. 12. 1940.
101 AFS: 4001 C 1, Nr. 146, Bericht <<Praxis des Bürgerrechtsdienstes>> an von Steiger v. 31. 12. 1946;
Vermerke zu zwei Einbürgerungskandidaten v. 18. 12. 1947 und 7. 1. 1948. Dazu Statistisches
Jahrbuch der Schweiz für 1951, S. 105.
102 AFS: 4001 C 1, Nr. 146, Bericht WG an v. Steiger v. 31. 12. 1946.
103 Das Thema wird weiter unten, in der Behandlung der Jahre 1940/42 zu diesen Fragen, noch
genauer aufgegriffen. Materialien in AFS: 4800 A, 1967/111, Nr. 400, Bericht Ruth an von Steiger
v. 8. 4. 1942; BRB v. 11. 11. 1941 über die Wiedereinbürgerung der ehemaligen Schweizerinnen,
die durch Ausbürgerung staatenlos geworden sind.
104 Kamis, Antisemitismus, S. 333ff., Iiste! für die Jahre 1900-1930 und später fast hundert Professo-
ren und Dozenten an schweizerischen Hochschulen auf. Ergänzend die Liste im Anhang von
Volkov, Jüdisches Leben und Antisemitismus, S. 163-165.
105 Siegmund Kaznelson (Hg.), Juden im deutschen Kulturbereich (1934), Berlin 1962, 3. Auf!., mit
Willstätters Vorwort (1934), S. 7-11. Der voluminöse Band spiegelt den verletzten Stolz des
deutschen Judentums in den dreissiger Jahren.
106 Siehe die Würdigungen von Marion Gräfin Dönhoff, in: Neue Zürcher Zeitung v. 25. /26. 1. 1992,
und Die Zeit v. 16. 2. 1992.
107 UBS: Nachlass Edgar Salin, Fa 2334, 7129-32 u. Fb 500, div. Korrespondenzen mit Bundesrat
und Polizeiabteilung. Die Vorwürfe betrafen u. a. die Erkundigungen Salins, 1940 im inner-
schweizerischen Samen Wohnrecht zu erhalten.
108 Nathan Feinberg, La questiondes minorites a Ia Conference de Ia Paix, Paris 1929, und Andre
Mandelstamm, La protection internationale des minorites, Paris 1931, sind beide diesen Bemü-
hungen in besonderer Weise verpflichtet gewesen. Allgemeiner und als Problem der Kriegs-
liquidation siehe auch Paul Guggenheim, Der Völkerbund in seiner politischen und rechtlichen
Wirklichkeit, Leipzig!Berlin 1932, S. 254-271.
109 Siehe Herber! A. Strauss (Hg.), Der Antisemitismus der Gegenwart, Frankfurt/New York 1990,
S. 15ff. Ekkehard W. Stegemann, Christliche Wurzeln der Judenfeindschaft, vom Neuen Testa-
ment bis heute, in: Reforrnatio, Evangelische Zeitschrift für Kultur, Politik und Kirche 37, 1988,
s. 366-379.
110 Ursula Leisibach, Die offiziellen Reaktionen der schweizerischen Landeskirchen gegenüber dem
Nationalsozialismus 1933-1942, Lizentiatsarbeit (Manuskript) Universität Basel 1990. Hermann
Kocher, Schweizerischer Protestantismus und jüdische Flüchtlingsnot nach 1933, Tradition und
Neuaufbrüche, in: Judaica, 42, März 1986, S. 28-40.
470 ANMERKUNGEN

111 Kirchen-Anzeiger der katholischen Pfarrei St. Peter u. Paul, 15. Jg., Nr. 26, vom 21. 12. 1930.
Katholisches Pfarrblatt Altstetten-Zürich, Beilage, Oktober 1931; dazu Jüdische Presszentrale v.
23. 10. 1931.
112 Pfarrer Platzhoff-Lejeune in Jüdische Presszentrale v. 22. 12. 1933.
113 Schweizerische Kirchenzeitung vom 19. Mai 1921 (Bericht über Palästina) und 19. April 1928
(Verurteilung des Antisemitismus).
114 Die undeutliche Haltung des St. Galler Gerichtes erweckte in katholischen Kreisen den Eindruck,
bei den <<Bibleforschem>> handle es sich tatsächlich um <duden-Sendlinge>>. Die jüdische Presse
erkannte in den Zeugen Jehovas eine judenfeindliche Gruppe aus dem protestantischen Umfeld.
Behandlung der Angelegenheit bei Kamis, Antisemitismus, S. 152-157.
115 Artikel von Robert Mäder <<Wir sind unsterblich>> in: Das Neue Volk 38, Rorschach 22. September
1945. Das Blatt bezeichnet sich als unabhängiges Organ im Sinne der katholischen Aktion.
Entgegnung auf Seiten der jüdischen Abwehr siehe Israelitisches Wochenblatt v. 26. 10. 1945.
116 Albert M. Weiss 0. P. (1844-1925) war Professor in Fribourg seit 1890. A. M. Weiss, Die
religiöse Gefahr, Freiburg 1904, Seiten 4, 102, 122, 232. Ders., Apologie des Christentums,
Fribourg 1888-96, 2. Auf!., Bd. 1, S. 526; 3. Auf!., Bd. 3, S. 203-221; Bd. IV, S. 151 u. 808.
117 Siehe Wilson, ldeology and Experience, S. 420; und Lüthi, Der Mythos vom Verrat, zum Bemer
Prozess von 1933-1937.
118 Siehe Rudolf Lill, Die deutschen Katholiken und die Juden in der Zeit von 1850 bis zur Macht-
übernahme Hitlers, in: Kar! Heinrich Rengstorf u. Kortzfleisch (Hg.), Kirche und Synagoge,
Stuttgart 1970, Bd. 2, S. 370-420.
119 Staatslexikon der Görresgesellschaft, 5. Auf!., 1926ff., Bd. I, S. 224; Lexikon für Theologie und
Kirche, 1930ff., Bd. 1, Sp. 504ff., Artikel von Gustav Grundlach S. J., und Bd. 5, Sp. 687, Art. v.
F. Schühlein.
120 Urs Altermatt, Der Weg der Schweizer Katholiken ins Ghetto, Die Entstehungsgeschichte der
nationalen Volksorganisationen im Schweizer Katholizismus 1848-1919, Zürich 1972; und ders.,
Katholizismus und Moderne, Zürich 1989, beschreibt politische Interaktionen und soziale
Transformation des Katholizismus. Er gibt aber keinen einzigen Hinweis auf die hier zur Frage
stehenden Themen des sozialen Antisemitismus und der katholischen Haltung den Juden gegen-
über.
121 Jacob Lorenz, Bemerkungen über die Judenfrage, in: Schweiz. Studenten-Verein, Nr. 7, 1933,
S. 327-334. Lorenz (1882-1946), aus St. Gallen gebürtig, kehrte über die Sozialdemokratie und
das Arbeitersekretariat zu einem parteiunabhängigen Katholizismus zurück; dann wirkte er als
interimistischer Direktor des Eidgenössischen Statistischen Amtes und kommissionsmässig als
Berater der Bundesräte Musy und Schulthess.
122 Lorenz in: Das Aufgebot v. 16. Dezember 1936.
123 Andreas Amsee, Die Judenfrage, Luzem 1939, hg. Apologetisches Institut des Katholischen
Volksvereins.
124 Dreifuss, Schweiz und das Dritte Reich, S. 144, zitiert in diesem Sinn auch die Redaktion des
<<VaterlandeS>> zur frontistischen Initiative eines Freimaurerverbotes.
125 Walter in: Jüdische Presszentrale v. 20. 7. 1937, Sondernummer zum Zionistenkongress von
Zürich 1937.
126 Dossier <<Obwaldner Volksfreund>> in: neutralität, Januar 1970, und in: Schmid, Schalom, S. 12lf.
127 Einzelheiten bei Dreifuss, Schweiz und das Dritte Reich, S. 136-144.
128 Musys Artikel <<L'etatisme, precurseur du communisme>> in: La Liberte v. 29. 4. 1931. Jüdische
Rezeption von Musys Haltung in Jüdische Presszentrale v. 12. 5. 1933. Im weiteren Jean-Marie
Musy, La Suisse devant son destin, Montreux 1941, wo der Autor sich auf dieser Linie bewegt,
wenn erschreibt: «La communaute d'ideal national peut etre plus forte que Je Iien du sang>> (S. 94).
Gernäss mündlich geäusserter Vermutung von Leo Littmann, damals SIG-Sekretär, scheinen
jüdische Zeitgenossen geglaubt zu haben, dass Musy einen getauften jüdischen Vorfahren, ein
Waisenkind mit Namen <<Mende>> (Mendel), hatte.
129 Leisibach, Die offiziellen Reaktionen, S. 114f.
KAPITEL 1 471

130 Die Literatur zum Verhältnis Kirche und Nazistaat und zum Kirchenkampf ist voluminös. Über-
blick bei Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Frankfurt 1985; und Armin Boyens,
Kirchenkampf und Ökumene 1933-1939, München 1969. Weit mehr Material als der Titel ansagt
enthält Marikje Schmid, Deutscher Protestantismus und Judentum 1932/1933, München 1990.
Einige Hinweise zur innertheologischen Auseinandersetzung bei Kenneth C. Barnes, «Support,
Asquiescence or Support: Protestant Thought and the Nazi State 1933-37>>, in: ZRGG 2, 1988,
S. 15lff. Zu antisemitischen Leitbildern und deren Bekämpfung siehe Pranz Heinrich Philipp,
Protestantismus nach 1848, in: Kirche und Synagoge, Bd. 2., S. 306-339.
131 Kar! Barth, Eine Schweizer Stimme 193~1945, Veröffentlichte und unveröffentlichte Vorträge
und Briefe, Zürich 1945. Zitierte Stelle aus Hans Jonas (1946), «Eine Schweizer Stimme 1938-
1945», in: Eli Rothschild (Hg.), Meilensteine, Vom Wege des Kartells Jüdischer Verbindungen in
der Zionistischen Bewegung, TelAviv 1972, S. 289-294. Eine jüdische Antwort auf Barth brachte
1943 der Basler Rabbiner Arthur Weil, Aus ernster Zeit, Basel 1947, S. 252-263, wenn er Stellung
zum Weihnachtsbriefvon 1942 nimmt.
132 Kocher, «Protestantismus», in: Judaica, S. 2~0.
133 Der Antijudaismus erscheint insbesondere in Artikeln von Walter Eichrodt und dem Missions-
direktor August Gerhardt in: Der Kirchenfreund der Jahre nach 1933; vgl. Kocher in: Judaica, S.
31. Die Diskussion in der waadtländischen Eglise evangelique Iibre, in Anschluss an die Ereignis-
se der Reichspogromnacht, vgl. in deren Organ Le Lien 18. 11. 1938 und 6. 1. 1939. Zur Kirche
der Westschweiz siehe unten.
134 Walter Hoch, Kompass durch die Judenfrage, Zürich 1945. Als Abwehrleistung siehe David
Farbstein, Walter Hoch's <<Kompass durch die Judenfrage» -eine Widerlegung, Zürich 1946,
erschienen im Verlag Die Gestaltung. Vgl. ebenso Israelitisches Wochenblatt v. 30. 1. 1948.
135 Siehe Leisibach, Die offiziellen Reaktionen, S. 9~100.
136 Zum Beispiel in der seltenen und vorsichtigen Erklärung von Mgr. Besson, Bischofvon Lausanne,
Fribourg und Genf, der die Gläubigen zum Gebet aufforderte, «pour tant de gens persecutes soit a
cause de Ia foi qu'ils professent, soit de Ia race a Iaquelle ils appartiennent>> (in L'Echo v. 19. 11.
1938).
137 Bezirksvereinigung Zürich für den Völkerbund, Stellungsnahme gegen Rassenverfolgung, Öffent-
liche Kundgebung, Zürich o. J. (1935), S. 24-27.
138 Kar! Thieme, <<Deutsche Katholiken», in: Entscheidungsjahr 1932, hg. v. Werner E. Mosse,
Tübingen 1966, S. 271-286. Die Denkschrift «Die Kirche Christi und die Judenfrage» in der
Wiener Monatsschrift Die Erfüllung v. April/Mai 1937, mit den Schweizer Mitunterzeichnern
Charles Journet und Benoit Lavand; dazu Vaterland v. 3. 4. 1947 und Jüdische Presszentrale v.
9. 4. 1937. Zur «Action catholique» und der jüdischen Empfänglichkeit für deren antirassistische
Haltung siehe die Kritik in: Jüdische Presszentrale v. 3. März 1939.
139 Leonhard Ragaz, Judentum und Christentum, Erlenbach ZH/Leipzig 1922. Hermann Kutter, Gott
und die Ideen, in: Judentum und Christentum, Berlin 1926.
140 Pranz Petavel, L'epoque de rapprocherneut ou entente fralerneile entre I' Alliance evangelique et
I' Alliance israelite universelle, Paris 1863. Emile Guers, Israel aux derniers jours de I'economie
actuelle, Genf/Paris 1856. Gustave Naymark, Israel et Je monde chretien, Breve histoire des Juifs
et des missions chretiennes parmi Israel, Lausanne (o. J.). Auflistung von Kamis in: Musee
Historique de Lausanne, Vie juive en Suisse, S. 147-151.
141 David Lasserre, «L' Antisemitisme et I'Eglise chretienne», in: Les Cahiers protestants, Januar
1939. Paul Metraux in: Le Semeur Vaudois, Januar/Februar 1938; Rops u. Rougemont, Les Juifs,
Paris Pion 1937, Collection Presences. Dazu Israelitisches Wochenblatt v. 11. 3. 1938.
142 Dies müsste eingehender verifiziert werden. Hinweise vgl. Philipp, in: Kirche und Synagoge, Bd.
2, S. 341ff.
143 Artikel von Platzhoff-Lejeune in: Jüdische Presszentrale Zürich vom 6. 11. 1931 («Der Antisemi-
tismus der christlichen Geistlichkeit»), 1. 7. 1933 (Eindrücke aus Deutschland), 22. 12. 1933
(Abwehrfront).
144 Bereits das Exekutivkomitee der Alliance universelle pour l'amitie internationale des Eglises hatte
472 ANMERKUNGEN

1933 in Sofia solche Forderungen diskutiert, wenn auch ohne grosse Wirkung; vgl. Les persecutions
des J uifs en Allemagne, Declarations officielles des Eglises chretiennes de divers pays et de Ia
Suisse, Geneve 1933.
145 Marcus Urs Kaiser, Deutscher Kirchenkampf und Schweizer Öffentlichkeit in den Jahren 1933
und 1934, in: Basler und Berner Studien zur historischen und systematischen Theologie, 17,
s. 262-271.
146 Jüdische Presszentrale v. 24. 2. 1933, Wiedergabe des gesamten Vortrages, den Köhler im
jüdischen Verein Kadimah hielt. Weitere Berichte oder Texte in Presszentrale v. 6. 11. 1931 und
10. 11. 1937.
147 Neue Zürcher Zeitung v. 18. Juli 1933; dazu Platzhoff-Lejeune in: Jüdische Presszentrale v.
22. 12. 1933. Zu den verschiedenen <<National Conferences of Jews and Christians» siehe
Presszentrale v. 22. 10. 1937.
148 Jüdische Presszentrale v. 24. Dezember 1937 bringt zu Weihnachten zum Beispiel einen Artikel
des polnischen Nichtjuden Taddäus Zaderecki, um die verbindenenden Grundlagen zu betonen.
149 Siehe die ersten Hefte von Judaica, Nm. 1-4, 1945, und Farbsteins Bemerkungen in Israelitisches
Wochenblatt v. 12. 10. 1945 und 22. 2. 1946. Aufschlussreich sind die Beiträge von Thieme,
Ehrlich und von Schenk in: Kar! Thieme (Hg.), Judenfeindschaft, Darstellung und Analysen,
Frankfurt 1963, das als publizistisches Produkt diese Entwicklung dokumentiert. Für die katholi-
sche Kirche siehe Ernst Ludwig Ehrlich/Klemens Richter, Die katholische Kirche und das Judentum,
Dokumente 1945-1982, Freiburg i. Br./Basel1982.

Kapite/2

Protokolle des Kantonsrates für die Amtsperiode 1943-1947, Zürich 1947, Motion 340 vom
22. 5. 1944, Besteuerungvon im Kanton Zürich niedergelassen gewesenen und nach dem 1. 1. 1939
ins Auslandverzogenen Personen, S. 742ff.
2 Pestalozzi-Porträt in; Neue Zürcher Zeitung v. 23. 7. 1962; Schwarze Liste der OS-Botschaft in
Bem in: Plädoyer, 8. Jg., Nr. 4, 1990, S. 10.
3 JDC: # 974, Korrespondenz Haymann-Mayer Oktober/Dezember 1940; # 983, SIG/Mayer an
Armand Dreyfus, New York, vom 26. 11. 1940.
4 Israelitisches Wochenblatt v. 9. Juni 1944. Als Autor mit der Initiale «S.» kann Benjamin
Sagalowitz, Redaktor der SIG-eigenen JUNA, vermutet werden.
5 ZHSA: Kanton Zürich, Finanzwesen, III Fh 3a, Bericht Regierungsrat v. 23. 9. 1944. Vgl. dazu
Votum Pestalozzi, in: Protokolle des Kantonsrates, S. 742ff.
6 Antwort des Regierungsrates des Kantons Bern auf die einfache Anfrage Amman v. 3. November
1944.
7 Siehe gelegentliche Inserate in Israelitisches Wochenblatt unll Jüdische Presszentrale, z. B. v.
27. 5. 1939 («Anwalt verlegt Wohnsitz nach New York und übernimmt seriöse Aufträge und
Vertretungen ... >>).
8 ICZ: Tätigkeitsberichte 1939-1942; Protokolle GY v. 5. 5. 1940 und 19. 2. 1941; zitiert Bericht
und Antrag des Vorstandes v. 9. 2. 1941.
9 ZHSA: Protokoll Regierungsrat, Sitzung vom 21. November 1940. JDC: # 983, Bericht Saly
Mayer an Armand Dreyfus v. 26. 11. 1940.
10 ICZ: Tätigkeitsbericht 1941. Auch das Israelitische Wochenblatt v. 19. 8. 1941 versicherte seine
Leser, die meisten Wegzüger hätten ihr Vermögen in der Schweiz gelassen.
11 UJA: United Jewish Appeal of Greater New York, Swiss Division, Brief Alfred Wyler an SIG v.
27. Dezember 1945. JDC: # 983, Fund Rising, Tätigkeitsbericht von S. Brunschwig, New York,
vom 10. September 1945.
12 ZHSA: Kanton Zürich, Finanzwesen, III Fh 3a, Bericht.
13 Stenografische Bulletins, Nationalrat, Kleine Anfrage Meili v. 29. März 1943 und Antwort des
KAPITEL 2 473

Bundesrates v. 1. Juni 1943.


14 Zahlen in AFS: 4800 A, 1967/111, Nr. 109, Eidg. Kriegsfürsorge an EJPD v. 3. 1. 1944.
15 Israelitisches Wochenblatt v. 9. Juni, 1. August, 8. und 16. September 1944. Jüdische Antworten in
der Neuen Zürcher Zeitung v. 26. 7. 1944.
16 NAW: RG 242, T 120 3968, Telegramm 11. September 1944.
17 ZHSA: M 14 g 41, Protokoll Kantonsrätliche Kommission <<Besteuerung von Rückwanderern»
1944/45. SlG: Dossiers <<Motion Pestalozzi».
18 Protokoll des Kantonsrates, S. 742-746.
19 Leo Littmann, 50 Jahre Gemeindebund, in: SIG-Festschrift, 1954, S. 7.
20 SIG: CC, 3. Protokollbuch, 1921-1926, Traktandum <<Abwehr».
21 SIG: Jahresberichte 1926-1934, unter den entsprechenden Projekten. Leo Littmann, 50 Jahre
Gemeindebund, in: SIG-Festschrift, 1954, S. 9f.
22 AFS: E4001 (A), 42, Handakten Häberlin, BriefSIG v. 31. 5. 1932. SIG: Rede Bundesrat Motta v.
11. September 1932 (Jahrhundertfeier Luzern), Presseberichte.
23 SIG: DV v. 3. Mai 1933, Resolutionstext und Schreiben SIG an Bundesrat. AFS: E 4001 (A), 42,
Protokoll Sitzung des Bundesrates v. 5. Mai 1933.
24 SIG: CC v. 26. 3. sowie 5. 4. 1933.
25 Siehe Schmid, Schalom, Wir werden euch! töten, 1979.
26 SIG: CC v. 5. 4. 1933, Votum Armand Brunschvig; Sitzung der Communaute lsraelite de Geneve
v. 4. 4. 1933 mit Vertretern aller jüdischen Gemeinden und Gruppierungen sowie Kreisen der
Universität, des Völkerbundes und des Internationalen Arbeitsamtes.
27 SIG: CC v. 17. Oktober 1935, <<Boykottfrage>>, und DV v. 3. 11. 1935, Appell der Gemeinde
La Chaux-de-Fonds.
28 SIG: CC v. 18. 9. 1935; Brief SIG an Motta im Wortlaut in: Jüdische Presszentrale v. 27. 9. 1935.
29 Als deutsche Dokumentation siehe Hans Jonak-von Freyenwald, Der Berner Prozess, Akten und
Gutachten, Erfurt 1939. Gerichtsunterlagen sind heute zugänglich in der Wiener Library der
Universität TelAviv und im Archiv des SIG, der seinerzeit als Abwehrleistung die stenografischen
Protokolle xerographierte und ein vielfältiges Material sammelte. Im Staatsarchiv des Kantons
Bern sind die Bestände nur sehr lückenhaft vorhanden. Eingehende Darstellung bei Urs Lüthi, Der
Mythos von der Weltverschwörung, Die Hetze der Schweizer Fronlisten gegen Juden und Frei-
maurer-am Beispiel des Berner Prozesses um die «Protokolle der Weisen von Zion>>, Basel 1992.
Ebenso Erwin Marti, Carl Albert Loosli und der Antisemitismus, unter besonderer Berücksichti-
gung der Rolle im Berner Prozess um die Protokolle der Weisen von Zion>>, Lizentiatsarbeit
(Manuskript) Universität Bern 1980.
30 Norman Cohn, Die Protokolle der Weisen von Zion, Der Mythos von der jüdischen Welt-
verschwörung, Köln/Berlin 1969. Arm in Pfahl-Traughber, <<Die Protokolle der Weisen von Zion>>,
Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte einer antisemitischen Fälschung, in: Tribüne, Heft 98/
1986, s. 86-94.
31 SIG: Anklageschrift v. 26. 7. 1933; siehe Lüthi, Antisemitismus und Freimaurerfeindlichkeit,
1985, S. 33ff. Artikel <<Schweizermädchen ... >> in: Der Eidgenosse 12, 15. Juni 1933; auszugsweise
wiedergegeben in Jacques Picard, Die Schweiz und die <<Judenfrage>> 1933-1945, in: E. R. Wiehn,
Judenfeindschaft, 1989, S. 128f.
32 Emil Raas/Georges Brunschvig, Vernichtung einer Fälschung, 1938.
33 AFS: E 2001 (C) 4, Nr. 3, mit deutscher Protestnote v. 19. 7. 1935 und bundesrätlicher Adresse an
die Berner Regierung v. 9. 5. 1935; dazu Lüthi, Mythos von der Weltverschwörung, op. cit.; E
4001 (D) 1, Nr. 73, mit diversen Gesandtschaftsrapporten über die Wirkung des Urteils von 1937
im Ausland. NAW: RG 242, T 120-4725, <<Deutsche Gesandtschaft Bern>>, enthält ein Konvolut
antisemitisch gefasster Briefe deutscher und schweizerischer Absender aus Anlass des Prozesses.
34 Das Wort von der <<Hotel-Justiz>> siehe in den jiddischen Zeitungen Hajnt und Naje Folkszajtung,
beide Warschau v. 3. und 6. November 1937. Berichterstattungen im Völkischen Beobachter v. 27.
bis 29. Oktober und 3. November 1937.
35 Otto Friedrich, Die Weisen von Zion, Das Buch der Fälschungen, Lübeck o. J. (1920); Benjamin
474 ANMERKUNGEN

Segel, Die Protokolle der Weisen von Zion kritisch beleuchtet, Eine Erledigung, Berlin 1924.
36 SIG: CC-Protokolle v. 28. 11. 1937; Dossier Berner Prozess, Bericht v. 13. 10. 1937; Korrespon-
denzen Guggenheirn-Giacometti v. November 1937. Israelitisches Wochenblatt v. 29. 10. und
5. 11. 1937 mit deutlicher Enttäuschung über das Berner Obergericht und gleichzeitiger Warnung
vor dem «deutschen Agitationsbedürfnis>>.
37 Ein aufschlussreiches Dokument, aus Anlass des Gustloff-Attentates geschrieben, das im nazisti-
schen Geist getönt bleibt, ist die maschinenschriftliche Promotion von Sonja Weber, Schweizer
Presse und Judenfrage in Deutschland, Diss. phil. Leipzig 1938.
38 Avraham Barkai, <<Schicksalsjahr 1938>>, in: Das Unrechtsregime, Internationale Forschung über
den Nationalsozialismus, hg. v. Ursula Büttner, Harnburg 1986, Bd. 2, S. 50.
39 SIG: Dossier David Frankfurter, Zirkular v. 14. 2. 1936 und div. Korrespondenzen mit Bigar,
Messinger, Cohen und Alfons Frankfurter. Siehe die Darstellung von Peter 0. Chotjewitz, <<Mord
als Katharsis>>, in der neu edierten Ausgabe von Emil Ludwig, Der Mord in Davos, hg. v. Helmut
Kreuzer, Herbstein 1986, S. 148-155.
40 Aussage von Veit Wyler in Radio DRS, Sendung v. 14. Dezember 1989 <<Eidgenossen erwacht,
die Juden sind unser Unglück>>.- SIG: Tagebuch Georges Brunschvig, Eintrag vom 9. März 1936.
41 Genevieve Mercier, Presse et gouvernement face a Ia montee du Nazisme en Suisse, Un tournant
decisif: Fevrier 1936 (L'Affaire Gustloff), Mem.lic. phil. Universite de Lausanne 1971.
42 SIG: Nachlass Messinger, «Juwa>>, Nr. 361. Erwin Dennenberg, Begriff und Geschichte des
Warenhauses, Privatrechtliche Verhältnisse der schweizerischen Warenhäuser, Diss. Bern, Zürich
1937. Dazu siehe die Ausführungen von Kamis, Antisemitismus, 1990, S. 158-167. Zum 40jährigen
Jubiläum der Brann-Warenhäuser und ihren Sozialvorsorgen siehe die Darstellung in: Jüdische
Presszentrale v. 16. 6. 1936.
43 Schweizerisches Ragionenbuch, Zürich 1930, Bd. 1, S. 2042, und Zürich 1931, Bd. 1, S. 2112.
Hans Vögelin, Wie Basel zu Warenhäusern und anderen Grassverkaufsstellen kam, Basel 1978,
S. 85. Kamis, Antisemitismus, 1990, S. 165. Encyclopädia Judaica, Jerusalem 1971, Bd. 5., Spalte
1545, zum Thema der deutschen Warenhauskonzerne in jüdischem Besitz.
44 Broschüre der Freisinnigen Partei des Kantons Zürich, Freisinn und Fronten, Zürich 1933.
45 SIG: CC v. 12. 10. 1930 (Gründung EPA); diverse CC-Protokolle 1932-1935 unter «Einheitspreis-
geschäfte>> oder «Abwehr>>; Nachlass Messinger, Dossier «Juwa>> (Jüdische Warenhäuser); Korre-
spondenzen Saly Mayers mit einzelnen Firmen nach 1933.
46 SIG: GL v. 31. 5. 1937; Korrespondenz Gemeinde Vevey-Saly Mayer v. 9. 4. 1937; CC und DV v.
6. 5. 1937; CC V. 23. 6. 1937.
47 SIG: Dossier und Rapporte «Via>> 1932-1935; diverse Dossiers und Ordner unter der Titulatur der
jeweiligen Frontenorganisation. Der Verbandjüdischer Studenten in der Schweiz (VSJS) entstand
erst 1946.
48 SIG: Ausserordentliche DV v. 3. 5. 1933; Resolutionen vom 3. 5. und 18. 6. 1933; Rundschreiben
an SIG-Gemeinden v. 28. 8. 33 und an jüdische Nichtmitglieder v. 9. 10. 1933.
49 SIG: CC v. 15. 4. 1928; CC 14. 4. und 16. 6. 1929; Jahresberichte 1933-1935.
50 Georg Guggenheim, Warum mussjeder Jude Gemeindemitglied sein?, in: Jüdische Presszentrale
V. 31. 8. 1934.
51 ICZ: Protokolle 1931-1938, Vorstand, zu Traktandum «Neubau>>; zit. Stellen GV v. 3. 4. 1938.
Dazu Jüdische Presszentrale v. 1. 4. 1938.
52 In seinem «klassisch>> gewordenen Text hat dies 1948 bereits Robert K. Merton, The Self-
Fulfilling Prophecy, in: Merton, Social Theory and Social Structure, New York 1968, S. 475-490,
festgestellt.
53 IGBS: Aufzeichnung Versammlung v. 26. 12. 1942; Protestschreiben der Zionistischen Orts-
gruppe Basel an den Vorstand der Israelit. Gemeinde Basel v. 28. 12. 1942.- Artikel «Ziele und
Grenzen jüdischen Wirkens>> und «Psychologie der Emigranten>> in: Jüdische Presszentrale v.
1. u. 29. 4. 1938.
54 Eidgenössische Zeitung für Volk und Heimat, Nr. 8, v. 3. 8. 1942; zitierte Erklärung des BSJ in:
Jüdische Presszentrale v. 11. 8. 1942.
KAPITEL 2 475

55 Rene Sonderegger, Die Wahrheit über die Judenfrage, Zürich 1935; dazu Erklärung des BSJ in:
Jüdische Presszentrale v. 8. 2. 1935. Weitere Äusserungen zur <<Judenfrage>> in: Sonderegger,
Schweizerische Erneuerung, Zürich 1941.
56 Siehe oben im Kapitel über die Versuchung des Antisemitismus und die Kirchen; zitierte Stelle
Neue Zürcher Zeitung v. 18. 7. 1933.
57 Georg Guggenheim, Abwehr und Aufklärung, in: SIG-Festschrift, 1954, S. 57-84, stellt die
Wirkung rechtlichen Schutzes und juristischer Beweisführungen in den Vordergrund seiner Dar-
stellung.
58 Jüdische Presszentrale v. 20. 3. 1936 verweist auf die dort zwischen 1932 und 1936 porträtierten
Männer.
59 Israelitisches Wochenblatt verschiedener Jahrgänge mit Leitartikeln zum Nationalfeiertagam 1. Au-
gust oder zum Buss- und Bettag. Aufschlussreich zur Abwehr die Predigten des Basler Rabbiner
Arthur Weil, Aus ernster Zeit, Basel 1947, vor allem die Buss- und Bettagpredigten, S. 17-21
(Einheit und Einzigkeil der Schweiz im Namen Gottes, 1932), S. 68-70 (Geeinte Schweiz, 1936);
oder S. 169-175 (Israel und die Schweiz, 1940) mit Betonung der beiden Bundessymbolen im
Rückgriff auf den am Abwehrkampf beteiligten waadtländischen Pastor Platzhoff-l..ejeune.
60 NAW: RG 242, T 120/4725, Deutsches Konsulat Genf an Gesandtschaft in Bern v. 2. 12. 1938.
Journal de Geneve v. 1. u. 2. 12. 1938. Beispiel einer innerjüdischen Heraushebung von wissen-
schaftlichen Leistungen in Jüdische Presszentrale v. 3. -17. 7. 1936.
61 Jüdische Presszentrale v. 1. 10. 1937 und Israelitisches Wochenblatt v. 1. und 15. August 1941.
Mit Bundestheologie unterlegte Parallelsetzung von alteidgenössischem und altisraelitischem
«Foederalismus>> betont der Zürcher Rabbiner Zwi Taubes, Lebendiges Judentum, Genf 1946
(Collection Migdal).
62 Max Weber, Das antike Judentum, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 3,
Tübingen 1922, hatte von der «israelitischen Eidgenossenschaft>> gesprochen, um dann die
Transformation des antiken Judentums zu einem späteren «Pariavolk>> der Diaspora zu beschrei-
ben. Dies stellte das Gegenteil von dem dar, was sich die Schweizer Juden wünschten, obwohl
ihnen der Satz sympathisch klingen mochte, dass «Israel zwar als eine bäuerliche Eidgenossen-
schaft sein geschichtliches Dasein begann, aber (ähnlich etwa der Schweiz) inmitten einer Umwelt
mit längst entwickelter Schriftkultur>> (Weber, S. 3).
63 Sehr repräsentativ für die Stimmung nach Ausbruch des Krieges ist ein längerer Aufsatz in:
Jüdische Presszentrale v. 8. 12. 1939.
64 Die gutbürgerliche Selbstverständlichkeit, den Juden und den «ostjüdisch>> karikierten Zionismus
zu charakterisieren, zeigen die Zeichnungen der humoristischen Zeitschrift Nebelspalter. Die
Karikatur war auch eine Waffe der frontistischen Presse. Die Zionistenkongresse waren äusserer
Anlass, diese Motive bildlich umzusetzen.
65 SIG: CC 23. 6. 1936 (WJC) und CC 23. 6. 1937 (ZO-Kongress).
66 Zitierte Stelle in Weil, Aus ernster Zeit, S. 23 u. 42f.
67 Im deutschen Entscheidungsjahr 1932/33 wurde der Antisemitismus in der Schweiz als
«unschweizerisch>> verurteilt, so von Bundesrat Motta am 11. September 1932 zur Luzerner
Jahrhundertfeier. Im Dezember 1933 folgte in einer Resolution anlässlich der Jahrestagung der
NHG die Stellungnahme gegen die Rassen- und Religionshetze. Gleichzeitig erfolgten die Aufrufe
der protestantischen Kirchen der Westschweiz und des zürcherischen Kirchenrates.
68 AFS: 2001 (D) 2, Nr. 101, EJPD (von Steiger), Abhörprotokoll des Polizeikorps des Kantons
Zürich z. H. Bundesanwaltschaft v. 12. 3. 1942.
69 SIG: Dossier Abwehr, Ordnungsschutz, Schreiben Bundesrat 12. 11. 1935.
70 Guggenheim, Abwehr, in: SIG-Festschrift, S. 65.
71 SIG: CC v. 23. Juni 1937 bedauert beispielsweise angesichts des bevorstehenden Zionisten-
kongresses, keine gesetzlichen Mittel zum Schutz gegen antisemitische Hetzen anrufen zu können.
72 Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichtes, Amtliche Sammlung, Lausanne 1932/36,
Bd. 62/1, S. 218ff., betr. Beschluss des Genfer Staatsrates v. 3. 4. 1935; Bd. 58/1, betr. Urteil von
St. Gallen gegen die Nationale Front v. 30. September 1932.
476 ANMERKUNGEN

73 SIG: Dossier «Volksbund>> Dezember 1934/Februar 1935; Eingabe des SIG und der Israelitischen
Gemeinde Basel an den Regierungsrat von Basel-Stadt v. 27. November 1934; Verbot gegen die
Zeitung << Volksbund>> und Begründung vom 7. 12. 1934. Vgl. Rüthemann, Volksbund und SGAD,
1979, und Guggenheim, Abwehr, in: SIG-Festschrift, 1954, S. 64.
74 Siehe Michael Kohn, <<Braucht die Schweiz ein Antirassismus-Gesetz?>>, in: Gaby Rosenstein
(Hg.), Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, Konstanz 1991, S. 55-73.
75 ICZ: Dossiers Abwehr Lokalkomite Zürich, Bezirksgericht 1934.
76 Georges Brunschvig, Die Kollektiv-Ehrverletzung, Zürich 1937, und Georg Guggenheim, Ab-
wehr, in: SIG-Festschrift, S. 76, dokumentieren das Bemühen um ein kollektiv und aktiv legiti-
miertes Klagerecht gegen rassistisch und konfessionell motivierte Strafrechtstatbestände. In den
ständerätlichen Beratungen von 1949 zur Strafrechtsrevision befürwortete Bundesrat von Steiger
diese bereits 1934 verlangte Pönalisierung; der Vorschlag fand aber bereits in der Kommission
keine Gnade.
77 Bundesblatt, 88. Jg., Nr. 50, vom 9. Dezember 1936.
78 Israelitisches Wochenblatt v. 3. und 9. März 1934. Häberlin in den Augen Farbsteins siehe SIG-
Festschrift, S. 216.
79 AFS: E 1070/1, Nr. 3489, Bundesbeschluss über den Schutz der öffentlichen Ordnung und
Sicherheit v. 7. 12. 1936. Bundesblatt, 88/50, mit der Botschaft, die ausdrücklich die Kommuni-
sten und die «Rote Hilfe>> nennt.
80 SIG: Abwehr, Dossier <<Demokratie-Schutz>>, Eingabe v. 6. April1937.
81 AFS: E 1070/1, Nr. 3489, Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, S. 28, Protokoll27. bis
29. 4. 1937, Einzelberatungen zum Art. 9.
82 SIG: CCvom 31. 1.1938 (zitierte Stellen) sowieDV vom 6. 3. 1938. Solche Mittel, fürden ein Fonds
vorgesehen wurde, sind nicht zum Einsatz gelangt, weil die Fronteninitiative zur <<Judenfrage>> nicht
zustande kam; im weiteren siehe auch den Abschnitt über das Bündnisproblem des SIG.
83 Urs Paul Engeler, Grosser Bruder Schweiz, Geschichte der politischen Polizei, Zürich 1990, S. 68
bis 124. Am Rande sei darauf verwiesen, dass der Bundesrat am 12. Janur 1951 eine geheimgehal'
tene <<Verordnung über die Wahrung der Sicherheit des Landes>> erliess, was in der Spätfolge zu
einer skandalös empfundenen Bürgerbespitzelung in grossem Stil führte, die erstmals in den
Berichten der Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) von 1989/90 zur öffentlichen
Debatte gebracht worden ist.
84 Bericht des Bundesrates (Motion Boerlin), 1945, Erster Teil, S. 25.
85 National-Zeitung v. 12./13. November 1938.
86 Bericht des Bundesrates (Motion Boerlin), 1945, S. 19-28. Stenografische Bulletins, Nationalrat,
zur Novembersession 1938. Guggenheim, in: SIG-Festschrift, S. 74, und Israelitisches Wochen-
blatt der Monate November und Dezember 1938. Die Demokratieschutz-Verordnung wurde durch
einen Bundesratsbeschluss v. 7. März 1947 (Abbau von Bestimmungen zum Schutz der verfassungs-
mässigen Ordnung) wieder ausser Kraft gesetzt.
87 SIG: 3. Protokollbuch, CC v. 3. 4. 1922; CC v. 26. 3. u. 5. 4. 1933; Präsidialbericht v. 18. 3. 1933,
und weitere.
88 1946 wurde die Christliche-jüdische Arbeitsgemeinschaft gegen den Antisemitismus gegründet,
die noch stark von apologetischen Bedürfnissen geprägt war; der anfängliche Beisatz <<gegen den
Antisemitismus>> wurde im Namen der CJA bald weggelassen. Zu dieser christlich-jüdischen
Zusammenarbeit auf Vereinsebene siehe die ersten Hefte von Judaica, 1-4, 1945; aufschlussreich
auch Karl Thieme, Kirche und Synagoge, Olten 1945, und Thieme (Hg.), Judenfeindschaft,
Darstellung und Analyse, Frankfurt a. M. 1963, diebeideselbst ein publizistisches Produkt dieser
Entwicklung darstellen. Siehe auch Rolf Vogel (Hg.), Ernst Ludwig Ehrlich und der christlich-
jüdische Dialog, Frankfurt a. M. 1984. In den späten achtziger Jahren haben die christlichen
Kirchen und der SIG offiziell gemischte Kommissionen mit informellen Aufgaben eingerichtet.
89 Erwin Marti, Carl Albert Loosli und der Antisemitismus, unter besonderer Berücksichtigung der
Rolle im Berner Prozess um die <<Protokolle der Weisen von Zion>>, Lizentiatsarbeit (Manuskript)
Universität Bern 1980.
KAPITEL 2 477

90 Zitierte Stelle aus dem Vorwort von Guglielmo Ferrero zu Alexandre Herenger, Le Mythe raciste,
Genf 1933, S. 4 (Separatdruck des in der Revue Juive 11/0ktober 1933 erschienenen Beitrages).
91 Jüdische Presszentrale v. 19. 2. 1932 (Heinrich Mann) und 19. 3. 1937 (Thomas Mann) sowie div.
Ausgaben der Jahre 1932-1934.
92 Schweizerische Vereinigung für den Völkerbund, Stellungnahme gegen Rassenverfolgung, Öf-
fentliche Kundgebung veranstaltet von der Bezirksvereinigung Zürich, Zürich o. J. (1935). Siehe
auch Berichte in: Jüdische Presszentrale v. 15. u. 22. 11. 1935.
93 Medicus-Brief und Bericht über die ETH-Veranstaltung in: Jüdische Presszentrale v. 18. 10. u.
5. 12. 1935.
94 Siehe Kamis, Antisemitismus, 1990, S. 252, der für 1900--1930 vor allem freisinnige und soziali-
stische Politiker auflistet.
95 SIG: CC und DV vom 23. 6. 1937 sowie CC 23. 6. 1937.
96 National-Zeitung, Basel 17. November 1938, unter dem Titel <<Gibt es eine Judenfrage in der
Schweiz?»
97 Vgl. Ladislaw Mysyrowicz, Le Dr. Rothmund et le problerne juif, in: Schweiz. Zeitschrift für
Geschichte, 32/1982, S. 348ff. -Antisemitische Verzerrung von Statistiken durch die Fronten
siehe oben im Kapitel über die Fronten.
98 Jüdische Presszentrale v. 15. 4. 1932.
99 ETH: Protokoll Kolloquium mit Veit Wyler v. 11. Juli 1990 bestätigt das Zusammengehen von
jüdischer und sozialdemokratischer Abwehr. Zu Bircher und Baumann siehe den Artikel von
Arthur Schmid im Freien Aargauer v. 22. 5. 1933 und die Abwehr-Einsendungen eines «Zürcher
Akademikers aus alter jüdischer Schweizerfamilie>> in der Zürichsee-Zeitung v. 22. 5. 1933.
100 Inserattexte und Erklärungen zu den Zürcher Wahlen in den Stadtrat 1931, Kantonsrat 1932 und
Regierungsrat 1935 in: Jüdische Presszentrale v. 13. 3. 1931, 15. 4. 1932 und 5. 5. 1935. Belege für
die Jahre 1918-1929 siehe Kamis, Antisemitismus, 1990, S. 99 und 252-262.
101 Freisinnige Partei des Kantons Zürich, Freisinn und Fronten, 1933; dazu Jüdische Presszentrale v.
23. 6. 1933.
102 Siehe Erich Gruner, Die schweizerische Bundesversammlung 1848-1920, Bern 1966, Biogra-
phien, S. 166.
103 Farbstein, Aus meinem Leben, in: SIG-Festschrift, S.197-224. Roger Joseph, L'Union nationale,
1975, S. 11, zu Farbstein und Dicker. SIG: DV v. 23./24. Mai 1990, Separatdruck der Botschaften
und Reden, mit Max Gurnys Replik auf die Laudatio anlässlich seiner Eintragung ins Goldene
Buch des SIG, S. 24.- Gitermann war der am meisten assimilierte Jude und bekannter Verfasser
einer Geschichte Russlands. Erst mit dem freisinnigen Berner Fran<;ois Loeb ist in den späten
achtziger Jahren wieder ein Jude in den Nationalrat eingezogen.
104 Verbürgt von J. R. von Salis, Notizen eines Müssiggängers, Zürich/Wiesbaden 1983, S. 188.- Zu
Rosenbaum siehe Peter Kamber, Geschichte zweier Leben - Wladimir Rosenbaum und Aline
Valangin, Zürich 1990. Ergänzend dazu das zeitgenössische Porträt in Jüdische Presszentrale v.
24. 12. 1931.
105 Siehe Wylers Worte in Benjamin Sagalowitz, Gedenkschrift mit den Grabreden, Separatum, hg. v.
Jules Passweg, Zürich 1972, S. 17-23.
106 Vgl. die Charakterisierung Farbsteins in: Porträt Bilder Zürcherischer Parlamentarier, Separatum
(Schweizer Wochen-Zeitung), 1917.
107 SIG: Präsidialreport v. 18. 8. 1933 und diverse CC-Protokolle 1933-1937.
108 «Darf man Bolschewismus und Judentum identifizieren?», in: Jüdische Presszentrale v. 11. 3. 1938.
109 Vgl. den Abschnitt über die Demokratieschutz-Verordnung. SIG: Eingabe an die Vorberatende
Kommission des National- und Ständerates v. 6. 4. 1937; dazu AFS: E 1070/1, Nr. 3489, Bundes-
beschluss über den Schutz der öffentl. Ordnung und Sicherheit v. 7. 12. 1936. Zu einzelnen
jüdischen Marxisten siehe Werner Mittenzwei, Exil in der Schweiz, Leipzig 1978, wobei eine
befriedigende Darstellung bisher fehlt.
110 SIG: CC v. 5. 4. 1933, auf Veranlassung durch Prof. Gordonoff.
111 Angaben siehe Guggenheim, in: SIG-Festschrift, S. 78ff.
478 ANMERKUNGEN

112 Georg Kreis, Zensur und Selbstzensur, Die Schweizerische Pressepolitik im 2. Weltkrieg, Frank-
furt 1973.
113 AFS: E 4450, Nr. 1426, vorn 4. 12. 1939. Guggenheirns Darstellung siehe in der SIG-Festschrift,
1954, S. 83ff.
114 Raya Adler, Soknut Hajedjot «Juna>>, Ma'avak WeChadaschot (hebr. Kampf und Nachrichten-
wesen bei der jüdischen Agentur «Juna>>), in: Qesher Nr. 3, Mai 1988, S. 57-68.
115 JUNA-Bulletins und daraus übernommene Pressemitteilungen sind greifbar in SIG: <<Juna-
Bulletins>>, und ebenso in YV: P 13/75-90.
116 AFS: E 4450, Nr. 1426, «Juna>>, Korrespondenz 26. 10.-4. 11. 1942 betr. Bulletin 12/42 <<Pourquoi
s'enfuient-ils>>; betr. ungarische Juden Korrespondenz v. 28. 6.-5. 7. 1944 wegen eines Artikels
aus dem Volksrecht und dem Daily Telegraph. SIG: CC v. 2. 11. 1941, Traktandum <<Juna>>,
Diskussion um den erstmaligen ZensurfalL
117 SIG: JUNA-Bulletins, 4/1940, März 1940, S. 3.
118 Persönliche Sagalowitz-Nachlässe im YV: Yad Vashern, Jerusalern, mit dem grösseren Teil der
Abwehrtätigkeit und den Berichterstattungen über das Nürnberger Tribunal, und ETH: Institut für
Zeitgeschichte, mit den unveröffentlichten Manuskripten einer Darstellung der nazistischen Ver-
folgungen. Die lUNA-Bestände befinden sich im SIG-Archiv, mit den Dokumentationen über
antisemitische Pressen und frontistische Organisationen. Der Nachlassbestand wurde in den
fünfziger Jahren auseinandergerissen, was eine einvernehmliche Regelung zwischen SIG-Präsi-
dent und JUNA-Leiter verunmöglicht hat.
119 JDC: # 994, JUNA-Eingabe v. 15. 5. 1941; und ETH: Sagalowitz, Nr. 17 (handschriftlicher
Entwurf).
120 JDC: # 994, Telefonnotiz Mayer-Braunschweig v. 21. 5. 1941. SIG: CC vorn 31. 8. u. 2. 11. 1941.
121 Siehe Waller Laqueur u. Richard Breitrnan, Der Mann, der das Schweigen brach, Wie die Welt
vorn Holocaust erfuhr, Frankfurt a. M. 1986.
122 Israelitisches Wochenblatt v. 3. 1. 1941 (Sonderausgabe zum 40. Jubiläum) und v. 6. 6. 1941
(jüdische Zeitungen in New York). Streichers Aussage in: Internationaler Militärgerichtshof, Das
Urteil von Nürnberg, München 1946, S. 144-145. Persönliche Würdigung von Erich Marx durch
Samuel Scheps in: Israelisches Wochenblatt v. 1. 4. 1988.
123 Sonja Weber, Schweizer Presse und Judenfrage, 1938, S. 114ff. (siehe oben zum Prozess Frank-
furter).
124 La RevueJuive, Vol. 1-100, Genf: Edition Synthesis, 1932-1948. Vgl.JosueJehouda, l'hornrneet
l'reuvre, ed. amis de Ia Revue Juive, preface de Jean Casson, Paris: Editions du centre, 1949.
Robert Josef Cohen, Morale individualiste ou rnorale sociale: Henri Bergson ou Josue Jehouda,
Paris 1950.
125 Peter Stahlberger, Der Zürcher VerlegerErnil Oprecht, Zürich 1970; ergänzend das Porträt Ernmie
Oprechts von Maja Wicki in: Das Magazin v. Januar 1989.
126 David Farbstein, Die Stellung der Juden zur Rassen- und Frerndenfrage, Zürich 1939; verkürzt
abgedruckt in Israelitisches Wochenblatt v. 25. 11. 1938 und 20. 10. 1939. Der SIG übernahm hier
eine Abnahmegarantie als Ausstattung der jüdischen Gerneinden und der SIG-Lokalkornites mit
einem geistigen <<Rüstzeug>>.
127 David Farbstein, Waller Hoch's <<Kompass durch die Judenfrage>>, Eine Widerlegung, Zürich
1946; und ders., Die Stellung des Judenturns zum Proselytenwesen, Zürich 1950.
128 Fritz Fleiner, Le droit des rninorites en Suisse, Melange Hariou, Paris 1929, S. 287ff., hatte in
erster Linie das einer Minderheit angehörende Individuum, nicht aber ein autonomes Minderheiten-
kollektiv im Sinn.
129 Paul Guggenheim, Zum Abwehrkarnpf, in: Jüdische Presszentrale v. 14. 1. 1938. Georg Guggen-
heim, Abwehr und Aufklärung, in: SIG-Festschrift, S. 57--84; in der gleichen Schrift auch ein
Beitrag von Paul Guggenheim über die erblosen Vermögen und das Völkerrecht.
130 Paul Guggenheim, Der Völkerbund in seiner politischen und rechtlichen Wirklichkeit, Leipzig
1932, S. 269. Darstellung bei Chairn Guterrnann, Das Minderheitenschutzverfahren des Völker-
bundes, 1979.
KAPITEl2 479

131 Jacques Fouques Duparc, La Protection des Minorites de Race, de Langue et de Religion, Paris
1922; C. G. Bruns, Grundlagen und Entwicklung des internationalen Minderheitenrechts, Berlin-
Steglitz 1929; Hugo Wintgens, Der völkerrechtliche Schutz der nationalen, sprachlichen und
religiösen Minderheiten, Stuttgart 1930 (Handbuch des Völkerrechts).
132 Das Minoritätenproblem und seine Literatur (Bibliographie Robinson), in: Beiträge zum ausländi-
schen öffentlichen Recht und Völkerrecht, Bd. 6, Berlin 1928.
133 Nathan Feinberg, La questiondes minorites aIa Conference de Ia Paix 1919/20 et l'actionjuive en
faveur de Ia protection internationale des minorites, Paris 1929. Elie Cohen, La Question juive
devant Je Droit International Public, Paris 1922.
134 Andre Mandelstam, La protection internationale des minorites, Rapports aIa XIXeme Commission
de L'Institut de droit international, Paris 1925, insbes. S. 5-11 und 81-90 (Vorprojekt Personale
Autonomie). Ders., Protection internationale des minorites, Rapports de Ia session de Cambridge,
Bruxelles 1931.
135 Siehe die aus dem Jiddischen und Russischen übertragenen gesammelten Aufsätze zu diesem
Thema bei Sirnon Dubnow, Nationalism and History, Essays on old and new Judaism, ed. Koppel
S. Pinson, Philadelphia 1958. Dazu Aaron Steinberg, Die weltanschaulichen Voraussetzungen der
jüdischen Geschichtsschreibung, in: Festschrift zu Sirnon Dubnows 70. Geburtstag, hg. v.
A. Steinberg, Berlin 1930.
136 Lothar Gruchmann, Nationalsozialistische Grossraumordnung: Die Konstruktion einer deutschen
<<Monroe-Doktrin>>, Stuttgart 1962, insbesondere S. 141 zum Grossraumbegriff, der durch Carl
Schmitt eingeführt wurde. Dan Diner, Rassistisches Völkerrecht, Elemente einer national-
sozialistischen Weltordnung, in: VjZf. Zeitgeschichte, 37. Jg., 1989, S. 23-56.
137 Siehe Congress Weekly v. 28. November 1941.
138 Allgemeine Orientierung bei Francesco Capotorti, Artikel <<Minorities», in: Encyclopädia of
Public International Law, hg. v. Max-Planck-lnstitut, 1985.
139 Nahum Goldmann, Staatsmann ohne Staat, Köln/Berlin 1970, S. 177-187. Paul Guggenheim,
Minderheitenschutz oder Menschenrechte?, in: Israelitisches Wochenblatt v. 24. 7.-4. 9. 1942;
Separatdruck dieser Folge Zürich 1942. ETH: Kolloquium mit Veit Wyler v. 11. 7. 1990. Inter-
view des Autors mit Gerhart Riegner.
140 Guggenheim, Beiträge zur völkerrechtlichen Lehre vom Staatenwechsel (Staatensukzession),
Versuch theoretischer Grundlegung unter Hinzuziehungneuerer Staatenpraxis, Berlin 1925; und
die Genfer Habilitationsschrift: L'imposition des successions en droit international et Je problerne
de Ia double imposition, Genf 1928.
141 Siehe die einschlägigen Stellen in den Memoiren von Weizmann und Goldmann. Zu Rappard,
Schweiz und Völkerbund vgl. die Beiträge von Daniel Bourgeois und Silvia Kiss in: Studien und
Quellen, Zeitschrift des Schweizerischen Bundesarchives, Bd. 15, Bem 1989.
142 Bei den in diesem Abschnitt zitierten Literaturangaben zu Guggenheim handelt es sich um
publizierte Vorträge, die im Rahmen der Schweizerischen Völkerbundsvereinigung gehalten
wurden, oder als Artikel in der Friedenswarte erschienen sind.
143 Paul Guggenheim, Der Minderheitenschutz der Zukunft, in: Friedenswarte Nr. 4, 44. Jg., Zürich
1944, S. 207. Vgl. auch Guggenheims Artikel <<Minderheitenschutz oder Menschenrechte», in:
Israelitisches Wochenblatt v. 24. 7.-4. 9. 1942, als Separatdruck Zürich 1942.
144 Guggenheim, Völkerbund, Dumbarton Oaks und die schweizerische Neutralität, Zürich/New
York 1945.
145 Die von Ernst Fraenkel 1942 geprägte Formel des <<Doppelstaates» meint bekanntlich jene Mi-
schung aus totalitären Grundlagen und rechtsstaatliehen Elementen, mit denen der Nazismus den
Schein der Kontinuität wahrte, um den Einbruch der Unrechtsordnung zu verschleiern. Vgl.
Diemut Majer, Grundlagen des nationalsozialistischen Rechtssystems, Führerprinzip, Sonder-
recht, Einheitspartei, Stuttgart 1987.
146 Artur Wolffers, Probleme eines internationalen Schutzes von Menschen und Bürgerrechten, Genf
1945 (xerographiertes Heft 2 der Studiengruppe für Jüdische Fragen, mit einem kurzen Vorwort
von Paul Guggenheim).
480 ANMERKUNGEN

147 Zaccaria Giacometti, Die Verfassungsgerichtsbarkeit des Schweizerischen Bundesgerichtes, Zü-


rich 1933. Myron Luehrs Tripp, Der schweizerische und amerikanische Bundesstaat, Zürich 1942,
S. 36-40.

Kapite/3

1 Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik, Serie D, Bd. V., Baden-Baden 1953 (Imprimerie
nationale), S. 641ff.; SchweizerischerBeobachter V. 1. April sowie 30. April1954; SIG: DVv. 27.
Mai 1954 (Resolution).
2 Carl Ludwig, Die Flüchtlingspolitik der Schweiz in den Jahren 1933 bis zur Gegenwart, Bern
1957, S. 85-150. Im weiteren Daniel Bourgeois, <<La porte se ferme, Ia Suisse et le problerne de
l'immigration juive», in: Relations internationales, 54, Genf 1988, S. 181-204.
3 Als Serie zur Flüchtlingspolitik in: Das Volk, Olten 7.-14. 11. 1957.
4 Ludwig, Bericht, 1957, S. 372 (Schlusswort).
5 Schweizerisches Wirtschaftsarchiv: Biografische Sammlung (Carl Ludwig). Ludwigs Pressevor-
trag wiedergegeben in Basler Nachrichten, Sonntagsblatt, v. 5. 1. 1941. Über Ludwig als
Untersuchungsrichter siehe Kamis, Antisemitismus, 1990, S. 77ff.
6 Siehe das Porträt von Hermann Böschenstein, <<Eduard von Steiger>>, in: Bund, Nr. 150 v.
1. 7. 1981.- Gernäss Auskunft von Herrn Christof von Steiger, Bibliothekar der Burgerbibliothek
Bem, verfasste der Journalist Hermann Wahlen eine unveröffentlicht gebliebene Biographie von
Steigers, die als publizistische Lobeshymne mehr Angriffsfläche als historische Orientierung
geboten hätte und daher von der Familie abgelehnt worden sei.
7 AFS: E 4001 D, 1973/125, Nr. 119; und 4800 A, 1967/11, Nr. 207; das Telegramm nach Wien ist
auch erwähnt in AFS: 4260 C, 1969/146, Nr. 6., Protokoll der a. o. Konferenz der kantonalen
Polizeidirektoren v. 17. 8. 1938, S. 4. Mayers Abschiedsschreiben an Piletin AFS: 2001 D 3,
Nr. 272.
8 Schweizerischer Beobachter v. 15. Juli 1954, S. 776.
9 AFS: E 4001 D, 1973/125, Nr. 119, Stellungnahme von Nationalrat Dr. Hans Oprecht zum Bericht
Prof. Carl Ludwigs.- Schweizerischer Beobachter v. 15. September 1957.
10 JDC: # 923, Memorandum Jordan-Beekelmann v. 18. Juni 1954. AFS: E 4001 D 1973/125,
Nr. 119 (<<Rachegeist»). Aussprache Rothmund-Brunschvig v. 28. 9. 1944, abgedruckt bei Picard,
<<Schweiz und Judenfrage», in: Wiehn, Judenfeindschaft, 1989, S. 152-156; die interne Repräsen-
tationen beider Protokolle vermitteln das Gefühl, es handle sich nicht um die Aufzeichnung
desselben Gespräches.
11 Stenografische Bulletins, Nationalrat, 8. und 16. Juni 1954.
12 NAW: RG 242, T 120 2426, Aufzeichnung Deutsche Gesandtschaft Bern v. 23. 3. 1943.- AFS:
4800 A 1, Nr. 6., dort das Wort von der <<jüdischen Hast» in einem Briefvon Steigers v. 10. 2. 1943
an Rothmund, der sich im Januar/Fenruar 1943 von den Strapazen vergangener Monate erholen
musste (Krankheitsbild: Nervenschmerzen, Rheuma, Artritis, Schlaflosigkeit). Von Steiger emp-
fahl Ruhe und planmässige Wiederherstellung: <<Machen Sie sich also keine Gedanken, sammeln
Sie Ihre Kräfte, damit Sie mit stählernen Nerven und ruhig überlegenem Tempo -ohne jüdische
Hast- nach Ihrer Rückkehr nach Bern wieder aufnehmen können».
13 Stenografische Bulletins, Nationalrat, v. 22. September 1942, Voten von Oeri, Maag und Schmid.
Kommentare in den Basler Nachrichten v. 26. 8. 1942 und der National-Zeitung v. 27. 8. 1942.
Der Ludwig-Bericht, S. 220, erwähnt dies nur in einer knappen Andeutung.
14 In den Magistratsakten von Steiger(AFS: E4001 C 1) stehen die Aktenzeichen Nm. 20 bis33 aus;
gernäss der Kartei, deren Kärtchen dem Departement intern zur Auffindung der Akten dienten,
handelte es sich um die Korrespondenzen mit SIG, Saly Mayer, VSJF-Präsident Sylvain Guggenheim
und anderen jüdischen Stellen. Vereinzelte Quellenstücke aus diesem Zusammenhang befinden
sich in den Akten zur <<Angelegenheit Beobachter» und Beilagen für den Ludwig-Bericht, die in
KAPITEL 3 481

die Magistratur Feldmann (E 4001 D, 1973/125, Nm. 118/119) zurückgelegt wurden. In seiner
Stellungsnahme zum Ludwig-Bericht ·beruft sich von Steiger darauf, nie Informationen von
Gerhart Riegner (WJC) oder Benjamin Sagalowitz (JUNA des SIG) erhalten zu haben.
15 Stenografische Bulletins, Nationalrat, v. 22. 9. 1942. Im weiteren siehe die Bemerkungen bei
Häsler, Das Boot ist voll, diverse Stellen.
16 Alfred A. Häsler, Das Boot ist voll, Die Schweiz und die Flüchtlinge 1933-45, Zürich 1967;
Vorabdruck erschienen in der Tat, April1967.
17 Edgar Bonjour, Geschichte der schweizerischen Neutralität, Basel1970, Bd. IV, S. 274.
18 JDC: # 923, Heim an Jordan v. 26. 6. 1954; und Memorandum v. 18. 6. 1954.
19 SIG: JUNA, Dokumentation Sagalowitz zuhanden Prof. Ludwigs, 1955, Bd. 4/1, S. 52, Abschrift
Vortrag Paul Guggenheim, <<Aktuelle Probleme des Judentums in der Schweiz>>, gehalten vor der
Zionistischen Ortsgruppe Zürich am 31. Oktober 1942.
20 Schweizerische Zentralstelle für Flüchtlingshilfe (Hg.), Hilfe für Flüchtlinge und Militärinternierte
in der Schweiz, Zürich 1944, Pt. 3.
21 Uwe Dietrich Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, Düsseldorf 1972; Kar! A. Schleunes, The
Twisted Road to Auschwitz, Nazi Policy toward German Jews 1933-1939, Urbana 1970.
22 Zum Aufstieg von SD und RSHA in diesen Jahren und im Zusammenhang mit der deutschen
Judenpolitik siehe die Beiträge von Buchheim und Krausnick bei Hans Buchheim u. a. (Hg.),
Anatomie des SS-Staates, München 1967, Bd. 1, S. 215ff., und Bd. 2, S. 235ff.; ebenso Heinz
Höhne, Der Orden unter dem Totenkopf, Die Geschichte der SS, Frankfurt/Harnburg 1969, Bd. 2,
s. 343-367.
23 Paul Guggenheim, Traite de droit international public, 2 Bde, Genf 1953/54, und Dietrich Schindler,
Die Gleichberechtigung von Individuen als Problem des Völkerrechtes, Zürich 1957, v. a. S. 71f.,
als allgemeine Orientierungen zum Konflikt von Landes- und Völkerrecht; zu Begriff und Bedeu-
tung der Reziprozität siehe eingehend Waller A. Stoffel, Die völkervertraglichen Gleichbehandlungs-
verpflichtungen der Schweiz gegenüber den Ausländern, Eine Untersuchung über die Bedeutung
der Gleichbehandlungsklauseln in den Niederlassungsverträgen, Zürich 1987, S. 175-186.
24 Die Unterscheidung zwischen formeller und materieller Reziprozität, die Hand zur einseitigen
Aushöhlung der Gleichbehandlung von Bürgern bot, ist in der UN-Völkerrechtspraxis seit den
70er Jahren aufgegeben worden; siehe die Berichte in Endre Ustor, Rapports a Ia Commission du
droit international sur Ia cause de Ia nation Ia plus favorisee, ACDI 1969-1976, diverse Folgen.
25 Ludwig, Bericht, 1957, S. 116-121, Bericht der schweizerischen Gesandtschaft v. 9. 9. (Kappeler)
und des Polizeichefs v. 15. 9. 1938.
26 Egon Wolffund Frieda Wolff, Cronicas do nosso arquivo, Rio de Janeiro 1987, S. 91 u. 217-226,
bieten und interpretieren die genauen Zahlen im Zusammenhang mit dem J-Stempel und der
brasilianischen Diplomatie. Maria-Luiza Tucci Carneiro, 0 antisemitismo na era Vargas: fantasmas
de uma geracao, 1930-1945, Sao Paulo 1988, beschreibt die brasilianische Spielart des
Antisemitismus. Mit dem Roman von Alfredo Gartemberg, 0 «J>> Vermelho, Rio de Janeiro 1976,
ist die eidgenössische Leistung in Brasilien gar zu literarischer Berühmtheit gelangt.
27 Stenografische Bulletins, Nationalrat, v. 7.12. 1938 (Beantwortung Interpellation Trümpy, Glarus,
durch Baumann); Geschäftsbericht des Bundesrates für das Jahr 1938, S. 148 (zu Justiz und
Polizeidepartement, Fremdenpolizei). Allein die Behandlung des Themas durch das und unter dem
Justiz-und Polizeidepartement, statt durch das Politische Departement, gibt der Kompetenzzu-
schiebung im· nachhinein den Charakter einer Vortäuschung.
28 Für die hier angeführten Gesetze und Verordnungen siehe Bruno Blau, Das Ausnahmerecht für die
Juden in Deutschland 1933-1945, Düsseldorf 1954, S. 41-50; entsprechend die Textmaterialien
und ihre Bedeutung bei Joseph Walk (Hg.), Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat, Eine
Sammlung der gesetzlichen Massnahmen und Richtlinien, Karlsruhe 1981.
29 Siehe Schleunes, Twisted Road, S. 220, und zum gesamten Vorgang vgl. die Darstellung bei
Helmut Genschel, Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft im Dritten Reich, Göttingen
1966.
482 ANMERKUNGEN

30 AFS: E 2001 D 1, Nm. 75-76, Angelegenheit Lewinsky 8. 1.-25. 11. 1938; Dinichert-Frölicher v.
3. 2. 38; Fragebögen der deutschen Polizeibehörden. Erklärungen der Nazigrössen in Adam,
Judenpolitik, S. 26f.
31 AFS: E 2001 D 3, Nr. 163, Jaeger an Motta v. 27. 4. 1938. - National-Zeitung v. 8. 12. 1937
(«Göring greift durch>>) und St. Galler Tagblatt v. 28. 12. 1937 und 19. 1. 1938 berichteten über
<<Göring als Diktator» in Wirtschaftsfragen. Längere Artikel über die «Ausschaltung der Juden aus
der deutschen Wirtschaft» brachten die Neue Zürcher Zeitung v. 27. 1. 1938, das Bemer Tagblatt
v. 30. 3. 1938 und die Neue Bemer Zeitung v. 5. 4. 1938. Die Anpreisung der wirtschaftlichen
Verfemung z. B. im Völkischen Beobachter v. 26. 4. 1938. Glossierung deutscher Vorschläge in
Bemer Tagwacht v. 20. 7. 1938.
32 AFS: E 2001 D 2, Nr. 100, Exposes zuhanden Bundesrat Motta v. 3. 5. und 14. 9. 1938 betr.
Umfrage bei den &chweizerischen Gesandtschaften. Das früheste Schreiben (5. April 1933) des
EPD an die Gesandtschaft in Berlin zu dieser Angelegenheit bei Guggenheim, Repertoire suisse de
droit international public, Nr. 4, 138.- Wiederholte Vorstellungen der amerikanischen Botschaft
in Berlin und Antworten des deutschen Aussenministeriums bei G. H. Hackworth, Digest of
International Law, Washington 1940/43, Bd. 3., S. 642-45. Französische Haltung in Alexandre-
Charles Kiss, Repertoire de Ja pratique fran<;aise en matiere de droit international public, Paris
1962/66, Bd. IV, Nr. 257.
33 AFS: E 2001 D 3, Nr. 163, Schweizer Konsulat Stuttgart an Gesandtschaft in Berlin v. 11. 7.1938.
Allgemeine Einschätzungen bei Hermann Gram!, Die Behandlung von Juden fremder Staatsange-
hörigkeit in Deutschland, in: Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, München 1958, Bd. 1,
S. 85-87; und Trude Maurer, Ausländische Juden in Deutschland 1933-1939, in: Die Juden im
nationalsozialistischen Deutschland 1933-43, hg. v. Arnold Paucker, Tübingen 1986, S. 189-210.
34 AFS: E 2001 D 1, Nr. 100, Bonna-Frölicher v. 1. 10. 1938; Nm. 75 u. 76, Frölicher-Bonna v. 11.
u. 21. 11. 1938, und Durchschlag Bericht des Generalkonsulates in München für das Jahr 1938,
S. 40-44; E 2001 D 3, Nr. 163, diverse Korrespondenz zum Reichspogrom vom November 1938.
35 AFS: E 2001 D 2, Nr. 100, Expose an Motta v. 3. 5. 1938.
36 SJG: Dossier und Berichte <<Büro Stellenvermittlung»; CC-Protokoll v. 18. 12. 1938 zur gesamten
Lage; SIG, Bericht über die Israelitische Flüchtlingshilfe, Separatdruck, Basel 1938.- AFS: E-
2001 D 1, Nr. 73, Mayer an Auswärtige Abteilung v. 4. 10. 1938, und Nr. 75, Briefentwurf Motta
an Frölicher v. 16. 11. 1938. Zum bundesrätlichen Geschäftsbericht von 1933 siehe Jüdische
Presszentrale v. 15. Juni 1934 (<<Die Behandlung der Schweizer Juden in Deutschland»).
37 AFS: 4800 A, 1967/111, Nr. 207, Besprechung v. 12. 10. 1938. Israelitisches Wochenblatt v.
10. Oktober 1938.
38 Siehe die Quellenangaben im vorangehenden Abschnitt. Zahlen der ausländischen Juden im Reich
vgl. S. Adler-Rudel, Ostjuden in Deutschland 1880-1940, Tübingen 1959, S. 165, und Herbert A.
Strauss, Jewish Immigrants ofthe Nazi Period in the USA, New York 1987, S. 148.
39 Akten des Rechtsbureaus der Abteilung für Auswärtiges des EPD in AFS: E 2001 D 1, Nm. 75 bis
76, diverse Fälle.
40 Schweizerische Juristen-Zeitung, Nm. 6-11, 1944; dazu den Bericht von Gian Trepp in: Plädoyer,
Nr. 4, 1990, S. 13ff.
41 Zur Diplomatie siehe die Darstellung bei Edgar Bonjour, Geschichte der schweizerischen Neutra-
lität, 1970, Bd. IV, S. 245-296. - Frölichers Wort der <<Verjudung» auch gegenüber deutschen
Amtsstellen in NAW: RG 242 T 120, 3968, Notiz v. 10. 8. 1938.
42 AFS: 2001 D 3, Nr. 163, Bericht der schweizerischen Gesandtschaft in Berlin v. 3. Februar 1938
über die Arisierung der deutschen Wirtschaft.
43 AFS: 2001 D 1, Nm. 75-76, und 2001 D 2, Nm. 99-101, mit zahlreichen Einzelfällen, in denen
sich der erzwungene Nachweis der <<Firmenwahrheit>> und die weitgehenden wirtschaftlichen
Folgen der Dritten Verordnung und Durchführungsbestimmungen zum Reichsbürgergesetz v.
14. 7. 1938 spiegeln.
44 Bundesgerichtliche Entscheide, Lausanne 1936/1937, Urteile der staatsrechtlichen Abteilung v.
11. September 1936 i. S. Hartungcontra hessisches Landestheater; v. 17. September 1937 i. S. Ufa
KAPITEL 3 483

contra Thevag.
45 ZHSA: Obergericht des Kantons Zürich, 1. Kammer, Urteil v. 1. 3. 1939, in Bestätigung des
Urteils des Bezirksgerichtes, 6. Abteilung, 7. 12. 1938, i. S. M. Thorsch Söhne, kommisarisch
vertreten durch Wiener Giro- und Cassen-Verein, contra Alfons Thorsch, Zürich.
46 ZHSA: Obergericht des Kantons Zürich, 2. Kammer, Urteil v. 25. 9. 1942. Urteil ausführlich
wiedergegeben in: Schweizerische Juristen-Zeitung, 19. April 1943, und Law Journal, Nr. 4040,
London 19. 6. 1943. Siehe auch Neue Zürcher Zeitung v. 11. 10. 1942.
47 AFS: 2001 D 2, Nr. 100, Dinichert-Auswärtige Abtlg. v. 12. 6. 1942; mit beigefügten Urteils-
begründungen aus Schweden.
48 AFS: 2001 D 3, Nr. 172, <<Notiz für Herrn Kohli» v. 30. 7. 1942, betr. Tavannes Watch Co. und
Tavaro S. A.
49 AFS: 4260 C 1969/146, Nr. 6 u. 7, Protokolle Polizeidirektoren-Konferenz v. 17. 8. 1938 u. 19. 5.
1941; dort auch Schreiben Stampfli an von Steiger v. 16. 4. 1941.
50 Statistik in Brüschweiler, Beruf und Konfession, 1938, op. cit., S. 12-20. Chambre suisse de
l'horlogerie, Cinquante-neuvieme rapport du comite central, annes 1941/1942, La Chaux-de-
Fonds 1943, S. 4f.
51 MIH: D 56, 235 u. 1206 (Solvil und Paul Ditisheim). Siehe den Nekrolog zu Ditisheim von
Eugene Jaqet in: Journal Suisse d'Horlogerie 1-2, Januar/Februar 1945, S. 99-102, und 3-4,
März/Apri11945, S. 177-183, sowie eine Würdigung in: Horological Journal12, London Dezem-
ber 1945, S. 1-12. Ditisheim hat mehrere Preise zugesprochen erhalten und ist auch Chevalier der
französischen Akademie und Fellow der britischen Uhrenloge gewesen.
52 Christine Gegneben Diacon, Naissance et croissances de Ia Tavannes Watch Co., 1890-1918,
Lizentiatsarbeit (Manuskript) Universität Lausanne 1987, bietet einen Einblick in die Firmen-
geschichte im Rahmen der sozialen und wirtschaftlichen Konflikte während der Gründerzeit.
Grössenvergleich siehe David S. Landes, Revolution in Time, Clockes and the making of Modern
World, Cambridge/London 1983, S. 383. Diverse Familien- und Firmenchronologien im Privat-
archiv Familie Pierre Graber-Schwob (Renan). Zur endgültigen Liquidation der Marke Cyma
siehe den Epilog auf die Firma Synchron S. A. in: L'Impartial v. 16. 2. 1978.
53 Klaus Urner, <<Die Schweiz muss noch geschluckt werden>>: Hitlers Aktionspläne gegen die
Schweiz, Zürich 1990, S. 85-116.
54 MIH: 2982 (Waller Gilgen, Cyma Watch Co., 13. 11. 1962). Mündliche Mitteilung von Claude
Schwob, La Chaux-de-Fonds (Cyma Watch Co.) betr. Familienpolitik gegenüber der Mefina u.
Tavaro.
55 Zum Sowjetgeschäft siehe La Suisse liberale v. 1. u. 14./15. 2. 1936. Die Geschichte wurde durch
firmeninterne Indiskretion bekannt.
56 Im weiteren sämtliche Belege aus dem Privatarchiv der Familie Pierre Graber-Schwob, Renan, die
den relevanten Nachlass von Theodor Schwob enthält. Im folgenden zitierte Kopien und diverse
Fotografien daraus beim Verfasser.
57 Privatarchiv Graber-Schwob: Contra! Nr. 823 zwischen Frankreich und Tavannes Machines Co.
S. A. vom 14. 10. 1939; diverse Korrespondenzen und Telegramme Thielicke Co. Berlin und
Tavannes Machines v. März-Oktober 1942; interne Firmennotiz v. 15. 4. und 30. 9. 1942;
handschriftliche Aufzeichnung Theodor Schwobs, ohne Datum, über den Besuch der OKW-
Generale Rössel und Wrangel; Schreiben Firrna Hornberger & Co. i. A. der C. E. M. S. A. vom
18. 1. 1943.
58 NAW/ETH: T-177, roll 706, Abwehr v. 27. 2. 1941.
59 AFS: 2001 D 2, Nr. 102, und 2001 D 3, Nr. 173, Motta-Rais/Bium v. 14. 10.-30. 12. 1938 und
Rüegger-Motta v. 22. 12. 1938 u. 18. 3. 1940.
60 Farinaccis Presseattacken in: II Regima Fascista v. 12. 1. 1938 (Una internationale Ebraica nella
Nazione ltaliana) und betr. die Schweiz vom 13. 8. 1940 sowie 28. 11. 1940 (Neutralita compaciente).
Rassendekret in der Gazetta uffiziale v. 17. November 1938.
61 Zur faschistischen Judenpolitik in Italien siehe Meier Michaelis, Mussolini and the Jews: Gerrnan-
ltalian Relationsand the Jewish Question in Italy 1922-1945, Oxford 1978.
484 ANMERKUNGEN

62 AFS: 2001 D 3, Nr. 173, Korrespondenzen Rüegger-Auswärtige Abteilung 1938-1941, insbeson-


dere v. 22. 1. 38, 14. und 17. 9. 38; Rundschreiben an Konsulate v. 12. 10. 38 und Verbalnoten v.
25. 11. und 26. 12. 1938.- Das Manifest der italienischen Intellektuellen wurde breit wiedergege-
ben in Neue Zürcher Zeitungv. 18. 7. 1938. Zur Situation der Schweizer Juden in Italien nach dem
Ausweisungsaufschub vgl. die pessimistische Einschätzung im Israelitischen Wochenblatt vom
24. 3. 1939.
63 AFS: 2001 D 3, Nr. 173, und 3001 A 4, Nr. 16, zitiert Brief Motta an Etter v. 14. 12. 1938, mit
Etters Antwort v. 26. 2. 1939; siehe Feldscher an Rüegger v. 14. und 17. 9. 1938.
64 AFS: 2001 D 3, Nr. 173, Schweizer Konsulat Mailand an EPD v. 1.12. 1943; Rundschreiben EPD
an Konsulate in Italien v. 6. 12. 1943; Bericht Frölichers von seiner Eingabe am 9. 12. 43 in Berlin;
Bericht der Schweizer Gesandtschaft in Rom über die Geschäftsführung im Jahre 1943; 4800 A
1967/111, Nr. 272, Besprechung Rothmund und Schürch mit Saly Mayer und dem Fluchtzeugen
Valobra v. 6. 12. 1943.
65 VSJF: Brief der Italienischen Gesandtschaft in der Schweiz an den VSJF v. 1. 3. 1944 betr.
Aufhebung der Rassengesetze durch die Regierung Badoglio. Israelitisches Wochenblatt v.
3. 11. 1944 (Intervention Roms beim IKRK zugunsten der Deportierten). Gazetta uffiziale v.
16. 11. 1943.
66 Allgemein zu diesen Ländern: Maxim Steinberg, Extermination, sauvetage et resistance de Juifs
de Belgique, Brüssel 1979; Leni Yahil, The Rescue of Danish Jewry, Test of a Democracy,
Philadelphia 1969; Bernard Blumenkranz (Hg.), Histoire des Juifs en France, Paris 1972; Serge
Klarsfeld, Le Memorial de Ia deportationdes Juifs de France, Paris 1978; Michael R. Marrus u.
Robert 0. Paxton, The Nazisand the Jews in Occupied Western Europe 1940-44, in: Unanswered
Questions, ed. Fran<;;ois Furet, New York 1989, S. 172-198.
67 Sämtliche Gesetze und Dekrete bei Bernard Lazare, Les Juifs sous l'occupation: Recueils des
textes officiels fran<;;aiset allemands 1940-1944, Paris 1945. Texte und Zusammenstellungen sind
von der Schweizer Botschaft laufend dem Politischen Departement überstellt worden.
68 AFS: 2001 D 2, Nr. 101, Berichte Stuckis, bes. v. 17. 6. 1942, mit zahlreichen Zeitungs-
ausschnitten. Dazu Neue Zürcher Zeitung v. 2. 6., 13. 7. und 7. 9. 1942 und Gazette de Lausanne v.
8. 9.1942.
69 NAW: RG 242 T 120,2466, Vortragsnotiz Luthers v. 22. 8.1941.
70 Von Interesse ist übrigens, dass sich zwischen dem Nürnberger Ankläger Robert Kempner, dem
Basler Universitätsprofessor Edgar Salin und JUNA-Chef Benjamin Sagalowitz wegen Weizsäcker
eine Kontroverse entwickelte. Salin weigerte sich, 1949 in Berlin Gastlesungen zu halten, weil
Kempner dort von der Universität gleichfalls zu lehren eingeladen worden war. Siehe ETH:
Sagalowitz, Nr. 16. 2, v. 1. 7.-5. 9. 1949.
71 Zitierte Aktenvermerke über die Schweiz in diesen Fragen siehe NAW: NG 1527, Schmid-
Weizsäcker v. 22. 2. 1941; NG 3264, MBF-Auswärtiges Amt v. 30. 10. 41 (mit Zahlen der
Polizeipräfektur) und Aktennotiz Weizsäcker v. 1. 11. 41; NG 5252, Deutsche Gesandtschaft
Bem, Schreiben Luthers v. 28. 12. 1942.
72 United Press, Vichy 15. August 1942, übernommen in der Schweizer Presse, z. B. im St. Galler
Tagblatt oder in der Neuen Zürcher Zeitung v. 17. 8. 1942.
73 AFS: 2001 D 2, Nr. 101, Auswärtiges an Torrente v. 18. 12. 1940.
74 Im folgenden sämtliche Akten in AFS: 2001 D 3, Nm. 165-166, und EPD, Paris 2220. Dort die
verschiedenen umfangreichen Berichte von Snozzi, Affaires juives suisses en France occupee:
Rapports sur les affaires aryanisees et liquidees vom 22. 9. 1941 bis 31. 12. 1944 (Rapport final);
zitierte Stelle aus dem dritten Bericht vom 31. Dezember 1942. Empfehlungen Frölichers an Bern
und Stucki in: 2001 D 2, Nr. 101, diverse Schreiben v. 2. 1. und 19. 12. 1940 sowie 4. 7. 1941; betr.
Vichy Stucki an Bonna v. 18. 2. 1942, mit Kopie von Vallats Schreiben v. 14. 2. 1942.
75 AFS: 2001 D 3, Nm. 165-{)6, Affaires juives suisses en France occupee, Rapport final.
76 AFS: 2001 D 3, Nr. 165, Besprechung Snozzi-Schnyder v. 15./16. 7. 1942.
77 SIG: CC v. 2. November 1941, Traktandum «Ordre public».
KAPITEL 3 485

78 NAW: NG 5252, Auswärtiges Amt (Luther) an Deutsche Gesandtschaft Bern v. 28. 12. 1942.
AFS: 2001 D 3, Nr. 458, Korr. August 1942-1.2. 1943, und Nr. 173, Notiz v. 2. 12. 1943; 2220
Gesandschaft Paris, Stucki-Bonna 14. 9. und 28. 11. 1943. Nicht aus der Nordzone repatriiert
werden konnten zwei Schweizer Juden, Ladislav Goldherger und Marietta Limburger-Junes, die
als deportiert gelten müssen. Zur Politik der Gesandtschaft in Vichy 1942/43 und Rückführung aus
der Südzone siehe die Miszelle von Edgar Bonjour, Die Schweizer Juden in Frankreich 1942/43,
in: Schweizische Zeitschrift für Geschichte 33, 1983, S. 217-221.
79 Stenografische Bulletins, Nationalrat v. 12. 7. und 29. 9. 1941.
80 SIG: Dossiers «Ordre public», dokumentiert den Zusammenhang zwischen der Politik Pi Iets und
der Ordre-public-Affäre schon archivalisch, indem dort ein Konvolut mit entspr. Informationen
und Presseausschnitten über Pi Iets gesamte Linie angelegt wurde.
81 Siehe Mare Perrenoud, La Sentinelle sous surveillance, in: Schweiz. Zeitschrift f. Geschichte, 37/
1987.- SIG: Dossier <<Ordre public», div. Korrespondenz zwischen der jüdischen Gemeinde La
Chaux-de-Fonds und SIG, insbesondere v. 18. 12. 1941, betr. Nationalrat Graber.
82 SIG: CC v. 2. u. 17. November 1941; dazu Dossier <<Ordre public».
83 Guggenheims Statement siehe bei Jacques Picard, Die Schweiz und die Judenfrage, in: Wiehn,
Judenfeindschaft, 1989, op. cit., S. 139.
84 Gemeint ist hier <<die Feststellung, dass der Bundesrat, wenn Frankreich oder eine andere auswär-
tige Macht den Standpunkt einnehmen würde, den der Bundesrat in seiner Antwort an Nationalrat
Graber supponiert, diesem Standpunkt entgegentreten würde».
85 SIG: CC v. 17. 11. 41, Anhang <<Referat Guggenheim>>, weist darauf hin, dass die Monographie
Weldler-Steinbergs von antisemitischer Seite ausgebeutet werden könnte, <<denn das Leben unse-
rer Vorfahren würde nicht ganz dem Heroenkult des Gotthardbundes entsprechen». Guggenheim
vermerkt bereits den Verlust des wissenschaftlichen Apparates des Manuskripts; siehe dazu in der
Erstausgabe von 1966 das Vorwort von Georg Guggenheim, dem Bruder von Paul Guggenheim,
und Florence Guggenheim-Grünberg, der Herausgeberio der Geschichte von Weldler-Steinberg,
die 1932 verstarb.
86 Aufschlussreich gerade in bezog zu der vorliegenden Kontroverse ist die Behandlung des Gegen-
satzes zwischen fremden- und menschenrechtliehen Bestimmungen, gernäss denen auch die
Rechtsstellung des Ausländers nach allgemeinem Völkerrecht definiert wird, bei Dietrich Schindler,
Die Gleichberechtigung von Individuen als Problem des Völkerrechtes, Zürich 1957, insbes.
s. 28-54.
87 SIG: Dossier <<Ordre public», Vernehmlassungen; CC v. 17. 11. 1941, Beilage Referat Guggenheim,
S. 8f. betr. Auswahl der Begutachter. - Zu Rappard siehe den Beitrag von Daniel Bourgeois,
William E Rappard et Ia politique exterieure suisse a l'epoque des fascismes, in: Studien und
Quellen, Zeitschrift des Schweizerischen Bundesarchives, Bd. 15, Bern 1989, S. 7-82, bes.
S. 32ff.; zum Bild von Rappard, vor allem als Leiter der Mandat-Kommission, auf der jüdischen
Seite siehe Chaim Weizmann, Memoiren, Zürich 1953, S. 549, und Nahum Goldmann, Staats-
mann ohne Staat, Köln 1970, S. 224.
88 AFS: 2001 D 2, Nr. 101, Eingabe des SIG v. 8. 12. 1941. SIG: Dossier <<Ordre public>>, Israeli-
tische Gemeinde Basel an Mayer v. 21. 11. 1941, zeigt, dass Jules Dreyfus-Brodski, langjähriger
SIG-Präsident, gar auf eine delegationsweise Übergabe in Bern drängte.
89 SIG: Dossier <<Ordre public>>, und AFS: 2001 D 2, Nr. 101, Schreiben v. 8. 12. 1941, 12. 1., 19. 2.
und 27. 3. 1942.
90 SIG: Aktennotiz betr. Interna EPD v. 17. 4. 1942. AFS: 2001 D 2, Nr. 101, Schreiben Iselin &
Christ v. 10. 12. 1941; dito Paris 2220, mit beigelegtem Gutachten Prof. A. Hornberger v.
21. November 1941.
91 AFS: 2001 D 2, Nr. 101, von Steiger an Pilet v. 27. 1. 1942.
92 AFS: Paris 2220, Stucki an Bonna v. 18. 2. 1942.
93 Florence Guggenheim, 25 Jahre Vereinigung für soziale und kulturelle Arbeit im Judentum,
Zürich 1944. Mieczyslaw Minkowski, 40 Jahre Vereinigung für soziale und kulturelle Arbeit im
Judentum 1919-1946 und Jüdische Vereinigung Zürich 1946-1959, Zürich 1961. Jacques Picard:
486 ANMERKUNGEN

Vermächtnis als Frage der Zukunft, Die jüdische Kulturarbeit und die Rezeption der Wissenschaft
des Judentums in der Schweiz 1919-1961, in: Julius Carlebach (Hg.), Wissenschaft des Juden-
tums, Anfänge der Judaistik in Europa, Darmstadt 1992, S. 98ff.
94 AFS: 2001 D 2, Nr. 101, Polizeikorps des Kantons Zürich v. 12. 3. 1942. Beachte weiterunten die
Resonanz im Bericht über die Interna des EPD.
95 SIG: Dossier «Ordre public», Aktennotiz Guggenheim v. 17. 4. 1942.
96 AFS: 2001 D 2, Nr. 101, Notiz Schnyders v. 20. 4. und Note vom 8. 5. 1942;
Einladung Mayers gleichentags. SIG: Dossier <<Ordre public>>, Aufzeichnung Guggenheims v.
29. 4. 1942; Schulthess erinnerte sich auch gerne an die <<stets kollegialen Beziehungen mit dem
Vater>>, Dr. Hermann Guggenheim, mit dem er einst vor Aargauer Gerichten die Klingen zu
kreuzen pflegte.
97 JDC: SM-Tagebücher Mai-August 1942.- SIG: Dossier «Ordre public>>, Handakte Mayer v.
28. 5. 1942; Korrespondenz zwischen Mayer, Guggenheim und Farbstein im Juli-Oktober 1942;
CCv. 13. 4. und 22. 6.1942; DV v. 19. 4. 1942; Schreiben SIG an Piletv. 18. 8. 1942.-AFS: 2001
D 2, Nr. 101, Pilet-Note v. 16. 7. und Schreiben v. 9. 10. 1942.
98 JDC: SM# 2, undatiertes Memorandum (1940) in französischer Sprache.
99 SIG: Dossier «Ordre public>>, Aktennotiz Guggenheim v. 17. 4. 1942. Der Vergleich liess sich, aus
Guggenheims Sicht, in seiner Unlogik schnell entkräften, indem hier nicht eine bestimmte Gruppe
von Frauen, z. B. die jüdischen Schweizerinnen, sondern alle Schweizer Frauen ohne Unterschied,
das heisst also gleich, behandelt worden wären.
100 JDC: SM 51, Polnische Botschaft Bern (Kühl) an SIG/Mayer v. 12. Oktober 1941, und entspechende
Aktennotizen zur Frage der Ehefrauen.
101 AFS: 2001 D 2, Nr. 102, Kappeler-Feldscher v. 10. 2. u. 26. 2. 1942.
102 AFS: 4260 C 1, Nr. 6 (Konferenz); 4260 C, 1974/34, Nr. 61 (Anfragen). Stenografische Bulletins,
Nationalrat, Kl. Anfrage Stähli v. 13. 3. 1934.
103 AFS: 4001 c 1, Nr. 149, Sammlung mit Pressekritiken; Berichte Rothmund und Quinche an
Expertenkommission v. 8. 1. 1951.- Sehr gute Orientierung und Einblick in die Kritik an den
rechtlichen Verhältnissen bietet Ruth Vischer-Frey, Erwerb und Verlust des Schweizer Bürger-
rechts durch Heirat, in: Die Schweiz, Jahrbuch der Neuen Helvetischen Gesellschaft, Baden 1949.
104 AFS: 4260 C, 1967/34, Nm. 54-57, Entscheidsammlungen 1940-1951.
105 AFS: 4001 C 1, Nr. 149, Mitteilung an Expertenkommission v. 8. 1. 1951.
106 AFS: 4001 C, Nr. 159, ebenda.
107 AFS: 4001 C 1, Nr. 146, und 4260 C 1974/34, Nr. 43, BRB v. 20. 12. 1940 und 11. 11. 1941, Art.
5, und Kreisschreiben v. 25. 2. 1942.
108 AFS: 4001 C 1, Nr. 149, Xerograf. BerichtSchürchan Rothmund v. 30. 10. 1950. Weisungen
Fremdenpolizei v. 26. 9. u. 29. 12. 1942 in: Ludwig, Flüchtlingspolitik, S. 222 u. 230. Mündliche
Mitteilung von Lea Mahler, Bern.
109 Aide aux Emigres, Zukunftspläne der Flüchtlinge in der Schweiz, hg. v. Barbara Hohermuth, Genf
1945 (xerographierter Umfragebericht), S. 36. Statistische Jahrbücher, 1933-1951. AFS: 4800 A
1967/111, Nr. 400, Ruth an von Steigerv. 8. 4.1942.
110 AFS: 4001 C 1, Nr. 146, und 4260 C, 1974/34, Nr. 53, div. Konvolute. Zur Diskussion siehe
Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Gemeindeverwaltung 24, 15. 12. 1946. Vgl. auch die
Botschaft des Bundesrates v. 9. 8. 1951 betr. ein neues Bundesgesetz über Erwerb und Verlust des
Schweizer Bürgerrechts; dort nimmt die als heikel eingestufte Frage der Wiedereinbürgerung
breiten Raum ein.
111 Max Ruth, Das Bürgerrecht beim Eheschluss einer Schweizerin mit einem Ausländer, in: Zeit-
schrift des Hernischen Juristenvereins 1, 1942, SonderdruckS. 9.- Als Detail nachmerken liesse
sich, dass nach rabbinischer Auslegung nicht der männliche Elternteil, sondern die matrilineare
Abstammung ausschiagebend war, wer Jude sei oder nicht.
112 Organisation der jüdischen Frauen in der Schweiz vgl. unten im Kapitel über die politischen und
institutionellen Grundlagen. Israelitischer Frauenverein Zürich, Festschrift zum 75jährigen Beste-
hen, Zürich 1964. «Der Israelitische Frauenverein Zürich 1878-1934>>, in: Jüdische Presszentrale,
KAPITEL 3 UND 4 487

August-November 1934 (Serie).


113 Sybil Milton, Women and the Holocaust, The Case of German and Gennan-Jewish Warnen, in:
When Biology Became Destiny: Warnen in Weimar and Nazi Germany, hg. v. Bridenthal,
Grassman u. Kaplan, New York 1985, S. 297-333. Claudia Koonz, Courage and Choice Among
German-Jewish Warnen and Men, und Rita R. Thalman, Jüdische Frauen nach dem Pogrom 1938,
in: Die Juden im Nationalsozialistischen Deutschland, hg. v. Amold Paucker, Tübingen 1986,
S. 281-302. Allgemeiner siehe Rita Thalmann, Etre Femme sous Je llle Reich, Paris 1982. Zum
Emanzipationskampf in Deutschland vgl. Marion A. Kaplan, Die jüdische Frauenbewegung in
Deutschland, Organisationen und Ziele des Jüdischen Frauenbundes 1904-1938, Harnburg 1981.

Kapitel4

Zum Profil des emanzipierten und politisch neutralisierten Judentums vgl. Jacob Katz, Aus dem
Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft, Jüdische Emanzipation 1770-1870, Frankfurt a. M. 1986,
S. 211ff.
2 Robert Weltsch, Die schleichende Krise der jüdischen Identität, in: Werner E. Masse, Juden im
Wilhelminischen Deutschland 1890-1914, Tübingen 1976. S. 689-704; Peter Gay, Freud, Juden
und andere Deutsche, München 1989, S. 23-51.
3 Sigmund Bendkower u. Mare Herzka, Von der Aguda bis zu den Liberalen, in: Jüdische Rund-
schau Maccabi v. 17. 5. 1990, und dies., Die jüdischen Gemeinden in Winterthur und Zürich, in:
Zürcher Chronik 57/4, 1989, S. 144-148.
4 ICZ, 100 Jahre Israelitische Coitusgemeinde Zürich, Zürich 1962. Materialien bietet das Haus-
organ Jüdische Presszentrale Zürich, das bis 1938 erschienen ist.
5 Mare Herzka, Die Synagogen in der Stadt Zürich, in: Zürcher Chronik 57/4, 1989, S. 152f.
6 Vgl. die Beiträge, besonders von Hermann Levin Goldschmidt, in der Jubiläumsausgabe von
Tradition und Erneuerung 50, 1982, S. 2-7. Zum Gründungsvorstand gehörten zwei Rabbiner,
Eugen Messinger und Lothar Rothschild, dann der Geschäftsmann Victor Loeb als Präsident und
der Philosoph Goldschmidt als Aktuar.
7 Leo Trepp, Die Juden, Volk, Geschichte, Religion, Reinheck bei Harnburg 1969, S. 93-95.
8 Saly Braunschweig, Statistik der Juden in Zürich, Separatum, Zürich 1929 (ohne Paginierung).
Brüschweiler, Berufund Konfession, S. 7. Georg Guggenheim, Warum muss jeder Jude Gemeinde-
mitglied sein?, in: Jüdische Presszentrale v. 31. 8. 1934. Otto Heim, Die konfessionelle und
nationale Gliederung der Bevölkerung der Schweiz, in: Jüdische Presszentrale v. 1.3.1936. Leitar-
tikel <<Probleme der jüdischen Jugend», in: Jüdische Presszentrale v. 13. 5. 1938.
9 Das institutionelle Selbstverständnis der zwanziger Jahre sowie der Jahrzehnte zuvor ist ausge-
zeichnet dokumentiert in einer Serie über die jüdischen Gemeinden der Schweiz, die im Israeli-
tischen Wochenblatt, 1-23, 1926, erschien.
10 Walter Wreschner, Aufgaben einer Einheitsgemeinde, in: Israelitisches Wochenblatt v. 21. 3.
1962 (Sondernummer zum JODjährigen Bestehen der ICZ).
11 ICZ: GY der Jahre 1931-1937; Unterlagen Bauplanungs-Kommission. ICZ: 100 Jahre Israeli-
tische Cultusgemeinde, S. 66ff.
12 Vgl. <<Das Projekt eines Basler Gemeindehauses>>, in: Israelitisches Wochenblatt v. 22. 3. 1955,
mit perspektivischer Ansicht der Planskizze.
13 Isaac Menasse u. Georges Vadnai, Contribution a I'Histoire de Ia Communaute Israelite de
Lausanne, 1948-1987, Lausanne 1986, S. 51-59. Kamis in: Musee Historique de Lausanne, Vie
juive en Suisse, S. 120-127.
14 Emil Dreifuss, Juden in Bem, Ein Gang durch die Jahrhunderte, Bern, S. 34 und 48.
15 Vgl. Kaufmann, Swiss Jewry, in: LBI Yearbook, S. 290f. Esther Hüsler, Vom Ghetto- ins Ghetto?
Herkunft, Zahl und Leben der ostjüdischen Immigration, diverse Stellen.
16 Vgl. Ralph Weingarten, Gleichberechtigt in die neue Zeit, in: Willy Guggenheim (Hg.), Juden in
488 ANMERKUNGEN

der Schweiz, S. 5~0. Hinweise finden sich in den Geschichten und Festschriften der einzelnen
Gemeinden.
17 Vgl. SIG, Festschrift, S. 309ff., Anhang <<Jüdische Gemeinden, Organisationen und Institutionen
in der Schweiz».
18 Dreyfus, Juden in Bern, S. 38. Rückblick von Robert Blum auf die Männerkrankenvereine in:
JOB-Forum v. Mai 1990, S. 22.
19 Jacques Picard, Vorn Zagreber zum Zürcher Omanut 1931-1951, in: Exilforschung, Ein Interna-
tiona_les Jahrbuch, Bd. 10, Die Künste im Exil, München 1992, S. 168-185.
20 Was für Deutschland und die USA gilt, kann hier auch für die Schweiz angenommen werden. Vgl.
die im Kapitel über die behördliche Einbürgerungspolitik zitierten wichtigen Arbeiten von Aschheim,
Brothers and Strangers, und Wertheimer, Unwelcome Strangers, zur Ostjudenfrage in Deutsch-
land. Arthur Hertzberg, <<Treifene Medine», Learned Opposition to Emigration to the United
States, in: Vlll. World Congress of Jewish Studies, Proceedings of the History Section, Jerusalem
1981, vertritt mit Blick auf die USA die These, dass die osteuropäischen Immigranten weniger mit
Armut zu identifizieren sind, als dies in literarischen und rabbinischen Quellen dargestellt wurde,
wo vor der Gefahr einer westlichen Assimilation gewarnt wurde.
21 Berthold Rothschild, Vom täglichen Umgang mit einem schlechten Gefühl, in: Gaby Rosenstein
(Hg.), Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, Konstanz 1991, S. 36. Guggenheim,
Alles in allem, Bd. 1, S. 188-194.
22 SIG: DV v. 14. 5. 1931. Vgl. oben Kapitel über den Antisemitismus in der Öffentlichkeit.
23 Franc:;ois Höpflinger, Verbände, in: Handbuch Politisches System der Schweiz, Bd. 2, hg. v. Ulrich
Klöti, Bern 1984, S. 163-188.
24 Urs Altermatt, Der Weg der Schweizer Katholiken ins Ghetto, Zürich 1979, und besonders ders.,
Katholizismus und Moderne, Zürich 1989 als Gesamtdarstellungen.
25 Leo Littmann, 50 Jahre Gemeindebund, in: SIG-Festschrift, S. 7-24. Nathan Kadezki, 50 Jahre
Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund, in: Israelitisches Wochenblatt v. 25. 5. 1954.
26 1936, beim Amtsantritt Mayers als SIG-Präsident, waren dies folgende Gemeinden (mit zahlenden
Mitgliedern): Baden (46), Basel (638), Bern (148), Biel (54), Bremgarten (10), Chaux-de-Fonds
(115), Davos (7), Delemont (10), Endingen (10), Fribourg (14), Genf Communaute (264), Genf
Agudas (80), Lausanne (186), Lengnau (10), Liestal (12), Lugano (10), Luzern (124), St.Gallen
(90), Solothurn (21), Vevey-Montreux (25), Winterthur (40), Yverdon (24), Zürich ICZ (1050),
Zürich IRG (145), Zürich Agudas (105), Diessenhofen/Schaffhausen (10).
27 Jüdisches Jahrbuch 1919-20, S. 31. Kamis, Antisemitismus, S. 279-282.
28 SIG: DV und CC 1935-36, besonders CC 17. 10. 1935; Statuten v. 21. Mai 1936; DV und CC
1943-1944, mit Statuten v. 18. Mai 1944.
29 Die Zivilstandsregister der Gemeinden Stein und St. Gallen geben folgende Angaben: Mayers
Vater, Moses Mayer, wurde 1895 eingebürgert, heiratete Regina Rothschild, die zwei Töchter und
fünf Söhne gebar. Der älteste Bruder Mayers starb 1911 in London, je zwei Kinder heiraten im
Ausland (Mannheim und Brooklyn) und in der Schweiz. Saly Mayer liess sich mit seiner Ehefrau
Jeanne Epstein aus Basel 1930 in der Stadt St. Gallen einbürgern. Ihr einziger Sohn Max litt an
einer Behinderung.
30 Darstellung der Wahl bei Kamis, Antisemitismus, S. 202.
31 SIG: CC-Protokoll, <<Beschlüsse des C.C. vom 21. Mai 1940>>.
32 SIG: DV v. 13. 12. 1942 u. 28. 3. 1943. ICZ: GY v. 14. und 22. 3. 1943. Siehe unten <<Ein
Schwarzer August 1942 und seine Folgen>>.
33 VSJF: Tätigkeitsbericht 1945 (die Auflistung gibt kein definiertes Organigramm wieder); dazu
Tätigkeitsberichte 1933-1952.
34 SIG: DV v. 23. 1. 1944 (Anregung Wohlmann betr. Rechtsschutzstelle für Flüchtlinge dem VSJF
gegenüber). VSJF: A. o. GY v. 8. 5. 1944 (Verhältnis VSJF und SIG). Israelitisches Wochenblatt
V. 27. 10. 1944.
35 Arthur Emsheimer, Wir und die Flüchtlinge, 35 Jahre Schweizerische Zentralstelle für Flüchtlings-
hilfe, Zürich 1971.
KAPITEL 4 489

36 Neben einigen kleineren Hilfsstellen sind besonders die katholische Caritas, das Hilfswerk der
evangelischen Kirchen, das Arbeiterhilfswerk, das Schweizerische Hilfswerk für Emigranten-
kinder, die Genfer Aide aux Emigres, die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit und
die Flüchtlingshilfe der Kreuzritter zu nennen.
37 Vgl. VSJF, Ein Jahrzehnt Schweizerische Jüdische Flüchtlingshilfe 1933-1943, Zürich o. J.
(1944); und Otto H. Heim, Jüdische soziale Arbeit und Flüchtlingshilfe in der Schweiz, in: SIG,
Festschrift, S. 25-56.
38 Ludwig, Flüchtlingspolitik, S. 25 u. 274ff.; dazu beide abteilungsinternen Berichte von 0. Schürch,
Das Flüchtlingswesen der Schweiz während des 2. Weltkrieges und in unmittelbarer Nachkriegs-
zeit 1933-1950 (1951), und Otto Zaugg u. Heinrich Fischer, Tätigkeits- und Schlussbericht der
eidgenössischen Zentralleitung der Heime und Lager, 1940-1949 (1950).
39 Berty Guggenheim-Wyler, Der Israelitische Frauenverein Zürich 1878-1934, in: Jüdische
Presszentrale 31. 8.-21. 9. 1934 (Serie). Israelitischer Frauenverein Zürich, Festschrift zum 75-
jährigen Bestehen des IFZ, Zürich 1964. Cläre Wohlmann-Meyer, Die jüdische Frau in moderner
Zeit, in: SIG, Festschrift, S. 163-180.
40 Beatrix Mesmer, Ausgeklammert - Eingeklammert, Frauen und Frauenorganisationen in der
Schweiz des 19. Jahrhunderts, Basel 1988. Stellvertretend für die umfangreichen Publikationen
zur jüdischen Frauengeschichte sei mit Blick auf Deutschland hingewiesen auf Marion A. Kaplan,
Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland, Organisation und Ziele des Jüdischen Frauen-
bundes 1904-1938, Harnburg 1991; und dieselbe, Sisterhood under Siege, Feminism and
Antisemitism in Germany 1904-38, in: The Jewish Response to German Culture, hg. v. Jehuda
Reinharz u. W. Schatzberg, Hanover 1985, S. 242-265. Vgl. auch Kapite13, Anm. 112.
41 Guggenheim-Wyler, in: Jüdische Presszentrale, 31. 8. 1934.
42 SIG: Dossier BIF, Korrespondenzen zwischen BIGA, Mayer und ElF-Präsidentin Sophie Abra-
ham v. 24. 1. u. 22. 2. 1935. Der BIF entsprach dem Wunsch von BIGA und SIG an seiner Sitzung
v. 19. 2. 1935. BIF-Propaganda für Haushaltkurse in: Jüdische Presszentrale v. 26. 6. 1936.
43 Darstellung und Nachweise folgen aus diesem Grund weiter unten im Kapitel über die Arbeit und
soziale Umschichtung der Flüchtlinge.
44 Elisabeth R. Bollag, <<Bund der Israelitischen Frauenvereine» (15. GV v. 24. 9. 1940), in: Israeli-
tisches Wochenblatt v. 18. 10. 1940.
45 ICZ: Protokolle Vorstand 1931/32, Traktandum <<Eingabe jüdischer Frauen>>.
46 Jüdische Presszentrale, Leitartikel v. 26. 6. 1936.
47 Jüdische Presszentrale, Sondernummer v. 30. 7. 1937. SIG: CC v. 23. 6. 1937.
48 Sondemummern der Jüdischen Presszentrale v. 26. 6. 1931 u. 19. 5. 1935.
49 Aussagen von Sokolow, Weizmann, Jabotinsky, Stein und Buher in: Jüdische Presszentrale v.
26. 6. 1936. Wiederholt erwähnt werden Eindrücke über die Schweiz und Genf in den Memoiren
von Weizmann und Goldmann. Der Bericht von Lion Feuchtwanger über den Friedenskongress
der Religionen in: Jüdische Presszentrale v. 14. 8. 1932; und über den ?.Nationalitäten-Kongress
ibid. v. 2. 9. 1931.
50 Alois Riklin, H. Haug u. H. Ch. Binswanger (Hg.), Handbuch der schweizerischen Aussenpolitik,
Bem 1975, als gegenwartsorientierter Überblick. Den schweizerischen Beitrag zu einer internatio-
nalen Friedensordnung vgl. u. a. R. Lüthi, Die europäischen Kleinstaaten und die Haager Friedens-
konferenz 1899, Winterthur 1954; und K. W. Stamm, Die gu.ten Dienste der Schweiz, Bern 1974.
Neben der umfangreichen Neutralitätsgeschichte von Edgar Bonjour gibt es eine knappe, aber
informative Darstellung der schweizerischen Aussenpolitik von Peter Stadler, Die Schweiz seit
1919, in: Theodeor Schieder (Hg.), Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 7, Stuttgart 1979.
51 Wilhelm Röpke, Internationale Ordnung, Zürich 1945, S. 229.; Röpke war Professor am Genfer
Institut des Hautes Etudes International.
52 Nahum Goldmann, Staatsmann ohne Staat, Köln/Berlin 1970, S. 234-238.
53 Willy Guggenheim, <<luden, Schweizer, Schweizer Juden, Minderheiten in pluralistischer Gesell-
schaft>>, in: Guggenheim, Juden in der Schweiz, S. 101.
54 Zu den philantropischen Hilfsorganisationen: Alex Bein, Die Judenfrage, Bd. 1, S. 266; Hans
490 ANMERKUNGEN

Lamm, Interterritoriale (internationale) jüdische Organisationen, in: Franz Böhm u. Waller Dirks
(Hg.), Judentum- Schicksal, Wesen und Gegenwart, Wiesbaden 1965, Bd. 2, S. 835---860; Udo
Beer, Die Juden, das Recht und die Republik, Verbandswesen und Rechtsschutz 1901-1933,
Frankfurt a. M. 1986, S. 56ff. Aufschlussreich sind auch die einschlägigen Artikel in der
Enzyklopädia Judaica, Berlin 1928ff.
55 Aus der umfangreichen Literatur seien stellvertretend nur einigeneuere Darstellungen und Quellen-
texte genannt: Arthur Herzberg (Hg.), The Zionist Idea, A Historical Analysis and Reader,
Philadelphia/New York 1959; Waller Laqueur, Der Weg zum Staat Israel, Geschichte des Zionismus,
Wien 1975; Shmuel Avineri, The Making of Modern Zionism, The Intellectuel Origins of the
Jewish State, New York 1981; Julius H. Schoeps (Hg.), Zionismus, Texte zu seiner Entwicklung,
Wiesbaden 1983.
56 Adolph Böhm, Die Zionistische Bewegung, Berlin 1920, Bd. 1., S. 17ff; vgl. auch Alex Bein,
Theodor Herzl, Wien 1934, S. 94ff.
57 Yehuda Eloni, Zionismus in Deutschland, Von den Anfangen bis 1914, Gerlingen 1987, S. Slff.
58 Beide unter dem Titel <<Philantropie und Politik» in: Israelitisches Wochenblatt v. 1. u. 8. 12. 1939
(Guggenheim) und v. 3. 7. 1942 (Newman). Zu Herzl und Baron vgl. Böhm, Zionistische
Bewegung, Bd. 1, S. 102.
59 Josue Jehouda, Les Cinq Etapes du Judaisme emancipe, Genf 1943, S. 45; erstmals publiziert in:
Revue Juive, 4./5. Jg., Genf 1936.
60 Gespräch 1989 des Autors mit Gerhart M. Riegner, Genf.
61 Mark Wischnitzer, ToDweil in Safety, New York 1948, S. 297-304.
62 Dominique Ferrero (Universität Genf) und Raya Adler (Universität Tel Aviv) sind zur Zeit mit
Forschungsarbeiten über den Zionismus in der Schweiz beschäftigt. Mein Beitrag beabsichtigt
lediglich aus Gründen der Leserfreundlichkeit, einen Einblick in die Vielgestaltigkeit des Zionismus
zu vermitteln.
63 Denis Dumoulin, La Suisse et les debuts du mouvement sioniste, Lizentiatsarbeit (Manuskript)
Universität Fribourg, 1982.
64 Chaim Weizmann, Memoiren, Das Werden des Staates Israel, Zürich 1953, S. 76---88.
65 Im weiteren vgl. die oben bereits angeführte Literatur, besonders von Laqueur 1975, Avineri 1981,
Schoeps 1983 sowie Hertzberg 1959. Für die einzelnen Phasen vgl. Haim Hillel Ben-Sasson (Hg.),
Geschichte desjüdischen Volkes, München 1980, Bd. 3, S. 208-228 u. 328-362.
66 Peter Platzer, Jüdische Verbindungen in der Schweiz, Bern 1988, S. 70-78.
67 Jacob Zucker, Hinein in die Zionistische Organisation, in: Jüdische Presszentrale v. 29. 5. 1936.
68 Berthold Fenigstein, Schweizer Juden und Zionismus, in: Jüdische Presszentrale v. 24. 9. 1937.
69 Um die jüdische Zukunft, Heft 1 aus der <<Schriftenreihe des Schweizerischen Zionistenverbandes»
(Genf 1943--1944) enthielt Aufsätze und Reden von zionistischen Grössen aus der Kriegszeit; Heft 2
brachte eine auch historisch orientierte Darstellung von Joseph Danieli, Sionisme et patriotisme, um
die Bedenken einer <<doppelten Loyalität>> zu zerstreuen; und Heft 3 suchte den gleichen Konflikt
zwischen Zionismus und Schweizer Bürgertum durch schweizerische Stimmen zum Zionismus zu
harmonisieren.
70 Zu KKL-Jubiläen bringt jeweils die Jüdische Rundschau Maccabi (Basel) in Zehnjahres-Abstän-
den grössere Beiträge, z. B. v. 19. 12. 1991.
71 Weizmann und SIG: CC v. 14. 11. 1933. Jüdische Presszentrale v. 20. 1., 10. 2. u. 9. 6. 1939.
Zwanzig Jahre Keren Hajessod Schweiz, in: Israelitisches Wochenblatt v. 12. 12. 1941; ebenso v.
16. 2. 1945 u. 18. 1. 1945, mit Vorstandsliste.
72 ICZ: GV v. 6. 4. 1930 (mit nur 1 Gegenstimme); für die JA war 1929 mit einem ICZ-Empfang
schon Boden bereitet worden. SIG: DV v. 14. 5. 1931; dazu Tätigkeitsbericht für das Jahr 1930.
73 Weizmann, Memoiren, S. SOff. Zu Kadimah und Jordania siehe Platzer, Jüdische Verbindungen,
S. 54-60. Zum Identitätsproblem siehe Kurt Blumenfeld, <<Ursprünge und Art einer zionistischen
Bewegung>>, in: Bulletin des Leo Baeck Institut I, 1957/58, bes. S. 129. Darstellung bei Hermann
Meyer-Cronemeyer, Der Zionismus, in: Germania Judaica, Neue Folge 19-20, VI/1-2, 1967. Zur
Jüdischen Vereinigung Zürich siehe Florence Guggenheim, 25 Jahre Vereinigung für soziale und
KAPITEL 4 491

kulturelle Arbeit im Judentum, Zürich 1944, S. 3ff.


74 Sitzungen Weizmanns mit dem SIG: CC v. 14. 11. 1933; Besuch in Bern 1933 in: JGB-Forum
16. Jg., 41/März 1987. Aufruffür Sammlungen in: Jüdische Presszentrale v. 20. 1. 1939. Vgl. auch
weiter unten die Kapitel über die Probleme der sich abzeichnenden Nachkriegszeit.
75 Laqueur, Weg zum Staat Israel, S. 287, und Perez Merchav, Zionismus und Arbeiterbewegung in
der Geschichte Israels, Frankfurt a. M. 1972, S. 25ff.
76 David Farbstein, «Zur Gedenkfeier für den 1. Zionistenkongress>>, in: Jüdische Presszentrale v.
20. 8. 1937. Ders., <<Aus meinem Leben>>, in: SIG, Festschrift, S. 197-202.
77 Israelitisches Wochenblatt v. 12. 7. 1946, Bericht über die Tagung des Poale Zion Hitachdut.
78 Vom Zusammenhang zwischen Generationenbild und Alijah-Wellen wird weiter unten im Kapi-
tel über die Migrationsvorbereitung und soziale Umschichtung der Flüchtlinge die Rede sein.
79 Wahlergebnisse in: Jüdische Rundschau Makkabi 12/13, Basel 1946.
80 Der Bestand von Nathan Schwalb im Histadrut-Archiv in Tel Aviv ist von mir nicht konsultiert
worden und soll auch nicht zugänglich sein. Einige Materialien befinden sich auch in JDC: SM
24-25, da Schwalb mit Mayer, der nach Kriegsende zusehends zionistisch gesinnt wurde, eine
gewisse Freundschaft verband.
81 David Ben Gurion, Unsere Sendung im Volke, in: Israel, Volk und Land, Jüdische Anthologie, hg.
vom Hechaluz, Berlin 1935, S. 327.
82 Haschomer Hazair, Festschrift zum 50jährigen Jubiläum des H. H. Schweiz, Zürich o. J. (1966).
Zitiert aus Chaim Seligmann, Die jüdische Jugendbewegung und die Kibbutzbewegung, in:
Wolfgang Melzer u. Georg Neubauer (Hg.), Der Kibbutz als Utopie, Weinheim 1988, S. 70-85.
83 Vgl. Veit Wyler, Vor dem Kongress, in: Jüdische Rundschau Makkabi 11, September 1946.
84 Reuben Hecht, <<Aljia Beth>>, in: Eli Rothschild, Meilensteine, Vom Wege des Kartells Jüdischer
Verbindungen (K.J.V.) in der Zionistischen Bewegung, TelAviv 1972, S. 201-208. Rothmund,
Briner und Hecht siehe unten das Kapitel über die illegalen Migrationen.
85 Siehe die Würdigungen Lichtheims von Benjamin Sagalowitz in: Israelitisches Wochenblatt v.
16. 2. 1945 u. 14. 10. 1963 (mit einer Porträtskizze von Wladimir Saga!); ebenso v. 29. 7. 1938
(<<Lichtheim kommt in die Schweiz>>). Biografischer Überblick bei Ludwig Pinner, Richard
Lichtheim, in: Rothschild, Meilensteine, S. 379-385. Lichtheims politischer <<Revisionismus>> in:
Parteien und Strömungen im Zionismus in Selbstdarstellungen, hg. von der jüd. akad. techn.
Verbindung Barissia, Prag 1931, S. 44-54; abgedruckt bei Schoeps, Zionismus, S. 265ff.
86 Ein Dokument dazu bietet die Resolution des Landestreffens 1944 des Haschomer Hazair Schweiz
im aargauischen Rothrist (Resolutionstext in: Israelitisches Wochenblatt v. 12. 1. 1945): Die
Schomrim wollten mit <<dem jüdischen Faschismus abrechnen>> und verurteiltenjegliche Verhand-
lungen der ZO mit den Revisionisten; hingegen plädierten sie für <<die Verwirklichung des
Zionismus nur auf dem ganzen Gebiet von Erez Israel>> und verwarfen <~ede palliative Lösung>>.
87 A. J. Rom, <<40 Jahre Misrachi>>, in: Israelitisches Wochenblatt v. 20. 3. 1942. Der schweizerische
Landesverband gab ein Verbindungsorgan heraus.
88 Aus dem Programm des Misrachi von 1902, zitiert nach Abraham Schlesinger, Einführung in den
Zionismus, Frankfurt a. M. 1921, S. 71.
89 Bachad- und Bne-Akiwa-Nachrichten sind, wie für alle zionistischen Jugendbünde, regelmässig
im Israelitischen Wochenblatt nachzulesen; vgl. besonders v. 23. 8. 1946 über eine Delegierten-
Pegischa in Böekien BL, die auch Zahlen über Mitgliedschaft und Migrationen gibt.
90 Israelitisches Wochenblatt v. 20. 3. 1942. Zwi Taubes, Lebendiges Judentum, Genf 1946. In den
gleichen Jahren hat übrigens auch Taubes Sohn, Jacob Taubes, mit seiner <<Abendländischen
Eschatologie>> (1947) in Zürich promoviert, wo er 1943 als Rabbiner ordiniert wurde.
91 Israelitisches Wochenblatt v. 26. 5. 1946. Auseinandersetzung um jüdische Kinder im einschlä-
gigen Kapitel weiter unten in dieser Studie.
92 Jüdische Rundschau Makkabi 12/13, Oktober 1946, und Israelitisches Wochenblatt v. 18. 10. 1946.
93 Veit Wyler, <<Zionisten und Gemeindebund>>, in: Jüdische Rundschau Makkabi 6, Juni 1946; dort
auch Adrien Blum über <<Probleme des Schweiz. israelitischen Gemeindebundes>>. Norbert Weldler,
Sieg des zionistischen Gedankens, Zürich 1945.
492 ANMERKUNGEN

94 JDC: SM-24, Bericht Weltzentrale des Hechaluz, v. 10. 12. 1941, S. 28.
95 Ezra Mendelssohn, Class Struggle in Pale, The formative Years of the Jewish Workers Movement
in Tsarist Russia, Cambridge 1970. Ders., The Jewish Socialist Movement and the Second
International, in: Jewish Social Studies 26, 1964, S. 41. Henry Jack Tobias, The Jewish Bund in
Russia, Stanford 1972. Salo W. Baron, The Russian Jews under Tsar and Sowjets, New York
1964.
96 B. K. Johnpoll, The Politics of Futility, The General Workers Bund ofPoland 1917-1943, Ithaca
1967. John Bunzl, Klassenkampf in der Diaspora, Zur Geschichte der jüdischen Arbeiterbewegung,
Wien 1975 (dort S. 119-132 auch die Wirkung auf die Arbeiterbewegung in Österreich).
97 Zitiert nach einem Bericht des Bundes an den internationalen sozialistischen Kongress von 1907 in
Stuttgart: «Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund zur Zeit der russischen Revolution (1904-
1907)>>, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 36, 1913, S. 823.
98 Zur unerlässlichen Einbettung in die Gesamtsituation der Juden im zaristischen Russlands vgl. die
Studie von Jonathan Franke!, Prophecy and Politics, Socialism, Nationalism and Russian Jews
1862-1917, Cambridge Mass. 1981.
99 Zur oben erwähnten Poale Zion vgl. besonders als linkszionistische Kritik am Bund: Ber Borochov,
Die Grundlagen des Poale-Zionismus (1905), Frankfurt a. M. 1969.
100 Zu Dubnows evolutionistischem Geschichtsbild vgl. Aaron Steinberg, History as Experience,
New York 1983, S. 92-111. Dazu die Sammlung der Aufsätze von Sirnon Dubnow, Nationalism
and History, hg. v. KoppelS. Pinson, Philadelphia 1958.
101 Jack Jacobs, On Socialists and the «Jewish Question» after Marx, New York 1992, hat dazu eine
sehr differenzierte Studie vorgelegt.
102 Elias Tcherikover, The Early Jewish Labour Movement in the United States, New York 1961.
Dies gilt später auch für die Bundisten in Israel; vgl. Waller Preuss, The Labour Movement in
Israel, Jerusalem 1965. Über die jüdischen Anarchisten in den USA vgl. Paul Avrich, Anarchist
Portraits, Princeton 1988, S. 176-199.
103 Jiddischer Arbeiter Nr. 7, 1899. Die BUND-Bestände haben im Verlaufe mehrerer Jahrzehnte
nicht nur die Materialien der Bundisten aufgenommen, sondern ebenso systematisch der nicht-
jüdischen Sozialisten, Anarchisten und Gewerkschaften aus den jeweiligen Ländern, in denen sich
Bundisten aufhielten. Vgl. The Archives of the Jewish Labour Bund, A Great Collection, New
York 1965. Das Genfer Archiv ist von Berlin über Paris nach New York gelangt, wo es zuerst im
Atran Center und heute im YIVO deponiert worden ist.
104 Vladimir Medern, Fun mayn lebn, New York 1923 (Kapitel42, Mein Leben in Bern, und 47, Noch
einmal Bern).
105 Joseph S. Hertz, Doires Bundisten, New York 1956, Bd. 1, S. 32-40. Sol Liptzin, A History of
Yiddish Literature, New York 1985, S. 112ff.
106 Liebmann Hersch, Farbrekherishkeyt fun yidn und nit-yidn in poyln, Wilna (YIVO) 1937.
107 BUND: Hersch-Collection, ME 22-31, Manuskript <<Quelques considerations sur Ia crise de Ia
democratie» v. 22. 5. 1924. Liebmann Hersch, Mein Judentum, Das Judentum vom Standpunkt
eines jüdischen Positivisten gesehen, Zürich 1941 (dieser Vortrag wurde 1940 vor jüdischen
Studenten in Genf und Zürich gehalten; das jiddische Typoskript ist in der Hersch-Collection des
BUND-Archives nachweisbar).
108 BUND: Hersch-Collection, ME 22-11, <<Liste de nos amis en Suisse»; ME 22-10, Korresponden-
zen Emanuel Nowogrodsky, Hersch, Oprecht und Charles Schürch betr. Alter und Erlich, 1942. In
Genf ist nach der Moskauer Hinrichtung auch eine Gedenk- und Protestveranstaltung organisiert
worden.
109 Angaben zur weltweiten Organisation vgl. The Jewish Labour Bund 1897-1957, New York 1958.
Aufschlussreich betr. des erheblichen bundistischen Einflusses auf die jüdischen 68er in Frank-
reich ist Judith Friedlander, Vilna on the Seine, Jewish Intellectuals in France since 1968, New
Haven 1990, besonders S. 12ff. und 44ff.
110 BUND: Gliksmann-Collection, S. 1-89, mit Redaktionsdossier <<Beginen» und div. Protokollen
der Schweizerischen Zentralstelle v. November 1944 bis Mai 1945. Dazu VSJF, Tätigkeitsbericht
KAPITEL 4 493

1945, S.18.
111 Hertz, Doires Bundisten, Bd. 1, S. 38f. (vgl. auch oben die Hinweise zum Omanut).
112 Joseph Friedenson, A History of Agudath Israel, New York 1970, S. 12-18. Provisorisches
Komite der Agudas Jisroel (Hg.), Agudas Jisroel, Berichte und Materialien, Frankfurt a. M., o. J.
(1919). Jacob Rosenheim, Der Zusammenschluss der Thoratreuen, Zürich 1919.
113 Vgl. Organisationsverzeichnisse in: Jüdisches Jahrbuch für die Schweiz, Nm.1-3, 1915-18.
114 OOA: Fransie und Robert Goldschmidt Collection, mit einem reichen Archivbestand, zeigt, dass
diese Frau das Empfinden der orthodoxen Welt in eine den schweizerisch-westlichen Verhältnis-
sen verständliche Sprache zu übersetzen vermochte. Im weiteren siehe unten das Kapitel über
jüdische Rettungsaktivitäten.
115 JDC: # 941, Bericht der Haffkin-Stiftung (Martin Bloch), Lausanne, v. 20. 8. 1954 über die
Jeschivah in Montreux (1927-1954).
116 Pinchas Kahn, Die Stellung der Agudah zu Palästina, in: Jüdische Presszentrale v. 17. 1. 1930.
117 Shmuel N. Eisenstadt, Die Transformation der israelischen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1987,
s. 283f.
118 Nathan Eck, The Rescue of Jews with the Aid of Passports and Citizenship Papers of Latin
American States, in: Yad Vashem Studies 1, Jerusalem 1957, S. 135 (Übersetzung JP).
119 Die Kennzeichnung <<Sturm und Drang>> stammt von Jakob Rosenheim, Präsident der Agudat
Israel Weltunion, der zu vermitteln suchte. Siehe in OOA: Jacob Rosenheim Collection, Rasen-
heim-Sternbuch v. 7. 6. 1945, und <<Kurzer Tätigkeitsbericht der Expositur der Aguda Jisroel in
der Schweiz>> v. 16. Adar 5705 (1. März 1945).
120 David Kranzler, Thy Brother's Blood, The Orthodox Jewish Response during the Holocaust,
Brooklyn 1969, S. 43ff.
121 Israelitisches Wochenblatt v. 8. 12. 1939.
123 WJC, Unity in dispersion, A History of the Worid Jewish Congress, New York 1948, S. 33.
124 WJC: Protocole du Premier Congres Juif Mondial, und Resolutions adoptees par le Premier
Congres Juif Mondial, Geneve 8.-15. 8. 1936.
125 SIG: CC v. 23. 6. 1936 (zitiert Votum Saly Braunschweig). WJC: Protocole, S. 19-22 (Rede Saly
Mayers) und 42lff. (WJC-Organe).
126 NA W: RG 242, T 120 4725, Deutsches Konsulat Genf v. 27. 8. 1934.
127 Georg Guggenheim, <<Von der europäischen Konferenz des jüdischen Weltkongresses in Lon-
don», in: Israelitisches Wochenblatt v. 21. 9. 1945. Neue Zürcher Zeitung v. 28. 2. 1945 und
20. 1. 1946. Diverse Blätter 1945-46 gernäss Sammlung WJC in der SIG-Pressesammlung.
127 Zusammenfassende Pressekritiken jiddischer Blätter in: Revue Juive 43, Geneve 1936, S. 133ff.
128 Monty Noam Penkower, The Jews were expendable, Free World Diplomacy and the Holocaust,
Detroit 1988, S. 223-246 (KapitelS).
129 WJC, Unity in dispersion, S. 77. WJC, Der wirtschaftliche Vernichtungskampf gegen die Juden im
Dritten Reich, Paris 1937. Institute of Jewish Affairs, Hitler's Ten-Year War On the Jews,
New York 1943.
130 Ben-Sasson, Geschichte des jüdischen Volkes, Bd. 3, S. 367.
131 Vgl. die Jahrgänge von Revue Juive de Geneve, bes. 1/1932 (Leitartikel von Andre Spire) und 43/
1936 (diverse prominente Autoren).
132 Alliance-Vereine siehe Jüdisches Jahrbuch für die Schweiz 1-3, 1914-1919, Organisations-
verzeichnis. Zum Zürcher Hilfsverein siehe unten im Kapitel über die Transmigration; einige
Rundschreiben dieses Vereins im Besitze des Autors.
133 Über das JDC liegen zwei eingehende Darstellungen vor, die über eine engere Verbandsgeschichte
weit hinaus gehen (Namenkürzel AJJ.D.C. im Titel von mir): Yehuda Bauer, My Brother's
Keeper, A History of the AJ.J.D.C. 1914-1938, Philadelphia 1974; und ders., American Jewry
and the Holocaust, The AJJ.D.C. 1939-1945, Detroit 1981. Letzteres Werk von Bauer ist für die
Schweiz von eminenter Wichtigkeit. Eher allgemein, wenn auch hilfreich sind Oskar Handlin, A
Continuing Task, The AJDC 1914-1964, New York 1964; und Herber! Agar, The Saving Remnant,
An account of Jewish Survival, New York 1960.
494 ANMERKUNGEN

134 Josef Schwartz, <<Packy» genannt, der in Lissabon zum wichtigen Mann hinter dem Rücken von
Saly Mayer werden sollte, zeigt ein interessantes biografisches Profil, das von intellektuellen
Neigungen zu einem dezidierten Engagement für soziale Arbeit hinführt. Ukrainischer Abstammung
und in Baltimore geboren, studierte er an der Yeshiva University, wurde 1922 zum Rabbiner
ordiniert, doktorierte in Yale als Orientalist, hielt sich einige Zeit an der Universität Kairo auf und
unterrichtete dann Deutsch an der Long Island University, um sich 1929 über Wasser zu halten.
Die akademische Karriere brach Schwartz in den dreissiger Jahren ab. Er profilierte sich als ein
vielfältiger und genau kalkulierender Organisator und wurde 1940 als JDC-Koordinator nach
Europa geschickt.
135 VSJF: Bericht 1938, S. 29. Vgl. die zwei Jahre zuvor erschienene Darstellung in der Jüdischen
Presszentrale v. 24. 4. 1936.
136 YIVO: Hias-Hicem, Serie I, Nr.XII-1, Report Alter on Trip to Switzerland v. 6. 12. 1939.
137 Vereinigtes Komitee für jüdische Auswanderung <<Emigdirekt>>, Entstehung und Tätigkeit 1921
bis 1925, Berlin 1926.
138 Mark Wischnitzer, Visas to Freedom, The History of Hias, Cleveland/New York 1956, als
Gesamtdarstellung. Ronald Sanders, Shores of Refuge, A Hundert Years of Jewish Emigration,
New York 1989, bes. S. 367-393 und 428ff.
139 Im weiteren und als Grundlage vgl. Leon Shapiro, The History of ORT, A Jewish Movement for
Social Change, New York 1980. Hilfreich sind auch ORT Union, Material and Memoirs, Chapters
for the History of ORT, Geneve 1955; und dies., 80 Years of ORT, Genf 1960.
140 Vgl. die Beiträge von Salo W. Baron, Arcadius Kahan u. a. in: Economic History oftheJews, New
York 1975. Mark Wischnitzer, A History of Jewish Crafts and Guilds, New York 1965. Die oft
diskutierte These, dass die hochgehaltene jüdische Wertschätzung der Arbeit aus ihrer Konzeption
in den talmudischen Quellen allein abzuleiten wäre, kann hier ebenso wenig diskutiert werden wie
die gern gehörte Vorstellung, der Erfolg jüdischer Wissenschaftler erkläre sich allein aus Genera-
tionen rabbinischer Gelehrsamkeit. Beides scheint mir- so ausschliesslich formuliert - äusserst
fraglich und hypothetisch, weil die soziale Bedingungen ignoriert werden.
141 Materialien bieten hier eine umfangreiche Reihe von OSE-eigenen Publikationen, u. a.: Leon
Wulman, In the Fight for the Health of the Jewish People, 50 Years of O.S.E., New York 1968.
Jacob Lestschinsky, O.S.E., 40 Years of activity and achievements, ed. American Committee of
O.S.E., New York 1952. Lazare Gourvitch, L'O.S.E., ses buts et ses activitt~s pendant Ia periode de
1912 a 1945, Geneve 1947.
142 Sabine Zeitoun, L'(Euvre de secours aux enfants (O.S.E.): Du legalisme a Ia resistance (1940 bis
1944), Diss. phil. Jussien-Paris VII, 1986. Dazu vgl. OSE, Sous I'Occupation allemande en France
1940--1944, Geneve 1947.
143 Jacques Bloch, L'Ose en Suisse, in: Leon Wulman, Infight for the Health, S. 143-162.
144 Union O.S. E., Lesenfants de Buchenwald, Geneve 1946. Vgl. auch Rache! Mine, 450 enfants de
Buchenwald, in: L' Arche 100, Paris Mai 1965.
KAPITEL 5 495

KapitelS

1 Otto Heim, Jüdische soziale Arbeit und Flüchtlingshilfe in der Schweiz, in: SIG, Festschrift, S. 35.
2 Die Problematik des Minhag erfährt im Talmud mehrfach Erörterung, die in der rabbinischen
Literatur öfters zitiert werden. Zur örtlichen Abhaltung der Liturgie gernäss Talmud siehe die
vielzitierte tannaitische Beschreibung in Bava Mezia 7,1 und Genesis Rabba 48,16. Ein Minhag
konnte selbst den Charakter bindender Vorschrift erhalten (Bava Kamma, 117 B), obwohl die
lokale Abweichung zur Norm gemeint ist oder diese gar überstimmt wird (Sofrim, 14,18).
3 SIG: DV v. 22. 5. 1941; dazu JDC: SM-50, Text der Präsidialrede. Siehe auch Bauer, American
Jewry, 1982, S. 234, derdarauf hinweist, Mayer habe an der DV vom Mai 1941 auch Verhandlun-
gen mit dem <<Dritten Reich>> zu Rettungszwecken nicht ausgeschlossen, aber in seinen Notizen
diese Passage gestrichen.
4 JDC: SM-1, Conference PalaisFederalBerne v. 11. 2. 1940; im weiteren siehe unten.
5 Dauerasyl durch Bundesratsbeschluss v. 7. 3. 1947. VSJF: gernäss VSJF-Zahlen waren dies im
letzten Kriegsjahr 11'700 Personen und von 1946 bis 1952 noch einmal6100 Personen. In diesen
Angaben sind die von anderen Flüchtlingswerken realisierten Auswanderungen von jüdischen
Personen nicht enthalten; zusätzliche Emigrationen wurden vor allem durch das SHEK (Kinder-
hilfe) organisiert.
6 Mark Wischnitzer, Die Juden in der Welt, Gegenwart und Geschichte des Judentums in allen
Ländern, Berlin 1935, S. 176f.
7 Mark Wischnitzer, To dwell in Safety, The Story of Jewish Migration since 1800, Philadelphia
1948; vgl. ders., Visas to Freedom, New York 1956.
8 Artbur Ruppin, Soziologie der Juden, Berlin 1930; in britischer Ausgabe: The Jews in the Modern
World, London 1934.
9 Artbur Ruppin, Die Ansiedlung von Juden aus Deutschland, in: Dreissig Jahre Aufbau in Palästi-
na, Berlin 1937, S. 331-341. Zitat aus: Jüdische Rundschau v. 14. 1. 1936. Zu den Lehrstätten
siehe Perez Leshem, Aus Deutschland vertrieben bereitet sich die jüdische Jugend auf Palästina
vor, TelAviv 1973.
10 Liebmann Hersch, Dijidische emigrazie, Wilna 1914 (Verlag <<di velt>>), S. 1-4; die französische
Version enthält diese Einleitung nicht; mit erweiterten Angaben in: International Migration, New
York 1931 (National Bureau of Economic Research), vol. I, S. 70ff., u. vol. II, S. 471ff. Im
weiteren siehe die späteren Artikel von Hersch, Jewish Population Trend in Europe und Migrations
during the Last Hundred Years, in: The Jewish People, Past and Present, New York 1946/48, Bd. I,
S. 407-430 u. Bd. II, S. 1-24.
11 Jacob Lestschinsky, Probleme der Bevölkerungsbewegung bei den Juden, Berlin 1926, in ameri-
kanischer Version in: Past and Present, New York 1946, Bd. I, S. 361-390. Zur Thematik von
deutsch-jüdischer Emigration und Soziologie siehe die Beiträge von Bendix, Wolff u. a. in
I. Srubar (Hg.), Exil, Wissenschaft, Identität, Die Emigration deutscher Sozialwissenschaftler
1933-1945, Frankfurt 1988, und Erhard R. Wiehn (Hg.), Juden in der Soziologie, Konstanz 1989.
Emigration ist nur ein Affinitätsaspekt im Entstehungsmilieu der Soziologie; dazu ergänzend u. a.
Rene König, Die Juden und die Soziologie, in: König, Studien zur Soziologie, Frankfurt 1971,
s. 123-136.
12 Seelsorgerischer Leitartikel über die <<Wanderbewegung>> von Rabbiner Lotbar Rothschild, Eine
neue Wissenschaft, in: Israelitisches Wochenblatt v. 24. 2. 1939.
13 Siehe den Bericht der New Yorker Psychologin Margarete Jacobson, Psychologie der Immi-
grantenehe, in: Israelitisches Wochenblatt v. 22. u. 29. 11. 1940.
14 Diskussion zwischen Cäsar Flaischlein und HerbeTt Kohn, der als Emigrant und Arzt in Schaffhausen
wirkte, siehe in: H. B.-Nachrichten (Lager Hasenberg) Nr. 3-4, Januar/März 1940, unter dem
Stichwort <<Der Transmigrant>>. Kohns Mitteilungen über die Behandlung der Flüchtlinge in der
Schweiz, während der Überfahrt nach Santo Domingo verfasst, siehe in: New York Timesund
New York Sun v. 25. 11. 1940.
15 Mieczyslav Minkowski, Traumatismes neuro-psychiques de Ia culture contemporaine et hygiene
496 ANMERKUNGEN

mentale, in: Revue Ose, Paris 1935; ders., Les emigres et les refugies en Suisse, in: Jubiläums-
schrift der Union mondiale OSE, Paris 1952. Marie Pfister, Die Flüchtlingsbetreuung als massen-
psychologisches Problem, in: Schweiz. Archiv f. Neurologie und Psychologie 61, 1948, aus
Materialien, welche die Autorin aus einem Mandat des EJPD zur psychologischen Beobachtung
der Flüchtlinge gewonnen hat; dort auch Beiträge von OSE-Präsident Eugene Minkowski und
Fram;oise Minkowska über neuro-pathologische und kinderpsychologische Folgen des Nazismus.
Hans Mayer, Zur geistigen Lage der Flüchtlinge in der Schweiz, in: DU, Schweiz. Monatsschrift 3,
März 1945, vermittelt deutlich die Verbindung von Selbstwertschätzung und politischer Mündig-
keit des Flüchtlings; dort weitere Beiträge von Hans Zbinden und Otto Zaugg mit ganz unter-
schiedlichen Positionen. Besonders bemerkenswert ist der Aufsatz von Ben Ami Finkelstein, Die
Psychologie der isolierten Gruppe, in: Schweiz. Zeitschrift für Psychologie, 1948, weil der Autor
selbst im Arbeitslager gelebt hat.
16 Siehe besonders Milton Gordon, Assimilation in American Life, New York 1964; und Shmuel N.
Eisenstadt, The Absorption of Immigrants, Glencoe, Ilt 1955. Immer noch sehr informativ ist
Oscar Handlin, The Uprooted, The Epic Story of the Great Migrations That Made the American
People, New York 1951. Zur Diskussion über die Integration vgl. Herber! A. Strauss (Hg.),
Conference on Acculturation, New York 1965; Eli Krausz (Hg.), Migration, Ethnicity and
Community, New Jersey/New Brunswick 1980.
17 Die Ablösung der Sozialtheorie eines <<Melting Pol>> durch jene einer «Ethnicity>> kann hier
ebenfalls nicht behandelt werden. Aufschlussreich sind einige Studien zu dieser Thematik: Ronald
H. Bayer, Neighbours in Conflict: The Irish, Germans, Jews and Italians ofNew York City, 1929-
1941, Haitimore 1978; Nathan Glazer u. Daniel Patrik Moynihan, The Negros, Puerto Ricans,
Jews, Italians and Irishof New York City, Cambridge 1963; Marshall Skiare u. Joseph Greenblum,
Jewish Identity on the Suburban Frontier, A Study of Group Survival in the Open Society, New
York 1967.
18 Walter Zingg, Soziale Mobilität und Wanderung, Augsburg 1978.
19 AFS: 4800 A 1967/111, Nr. 71, Korrespondenzen zur «Enquete zwecks Vorbereitung einer
späteren Weiterwanderung der Flüchtlinge>>.
20 IMS-Daten kompiliert aus: Aide aux Emigres, Zukunftspläne der Flüchtlinge in der Schweiz, hg.
v. Bertha Hohermuth, Genf 1945; Exemplar in AFS: 4800 A 1967/111, Nr. 71.
21 Siehe z. B. Jüdische Presszentrale v. 8. 7. u. 19. 8. 1938 u. 6. 1. 1939.
22 Siehe Klaus Anderegg u. a., Stand und Aufgaben schweizerischer historischer Wanderungs-
forschung, in: Schweizerische Zeitschrift f. Geschichte, 37, Basel 1987, S. 303-332.
23 Siehe die Berichte des Bundesrates über seine Geschäftsführung in den Jahren 1918ff., dort
jeweils unter EPD, Auswanderungsamt
24 Auf die restriktive Immigrationspolitik als Ausweitung der alten Schutzzollpolitik verwies der am
Genfer Institut für internationale Studien lehrende Wilhelm Röpke, Internationale Ordnung,
Zürich 1945, S. 153ff., der als neoliberaler Geist bei seinen Bemerkungen über das Wanderungs-
problem doch Mühe mit der vollen Freizügigkeit bekundet.
25 Zahlen bei Arie Tartakower u. Kurt R. Grossmann, The Jewish Refugee, New York 1944, S. 348.
Siehe auch A. J. Sherman, Island Refugees from the Third Reich 1933-1939, London 1973,
S. 264f.
26 Genaue Zahlen bietet W. Rosenstock, Exodus 1933-1939, A Survey of Jewish Emigration from
Germany, in: LBI Year Book 1/1956, S. 377. Zu den Perioden siehe Herber! A. Strauss, Jewish
Immigrants of the Nazi Period, S. 154-159.
27 Ludwig, Flüchtlingspolitik, S. 83, übernimmt die von Rothmund geäusserten Befürchtungen.
JDC: # 973, Entwurf Mayer-Report «Refugees in Switzerland>> an Joint v. 5. 1. 1940, S. lf.
28 Margaliot, Emigration, in: Juden im Nationalsozialistischen Deutschland, S. 315.
29 VSJF-Erklärung publ. in: Jüdische Presszentrale v. 8. 7. 1938, S. 8.
30 Ralph Weingarten, Die Hilfeleistung der westlichen Welt bei der Endlösung der deutschen
Judenfrage, Das Intergovernmental Committee on Political Refugees 1938-1939, Bern/Frankfurt/
New York 1981, S. 213-222.
KAPITEL 5 497

31 Jüdische Erwartungen an Evian siehe Jüdische Presszentrale und Israelitisches Wochenblatt in den
Ausgaben v. Juni-Juli 1938. Dort auch VSJF-Erklärung zu Evian (8. 7. 1938).
32 Zu den Kolonialprojekten siehe weiter unten. Amerikanische Kolonialpläne vor dem IGCR vgl.
Henry Feingold, Roosevelt and the resettlement question, in: Rescue attempts during the Holocaust,
Proceeding of the second Yad Vashem International Historical Conference 1974, Jerusalem 1977,
S. 155. Zu den deutschen Projekten siehe Philip Friedmann, The Lublin Reservation and the
Madagaskar Plan, in: YIVO Annual of Social Science 8, New York 1967, S. 167ff.
33 AFS: 2001 D 3, Nr. 263, Bericht Rothmund an Bundesrat v. 11. 8. 1939 u. Nr. 271, Schreiben
Rothmund an Bruggmann v. 20. 10. 1939. Kopie des Rothmund-Berichts zuhanden von Saly
Mayer in JDC # 982. Wenn Rothmund seinen Gesprächspartnern gegenüber ohne Umwege
wörtlich klarmachte, dass alle Flüchtlinge ausnahmslos aus der Schweiz zu emigrieren hätten,
kann man sich vorstellen, wie wenig ernst der forsche Polizeichef von den kühlen Diplomaten
genommen wurde.
34 JDC: # 974, «Unterredung mit Dr. Rothmund>>, undatierte Aufzeichnung (Ende Juli 1938). Die
Empfehlung Rothmunds, sich mit den jüdischen Organisationen in Österreich zu <<verständigen»,
nimmt vermutlich das VSJF-Telegramm vom 19. 8. 1939 an die Wiener Kultusgemeinde vorweg,
das Ludwig, Flüchtlingspolitik, S. 90, erwähnt.
35 ZitiertesAide-Memoire in JDC: #982, 9. Mai 1939. Angeführte Stellen in SIG: DV v. 26. 3. 1939,
Votum v. VSJF-Präsident Sylvain Guggenheim; und Genfer Communique des SIG v. 20. 5. 1939,
mit Appell an Frankreich. Resignierte Haltung auch in Jüdische Presszentrale v. 2. 9. 1938. Vgl.
auch Ludwig, Flüchtlingspolitik, S. 86-94. Frühes Dokument der Wirtschaftskämpfe in Frank-
reich bildet Georges Mauco, LesEtrangersen France, leur röle dans l'activite economique, Paris
1932, S. 145, der namentlich die Konkurrenz aus den Transitländern Schweiz und Belgien anführt.
Allgemein zum Wirtschaftskampf in Frankreich siehe Michael Marrus/R. Paxton, Vichy France
and the Jews, S. 37ff.
36 VSJF, Ein Jahrzehnt Schweizerische Jüdische Flüchtlingshilfe, S. 18ff.
37 Die Lage in der Schweiz, in: Israelitisches Wochenblatt v. 6. 1. 1939 u. ähnlich v. 17. 3. 1939.
38 Bauer, American Jewry and the Holocaust, S. 34. Vertreten waren das JDC, die HICEM, CGJ und
die jüdischen Landesverbände von Frankreich, Polen, Lettland, Ungarn, Deutschland und <<Böh-
men-Mähren» (Tschechoslowakei), Italien, Niederlande, Belgien; besonders verzeichnet waren
Vertreter aus Danzig und Shanghai. Teilgenommen hatten neben Mayer und Guggenheim u. a.
Morris Troperund Joseph C. Hyman (beide JDC), Gertrude van Tijn (Niederlande), Max Gottschalk
(Belgien), Marie Schmolka (Prag), Otto Hirsch (Berlin) und Isaac Giterman (Polen), der in Paris
von seinen Kollegen zum letzten Mal vor seiner Verschleppung in den Tod gesehen wurde.
39 JDC: # 982, <<Aus den Verhandlungen der Pariser Konferenz» v. 22.-23. August 1939; SM-1,
Protokollauszug Pariser Konferenz mit Mayers Rede und Reaktionen von Uvy, van Tijn und
Troper.
40 AFS: 2001 D 2, Nr. 95, Handelsabteilung Zirkular 15 vom 15. 2. 1939.
41 AFS: 2001 D 3, Nr. 267, Bericht Rothmund an Bundesrat v. 10. 8. 1938.
42 JDC: # 982, Kopie Rothmund-Bericht an Bundesrat v. 11. 8. 1939, mit handschriftlichen Eintra-
gungen Mayers. Wörtlich meinte Troper: <<Switzerland can command this organisation (JDC) and
everything will be done.» Mayer notierte sich auch die Codes der Kommunikation zwischen
Rothmund und Troper: R(othmund): <<Überfremdungspolitik, keine riches, nur temporär, nur
transit; T(roper): Schweiz symbol, dammaged goods, prepare for emigration, tun alles Mögliche,
Geld.»
43 VSJF, Ein Jahrzehnt Schweizerische Jüdische Flüchtlingshilfe, S. 23-31. Israelitisches Wochen-
blatt v. 26. 4. u. 10. 5. 1940.
44 YIVO: HHA, 2. section, Nr. 166, Korr. Hicem-VSJF v. 18.-29. 12. 1941.
45 Charles Herbert Stember, The Recent History of Public Attitudes, in: Stember (Hg.), Jews in the
Mind of America, New York 1966, fasst die Daten verschiedener Polis 1940-1944 zusammen und
vergleicht sie mit den wesentlich tiefer ausfallenden Anteilen deutschfeindlicher Meinungen.
AFS: 2001 D 2, Nr. 100, Swissconsul N. Y. an EPD v. 12. 3. 1940.
498 ANMERKUNGEN

46 JDC: # 974, «Refugees in Switzerland» v. 1. 5. 1940, S. 5.; Quelle auszugsweise abgedruckt bei
Picard, Die Schweiz und die Judenfrage, in: Wiehn, Judenfeindschaft, S. 141.
47 SIG: CC v. 19. 11. 1939 (Nachmittagssitzung).
48 Migrationszahlen bei D. Gurevich u. a. (Hg.), Statistkai Handbook of Jewish Palestine, Jerusalem
1947, S. 108. Wirtschaftszahlen bei Ettinger, Geschichte des jüdischen Volkes, hg. v. Hillel Ben-
Sasson, Bd. 3, S. 253.
49 Leitartikel in: Jüdische Presszentrale v. 4. 6. 1937.
50 Für die britische Palästina-Politik siehe Christopher Sy kes, Cross Roads to Israel, Palestine from
Balfour to Bevin, London 1965, S. 126-224. Zur Genesis dieser Politik siehe Bemhard Wasser-
stein, The British in Palestine, The Mandatory Govemment and the Arab-Jewish Conflict 1917-
1929, Oxford 1991. Reaktionen und Konsequenzen für den Jischuw in den weiteren Jahren bei
Yehuda Bauer, From Diplomacy to Resistance, A History of Jewish Palestine 1939-1945,
Philadelphia 1970.
51 Zürcher Kundgebung vgl. Israelitisches Wochenblatt v. 2., 9. u. 23. September 1939. Erinnerungs-
notiz zum Zionistenkongress vom August 1939 in Zürich bietet Z. H. Druckmann, Der letzte
Zionistenkongress vor der Vernichtung, in: Jüdische Rundschau Maccabi v. 25. 8. 1989.
52 S. Adler-Rudel, Jüdische Selbsthilfe unter dem Naziregime 1933-1939 im Spiegel der Berichte
der Reichsvertretung der Juden in Deutschland, Tübingen 1974. Abraham Margaliot, Emigration-
Planung und Wirklichkeit, in: Paucker, Die Juden im Nationalsozialistischen Deutschland, S. 303
bis 316; dazu die hebräische Studie von Margaliot, Die Reaktionen der jüdischen Organisationen
auf die nationalsozialistischen Anfeindungen, Jerusalem 1971.
53 Jon u. David Kimche, The Secret Roads, The <<illegal» Migration ofa people 1938-1948, London
1954. Eine Darstellung aus Sicht der revisionistischen Aktivitäten bietet William R. Perl, The
Four-Front War, From the Holocaust to the Promised Land, New York 1978.
54 AFS: 4800 A, 1967/111, Nr. 15, Lutz an Rothmund v. 17. 1. 1939. Lutz war damals Verweser des
Konsulats. Er erachtete den Plan als kaum realisierbar und verwies Hecht auf Rothmund.
55 AFS: 4800 A 1967/111, Nr. 15, Rothmund an Hecht v. 10. 8. 1939, Kulimann an Rothmund v.
19. 10. 1939. JDC: # 982, Rothmund an Mayer v. 11. 8. 1939, im Anhang Protokoll des Vorgangs
und der Besprechung mit dem französischen Botschafter i. d. Schweiz v. 10. 8. 1939, das auch in
AFS, ebenda, enthalten ist.
56 AFS: 4800 A 1967/111, Nr. 15, Kulimann an Rothmund v. 19. 10. 1939 u. Rothmund an Rüegger
V. 24. 11. 1939.
57 Protokoll und Kopie unpubl. Tatsachenbericht (2. Folge) von Gusli Bornstein, Zürich, beim
Verfasser. CZA: K 14 B/19, Materialien <<Aktion Splügenstrasse>> (Fink-Bornstein). Bei den
Makkabi-Leuten handelte es sich um Jacob Schächter, Fritz Herrenfeld, Paul Ellenbogen sowie
Paul Haller, der revisionistisch gesinnt, aber dem Unternehmen positiv gegenüber eingestellt war.
58 Gusti Bornstein, Aus den Jahren des Unheils, Erinnerung von Zeitgenossen, in: Jüdische Rund-
schau Makkabi v. 24. 9. 1980, S. 2f.
59 ETH: Kolloquium Veit Wyler, Erinnerung eines zionistischen Schweizer Juden, 11. Juli 1990.
60 AFS: 4800 B 1, Nr. 13, Anfrage und Beantwortung Henri Guggenheim, Aarau, v. 29. 4. 1933, der
auf die Kantone verwiesen wird, wobei in Bern die Fremdenpolizei bei Saisonierbewilligungen
günstig gestimmt ist.
61 JDC: # 24, Hechaluz-Bericht v. 10. 12. 1941, S. 18-21. SIG: Dossier <<Umschulung>> 1933-1937,
div. Korrespondenzen mit Schweiz. Zionistenverband u. Palästina-Amt; Vorschläge für Landwirt-
schaftsschuten 1933-34; Tätigkeitsberichte ORT Schweiz Dezember 1943-Mai 1944 und Jahre
1944, 1945, 1946. Israelitisches Wochenblatt v. 20. 4. 1934 (Hachschara-Bewegung und Beth
Hechaluz), 20. u. 27. 6. 1941 und 7. 7. 1944 (Hachschara Bex).
62 Wolfgang Metzer u. Georg Neubauer (Hg.), Der Kibbutz als Utopie, Weinheim/Basel1988, dort
die Beiträge von Metzer, Seeligmann und Fölling über die Utopie, Reformpädagogik und jüdische
Jugendbewegung als Genesen zum israelischen Kibbuz.
63 Siehe Israelitisches Wochenblatt v. 20. 4. 1934, S. 9 (Hachschara).
64 Israelitisches Wochenblatt v. 23. 8. 1946 (Bachad), 22. 11. 1946 (Hechaluz) u. 21. 6. 1946
KAPITEL 5 499

(Schilderung Hachschara Bex). JDC: SM-24, Berichte Weltzentrale Hechaluz, Geneva Office
(Nathan Schwalb), 1941-1946, div. Erwähnungen.
65 Haschomer Hazair Schweiz, Festschrift 1936-1966, Zürich 1966. Es handelt sich um Trans-
migranten. In den fünfzigerJahrengingen die jungen Schweizer selbst mit im Land aufgewachse-
nen und verbliebenen jungen <<Flüchtlingen>> in die Kibbuzim Nir David und Baram. Insgesamt
wird die Zahl von Haschomer-Schweizem auf 120 Personen beziffert.
66 Izchak Schwersenz, Machteret Haluzim beGermania Hanazit, Kibbuz Hameuchat 1969; ders.,
Trotz alledem, Jüdische Jugend im Untergrund, Berlin 1988. Protokollierte mündliche Mitteilung
und Dokumente von I. Schwersenz beim Verfasser. Porträt von Schwersenz in: Israelitisches
Wochenblatt v. 20. 2. 1987.
67 Jüdische Rundschau Makkabi 4/6-9, Juni-September 1945. Das Thema <<Kinder>> wird weiter
unten behandelt.
68 Wemer Feilchenfeld, Dolf Michaelis, Ludwig Pinner, Haavara-Transfer nach Palästina und Ein-
wanderung deutscher Juden 1933-1939, Tübingen 1972.
69 Aufforderungen und Berichte zum Havaara-Transfer via Schweiz in Jüdische Presszentrale v.
12. 11. 1937 u. 1. 4. 1939 und Israelitisches Wochenblatt v. 30. 9. 1938 u. 8. 9. 1939. Zu den
jüdischen Hilfsaktionen von der Schweiz aus siehe in dieser Studie weiter unten.
70 0. G. [Oskar Grün], Juden als Pioniere des Kolonialwesens in der Neuen Welt, in: Jüdische
Presszentrale v. 15. 7. 1938, S. 12.
71 Das Korrespondenzblatt Jüdische Auswanderung des <<Hilfsvereins>> erschien seit September 1936
bei Schmoller & Gordon in Berlin. Von den frühen Publications ofthe American Jewish Historical
Society sind als Beispiele Max J. Kohler, Jewish Activity in American Colonial Commerce, vol.
10, S. 47-64, oder Amold Wiznitzer, The Exodus from Brasil and Arrival, 1654, vol. 44, S. 80-97,
zu nennen. Massgebende Darstellung ist heute Jacob R. Marcus, The Colonial American Jew,
1492-1776, Detroit 1970, die frühere Studien dieses Autors zusammenfasst. Das Buch von Fritz
Heinemann, Der Chevalier von Geldern, Geschichte jüdischer Abenteurer, Amsterdam 1937,
S. 104-181; neu herausgegeben Königstein 1985, mit einer Einleitung von Julius H. Schoeps.
72 Jüdische Presszentrale v. 1. 5. 1939 (Einwanderungsrecht), 8. 12. 1939 (Kanada), 5. 5. 1939
(Ratschläge National Coordinating Committee for Aid to Refugees and Emigrants) u. 7. 7. 1939
(Jewish Theological Seminary).
73 Jüdische Presszentrale v. 8. 12. 1939 und 9. 7.-23. 7. 1939.
74 Jüdische Presszentrale v. 31. 8. 1939, Sondernummer <<The Spirit of America>>, mit Reden und
Aufsätzen von Roosevelt, Innenminister Harold Ickes, Wirtschaftsminister Harry Hopkins, Fi-
nanzminister Morgenthau, N. Y. Bürgermeister La Guardia, Salomon Bloom (Vorsitz
aussenpolitische Kommission des Repräsentantenhauses) und andern, die im Chor vereint erschei-
nen mit den Schweizern Max Huber, Emil Brunnerund William Rappard.
75 Jüdische Presszentrale v. 15. 7. 1938 (Grün-Plan), 25. 11. 1938 u. 1. 5. 1939 (Alaska).
76 Siehe die entsprechenden Jahrgänge im Israelitischen Wochenblatt, das die Aussichten in Übersee
vorsichtiger einschätzte als die Jüdische Presszentrale, die dafür Palästina als Zielland weniger
favorisierte.
77 Zusammenstellung der geplanten Massensiedlungen bei Herber! A. Strauss, Jewish Immigrants
during the Nazi Period, S. 241-244.
78 Emigrations- und Reise-Nachrichten, l.Jg., Zürich 1920, mit nur fünf Ausgaben.
79 JDC: # 1042, Faller an Mayer v. 15. 6. 1943, mit Rückblick auf die Tätigkeiten des Zürcher
Hilfsvereins. Artikel und verschiedene Aufrufe in Israelitisches Wochenblatt v. 8. 4. und 30. 12. 1938.
80 Siehe oben im Kapitel über HICEM und VSJF. Für die Schweiz und den komparativen Aspekt vgl.
den Forschungsbericht zu <<Stand und Aufgaben schweizerischer Historischer Wanderungs-
forschung>> in: Schweizerische Zeitschrift f. Geschichte, 37/1987, bes. S. 323-330.
81 SIG: Dossier <<Kolumbien>>, Projekt J. Cesar, St. Immier, mit <<Rapport sur le problerne de
l'emigration juive>> v. 4. 12. 1933; Dossier <<Missiones>> von Fuchs, St. Gallen 1933/34; dazu eine
Reihe weiterer Dossiers über amerikanische und afrikanische Landprojekte.
82 AFS: E 7110, 1967/32, 370. 0. 5, Expose <<Haiti>> von Seligmann & Co, Basel, v. 3. 8. 1939; EVD,
500 ANMERKUNGEN

Handelsabteilung, Hotz an Rothmund v. 5. 9. 1939.


83 AFS: 2001 D 3, Nr. 271, Generalkonsulat Bogota an EPD v. 29. 9. 1938.
84 JDC: SM-1, Konferenz im Bundeshaus Bern v. 11. 2. 1940; Agro-Joint, Socobo-Bolivia, Reports
1941-44; dazu Bauer, American Jewry, S. 201. SIG: Dossier <<Auswanderungsprojekt Bolivien>>,
Memorandum Maccabi World Union v. 14. 9. 1939; Expose «Bolivien>>, ohne Datum.
85 SIG: Dossier «Auswanderungsprojekt Bolivien>>, Korrespondenzen VSIA und Aide aux Emigres
v. 13.-20. 12. 1938. Bolivien-Artikel in Israelitisches Wochenblatt v. 18. 11. 1938.
86 AFS: 2001 D 3, Nr. 271, diverse Korrespondenzen v. 30. 11. 1938 bis 20. 4. 1940; besonders
Guggenheim an Rothmund v. 30. 11. 1938, Note v. 24. 1. 1939, Stucki an EPD v. 18. 4. 1939,
Generalkonsulat an EPD v. 2. 11. 1939 (mit «Riegler-Plan>>) und 20. 4. 1940. Die entsprechenden
Akten in AFS: 4800 B (Fremdenpolizei) unter 11/25-30 sind dort ausstehend.
87 AFS: 2001 D 3, Nr. 271, Auswanderungsamt an Rothmund v. 15. 2. 1940. YIVO: Hias, serie I,#
174, Hicem an VSJFv. 8. 2. 1940mit der Expertise Bernardo Saphir, Buenos Aires, v. 18. 9. 1939.
88 YV: M 20/11-14, Korrespondenz Silberschein-Recha Freierv. 27. 2. bis 9. 5. 1940.
89 Mark Wischnitzer, The Historical Background of the Settlement of Jewish Refugees in Santo
Domingo, in: Jewish Social Studies, IV/1, 1942. Ebenso Bauer, American Jewry, 1981, S. 199ff.
90 YIVO: Hicem, 2. section, Nr. 201, «San Domingo>>, mit zahlreichen Bewertungen. AFS: 2001 D
3, Nr. 271, Korrespondenzen Schweizer Gesandtschaften Madrid (29. 7. 1940), Washington
(3. 1. 1941) und Vichy 82. 10. 1940) mit EPD. JDC: # 974, Rothmund an Tropper v. 10. 8. 1941.
91 AFS: 2001 D 3, Nr. 271, Rothmund an Stucki v. 2. 10. 1940. Das unpublizierte Typoskript
Wagners in LBI: ME-Wagner, «Wohin gehen wir?», 11 Seiten. Zur HICEM und DORSA siehe
Wischnitzer, Visas to Freedom, 1956, S. 184. Briefe in: DerTransmigrant 1, Juli 1941, S. 7f.
92 Neue Zürcher Zeitung v. 1. /2. März 1980, Dominikanische Variationen eines «verheissenen
Landes>>, Reisen im ehemaligen «Klein-Spanien>>.
93 Robert Weisbrot, The Jews of Argentina, Philadelphia 1979, bes. S. 36-49; Howard M. Sachar,
Diaspora, New York 1985, S. 279ff.
94 K. Zbinden, Die schweizerische Auswanderung nach Argentinien, Uruguay, Chile und Paraguay,
Affoltern a. A. 1931; J. Schobinger, Immigraci6n y colonizaci6n suizas en Ia Republica Argentina
en el siglo XIX, Buenos Aires 1957; F. Schneiter, Die schweizerische Einwanderung in Chile,
Bem 1983.
95 AFS: 4300 B 1, Nr. 13, Vischer (SZF) an Rothmund v. 16. 7. 1938.
96 Jacob Katz, Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft, Jüdische Emanzipation 1770-1870,
Frankfurt 1986, S. 195-210. Sirnon Kusnetz, Economic Structure and Life of the Jews, in: The
Jews, Their History, Culture and Religion, hg. v. Louis Finkelstein, Philadelphia 1960, Bd. 2,
S. 1597ff. Für die später als andernorts einsetzende Entwicklung in der Schweiz siehe Ralph
Weingarten, Gleichberechtigt in die neue Zeit, in: Guggenheim, Juden in der Schweiz, S. 54-66.
97 Uri Robert Kaufmann, Swiss Jewry, in: LBI Yearbook 30, S. 294. Avraham Barkai, Die Juden als
sozio-ökonomische Minderheitsgruppe in der Weimarer Republik, in: Waller Grab u. J. H.
Schoeps (Hg.), Juden in der Weimarer Republik, Stuttgart/Bonn 1986, S. 330-346. Wladislaw
Bartoszewski, Uns eint vergossenes Blut, Juden und Polen in der Zeit der «Endlösung>>. Frankfurt
1987, S. 17ff.
98 Heinrich August Winkler, Die deutsche Gesellschaft und der Antisemitismus, in: Bernd Martin u.
Ernst Schulin, Die Juden als Minderheit in der Geschichte, S. 271-289.
99 Carl Brüschweiler, Beruf und Konfession in der Schweiz, Artikel «Gibt es eine Judenfrage in der
Schweiz>>, in: National-Zeitung v. 17. 11. 1938; auszugsweise bei Jacques Picard, Die Schweiz
und die «Judenfrage>>, in: Erhard R. Wiehn, Judenfeindschaft, S. 133. Jüdische Aufnahme der
Brüschweiler-Schrift in: Israelitisches Wochenblatt v. 2. 12. 1938.
100 SIG: Dossier BIF, Korrespondenz zwischen BIGA, Mayer und Sophie Abraham v. 24. 1. u. 22. 2.
1935. Der BIF entsprach dem BIGA-Wunsch an seiner Sitzung v. 19. 2. 1935. Zitierte Stelle aus
Jüdische Presszentrale v. 26. 6. 1936, Artikel «Neue Ausbildungsmöglichkeiten>> von Eisa Braun-
schweig, ElF-Sekretärin.
101 ElF-Propaganda für hauswirtschaftliche Ausbildung siehe in Jüdische Presszentrale v. 26. 6. 1936.
KAPITEL 5 501

Carl Brüschweiler, Beruf und Konfession, S. 7. Rothmund-Schreiben in AFS: 2001 D 1, Nr. 95,
Kreisschreiben v. 21. 6. 1938.
102 Zit. Artikel von Pranz Bloch in Jüdische Presszentrale v. 15. Juni 1934; und v. 9. 6. 1939
(<<Handwerk und Technik im jüdischen Schicksal>>).
103 Zahlen und Tätigkeitsbericht aus den ersten beiden Jahren siehe in Jüdische Presszentrale v. 24. 1.
1936. In den Jahren 1936-1939 vermittelte der SIG hauptsächlich Stellungen für jüdische Rück-
wanderer aus dem Ausland (siehe oben im Kapitel über die Schweizer Juden in Deutschland und
Frankreich).
104 Artikel <<Selbsthilfe» und <<Land» von Wilhelm Graetz in Jüdische Presszentrale v. 17. u. 24. 3. 1939.
JDC: # 972, Memorandum v. 20. 6. 1939.
105 JDC: # 972, Bericht VSJF über Unterredung mit Morris Troper, Oktober 1939, Anlage 2.
106 Foto-Bericht Fredy Mayer in: Jüdische Presszentrale v. 1. 4. 1939.
107 AFS: 2001 D 3, Nr. 484, Eingabe SZF v. 22. 12. 1939 u. Antwort EJPD v. 10. 1. 1940. Ludwig,
Flüchtlingspolitik, S. 177-180, und Häsler, Das Boot ist voll, S. 253-287.
108 SIG: JUNA, <<Zur Behandlung der in die Schweiz aufgenommenen Flüchtlinge», 4/1 v. 2. 9. 1955,
s. 22.
109 Ein solches Dokument eines antisemitischen Zwischenfalls und der Reaktion bei den Arbeitern
siehe bei Picard, Die Schweiz und die <<ludenfrage», in: Wiehn, Judenfeindschaft S. 157-161.
110 Siehe Neue Zürcher Zeitung und Basler Nachrichten v. 24. 2. 1942. '
111 Programmatische Kritik am Lagersystem bot zunächst aus katholischem Verständnis Charles
Journet, in: Nova et Vetera, Revue catholique pour Ia Suisse Romande, 18/4, Oktober/Dezember
1943; dann Hans Zbinden, Der Flüchtling und die Humanität, Kulturschriftenreihe des
Artemisverlag, Nr. 7, 1945. Im weiteren Gesundheit und Wohlfahrt, hg. v. Schweiz. Gesellschaft
für Gesundheitspflege, Februar 1944. Kritik an der Person von Flüchtlingskommissar Ulrich
Wildbolz, der zu den Mitunterzeichnern der <<Eingabe der Zweihundert» gehörte, in: National-
Zeitung v. 18. 1. 1945.
112 Berner Tagwacht v. 6. u. 24. 11. 1943; Die Tat v. 11. 11. 1943; National-Zeitung v. 26. 2. 1941;
Burgdorfer Tagblatt v. 27. 2. 1944. Israelitisches Wochenblatt v. 20. 10. 1943.
113 Ludwig, Flüchtlingspolitik, S. 304. Zentralleitung der Heime und Lager, Bericht, dem Bundesrat
im Februar 1950 erstattet, S. 94.
114 Otto Zaugg, Schulung, Umschulung und Weiterbildung von Flüchtlingen, in: SZF, Flüchtlinge
wohin?, Zürich 1945, S. 158-172.
115 Leon Shapiro, History of ORT, S. 204f.; und Ludwig, Flüchtlingspolitik, S. 228ff.
116 Häsler, Das Boot ist voll, S. 255 (Brunschvig). Bauer, American Jewry and the Holocaust, S. 243,
und Shapiro, The History of ORT, S. 221.
117 Musee d'Art et d'Histoire de Geneve, Exposition internationale de !'ORT, 75 ans au service de
I'education professionnelle, Genf 1955 (Katalog der Ausstellung v. 26. 6.-K 7. 1955). Abbildung
des ORT-Diploms bei Paul Alexandre, <<L'Union ORT et l'organisation future du monde», in:
Suisse contemporaine, Oktober 1945 (Separatum Lausanne 1945), und auch in: Israelitisches
Wochenblatt v. 19. 12. 1944.
118 Alle Angaben aus SIG: Dossier Ort 1943/49, Tätigkeitsberichte und Verzeichnisse der Institutio-
nen des Ort Suisse 1943-1949. Überblick in ORT-Union, 80 ans de !'Ort, Pages d'histoire et
document, Genf 1960, S. 62f. Israelitisches Wochenblatt v. 25. 8. u. 17. 11. 1944 sowie v.
13. 5. 1949. Ein Bericht über die Schweiz 1943-1946 auch im Jahresbericht des British ORT, The
ORT Union and its Work, London 1946.
119 JDC: # 974, Korrespondenz SIG mit von Steiger v. 12. 7. 1943. SIG: Dossier Ort 1943/47,
Korrespondenz Syngalowski-Braunschweig v. Mai-September 1943.
120 SIG: Dossier Ort 1943/47, Halbjährlicher Tätigkeitsbericht Ort Suisse, November 1943 bis Mai
1944, mit Resurne zur Entstehung in der Schweiz. Dem Zentralkomitee gehörten in breitem Mass
Honoratioren und führende Personen des SchweizerJudentums an, in der Genfer Exekutive findet
sich eine merkwürdige Mischung aus bürgerlichen und bundistischen Vertretern, nämlich Liebman
Hersch, Boris Tschlenoff, Paul Guggenheim, Adolphe Neumann, Paul Dreyfus de Gunzburg.
502 ANMERKUNGEN

121 Israelitisches Wochenblatt v. 26. 11. 1943 (Gründungsversammlung ORT Suisse), v. 10. 11. 1944
(zit. 1. Jahresversammlung, <<Hilfe durch Arbeit>>) und v. 17. 11. 1944 (<<Ort macht Schule>>).
122 Israelitisches Wochenblatt v. 22. 8. 1941 (<<Ein Jahr Arbeitslager, und was nun?>>) und v. 7. 11.
1941 ( <<Reformvorschläge>> ).
123 ZHSA: Protokolle Kantonsrat v. 15. 4. 1946, Interpellation 1870, von Paul Wieser, und Regie-
rungsrat, Sitzung v. 13. 6. 1946.
124 In Memoriam of Dr. A. Syngalowski, in: ORT-Chronicle, Genf, Oktober 1956, mit Auszügen aus
Syngalowskis vielen Vorträgen in der Schweiz. Aron Syngalowski, Bread, Satisfaction and
Human Dignity, Geneva 1952.
125 Israelitisches Wochenblatt v. 28. 3. u. 19. 12. 1941. Der WJC in Genf nahm dabei die Anregungen
seines eigenen Institut for Jewish Affaires in London auf, in dessen Advisory Council Paul
Guggenheim sass.
126 Bericht von Richard Lichtheim in: Study group for post-war Refugee problems, First series of
documents, March 1944. SIG, Jüdische Nachkriegsprobleme, Bericht der Kommission für Nach-
kriegsprobleme, Zürich/New York 1945 (Verlag Die Gestaltung).
127 Ludwig, Flüchtlingspolitik, S. 330-337, über das Flüchtlingswesen nach dem Krieg. Erblose
Vermögen in SIG: Jahresberichte 1946-1964 und 1975. Vgl. auch Paul Guggenheim, Die erblosen
Vermögen in der Schweiz und das Völkerrecht, in: SIG, Festschrift, S. 107-129. Die Frage der
Vermögen von Opfern des Zweiten Weltkrieges wurde per Bundesbeschluss v. 1. 9. 1963
abschliessend geregelt, wobei insgesamt von den Banken u. a. nur ein kleiner Betrag gemeldet und
eingefroren wurde (vgl. dazu Anm. 207 in diesem Kapitel). Das komplexe Problem ist zuletzt
wieder 1988 durch eine Forderung der Jewish Agency in den Raum gestellt worden; siehe dazu
Jüdische Rundschau Maccabi v. 7. 7. 1988. Früheste Hinweise in der jüdischen Welt siehe im
American Jewish Year Book, Bd. 48, 1946/47, S. 299ff.
128 Thomas Albrich, Exodus durch Österreich, Die jüdischen Flüchtlinge 1945-1948, Innsbruck
1987.
129 Thomas Koebner u. Erwin Rotermund (Hg.), Rückkehr aus dem Exil, Emigranten aus dem Dritten
Reich in Deutschland nach 1945, Marburg 1990, widmen sich vor allem der Remigration von
Intellektuellen und Künstlern. Zum polnischen Antisemitismus siehe Mare Hillel, Le massacre des
survivants en Pologne 1945-1947, Paris 1985.
130 Heinz Roschewski, Rothmund und die Juden, Eine Fallstudie des Antisemitismus in der schweize-
rischen Flüchtlingspolitik 1933-1957, Universität Bern 1989 (Historisches Seminar, ungedr.
Arbeit), S. 45-54. Referate von Rothmund und Jezler, in: SZF, Flüchtlinge wohin?, S. 140-157.
131 Stenografische Bulletins, Nationalrat, Interpellation Escher v. 5. 10. 1944, betr. Aus- und Rück-
wanderungen. Zu den Flüchtlingsdebatten siehe Ludwig, Flüchtlingspolitik, S. 303 u. 315ff.
132 AFS: 4800 A 1967/111, Nr. 68, EJPD an EPD v. 13. 2. 1946, zuhanden Gesandtschaft in
Washington. <<Einräumung eines Mitspracherechts>> siehe Ludwig, Flüchtlingspolitik, S. 303-308.
Zum Konflikt Washington-London betreffend Juden und Palästina vgl. die neue Studie von
Konrad W. Watrin, Machtwechsel im Nahen Osten, Grossbritanniens Niedergang und der Auf-
stieg der Vereinigten Staaten 1941-1947, Frankfurt 1991. Britische Politik um die Nachkriegs-
flüchtlinge siehe Sykes, Crossroads to Israel, Palestine from Balfour to Bevin, S. 315-371.
133 Schweizerische Zentralstelle für Flüchtlingshilfe (Hg.), Flüchtlinge wohin? Bericht über die
Tagung für Rück- und Weiterwanderungs-Fragen in Montreux, Zürich 1945.
134 AFS: 4001 C 1, Nr. 260, 2. und 3. Sitzung der Eidgenössischen Sachverständigenkommissionen
für das Flüchtlingswesen v. 2. 10. 1944 u. 24. 1. 1945; Oprecht an von Steiger v. 9. 11. 1944;
Rothmund an von Steiger v. 13. 11. 1944.
135 VSJF: GY v. 22. 10. 1944; vgl. auch Israelitisches Wochenblatt v. 27. 10. 1944.
136 SZF, Flüchtlinge wohin?, S. 106-108, 196 u. 287-292.
137 Siehe Eduard Steiner, <<Schaffung einer Flüchtlingsvertretung und Vorschläge zur Gestaltung>>, in:
SZF, Flüchtlinge wohin?, S. 84-87. Guggenheims Referat dort S. 114-129; und Entgegnung
Jezler S. 147-158.
138 Texte und Telegramme im Wortlaut vgl. SZF, Flüchtlinge wohin?, S. 261ff.
KAPITEL 5 503

139 Israelitisches Wochenblatt v. 9. 3. 1945. Der Beginen, Nm. 2 u. 3, Februar u. Mai 1945.
140 Siehe die beiden Artikel von Jean-Ciaude Favez, Le prochain et Je lointain, L'accueil et l'asile en
Suisse au printemps 1945, und Andre Lasserre, Les refugies de Bergen-Belsen et Theresienstadt,
ou les deboires d'une politique d'asile en 1944-1945, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschich-
te, 1988, S. 390-402, und 1990, S. 307-317.1n der jüdischen Presse 1945-1947, besonders in der
Jüdischen Rundschau Maccabi, wurde vor allem die zionistische Option befürwortet, der aber nur
ein Teil dieser Flüchtlinge aus Bergen-Belsen und Theresienstadt gefolgt sind. Ergänzend vgl.
American Jewish Year Book, Bd. 47, 1945-46, S. 386f., mit der Kritik, dass <<the Swiss authorities
are anxious to have all refugees repatriated as speedily as possible».
141 Israelitisches Wochenblatt v. 9. 3. 1945 und folgende Ausgaben. Jüdische Rundschau Maccabi,
Nr. 4/5, April/Mai 1945.
142 Israelitisches Wochenblatt v. 23. 3. (WJC), 6. 4. u. 18. 5. 1945. Über die Grenzen, Nr. 4 u. 12,
Februar 1944/0ktober 1945. Der Beginen, Nm. 2 u. 3., Februar u. Mai 1945. Erinnerungen
Mayers vgl. Hans Jürgen Schultz (Hg.), Mein Judentum, Berlin/Stuttgart 1980.
143 Neue Zürcher Zeitung v. 28. 2. 1945; Volksrecht v. 1. 3. 1945; Israelitisches Wochenblatt v. 23. 2.
u.2.3. 1945.
144 Nach Kubowitzki (WJC) kamen bis Ende 1946 folgende Repräsentanten in die Schweiz: Harry
Goodmann (Generalsekräter der Agudas Israel Weltorganisation), Gad Frumkin (Oberrichter des
jüdischen Palästina), Amram Blum, Jerusalemer Oberrabbiner und Izchak Herzog, Oberrabbiner
von Palästina (beide durch den Misrachi) sowie zweimal Nahum Goldmann (WJC). Weitere
Organisationen (OSE, HJCEM) und ideologiegebundene Bewegungen wie die Poale Zion Hitachdut
oder der Haschomer Hazair brachten ihre Redner in die Schweiz. Besonders beeindruckt haben die
jüdische Öffentlichkeit Israel Szklar und Chasia Bielicka, ehemals Partisanen in Polen und
linkszionistische Aktivisten.
145 Israelitisches Wochenblatt v. 4. u. 18. 10. 1946; vgl. auch Baecks Artikel <<Das Judentum>> in:
Jüdische Presszentrale v. 22. 12. 1933.
146 SIG: DV v. 11. 5. 1945 sowie Jahresbericht 1945. Zionistische Kritik am SJG in: Jüdische
Rundschau Maccabi 4/5, 1945.
147 Basler Nachrichten v. 17. 9. 1944 und Israelitisches Wochenblatt v. 22. 9. 1944. Oeri sprach an der
Basler Kundgebung für die Sammlung ftir die Flüchtlinge.
148 Verschiedene Aussagen in diesem Sinne in: Über die Grenzen und Der Beginen, Dezember 1944-
Mai 1945.
149 VSJF: Tätigkeitsbericht 1945, S. 23ff.
150 Zur ausländischen Emigrantenpresse vgl. Anonymus, Die Presse der Emigration und die Schweiz,
in: Schweiz. Monatshefte, Mai 1939, S. 90-108. Das Blättchen der polnischen Militärinternierten
hiess Goniec Obozwowy (Feldkurier), jenes der Franzosen Journal des Internes; dazu Bericht in
der National-Zeitung v. 27. 9. 1940.
151 Attesa, März bis September 1944, der italienischen Flüchtlinge; Marking Times, ab Mai 1944 im
Camp d'Evades in Sirnach verlegt und in Solothurn gedruckt, für die britischen Internierten.
152 Peter Stahlberger, Der Zürcher Verleger Emil Oprecht, Zürich 1970; dazu ein Porträt von Maja
Wicki über Emmie Oprecht, Neunzig Jahre gelebtes Leben, in: Das Magazin, 1/1989. Im Oprecht
eigenen Verlag <<Die Gestaltung» wurde auch der Bericht des SIG, Jüdische Nachkriegsprobleme,
1945, publiziert. Zur deutschen Exilliteratur in der Schweiz allgemein vgl. Hans Albert Walter,
Deutsche Exilliteratur 1933-1950, Bd. 3, Internierung, Flucht und Lebensbedingung im Zweiten
Weltkrieg, Stuttgart 1988.
153 H. B.-Nachrichten, Nm. 1-5, 1939-40. Zitierte Stelle in Nr. 4, Februar-März 1940, Artikel
<<Fürsorge und Hilfsbedürftige: Freunde oder Feinde?». Die Aufnahme des <<Hasenbergers» in der
jüdischen Presse der Schweiz war äusserst freundlich; vgl. Israelitisches Wochenblatt v. 26. 4.
1940.
154 Der Transmigrant, Nachrichten aus den Arbeitslagern für Emigranten, Nr. 1, Juli 1941, und
Lagerstimme, Mitteilungsblatt der Emigranten in den Arbeitslagern der Schweiz, Nr. 2, November
1941; zitierte Stelle S. 6.
504 ANMERKUNGEN

155 Die Arche, hg. v. Amold Künzli, Februar 1940; nachweisbar in ETH: Archiv Hermann Levin
Goldschmidt, mit relevantem Briefwechsel dazu zwischen Goldschmidt, Jungk und Weiss. Der
Übername <<Flaschenpost>> ist nur eine in dieser Korrespondenz mit Goldschmidt verwendete
Bezeichnung der Arche; dazu Guy Stern, German-Jewish and German-Christian Writers,
Cooperation in Exile, in: The Jewish Response to German Culture, hg. v. Jehuda Reinharz u.
Waller Schatzberg, Hanover/London 1985, S. 153.
156 <<Rückblick auf ein Jahr», in: Über die Grenzen, 12, Oktober 1945. Früh oder nach Erscheinen
begrüsst wurde Über die Grenzen durch die linke Schweizer Presse, z. B. Thurgauer Arbeiter-
zeitung v. 5. 12. 1944, und die flüchtlingspolitisch offene Basler Presse, z. B. Basler Nachrichten
v. 12. 1. 1945. Die Neue Zürcher Zeitung v. 31. 1. 1946 würdigte dann nach 14 erschienenen
Nummern den <<Abschied» der Flüchtlingszeitung. Die Rezeption im Ausland vgl. Aufbau, New
York, v. 25. 5. 1947.
157 Der Beginen, Nm. 1-3, Dezember 1944-Mai1945. Die nachgelassenen Materialien der Beginen-
Redaktion befinden sich in BUND: S 1-89, Mendel-Gliksman-Paper, diverse Korrespondenzen
Gliksman mit Hersch, Bertha Hohermuth, Paul Birnbaum, Robert Meyer u. a.; Protokolle der
Sitzungen des SZF-Freizeitausschusses November 1944-März 1945.
158 Unser Wort, Nr. 1, o. 0. August 1944, und Das Wort, Nr. 2-4, Genf 1944-45; Exemplare in SIG:
Dossier <<Flüchtlingszeitungen».
159 Rafael Ryba: Zur Judenfrage nach dem Krieg, Zionismus oder Judentum in der Völkergemeinschaft?,
Aarau 1944. Kritik an Ryba und Vorträge in Bourrignin in: Israelitisches Wochenblatt v. 25. 2.
1944 u. 5. 1. 1945.
160 Für einen Einblick in diese Thematik vgl. Dominique Schnapper, Juifs et lsraelites, Paris 1980.
Als Manifest der intellektuellen Diaspora-Kultur siehe Richard Marienstras, Etre un peuple en
Diaspora, Paris 1975. Biografisch orientierte Darstellung bietet Judith Friedlander, Vilna on the
Seine, Jewish lntellectuals in France since 1968, New Haven/London 1990.
161 Norbert Weldler, Sieg des zionistischen Gedankens, Die Lösung der Judenfrage, Zürich 1945
(Jüdische Buch-Gemeinde).
162 Materialien in AFS: 4800 A 1967/111, Nr. 71. Vgl. dazu Bemerkungen von Bertha Hohermuth in
SZF, Flüchtlinge wohin?, S. 55.
163 Zur Forschungslage siehe Jan Foitzik, Politische Probleme der Remigration, in: Exilforschung,
Ein internationales Handbuch, Bd. 9, Exil und Remigration, München 1991, S. 105-114.
164 Zum Dauerasyl und zur Niederlassungsbewilligung für Schriftenlose siehe Ludwig, Flüchtlings-
politik, S. 330-352. Jüdische Zahlen und Positionen in SIG: Jahresberichte 1947ff., und SIG,
Festschrift, S. 4 7ff.
165 Ludwig, Flüchtlingspolitik, S. 330-340; zit. Kreisschreiben der Fremdenpolizei, S. 339.
166 Revue Juive de Geneve 40, Juli 1936. Es handelt sich um eine Umfrage bei zahlreichen geistigen
und politischen Repräsentanten über <<Schicksal und Zukunft der jüdischen Flüchtlinge». Unter
den vielen ausgewählten Professoren, Literaten, Philosophen und Politikern, die hier ihre <<Welt-
meinung» kundtaten, figurieren auch einige Exilliteraten und prominente Flüchtlinge, zum Bei-
spiel Alfred Döblin. Unter den 80 Antworten finden sich auffällig viele Berner Universitäts-
professoren. Die Umfrage ist mit Blick auf die damals bevorstehende Gründung des Jüdischen
Weltkongresses zu verstehen.
167 Aide aux Emigres, Zukunftspläne, S. 32-43. SZF, Enquete 1946, S. 17-21. Vergleichbare Werte
finden sich in einer Nachtragserhebung zu den beiden Enqueten.
168 Wemer Röder u. Herbert A. Strauss, Biografisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration
nach 1933, München 1981, Bd. 2, S. XXXXIX.
169 Aide aux Emigres, Zukunftspläne, S. 41, mit Zahlen S. 73.
170 Osteuropäische Juden siehe Rache! Ertel, Les Juifs d'Europe orientale en France, in: Les Langues
d'origine etrangere, hg. v. Gilles Verbunt, Bd. 2, Paris 1985, S. 88. Für Wanderungsstatistiken vgl.
Doris Bensirnon u. Sergio della Pergola, La Population juive de France, Socio-demografie et
identite, Paris 1986, S. 36ff. mit Emigrationszahlen von Frankreich nach Palästina/Israel für die
Jahre 1944-1960.
KAPITEL 5 505

171 Aide aux Emigres, Zukunftspläne, S. 84.


172 AFS: 4800 A 1967/111, Nr. 15, Aktennotiz Rothmund über Gespräch mit Fritz Ullmann (Mitar-
beiter der Zionistischen Organisation) v. 13. 10. 1947; zit. nach Roschewski, Rothmund und die
Juden, S. 49ff., mit Hinweis auf uneiWünschte Rückkehren oder Einreisen von israelischen
Staatsbürgern in die Schweiz.
173 AFS: 4800 A 1967/111, Nr. 37, und SIG: DV v. 30. 5. 1946, beide mit Materialien zur Kinder-
kontroverse. Ludwig, Flüchtlingspolitik, S. 334-336. Aide aux Emigres, Zukunftspläne, S. 94-98.
Israelitisches Wochenblatt v. 25. 5., 17. 8. u. 7. 9. 1945; Jüdische Rundschau Makkabi ~9, Mai
bis September 1945; Information de Palestine, Nm. 165-186, Aprii1945-Mai 1946.
174 Die Ausländerquote in einzelnen Jahren betrug jeweils 45,5% (1930), 47,1% (1941), 43,8%
(1950) und 40,0% (1960). Niedergelassene Flüchtlinge und Dauerasyl siehe VSJF, Jahresberichte
(SIG), 1947-1964. Vgl. Hans Guth, Die Juden in der Schweiz im Spiegel der Bevölkerungs-
statistik, in: SIG, Festschrift, S. 85-107; und Daniel Löwinger, Statistisches über die jüdische
Bevölkerung in der Schweiz, in: Das Neue Israe11/1965.
175 Siehe die biografisch aufschlussreiche Dokumentation «Heimat Zürich>> von Hermann Levin
Goldschmidt, Jüdisches Ja zur Zukunft der Welt, Schaffhausen 1981, S. 161-173.
176 JDC: SM-4, Bericht v. 25. 9. 1942 (Bachmann); und File# 51, Refugees in Switzerland, Rothmund-
Troperv. 10. 8. 1941.
177 Die Literatur über Roosevelt und die Juden zeichnet in mehrerer Hinsicht ein zunehmend negati-
ves Bild: Henry L. Feingold, The Politics of Rescue, The Roosevelt Administration and the
Holocaust 1938-1945, New York 1970; David S. Wyman, Das uneiWünschte Volk, Amerika und
die Vernichtung der europäischen Juden, München 1986; Deborah E. Lipstadt, Beyound Belief,
The American Press and the Coming of the Holocaust 1933-1945, New York 1986; Richard
Breitmann u. Alan M. Kraut, American Refugee Policy and European Jewry 1933-1945,
Bloomington, Ind., 1987. Ebenso aufschlussreich ist eine frühere Studie von Charles Herber!
Stember, Jews in the Mind of America, New York 1966.
178 Siehe Tanner, Bundeshaushalt, Währung und Kriegswirtschaft, S. 3~0.
179 Als Überblick vgl. Bourgeois, Le Troisieme Reichet Ia Suisse, und ders., Les relations economiques
germano-suisses 1939-1945, in: Revue d'histoire de Ia deuxieme guerre mondiale, 121, Januar
1981, S. 49-61. Mare Perrenoud, Banquesetdiplomatie suisses a Ia fin de Ia Deuxieme Guerre
mondiale, Politique de neutralite et relations financieres internationales, in: Studien und Quellen
13/14, Bern 1988, S. 7-128. Werner Rings, Raubgold aus Deutschland, Die Golddrehscheibe
Schweiz im Zweiten Weltkrieg, Zürich 1985; dazu auch W. A. Boelcke, Zur internationalen
Goldpolitik des NS-Staates, Ein Beitrag zur deutschen Währungs- und Aussenwirtschaftspolitik
1933-1945, in: Martin Funke (Hg.), Hitler, Deutschland und die Mächte, Materialien zur
Aussenpolitik des Dritten Reiches, Düsseldorf 1977. Ein Beispiel für eher beschwichtigende
Darstellung bietet Jean Hotz, Handelsabteilung und Handelspolitik in der Kriegszeit, in: Die
schweizerische Kriegswirtschaft 1939-1948, Bem 1950, S. 53-107.
180 Im folgenden beziehe ich mich auf Marco Durrer, Die schweizerisch-amerikanischen Finanz-
beziehungen im Zweiten Weltkrieg, Bem 1984. Weitere Aspekte bei Paul Erdman, Swiss-American
Economic Relationships, Their Evolution in a Era of Crisis, Basel 1959; und Heinz K. Meier,
Friendship under stress, U.S.-Swiss relations 1900-1950, Bern 1970.
181 Herber! Agar, The Saving Remnant, An Account of Jewish Survival, New York 1960; Yehuda
Bauer, American Jewry and the Holocaust, 1981, bes. S. 217-234.
182 VSJF: Bericht über die Israelitische Flüchtlingshilfe der Schweiz 1938, S. 4ff. JDC: # 1003, GV
VSJF V. 2. 4. 1939.
183 ZSHA: Regierungsrat des Kantons Zürich v. 21. 11. 1940 (dazu siehe oben Darstellung der
Motion Pestalozzi). JDC: # 983, Mayer an Armand Dreyfus v. 26. 11. 1940, mit Hinweis auf die
Art und Weise, wie diskret Druck ausgeübt wurde (<<Für die Situation bezeichnend ist, wie durch
Reg. Rat. Dr. Briner gemeldet wird, eine Diskussion im Zürcher Regierungsrat vom 21. Nov., in
welcher der Fianzdirektor dem Rat mitteilte, dass bereits 1/3 des jüdischen Steuerkapitals des
Kantons abgewandert sei und dass infolgedessen zu befürchten sei, dass die Flüchtlinge Kantonen
506 ANMERKUNGEN

und Bund zur Last fallen werden>>).


184 SZF: Sitzung v. 4. 3. 1940; dazu Häsler, Boot ist voll, S. 238f., mit zwei mündlichen Belegen.
Baumann siehe in: Stenografische Bulletins, Nationalrat v. 7. 12. 1938. Ludwig, Flüchtlings-
politik, 1957, S. 272. Zitierte Rothmund-Rede v. 23. 1. 1940 in: VSJF, Ein Jahrzehnt Schweizeri-
sche Jüdische Flüchtlingshilfe, S. 19.
185 SIG: CC v. 18. 8. 1938; Rundschreiben an die SIG-Gemeinden v. 19. 8. 1938; dazu Aufruf im
Israelitischen Wochenblatt v. 26. 8. 1938.
186 AFS: 4260 C, 1969/146, Nr. 6, Polizeidirektorenkonf. v. 17. 8. 1938 sowie Pressemitteilung v.
19. 8. 1938.
187 SIG: DV v. 26. 3. 1939; ebenfalls erwähnt in JDC: # 974, The Refugees in Switzerland, Mayer-
Report v. 15. 1. 1940. Siehe dazu auch AFS: 4001 B, 1970/187, Nr. 6, <<Mitteilungen>> Rothmunds.
188 JDC: SM-12, Notebooks v. 24. 10. 1941; und# 973, <<The Refugee in Switzerland>>, Report v. 15.
1. 1940.
189 AFS: 2001 D 3, Nr. 484, Eingabe SZF v. 22. 12. 1939 u. Antwort EJPD v. 20. 1. 1940. SIG: CC v.
25. 6. 1940.
190 SIG: CC v. 18. 8. 1938; Rundschreiben v. 19. 8. 1938 und 2. 7. 1940; dazu auch CC-Protokoll mit
dem Präsidialwort, <<Ehre und Sicherheit>> der Schweizer Juden stünden mit dieser Frage voll auf
dem Spiel.
191 SIG: Dossier <<Sammlungsaktionen>>, mit Jahresvergleichen. JDC: SM-1 u. 4, Aufstellungen und
Belege Mayers über seine SIG- und JDC-Tätigkeit mit detaillierten Angaben 1936-1951. VSJF:
Jahresberichte, 1944-1963.
192 JDC: SM-2, Kahn an Mayer v. 24. 8. 1938; # 972, SIG an JDC und CGJ v. 15. 8. 1938; dazu
Aufstellung des SIG zur Refugee situation Switzerland v. 16. 9. 38. Siehe auch Bauer, My
Brother's Keeper, 1974, S. 239-242 u. 267f. VSJF-Zahlen.in: SIG-Festschrift, S. 51., u. JDC: SM-
4, Statistik VSJF, dat. 1952.
193 SLB: Vereinsbestand Schweizerisches Hilfswerk für Emigrantenkinder, Jahresberichte SHEK
1942-47. JDC: SM-3, Payments 1942-45, u. SM-1, <<Joint Money spending in Switzerland>>
1937-45.
194 AFS: 4001 C 1, Nr. 253, Tabelle Unterstützungsleistungen SZF 1933-1940/41.
195 JDC: SM-1, <<Conference Palais Federal Berne>> v. 11. 2. 1940. Die Troper-Passage lautet: <<He
does pray and hope that the situation in Switzerland remains on the status quo. He knows very weil
that the conditions are to be carried out and that the sejourn is not to be turned into a permanent
stay for good and ever and that it can not be more than a short of temporary asylum. In this respect
he feels shure that the Government remains true to its tradition and that the principle of equality is
beeing kept up in future as in the past>>. Mayer brachte in seinem Protokollexemplar zum Stichwort
<<Status quo>> die Randbemerkung «legal regulation are tobe strictly observed>> an.
196 Ludwig, Flüchtlingspolitik, S. 366ff. und SIG, Festschrift, S. 52.
197 AFS: 4001 C 1, Nr. 259, Zusammenstellung v. 7. 9. 1942. Die künstliche Anreicherung des
Kostenbildes schliesst staatliche Gelder ein, die für antibolschewistische Russen seit dem Jahr
1917 verausgabt worden waren. Vorschlagsweise wurden auch die Sozialkosten für wieder-
eingebürgerte Schweizerinnen oder Unterstützungen von Auslandschweizern mit sechs Millionen
Franken bilanziert.
198 AFS: 4001 C 1, Nr. 259, Zusammenstellungen v. 7. 9. 1942; SZF-Tabellen der Unterstützungs-
leistungen 1933-1940. VSJF: Tabelle Gesamtausgaben und Subventionen 1933-1951. Ludwig,
Flüchtlingspolitik, S. 217f. u. 366-368.
199 JDC: # 974, SIG an von Steiger v. 12. 7. 1943; das Schreiben ist im Bundesarchiv nicht vorhanden,
da dort, wie früher schon vermerkt, die Akten zu jüdischen Organisationen in der Magistratur von
Steiger ausbleibend sind.
200 SIG: JUNA 4/1 (Sagalowitz-Bericht 1955), S. 52, <<Zur Behandlung der in die Schweiz aufgenom-
menen Flüchtlinge>>, Beilage 6, Vortrag Guggenheim v. 31. 10. 1942; siehe oben im Kapitel über
die Entstehung des Ludwig-Berichts. Ludwig, Flüchtlingspolitik, S. 188, bestätigt die Anregungen
des SIG für eine Sondersteuer.
KAPITEL 5 UND 6 507

201 AFS: 4260 C 1969/146, Nr. 7, Protokoll Polizeidirektoren-Konferenz v. 19. 5. 1941, S. 26-30.
VSJF: Tabelle Einnahmen und Gesamtausgaben 1933-1951 (hier ausgewiesen als <<Bundes-
subventionen>>); dazu SIG, Festschrift, 1954, S. 52.
202 JDC: # 974, Memorandum v. 20. 6. 1939, Meeting Dreyfus mit Warburg, Hyman, Kahn, Katzki
und Cantor; # 938, Mayer an Dreyfus v. 26. 11. 1940.
203 Zitiert nach Bauer, American Jewry, S. 223.
204 Churchill-Erklärung siehe Great Britain, Parliamentary Debates, Common, August 20, 1940. JDC:
SM-1, Entwurf für Bericht v. 1. 6. 1944, mit einer Notiz Mayers, die Beurteilung der Arbeit könne
<<am ehesten mit dem Geheimdienst der Länder verglichen werden, über welche keine Regierung
irgendwelche Rechnung abzulegen gewillt>> sei. Zum Zwiespalt anderer jüdischer Organisationen
vgl. World Jewish Congress, Unity in Dispersion, S. 175; und Penkower, The Jews were expendable,
S. 123ff.
205 Rothmunds Interesse am Dollartransfer in AFS: 4300 A 1967/111, Nr. 119, diverse Notizen. JDC:
SM-7, Aufzeichnungen Mayers v. 1. 4.-11. 8. 1942, besonders betr. Verhandlungen mit Kobel! v.
11. August 1942.
206 SIG: Dossier «Joint>>, Braunschweig an Bruggmann v. 2. 7. 1943; mit Kopie an Mayer. JDC: # 4,
Mayer an EPD v. 18. 11. u. 30. 12. 943 und Leavitt an Bruggmann v. 30. 12. 1943; EPD an Mayer
v. 7. 11. 1944; # 974-75, Schwartz an JDC v. 17. 3. 1944; dazu Financial reports 1943-44.
207 AFS: Bestände 4001 D 1972/9 und 4111 A 1980/19. Botschaften des Bundesrates an die Bundes-
versammlung v. 4. 5. 1962 und 16. 9. 1974; Bundesbeschluss v. 20. 12. 1962. Vgl. dazu Jacques
Picard, Dier Vermögen rassisch, religiös und politisch Verfolgter in der Schweiz und ihre Ablö-
sung von 1946 bis 1973 (Die Schweiz und die Vermögen verschwundener Nazi-Opfer), Gutachten
vom Januar 1993 (deponiert im Archiv für Zeitgeschichte an der ETH Zürich, SLB u.a.). Siehe
auch Anm. 127 oben.

Kapitel6

JDC: #975, Protokoll Sitzungbetr. Hilfe im Ausland/Koordination der Arbeit v. 26. 9. 1943. SIG:
Dossier «Hilfe im Ausland>>, Rundschreiben Saly Braunschweig v. 29. 8. u. 5. 9. 1944.
2 Mündliche Gespräche mit Gerhart Riegner und Veit Wyler. Für eine Analyse siehe Gerhart M.
Riegner, Switzerland and the Leadership of its Jewish Community During the Second World War,
in: Jewish Leadership during the Nazi Era, Patterns of Behaviour in the Free World, hg. v.
Rudolph L. Braham, New York 1985, S. 67-86.
3 Vgl. u. a. den Leitartikel: Die jüdische Not ist unermesslich, in: Jüdische Presszentrale v. 4. 11. 1938.
4 JDC: # 1042, Berichte (Robert Faller) v. 15. 6., 15. 8. und 2. 9. 1943.
5 Zahlen und Sozialstruktur siehe bei Rafael Mahler, Yehudei polirr ben shtei Milhamot ha-olam,
TelAviv 1968, S. 189-195. Geschichtlicher Überblick bei Ezra Mendelssohn, The Jews of East
Central Europe, S. 10-83. Informativ ist auch Yankev Shatski, Geshikhte fun yidn in Varshe 3,
New York 1953, S. 27-94. Eine zeitgenössische Analyse, auf die damals der WJC und die
westeuropäischen Juden zurückgreifen konnten, bot Jacob Lestschinsky, The Jews in Contemporary
Poland, Paris 1937.
6 Bauer, American Jewry, S. 67-106. Shapiro, History of ORT, S. 122ff.
7 SIG: CC v. 22. 6. 1937 u. 31. 1. 1938; Dossiers «Ort>> und «Polenhilfe>>. Israelitisches Wochenblatt
V. 11. 2. 1938.
8 Die Literatur zu den Juden in Polen 1939-1944 ist breit. Israel Gutman, Yehudei Warsha,
(hebräisch, deutsch: Die Juden von Warschau), Jerusalem 1977, ist die beste Darstellung für die
hier relevanten Fragen. Dokumentationen zur Vernichtung der polnischen Juden bieten zuerst
Emanuel Ringelblum, Polish-Jewish Relations During Second World War, ed. Josef Kermisz u.
Shmuel Krakowski, Jerusalern 1974; und Tatiana Berenstein, Aron Eisenbach u. Adam Rutkowski
(Hg.),'Eksterminacja Zydow na ziemiach polskich, Zbior Dokumentow, Warschau 1957. Isaiah
508 ANMERKUNGEN

Trunk, Judenräte, New York 1972, und Philip Friedmann, Roads to Extinction, Essais on the
Holocaust, New York/Philadelphia 1980, thematisierten erstmals die Kollaboration der <<ludenräte»
wie der polnischen Mitläufer. Stellvertretend für die Genese des jüdischen Widerstandes sei
genannt Jehuda Bauer, Jewish Resistance and Passivity in the Face ofthe Holocaust, in: Unanswered
Questions, ed. Fran~ois Furet, S. 235-251. Zu den historiografischen Kontroversen um diese
Themen vgl. Lucy S. Dawidowitz, The Holocaust and the Historians, S. 88-141; und Israel
Gutman, Aspekte der Beziehung zwischen Polen und Juden während des Zweiten Weltkrieges
(hebräisch), in: Proceeding ofthe Seventh World Congress ofthe Jewish Studies, Bd. 1, Jerusalem .
1980, S. 57-62.
9 Sammlungsergebnis 1940 im Appell zur neuen Sammlung siehe Israelitisches Wochenblatt v.
9. Mai 1941.
10 Israelitisches Wochenblatt v. 22. 3. 1940. Bei Bakman handelt es sich um den Winterthurer
Konzertmeister, bei den andern um Mitglieder des Zürcher Schauspielhauses und der Zürcher
Oper.
11 Israelitisches Wochenblatt v. 24. 11. 1939, 22. 3. 1940,9. 5. 1941.
12 David Kranzler, Thy Brothers Blood, The Orthodox Jewish Response during the Holocaust,
Brooklyn 1987, S. 186-203. Josef Friedensou u. David Kranzler, Heroin of Rescue, The Story of
Recha Sternbuch, Brooklyn 1984, S. 57-76. Beide Bände setzen der orthodoxen Seite ein Denk-
mal und enthalten wertvolles Material, profilieren sich aber stark auf Kosten <<assimilierter>> Juden,
besonders von Saly Mayer. Nachweise und Quellen sind überdies teilweise ungesichert.
13 SIG: CC-Protokoll v. 16. September 1940. Die polnisch-jüdischen Spannungen waren ein
Dauerbrenner für den VSJF und SIG.
14 Monty Noam Penkower, The Jews were expendable, Free World Diplomacy and the Holocaust,
Detroit 1988, S. 66-69 u. 198f.
15 SIG: Dossier <<Polenhilfe>>, einzelne Korrespondenzen. BUND: ME-50, Kuh I-Papers #1-2, Korre-
spondenzen Israelitisches Wochenblatt und verschiedene Materialien des Polnischen Hilfswerkes
für Kriegsgeschädigte. Zu den späteren Diensten der polnischen Diplomatie siehe Isaac Lewin,
Attempts at Rescuing European Jews with the Help of Polish Diplomatie Missions during World
War II, in: Polish Review, XXII/4, 1977, S. 5ff.
16 Friedenson und Kranzler, Heroine of Rescue, S. 2~3. Gernäss Mitteilung von Stefan Keller
(Redaktion WoZ, Zürich) und Silvio Bucher (Staatsarchiv St. Gallen) sind diese Prozessakten in
St. Gallen nicht auffindbar.
17 David Kranzler, Japanese, Nazi and the Jews, The Jewish Refugee Community of Shangai 1938-
1945, New York 1967., bes. Kapitel 1, 7 u. 8. Senpo Sugihara geniesst in der Mirrer Jeschiwa von
Brooklyn den Ruf eines <~apanischen Wallenberg»; zum 50. Jahrestag der Übersiedlung ist dort
1991 ein Erziehungsfonds auf dessen Namen errichtet worden.
18 OAA: Rosenheim-Collection, HIJEFS-Files, mit Übersichten der Sendungen. Die Archivmaterialien
lassen auch den Konflikt zwischen den Sternbuchs und der Schweizer Agudat-Landesorganisation
erkennen. Zur amerikanischen Agudat Israel während dem Zweiten Weltkrieg vgl. Isaac Lewin,
Churban Europa, New York 1948. Siehe auch die Reden und Artikel von Jacob Rosenheim,
Comfort my people, hg. v. Isaac Lewin, New York 1984.
19 Zum RELICO vgl. WJC, Unity in Dispersion, A History ofthe World Jewish Congress, New York
1948, S. 175ff., und Penkower, The Jews were expendable, S. 123. Zitierte Erklärung in: Great
Britain, Parliamentary Debates (Common), August 20, 1940, London 1941.
20 <<Gurs» war lange kein Gegenstand historischer Forschung, rückte dann aber als Vorstation von
Auschwitz in das Forschungsinteresse. Stellvertretend für dieneuere Literatur sind Claude Laharie,
Histoire du Camps apres Juin 1940, in: Les Barbeles de I'Exil, Etudes sur !'Emigration allemande
et autrichienne (1938-1940), ed. Gilbert Badia, Grenoble 1979, und Barbara Vormeier, La
Deportation des Juifs allemands et autrichiens de France, Paris 1980. Vgl. auch Serge Klarsfeld,
Vichy-Auschwitz, Die Zusammenarbeit der deutschen und französischen Behörden bei der
<<Endlösung der Judenfrage» in Frankreich, Nördlingen 1989. Als Gedenkschrift bietet Erhard R.
Wiehn, Oktoberdeportation 1940, Die sogenannte <<Abschiebung>> der badischen und saarpfalzischen
KAPITEL6 509

Juden in das französische Internierungslager Gurs und andere Vorstationen von Auschwitz,
Konstanz 1990, eine reiche dokumentarische Sammlung von Erinnerungen und Materialien.
21 Zu Verwandtschaften und Mobilität vgl. die Beiträge von Florence Guggenheim und Ralph
Weingarten in: Juden in der Schweiz, S. 52f. u. 54-60; und Uri R. Kaufmann, Swiss Jewry, in: LBI
Yearbook, S. 283-299. Übersichten über weiter zurückgehende Kontinuitäten verwandtschaftlicher
Beziehungen bieten in unterschiedlicher Auffassung Florence Guggenheim (Weldler-Steinberg,
Geschichte der Juden in der Schweiz, Bd. 1, S. 17f.) und Kaufmann, Jüdische und christliche
Viehhändler, S. 24f.
22 Druckversuche Rothmunds in JDC: # 974, <<Unterredung Saly Mayer mit Dr. Rothmund>>, o. D.
(1939). Familienname <<Mayer>> in Gurs siehe Karte 51 in Martin Gilbert, Atlas of the Holocaust,
New York 1982, deutsch Reinheck b. Harnburg 1988, S. 49.
23 Basel und Kreuzlingen siehe Daniela Feigenwinter, Hilfeleistungen der Juden in der Schweiz für
Gurs, Lizentiatsarbeit (Manuskript) Universität Basel, 1991. Zu Kreuzlingen, Konstanz und
Gailingen vgl. Wiehn, Oktoberdeportation, S. 594-808, sowie den journalistischen Bericht von
Urs Fitze im Zürcher Tages-Anzeiger v. 23. 10. 1990.
24 Aufruf im Israelitischen Wochenblatt v. 25. Oktober 1940.
25 SIG: Dossier <<Gurs>>, Bericht November 1940; Rundschreiben v. 28. 11. 1940; Rapport Max
Bloch v. 27. 12. 1940. Israelitisches Wochenblatt v. 22. und 29. November 1940. Die Materialien
sind dokumentiert in Wiehn, Oktoberdeportation, S. 635f. und 669f.
26 SIG: Dossier Gurs, Rundschreiben an die Mitgliedgemeinden v. 8. November 1940; Merkblatt
betreffend Gurs-Internierte v. 5. 12. 1940.
27 Einige Aktivisten haben ihre Erfahrungen beschrieben; siehe Donald A. Lowrie, The Hunted
Children, New York 1963, S. 82-98, und Joseph Weill, Contribution a l'Histoire des Camps
d'Internement dans l'Anti-France, Paris 1946, S. 107-179.
28 Wichtig sind als erstes die Materialien des Centre de Documentation Juive Contemporaine (Hg.),
Activites des Organisations Juives sous I'Occupation, Paris 1983 (1. Aufl. 1947). Richard I.
Cohen, The Burden of Conscience, French Jewish Leadership during Holocaust, Bloomington
1987, gibt eine differenzierte Analyse der jüdischen Politik im besetzten und unbesetzten Frank-
reich. Für den Widerstand vgl. Jacques Ravine, La Resistance organisee des Juifs en France 1940-
1944, Paris 1973. Neu in die Diskussion gebracht wurde die Frage nach der Kollaboration; vgl.
Maurice Rajsfus, Des Juifs dans Ia Collaboration, L'UGIF 1941-1944, Paris 1980. Dem UGIF
wird hier der Vorwurf gemacht, zugunsten der französischen und auf Kosten der ausländischen
Juden politisiert zu haben.
29 Siehe die Aufzeichnungen von Hugo Schriesheimer, Trudy Rothschild, Eugen Neter und Jehuda
Leo Ansbacher in: Wiehn, Oktoberdeportation, sowie Hanna Schramm, Menschen in Gurs,
Erinnerungen an ein französisches Internierungslager, Worms 1977.
30 Elsbeth Kasser, Aus meinem Erleben im Lager von Gurs, in: Wiehn, Oktoberdeportation, S. 567-
576. Mitarbeiterin Kassers war Emma Ott. Das Wirken beider aus Kinderaugen erlebt schildert
Hannelore Wicki-Schwarzschild, Auch mir steigen Erinnerungen auf, im gleichen Buch von
Wiehn, S. 561. Eine Sammlung von 200 Zeichnungen, Aquarellen, Notizen und Fotografien, die
Internierte Elsbeth Kasser damals anvertraut hatten, wurde den Museen des Amtes Viborg in
Dänemark übergeben und ist 1990 in Pforzheim, Mannheim und Konstanz gezeigt worden.
31 Madeleine Barot, Die Cimade: Bereitschaft, Gemeinschaft, Aktion, in: Rettet sie doch, Franzosen
und die Genfer Ökumene im Dienste der Verfolgten des Dritten Reiches, Zürich 1969, S. 77-87.
Leo Gurvic, L'OSE, Ses Buts et ses Activites pendant Ia Periode 1912-1945, Genf 1947.
32 SIG: CC v. 16. Februar 1941; Dossier <<Gurs>>, Rundschreiben SIG v. 8. u. 28. 11. 1940.
33 SIG: Dossier <<GUTS>>, Resolution vom 26. Januar 1941; abgedruckt in Israelitisches Wochenblatt
V. 31. 1. 1941.
34 SIG: Dossier <<Gurs>>, Klarstellung betreffend Bildung neuer Hilfskomitees; abgedruckt in Israeli-
tisches Wochenblatt v. 28. 2. 1941.
35 SIG: CC, Protokoll v. 18. März 1941. Klarstellung in der Presse siehe Israelitisches Wochenblatt
v. 28. Februar 1941
510 ANMERKUNGEN

36 JDC: # 984, Durchschlag Schreiben des eidg. Kriegsfürsorgeamtes v. 16. 10. 1941, mit der
Begründung, es müsse verhütet werden, dass verschiedene Stellen wiederholt für den gleichen
Zweck sammeln würden.
37 SIG: DV v. 22. 5. 1941; Dossier «Gurs», Bilanzierung Ende Februar 1941. Weitere Dokumentati-
on bietet Jacques Picard, <<Ein Paket aus der Schweiz», Die jüdische Hilfsaktion für Gursund die
politische Lage in der Schweiz 1940-42, in: Wiehn, Oktoberdeportation 1940, op. cit.. S. 73-104.
38 Den Roman von Getrud Isolani, Stadt ohne Männer (1943), druckten die Basler Nachrichten in
Serie als Bericht über die Lager in Südfrankreich.
39 Für weitere Details siehe Lowrie, Hunted Children, S. 82-98, und Bauer, American Jewry and the
Holocaust, S. 161-174.
40 JG BERN: Dossier «Gurs>>, Jahresbericht und Rechnung 1942 des Hilfswerkes für Gurs und
Korrespondenzen 1940-1944. Zu Kreuzlingen und Basel siehe Feigenwinter, Hilfeleistungen,
s. 6-8.
41 Bauer, American Jewry and the Holocaust, S. 152-233.
42 VSJF: Protokoll DV v. 3. 5. 1942. JG BERN: Dossier «Gurs», Brief Grety Dietisheim an Saly
Mayer v. 12. 5. 1942.
43 SIG: CC-Sitzung v. 11. 2. 1942. JDC: SM-7, Telefonnotiz v. 24. 2. 1942. JDC-Politik vgl. Bauer,
American Jewry and the Holocaust, op. cit., S. 217.
44 Bernhard Blumenkranz (Hg.), Histoire des Juifs en France, Paris 1972. Joseph Billig, Le
Commissariat general aux questionsjuives 1941-1944, Paris 1955/60. Michael R. Marrus/Robert
0. Paxton, Vichy France and the Jews, New York 1981. Asher Cohen, Le «peuple aryen» vu par Je
Commissariat general aux questions juives, in: Revue histoire moderne et contemporaine, 35,
1988, S. 482-494. Donna Frances, Vichy and the Jews, The Example of Marseille 1939-1944,
Diss. Georgetown University 1984. Serge Klarsfeld, Vichy-Auschwitz, Die Zusammenarbeit der
deutschen und französischen Behörden bei der «Endlösung» der Judenfrage in Frankreich, Harn-
burg 1989.
45 AFS: EPD, 2001 (D) 2, Nr. 101, Auswärtigen Abteilung v. 18. 12. 1940.
46 AFS: 2001 D 2, Nr. 189, Kreisschreiben Fremdenpolizei v. 23. 5. 1941; Bundesratsbeschluss über
Einreise und Aufenthalt ausländischer Kinder v. 16. 3. 1941. Näheres siehe hier weiter unten im
Kapitel über Kinder.
47 AFS: 2001 D 2, Nr. 102, EPD-Brunschvig v. 12. u. 28. 1. 1941.
48 SIG: CC v. 11. Februar 1942. Zur Eingabe betr. «Ordre public» siehe oben im Kapitel überPilet-
Golaz und die Furcht wegen einer Preisgabe der Schweizer Juden.
49 JG BERN: Dossier «Gurs», Jahresbericht 1942 (Grety Dietisheim).
50 Zum Beispiel Bruno Bettelheim, The Informed Heart, New York 1960; dazu Jacob Robinson,
Psychoanalysis in a Vacuum: Bruno Bettelheim and the Holocaust, New York 1970.
51 Siehe Jack W. Brahm u. Arthur R. Cohen, Explorations in Cognitive Dissonance, New York 1962;
und Leon Festinger, Decision and Dissonance, Standford 1964.
52 Walter Laqueur, The Terrible Secret, Suppression of the Truth about Hitlers «Final Solution»,
Boston 1980; deutsch: Was niemand wissen wollte, Die Unterdrückung der Nachrichten über
Hitlers «Endlösung», Frankfurt/Berlin 1981, zitierte Stelle S. 14. Im weiteren u. a. Arthur D.
Morse, While Six Million Died, New York 1967; David S. Wyman, Das unerwünschte Volk,
Amerika und die Vernichtung der europäischen Juden, München 1986; Jehuda Bauer, The Holocaust
in Historical Perspective, Seattle 1978; Monty Noam Penkower, The Jews were expendable, Free
World Diplomacy and the Holocaust, Detroit 1988.
53 Martin Gilbert, Auschwitz and the Allies, New York 1981, bes. S. 220-249; Dino A. Brugioni u.
Robert Poirer, The Holocaust Revisited, A Retrospektiv Analysis of the Auschwitz-Birkenau
Extermination Complex, Washington 1979, S. 3-12; David Wyman, Why Auschwitz Was Never
Bombed, in: Commentary 65, 1978, S. 37-46; und Roger M. Williams, Why Wasn't Auschwitz
Bombed?, in: Commonweal v. 24. 11. 1978, S. 746-751.
54 Peter Hufschmid, Schweizer Ärzte unter dem Hakenkreuz, in: Das Magazin 13 (Tages-Anzeiger/
Berner Zeitung), Zürich 1990, mit Fotografien des Berner Arztes Max Kneubühler.
KAPITEl 6 511

55 Der <<Fall Buchen>, der ein <<Fall Kobel! und Guisan» zu sein scheint, ist nicht restlos geklärt.
Buchers Erlebnisse siehe Franz Bucher, Zwischen Verrat und Menschlichkeit, Erlebnisse eines
Arztes an der deutsch-russischen Front 1941-42, Frauenfeld 1967.
56 AFS: EMD, E 27, 9564, Fotoserie von Weiss v. Mai 1942. Fotografien von Franz Blättler,
Warschau 1942, Tatsachenbericht eines Motorfahrers der zweiten schweizerischen Ärztemission
in Polen, Zürich 1945; den Beleg, dass Blättler alias Mawick die Fotos dem Nachrichtendienst der
Armee übergab bzw. die Publikation seiner Beobachtung unterdrückt wurde, bietet Claude
Longchamp, Das Umfeld der schweizerischen Ärztemission hinter die deutsch-sowjetische Front
194-1945, Lizentiatsarbeit (Manuskript) Universität Bem 1986, S. 230.
57 Gaston Haas, <<Wenn man gewusst hätte, was sich drüben im Reich abspielte ... », Das Wissen der
Schweiz um die Vernichtung der europäischen Juden 1941-1943, Lizentiatsarbeit (Manuskript)
Universität Zürich 1988, als Dissertation im Druck. Nicht zugänglich waren Haas einige Archiv-
materialien (z. B. die Kobelt-Bucher-Gespräche).
58 Haas, «Wenn man gewusst hätte», S. 162; im folgenden daraus zusammengefasst.
59 Überblick und Fakten bei Jehuda Bauer, A History of the Holocaust, New York 1982, und Uwe
Dietrich Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, Düsseldorf 1972. Historiografische Kontroverse
zwischen Funktionalisten und Intentionalisten vgl. Tim Mason, <<Intention and Explanation», A
Current Controversy about the Interpretation of Nationai-Socialism, in: Der Führersaat, Mythos
und Realität, hg. v. Gerhard Hirschfeld und Lothar Kettenacker, Stuttgart 1981; und Saul Friedländer,
From Antisemitisme to Extermination, A Historiographkai Study of Nazi Policies Toward the
Jews and an Essay in Interpretation, in: Furet, Unanswered Questions, S. 3-31.
60 AFS: EMD, E 27, 9928, Nr. 8, Dossier 3, Bericht 8430/d-4353, mit einem Bericht von über
hundert Schreibmaschinenseiten.
61 Zum IKRK siehe das ganze 6. Kapitel bei Jean-Claude Favez, Une mission impossible? Le CICR,
Ies deportations et les camps de concentration nazis, Lausanne 1988, deutsch: Das Internationale
Rote Kreuz und das Dritte Reich, Zürich 1989. Zu WJC und IKRK vgl. Monty Noam Penkower,
The World Jewish Congress confronts the International Red Cross during the Holocaust, in:
Jewish Social Studies, vol. XLI/3-4, 1979. Im weiteren die Studie von Arieh Ben-Tov, Das Rote
Kreuz kam zu spät, Zürich 1990, der sich auf die Judenverfolgung in Ungarn 1944-45 konzen-
triert.
62 Illustrativ ist die Person von Max Huber, der das IKRK präsidierte. Er war Jurist und Experte in
Fragen der Aussenpolitik, der Neutralität und des Völkerrechts, und zugleich hielt er den Posten
eines VR-Präsidenten der export- und kriegswirtschaftlich wichtigen Maschinenfabrik Oerlikon
und der Aluminium Industrie AG. Das Schweizerische Rote Kreuz präsidierte in diesem Jahr
Oberst Hugo Remund.
63 Haas, <<Wenn man gewusst hätte», S. 86ff. Mare Perrenoud, «La Sentinelle» sous surveillance, Un
quotidien socialiste et Je contröle de Ia presse (1939-1945), in: Schweiz. Zeitschrift f. Geschichte
37, 1987, S. 137-168. Kurt Roschewski, Aus der Geschichte des Vorurteils, Die lW-Auseinander-
setzungen mit der Zensur im Jahre 1943, in: Israelitisches Wochenblatt 72, 1972. Heinz Roschewski,
Babij Jar und die Schweiz 1943, in: Erhard R. Wiehn, Die Schoah von Babij Jar, Konstanz 1991,
S. 329-349. Zur Zensur vgl. Georg Kreis, Zensur und Selbstzensur, Die schweizerische Presse-
politik im Zweiten Weltkrieg, Frauenfeld 1973.
64 Siehe die oben erwähnten Arbeiten von Morse 1967, S. 3ff.; Laqueur 1980, S. 77ff.; Laqueur/
Breitmann 1986, S. 143ff.; und Wyman 1986, S. 42.
65 Abgedruckt in Sau) Friedländer, Pie XII et Je Ille Reich, Paris 1964, S. 104ff.; und in John F.
Morley, Vatican Diplomacy and the Jews during the Holocaust 1939-1943, New York 1980,
S. 212ff. Hierzu und für spätere Bemühungen des WJC bei den Christlichen Kirchen; vgl. Gerhart
M. Riegner, A Waming to the World, The Efforts of the World Jewish Congress to mobilize the
Christian Churches against the <<Final Solution», Cincinatti 1983 (The Inaugural Stephen S. Wise
Lecture, Hebrew Union College).
66 Edgar Salin, Über Arthur Sommer, den Menschen und List-Forscher, in: Mitteilungen der List-
Gesellschaft 4-5, 1967, S. 85f., berichtet diesbezüglich, <<im Briefkasten einen Zettel ohne Ku-
512 ANMERKUNGEN

vert>> gefunden zu haben und zitiert dessen Inhalt wörtlich. Morse, While Six Million Died, S. 8,
und Penkower, The Jews were Expendable, S. 60-62, übernehmen marginal und im Gegensatz zu
andern auch diese Darstellung. Indes enthalten die umfangreichen Archivmaterialien in UBS:
<<Nachlass Salin>>, F a/b (Korrespondenz-Konvolute mit Sommer, Pazner, Scheps, Sagalowitz,
C. J. Burckhardt und Polizeiabteilung), keine solchen Hinweise, die die Linie Sommer-Salin-
Pazner genauer zu verifizieren oder zu gewichten erlauben. UBS: Fb 2130-32 (Pazner), zeigt, dass
Pazner mit der Darstellung bei Morse entschieden nicht einverstanden war; und Falb 1275-1339
(C. J. Burckhardt, 1941-1945) resultieren lediglich im faden Versuch Burckhardts, sich als
Schöngeist, dem die Diplomatie zuwider wäre, zu präsentieren.
67 Kranzler, Thy Brothers Blood, S. 91; Wasserstein, Britain and the Jews, S. 167ff.
68 JDC: SM-51, Lichtheim/Riegner an Mayerv.19. 3. 1942 (Memorandum); Kühl an Mayerv. 20. 3.
u. 12. 6. 1942.
69 Israelitisches Wochenblatt v. 3. 2. 1939 (<<Hitlers Drohung>>) und 11. 4. 1941 (<<Deutschland und
die Zukunft der Juden>>).
70 Israelitisches Wochenblatt v. 5. bis 21. 6. 1942.
71 Israelitisches Wochenblatt v. 23. 6. 1943. Der Versuch, das Schlagwort <<Ausrottung>> und seine
Blendwirkung kritisch zu verstehen, wird mit einem Angriff auf Ernst Jünger und dessen Schule
eingeleitet.
72 Israelitisches Wochenblatt v. 30. 12. 1942, 18. 6. 1943, 9. u. 23. 6. 1943, 21. 7. 1944 und
2. 2.1945.
73 Einige frühe Zeugnisse des jüdischen Gedenkens vgl. Jacques Picard, Riss in der Geschichte, Im
Widerstreit um das rechte Erinnern, in: Ansichten von der rechten Ordnung, hg. v. Benedikt
Bietenhard, 1991, S. 308--355, wiederabgedruckt in: Menora, Jahrbuch für deutsch-jüdische
Geschichte, München 1993, S. 17-50.
74 IMT-Urteil in: Intern. Militärgerichtshof Nürnberg, Das Urteil von Nürnberg, München 1946,
S. 144f.
75 AFS: 4001 D 173/125, Nr. 120, Stellungnahme von Steigers, S. 2; aufgenommen in die 2. Aufl. bei
Ludwig, Flüchtlingspolitik (1961 ).
76 Siehe oben die Einleitung zum Teil <<Von Fall zu Fall>>. In denjüdischen Archiven bestehen keine
Hinweise, dass von Steiger durch den WJC oder den SIG und die JUNA Informationen erhielt.
76aKoller, in: Studien und Quellen Bd. 22, S. 17-135.
77 Ludwig, Flüchtlingspolitik, S. 203-208; Häsler, Das Boot ist voll, S. 88--90. Sprachkritisch sei am
Rand vermekt, dass in der Wendung <<aus Rassegründen>> es eben auch begrifflich um nur eine
<<Rasse>>, d. h die Juden, ging.
78 SIG: CC v. 20. 8. u. 24. 9. 1942. JDC: SM-7, Aufzeichnungen Mayers v. 1. 4.-11. 8. 1942. AFS:
4300 A 1967/111, Nr. 119, Notizen Rothmunds zur finanziellen Frage.
79 SIG: CC v. 20. 8. 1942. VSJF: Rundschreiben 235 v. 12. 8. 1942. AFS: 4001 D, 1973/125, Nr.
119, Rothmund an von Steiger v. 13. 8. 42. JDC: # 974, diverse Telegramme September--Oktober
1942; die Pressemitteilung v. 29. 10. 1942 erwähnt den Grenzübertritt von 6000 Flüchtlingen nach
der Schweiz und die JDC-Leistungen für die Schweiz, enthält aber keine Kritik des Joint an der
eidgenössischen Politik.
80 SIG: CC v. 20. 8. 1942; dazu Ludwig, Flüchtlingspolitik, S. 207f.; Textauszug von Braunschweigs
Votum gernäss Protokollzusatz, abgedruckt bei Picard, Die Schweiz und die Judenfrage, in:
Wiehn, Judenfeindschaft, S. 148f.
81 AFS: 4001 D, 1973/125, Nr. 119, Oeris Telegramm v. 22. 8. 42 und Dankschreiben Dreyfus de
Günzburg an von Steiger v. 25. 8. 1942. Ludwig, Flüchtlingspolitik, S. 208ff.; Häsler, Das Boot ist
voll, S. 136-139. Hermann Boeschenstein, Vor unseren Augen, Bern 1978, S. 293-295. Zur Gestalt
von Gertrud Kurz vgl. die Beiträge, besonders von Catherine Boss und Stefan Mächler, der Fest- und
Erinnerungsschrift, hg. v. Catherine Boss u. a., Streitfall Friede: CFD, Christlicher Friedensdienst
1938--1988, Bern 1988; siehe oben auch das Kapitel über die Kirchen und die <<Judenfrage>>.
82 AFS: 4001 C 1, Nr. 257, mit Telegrammen von Grimm, Wey und der Liga.
83 Vgl. Alice Meyer, Anpassung oder Widerstand, S. 205f.
KAPITEL 6 513

84 AFS: 4001 C 1, Nr. 258, Bericht der Bundesanwaltschaft zuhanden von Steigers über das Forum
Helveticum v. 16. 11. 1942; dort auch Voten der Arbeitsgemeinschaft Frau und Demokratie.
Vaterländischer Verband in: 4001 B 1, 1970/187, Nr. 6 (Eingabe v. 13./25. 7. 1940) und 4001 C 1,
Nr. 253 (Audienzen bei von Steigerv.17.10.1942 u.15. 2.1943); dazu4800A 1967/111, Nr. 257
(Telegramm v. 27. 8. 1942), und Nr. 272 (Rothmund).
85 Birchers Rede in Häsler, Das Boot ist voll, S. 225. Zirkulare von Schwarz, abgedruckt bei Hans
Schwarz, Kampf um Helvetien, Köniz 1945, S. 77-89. Weitere Flugschriften mit scharfzüngiger
Kritik an EJPD und Fremdenpolizei, deren Streuung von Steiger dann zu unterbinden suchte, in:
AFS: 4001 C 1, Nr. 257. Zur Wirkung und Auflagenhöhe siehe den Baselbieter Landschäftler v.
27. 8.1942.
86 AFS: 4001 C 1, Nr. 259, Zürcher Schriftsteller-Verein v. 29. 9. 1942.
87 Zitierung im Jewish Chronicle v. 25. 9. 1942. Völkischer Beobachter v. 26. 11. 1942. Londons
Einschätzung der EJPD-Politik vgl. Wasserstein, Britain and the Jews, S. 110. Reaktionen in
Washington in AFS: 4001 C 1, Nr. 253, Telegramm 24. 9. 1942.
88 Aufschlussreich für die Interpretation ist ein Vortrag von Alferd Cattani, Flüchtlingspolitik im
Zweiten Weltkrieg und heute, Gibt es Lehren aus der Geschichte?, in: Neue Zürcher Zeitung v. 15.
/16. 3. 1986. Einzelheiten der Entwicklung bei Ludwig, Flüchtlingspolitik, S. 208--259.
89 SIG: CC v. 24. 9. 1942, protokollarische Berichte VSJF über die SZF-Sitzungen v. 24. 8. u.
8. 9. 1942.
90 AFS: 4260 C 1969!146, Nr. 7, Protokoll der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizei-
direktoren v. 11. /12. 9. 1942 in Altdorf, S. 13-15.
91 Häsler, Das Boot ist voll, S. 13; in der Presse wurde dieser Vorfall mitgeteilt, zum Beispiel in der
National-Zeitung v. 24. 8. 1942 und Berner Tagwacht v. 25. 8. 1942. Spätere Nachforschungen der
Jüdischen Gemeinde Bern im Winter 1989/90 haben keinen Aufschluss über Namen und Verbleib
der Ausgeschaffenen ergeben.
92 SIG: CC v. 25. 3. (Protokollbeilage), 24. 9. und 5. 11. 1942. Neben Mayer, Braunschweig und
Goetschel wurden neu gewählt Georges Brunschvig (Bern) und Paul M. Blum (La Chaux-de-
Fonds).
93 ICZ: GY v. 31. 1. 1943 (Budgetdebatte). SIG: CC v. 5. 11. 1942 (von Braunschweig summierte
Kritik aus der ICZ).
94 Israelitisches Wochenblatt v. 13. 3. u. 6. 11. 1942; Riegner (WJC) hat am 14. 3. 1943 einige
Punkte der Kritik Guggenheims wiederholt. Weitere Belege im Wochenblatt v. 15. 5. und 11. 12.
1942 (Demokratisierung des SIG), 20. 11. 1942 (Vortrag in St. Gallen).
95 ICZ: GY v. 14. und 22. 3. 1943. Israelitisches Wochenblatt v. 26. 2. (JG Bern) und 26. 3. 1943
(ICZ). Vgl. weiter unten auch die Kontroverse um die Präsidentenwahl in der ICZ v. 30. Mai 1943.
96 SIG: DV v. 13. 12. 1942. Bericht der Zürcher Delegierten vgl. ICZ: GY v. 14. und 22. 3. 1943.
97 SIG: DV v. 28. 3. 1943. VSJF: GY v. 6. 6. 1943, a. o. GY v. 8. 5. 1944 und GY v. 22. 10. 1944.
Entsprechende Protokolle auch in JDC: # 1003.
98 ICZ: GY v. 30. 5. 1943; GY v. 14. 3. 1943 (Bestellung der Wahlkommission) und v. 23. 5. 1943
(Scheitern des Einheitskandidaten). Vgl. ICZ, 100 Jahre Israelitische Cultusgemeinde Zürich,
Festschrift, Zürich 1962, S. 77-79.
99 SIG: CC v. 7. 7. 1943, Bericht über die Audienz im Bundeshaus. Brunschvig attestierte seinem
Präsidenten, er habe «klar und bestimmt>> und keinenfalls <<leisetreterisch» gesprochen.
100 JDC: SM-7, Telefonnotiz Mayer--Schwartz v. 6. 9. 1942. SIG: DV v. 23. 1. 1944; und CC v. 25. 6.
1944; dazu Israelitisches Wochenblatt v. 21. 1. 1944. Bauer, American Jewry, S. 226--234.
101 AFS: 4001 C 1, Nr. 257, Konvolut <<Realschule Rorschach», 1942.
102 Vgl. im weiteren Katharina Rutschky (Hg.), Schwarze Pädagogik, Berlin 1977, und Alice Miller,
Am Anfang war Erziehung, Frankfurt 1980.
103 Philippe Aries, Geschichte der Kindheit, München 1960; Lloyd de Mause, Hört ihr die Kinder
weinen, Frankfurt 1977; Morton Schatzmann, Die Angst vor dem Vater, Reinbek 1978; Ray E.
Helfer u. Henry Kempe (Hg.), Das geschlagene Kind, Frankfurt 1979.
104 William G. Niederland, Folgen der Verfolgung: Das Überlebenden-Syndrom Seelenmord, Frank-
514 ANMERKUNGEN

furt 1980, mit Gutachten und Literaturliste. Das «Erste Internationale Treffen versteckter Kinder
aus dem Zweiten Weltkrieg» hat am 26./27. Mai 1991 in New York stattgefunden.
105 Rudolfo Olgiati; Generalsekretär des Schweizerischen Kinderhilfswerkes für Spanien 1937-1939,
gab einen Überblick über seine Tätigkeit in: Nicht in Spanien hat's begonnen, Von Erfahrungen
und Erlebnissen internationaler Hilfsarbeit, Bern 1944. Ein kleines Porträt Olgiatis hinsichtlich
Gurs bietet Heinz Roschewski in: JOB-Forum, 16. Jg., Nr. 41, Bern März 1941, S. 22.
106 Vgl. Walter Bion, Die Ferienkolonien, Zürich 1901; und Alfred Ziegler, 100 Jahre Zürcher
Ferienkolonien, Stäfa 1975.
107 Israelitisches Wochenblatt v. 13. 7. u. 31. 8. 1917, 4. 1. 1918 und 25. 7. 1930 (Kerns). ETH:
Protokoll Kolloquium mit Veit Wyler v. 11. Juli 1990. Wyler berichtet, dass seine Mutter
wesentlichen Anteil an der Idee hatte, ausländische Ferienkinder in die Schweiz zu bringen.
108 Erna Guggenheim, Kinderheim Wartheim, geführt vom Israelitischen Frauenverein Zürich, unpubl.
Diplomarbeit, Frauenschule Zürich 1948, hinterlegt in SBL; vgl. dazu Israelitischer Frauenverein
Zürich, Festschrift, 1953.
109 AFS: 2001 D 2, Bd. 189, Kreisschreiben v. 23. Mai 1941. Dazu die Erläuterung Rothmunds in
AFS: 4800 A 1967/111, Nr. 342: <<Kinder von Emigranten, auch solche, die in Frankreich geboren
sind, fallen ausser Betracht, weil ihre Rückkehr trotz Rückreisevisums nicht unbedingt gesichert
erscheint. [ ... ] Auch für nichtarische Kinder ist die Rückkehr ungewiss. Wir können das Risiko
nicht auf uns nehmen, Kinder der aufgeführten Kategorien [ ... ] behalten zu müssen». Im Ludwig-
Bericht ist der Sachverhalt nicht vermerkt.
110 AFS: 2001 D 2, Nm. 187-188, Akten v. Pilet-Golaz Feb.-Dez. 1942; Nr. 189, Bundersatsbeschluss
über Einreise und Aufenthalt ausländischer Kinder v. 16. 3. 1942.
111 Bericht über die Eingabe der Frauenorganisation in: Israelitisches Wochenblatt v. 20. 11. 1942.
Beat Glaus, Die Nationale Front, S. 286.
112 Pressekonferenz von Bundesrat Arnold Koller vom 16. 2. 1990 im Gefolge des 1. Berichtes der
Parlamentarischen Untersuchungskommission von 1989.
113 Die Nation 16, Bern 23. 4. 1942. Dazu vgl. Gaston Haas, Wenn man gewusst hätte, S. 90-94.
114 SIG: DV v. 19. 4. 1942; im weiteren CC v. 22. 6. u. 5. 11. 1942.
115 JDC: SM# 51, Korrespondenz der polnischen Gesandtschaft (Kühl) mit Saly Mayer v. 12. Okto-
ber 1941. Der Brief Kühls bezieht sich auf die polnischen Internierten und deren jüdische
Ehefrauen.
116 SIG: CC v. 5. 11. 1942 und Materialien im Dossier «Ferienkinder>>. Israelitisches Wochenblatt v.
6. u. 20. 11. 1942.
117 CZA: L 22, Nr. 152, mit Korrespondenzen Lichtheim-lsrael, zitiert nach Naomi Sepherd, Wilfrid
Israel, Berlin 1985, S. 351ff.
118 CZA: L 22, Nr.152, Lichtheim v. 19. 5. 1943. AFS: E 2200, Lissabon, Nr.7/12, Korrespondenz
Werner Fuchs mit EJPD v. 17. 4. u. 27. 5. 1943.
119 AFS: 2001 D 3, Nr. 183, Notiz v. 11. 9. 1942, Büro de Haller; und 2200, Paris, Nr. 23, Rapport von
Stucky an Pilet-Golaz v. 14. 9. 1942. Stucki schildert den Amerikanern gegenüber sein Auftreten
bei Petain als viel schärfer im Vergleich seiner Unterredung mit Lava! gernäss Rapport nach Bern.
Vor Petain habe er tatsächlich mit der Faust auf den Tisch geschlagen. Dazu vgl. U.S. Department
of State, Foreign Relations of the United States, Diplomatie Correspondence (1942), Washington
1963-1967, Bd. 1942:1, S. 472.
120 Materialien in AFS: 4001 C 1, Nr. 257; 4800 A, Nm. 190-196; und 4300 A 1967/111, Nr. 37, div.
Korrespondenzen Lowrie-Schürch von 1943-44. U.S. State Department, Foreign Relations, Bd.
1942:1, S. 466ff., und Lowrie, Hunted Children, S. 226.
121 SIG: Dossier <<Ose>>, und JDC: SM-35a, Berichte April 1943-April 1944 (zitiert Bericht vom
8. 10. 1943). Vgl. dazu OSE, L'Ose sous l'occupation allemande en France, Paris 1947.
122 Latour, La Resistance juive en France, S. 58-89; David Knout, Contribution a l'histoire de Ia
resistance juive en France, Paris 1947, S. 113-136.
123 JDC: SM# 26, BriefTschienoffs an Saly Mayer v. 29. 1. 1942.
124 Im weiteren die unpubl. Dissertation von Sabine Zeitoun, L'OSE, l'reuvre de secours aux enfants:
KAPITEL 6 515

du legalisme a Ia resistance (1940--1944), Paris-Jussien VII, 1986, besonders S. 333-383.


125 Georges Gareis eigene Schilderung und Erinnerungen in: American OSE Review, 1/2, New York
1948, und in: Le Monde juif 89, janvier/mars 1978. Zur Entstehung und Struktur des Circuit gibt
es zwei unpublizierte Arbeiten: Hillel J. Kieval, From Social Work to Resistance, Relief and
Rescue of Jewish Children in Vichy France, M. A.-Arbeit Harvard College, Cambridge Mass.
1973. Jehuda Bauer, American Jewry, S. 481, verweist auf Nili Keren-Patkin, Hatzalat Yeladim
BeSarfat Bitkufat HaKibbush HaGermani (1940--1944) AI-Yedei Irgunim Yehudiyim, M. A.-
Arbeit Hebräische Universität, Institut of Contemporary Jewry, Jerusalem 1975.
126 Zeitoun, L'OSE, S. 339ff. u. 407-412. Zum Circuit Abadi vgl. Anny Latour, La Resistance juive
en France, S. 69. Moussa Abadi war ein syrischer Jude, der in Nizza an einer Dissertation über
mittelalterliche Literatur arbeitete. Zu Circuit in Nizza gehörte vor allem Odette Rosenstock, eine
elsässische Ärztin aus Paris.
127 Jacques Duquesne, Les Catholiques franc<ais sous I'Occupation, Paris 1966, S. 257. Adolf Freuden-
berg, Rettet sie doch, Zürich 1969; und Jeanne Merle d' Aubigne, Les clandestines du Dieu,
CIMADE 1939-1945, Paris 1968.
128 Vgl. Bauer, American Jewry, S. 240--244 u. 254-259. Belgien vgl. die folgende Darstellung weiter
unten.
129 Emmanuel Haymann, Le camp du bout du monde, Lausanne 1984, S. 112.
130 Odile Munos, Les passages clandestins entre Ia Haute-Savoie et Ia Suisse pendant Ia seconde
guerre mondiale, unpubl. Memoire, Universite des Seiences Sociales de Grenoble II, 1984,
S. 28-35.
131 SIG: Dossier «0Se», und JDC: SM-35a, Bericht v. 6. 5. 1943.
132 Zeitoun, L'OSE, S. 385-394. Leo Gurvic, L'OSE, Ses buts et ses activites pendant Ia periode
1912-1945, Geneve 1947. Jacques Bloch, OSE in Switzerland 194().,.1965, in: L. Wulman, Infight
for the Health of the Jewish people, New York 1968, S. 143-162.
133 Willy Bok, Considerations sur Ies estimations quantitatives de Ia population juive en Belgique, in:
La Vie juive dans I'Europe contemporaine, Brüssel1965, S. 94f. Betty Garfinkels, Les Belges face
a Ia persecution raciale 1940--1944, Brüssel 1965 (Institut de sociologie de I'Universite libre).
Israel Schirman, La politique allemande a l'egard desjuifs en Belgique 1940-1944, M. A.-Arbeit
Freie Universität Brüssel, 1971.
134 Maxime Steinberg, Extermination, sauvetage et resistance des Juifs en Belgique, Brüssel 1979,
beschreibt den Aufbau und genaueren Ablauf.
135 Bauer, American Jewry, S. 272. Dies entsprach einem Viertel des CNDJ-Budgets; insgesamt liess
1943-1944 das JDC 680'000 Dollar über verschiedene Kanäle nach Belgien einfliessen.
136 Über Nathan Schwalb existiert bei der Schweizer Bundesanwaltschaft kein Dossier (Schreiben
Bundesarchiv an den Autor). Mündliche Hinweise gab mir Veit Wyler, Zürich. Genauere Umstän-
de wären aus den Akten im Schwatb-Archiv der Histadrut in TelAviv zu erfahren.
137 Anne-Marie Im Hof-Piguet, Fluchtweg durch die Hintertür, Eine Rotkreuz-Helferin im besetzten
Frankreich 1942-1944, Frauenfeld 1987. Sebastian Steiger, Die Kinder vom Schloss La Hille,
Base11992. Die drei Helferinnen Im Hof-Piguet und Cordiersind Ende 1991 von Yad Vashem mit
einer <<Medaille der Gerechten>> geehrt worden.
138 Perspektiven für OSE und Quäker im Nachkriegs-Frankreich vgl. in: JDC: # 21 A, Bulletin
American Friend Service Committee, Geneva Office 1, Januar 1945. Berichte über das jüdische
Elend in Frankreich nach der Befreiung finden sich in einigen Schweizer Blättern: Neue Zürcher
Zeitung v. 24. 8., 27. 10. u. 14. 11. 1944, La Suisse v. 27. 11. 1944, La Voix Ouvriere v. 22. 9.
1944, Feuille d'Avis Lausanne v. 28. 9. 1944 sowie Israelitisches Wochenblatt v. 17. 11.1944.
139 Guggenheim, Kinderheim Wartheim, div. Stellen.
140 Jzchak Schwersenz, Machteret Haluzim beGermania HaNazit, Kibbutz Rarneuehat 1969; und
ders., Trotz alledem, Jüdische Jugend im Untergrund, Berlin 1988, mit Kapiteln über die Schweiz.
Israelitisches Wochenblatt v. 12. 1. u. 23. 3. 1945 sowie v. 20. 2. 1987 (Lebensbericht). Korre-
spondenz (1988) des Verfassers mit Schwersenz, Haifa.
141 Israelitisches Wochenblatt v. 12. 1. 1945, 26. 6. u. 23. 8. 1946. Haschomer Hazair, Festschrift
516 ANMERKUNGEN

H. H. Schweiz, S. 8.
142 Vgl. Das Schweizer Kinderdorf Kiijath Jearim in Israel, in: Neue Zürcher Zeitung v. 12./13.0kto-
ber 1991. Der Verein Freunde des Schweizer Kinderdorfes Kirjath Jearim zählte 1990 rund 18'000
Gönner. Unterstützt wird seit 1969 auch das arabische Zentrum Beit David in Ostjerusalem. In
Kirjat Jearim hat man sich besonders auf die Sozialisation von Kindern aus schwierigen
soziokulturellen Verhältnissen konzentriert. Bekannt wurde die Methode des <<Vermittelten Ler-
nens>> des Kinderpsychologen Reuven Feuerstein.
143 Vgl. Häsler, Das Boot ist voll, S.253-267; und Ludwig, Flüchtlingspolitik, S. 272-288.
144 Israelitisches Wochenblatt v. September/Oktober 1943 (Kontroverse) und v. 26. 5. 1944 (Jahres-
bericht SHEK).
145 SIG: CC v. 7. 10. 1943. VSJF: GY v. 17. 6. 1945; und Tätigkeitsbericht 1945, S. 21f.
146 ICZ: GY v. 10. 2. 1946. Israelitisches Wochenblatt v. 5. 11. 1943 (Sutro/Frauenverein), v.
26. 5. 1944 (Kritik an SHEK und SIG) und v. 12. 1. 1945 (Arbeitskonferenz).
147 Israelitisches Wochenblatt v. 23. 2. 1945. Oberländisches Volksblatt, Interlaken, v. 8. 2. 1945.
148 Dora Benjamin, Die Weiterwanderung der Kinder in ihren psychologischen Aspekten, in: SZF,
Flüchtlinge wohin, S. 39.
149 VSJF: Tätigkeitsbericht 1945, S. 20f.
150 Nettie Sutro, Die Fragebogen-Enquete des Schweizer Hilfswerkes für Emigranten-Kinder, in:
SZF, Flüchtlinge wohin, S. 30.
151 Zum Problem allgemein: Sau! Friedländer, Quand vient le souvenir, Paris 1978. In Frankreich
bekannt wurde nach dem Krieg die Affäre um die Kinder Finaly. Vgl. Andre Kaspi, L'Affaire
Finaly, in: L'Histoire 76, Mai 1985, S. 40-53; und Maurice Garcon, Le procesdes enfants Finaly,
Paris 1953. Auf das Beispiel des jüdischen Kardinals Lustinger in der Pariser Diözese Notre-Dame
braucht kaum hingewiesen zu werden. In Belgien erregte die Empfehlung des Antwerpener
Kardinals Joseph-Ernest V an Roey, Juden zu verstecken, ohne sie zu taufen, Aufsehen.
152 Zuverlässiges Indiz, dass der Konflikt international Beachtung zu finden begann, bietet wie so oft
das American Jewish Yearbook 47, Philadelphia 1945-46. Dort wird unter der Rubrik <<Schweiz>>
vermerkt, dass <<another majorproblern is that of reintegration the jewish children who had been
placed in Christi an homes. As in other countries, some of the Christi an parents are reluctant to part
with their proteges. 1t was planned to establish orphanages for these children under auspices of
Jewish organisations.>>
153 Andre Lasserre, Les Refugies de Bergen-Belsen etTheresienstadt, in: SZG 40,1990, S. 307-317.
154 AFS: 4300 A 1967/111, Nr. 37 b, Besprechungen Schürch mit Sternbuch u. Levin v. 8. 8. 1945,
mit Sutro, Hohermuth und Bloch v. 17. 8. 1945. Dazu OAA: Rosenheim-Collection, HIJEFS-
Files, Bericht der A.J.-Expositur v. 1. 3. 1945 <<Rettungsaktivitäten». Publikation der Jeschiwa in
Montreux bei Rabbiner E. Botschko, Der Born Israel, Montreux 1945, bes. S. 154ff.
155 Arbeiter-Zeitung, Basel, v. 19. 6. 1945. Makkabi (Jüdische Rundschau) 4. Jg., 6-9, v. Juli/August
bis September 1945. Israelit. Wochenblatt v. 26. 10. 1945 (Frumkin kam von London her in die
Schweiz).
156 JDC: # 945, Vereinbarung VSJF mit SHEK und KH des SRK v. 6. 4. 1946; ratifiziert im Oktober
an der GY des VSJF.
157 SIG: DV v. 30. 5. 1946. JDC: # 945, Max Dreyfuss (VSJF) an Mayer v. 1. 8. 1946, und Interview
Edward Phillips with Dr. Sutro v. 8. 7. 1946.
158 OAA: Francie Goldschmidt Collection, DV der Agudos Jisroel Schweiz v. 28. 3. 1943 (<<Kommis-
sion für Flüchtlingshilfe>> ); Rosenheim-Collection, Foreign Countries Ill, Liste der im Mai 1946
untergebrachten Kinder.
159 VSJF: Tätigkeitsbericht 1946, S. 8f. und 19ff. JDC: # 945, Dreyfuss an Mayer v. 1. 8. 1946, mit
einzelnen Aktennotizen über jeden einzelnen von 9 Fällen.
160 Fernsehen DRS, <<Was aus ihnen geworden ist- Begegnung mit Dr. Ruth Westheimer>>, Sendung
<<DRS nach vier>> v. 13. 1. 1988. Dazu Alfred Häsler u. Ruth Westheimer, Die Geschichte der
Karola Siegel, Bern 1976.
161 Vgl. Gvir-Porträt in: Jüdische Rundschau Maccabi v. 10. 10. 1991.
KAPITEL 6 517

162 Vgl. Pro Juventute, 75 Jahre im Jahrhundert des Kindes, Zürich 1987, mit einer in diesem Punkt
apologetischen Darstellung von Sigmund Widmer. Die Angelegenheit war 1973 vom Schweizeri-
schen Beobachter, der 1954 schon den Skandal um den I-Stempel aufgedeckt hatte, zum Vor-
schein gekommen. Im Mai 1987 hat sich die Pro Juventute <<entschuldigt>>, was von Vertretern der
Organisation der Fahrenden akzeptiert worden ist. Gernäss ON-Konvention gehört die Praxis der
einstigen Hilfswerk-Verantwortlichen zu den Formen des Genozids.
163 Aide aux Emigres, Die Zukunftspläne der Flüchtlinge in der Schweiz, Genf 1945.
164 Zu den Tätigkeiten des Hechaluz in Europa und Ungarn siehe Yosef Kornianski, Bishlichut
Chaluzim, Haifa 1979, und Asher Cohen, HeChalutz Underground in Hungary March-August
1944, in: Yad Vashem Studies 14, Jerusalem 1981. Zum Hechaluz in der Schweiz vgl. oben das
Kapitel 4 über die politischen und institutionellen Grundlagen.
165 Für die Aktivitäten von Lutz im weiteren das auch kritisch verfasste Porträt von Johann-Markus
Werner, Konsul Carl Lutz (1895-1975), Im Dienste der Menschlichkeit, Lizentiatsarbeit (Manu-
skript) Universität Bern 1985.
166 Die wichtige Rolle von Feiler, der von den Pfeilkreuzlern verschleppt wurde und dann fast ein Jahr
im russisch besetzten Ungarn interniert blieb, ist bislang kaum gewürdigt worden, nachdem er
1946 fälschlicherweise in einen negativen Verdacht, mit den Nazis befreundet gewesen zu sein,
geraten war. AFS: 2001 D 7, Nr. 14a, <<Bericht an das EPD, Stellungnahme zu den Presse-
berichten, erstattet von Oberrichter J. 0. Kehrli>> v. 3. 6. 1946 zeigt, dass Feiler nicht nur die
Aktivitäten von Lutz gedeckt hat, sondern selbst Menschen rettete und schützte.
167 Netanel Katzburg, Antysemyiut BeHungaryia 1867-1924, TelAviv 1969; und ders., Hungary and
the Jews 1920-1943, Ramat Gan 1981. Siehe auch die 1948 erstmals veröffentlichte und immer
noch lesenswerte Analyse des Soziologen Jstvan Bib6, Zur Judenfrage, Am Beispiel Ungarns nach
1944, Frankfurt a. M. 1990.
168 Randolph L. Braham, The Politics of Genocide, The Holocaust in Hungary, 2 Bde., New York
1981, wird durch laufende Forschungen korrigiert und ergänzt. Zur Slowakei vgl. Li via Rothkirchen,
Churban Yahadut Slovakia, Jerusalem 1961.
169 Siehe Joseph Friedenson/David Kranzler, Heroine of Rescue, The incredible story of Recha
Sternbuch, 1984, und David Kranzler, Brothers Blood, sind Beispiele orthodoxer Mythenbildung
und Rechtfertigung. Yehuda Bauer, The Negotiations, in: Gutman, Rescue Attempts, hat Saly
Mayer als zentrale Figur gesehen, änderte aber mit seinen fortlaufenden Veröffentlichungen das
Bild erheblich.
170 Monty Noam Penkower, The Jews were expendable, Detroit 1988, hat als erster versucht, die
Abläufe gleichzeitiger Ereignisse in der jüdischen und der freien Welt einsichtig zu beschreiben,
ohne in eine rechtfertigende Diktion zu geraten.
171 AFS: 2001 D 3, Nr. 172, Telefonzensur v. 2. 8. 1944.
172 Siehe H. R. Trevor-Roper, The Last Days of Hitler, New York 1947, deutsch: Hitlers letzte Tage,
1949, S. 60 (Anm. 1); darin schätzt Professor Trevor-Roper, der als Historiker im Auftrag des
britischen Nachrichtendienstes die Umstände von Hitlers Tod abzuklären hatte, die Motive Schellen-
bergs, auf diese Weise Leben zu retten, als völlig opportunistisch ein.
173 Siehe Reinhard Rürup, Topographie des Terrors, Berlin 1989.
174 Bericht Eggen v. 13./15. 11. 1945, zitiert nach Pierre Th. Braunschweig, Geheimer Draht nach
Berlin, Zürich 1989, S. 303.
175 Siehe die Einschätzungen bei Trevor-Roper, Hitlers letzte Tage, S. 59; und besonders David Kahn,
Hitler's Spies, German Military Intelligence in World War II, New York 1985, S. 260, mit
eingehenden Charakterbeschreibungen von Schellenberg und anderen SS-Leuten.
519

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS

I.ARCHIVE

AFS Archive Jederat suisse I Schweizerisches Bundesarchiv, Bern


EPD: Eidgenössisches Politisches Departement, Abteilung für Auswärtiges
2001 D 1 (1939); 2001 D 2 (1940-1942); 2001 D 3 (1943-1945).
Gesandtschaften: 2220 Paris; 2200 Budapest. Abteilung für Fremde Interes-
sen: 2001 D 7, 11 und 15.
EDI: Eidgenössisches Departement des Innern, Magistraturakten 3800 A 2-4
und 1976/87 (Etter).
EJPD: Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement, Magistraturakten:
4001 B 1 und 1970/187 (Baumann); 4001 C 1 (von Steiger); 4001 D 1973/
125 (Feldmann). Eidg. Polizeiabteilung: 4260 C 1, 1969/146, 1974/34. Eidg.
Fremdenpolizei: 4300 B 2, 3 und 1971/4. Handakten Rothmund: 4800 A 1
und 3 sowie 1967/111.
E 4450 (Zensurakten).

BUND Archives oftheJewishLabour Bund, New York


ME 22: Liebmann Hersch Collection; S1: Mendel Gliksman Collection;
sowie weitere Nachlässe. Das Bund-Archiv im Atran Centreist derzeit in
Übergabe an das YIVO Institute for Jewish Research, New York.

CZA Centrat Zionist Archives, J erusalem


L 22: Nachlass Richard Lichtheim, Jewish Agency Geneva Office.
S 25: Jewish Agency for Palestine, Political Department.

ETH Eidgenössische Technische Hochschule: Archiv für Zeitgeschichte, Zürich


NAW: Mikrofilme aus Beständen der National Archives Washington; Akten
der deutschen Gesandtschaft T 120 2600, 3968, 4725, alle unter RG 242; und
OKW (Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt) T 177 Roll 706.
Nachlässe: Avner Less, Jerusalem; Benjamin Sagalowitz, Zürich.
Kolloquien (Tonband-Protokolle): Veit Wyler (1990), Hermann Levin
Goldschmidt (1991). Biografische Sammlung.

ICZ Israelitische Cultusgemeinde Zürich


GV: Protokolle Generalversammlung. Vorstand: Protokolle und verschiedene
Konvolute. Dossiers: Verschiedene Konvolute und Protokolle von Kommis-
sionen. Geschäftsberichte 1933-1945.
520

JDC AmericanJewishJointDistribution Commit(ee, New York


General-Archives nach# Nummern. SM: Saly Mayer Archiv.
DORSA: Dominican Republic Settlement Association.
Das JDC-Archiv befand sich zur Zeit dieser Forschungserhebungen in
Reorganisation. Dabei werden die separaten Archivbestände, darunter das
Saly-Mayer-Archiv, vereinheitlicht. Die geplante Mikroverfilmung für das
Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich ist zwischenzeitlich abgeschlossen
worden.

JGB Jüdische Gemeinde Bern (Israelitische Kultusgemeinde Bern)


Dossier <<Gurs» (Bemer Hilfwerk für Gurs), 1940/1942.
Hinweis: Protokolle aus den Jahren 1933-1945 sind ausstehend.

LBI Leo Baeck Institut, New York


Archiv: Adler-Rudel-Collection; Richard-Baer-Collection; Kurt Hirschfeld-
Collection.
Memoiren-Manuskripte: Gurs (anonym. Ms); Hannah Jacobovitz; Edith
Kramer Ms.; Federica Spitzer Ms.; Horst Wagner Ms.

MIH Musee International de l'Horlogerie, La Chaux-de-Fonds


Tavannes Watch & Co.; Schwob Freres & Co.; Cyma Watch & Co.;
Cyma S. A.; Ebel S. A.; dazu auch: Aureole; Chevron; Juvenia; Movado;
Solvil, Paul Ditisheim; Vulcain, Henri Ditisheim.

NAW NationalArchives, Washington


State Department Records: RG 59. OSS Records: RG 226. War Department
Records: RG 165. UN War Crimes Commission: RG 238. Himmler-Auf-
zeichnungen: RG 242. Intelligence Doc. Files: RG 319. Mikrofilme der
Akten deutsche Gesandtschaft und OKW siehe bei ETH.

NG Nürnberger Gerichtsakten
Akten des Internationalen Militärgerichts in Nürnberg können gernäss NAW:
RG 238 (geordnet nach Dokumente-Nummern) in zahlreichen Archiven und
Bibliotheken gefunden werden.

OAA Orthodox J ewish Archive ofAgudath Israel ofAmerica, New York


Michael G. Tress Papers; Franzi Goldschmidt Papers; HIJEFS Papers (Isaac
Sternbuch and Vaad Hatzoloh); Joan Frederiks Collection; Jacob Rosenheim
Collection.

SIG Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund, Zürich


CC: Central-Comite. DV: Delegiertenversammlung GL: Geschäftsleitung.
JUNA: Dokumentation Juna des SIG. Dossiers: Separate Akten und Korre-
spondenzen. Die Deponierung der Juna-Bestände im Archiv für Zeitgeschich-
te der ETH Zürich ist inzwischen erfolgt; die Aufbewahrung des SIG-Archi-
ves ist dort in Vorbereitung.
QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS 521

SLB Schweizerische Landesbibliothek, Bern


Biografische Sammlung. Vereinsbestände: Schweizerisches Hilfswerk für
Emigrantenkinder; Vereinigung Schweizerischer Republikaner.

UBS Universitätsbibliothek Basel, Basel


Nachlass Edgar Salin.

UJA UnitedJewishAppeal, Archives, New York


Greater New York, Swiss Division, 1940-1946.

VSJF Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen, Zürich


Für Protokolle und einzelne Materialien ist das Archiv des SIG zu konsul-
tieren. Der VSJF verwahrt eine umfangreiche Sammlung von rund 25'000
Personendossiers zu den Flüchtlingen, die vom Verband 1933-1952 und
später betreut wurden.

WJC World Jewish Congress, New York


Dokumentationsbestände nach Titel; Konvolute und Korrespondenzen nach
Nummern und Datum.

WRB Frank/in D. Roosevelt Library, Hyde ParkN. Y.


War Refugee Board: Aktenbestände (Box); Press Releases (Bände).
Morgenthau: Henri Morgenthau Jr. Diaries.

YIVO YIVO Institut for Jewish Research, New York


HIAS/HICEM: Mikrofilme 15173 von Hias/Hicem." Grossmann: Kurt R.
Grossmann Papers Section.

YV Yad VashemArchives, Jerusalem


Nachlässe/Aktenbestand: P-13, Benjamin Sagalowitz; P-12, Chaim Pozner.

YUNY Yeshiva University, New York


Va'ad HaHatzalah, Aktenbestand.

ZHSA Staatsarchiv Zürich, Zürich


Protokoll Regierungsrat; Kantonsrat, Kommission <<Besteuerung von Rück-
wanderern>>; Obergericht des Kantons Zürich, 1. und 2. Kammer.

Privatarchiv Familie Pierre Graber-Schwob, Renan BE


(Tavannes Watch Co.)
522

II. G E S P R Ä C H E I K 0 R R E S P 0 N D E N Z E N

Hermann Levin Goldschmidt, Zürich; Leo Littmann, Zürich; Gerhart M. Riegner, Genf;
Marko Rothmüller, Bloomington; Jzchak Schwersenz, Haifa; Claude Schwob, La Chaux-de-
Fonds; Veit Wyler, Zürich; Raya Adler, Tel Aviv; Stefan Keller, Zürich; Hans-Peter Kröner,
Münster; Chana Weiner, Yad Tabenkin, Ramat-Efal; Ruth Zariz, Kibbutz Mashabei Sade.

111. ZEITUNGEN I PER I 0 D I K A 1933-1945

Hinweis: Das JUNA-Archiv des SIG dokumentiert seit 1936lückenlos Pressetexte aus
Schweizer Pressen sowie auch aus ausländischen Zeitungen, die jüdischen Belange und
insbesondere den Antisemitismus betreffen. Dazu gehören auch Presseauszüge, Flugschriften
und dokumentarische Schriften zu und von einschlägigen antisemitischen Organisationen in
der Schweiz. Eine Übergabe dieser Bestände an das Archiv für Zeitgeschichte an der ETH
Zürich ist vorgesehen.

Schweizerische Tages- und Wochenpresse sowie Periodika (Auswahl):


Aargauer Tagblatt; Aargauer Volksblatt; Baselbieter Landschäftler; Basler Arbeiter-Zeitung;
Basler Nachrichten; Berner Tagblatt; Berner Tagwacht; Der Bund; Courrier de Geneve;
Eidgenössische Zeitung für Volk und Heimat; Gazette de Lausanne; Journal de Geneve;
Kirchenanzeiger der katholischen Pfarrei St. Peter und Paul; Kirchenblatt für die reformierte
Schweiz; Kirchenbote des Kantons Zürich; Der Landbote, Winterthur; La Liberte; National-
Zeitung; Neue Berner Zeitung; Neue Zürcher Zeitung; Oltener Tagblatt; Die Ostschweiz; Le
Pilori; Schweizerische Kirchenzeitung; Schweizerische Juristenzeitung; Schweizerische
Republikanische Blätter; La Sentinelle; St. Galler Tagblatt; Thurgauer Zeitung; Das Vater-
land; Volksrecht; Volksstimme St. Gallen; Zürcher Student.
Die Schweiz, Ein nationales Jahrbuch (hg. v. Neue Helvetische Gesellschaft); Schweizerische
Monatshefte für Politik und Kultur.

Ausländische Pressematerialien:
Law Journal; Völkischer Beobachter; Il Regima Fascista; United Press.

Jüdische Presse und Zeitschriften des In- und Auslandes:


Congress Weekly (New York); La Deliverance (Lausanne); Informations de Palestine,
Bulletin bimensuel de L' Agence juive (Geneve); Israelitisches Wochenblatt (Zürich); Jewish
Chronicle (London); Das Jüdische Heim (Zürich); Jüdische Presszentrale (Zürich, ICZ);
Makkabi (Basel); Das Neue Israi:l (Zürich); Omanut, Blätter für jüdische Kunst und Literatur
(Beilage des Israelitischen Wochenblattes, Oktober 1941-August 1942); La Revue Juive
(Geneve); Zionistische Nachrichten (Sonderausgabe der Jüdischen Rundschau Maccabi,
1947-1948).
QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS 523

Flüchtlings- und Emigrantenzeitschriften (* SLB):


H. B. -Nachrichten (Hasenberger-Nachrichten), Nr. 1-5 (November 1939-April1940); Die
Arche, gezimmert von Zürcher Studenten (Februar 1940); Der Beginen, Nr. 1-3 (Bonstetten
Dezember 1944-Mai 45, in Jiddisch); Der Transmigrant, Nachrichten aus den Arbeitslagern
für Emigranten, Nr. 1 (Juli 1941), und Lagerstimme, Mitteilungsblatt der Emigranten in den
Arbeitslagern der Schweiz, Nr. 2 (November 1941); Über die Grenzen, Nrn. 1-12 (1944-45);
Unser Wort, Nr. 1, u. Das Wort, Nr. 2-4 (Genf 1944-45, in Jiddisch).

IV. Q U E L L E N- U N D F 0 R S C H U N G S P U 8 L I KAT I 0 N E N

Das Verzeichnis unterscheidet nicht zwischen gedruckten Quellenschriften, historischen


Darstellungen und Memoiren und dergleichen. Sie sind für zeitgeschichtliche Themen oft nur
ungenau abzugrenzen, zumal auch apologetische Bedürfnisse dahinter stehen. Stattdessen
wird im Verzeichnis aufgeteilt zwischen selbstständigen Titeln und unselbständigen Arbei-
ten, die jeweils in Zeitschriften und Sammelwerken erschienen sind.
Bei Titeln, die nicht verlagsmässig publiziert wurden, wird der Standort mit einem Stern
* angegeben (z. B. bei Lizentiats- und Magisterarbeiten) oder in den Anmerkungen auf das
Archiv mit Signatur verwiesen. Für das Thema nicht relevante Literatur, die mir aber aus
vergleichendem Interesse dienlich war, wird nur in den Anmerkungen aufgeführt.
Als Bibliographie wird man das 1993 publizierte Werk von Annie Fraenkel, Bibliografie zur
Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz, hg. v. Uri R. Kaufmann, zu konsultieren
haben, dem ich viele Hinweise entnahm. Gleichfalls zu konsultieren ist Fred Better (Hg.),
Florence-Guggenheim-Archiv zur Geschichte, Sprache und Volkskunde in der Schweiz, Zürich
(Bibliothek ICZ) 1985. Hilfreich für die Presse ist Fritz Blaser, Bibliographie der Schweizer
Presse, mit Einschluss des Fürstentums Lichtenstein, Basel1956-1958, Bd. 2 (Judaica).

Selbstständige Publikationen

Adam, Uwe Dietrich: Judenpolitik im Dritten Reich, Düsseldorf 1972


Adler-Rudel, S.: Jüdische Selbsthilfe unter dem Naziregime 1933-1939 im Spiegel der
Berichte der Reichsvertretung der Juden in Deutschland, Tübingen 1974
Agar, Herbert: The Saving Remnant, An account of Jewish survival, New York 1960
Alt, Adolf: Die Eidgenossen am Scheidewege, Rapperswi11929
Alt, Adolf: Der Innere Feind der Schweizerischen Eidgenossenschaft, o. 0. 1928
Alt, Adolf: Volk in Gefahr! WallStreet (Jakob Schiff, Kuhn, Loeb & Co), München 1932
Altermatt, Urs: Katholizismus und Moderne, ZürichlEinsiedeln 1989
Aide aux Emigres: Zukunftspläne der Flüchtlinge in der Schweiz, Genf 1945 (* AFS und
SLB)
Albrich, Thomas: Exodus durch Österreich, Die jüdischen Flüchtlinge 1945-1948, Innsbruck
1987
Alexandre, Paul: L'Union ORTet l'organisation future du monde, L'reuvre de l'ORT en
Suisse, Lausanne 1945
524

American Jewish Year Book, 35-47, New York 1936-1947


Amis de la Revue Juive: Josue Jehouda, l'homme et l'reuvre, Preface de Jean Casson, Paris
1949
Amsee, Andreas: Die Judenfrage, hg. v. Apologetischen Institut des Katholischen Volks-
vereins, Luzern 1939
Amstutz, Theo: Le second avant-guerre dans la Iitterature suisse 1929-1938, Lizentiatsarbeit
(Ms.) *Universität Genf 1973
Barlas, Chaim: Hazalah Bi'ymei HaShoa, Tel Aviv, RaKibutz Hameuchad 1975
Barth, Karl: Eine Schweizer Stimme 1938-1945, Veröffentlichte und unveröffentlichte
Vorträge und Briefe, Zürich 1945
Battenberg, Friedrich: Das europäische Zeitalter der Juden, Darmstadt 1990
Bauer, Yehuda: From Diplomacy to Resistance, A History of Palestine 1939-1945,
Philadelphia 1970
Bauer, Yehuda: My Brother's Keeper, A History ofthe American Jewish Joint Distribution
Comrnittee, Philadelphia 1974
Bauer, Yehuda: The Holocaust in Historical Perspective, Seattle 1978
Bauer, Yehuda: AmericanJewry and the Holocaust, The American Jewish Joint Distribution
Committee 1939-1945, Detroit 1981
Bein, Alex: Die Judenfrage, Biographie eines Weltproblems, Bd. 1-2, Stuttgart 1980
Ben-Sasson, Haim-Hillel: Geschichte des jüdischen Volkes, Bd. 1-3, München 1978
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jüdischen Volk und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz im Zweiten
Weltkrieg, Zürich 1990
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Thalmann, Rita R.: Jüdische Frauen nach dem Pogrom 1938. In: Paucker, Juden im national-
sozialistischen Deutschland, 1986
Trepp, Gian: 100 Schweizer Anwälte in den USA fichiert. In: plädoyer 8/4, 1990
Trümpy, Kurt: Schweizerische <<Menschenhändler» im Dritten Reich. In: Der Schweizerische
Beobachter v. 15.-30. Juni 1961
Trümpy, Kurt: Heute darf ich reden. In: Sie und Er, 39-45, Oktober-November 1961
Vago, Bela: The Intelligence Aspects of the Joel Brand Mission. In: Yad Vashem Studies 10,
1974
Weingarten, Ralph: <<Pfandleiher und Sündenböcke>>. In: Der Schweizerische Beobachter 8,
30. Apri11985
Weingarten, Ralph: Gleichberechtigt in die neue Zeit, Die «Gründerzeit>> des Schweizer
Judentums. In: Guggenheim, Juden in der Schweiz, 1982
Weingarten, Ralph: Acht Jahrhunderte schweizerisch-jüdische Geschichte. In: Israelitisches
Wochenblatt v. 15. November 1991
Wicki, Maja: Neunzig Jahre gelebtes Leben, Emmie Oprecht. In: Das Magazin (Tages-
Anzeiger/Berner Zeitung), Zürich Januar 1989
Wicki-Schwarzschild, Hannelore: Auch mir steigen Erinnerungen auf. In: Wiehn, Oktober-
deportation 1940, 1990
Wicki-Schwarzschild, Margot: Gurs-aus Kinderperspektive. In: Wiehn, Oktoberdeportation
1940, 1990
Wischnitzer, Mark: The Historical Background of the Settlement of Jewish Refugees in Santo
Domingo. In: Jewish Social Studies IV/1, 1942
Wohlmann-Meyer, Cläre: Die jüdische Frau in moderner Zeit. In: SIG, Festschrift, 1954
Wreschner, Walter: Aufgaben einer Einheitsgemeinde. In: Israelitisches Wochenblatt v. 21.
März 1962
Wyman, David: Why Auschwitz Was Never Bombed. In: Commentary 65, 1978
544

Zaugg, Otto: Schulung, Umschulung und Weiterbildung von Flüchtlingen. In: Schweiz.
Zentralstelle f. Flüchtlingshilfe, Flüchtlinge wohin, 1945
Zbinden, Hans: Der Flüchtling und die Humanität. In: Artemis-Verlag, Kulturschriftenreihe
7, Zürich 1945
545

VERZEICHNIS DER TABELLEN UND KASTENTEXTE

1. Tabellen

Jüdische Bevölkerung der Schweiz 1900-1950 61


Ausländer und ausländische Juden in der Schweiz 1910-1950 61
Überseewanderung von Schweizern, Juden und VSJF-Flüchtlingen 293
Vom VSJF realisierte Weiterreisen aus der Schweiz 1933-1952 293
VSJF-Ausgaben, SIG-Sammlungen und JDC/HICEM-Beiträge sowie
vom VSJF betreute Transmigranten 1933-1952 370
Subventionen an den VSJF durch verschiedenen Organisationen und Amtsstellen 371

2. Kastentexte

Schweizerischer Vaterländischer Verband (VV):


Die antisemitische «Judenfrage>> als Waffe gegen die Juden 54
In die Enge getrieben (1): Jüdische Zustimmung zu den eidgenössischen
Arbeitslagern und die Angst vor Behörden und Flüchtlingen 135
Zum jüdischen Beitrag in der Schweizer Uhrenindustrie 178
In die Enge getrieben (2): Die Angst der Schweizer Juden vor Antisemiten,
innerjüdischer Opposition und fremden Juden 283
Zum Beispiel St. Gallen (1): Die Lage 1938: die Flüchtlinge des
Polizeihauptmanns Grüninger und der jüdischen Flüchtlingshilfe St. Gallen. 301
Von Prag über Zürich nach Montevideo: Schweizer Transmigration
am Beispiel der tschechoslowakischen Flüchtlingsfürsorge 1938 306
Alter und Berufe von Transitflüchtlingen 1941 336
Zum Beispiel St. Gallen (2): Ein Bad im Monat und selten Obst -
Was eine Flüchtlingsfamilie täglichassund kostete 375
Die Sammlungen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und der
Jungen Kirche im Herbst 1942 379
Kurzer Abriss über das Schweizerische Hilfswerk für Emigrantenkinder (SHEK) 441
547

NAMENREGISTER

A Aureole 178
Aargauer Tagblatt 131 Ansbacher, Jehuda Leo 399, 401
Abetz, Otto 188, 189, 403 Ansermet, Emest 112
Abt, Roman 149 Antima Watch 178
Achad Ha-Am 248, 253, 255, 355 Antmann, Familie 178
Action catholique 82 Appel, Familie 178
Action Franc<aise 31 Arbeiter-Zeitung Basel 449
Adler, Alfred 44 Arbeitsgemeinschaft für kriegsgeschädigte Kinder
Adler, Gerhard 44 432
Adler-Rudel, Salomon 304 Arche 353
Agar, Herber! 367 Arlettaz, Gerald 62
Agudas Achim 223, 391 Armee, Schweizer 15, 131, 132,340,407,408,
Agudat Israel 244,264,390,394,411 414,416,432
A. H. Schütte, Firma 181 Armee-Blutspendedienst 407
Aide aux Emigres 288, 326, 356, 452 Asch, Schalom 268
Aide aux Refugies du Camps de Cours (ARCC) Assistance medicale aux enfants de refugies 441
400,401 · Association des intellectuels pour Ia defense de Ia
Allgemeine Ärztliche Gesellschaft für culture 112
Psychotherapie 44 Associationjuive de Belgique 438
Allgemeine Zionisten 253, 254, 260 Association Patriotique Vaudoise 55
Allgemeiner Jüdischer Arbeiter Bund (BUND) Aufgebot 75
244,261,262,276,292,355,390,410,412, Augustin-Keller-Loge, Zürich (siehe Bnai-Brith)
439
Alliance Israelite Universelle 247, 249, 267, 270
Alt, Adolf 50 B
Alter, Victor 264 Bachad 259,284,311,314,316,444
American Committee on Religions Rights and Bachenheimer, Moritz 57
Minorities 401 Bachmann, Gottlieb 364, 365
American Friends Service Committee 398, 399 Badoglio, Pietro 187
American Jewish Committee (AJC) 267, 272, 320 Baeck, Leo 350
American Jewish Congress 272 Bakman, Symche 391
AmericanJewish Historical Society 319 Balfour, Arthur James, Lord 252, 265
American Jewish Joint Distribution Committee Bally, Gustav 44
(JDC) 90, 155, 207, 232, 246-249, 271-276, Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ)
280,296,299-307,325,326,327,334-337, 411
340,364,366-377,381-390,394,398,401, Bär, Bankhaus 89,377
402,416,417,427,428,431-442,449,451 Bär, Waller 377
American Jewish Relief Committee 271 Barbey, Bemard 42
Anglo-Jewish Association 247 Baron, Salo W. 18
Anglo-Palestine Bank Ltd. 318 Barth, Kar! 49, 80
548

Basler Nachrichten 148, 153 Bornstein-Fink, Hermann 313


Bauer, Yehuda 367, 383 Botschko, Rabbiner 265
Bauern-, Gewerbe und Bürgerpartei (BGB) 100, Bourgeois, Daniel 17
120, 149 Bousquet, Rene 404
Baumann, Jakob 125 Brand, Joel 456, 460
Baumann, Johannes 119, 121, 145, 149, 152, 159, Brandenburger, Otto 203
161,304,369,377 Brann, Familie 89
Bavier, Jean de 457 Brann-Warenhäuser 57
BBC 410 Braunschweig, Saly 97, 104, 130, 133, 134, 244,
Becher, Kurt 455, 460 281,283,381,416,417,422,423,426
Becker, Maria 391 Bretscher, Willy 243
Begin, Menahem 312 Briner, Robert 90, 237, 283, 312, 381, 421
Beginen 264,348,349,351,353,354 Brith Habonim 256
Ben-Gurion, David 256 Brod,Max 123,137
Benjamin, Dora 447 Bruggmann, Charles 384
Bergmann, Hugo 137 Bruns, Victor 141
Bergson, Henri 137 Brunschvig,Arrnand 96,104,207,268,340,342,
Bernadotte, Folke 460 398,399,400,403,404
Bernardini, Phillipe 393 Brunschvig, Georges 99, 101, 151, 281, 393, 418,
Berner Tagwacht 109, 165, 339 423,424,426
Bernischer Juristenverein 216 Brüschweiler, Carl 112, 125, 225, 333
Betar 311 Buher, Martin 244, 253
BIGA (Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Bucher, Erwin 16
Arbeit) 333 Bucher, Kurt 154
Bigar, Pierre 207, 422, 423, 426 Bucher, Rudolf 407
Bikur Cholim 392, 393 Buckley, Charles 321
Billerbeck, Paul 137 Bührle-Konzern 456
Bircher, Eugen 54, 55, 125, 130, 420 BUND (siehe Allgemeiner Jüdischer Arbeiter
Bircher-Benner, Maximilian Oskar 243 Bund)
Blättler, Franz 407 Bund für Volk und Heimat 109
Bleuler, Eugen 45 Bund jüdischer Pfadfinder 444
Bloch, Alice 438 Bund nationalsozialistischer Eidgenossen 99
Bloch,Arthur 47,59 Bund Schweizerischer Frauenorganisationen
Bloch, Georges 376,440,441, 446 (BSF) 211,212,214,217,230,239,241
Bloch,Jacques 278,433,440 Bund Schweizerischer Israelitischer Frauenvereine
Blocher, Eduard 51 (BIF) 230,232,239,240,333,441,444
Blum, Adrien 260 Bund Schweizer Juden (BSJ) 109
Blum,Uon 31 Bundesanwaltschaft (siehe Schweizerische
Blum, Paul 184, 426 Bundesanwaltschaft)
Bnai-Brith 321,431 Burckhardt, Carl J. 387, 409,412, 434,456
Bne Akiwa 259 Burnand, Franz 82
Board of South African Jews 376
Boeschenstein, Hermann 418
Bohenzky, Robert und Familie 375 c
Bonhoeffer, Dietrich 79 C. E. M. S. A 182
Bonjour, Edgar 16, 54, 415 Calonder, Felix Ludwig 199
Bonna, Pierre 161,201,297,408 Canaris, Wilhelm 460
Bopp,Uon 42 Central Relief Committee 271
Borel, Eugene 199 CGJ (siehe Council of German Jewry)
Boritzer, Regina 352 Charnberlain, Houston Stewart 58
Born, Friedrich 457, 458 Chamberlain, Neville 307
Bornstein-Fink, Gusti 313 Charell, Erich 174
NAMENREGISTER 549

Chevron 178 Dreifuss, Ruth 126


Christenwehr 234 Dreifuss, Sidney 301
Christlich-jüdische Vereinigung gegen den Dreyfus & Söhne, Bank 89, 377
Antisemitismus 84 Dreyfus de Günzburg, Paul 340,377,418
Chronos SA 179 Dreyfus, Alfred 31, 71, 74
Churchill, Winston 395 Dreyfus, Armand 335, 382
CIMADE 399 Drohobycz, Schapira von 259
Clemenceau, Georges 31 Drumont, Edouard 30
Cohen,AJbert 43,136 Dubnow, Sirnon 137, 140, 262, 355
Cohen, Elie 140 Dubois, Maurice 434, 439
Cohen, Marianne 437 Duebes Hampden Watch Co. 181
Cohn, Arthur 264 Duesberg, Hilaire 82
Cohn, Marcus 417 Dufour, Jules 66
Comite Central d' Assistance (CCA) 399, 401 Duft, Johannes 73
Comite d'assistance aux refugies (CAR) 398,437 Dühring, Bugen 33
Comite de Nimes 434, 435 Dulles, Allen 460
Comite des camps 399 Dunant, Henri 111
Comite des Delegations Juives 96, 140 Dürrenmatt, Friedrich 42
Comite national de defense des juifs (CNDJ) 439 Duttweiler, Gottlieb 93, 124, 432
Commissariat aux questions juives 188, 403
Commission centrale des organisations juives
d'assistance (CCOJA) 398, 399, 400 E
Committee for Relief of the War-Stricken Jewish Ebauches SA 179
Population (RELICO) 395, 270, 400, 402, Ebel SA 178, 180, 183
418 Eck, Nathan 265
Communaure israelite de Geneve 226 Eclaireures israelites de France (ElF) 435, 436,
Communaute israelite de La Chaux-de-Fonds 196 437
Communaute israelite de Lausanne 226 Ecole d'Humanite 441
Cordier, Victoria und Madeleine 439 Eggen, Hans Wilhelm 460
Council of German Jewry (CGJ) 247, 300, 304, Eggenberger, Mathias 154
306,374 Eichmann, Adolf 131, 405
Cremer, Valentin 277 Eidgenössische Departemente (siehe EID, EJPD,
Curti, Bugen 101 EMD, EPD und EVD)
Cyma SA 179, 180 Eidgenössische Munitionsfabrik AJtdorf 182
Eidgenössische Polizeiabteilung 58, 359
Eidgenössisches Auswanderungsamt 377
D Eidgenössisches Fremdenpolizei 65, 209, 215,
Danzas & Co 183 216,341,381,403,414,415,432,448
Deliverance 136,315 Eidgenössisches Kriegsfürsorgeamt 400
Demokratische Flüchtlingsfürsorge der Tschecho- Einstein, Albert 123, 252, 278
slowakei 306 Eis, Chaim Israel 264, 266, 392
Dennenberg, EIWin 103 Eiserner Besen 56, 129
Der Internationale Jude 47 Eisfelder, Hanna 123
Deutsches Rotes Kreuz 395 EDI, Eidgenössisches Departement des Innem
Dicker, Jacques 126, 128 186, 195
Dinichert, Paul 160, 164 EJPD, Eidgenössisches Justiz- und Polizei-
Ditisheim, Henri 178 departement 186, 201, 202, 211, 212, 214,
Ditisheim, Paul 179 338,341,357,359,360,372,407,409,415,
Dominican Republic Settlement Association 420,445
(DORSA) 327, 328 EMD, Eidgenössisches Militärdepartement 407
Dreifus-Brodsky, Jules 97, 106,229,234 (siehe auch Armee)
Dreifuss, Eric 46 Emerson, Herbert 385, 435
550

Emigdirect 273, 274 Friedländer, Ludwig 137


Emser Werke 86 Fritsch, Theodor 47, 98
EPA, Einheitspreis-Aktiengesellschaft 103, 104, Frölicher, Hans 160, 161, 164, 166, 169, 185,
105 191, 193
EPD, Eidgenössisches Politisches Departement Front National 55, 56
160,169,177,186,201,204-208,297,327, Frumkin, Gad 449
384,403,407,408,409,414,416 Frutiger, Gottlieb 149
Erlich, Henryk 263
Escherbund 346
Essener Zeitung 412 G
Etter, Philipp 16, 186, 195, 409, 428 Gambichler-Dreifuss, Eheleute 212
Ettinger, Shmuel 270 Gare!, Georges 436, 438
Europa-Union 123 Gautschi, Willi 16
Europarat 141 Gazette de Lausanne 380
EVD, Eidg. Volkswirtschaftsdepartement 303, Gerechtigkeit für Paul Grüninger, Verein 301
324 German Jewish Committee 304
Gestapo 148, 158, 436, 456, 459
Giacometti, Zaccaria 92, 144
F Giehse, Therese 57,391
Faller, Alfred 322 Ginsberg, Asher 253
Faller, Robert 322, 389 Girard, Pierre 42
Farbstein, David 126, 131, 137, 233, 255,423, Giterman, Valentin 126
424 Glenn, Jacob B. 325
Farinacci, Roberio 184 Gliksman, Mendel 264, 354
Famy, Renee 439 Gobineau, Arthur de 30, 58
Fazy,Robert 175,199 Goebbels, Joseph 161, 189
Federal Reserve Bank 384 Goetschel, Alfred 422, 423
Federation des societes juives (FSJ) 398, 437 Goetschel-Bium, Maurice 126
Federation Fasciste Suisse 55 Goldmann, Nahum 140, 142,200,243,246,254,
Feinberg, Nathan 140 268,309
Feldmann, Markus 120,145, 148-156 Goldschmidt, Fransie 265, 449
Feldscher, Anton 186 Goldschmidt, Hermann Levin 219, 353, 364
Feldstein, Lazar 391 Goldschmidt-Rothschild, Anwalt 324
Feiler, Harald 457, 458 Gompertz, Lewis 36
Feuchtwanger, Lion 123, 137, 244 Gordonia 255
Fink, Ernst 313 Gordonia-Makkabi 316
Fleg, Edmond 43, 137 Göring, Hermann 44, 100, 164, 185,412
Fleischmann, Gisi 456 Göring, Matthias Heinrich 44
Flüchtlingstheater Navenad 264 Gosehier SA 178
Fondation Suisse du Comite de Secours aux Gotthardbund 15, 92
Refugies 400, 404 Gourvitch, Lazare 277,439
Ford, Henry 47,322,365 Gourvitch, Olga 439
Fore!, Auguste 45, 82, 111 Graber, Emest-Paul 194-203, 206
Forum Helveticum 419 Graetz, Wilhelm 335
Frankfurter, David 100, 101, 127, 131, 158 Grellet, Pierre 380
Französisches Rotes Kreuz 399 Greulich, Herman 255
Freisinnig-Demokratische Partei (FdP) 77, 124, Gridley, Firma 181
125,126,154,234 Grimm, Robert 419
Freud, Sigmund 44 Grin, Theophil 82
Frick, Wilhelm 100 Gross, Jules-Emest 56, 117
Friedenswarte 142 Grosz, Andor <<Bandi» 456
Friedl, Rafi 456 Grün, Oskar 319, 321
NAMENREGISTER 551

Grüninger, Paul 299,301, 302 Herenger, Alexandre 123, 137


Grünspan, Hersehe! 100, 158 Hersch, Liebman 263, 264, 278, 284, 340, 354
Grütlianer 124 Herz!, Theodor 248, 249, 250, 253
Gryn, Tony 437 Herzog, Izchak 259
Guers, Emil 82 Hess, Moses 250
Guggenheim, Ema 443, 454 Heydrich, Reinhard 459, 460
Guggenheim, Florence 239 Heymann, Fritz 319
Guggenheim, Georg 107, 130, 133, 134, 139, HIAS 248,271-275,290,296,322,323,326,
225,269,422,424,426 376,442
Guggenheim, Kurt 16, 23, 40, 42, 43, 203, 228 HICEM 247,273,275,293,300,306,307,323-
Guggenheim, Paul 138-144, 156, 197-208,243, 328,335,370,371,376,381,437,441,451
248,267,348,381,409,410,424,428 Hilfsaktion für die notleidenden Juden in Polen
Guggenheim, Sylvain 133, 168, 300, 308, 309, (Hafjp) 391, 392, 395
326,374,417,426 Hilfsverein Aschi-Ezer 391
Guggenheim-Wyler, Berty 239 Hilfsverein der Juden in Deutschland 247, 267,
Guisan, Henri 15, 16 270,281,322
Gurfinkel, David 264 Hilfsverein für jüdische Auswanderung 322, 388
Gumy, Max 92, 93,126,255 Hilfsverein für jüdische Flüchtlinge in Schanghai
Gustloff, Wilhelm 48, 100, 136, 158 (HIJEFS) 266,388,392,393,394,395
Gut, Theodor 429 Himmler, Heinrich 22, 455, 458, 459, 460, 461
Guttempler 419 Hirsch, Baron Moritz von 249, 274
Gutzwiller, Markus 199 Hitachduth Olej Germania 282
Gvir, Raphael 450 Hitler, Adolf 15, 18, 33, 34, 38, 42, 50, 76, 78, 79,
91, 93, 98, 100, 141, 145, 164, 171, 187, 188,
H 217,294,309,366,410,412,461
Hafjp (siehe Hilfsaktion ... ) Hobbes, Thomas 143
H. B.-Nachrichten (Hasenberg) 351, 352, 354 Hoch, Waller 80
Ha-Schachar 253 Hochland 74
Haas, Gaston 407 Hochschild, Mauricio 325
Haavara Ltd. 317 Hoffmann-La Rache 171
Häberlin, Heinrich 66, 116, 118, 148 Hohermuth, Bertha 346, 360
Hachschara Bex 309--313 Hohl, Johannes 201
Hakoah, Sportclub 391 Hornberger, Professor 202
Halevi, Yehuda 259 Homis Watch 178
Haller, Edouard de 409 Homme de droit 56
Hamburger, Kar! 232 Hommel, Germaine 439
Hanotea, Firma 317 Horkheimer, Max 36
Hapoel Misrachi 264 Horowitz-Stem, Margarete und Siegfried 397,
Hartung, Gustav 174 402
Haschomer Hazair 254--260,316,444 Horwitt, Nathan 178
Häsler, Alfred A. 154 Huber, Gertrud 212
Hasomir-Chor 227,391 Huber, Johannes 196
Haymann, Erwin 67, 340, 433, 437 Huber, Max 199
Hechaluz Hazair 254,256,260,274,284, 311,
314,315,316,388,444,456
Hecht, Rudolf Reuben 257, 310-313, 394
Hecke!, Bischof 81 Ickes, Harold 321
Heer und Haus 15 ICZ (siehe Israelitische Cultusgemeinde Zürich)
Heilbom, Herber! 212 IG-Chemie 171
Heim, Otto 155, 225, 279, 426, 441 IKRK 199,244,246,270,349,387,394,395,
Heimatwehr 53, 55, 125 397,400,409,412,434,456,457
Heinz, Wolfgang 391 Inglin, Meinrad 42
552

Institut Ascher 441 JiddischerArbeter 263


Institut of Jewish Affairs 269 Job, Robert 438
Institut universitaire des Hautes Etudes internatio- Joint (siehe American Jewish Joint Distribution
nales 141 Committee)
Intergovernmental Committee on Refugees Joint Foreign Committee of England 267
(IGCR) 296-300, 304, 322, 327, 347, 435 Jomini, Ernest 82
International Migration Service 288, 346, 350, Jonas, Hans 80
356 Jordania 254
International Refugee Organization (IRQ) 358 Jost, Hans Ulrich 17
Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit Journal de Geneve 112
49 Jüdische Arbeits- und Wanderfiirsorge 275
Internationale Panidealistische Vereinigung 49 Jüdische Emigration 275
Internationales Eisenbahn-Amt 244 Jüdische Emigrationskommission 322
Internationales Friedensbüro 244 Jüdische Gemeinde Kreuzlingen 402
Internationales Telegrafen-Amt 244 Jüdische Presszentrale 109, 128, 136, 242, 251,
Intria Ltd. 318 319,320,321,333,334
Iselin & Christ, Anwälte 201, 203 Jüdische Rundschau 449
Israel, Wilfrid 434 Jüdische Vereinigung Zürich 203, 254
Israelitische Allianz 247 Jüdischer Weltkongress (siehe World Jewish
Israelitische Cultusgemeinde Zürich (ICZ) 89, 97, Congress)
107,108,127,134,135,136,223-228,239, Julius Bär & Cie (siehe Bär, Bankhaus)
241,252,283,284,308,319,333,349,422- JUNA 106, 129-135, 157, 197, 232, 281, 283,
426,446 338,410,422,424,425
Israelitische Kultusgemeinde Bern (IKB) 99, 101, Jung, Carl Gustav 44
226,402 Junge Kirche 135, 376, 379, 380
Israelitische Kultusgemeinde Wien 298 Jungk, Robert 353
Israelitischer Frauenverein Basel 446 Juvenia 178
Israelitischer Frauenverein, Zürich 431
Israelitisches Wochenblatt 88, 92, 136, 156, 168,
241,249,299,305,323,342,348,393,409, K
412,413,414,424,446 Kadezki, Nathan 231
Israelitsehe Gemeinde Basel (1GB) 108, 117,226 Kadimah 123, 254, 424
Israelitsehe Religionsgesellschaft Zürich (IRG) Kägi-Fuchsmann, Regina 278,401
223 Kahn, Bernhard 299, 374
Kalmanowitz, Abraham 394
Kaltenbrunner, Ernst 456, 460, 459
Kamis-Müller, Aaron 38, 47, 62
Jabotinsky, Wladimir 244,257,258 Kappeler, Franz 160, 161, 163, 210
Jaeger, Maximilian 165, 457 Kareski, Georg 310
JDC (siehe American Jewish Joint Distribution Karstadt, Warenhaus 103
Committee) Kasser, Elsbeth 399, 401
Jehouda,Josue 43,136,249,270 Kasztner, Reszoe 455, 458
Jeschiva Etz Chaim 265 Kater, Marianne 351
Jewish Agency (JA) 243, 247, 248, 252, 257, 296, Katzki, Herbert 398
308-318,344,387,388,410,434,451 Keel, Valentin 301
Jewish Colonisation Association (JCA) 272-276, Keller, Augustin 111
290,296,329,334 Keller, Gottfried 111
Jewish Frontier 411 Keller, Stefan 301
Jewish ReliefOrganisations 274 Keren Hajessod 252, 299, 308
Jewish Theological Seminary of America 320 Keren Kajemeth (KKL) 243, 252
Jewish War Appeal 440 Kern, Hans 63
Jezler, Robert 347,348,415 Kimche, John 15
NAMENREGISTER 553

Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes Ligue Vaudoise 55


431 Lindtberg, Leopold 391
Klatzkin, Jakob 137 Littmann, Leo 231, 232, 322
Klausner, Josef 137 Loeb, Franc<ois 126
Klee, Hans 254, 344, 349 Loetscher, Hugo 329
Klein, Theo 437 Loinger, Georges 437
Kocher, Hermann 80 Loos, Cecile 42
Köhler, Ludwig 83, 122 Loosli, Carl Albert 46, 47, 48, 122
Kohli, Robert 171,205 Lorenz, Jacob 75
Kohn, Herber! 285 Lowrie, Donald 399, 434
Komoly, Otto 456 Lubin, Reisebüro 314
Korrespondenzblatt des Hilfsvereins der Juden in Ludwig, Carl 16, 36,117,134,145-159,294,
Deutschland 319 369,407,414
Kranzler, David 266 Lugrin, Philippe 55
Krausz, Moshe 456, 457, 458 Luther, Martin 189, 190
Kreis, Georg 17 Lutz, Carl 48, 311,457, 458
Kubowitzki, Leon 349 Lux, Stephan 102
Kuh!, Julius 392, 393, 411
Külling, Friedrich 37
Kullmann, Gustav 312 M
Kunin, Madeleine 89 Maag-Socin, Albert 152
Künzli, Amold 353 Maccabi Wien 306,313,325,326
Kurz, Gertrud 84,349,418 Maccabi World Union (Weltverband) 325, 326
Kutter, Hermann 82 Maeder, Jacky 183
Maillefert, Paul 82
Mandelstam, Andre 140
L Mann, Erika 57
Lados, Alexander 393 Mann, Golo 42
Lagerstimme 352, 353 Mann, Heinrich 123
Landesring der Unabhängigen (LdU) 56, 124 Mann, Thomas 42, 123, 150
Laqueur, Waller 255, 406 Margaliot, Abraham 295
Lasserre, David 82 Marr, Wilhelm 33
Lava!, Pierre 188, 434 Marsaux, Lucien 42
Lavater, Johann Caspar 111 Marshall, Louis 140,267
Leavitt, Moses A. 384 Marvin Watch 178
Lehmann, Herber! 448 Marx, Brich 136
Leisibach, Ursula 80 Marx, Hugo 137, 243
Leon Uvy Freres SA 178 Masson, Roger 407,460
Leonhardt, Ernst 58, 117 Maurras, Charles 31, 55, 188
Uvitte, Sirnone 437 Mayer, Hans 349
Levy, Saly 426 Mayer, Saly 18, 19, 67, 68, 101, 104, 106, 129,
Uvy, Gaston 440 130,133,134,150,151,155,156,168,205,
Uvy-Ditisheim, Edmond 201 206,207,233,234,249,280,281,294,298,
Lewenstein, Tuvia 265, 322 300-304,307,312,333,340,364,366,367,
Lewin, Isaac 448 371-377,381-385,389,393,397,402,411,
Lewinsky, Mendel 163,164,173 416,418,422-428,437,449,455,458,461
Libman Watch 178 Mazour, Jenny 438
Lichtegg, Max 391 McClelland, Ross 455, 460
Lichtheim, Richard 257, 410, 413, 434 McDonald, James 123, 296, 297
Liebman, Siegmund 178 Medern, Vladimir 263
Liema Watch 178 Medicus, Fritz 123
Liga gegen Antisemitismus 101 Medina, Diez de 326
554

Mefina-Holding 180, 183 Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei


Meier von Rotenburg, Rabbi 112 (NSDAP) 48, 100, 128, 158
Meier, Irma 212 Naymark, Gustave 82
Meili, Armin 243 Neptun, Reederei 312
Merchav, Perez 255 Nestle, Firma 171
Messerschmidt-Werke 456 Neue Berner Zeitung 149
Metraux, Paul 82 Neue Front 56
Meyer & Stüdeli S. 178 Neue Helvetische Gesellschaft 115, 131,419
Meyer, Alice 16 Neue Wege 83
Meyer, C. F. 111 Neue Zürcher Zeitung (NZZ) 44, 83, 86, 92, 132,
Meyer, Leo 178 409
Mieville, Henri-Louis 82 Neues Israel 156
Militärbefehlshaber, Deutscher (MBF) 187, 189, Nevejean, Yvonne 439
191,192 Newman, Leslie 249
Minger, Rudolf 149 Nicole, Uon 55, 117, 128
Minkowsky, Eugene 436 Nieuwkerk, Alfred 439
Misrachi 258,259,260,264,313 Nieuwkerk, Benjamin 439
Mohilewer, Schmuel Raw 258 Niklaus von der Flüe 78, 112
Mommsen, Theodor 33 Nordau, Max 253
Moos, Ludwig von 77, 78, 301 Nouvelle Presse Juive 136
Morgenthau, Henry 365, 366 NSDAP (siehe Nationalsozialistische Deutsche
Mossinson, Benzion 268 Arbeiterpartei)
Motta, Giuseppe 16, 95, 97, 152, 159, 161, 167,
168,183,184,186,308,326
Mouvement de Ia jeunesse sioniste (MJS) 435, 0
437 Oberkommando Wehrmacht (OKW) 180, 181,
Mouvement du nationalisme vaudois 55 182, 183
Mouvement national 59 Obwaldner Volksfreund 77
Movado 178 Oeri, Albert 120, 152, 153, 243,350
Müller, Alfred 429 Ökumenische Bewegung 83
Müller, Guido 161 Olgiati, Rudolfo 431
Mulvidson-Secor, Firma 193 Olswanger, Emanuel 440
Munk, Elie 349 Oltramare, Georges 55
Muret, Maurice 82 Omanut, Verein zur Förderung jüdischer Kultur
Mussolini, Benito 16, 78, 437 227
Musy, Jean-Marie 78, 323, 333, 393, 455, 459, Oprecht, Emil 137, 351
461 Oprecht, Emmie 137,351
Oprecht, Hans 145, 151, 152, 157, 263, 346
Or Chadasch, Jüdisch-liberale Gemeinde 223
N Oregon Agricultural Resettlement Committee 320
N'shei Agudat Israel 265 ORT 244-248, 264, 271-278, 316, 332-335,
Nachmanides (Mose ben Nachman) 259 340-343,362,370,376,381,388,390,437,
Näf, Rösli 439 440,443,449,454
Naine, Charles 82 OSE (CEuvre de secours aux enfants) 244, 246,
Nathan, Rudolf 211 248,264,271-278,381,388,390,398,399,
Nation 409, 432 405,417,431-442,444,447,451,454
National Refugee Service 273 Ott, Emma 401
National-Zeitung 46, 121, 125, 153, 418
Nationalbank (siehe Schweizerische National-
bank) p
Nationale Front 43, 56, 57, 65, 74, 99, 133, 244, Pakciarz, Jacob 341
332,432 Palästina-Amt 310,312,363,388,393,411,451
NAMENREGISTER 555

Palästina-Treuhand-Gesellschaft GmbH 317 Reichsgesetzblatt 158


Paris Midi 191 Reichssicherheitshauptamt (RSHA) 158, 404,
Pariser Hilfswerk für Emigrantenkinder 123 459,460
Pazner, Chaim 411 Reichstein, Tadeusz 204
People's Relief Committee 271 Reichsvereinigung der Juden in Deutschland 327
Perez, Literarisch-dramatischer Verein 227 RELICO (siehe Committee for Relief of the War-
Perl, William 312 Stricken Jewish Population)
Perrenoud, Mare 38, 62 Reis, Costa du 326
Pestalozzi, Hans 22, 85, 86, 87, 88, 91, 92, 124, Remund, Hugo 432, 439
126,132,134,288 Renner, Karl 42
Pestalozzi, Heinrich 111 Revue Juive 123, 136, 270, 358
Pestalozzi-Gesellschaft Zürich 86 Ribbentrop, Joachim von 459, 460
Petain, Philippe 188, 195, 434 Riegler, Eugenio 325, 326
Petavel, Franz 82 Riegner, Gerhart M. 134, 198,268,400,409,410,
Petitpierre, Max 179 412,415
Pfefferrnühle, Cabaret 57 Rings, Wemer 17
Picard, Charles 178 Riser, Ferdinand 89
Picard, Jacques 178 Roche, Firma 171
Piguet, Anne-Marie 439 Rokeach, Aaron 392
Pilet-Golaz, Marcel 16, 92,150,152, 171,194, Roosevelt, Franklin Delano 267, 297, 307, 321,
195,201,205,206,381,408,409,423,428, 322,327,365,407
432 Röpke, Wilhelm 245
Pinsker, Leo 250 Rops, Daniel 82
Platzhoff-Lejeune, Edouard 82, 83 Rosen, Joseph A. 327
Poale Zion 254, 255, 258, 260, 262, 354 Rosenbaum, Vladimir 23, 127
Poale Zion Hitachduth 131 Rosenberg, James N. 327
Poalei Aguda 265 Rosenheim, Jakob 394
Police aux questions juives 189 Rössel, OKW-Offizier 183
Polnisches Hilfswerk für Kriegsgeschädigte 393 Rothmund, Heinrich 22, 65, 66, 67, 145-161,
Polnisches Rote Kreuz 395 168,177,280,281,296-301,304,307,311,
Pro luventute 450 312,324-330,334,338,346,347,363,365,
Protokolle der Weisen von Zion 47, 49 369,377,384,397,411,415-418,424,427,
PTT 120 434
Rothschild, Berthold 228
Rottenberg, Mordechai 393
Q Rougemont, Denis de 82
Quinche, Antoinette 211, 212, 214 Ruchonnet, Louis 45, 82
Rüdin, Ernst 45
Rüegger, Paul 184, 185, 186
R Ruppin, Arthur 282,284,310
Raas, Emil 99 Rusch, Johann Baptist 48, 49, 122
Rabbi Josi 242 Ruth, Max 67, 68, 69, 216, 381
Rabbiner-Union von Amerika und Kanada 394, Ryba, Rafael 355
455
Racine, Mila 437
Ragaz,Leonhard 51,82,83,120,122 s
Rais, Albert 179, 183, 184 Sagal, Wladimir 131
Rappard, William E. 36, 97, 142, 199,200,242, Sagalowitz, Benjamin 127, 130-135, 157, 197,
268 255,281,283,313,410,415,422,424
Rath, Ernst vom 100 Salin, Edgar 69
Regamey, Marcel 55 Salis, Jean-Rodolphe von 23, 42, 355
Reichmann, Eva 43 Salis, Peter Anton von 187
556

Salmanowicz, Jacques 180, 183 (SZF) 135, 156,230,235,237,238,283,


Salomon, Andree 436 312,337,340,344,346,347,348,350,356,
Salomon, Berthold 148 357,358,359,360,368,371,372,376,378,
Samuel, Julien 399, 438 379,380,381,385,416,417,421
Sandoz, Henri-Frederic 179 Schweizerischer Bankverein 377, 382, 385
Savary, Uon 42 Schweizerischer Beobachter 145, 147, 150, 151,
Schacht, Hjalrnar 163,318 155
Schaffner, Jakob 42 Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund 81
Schaichet, Alexander 126, 227 Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund
Schaichet, Irrna 126 (SIG) 18,36,47,49,57,65-68,87,89-139,
Schamir, Izchak 312 145,150-157,168,169,187,193-207,229-
Schellenberg, Walter 459, 460 240,243-252,255,260,264,268,269,279-
Scheps, Samuel 255 283,294-312,316,317,322-327,333-344,
Schiff, Otto 304 347-350,357,364,367-377,381,382,383,
Schiller, Friedrich 15 384,385,387,388,389,390-404,410-418,
Schindler, Dietrich 199 421-428,430,435,446
Schlesinger, Hans 325, 326 Schweizerischer KatholischerVolksverein 76
Schmid, Arthur 152 Schweizerischer Kirchenbund 419
Schmid, Deutscher Staatsminister 189 Schweizerischer Rabbinerverband 446
Schmid, Max 154 Schweizerischer Studenten-Verein 75
Schmitt, Carl 143 Schweizerischer Vaterländische Verband (VV)
Schneeberger, Ernst 171 51,53,54,125,154,284,419,420,425,432
Schneider, Friedrich 36 Schweizerischer Zionistenverband 251,260,314,
Schnyder, Felix 205 315
Schulte, Eduard 410 Schweizerisches Arbeiter-Hilfswerk (SAH) 135,
Schulthess, Edrnund 205, 206 401
Schwalb, Nathan 256, 260, 439 Schweizerisches Bundesblatt 118
Schwartz, Isaie 398 Schweizerisches Bundesgericht 173, 174, 216
Schwartz,Joseph 273,383,384,417,427,437 Schweizerisches Hilfswerk für Emigrantenkinder
Schwarzbart, Ignaz 412 (SHEK) 239,306,376,440,441,443,444,
Schwedisches Rotes Kreuz 456 445,446,447,448,451,454,
Schweizer Abwehr 407 Schweizerisches Rotes Kreuz (SRK) 239, 274,
Schweizer Frauenblatt 217 363,376,398,401,416,432,434,439,440,
Schweizer Liga für Menschenrechte 419 445,448,449
Schweizer Monatshefte 51 Schwersenz, Izchak 316,444
Schweizerbanner 55 Schwob Freres & Cie. 179
Schweizerische Arbeitsgemeinschaft Frau und Schwob, Familie 180
Demokratie 241,420,433 Schwob, Theodor 182
Schweizerische Bundesanwaltschaft 52, 119, 120, Schymanski, Familie 178
203,407,408,416,420,429,432,456 Secours Suisse 399
Schweizerische Depeschenagentur 195 Secretan, Charles 82
Schweizerische Gesellschaft der Freunde einer Secretan, Daniel 204, 205
autoritären Demokratie (SGAD) 58 Secretan, Jacques 205
Schweizerische Juristen-Zeitung 171 Seligmann-Schürch, Hans 323, 324
Schweizerische Kirchenzeitung 73 Sentinelle 196, 409
Schweizerische Nationalbank 364, 366, 383, 384, Servettaz, Henri-Louis 56
416,427 Service international d'aide aux refugies
Schweizerische Republikanische Blätter 47,48 europeens 441
Schweizerische Republikanische Vereinigung 47, Sicherheitsdienst (SD) 158, 459
122 Siegel, Karola 450
Schweizerische Völkerbundsbewegung 49 Siegfried, Paul 36
Schweizerische Zentralstelle für Flüchtlingshilfe SIG (siehe Schweizerischer Israelitischer
NAMENREGISTER 557

Gemeindebund) Syngalowski, Aaron 276, 340, 342, 343


Silberschein, Alfred 395,400,418 SZF (siehe Schweizerische Zentralstelle für
Snozzi, Hermenegilde 191, 192, 193 Flüchtlingshilfe)
Societe Generale de Surveillance 183 Szold, Henrietta 444
Sokolow, Nahum 244
Solvil 178
Sombart, Wemer 332 T
Sommer, Irmgard 57 Tanner, Jakob 17
Sonderegger, Emil 58, 59 Taubes, Zwi 84, 259, 322,
Sonderegger, Rene 109 Tavannes Machines SA 181, 182
Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SPS) 85, Tavannes Watch Co. 176-182
125,126,146,148,419 Tavaro SA 176, 180, 181
Sozialistische Internationale 261 The National Weekly 321
Soziedad Colonizadora de Bolivia (Socobo) 325- Thevag, Theater- und Verlagsgesellschaft 174
327 Thielicke & Co. 182, 183
Spengler, Oswald 59 Thorsch Söhne, Bankhaus 175
Spielrein, Sabina 44 Thorsch, Alfons 175
Spiller, Willi 329 Tobler, Gret 439
Spinoza, Baruch 219 Torczyner, Josuah 325
Spire, Andre 137 Torrente, Henri de 191
Spitteler, Carl 111 TOZ (Tiwarzystwo Ochrony Zdrowia; siehe auch
Squire, Paul C. 412 OSE) 277,278
SS (Schutz-Staffel) 22, 159, 187, 249, 404, 455, Transmigrant 328, 350, 352
456,458,459,460,461 Traub, Michael 299
Staatszionistische Bewegung 310 Traz, Robert de 42
Stähli, Hans 210 Treitschke, Heinrich von 33
Stämpfli, Franz 119 Triepel, Heinrich 141
Steiger Eduard, von 16, 54, 145, 146, 149, 152, Trimeca, Firma 201, 203
153,157,202,214,216,281,346,348,349, Trone, Salomon 328
354,378,380,381,407,414-420,427,428 Troper, Morris 273, 280, 304, 307, 325, 377
Steiger, Sebastian 439 Trujillo, Rafael L. 327
Stern, Kusiel 259 Trümpy, Curt 456,459, 461
Stern, Maximilian 244 Tschlenoff, Boris 277, 278, 340, 436, 440
Sternbuch, Eli 392,393,411
Sternbuch, Isaac 392,393,411,455,458
Sternbuch, Recha 19,266,392,393,411,448,455 u
Stiebel, Erwin 444 Über die Grenzen 349, 353
Storch, Hilel 456 Ufa, Universum-Filmgesellschaft 174
Storfer, Bernard 312 Ungar, Georg 353
Storfer, Perl 312 UNICEF 278
Strack, Hermann 137 Union generate des israelites de France (UGIF)
Strauss, Samuel 212 399,435,437
Streicher, Julius 136, 414 Union Nationale 55
Streuli, Hans 85, 91, 93 Unitarian Service Committee 401
Stuckart, Wilhelm 100 United Jewish Appeal (UJA) 90, 275
Stucki, Walter 189, 193, 203, 326, 327, 328, 434 United Palestine Appeal 273
Stülpnagel, Otto von 189 United Press 191
Sugihara, Senpo 394 UNO (siehe Vereinte Nationen)
Surava, Peter 432 UNRRA 348, 358, 448
Sutro-Katzenstein, Nettie 441, 442, 444, 446, 449, Usteri, Paul 111
453
Swiatsky, Anwalt 128
558

V Wehrli, Edmund 171


Vaadat Ezra VeHatzala 456 Weiden, Paul L. 320
Vallat, Xavier 188, 191,203 Weil, Artbur 80
Valloton, Henry 55 Weill, Joseph 399, 417, 437, 440
Vaterland 77 Weiss 0. P., Albert M. 74
Vaterländischer Verband (siehe Schweizerischer Weiss, Franz-Rudolph von 407
Vaterländischer Verband) Weiss, Peter 353
Verband Israelitischer Kantoren und Religions- Weissmann, Isaac 395
lehrer 446 Weizmann, Chaim 142, 200, 244, 251, 252, 253
Verband Schweizerischer Israelitischer Armen- Weizsäcker, Ernst von 189
pflegen (VSIA) 133, 168, 232, 235, 239, Weldler, Norbert 260, 355
240,247 Weldler-Steinberg, Augusta 198,239,355
Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen Welles, Sumner 410
(VSJF) 106, 114, 115, 133, 135, 145, 150, Welti, Emil 111
155, 156, 168, 225, 235-240, 247, 264, 273, Weltpostverein 244
275,279,281,288,292-300,305-310,316, Westheimer, Ruth 450
323-328, 333-352, 357, 358, 360, 367-381, Wetter, Ernst 195
393,402,411,416-418,421-426,440,441, Wettstein, Oscar 243
444,446,447,449 Wey,Max 419
Vereinigung der heimgekehrten Ausland- WHO 278
schweizer 132, 133 Willstätter, Richard 69
Vereinigung für religiös-liberales Judentum 223 Wirz, Otto 42
Vereinte Nationen (UNO) 141, 142, 143, 144, Wischnitzer, Mark 249,281,282,284,389
245,270,448 Wise, Stephen S. 134,244,267,412
VIA 106,129 Wolff, Edith 316
Vogt, Paul 84,349 Wolffers, Artbur 143, 203
Völkerbund 53, 96, 97, 102, 123, 136, 138, 204, Wolfsberg, Oskar 137
237,244,245,246,252,268,274,303,326 Wolfskehl, Karl 69
Völkischer Beobachter 99, 164, 420 Women's International Zionist Organization
Volkov, Shulamit 43 (WIZO) 436
Volksbund 58, 117 World Jewish Congress (WJC) 56, 57, 96, 110,
Volksbund für die Unabhängigkeit der Schweiz 114,129,134,137-141,144,198,200,244-
51 249,267,317,327,344,349,387,388,393,
Volksfront 58 400,409-415,424,428,434,456
Volksrecht 88,409 Wort 354
von Bibra, Freiherr 149 Wrangel, OKW-Offizier 183
Vorwärts 36 Wyler, Veit 101, 127, 255, 260, 313, 314, 424,
VPOD 263 426
VSJF (siehe Verband Schweizerischer Jüdischer
Fürsorgen)
Vulcain, Firma 178 y
YIVO 263, 306
Young Men's Christian Association (YMCA)
w 398,434
Wagner, Horst 328
Wallenberg, Raoul 458
Walther, Heinrich 76, 243 z
War Refugee Board (WRB) 455, 456 Zaugg, Otto 338
Warburg, Edward M. 271 Zbinden, Hans 418
Weber, Max 137 Zentralblatt für Psychotherapie und ihre Grenz-
Weber, Sonja 136 gebiete 44
Weck, Rene de 42,408 Zentrales Jüdisches Informationsbüro 101, 130
NAMENREGISTER 559

Zentralleitung der Heime und Lager 239, 338,


339,378,445
Zentralverein zur Förderung des gesetzestreuen
Judentums 264
Zeugen Jehovas 73
Zionistenverband (siehe Schweizerischer
Zionisten verband)
Zionistische Organisation (ZO) 114, 244, 246,
248,253-258,264,276,292,309-312,317,
349,388,390,424,439
Zionistische Vereinigung für Deutschland 282,
310
Zschokke, Heinrich 111
Zucker,Jakob 255
Zullinger, Grittli 211
Zürcher Vereinigung für den Völkerbund 81
Zweig, Stefan 123
Zygelbaum, Arthur 412
Elisabeth Sommer-Lefkovits

Ihr seid auch hier in dieser Hölle?


Erinnerungen an die unheilvollen Zeiten 1944--1945

50 Jahre nach dem Holocaust schreibt die 90jährige Autorin ihre Erinne-
rungen an die Verfolgung und das Überleben in den Konzentrations-
lagern Ravensbrück und Bergen-Belsen nieder. Mit ihr überlebte der
jüngere Sohn, der die Bildauswahl getroffen hat.

März 1994, Klappenbroschur, 112 S., 41 Abbildungen


DM 32.-1 ÖS 230 I sFr. 29.- ISBN 3-905311-32-1

Charlotte Weber

Gegen den Strom der Finsternis


Als Betreuerin in Schweizer Flüchtlingsheimen 1942-1945

In den Jahren 1942-1945 suchen Tausende von bedrohten Menschen vor


der Deportation in die Gaskammern der Nazis Zuflucht in der Schweiz,
doch nur eine beschränkte Zahl findet Aufnahme und wird in Arbeits-
lagern für Männer und in Heimen für Frauen untergebracht. Das vor-
liegende Buch ist eines der wenigen, das vom Alltag der Flüchtlinge in
diesen Unterkünften- Bienenberg, Hilfikon, Zugerberg- handelt.

April 1994, Klappenbroschur, 288 S., 52 Abbildungen


DM 43.- I ÖS 300 I sFr. 38.- ISBN 3-905311-31-3

Chronos Verlag • Münstergasse 9 • CH-8001 Zürich

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