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Nora Ramirez Castillo

Erinnern für ein neues Leben


Die peruanische Kommission für Wahrheit und
Versöhnung aus der Sicht der Betroffenen am
Beispiel des Andendorfes Lucanamarca

Diplomarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades
Magistra der Philosophie

Studium der Psychologie

Alpen-Adria-Universität Klagenfurt
Fakultät für Kulturwissenschaften

Begutachterin: Univ. Ass.in Dr.in Barbara Preitler


Institut für Psychologie

Oktober 2007
Ehrenwörtliche Erklärung

Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende wissenschaftliche Arbeit


selbstständig angefertigt und die mit ihr unmittelbar verbundenen Tätigkeiten selbst
erbracht habe. Ich erkläre weiters, dass ich keine anderen als die angegebenen
Hilfsmittel benutzt habe. Alle aus gedruckten, ungedruckten oder dem Internet im
Wortlaut oder im wesentlichen Inhalt übernommenen Formulierungen und Konzepte
sind gemäß den Regeln für wissenschaftliche Arbeiten zitiert und durch Fußnoten bzw.
durch andere genaue Quellenangaben gekennzeichnet.

Die während des Arbeitsvorganges gewährte Unterstützung einschließlich signifikanter


Betreuungshinweise ist vollständig angegeben.

Die wissenschaftliche Arbeit ist noch keiner anderen Prüfungsbehörde vorgelegt


worden. Diese Arbeit wurde in gedruckter und elektronischer Form abgegeben. Ich
bestätige, dass der Inhalt der digitalen Version vollständig mit dem der gedruckten
Version übereinstimmt.

Ich bin mir bewusst, dass eine falsche Erklärung rechtliche Folgen haben wird.

Nora Ramirez Castillo

Maria Saal, am 22. Oktober 2007

II
Danksagung

Viele Menschen haben mich bei der Entstehung dieser Arbeit unterstützt. Sie hätte aber
nie entstehen können ohne die Menschen, die mich an ihren Erfahrungen, ihren
Gedanken und an ihrer Geschichte teilhaben ließen. Zu einem tieferen Verständnis der
Thematik hat besonders mein Aufenthalt in dem Andendorf Santiago de Lucanamarca
beigetragen. Während dieser Zeit gab es viele schöne und spannende Begegnungen,
aber auch Gespräche, die tiefe Betroffenheit in mir auslösten haben. Mein Dank gilt all
jenen, die so offen mit mir darüber gesprochen haben, was ihnen widerfahren ist.
Vor Ort haben mich mehrere Personen unterstützt: Mein besonderer Dank gilt Carola
Falconí von der Menschenrechtsorganisation COMISEDH, die es mir ermöglichte,
schnell und unkompliziert mit nach Lucanamarca zu kommen. Sehr wertvoll war für
mich die Unterstützung durch Edilberto Jiménez, der mir in Lucanamarca mit Rat und
Tat zur Seite stand und auch jetzt immer ein offenes Ohr für meine Fragen hat. Ignacio
Tacas vom Angehörigenverband in Lucanamarca hat mir geholfen, Kontakt zu den
Betroffenen herzustellen. Gianella Sánchez hat es mir in Lima ermöglicht, die
Räumlichkeiten von APRODEH für Gespräche mit Betroffenen zu nützen. Dr.in Gloria
Díaz Acosta war stets bereit, mich nach ihren Möglichkeiten zu unterstützen.
Aber nicht nur in Peru, auch in Österreich habe ich viel Unterstützung erfahren:
Mein besonderer Dank gilt meiner Diplomarbeitsbetreuerin Dr.in Barbara Preitler, die
mir viele wertvolle Anregungen für die vorliegende Arbeit geliefert hat und von der ich
mich stets auch persönlich sehr unterstützt gefühlt habe.
Mein Forschungsaufenthalt in Peru wurde mir erst durch die finanzielle
Unterstützung von Seiten des Büros für Internationale Beziehungen und der Alpen-
Adria-Universität Klagenfurt ermöglicht.
Bei meiner Freundin Mag.a Monika Lach möchte ich mich herzlich für die liebevolle
Begleitung – angefangen vom ersten Exposé bis hin zum Lesen der fertigen Arbeit –
bedanken. Mag. Iván Rodríguez Chávez hat mir mehrmals bei Problemen mit
Übersetzungen ausgeholfen. Vielen Dank auch dafür!
Und nicht zuletzt waren mir meine Familie und meine Freunde in allen Phasen des
Entstehungsprozesses der vorliegenden Arbeit eine große Stütze. Besonders mein Mann
Leonardo hat durch viele Gespräche und Diskussionen, zu jeder Tages- und Nachtzeit,
zu meinem Verständnis der peruanischen Realität beigetragen und war immer für mich
da.

III
Inhaltsverzeichnis

EHRENWÖRTLICHE ERKLÄRUNG ................................................................. II

DANKSAGUNG ................................................................................................ III

INHALTSVERZEICHNIS................................................................................... IV

Abbildungsverzeichnis........................................................................................................................... VII

Tabellenverzeichnis ............................................................................................................................... VII

VERWENDETE ABKÜRZUNGEN .................................................................. VIII

EINLEITUNG ................................................................................................. - 1 -

1. DIE POLITISCHE GEWALT IN PERU ....................................................... - 4 -

1.1 Peru und seine Bevölkerung ........................................................................................................... - 4 -

1.2 Historischer Kontext ........................................................................................................................ - 5 -


1.2.1 Von der Kolonie zur Republik ................................................................................................... - 5 -
1.2.2 Die Entstehung von Sendero Luminoso ..................................................................................... - 8 -
1.2.3 Die Jahre von 1980 bis 2000 ...................................................................................................... - 9 -

1.3 Neuere Entwicklungen .................................................................................................................. - 11 -


1.3.1 Armut und Bildung .................................................................................................................. - 12 -

2. DIE PSYCHOSOZIALEN FOLGEN VON TERROR UND REPRESSION - 14 -

2.1 Leben in der „Zeit der Angst“ ...................................................................................................... - 14 -


2.1.1 Zwischen den Fronten .............................................................................................................. - 15 -
2.1.2 Unfreiwillige Migration ........................................................................................................... - 16 -

2.2. Trauma .......................................................................................................................................... - 17 -


2.2.1 Kritische Betrachtung der Posttraumatischen Belastungsstörung ............................................ - 17 -
2.2.2 Extremtraumatisierung und Sequentielle Traumatisierung ...................................................... - 19 -
2.2.3 Das psychosoziale Trauma ....................................................................................................... - 22 -
2.2.4 Trauma und Trauer................................................................................................................... - 24 -

2.3 Bewältigungsstrategien in der Bevölkerung ................................................................................ - 25 -


2.3.1 Angehörigenverbände und NRO´s ........................................................................................... - 26 -
2.3.2 Die Auseinandersetzung mit der politischen Gewalt in der Kunst ........................................... - 28 -
2.3.3 „Das weinende Auge“ – Ein Platz für die Erinnerung ............................................................. - 32 -

3. WAHRHEITS- UND VERSÖHNUNGSKOMMISSIONEN ........................ - 34 -

3.1 Erinnern oder Vergessen: Aufarbeiten konfliktreicher Vergangenheit ................................... - 34 -

3.2 Definition, Arbeitsweise, Funktionen und Ziele .......................................................................... - 35 -


3.2.1 Definition ................................................................................................................................. - 35 -
3.2.2 Ziele und Arbeitsmethoden ...................................................................................................... - 37 -
3.2.3 Abschlussbericht und Empfehlungen ....................................................................................... - 38 -

IV
3.2.4 Gerechtigkeit und Justiz ........................................................................................................... - 39 -

3.3 Wahrheit ......................................................................................................................................... - 41 -


3.3.1 Was ist „die Wahrheit“? ........................................................................................................... - 42 -
3.3.2 Testimonio ............................................................................................................................... - 43 -
3.3.3 Exhumierungen ........................................................................................................................ - 47 -

3.4. Versöhnung ................................................................................................................................... - 48 -


3.4.1 Vergebung ................................................................................................................................ - 51 -

3.5 Reparation ...................................................................................................................................... - 52 -

3.6 Heilung ............................................................................................................................................ - 53 -

4. COMISIÓN DE LA VERDAD Y RECONCILIACIÓN (CVR) ..................... - 55 -

4.1 Konzeption, Mandat und Arbeitsweise ........................................................................................ - 55 -


4.1.1 Nicht-öffentliche Anhörungen ................................................................................................. - 58 -
4.1.2 Öffentliche Anhörungen ........................................................................................................... - 62 -
4.1.3 Weitere öffentliche Aktivitäten der CVR ................................................................................. - 66 -

4.2 Der Abschlussbericht ..................................................................................................................... - 68 -


4.2.1 Die bewaffneten Akteure und die Opfer der politischen Gewalt ............................................. - 69 -
4.2.2 Schwierige Opfer- und Täterrollen .......................................................................................... - 73 -
4.2.3 Sozialpolitische, ökonomische und psychosoziale Folgen ....................................................... - 75 -
4.2.4 Die Empfehlungen der CVR .................................................................................................... - 79 -
4.2.5 Reaktionen auf den Abschlussbericht ...................................................................................... - 82 -

4.3 Die aktuelle Situation ..................................................................................................................... - 84 -


4.3.1 Justiz ........................................................................................................................................ - 85 -
4.3.2 Reparationen ............................................................................................................................ - 87 -
4.3.3 Versöhnung .............................................................................................................................. - 87 -

5. FRAGESTELLUNG UND FORSCHUNGSAUFENTHALT IN PERU ....... - 91 -

5.1 Fragestellung .................................................................................................................................. - 91 -

5.2 Santiago de Lucanamarca ............................................................................................................. - 92 -


5.2.1 Forschungsaufenthalt in Lucanamarca ..................................................................................... - 96 -

5.3 In Lima ......................................................................................................................................... - 100 -

6. FALLBESCHREIBUNGEN .................................................................... - 101 -

6.1 Timoteo ......................................................................................................................................... - 101 -


6.1.1 Biografischer Hintergrund ..................................................................................................... - 101 -
6.1.2 Die Umstände des Interviews ................................................................................................. - 102 -
6.1.3 Während der Zeit der politischen Gewalt............................................................................... - 102 -
6.1.4 Zur CVR ................................................................................................................................. - 103 -
6.1.5 Zum Thema Versöhnung........................................................................................................ - 104 -

6.2 Honorio ......................................................................................................................................... - 105 -


6.2.1 Biografischer Hintergrund ..................................................................................................... - 105 -
6.2.2 Die Umstände des Interviews ................................................................................................. - 105 -
6.2.3 Während der Zeit der politischen Gewalt............................................................................... - 106 -
6.2.4 Zur CVR ................................................................................................................................. - 107 -
6.2.5 Zum Thema Versöhnung........................................................................................................ - 107 -

V
6.3 Doris .............................................................................................................................................. - 108 -
6.3.1 Biografischer Hintergrund ..................................................................................................... - 108 -
6.3.2 Umstände des Interviews ....................................................................................................... - 108 -
6.3.3 Während der Zeit der politischen Gewalt............................................................................... - 109 -
6.3.4 Zur CVR ................................................................................................................................. - 110 -
6.3.5 Zum Thema Versöhnung........................................................................................................ - 111 -

7. QUALITATIVE INHALTSANALYSE: METHODE UND ERGEBNISSE - 112 -

7.1 Bestimmung des Ausgangsmaterials .......................................................................................... - 112 -

7.2 Festlegung des Materials ............................................................................................................. - 114 -

7.3 Analyse der Entstehungssituation .............................................................................................. - 115 -

7.4 Auswertung .................................................................................................................................. - 115 -


7.4.1 Induktive Kategorienbildung mittels qualitativer Inhaltsanalyse ........................................... - 115 -
7.4.2 Kodierleitfaden....................................................................................................................... - 116 -
7.4.3 Einsatz des Programms ATLAS.ti ......................................................................................... - 118 -

7.5 Ergebnisse ..................................................................................................................................... - 118 -


7.5.1 Motivation Testimonio zu geben ............................................................................................ - 119 -
7.5.2 Über das Testimonio-Geben und Veränderungen dadurch .................................................... - 120 -
7.5.3 Versöhnung ............................................................................................................................ - 122 -
7.5.4 Bewertung der Arbeit der CVR .............................................................................................. - 124 -
7.5.5 Andere unterstützende Faktoren............................................................................................. - 125 -
7.5.6 Estábamos todos traumados ya… .......................................................................................... - 126 -

7.6 Gütekriterien und Kritikpunkte ................................................................................................. - 127 -

8. DISKUSSION UND SCHLUSSFOLGERUNGEN .................................. - 128 -

ANHANG ................................................................................................... - 138 -

VI
Abbildungsverzeichnis

ABB. 1: PERU ......................................................................................................................................... - 4 -

ABB. 2: MITGLIED VON YUYACHKANI BEI EINER GEDENKVERANSTALTUNG 2006 ....... - 28 -

ABB. 3: „DER TRAUM DER FRAU AUS HUAMANGA“ ................................................................ - 30 -

ABB. 4: „EL HOMBRE“....................................................................................................................... - 31 -

ABB. 5: GENÄHTES BILD EINER FRAU AUS AYACUCHO, WELCHES DAS MASSAKER VON
PARCCO DARSTELLT .............................................................................................................. - 32 -

ABB. 6: „EL OJO QUE LLORA“ ......................................................................................................... - 33 -

ABB. 7: LUCANAMARCA .................................................................................................................. - 93 -

ABB. 8: VERABSCHIEDUNG DER OPFER DES MASSAKERS, QUELLE: COMISEDH ............. - 95 -

ABB. 9: HOCHEBENE AUF DER REISE NACH LUCANAMARCA ............................................... - 96 -

ABB. 10: FRAUEN UND KINDER IN LUCANAMARCA ................................................................ - 97 -

ABB. 11: „ES LEBE PRÄSIDENT GONZALO“, STEIN MIT SENDERO-PROPAGANDA, 2006 .. - 99 -

ABB. 12: ABLAUFMODELL NACH MAYRING (1983) ................................................................. - 115 -

Tabellenverzeichnis

TABELLE 1: BESCHREIBUNG DER STICHPROBE ...................................................................... - 114 -

TABELLE 2: AUSZUG AUS DEM KODIERLEITFADEN .............................................................. - 118 -

TABELLE 3: MOTIVATION TESTIMONIO ZU GEBEN ............................................................... - 119 -

TABELLE 4: ÜBER DAS TESTIMONIO-GEBEN ........................................................................... - 120 -

TABELLE 5: VERSÖHNUNG ........................................................................................................... - 122 -

TABELLE 6: BEWERTUNG DER ARBEIT DER CVR ................................................................... - 124 -

TABELLE 7: ANDERE UNTERSTÜTZENDE FAKTOREN ........................................................... - 125 -

VII
Verwendete Abkürzungen
ANFADET Asociación Nacional de Familiares de Desaparecidos Ejecutados
Extrajudicialmente y Torturados; Nationaler Verband der
Familienangehörigen von Verschwundenen, außergerichtlich
Exekutierten und Gefolterten
ANFASEP Asociación Nacional de Familiares de Secuestrados, Detenidos-
Desaparecidos; Nationaler Verband der Familienangehörigen
von Entführten und Verschwundenen nach Verhaftung
APRA Alianza Popular Revolucionaria Americana; Revolutionäre
amerikanische Volksallianz
APRODEH Asociación Pro Derechos Humanos; Vereinigung für
Menschenrechte
CAPS Centro de Atención Psicosocial; Zentrum für psychosoziale
Betreuung
CNDDHH Coordinadora Nacional de Derechos Humanos; Nationale
Koordinationsstelle für Menschenrechte
COMISEDH Comisión de Derechos Humanos; Kommission für Menschrechte
CVR Comisión de la Verdad y Reconciliación; Kommission für
Wahrheit und Versöhnung
DINCOTE Dirección Nacional contra el Terrorismo; Nationale Direktion
gegen den Terrorismus
FEDEFAM Federación Latinoamericana de Asociaciones de Familiares de
Detenidos-Desaparecidos; Lateinamerikanisches Bündnis der
Verbände von Familienangehörigen von Verschwunden nach
Verhaftung
MRTA Movimiento Revolucionario Túpac Amaru; Revolutionäre
Bewegung Túpac Amaru
NRO/NGO Nicht-Regierungsorganisation/Non-Gouvernmental Organization
PCP-SL Partida Comunista del Perú – Sendero Luminoso;
Kommunistische Partei Perus – Leuchtender Pfad
PTBS/PTDS Posttraumatische Belastungsstörung
TRC Truth and Reconciliation Commission

VIII
Einleitung

Im Jahr 2005 hatte ich, während meines Auslandssemesters in Peru die Gelegenheit,
dieses faszinierende und vielfältige Land kennen zu lernen. Mein Entschluss, nach Peru
zu gehen, fiel sehr spontan, und erst im Laufe der Zeit erfuhr ich mehr über die
schrecklichen Ereignisse, welche sich in den letzten zwei Jahrzehnten des vergangenen
Jahrhunderts ereignet hatten. Für meine Auseinandersetzung mit der Thematik waren
mehrere Erlebnisse ausschlaggebend. Eines davon war der Besuch eines Theaterstückes
der Gruppe „Yuyachkani“, welches mit eindrücklichen Bildern Szenen der politischen
Gewalt, der Korruption, der Armut und des Schmerzes vor Augen führte. Die Bilder
lösten in mir tiefe Betroffenheit aus, weckten aber gleichzeitig mein Interesse. Die
Beschäftigung mit der politischen Gewalt und ihren Folgen führten mich zur
peruanischen Kommission für Wahrheit und Versöhnung (CVR).
Die Aufgabe dieser Kommission war es, aufzuklären, was in Peru zwischen 1980 –
dem Beginn des bewaffneten Konfliktes durch die Untergrundorganisation Sendero
Luminoso („Der Leuchtende Pfad“) – und 2000 – der Flucht des ehemaligen
Präsidenten Alberto Fujimori – geschehen war. Die Kommission stellte fest, dass 75 %
aller Opfer indigener Herkunft waren. Die quechuasprachige, bäuerliche Bevölkerung
war in das Kreuzfeuer von Sendero Luminoso und den staatlichen Streitkräften geraten,
während die städtische Bevölkerung die Augen vor der Tragödie, die sich in ihrem
eigenen Land abspielte, verschloss.

Wahrheitskommissionen und ihre Wahrnehmung durch die Betroffenen von Krieg,


politischer Repression und Gewalt sind bisher noch sehr wenig untersucht worden. Es
gibt eine Studie aus Südafrika, die sich mit den Auswirkungen des Zeugnisablegens vor
der Truth and Reconciliation Commission (TRC) auf den psychiatrischen Status der
Betroffenen beschäftigt (Kaminer, Stein, Mbanga & Zungu-Dirwayi, 2001). Eine
weitere Untersuchung an zwanzig Personen in Südafrika beschäftigt sich mit den
Einstellungen und Gedanken zur TRC vor und nach dem Zeugnisablegen (Testimonio)
(Hamber, Nageng & O´Malley, 2000).

-1-
Die peruanische Kommission untersuchte 2002 an Hand einer Stichprobe von zwanzig
Personen, die öffentlich Testimonio abgelegt hatten, welche Auswirkungen das
öffentliche Hearing für die Teilnehmer hatte1.
In der Beschäftigung mit der peruanischen Kommission für Wahrheit und
Versöhnung standen für mich die Betroffenen im Mittelpunkt: Die Menschen, die vor
der Wahrheitskommission ihr Testimonio ablegten, waren selbst Opfer der politischen
Gewalt geworden. Sie waren oft mehrfach und über einen langen Zeitraum hinweg
traumatischen Situationen ausgesetzt. Vor der Kommission sprachen sie über ihre
Erfahrungen, die mit den Erlebnissen von Verlust und Zerstörung verknüpft waren. Ich
wollte die Wahrheitskommission aus ihrer Sicht verstehen:
 Was war die Motivation der Menschen, vor die Kommission zu treten und über
ihre Geschichte zu sprechen?
 Wie haben sie es erlebt, ihr Testimonio zu geben, ihre Geschichte zu erzählen?
 Konnte die Kommission – wie es ihr Titel verheißt – zu einer Versöhnung
beitragen? Was verstanden die Betroffenen unter Versöhnung?
 Wie sehen sie die Kommission und deren Arbeit einige Jahre später?

Da es sich, wie bereits erläutert, um ein noch wenig untersuchtes Gebiet handelt, wollte
ich mich diesen Fragen mit qualitativen Methoden nähern, wie es auch Flick, Kardorff
und Steinke (2000) vorschlagen: „Qualitative Forschung ist immer dort zu empfehlen,
wo es um die Erschließung eines bislang wenig erforschten Wirklichkeitsbereiches […]
geht.“ (S. 25). Die qualitative Forschung ist in ihrem Zugang zu dem untersuchten
Phänomen offen; sie erlaubt es, ein konkreteres und plastischeres Bild aus der
Perspektive der Betroffenen zu zeichnen. Dabei wird auch die Unterschiedlichkeit der
Sichtweisen der Betroffenen berücksichtigt (ebd.).
Als Erhebungsmethoden während meines dreimonatigen Forschungsaufenthaltes in
Peru setzte ich Leitfadeninterviews mit Betroffenen, teilnehmende Beobachtung und
das Führen eines Forschungstagebuches ein. Die Interviews wurden mittels qualitativer
Inhaltsanalyse nach Mayring (1983, 2000) ausgewertet. Dabei handelt es sich um ein
systematisches, regelgeleitetes Verfahren, welches das zu analysierende Material in
seinen Kommunikationszusammenhang eingebettet versteht (Mayring, 2000).

1
Ergebnisse der Studie online verfügbar unter: (www.cverdad.org.pe/apublicas/ audiencias/impacto.php)

-2-
Im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit wird der historische Kontext der politischen
Gewalt umrissen. Die Jahre von 1980 bis 2000 stehen dabei im Mittelpunkt.
Im zweiten Kapitel setze ich mich mit den psychosozialen Folgen von Krieg und
politischer Repression auseinander. In Abgrenzung zum vorherrschenden Konzept der
Posttraumatischen Belastungsstörung werden alternative Traumakonzepte, unter
Berücksichtigung lateinamerikanischer Ansätze, diskutiert. Der Bezug zur peruanischen
Erfahrung wird dabei immer wieder hergestellt. Den Abschluss dieses Kapitels bilden
einige Beispiele von Bewältigungsstrategien innerhalb der Bevölkerung.
Im Anschluss daran wird das Modell der Wahrheitskommission bzw. Wahrheits- und
Versöhnungskommission als politisches Instrument im Umgang mit schwieriger und
belasteter Vergangenheit vorgestellt. Dabei werden neben Funktion, Aufbau und
Arbeitsweise vor allem die psychologischen Aspekte solcher Kommissionen erörtert.
Im vierten Kapitel wird die peruanische Kommission für Wahrheit- und Versöhnung
näher betrachtet. Die Arbeitsweise und die Ergebnisse der Kommission, ihre
Empfehlungen, die Fortschritte in Bezug auf diese Empfehlungen, aber auch die
Diskussionen rund um die Kommission werden dargestellt. Dieses Kapitel bildet die
Überleitung zum empirischen Teil der vorliegenden Arbeit. Im fünften Kapitel gehe ich
noch einmal ausführlich auf die Fragestellung und den Forschungsaufenthalt in Peru
ein. Die Geschichte des Andendorfes Lucanamarca, in welchem ein Großteil der
Interviews mit Betroffenen entstanden ist, wird kurz dargestellt und einige persönliche
Eindrücke aus meiner Zeit in diesem Dorf werden geschildert. Zur Vertiefung der
Thematik und um die Unterschiedlichkeit von Sichtweisen der Betroffenen zu erläutern,
beschreibe ich die Geschichten, Meinungen und Einstellungen von drei interviewten
Personen im sechsten Kapitel näher.
Im siebten Kapitel werden die methodische Vorgehensweise und die Ergebnisse der
qualitativen Inhaltsanalyse dargestellt und interpretiert. Im letzten Kapitel werden die
Ergebnisse diskutiert und die Schlussfolgerungen daraus erläutert.

-3-
1. Die politische Gewalt in Peru

Um den bewaffneten internen Konflikt, der in den 80er und 90er Jahren des letzten
Jahrhunderts in Peru wütete, verstehen zu können, ist es wichtig, einige grundlegende
Kenntnisse über dieses Land, seine Geschichte und seine Bevölkerung zu haben.

1.1 Peru und seine Bevölkerung


Peru liegt an der Westküste Südamerikas, hat eine Fläche von 1.285.216 km² und 27,5
Millionen Einwohner. Peru ist ein vielfältiges und facettenreiches Land – das trifft auch
auf seine Bewohner zu: Mit 47 % ist der Anteil der indigenen Bevölkerung am
höchsten. 32 % der Einwohner sind Mestizen2 und etwa 12 % Weiße; ethnische
Minderheiten stellen die Nachfahren von Japanern, Chinesen und Schwarzen dar.
Politisch ist Peru in 25 departamentos unterteilt, diese wiederum in 194 Provinzen
(Fischer Weltalmanach, 2007). Geografisch besteht das Land aus den drei Großräumen
Küste (costa), Andengebiet (sierra) und das Regenwaldgebiet des Amazonas (selva)
(vgl. Abb.1).

Abb. 1: Peru, www.noeperu.com/geographie-und-bevoelkerung.html

2
Die Bezeichnung indio hat mittlerweile einen stark abwertenden Charakter; indígena ist neutraler, aber
auch keineswegs wertfrei. Als Mestizen bezeichnete man vorwiegend die Mischlinge indigener und
europäisch-stämmiger Eltern.

-4-
Die größten Städte befinden sich im Bereich des schmalen Küstenstreifens, der ein
trockenes, teils wüstenähnliches Klima aufweist. Obwohl die Küstenregion nur etwa 11
% der Gesamtfläche Perus ausmacht, leben in diesem Bereich mehr als die Hälfte aller
Einwohner; 7,9 Millionen Menschen allein in der Hauptstadt Lima (Fischer
Weltalmanach, 2007). Entlang der Küste verläuft das Andengebiet. Die Straßen in den
Bergen sind meist holprige Schotterstraßen, viele Dörfer sind auch heute noch nur zu
Fuß erreichbar. Während an der Küste hauptsächlich die Mestizen und Weißen leben,
ist in den Anden die indigene Bevölkerung vorherrschend, knapp die Hälfte der
Bevölkerung spricht hier die traditionellen Sprachen Quechua und Aymara (Drha,
2007). Östlich der Anden beginnen das Tiefland und das Regenwaldgebiet des
Amazonas. Obwohl dieses Gebiet mehr als 60 % der Fläche Perus ausmacht, ist es nur
sehr dünn bevölkert; viele Siedlungen sind nur auf dem Wasser- oder Luftweg
erreichbar (Oertzen & Goedeking, 2004). Im Amazonasgebiet werden über 20
verschiedene indigene Sprachen gesprochen und es wird vermutet, dass auch heute noch
unentdeckte Ethnien in den Tiefen des Regenwaldes leben (Drha, 2007).

1.2 Historischer Kontext


Der interne Konflikt in Peru war kein isoliertes Ereignis; er kann nur im Kontext der
historischen Ereignisse verstanden werden und seine Wurzeln reichen zurück bis zur
Ankunft der Spanier. Wie Lewis Taylor es 1996 ausdrückte:
„Bei einem Land wie Peru, das in sozioökonomischer, ethnischer und politischer
Hinsicht so extreme Unterschiede aufweist, ist eine Auseinandersetzung mit seiner
Geschichte, Soziologie, und Politik mehr als nur eine Diskussion über die
Vergangenheit. Sie ist zugleich Interpretation der Geschichte im Licht
gegenwärtiger sozialer Spannungen und Konflikte und deshalb höchst politisch.“
(Taylor, S. 761)

1.2.1 Von der Kolonie zur Republik


Man geht davon aus, dass das Gebiet des heutigen Peru um 17.500 vor Christus zum
ersten Mal besiedelt wurde. Um 2500 v. Chr. entwickelten sich die ersten bedeutsamen
Kulturen wie Caral, Vicus, Virú, Chavín und Paracas, von welchen aber nur die Chavín-
Kultur überdauerte. Jahrhunderte lang kämpften verschiedene prä-kolumbianische
Kulturen um die Vorherrschaft, aber sie alle mussten sich im Laufe des 15. Jahrhunderts
den Inka-Herrschern beugen. Die Inkas waren ein kriegerisches Volk, dem es gelang,

-5-
ein Reich zu erobern, welches sich vom heutigen Ecuador aus über Peru, bis nach Chile
auf einer Länge von 4.000 Kilometern erstreckte. Die Hauptstadt des zentralistisch
organisierten Inkareiches war Cuzco; die Inkas führten Quechua als allgemeine
Verwaltungssprache ein (Dyckerhoff, 1994).
„Die gemischte Wirtschaftsordnung dieser Hochkultur, die auf Tributpflicht und
Arbeitszwang für gemeinnützige Aufgaben (mita, minka) basierte, wobei es ein
Gemeindeeigentum an Grund und Boden sowie ein Staatseigentum von Bergwerken
und Cocaplantagen beinhaltete, sah Verteilungsmechanismen zugunsten
privilegierter Gesellschaftsgruppen (vor allem Priester, Herrscherkaste) und
benachteiligter Personen (Alte, Kranke, Arme) vor, um die politische Stabilität
dieses riesigen Imperiums zu garantieren.“ (Pass, 1997, S. 12)

1532 erreichte Francisco Pizarro die Küste Perus und eroberte innerhalb weniger Jahre
– durch den Einsatz von Feuerwaffen und Reittieren – das riesige Inkareich. 1542
gründeten die Spanier das Vizekönigreich Peru. Die Versuche der Bevölkerung, sich
gegen die Spanier zu wehren, endeten 1571 mit dem Tod des letzten Inkarebellen Túpac
Amaru. Das Vizekönigreich wurde zur Schatzkammer der Spanier, die die indigene
Bevölkerung unterdrückten und die Menschen als Zwangsarbeiter ausnutzten.
Unterernährung und eingeschleppte Krankheiten führten zu einer Dezimierung der
einheimischen Bevölkerung (Oertzen & Goedeking, 2004). Die Konquistadoren
erhoben Spanisch zur Amtssprache und verboten die inkaische Religion.
„Die sozialen und ethnischen Schranken waren in den spanischen Kolonien
nahezu unüberwindbar. Um ihnen den Abstand von ihren Beherrschern immer
wieder von Augen zu führen, war es den Indianer untersagt, zu Pferde zu reiten,
Waffen zu tragen und Gitarre zu spielen.“ (Oertzen & Goedeking, 2004, S. 66)

Nur in ihren Dörfern wurde der indigenen Bevölkerung eine gewisse Selbstverwaltung
gestattet. Ihre Möglichkeiten, am öffentlichen Leben teilzunehmen, waren beschränkt;
vor Gericht oder bei Abschluss von Verträgen waren sie den Weißen immer unterlegen
(Oertzen & Goedeking, 2004).
Aber auch die weißen Einwanderer wurden zunehmend unzufriedener mit ihrer
Situation und erkämpften sich 1821 die Unabhängigkeit von Spanien.
„Die Indios, die größte Bevölkerungsgruppe Perus, lebten seit der Ankunft der
Spanier an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Daran änderte auch die
Unabhängigkeit des Landes im Jahre 1821 nichts, da diese ausschließlich den
Kreolen (d. h. den im Lande geborenen Nachkommen der Spanier) wirtschaftliche
Vorteile brachte.“ (Mariátegui zitiert nach Kornberger, 1987, S. 69)

Trotz der errungenen Unabhängigkeit blieb Peru in den nächsten Jahrzehnten instabil
und die Regierungen wechselten häufig. Der so genannte Salpeterkrieg gegen Chile von

-6-
1879 bis 1883 brachte der jungen Republik eine Niederlage und Peru verschuldete sich
schwer (Oertzen & Goedeking, 2004).
1908 wurde Augusto Bernardino Leguía zum Präsidenten gewählt und regierte das
Land nach Ablauf der Amtsperiode noch bis 1930 als Diktator. Das autoritäre Regime
Leguías agierte mit politischer Repression und verwies Gewerkschafts- und
Studentenführer des Landes, unter ihnen auch José Carlos Mariátegui und Víctor Raúl
Haya de la Torre, „…zwei Persönlichkeiten, die das politische Leben in Lateinamerika
weit über die Grenzen Perus hinaus geprägt haben“ (Oertzen & Goedeking, 2004, S.
76). Mariátegui war Marxist und seine Essaysammlung „Sieben Versuche, die
peruanische Wirklichkeit zu verstehen“ wurde zu einem der meistgelesenen Bücher
Perus.
„Der Eroberung negativ gegenüberstehend, empfand Mariátegui das von den
Spaniern eingeführte Feudalsystem als weit ausbeuterischer als den „primitiven
Kommunismus‟ der Inka, da es den Spaniern nicht einmal gelang, die
Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen.“ (Taylor, 1996, S. 762)

Mariátegui, der später die Sozialistische Partei Perus gründete, welche nach seinem Tod
in Kommunistische Partei umbenannt wurde, forderte die Rückgabe des Landes an die
Dorfgemeinschaften (comunidades), da dies seiner Meinung nach die Grundlage für den
Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft darstellte (Taylor, 1996).
Der Studentenführer Haya de la Torre gründete im Exil in Mexiko die APRA
(Alianza Popular Revolucionaria Americana – Revolutionäre amerikanische
Volksallianz), welche zu Beginn vor allem von Exilperuanern unterstützt wurde und
ebenfalls Reformen zu Gunsten der indigenen Bevölkerung und der Arbeiter forderte
(Oertzen & Goedeking, 2004).
Während die indigene Bevölkerung in den folgenden Jahrzehnten vom politischen
Leben weitgehend ausgeschlossen war – sei es auf Grund des Geschlechts, der
Besitzlosigkeit oder des Analphabetismus – und nur mittels blutiger Aufstände auf sich
aufmerksam zu machen vermochte, gab es politische Machtkämpfe zwischen der
Geschäftselite der Küste, dem Militär und den Großgrundbesitzern (gamonales) der
Anden (Taylor, 1996). Leguía wurde in einem Militärputsch 1930 von Luis Sánchez
Cerro gestürzt; in den nächsten Jahren wechselte die Führung des Landes zwischen
Militärdiktaturen und gewählten Präsidenten. So wurde auch der 1963 gewählte
Fernando Belaúnde 1968 durch einen Militärputsch des Generals Juan Velasco gestürzt.
Ausgerechnet Velascos Diktatur setzte sich für eine Änderung der sozialen Verhältnisse

-7-
ein: Die Besitzer von über acht Millionen Hektar Land wurden enteignet und das Land
wurde an landwirtschaftliche Genossenschaften, indigene comunidades, Bauerngruppen
und Familien übergeben (Taylor, 1996). Die Militärregierung nahm bei der Aufteilung
des Landes jedoch keine Rücksicht auf die Wünsche und Ansprüche der ansässigen
Bevölkerung, so dass die Art der Teilung bereits wieder für erneute Konflikte sorgte
(Oertzen & Goedeking). Eine weitere Maßnahme Velascos in Bezug auf die
„Indianerfrage“ war die Anerkennung von Quechua als offizielle Landessprache. Neben
der Agrarreform wurden große Teile der Industrie verstaatlicht, gleichzeitig aber auch
ausländische Investoren gefördert (Taylor, 1996).
Ende der 70er Jahre gab es eine Wirtschaftskrise und der Druck auf die Militärjunta
wurde größer. 1978 wurde die schrittweise Rückkehr zur Demokratie beschlossen und
im Mai 1980 fanden zum ersten Mal seit 12 Jahren wieder demokratische Wahlen statt.

1.2.2 Die Entstehung von Sendero Luminoso


El Partido Comunista del Perú – Sendero Luminoso (PCP-SL, Kommunistische Partei
Perus – Leuchtender Pfad) entstand aus einer der Splittergruppen der peruanischen
Linken, welche sich in den 60er Jahren abgespalten hatten. 1970 wurde Sendero
Luminoso unter der Führung des Philosophieprofessors Abimael Guzmán gegründet.
Guzmán lehrte zu jener Zeit an der traditionsreichen Universität von Ayacucho. Das
departamento Ayacucho liegt im andinen Hochland und zählt zu den ärmsten Regionen
Perus. Die Universität stellte für viele junge Menschen vom Land eine Chance dar,
Bildung – und so Zugang zu neuen Möglichkeiten – zu erhalten (vgl. Taylor, 1996;
Oertzen & Goedeking, 2004).
Guzmán nutzte seine Stellung als Professor, um seine marxistisch-leninistisch-
maoistisch beeinflusste Ideologie an die Studenten weiterzugeben, um sie mit ihrer
Hilfe auch in den entlegenen Dörfern zu verbreiten (Taylor, 1996). 1975 verschwand
die Organisation in den Untergrund, um den „langwährenden Volkskrieg“
vorzubereiten. Ziel war es, den „alten Staat“ mit seiner neo-kolonialen Gesellschaft zu
zerstören und den Kommunismus in Peru einzuführen. Von Anfang an wurde Gewalt
als notwendig und fruchtbar, als Motor für die Revolution betrachtet. Wie Portocarrero
(1998) ausführt, verherrlichte Sendero Luminoso die Gewalt: „…sie zerstört das Alte
und ermöglicht das Erscheinen des Neuen, die Gewalt bestärkt die Zukunft und
beschleunigt den Fortschritt.“ (S. 24, Übers. d. Verf.). Laut Guzmán ging es darum,

-8-
zuerst die Bauernschaft zu mobilisieren und Gebiete unter die Herrschaft Senderos zu
bringen – so genannte „befreite Zonen“ zu schaffen. Vom Land aus würden dann die
Städte eingekesselt und der alte Staat bis zu seinem Zusammenbruch aufgerieben. Die
Erschaffung des neuen Staates würde laut Guzmán aber auch eine hohe Blutquote –
sowohl unter den Anhängern als auch Gegnern Senderos – fordern (Portocarrero, 1998).
Guzmán, oder Presidente Gonzalo, wie er von seinen Anhängern genannt wurde,
wählte mit dem 18. Mai 1980 ein geschichtsträchtiges Datum, um mit seiner
subversiven Organisation das erste Mal in Aktion zu treten: Die Wahlurnen des
Andendorfs Chuschi wurden niedergebrannt an jenem Wahltag, der das Ende der
12jährigen Militärdiktatur und die Rückkehr zur Demokratie markierte (Youngers,
2003).

1.2.3 Die Jahre von 1980 bis 2000


Aus den Wahlen 1980 ging Fernando Belaúnde, der bereits vor der Militärdiktatur
Präsident gewesen war, als Sieger hervor. Zu Beginn seiner Amtszeit schätzte Belaúnde
Sendero Luminoso nur als ein marginales Problem ein und schickte die Polizei zur
Bekämpfung Senderos in das Hochland. Die Polizei war für diesen Einsatz aber
schlecht vorbereitet und auf Grund der zunehmenden Gewalt von Seiten Senderos sah
sich Belaúnde im Dezember 1983 gezwungen, dem Militär den Kampf gegen die
Subversion zu übertragen (Coll, 2003).
Da es Teil der Strategie Senderos war, sich unter die Bevölkerung zu mischen, fiel es
dem Militär schwer, den Feind zu erkennen und jeder indigene Bauer galt als
potenzieller Terrorist (Oertzen & Goedeking, 2004). Ebenso wie Sendero Luminoso
ging auch das Militär mit großer Gewalt vor:
„So kam es zu einer Reihe von Massakern in Dorfgemeinschaften als die Armee in
der Hoffung, unter den zahlreichen Opfern auch einige Rebellen zu erwischen, eine
Strategie der „verbrannten Erde‟ praktizierte. Individuen, die der Sympathie mit der
Linken verdächtigt wurden (Gewerkschafts- und Bauernführer, Journalisten, usw.)
wurden verhaftet, und nicht wenige „verschwanden‟ nach Folterungen.“ (Taylor,
1996, S. 808)

Neben Sendero Luminoso trat 1984 noch eine weitere Guerillabewegung in Aktion:
Beim Movimiento Revolucionario Túpac Amaru (MRTA – Revolutionäre Bewegung
Túpac Amaru) handelte es sich ebenfalls um eine linksgerichtete Organisation, die sich

-9-
aber nach eigenen Angaben an die Genfer Menschrechtskonvention hielt und sich durch
ihre Uniform von der Bevölkerung abhob (CVR, 2003).
Als 1985 der erst 36jährige Alan García das Präsidentenamt übernahm, war die
Wirtschaft des Landes in einem katastrophalen Zustand, die Zahl der Arbeitslosen war
hoch, und die subversiven Organisationen waren nicht, wie vom Militär erklärt,
vernichtend geschlagen worden (Taylor, 1996). Die APRA-Regierung versuchte der
Wirtschaftskrise mit einer neuen Politik entgegenzuwirken und die Gewalt mittels einer
Reihe sozialer Maßnahmen einzudämmen. Die Hoffnung auf eine erfolgreiche
Bekämpfung der Gewalt unter Berücksichtigung der Menschenrechte wurde aber
spätestens im Juni 1986 zerstört, als eine Revolte Senderos in den Gefängnissen Limas
brutal niedergeschlagen wurde. Fast 300 Häftlinge wurden getötet, was eine Reihe von
Racheaktionen von Seiten Senderos nach sich zog. Ende der 80er Jahre erreichte die
subversive Gewalt auch die Hauptstadt Lima und 1989 wurde ein neuerlicher
Höhepunkt in den blutigen Auseinandersetzungen erreicht (Youngers, 2003).
Zu den großen sozialpolitischen Problemen kamen auch wirtschaftliche hinzu: eine
Hyperinflation von 7.600 % ließ den Lebensstandard noch weiter absinken; in ihrem
letzten Regierungsjahr stand die APRA-Regierung der humanitären und ökonomischen
Krise hilflos gegenüber (Taylor, 1996).
Der 1990 überraschenderweise siegreich aus den Wahlen hervorgegangene Ingenieur
Alberto Fujimori setzte drastische Maßnahmen, um die ins Bodenlose fallende
Wirtschaft abzufangen. Die Strategie gegen die Subversion setzte nun verstärkt auf
gezielte Morde und Entführungen – viele von ihnen durchgeführt von den so genannten
„Todesschwadronen“ Fujimoris – sowie auf die Schaffung von bäuerlichen
Selbstverteidigungskomitees im Hochland. Zwischen 1988 und 1992 (mit Ausnahme
von 1990) war Peru laut UNO-Bericht das Land mit den meisten „Verschwundenen“
(Youngers, 2003).
Spürbar hatte die Gewalt nun auch die Hauptstadt Lima erreicht, wo Autobomben die
Bevölkerung in Angst versetzten und Sendero Luminoso Anschläge auf das
Stromversorgungsnetz, Polizeistationen und Bankfilialen verübte. Während Sendero in
den 80er Jahren als ein Problem des ruralen Peru gesehen wurde und sich auch in den
Städten vorerst hauptsächlich in den Elendsvierteln ausbreitete, änderte sich dies in den
frühen 90er Jahren.
Fujimori nützte das Klima der Angst und löste, mit mehrheitlicher Zustimmung in
der Bevölkerung, der nun bereits jedes Mittel im Kampf gegen die Subversion recht

- 10 -
war, am 5. April 1992 den Kongress und den Obersten Gerichtshof auf und setzte die
Verfassung außer Kraft. Im Juli desselben Jahres explodierte in der Straße Tarata in
Miraflores, einem Viertel der weißen Mittel- und Oberschicht, eine Bombe. Sendero
bewies damit auch der privilegierteren Bevölkerung, dass es für niemanden mehr
Sicherheit gab (Oertzen & Goedeking, 2004).
Im September 1992 gelang es der eigens geschaffenen Anti-Terror-Einheit
DINCOTE, Abimael Guzmán zu fassen, was den Niedergang Senderos einläutete. Der
Triumph über Sendero Luminoso und die Inflation bescherte Fujimori in den Wahlen
1995 einen erneuten Sieg. Von der Demokratie war nur noch eine leere Hülle
übergeblieben; Fujimori und sein Geheimdienstchef Montesinos regierten autoritär
(Oertzen & Goedeking, 2004). In den folgenden Jahren schwand die Popularität
Fujimoris zusehends: Arbeitslosigkeit und Armut herrschten weiter vor und die
Wirtschaftspolitik Fujimoris hatte nicht für die versprochene Verbesserung der
Lebensbedingungen der ärmeren Bevölkerungsschichten gesorgt. Auch der Feind,
welcher das autoritäre Handeln Fujimoris gerechtfertigt hatte, war auf eine
Randerscheinung zusammengeschrumpft (Youngers, 2003).
Als Fujimori im Jahr 2000 erneut zu den Präsidentschaftswahlen antrat, sorgte dass
auf nationaler und internationaler Ebene für Missstimmung. Er gewann die – unter dem
Verdacht des Betrugs stehende – Wahl, floh aber im November 2000 nach Japan ins
Exil, nachdem ein Video in Umlauf gebracht worden war, welches seinen
Geheimdienstchef Montesinos bei der Bestechung eines Politikers der Opposition
zeigte3 (Youngers, 2003).

1.3 Neuere Entwicklungen


Nach der Flucht Fujimoris wurde Valentin Paniagua zum Übergangspräsidenten
bestimmt. Paniagua, der eine Rückkehr zur demokratischen Kultur demonstrieren
wollte, beschloss die Einsetzung einer Wahrheitskommission (vgl. Kapitel 4). 2001
wurde Alejandro Toledo Präsident. Der chronisch instabilen Regierung Toledos gelang
es zwar ein konstantes Wirtschaftswachstum einzuleiten, aber eine Verbesserung der
Lebensumstände der armen Bevölkerungsschichten blieb aus und Korruptionsvorwürfe

3
Dieses und andere Videos, von Vladimiro Montesinos selbst gefilmt, sind unter dem Namen Vladivideos
bekannt geworden.

- 11 -
ließen die Zustimmungswerte von Toledos Politik in den Keller sinken (Fischer
Weltalmanach, 2007).
Am 28. Juli 2006 trat Alan García die Nachfolge Toledos als Präsident an. Die Wahl
Garcías war auf Grund der großen Probleme während seiner ersten Amtsperiode von
1985 bis 1990 keineswegs unumstritten. Neben der enormen Wirtschaftskrise, in welche
seine Politik das Land befördert hatte, wurden ihm Korruption,
Menschenrechtsverletzungen und Postenschacher vorgeworfen. 1992 verließ García
wegen einer drohenden Verhaftung das Land und kehrte erst 2001, nach der Verjährung
der Korruptionsdelikte nach Peru zurück. Dank publikumswirksamer Gesten erfreut
sich García mittlerweile aber wieder einer gewissen Beliebtheit (Schröder, 2006b). Sehr
kritisch wird seine Wiederwahl von den Angehörigenverbänden und
Menschenrechtsorganisationen gesehen. Eine Untersuchungskommission stellte 1986
eine direkte politische Verantwortung Garcías und seiner Regierung für die
Gefängnismassaker fest (Schröder, 2006a). Einer der Befehlshaber des Massakers im
Gefängnis El Frontón ist Garcías heutiger Vizepräsident Luís Giampietri.
Sendero Luminoso hat auch nach seiner Niederlage nicht aufgehört zu existieren. Die
verbliebenen Senderistas stehen in enger Verbindung mit dem Drogenhandel. Im
aktuellen Länderreport für Terrorismus vom 30. April 2007 scheint Sendero Luminoso
als terroristische Organisation auf, spielt aber eine untergeordnete Rolle (Country
Reports on Terrorism, 2007, http://www.state.gov/s/ct/rls/crt/2006/82735.htm).

1.3.1 Armut und Bildung


Neben der direkten Gewalt ist die strukturelle Gewalt ein andauerndes Problem in Peru.
Unter struktureller Gewalt versteht man „Macht- und Eigentumsverhältnisse, die zu
ungleichen Lebenschancen für einzelne Bevölkerungsgruppen wie zum Beispiel Frauen,
Arme und Minderheiten führen.“ (Becker & Weyermann, 2006).
Eine Ausprägung struktureller Gewalt ist die Armut, von welcher 54 % der
peruanischen Bevölkerung betroffen sind. 23 % der Haushalte leben sogar in extremer
Armut, was bedeutet, dass ihnen weniger als ein US-Dollar pro Tag zur Verfügung
steht. Dass 52 % der Haushalte in extremer Armut indigene Haushalte sind, zeugt von
der unveränderten sozialen Ungerechtigkeit. Die Einkünfte der reichsten zehn Prozent
der Bevölkerung sind fünfzigmal höher, als jene der ärmsten zehn Prozent. Auch von

- 12 -
der Kindersterblichkeit sind die armen Sektoren der Bevölkerung um fünfmal häufiger
betroffen (Care Peru, www.care.org.pe/pobreza.htm).
Mehr als ein Viertel der Kinder unter fünf Jahren leiden an Unterernährung;
besonders betroffen sind wiederum die entlegenen Andengebiete, wo mehr als die
Hälfte der Kinder unterernährt sind (Care Peru, www.care.org.pe/pobreza.htm).
11,5 % der Bevölkerung sind Analphabeten. Häufiger betroffen sind Frauen (16,3 %)
und die in Armut lebende Bevölkerung (18 %) (INEI, www.inei.gob.pe).

- 13 -
2. Die psychosozialen Folgen von Terror und Repression

Der Zeitraum und die Ereignisse zwischen 1980 bis 2000 haben in Peru verschiedene
Namen bekommen: „Die Zeit der Angst“, „die politische Gewalt“, „der bewaffnete
interne Konflikt/Krieg“, … Im vorangegangenen Kapitel habe ich mich vor allem dem
geschichtlichen und politischen Rahmen der Geschehnisse gewidmet. In diesem Kapitel
soll nun erörtert werden, wie die Betroffenen selbst diese Zeit erlebt haben, welche
Erfahrungen sie machen mussten; Erfahrungen, die schwere Schäden in der Psyche der
Menschen hinterlassen haben. Die Gewalt hat nicht nur Folgen für das Individuum,
sondern auch für seine Umwelt, mit der es in einer Wechselbeziehung steht, weshalb
eine psychosoziale Betrachtungsweise gewählt wird.
Im Zusammenhang mit politischer Gewalt und Terror wird häufig von „Trauma“
gesprochen. Was ist „Trauma“, wie grenzt sich das Erleben einer Naturkatastrophe vom
Erleben von Folter, Massakern und Flucht ab? Was sind die Besonderheiten der
peruanischen Erfahrung?
Um sich diesen Fragen anzunähern soll auch Bezug genommen werden auf
Traumatheorien, die im lateinamerikanischen Raum entwickelt wurden, unter der
Berücksichtigung der peruanischen Kultur und des sozialen und politischen Kontexts.
Den Abschluss dieses Kapitels bilden einige Beispiele der Bewältigungsstrategien,
welche die Bevölkerung während und nach der Zeit der politischen Gewalt entwickelt
hat.

2.1 Leben in der „Zeit der Angst“


Im vorhergegangenen Kapitel wurde bereits darauf hingewiesen, dass die indigene,
quechuasprachige, andine Bevölkerung am stärksten vom Konflikt betroffen war. Auch
andere Bevölkerungsgruppen waren dem Terror jener Zeit ausgesetzt: Autobomben
versetzten die Menschen in der Hauptstadt in Angst und Schrecken, Studenten
„verschwanden“, Unschuldige wurden verhaftet; im Regenwaldgebiet wurde
insbesondere die Volksgruppe der Asháninka hart von der subversiven Gewalt
getroffen.

- 14 -
Das Leiden dieser Menschen darf nicht ausgeblendet werden; trotzdem soll aber der
Blick verstärkt auf das Erleben jener Bevölkerungsgruppe, den Bewohnern der sierra,
gerichtet werden, die dem Konflikt am meisten ausgesetzt war (vgl. dazu 4.1.1).

2.1.1 Zwischen den Fronten


Viele der andinen Dorfgemeinschaften befanden sich, oft jahrelang, im Kreuzfeuer der
terroristischen Aktionen Sendero Luminosos und der massiven Repression, welche die
staatlichen Streitkräfte ausübten. Beide Seiten gingen dabei mit großer Brutalität vor,
„als befänden sich beide Parteien in einem wahnwitzigen Wettbewerb um die
Erzeugung von Gewalt“ (Rodriguez, 1995, S. 22).
„In Wirklichkeit war die Politik beider Gegner ähnlich. Beide Parteien wurden von
der Maxime geleitet: „Wer nicht offen mit mir ist, ist gegen mich‟. Beide lehnten die
Möglichkeit neutral zu sein ab. […] Die Idee war die totale Kontrolle über die
Bevölkerung und auch die totale Zerstörung des Feindes. In diesem Kontext ist die
Unmenschlichkeit das Gesetz.“ (Portocarrero, 2003, S. 140, Übers. d. Verf.)

Das Militär sah sich mit dem Problem konfrontiert, einen Feind bekämpfen zu müssen,
den es von der Bevölkerung nicht unterscheiden konnte. Die Senderistas mischten sich
unter die Bevölkerung, bzw. waren die Bevölkerung, da Mitglieder von
Dorfgemeinschaften bzw. ganze comunidades mit Sendero sympathisierten (Theidon,
2004). Daher wurde die gesamte Bevölkerung als potentieller Feind betrachtet.
Das Militär, als Vertreter des Staates, hätte eigentlich die Pflicht, die Einwohner zu
verteidigen – anstatt Schutz zu bieten wurde es aber zu einer lebensbedrohenden
Gewalt. In vielen Gebieten Perus wurde der Notstand (zonas de emergencia) ausgerufen
– in diesen Zonen herrschte das Militär.
„In Wirklichkeit wurden die „Notstandsgebiete‟ zu „Konzentrationslagern‟. […] Die
Bevölkerung wurde aller Rechte beraubt – so dass ihr Eigentum gestohlen, sie selbst
vergewaltigt, gefoltert und ermordet werden konnten.“ (Portocarrero, 2003, S. 139,
Übers. d. Verf.)

Die Schutzfunktion der Staatsgewalt hatte sich für die Bevölkerung ins Gegenteil
gewandt. Andererseits hatten die Menschen in den Andenregionen auch bis dahin wenig
positive staatliche Präsenz erlebt, was Sendero Luminoso für die eigenen Zwecke zu
nutzen wusste. Sendero gab vor, für das Wohlergehen der indigenen Bevölkerung zu

- 15 -
kämpfen4, schreckte aber auch vor grausamen Gewalttaten an eben jener
Bevölkerungsgruppe nicht zurück.
„[…] der ethnische Terrorismus ist durch ein Paradox geprägt: Obwohl sie mit
Gewalthandlungen gegen den Feind sympathisieren, geraten Mitglieder der
Großgruppe, die nicht aktiv am terroristischen Kampf beteiligt sind, oftmals ins
Kreuzfeuer des Terrorismus. Für jede Terrorzelle ist die Notwendigkeit, die Gegner
zum Schweigen zu bringen und die eigene Autorität innerhalb der eigenen
ethnischen Gruppe unangefochten durchzusetzen, derart stark, das eine nach innen
gerichtete Terrorkampagne – gegen Menschen der eigenen Ethnizität – oftmals als
wesentliche Grundlage für eine effektive Kampagne gegen die andere dominierende
Großgruppe betrachtet wird.“ (Volkan, 1999, S. 220)

Für die Menschen gab es daher keine Haltung, die nicht gefährlich gewesen wäre: Wer
mit Sendero war, wurde zum Feind des Militärs, und umgekehrt. Wer weder mit der
einen noch mit der anderen Seite sympathisierte, wurde von allen beiden Parteien
bedroht. Das Ergebnis war ein Leben in ständiger Bedrohung, ein Leben zwischen den
Fronten, ohnmächtig und ausgeliefert – oft über viele Jahre hinweg war das Leben
gleichbedeutend mit Angst:
„So wie Bergtiere haben wir gelebt; in Gruppen unsere Lager aufgeschlagen. Wenn
die Soldaten kamen mussten wir flüchten; wir versteckten uns hinter Gebüschen und
Blättern und manchmal, ganz leise, in einer Mulde. Den Kindern war es verboten zu
weinen, leise mussten sie sein. Wenn sie weinten, zwang die Partei [Sendero
Luminoso] ihre Mütter, sie zu töten. Ich habe gesehen, wie die señora Narcisa
Vargas ihr Töchterchen getötet hat, weil es weinte – sie hat es erwürgt. (…) Wir
konnten aber nicht vor der Partei flüchten, da auch die Verantwortlichen der
Staatsgewalt dich töteten – alles war Angst. Wir unterstanden der Obacht der Partei;
wir konnten nicht einmal traurig sein. Sie töteten dich, weil sie sagten, dass du
kapitulieren willst.“ (zitiert nach Vergara, 2005, S. 17, Übers. d. Verf.)

2.1.2 Unfreiwillige Migration


Hunderttausende Menschen sahen sich auf Grund der Umstände gezwungen zu fliehen.
Sie verließen ihre Dörfer nachdem vielleicht bereits ein Familienmitglied verschwunden
oder ermordet worden war, nachdem sie selbst verhaftet und gefoltert worden waren.
Oft musste die Flucht rasch erfolgen und alles zurückgelassen werden. Die Flüchtlinge
aus den Andengebieten siedelten sich in den Randbezirken der Küstenstädte an. Große
Elendsviertel (pueblos jovenes – „Junge Dörfer“) entstanden, die weder über fließendes
Wasser, Stromversorgung, Müllentsorgung noch Abwassersystem verfügten. Die
unfreiwilligen Migranten wurden alles andere als mit offenen Armen empfangen: Die

4
Rodriguez Rabanal (1995) bezeichnet die Ideologie Senderos als „pseudo-andin-indigenistisch“, als
„eine eher intellektuell-rhetorische als auf Tatsachen basierenden Position“ (S. 20).

- 16 -
kreolischen Stadtbewohner sahen in den ankommenden Flüchtlingsmassen häufig eine
Bedrohung für den eigenen Lebensstil und die eigene Sicherheit (Carillo, 2005). Die
Binnenvertriebenen mussten sich mit Gelegenheitsarbeiten – als Straßenverkäufer oder
Hilfskräfte – durchschlagen. Neben dem täglichen Kampf um das Überleben blieb aber
auch Sendero Luminoso eine Gefahr für die Geflohenen: „Etwa ab 1985 nahm der
Sendero Luminoso seine Gewaltaktionen in der Hauptstadt auf, mit dem Ziel,
ausgehend von den Elendsvierteln, Lima zu zerstören“ (Rodriguez, S. 20, 1995).

2.2. Trauma
Während der Begriff „Trauma“ seit den 80er Jahren einen regelrechten Boom erlebt und
auch in der Alltags- und Mediensprache Eingang gefunden hat, hat sich in den letzten
Jahren vermehrt ein differenzierter und kritischer Traumadiskurs, häufig in der
Abgrenzung zur gängigen Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), entwickelt.
Viele Forscher und Praktiker haben festgestellt, dass die PTBS schwere Mängel
aufweist, und dass westliche Traumakonzepte nicht 1:1 exportierbar und auf andere
Kulturen übertragbar sind (vgl. Becker, 2006, Summerfield, 2001, Theidon, 2004).
Deshalb soll zuerst eine kurze Definition der PTBS erfolgen und die häufigsten
Kritikpunkte an diesem Konzept sollen erörtert werden, auch in Bezugnahme auf den
peruanischen Kontext.

2.2.1 Kritische Betrachtung der Posttraumatischen Belastungsstörung


Vorläufer der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) sind die „Unfallneurose“,
welche nach den ersten Eisenbahnunfällen im 19. Jahrhundert beschrieben wurde, sowie
diverse Bezeichnungen für die Reaktionen von Soldaten auf extreme Ereignisse
während des Ersten und Zweiten Weltkriegs, wie z. B. „Schützengrabenneurose“,
„Kriegsneurose“ oder „Kampfesmüdigkeit“. Aber erst nach dem Vietnamkrieg begann
eine systematische Erforschung dieser psychischen Reaktionen, welche 1980 in der
Aufnahme der PTBS (engl. Post-traumatic Stress Disorder, PTDS) in das
Diagnosemanual der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft mündete (Herman,
1992).
„Das Hauptmerkmal der Posttraumatischen Belastungsstörung ist die Entwicklung
charakteristischer Symptome nach der Konfrontation mit einem extrem
traumatischen Ereignis. Das traumatische Ereignis beinhaltet das direkte persönliche

- 17 -
Erleben einer Situation, die mit dem Tod oder der Androhung des Todes, einer
schweren Verletzung oder einer anderen Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit
zu tun hat oder die Beobachtung eines Ereignisses, das mit dem Tod, der Verletzung
oder der Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit einer andern Person zu tun hat
oder das Miterleben eines unerwarteten oder gewaltsamen Todes, schweren Leids,
oder Androhung des Todes oder der Verletzung eines Familienmitglieds oder einer
nahe stehenden Person.“ (DSM IV, 1994, S. 487)

Der Symptomkatalog des DSM IV umfasst eindringliche, belastende Erinnerungen,


Träume und Flashbacks, sowie das Vermeiden von Reizen, die mit dem traumatischen
Ereignis verbunden sind (Gedanken, Gefühle, Aktivitäten, Orte, etc.). Hinzu kommen
überdauernde Symptome einer Aktivitätssteigerung (Arousal), wie z.B.
Schlafstörungen, Reizbarkeit und Konzentrationsschwierigkeiten. Unterschieden wird,
je nach Zeitpunkt des Auftretens der Symptome und ihrer Dauer, zwischen einer akuten
und einer chronischen Form, sowie einer Posttraumatischen Belastungsstörung mit
verzögertem Beginn (DSM IV, 1994).
Verschiedene Kritikpunkte an diesem Konzept sind in den letzten Jahren formuliert
worden: Obwohl all die genannten Symptome bei traumatisierten Menschen auftreten,
ist der Symptomkatalog bei weitem nicht vollständig und kann nicht die ganze
Bandbreite traumatischer Störungen erfassen. Besonders schwierig wird es, wenn der
Symptomkatalog auf eine andere Kultur übertragen wird, wo die Bedeutung und die
Botschaft von Symptomen eine völlig andere sein kann, als in der westlich-
abendländischen Kultur (vgl. Becker, 1997, 2006, Kernjak, 2006).
Becker (1997, 2006) kritisiert, dass die Ursache, das auslösende Ereignis völlig aus
dem Blickfeld verschwindet. Die PTBS unterscheidet nicht, ob es sich bei dem
auslösenden Ereignis um einen Unfall, eine Naturkatastrophe oder ein so genanntes
„man-made-disaster“ handelt. Im Kontext von Krieg und politischer Repression ist
diese Gleichstellung der Ereignisse besonders kritisch: Das Opfer wird durch die
Diagnose pathologisiert, die politische Dimension des Geschehens und die Täterschaft
verschleiert. Oder, wie Theidon es ausdrückt: „In einer Nachkriegsgesellschaft
verschwindet durch den Fokus auf die individuelle Psychopathologie die soziale
Zerstörung, welche Produkt der politischen Gewalt ist, aus dem Blickfeld“ (Theidon,
2004, S. 42, Übers. d. Verf.). Das Leid wird individualisiert und von der Ursache
entkoppelt.
Durch die Konzentration auf das Individuum bleibt auch die soziale Komponente
von Trauma, die Beziehungsebene, unsichtbar. Die Diagnose PTBS stellt den

- 18 -
Sachverhalt so dar, dass eine Person auf Grund eines bestimmten Ereignisses gewisse
Symptome entwickelt. Becker (1997) weist aber darauf hin, dass beispielsweise Trauma
als Folge von Krieg oder politischer Verfolgung immer auch das gesamte familiäre
System betrifft und transgenerational wirken kann.
Kimberly Theidon, eine US-amerikanische Anthropologin, die die PTBS im andinen
Peru erforschen wollte, hält in ihren Feldnotizen fest:
„Ich bin hierher gekommen, um die Posttraumatische Belastungsstörung und die
Folgen der politischen Gewalt zu untersuchen, aber alle sprechen von Neid, Abkehr,
von verlorenen Ernten, von zürnenden Göttern, von herumwandelnden Seelen,
Hexerei und Irreführung.“ (Theidon, 2004, S. 40, Übers. d. Verf.)

Anstatt sich weiter darum zu bemühen, die Erfahrungen der andinen Bevölkerung in ein
westliches Diagnoseschema zu pressen, ging sie dazu über, zu beobachten und zu
erforschen, wie die Menschen mit den Beziehungsstörungen, die die politische Gewalt
ausgelöst hatte, umgingen. In Bezug auf die PTBS merkt sie an, dass diese weder die
Beeinträchtigung sozialer Bande, noch die spirituelle, religiöse und somatische
Komponente von Trauma mit einbezöge, welche sie in den indigenen comunidades
beobachtete (Theidon, 2004).

2.2.2 Extremtraumatisierung und Sequentielle Traumatisierung


Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, wird der Begriff „Trauma“ heutzutage häufig und
sehr breit eingesetzt, wodurch er sich von seiner ursprünglichen Konzeption entfernt:
„Originally framed as applying only to extreme experiences that people would not
expect to encounter every day, it [trauma] has come to be associated with a growing
list of relatively commonplace events: accidents, muggings, a difficult labour […]“
(Summerfield, 2001, S. 96)

Die Folgen von Krieg und politischer Repression können aber nicht gleichgesetzt
werden mit den Folgen eines Autounfalls oder einer Naturkatastrophe. David Becker
hat zusammen mit seinen chilenischen KollegInnen daher bereits Ende der 80er Jahre
begonnen, an einer neuen Definition für die Art von Traumata zu arbeiten, welche ihm
und seinen KollegInnen während der Diktatur Pinochets in Chile begegneten (Becker,
2006). Als Bezugspunkte für das neue Konzept dienten die „extreme Situation“ von
Bettelheim, die kumulative Traumatisierung von Kahn und die sequentielle
Traumatisierung von Keilson (Becker, 2006).

- 19 -
„Extremtraumatisierung ist ein Prozess im Leben der Subjekte einer Gesellschaft,
der definiert wird durch seine Intensität, durch die Unfähigkeit der Subjekte und der
Gesellschaft, adäquat darauf zu antworten und durch die Erschütterung und
dauerhaften pathogenen Wirkungen, die er in der psychischen und sozialen
Organisation hervorruft. Extremtraumatisierung kennzeichnet sich durch eine Art,
die Macht in einer Gesellschaft auszuüben, bei der die sozialpolitische Struktur sich
auf die Zerstörung und Auslöschung einiger Mitglieder dieser Gesellschaft durch
andere Mitglieder derselben Gesellschaft gründet. Der Prozess der
Extremtraumatisierung ist zeitlich nicht begrenzt und entwickelt sich sequentiell.“
(Becker & Castillo, zitiert nach Becker 2006, S. 63)

Bruno Bettelheim prägte für seine Erfahrung im Konzentrationslager den Begriff der
„Extremsituation“ und beschrieb die Unausweichlichkeit, die ungewisse Dauer, die
Unvorhersagbarkeit, die ständige Bedrohung des Lebens und die eigene Ohnmacht als
ihre Merkmale (Bettelheim, 1982). Dieselben Merkmale lassen sich auch in der
Erfahrung vieler Opfer des bewaffneten Konflikts in Peru – insbesondere von
Bewohnern der entlegenen Andendörfer – wieder finden (vgl. 2.1).
Neben dieser Abgrenzung betreffend der Situation definiert sich die
Extremtraumatisierung, in Anlehnung an die Konzepte von Khan und Keilson, als
Prozess, welcher nicht zeitlich begrenzt ist und sich sequentiell entwickelt (Becker,
2006). Dieser Prozess betrifft sowohl das Individuum, als auch das Umfeld.
„Extremtraumatisierung ist nie nur individuelle Zerstörung oder nur Folge des
sozialpolitischen Prozesses; sie ist immer beides“ (Becker, 2006, S. 63).
David Becker hat gemeinsam mit Barbara Weyermann (2006) eine Erweiterung der
sequentiellen Traumatisierung von Hans Keilson erarbeitet. Diese erweiterte
sequentielle Traumatisierung umfasst sechs Sequenzen:
 Vor Beginn des traumatischen Prozesses: Diese Phase umfasst das Leben vor
Ausbruch des Konflikts oder der Verfolgung. Auf das Beispiel Peru bezogen ist
das die Phase vor dem Ausbruch des bewaffneten Konflikts. Während dieser
Zeit waren große Teile der Bevölkerung von Diskriminierung und Armut
betroffen; trotzdem wird diese Zeit noch als „normal“ eingestuft und erinnert.
 Beginn der Verfolgung: Diese Phase markiert die erste traumatische Sequenz
im eigentlichen Sinne; die Bedrohung ist vorhanden, aber noch nicht akut. In
diese Phase können die ersten terroristischen Akte, wie die Zerstörung der
Wahlurnen oder die selektive Ermordung von Vertretern des Staates im
Hochland eingeordnet werden; Aktionen, die eine Bedrohung spürbar machten,

- 20 -
welche aber vom Großteil der Bevölkerung noch nicht als unmittelbar
empfunden wurde.
 Akute Verfolgung – der direkte Terror: „Diese Sequenz ist gekennzeichnet
durch die unmittelbare, existentielle, traumatische Erfahrung: Verhaftung,
Folter, Mord, Zerstörung […]“ (Becker, 2006, S. 191).
 Akute Verfolgung – Chronifizierung: Diese Sequenz steht in engen
Zusammenhang mit der vorhergehenden und die beiden können einander
wechselseitig ablösen. Sie beschreibt die Wartephase zwischen den Terrorakten.
In dieser Phase herrscht ein Klima von Bedrohung und Terror vor, wie es auch
die andine Bevölkerung zwischen den Fronten von Sendero und der
Staatsgewalt erlebt hat. Die Angst wurde zum ständigen Begleiter, akute
Bedrohung und Phasen von latenter Bedrohung lösten sich ab.
 Zeit des Übergangs: In dieser Sequenz wird ein Ende des Konflikts sichtbar und
die Repression lässt nach. Diese Zeit des Übergangs kann von sehr
unterschiedlicher Dauer sein. Vergleichbar mit der Phase der politischen Gewalt
in Peru, nachdem Sendero aus gewissen Regionen verdrängt werden konnte, die
Bevölkerung aber immer noch mit der Furcht lebte, die Gewalt könnte erneut
aufflammen.
 Nach der Verfolgung: Der Konflikt ist vorüber, das Leben nicht mehr direkt
bedroht. Das Ende der Verfolgung bedeutet aber noch nicht das Ende des
traumatischen Prozesses. In dieser Phase geht es um den gesellschaftlichen
Versöhnungsprozess, den Umgang mit den Opfern, den Aufarbeitungsprozess.
Diese Phase kann die Aufarbeitung von traumatischen Erlebnissen unterstützen,
aber auch behindern und dauert in Peru immer noch an.

Das Modell der sequentiellen Traumatisierung lässt sich auf verschiedene traumatische
Prozesse wie Folter, Flucht oder Inhaftierung anwenden. Das Modell bezieht die
Ausgangssituation und die Situation nach dem traumatischen Prozess mit ein. Diese
Phasen nehmen Einfluss auf die Fähigkeit eines Individuums, traumatische Erfahrungen
zu verarbeiten. Becker (2006) weist darauf hin, dass die traumatische Situation die
Vorraussetzung für Trauma ist, dass aber nicht jede Person, die einer solchen Situation
ausgesetzt war, deswegen auch traumatisiert ist. Die traumatische Situation bedeutet die
Zerstörung des sozialen Gewebes, während das Trauma die psychologische Wunde
darstellt.

- 21 -
2.2.3 Das psychosoziale Trauma
„Political violence does not necessarily have the same consequences for individuals
as other types of violence […]. It is unique in so far as it not only targets
individuals, but political violence impacts on whole communities and often society
at large. In addition to inflicting psychological and physical harm, political violence
often aims to undermine the social relationships between individuals, as well as
between individuals and society at large.“ (Hamber, 2004, S. 1)

Das Konzept der Extremtraumatisierung ermöglicht es, sich der Komplexität von
Trauma anzunähern, indem sowohl die Erfahrungen des Individuums als auch die damit
verknüpften sozialpolitischen Vorgänge erfasst werden. In diesem Kapitel soll nun aber
auch der Frage nach den Folgen dieser Gewalterfahrungen auf der Beziehungs- und
Gesellschaftsebene nachgegangen werden. Summerfield (2000) weist darauf hin, dass
gerade die Auswirkungen von Krieg „keine privaten Verletzungen“ sind, sondern eine
kollektive Erfahrung, die sich in der Zerstörung der sozialen Welt widerspiegelt.
Der Sozialwissenschaftler Ignacio Martín-Baró hat, basierend auf seinen
Erfahrungen mit dem Bürgerkrieg in El Salvador, den Begriff des „psychosozialen
Traumas“ eingeführt, „um die traditionelle Einengung des Traumabegriffes zwischen
psychologistischen und soziologistischen Modellen zu überwinden.“ (Merk, 2001, S.
17). Martín-Baró (1988) weist darauf hin, dass Traumata gesellschaftlich produziert
werden, „d. h. ihre Wurzeln sind nicht im Individuum sondern in der Gesellschaft zu
finden.“ (S. 75, Übers. d. Verf.). Außerdem nährt und erhält sich das Trauma durch das
Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft, oftmals vermittelt durch Institutionen,
Gruppen oder sogar Individuen. Laut Martín-Baró werden also vor allem die
zwischenmenschlichen Beziehungen beeinträchtigt, mit anderen Worten,
„traumatisiert“: „Das psychosoziale Trauma, welches die Menschen erfahren, hat die
Entfremdung der sozialen Beziehungen zur Folge.“ (Martín-Baró, 1988, S. 78, Übers. d.
Verf.).
Auch Judith Herman (1992) hat ähnliche Beobachtungen gemacht und widerspricht
der Annahme, dass die Zerstörung von Beziehungen nur ein Sekundäreffekt des
Traumas sei:
„Traumatische Ereignisse erschüttern zwischenmenschliche Beziehungen in den
Grundfesten. Sie zersetzen Bindungen an Familie, Freunde, Partner und Nachbarn,
sie zerstören das Selbstbild, das im Verhältnis zu anderen entsteht und
aufrechterhalten wird.“ (Herman, 1992, S. 77)

- 22 -
Der Krieg führt zu einer Entmenschlichung, welche sich laut Martín-Baró im Verlust
oder der Verarmung folgender menschlicher Eigenschaften zeigt: in der Fähigkeit klar
zu denken, in der Fähigkeit effektiv und mit Wahrhaftigkeit zu kommunizieren und in
der Sensibilität gegenüber dem Leid anderer sowie dem Gemeinschaftsgefühl (Martín-
Baró, 1990). Der Verlust dieser Fähigkeiten wirkt sich unmittelbar in den
zwischenmenschlichen Beziehungen aus.
Das Leben in den indigenen comunidades ist stark auf ein kohärentes Sozialgefüge
ausgerichtet5 und stabile Gemeinschaftsstrukturen sind die Lebensgrundlage in den
abgeschiedenen Gebieten. Die Anthropologin Kimberley Theidon (2004) bezieht sich
auf Martín-Baró und argumentiert, dass die Zerstörung auf der psychosozialen Ebene
im andinen Peru zu sozialen Störungen in den comunidades geführt hat, die sich auf
kulturspezifische Art und Weise ausdrücken (vgl. 2.2.1).
Aber nicht nur die Beziehungen im familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld
haben Schaden davon getragen. Der bewaffnete Konflikt hat dazu geführt, dass die
ohnehin schwierigen Beziehungen zwischen weißer, mestizischer und indigener
Bevölkerung sich weiter verschlechtert haben: Wie Portocarrero (2003) es ausdrückte,
wollte das eine Peru – das der weißen und mestizischen Bevölkerung – vom Leid des
anderen, des indigenen Peru nichts wissen. Flüchtlinge aus dem Hochland wurden
häufig mit dem Vorwurf konfrontiert, selber Terroristen zu sein, und die gewaltsamen
Exzesse des Militärs wurden als notwendig erachtet, um den Feind zu besiegen (vgl.
Theidon, 2004, Portocarrero, 2003).
Wie Hamber (2004) ausführt, haben Gesellschaften, die sich in einem Konflikt
befinden, die Tendenz, kontrollierende und rigide Strukturen zu entwickeln, und die
Regierungen nutzen das Klima der Angst, um eine autoritäre Rolle zu übernehmen, wie
es Fujimori auch 1992 in Peru getan hat. Das kann auf institutioneller Ebene zu einem
Missbrauch der Macht führen.
Wie auch Martín-Baró ist Hamber der Meinung, dass die Heilung eines
Kriegstraumas das Miteinbeziehen der sozialen Dimension erfordert:
„Addressing the social dimensions of conflict is healing work. The social context of
political trauma is important. A psychosocial approach recognises that trauma work
following political violence requires the social and political context to be addressed
at the same time as individual psychological needs. The psychological and the social

5
Für die ayacuchanische, quechuasprachige Bevölkerung verwendete Theidon auch den Terminus
„soziozentrisch“ von Schweder und Bourne, der eine Kultur charakterisiert, in welcher die
zwischenmenschlichen Beziehungen eine hervorgehobene Rolle spielen (Theidon, 2004).

- 23 -
are linked and constantly feed off one another. Ways of reconnecting all victims
with their sense of belonging in society need to be sought.” (Hamber, 2004, S. 6)

Und obwohl Krieg und politische Repression kollektive Ereignisse darstellen, kann man
nicht von kollektiven Traumata oder traumatisierten Gesellschaften sprechen.
„In Bezug auf traumatische Ereignisse […] gibt es immer eine soziale und
kollektive Dimension, da die sozialen Beziehungen selbst charakterisiert sind durch
den gewaltvollen Machtkampf, der Angst, Tod und Zerstörung mit sich bringt.
Gleichzeitig ist Trauma aber notwendig ein individueller Prozess. Deshalb kann es
kollektive Traumata eigentlich gar nicht geben. Allerdings verweist die Erfindung
solcher Begriffe deutlich auf die soziale Dimensionen massiver
Traumatisierungsprozesse hin, die gerade auf der individuellen Ebene mitreflektiert
werden müssen.“ (Becker, 2006, S. 120)

2.2.4 Trauma und Trauer


Krieg und politische Repression bedeuten immer auch Verlust: Geliebte Menschen
verschwinden oder werden ermordet, Haus und Besitz müssen bei einer Flucht
zurückgelassen werden oder sind durch Kampfhandlungen zerstört worden,
Kriegsverletzungen oder Folter beeinträchtigen die Funktionsfähigkeit des eigenen
Körpers. Neben diesen direkt greifbaren Verlusten gibt es aber auch subtilere Verluste:
Das Vertrauen in die Mitmenschen oder die staatlichen Institutionen geht verloren, das
Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen werden gestört, Zukunftsperspektiven werden
zerschlagen und die eigenen Handlungsspielräume beschnitten.
Trauer stellt eine natürliche Reaktion auf Verlust dar, sie ist „eine schmerzhafte, aber
letztlich effektive Methode, unsere früheren Bindungen loszulassen, uns innerlich der
Abwesenheit von verlorengegangenen Menschen oder Dingen anzupassen und unser
eigenes Leben fortzusetzen“ (Volkan, 1999, S. 53). Volkan beschreibt den
Trauerprozess in zwei Phasen: Unmittelbar auf den Verlust folgt die Trauerkrise, die
durch Schock, Verleugnung, Schmerz und Trauer geprägt ist. Auf die Trauerkrise folgt
die Trauerarbeit; während dieser lernt der Trauernde sich an die gewandelte
Wirklichkeit anzupassen.
Weitaus schwieriger gestalten sich die Trauerprozesse, wenn der Verlust unter
gewaltsamen Umständen stattgefunden hat. Becker und Weyermann (2006) schreiben
dazu: „Violent losses are always traumatic and are followed by complicated mourning
processes“ (S. 92).
Damit sich der Trauerprozess aber trotzdem realisieren kann, sind Informationen
über die genauen Todesumstände sowie ein angemessenes Begräbnis wichtige

- 24 -
Vorraussetzungen (Becker & Weyermann, 2006). Während Zeiten von Krieg und
politischer Repression sind aber häufig weder die genauen Todesumstände bekannt,
noch gibt es die Möglichkeit, die Toten angemessen zu bestatten.
Becker und Castillo sehen eine Überschneidung von Trauerprozessen und
traumatischen Prozessen:
„Wir können also den Schaden in den Opfern nicht nur als traumatischen Prozess,
sondern auch als gestörten, bzw. verhinderten Trauerprozess begreifen. Die Störung
dieses Prozesses, die gesellschaftlich verursacht wird, körpert sich regelrecht in die
Psyche der Betroffenen ein und hält die Trauer in einem eingefrorenen Zustand,
weil die Wahrheit über die Geschehnisse weiterhin verleugnet wird und weder auf
der psychischen noch auf der gesellschaftlichen Ebene jene Räume existieren, die
einen Prozess der Symbolisierung ermöglichen würden.“ (Becker & Castillo, 1990,
zitiert nach Becker, 1997, S. 9)

Besonders kompliziert stellt sich der Trauerprozess bei Angehörigen Verschwundener


dar: Sie wissen vielfach nicht einmal, ob die geliebte Person tatsächlich tot ist, und nach
dem Verbleib des Toten zu forschen, kann die Angehörigen selbst in Gefahr bringen.
Die Ungewissheit führt dazu, dass Angehörige noch viele Jahre auf die Rückkehr des
Verschwundenen hoffen; der Trauerprozess stagniert und der Verlust kann nicht
verarbeitet werden (vgl. Luna et al., 2003, Preitler, 2006).
Auf Grund des Fehlens von Information müssen die Angehörigen selbst entscheiden,
ab wann sie die Hoffnung auf eine Wiederkehr endgültig aufgeben. Das resultiert in
einem Dilemma: Wenn der Tod des „Verschwundenen“ angenommen wird, so kann es
sich für die Angehörigen so anfühlen, als ob sie selbst den geliebten Menschen getötet
hätten. Erhalten sie jedoch die Hoffnung auf eine Wiederkehr aufrecht, kann das zur
Verleugnung des Verlustes führen; der Tote kann nicht betrauert, der Verlust nicht
verarbeitet werden (Becker & Weyermann, 2006).

2.3 Bewältigungsstrategien in der Bevölkerung


Oft noch während ein Konflikt wütet, beginnen sich in der Bevölkerung neue Formen
der gegenseitigen Unterstützung und Solidarität zu entwickeln. Opfer und Angehörige
versuchen gemeinsam, dem Schrecken und dem Terror etwas entgegenzusetzen. In den
verschiedenen lateinamerikanischen Diktaturen konnte beobachtet werden, wie sich
Angehörigen in Verbänden zusammenschlossen und Menschen unter hohem
persönlichem Risiko die Mauern des Schweigens durchbrachen und für eine
Veränderung kämpften.

- 25 -
Neben den direkten Betroffenen der Gewalt und verschiedenen NRO´s (Nicht-
Regierungsorganisationen) sind es auf der anderen Seite oft Künstler und Intellektuelle,
die versuchen, den Blick auf das Leid bestimmter Bevölkerungsgruppen zu lenken. Die
Kunst kann sowohl einen persönlichen als auch einen öffentlichen Bearbeitungsversuch
darstellen.
Einige dieser Bewältigungsstrategien und Verarbeitungsversuche in Peru sollen im
Folgenden dargestellt werden.

2.3.1 Angehörigenverbände und NRO´s


Die Frauen in den andinen Regionen waren bis vor dem bewaffneten Konflikt
weitgehend vom politischen Leben ausgeschlossen. Die Umstände zwangen nun aber
gerade die Frauen aktiv, zu werden: Die überwiegende Mehrheit der Verschwundenen
waren Männer, was vor allem Mütter und Ehefrauen zu Suchenden werden ließ. Die
offiziellen Stellen schickten die Frauen ohne Information weg; oft wurden sie auch
bezichtigt, selbst Terroristinnen zu sein. Schon in den frühen 80er Jahren schlossen sich
Angehörige von Verschwundenen zu Verbänden zusammen. 1983 vereinten sich einige
dieser kleinen Verbände unter der Führung von Angélica Mendoza, Teodocia Layme
und Antonia Zaga und gründeten ANFASEP (Youngers, 2003). ANFASEP6 war für die
Mitglieder ein Netz, das der gegenseitigen Unterstützung diente und Raum bot, um
Informationen auszutauschen. Gemeinsam plante man Protestmärsche und Anklagen.
Da die Familien vieler Mitglieder unter großer Armut litten – verschlimmert oft noch
dadurch, dass die verschwundene Person den Unterhalt der Familie bestritten hatte –
wurde auch nach Möglichkeiten gesucht, die ökonomische Misere etwas abzufangen.
So wurde beispielsweise eine Volksküche für Kinder ins Leben gerufen, die mehrere
hundert Kinder versorgte (Youngers, 2003).
Die gemeinsamen Aktivitäten gaben den Frauen Kraft, weiterzumachen und ihrem
Schicksal einen Sinn zu geben:
„Durch die verschiedenen Formen der aktiven Suche, des Austausches mit anderen
Betroffenen, des Kämpfens für Gerechtigkeit und kreative Formen der Erinnerung
kann das „Verschwinden‟ der geliebten Person in einem lebensgeschichtlich und
gesellschaftspolitisch sinnvollen Rahmen gesehen und damit das traumatische
Erleben bewältigt werden.“ (Preitler, 2006, S. 152)

6
Asociación Nacional de Familiares de Secuestrados, Detenidos-Desaparecidos – Nationaler Verband
der Familienangehörigen von Entführten und Verschwundenen nach Verhaftung

- 26 -
Unterstützt wurde ANFASEP regional von der Menschenrechtsorganisation
COMISEDH sowie international durch die Madres de Plaza de Mayo aus Argentinien
und die lateinamerikanische NRO FEDEFAM, die ein Netzwerk von
Angehörigenorganisationen darstellt (Youngers, 2003).
Neben ANFASEP haben sich noch viele weitere Angehörigen- und Opferverbände
formiert. Der Zusammenschluss von Menschen, die Ähnliches erlebt haben und für die
gleichen Dinge kämpfen, dient als moralische Stütze und Trost. Die
Angehörigenverbände stellen dadurch ein Gegengewicht zur Zerstörung der
Beziehungen dar und ermöglichen es, ein Stück weit aus der Ohnmacht des Traumas
herauszutreten und neue Handlungsspielräume zu schaffen.
So wie sich die Betroffenen zusammenschlossen um wirkungsvoller auftreten zu
können, taten es 1984 auch mehrere Menschrechtsorganisationen in Peru. Sie vernetzten
sich über die immer noch existierende Nationale Koordinationsstelle für
Menschenrechte (Coordinadora Nacional de Derechos Humanos, CNDDHH). Die
CNDDHH wurde zu einer wichtigen Anlaufstelle für Angehörige und Betroffene,
wurde aber auch immer wieder hart attackiert und beschuldigt, eine Pro-Sendero-
Haltung einzunehmen (vgl. Youngers, 2003, www.dhperu.org). Die Koordinationsstelle
erkannte Anfang der 90er Jahre, dass es auch einen großen Bedarf an psychologischer
Unterstützung gab. 1994 berief sie daher ein Treffen mit Psychiatern, Therapeuten und
Psychologen ein, von welchen sich einige bereit erklärten, ohne Bezahlung und unter
nicht ungefährlichen Umständen, den Opfern der politischen Gewalt psychologische
Beratung und Therapie anzubieten. CAPS (Centro de Atención Psicosocial) war
geboren (Mujica, 1998). Seit 2003 ist CAPS eine autonome Organisation, die aber
immer noch eng mit der Koordinationsstelle zusammenarbeitet.
Für die Menschenrechte einzutreten war während der Zeit der politischen Gewalt mit
großen Risiken verbunden. Aber die NRO´s waren häufig die einzige Anlaufstelle, die
den Betroffenen blieben.
„Lange bevor der Staat helfend und intervenierend eingriff, hatten die
Organisationen und Institutionen [NRO´s, Opfer-Verbände, …] eine Verbindung
zur Bevölkerung aufgebaut, ihr Vertrauen gewonnen und ihnen [sic.] nach
Möglichkeit Schutz geboten.“ (Drha, 2007, S. 178)

Auch in der immer noch andauernden Post-Konflikt Phase leisten die verschiedenen
NRO´s wichtige Beiträge zur Konfliktaufarbeitung und Friedensgestaltung mittels

- 27 -
Projekten, Kampagnen, sowie individuellen und kollektiven psychologischen
Betreuungsangeboten (Drha, 2007).

2.3.2 Die Auseinandersetzung mit der politischen Gewalt in der Kunst


Die Zeit der politischen Gewalt wurde, noch während der bewaffneten Kampf tobte, in
Dichtungen, Theaterstücken, im Film sowie in der Volkskunst thematisiert. Die Kunst
leistete damals einen wichtigen Beitrag, um das Schweigen zu brechen und auf das Leid
der Betroffenen aufmerksam zu machen. Heute dient sie der Erinnerung und ermöglicht
so in kleinen Schritten, die Vergangenheit aufzuarbeiten, sie nicht in Vergessenheit
geraten zu lassen.
Die Theatergruppe Yuyachkani, die bereits 1971 gegründet worden war, widmet sich
der Darstellung der kulturellen, sozialen und politischen Situation Perus. Die politische
Gewalt war und ist immer wieder zentrales Thema in den Theaterstücken, die zum Teil
auch international aufgeführt wurden (www.yuyachkani.org). 2005 und 2006 hatte ich
selbst die Gelegenheit, mir ein Stück und eine öffentliche Performance der „Yuyas“
anzusehen. Ich konnte miterleben, wie die Bilder in den Zusehern Emotionen
hervorriefen und auch bei mir haben sie einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Abb. 2: Mitglied von Yuyachkani bei einer Gedenkveranstaltung 2006

1988 entstand der Film „La boca del lobo” (dt. Titel „Die Schlucht der Wölfe“) des
peruanischen Regisseurs Fracisco José Lombardi. Der Film behandelt die
Vorgehensweise des Militärs in den frühen 80er Jahren. Erzählt aus der Sicht eines

- 28 -
jungen Soldaten macht er die kulturellen Differenzen und die Kluft zwischen den
Militärs und der Dorfbevölkerung deutlich. Es entspinnt sich ein Klima der Angst, das
schlussendlich in einem Massaker an der Dorfbevölkerung durch das Militär endet (da
Gama, 2007). Der Film zeigte noch während des bewaffneten Konfliktes die Taktiken
des Militärs auf, welche die Staatsgewalt herunterzuspielen und zu verschleiern
versuchte.
Es gab auch humoristische Ansätze, die versuchten das Geschehene zu integrieren.
Laut Volkan (1997) stellen grausame Scherze oft den Beginn eines Gruppentrauerns dar
und helfen, die tragische Realität zu akzeptieren. Als Beispiel kann das Lied „Las
torres“ der Gruppe „Los Nosequien y los Nosecuantos“ („Die Ichweißnichtwer und die
Ichweißnichtwieviele“) dienen, welches 1992 ein großer Hit an der Küste Perus war.
Das Lied bedient sich der Struktur eines bekannten Kinderliedes und thematisiert den
Terrorismus, ebenso wie die korrupten Politiker: „In diesem Lied finden wir die
perfekte Satire auf die limeñische Gesellschaft in der Epoche einer unglaublichen Krise
[…]“ (http://rock-peru.blogspot.com/2006/04/los-nosequien-y-los-nosecuantos-las.html,
Übers. d. Verf.).
Während die oben genannten Beispiele eher für die Küste charakteristisch sind,
haben Repräsentationen der politischen Gewalt auch in der volkstümlichen Kunst
Eingang gefunden.
Der ayacuchanische Künstler und Anthropologe Edilberto Jiménez bediente sich der
für die Region typischen Retablos7, um Szenen der Gewalt darzustellen. Jiménez
stammt aus einer Künstlerfamilie und steht in dem Ruf der vielleicht beste junge
Retablista Perus zu sein (Degregori, 2005). Er war einer der ersten, die in die von der
Gewalt schwer getroffene Andenregion Chungi vordrangen. Er hörte sich die
Geschichten der Bevölkerung an und hielt sie in Zeichnungen fest, die später sowohl in
Buchform als auch als internationale Ausstellung8 veröffentlicht wurden. Es war ihm
ein großes Anliegen, dass die Wahrheit darüber, was der Bevölkerung von Chungi
zugestoßen war, bekannt wurde, dazu musste „der Anthropologe und Künstler neue
Werkzeuge erfinden, um die Geschichte zu rekonstruieren, die Wahrheit an die
Öffentlichkeit zu bringen und den Schmerz und Horror Chungis auszudrücken“
(Degregori, 2005, S. 13, Übers. d. Verf.).

7
Retablos sind kleine, tragbare Altäre, die für Zeremonien auf Feldern und Weiden verwendet werden.
8
www.menschenrechte.org/peru_ausstellung/edilberto.htm

- 29 -
Abbildung 3 zeigt einen Ausschnitt des Retablos „Der Traum der Frau aus Huamanga9
und die acht Jahre der Gewalt“. Edilberto sagt dazu:
„Das ist eine meiner Arbeiten, die mit der Tradition der ayacuchanischen Retablos
bricht. Die schwarze Farbe repräsentiert die Trauer durch die Gewalt; die
Bevölkerung, die sich in diesen Jahren schwarz gekleidet hat wegen dem Tod ihrer
Liebsten. Aber man sieht in dem Retablo auch die Farbe Weiß, die die permanente
Suche nach dem Frieden darstellt. Die zentrale Figur ist die in einer Höhle voller
Gold und Silber schlafende Frau. Unter ihr befindet sich ein Blutbad. Sie träumt,
und in ihren Träumen beobachtet sie das Leid ihres Gatten, welches er von den
Händen seiner Unterdrücker erfährt. Danach wird sein Leichnam den Hunden
vorgeworfen, aber seine Seele wird von den Engeln gerettet [rechts oben, nicht
vollständig sichtbar].“ (Email-Korrespondenz vom 15. 9. 2007)

Abb. 3: „Der Traum der Frau aus Huamanga und die acht Jahre der Gewalt“

Ein weiteres Retablo von Jiménez (Abb. 4), dass die Zeit der politischen Gewalt
thematisiert, ist „El Hombre“. Es ist
„[…] nach einem Lied aus Huamanga benannt, dass in den Jahren der Gewalt alle
gesungen haben, die Soldaten und die Polizisten ebenso wie die Senderistas. Das
Retablo repräsentiert die ganze Welt und im Zentrum den Mann, der zur Hälfte
unterdrückt ist, während die andere Hälfte versucht, die Ketten zu sprengen.“
(Email-Korrespondenz vom 15. 9. 2007)

9
Huamanga ist der Quechuaname Ayacuchos. Sowohl das departamento als auch die Hauptstadt werden
entweder als Huamanga oder Ayacucho bezeichnet.

- 30 -
Abb. 4: „El Hombre“

Das Lied „El Hombre“10 handelt von einem Mann/Menschen (das Wort hombre hat im
Spanischen beide Bedeutungen), der die Unterdrückung, das Unrecht und die
Resignation zurückweist, ohne die Realität zu verleugnen. Die Person möchte nicht
selbst zum Übeltäter werden, sondern die Welt von Unheil befreien. Das Lied wurde
bereits 1970 von Ranulfo Fuentes Rojas geschrieben und bekam durch die politische
Gewalt eine neue Bedeutung (Tonorio, 2006).

Yo no quiero ser el hombre Ich möchte nicht der Mensch sein,


que se ahoga en su llanto der sich in seinen Tränen ertränkt,
De rodillas hechas llagas der sich auf wunden Knien
que se postran al tirano vor dem Tyrannen niederwirft.
Yo quiero ser como el viento Ich möchte sein, wie der Wind,
que recorre continentes. der über die Kontinente hinweg fegt,
Y arrastrar tantos males alle Übel mitreißt
Y estrellarlos entre rocas und sie an den Felsen zerschellt.

No quiero ser el verdugo, Ich möchte nicht der Scharfrichter sein,


que de sangre mancha el mundo der die Welt mit Blut befleckt
y arrancar corazones und die Herzen herausreißt,
que amaron la justicia, die die Gerechtigkeit liebten
Y arrancar corazones und die Herzen herausreißt,
que buscaron la libertad. die Freiheit suchten.
Yo quiero ser el hermano Ich möchte der Bruder sein,
que da mano al caído der dem Gefallenen die Hand reicht
y abrazados férreamente und ihn fest umarmt,
vencer mundos enemigos die feindlichen Welten bezwingt
y abrazados férreamente und fest umarmt
vencer mundos que oprimen die unterdrückenden Welten bezwingt.

10
„El Hombre“ ist ein huayno, eine sehr typische Liedform für die Andengegend. Der vollständige Text
befindet sich im Anhang. Eine Version des Liedes, gesungen von Martina Portocarrero, findet sich im
Internet unter: www.youtube.com/watch?v=DH7CFNlZzbs

- 31 -
Ein anderes Beispiel für die Volkskunst stellen die von Frauen genähten Bilder (Abb. 5)
dar, welche ihre Geschichten erzählen. Sie wurden von Angehörigen Verschwundener
oder Opfern von Massakern angefertigt, um auf das, was ihnen zugestoßen ist
aufmerksam zu machen.

Abb. 5: Genähtes Bild einer Frau aus Ayacucho, welches das Massaker von Parcco darstellt

2.3.3 „Das weinende Auge“ – Ein Platz für die Erinnerung


Am 28. 8. 2005 wurde die Gedenkstätte „El Ojo que llora“ („Das weinende Auge“)
eröffnet. Es handelt sich dabei um ein Monument nach dem Entwurf der Künstlerin
Lika Mutal. Ein Labyrinth aus 32.000 Steinen formiert sich um das Zentrum: das
weinende Auge (Abb. 6). 26.000 Steine wurden von Freiwilligen mit Namen der Opfer
der politischen Gewalt beschriftet; der Platz dient dem Andenken aller im Konflikt
verstorbenen Menschen (www.aprodeh.org.pe/ojoquellora2006/index.html).
Das weinende Auge ist ein Platz, an dem getrauert wird, wo der Schmerz eine Form
annimmt; ein Platz, an dem die Erinnerung an die Opfer lebendig gehalten wird, damit
sich die Schrecken der Vergangenheit nicht mehr wiederholen. Laut Volkan (1999)
„[…] kommt dem Bau von Monumenten nach großen kollektiven Verlusten ein
eigener Platz innerhalb des gesellschaftlichen Trauerns zu. Derlei stellt beinahe eine
psychologische Notwendigkeit dar. Gebilde aus Stein und Metall funktionieren als
Bindeglieder, die die Gruppe zusammenhalten. Ihre uneingeschränkte Haltbarkeit
macht sie zu psychologischen Räumen, die Emotionen bewahren und begrenzen.“
(S. 58)

- 32 -
Andererseits werden an diesem Monument die immer noch anhaltenden Spannungen
zwischen den Konfliktparteien spürbar. Das weinende Auge wird durch seine
Erinnerungsfunktion zur Angriffsfläche: Die Namen auf den Steinen vereinen Opfer,
die durch die Hand Senderos starben, ebenso wie jene, die durch das Militär und die
Polizei ihren Tod fanden oder nach ihrer Festnahme nie wieder auftauchten. Diese
Mischung scheint so explosiv zu sein, dass einige Stimmen die Zerstörung des
Monuments fordern (Vargas, 2007).

Abb. 6: „El Ojo que llora“

- 33 -
3. Wahrheits- und Versöhnungskommissionen

In diesem Kapitel soll erläutert werden, was Wahrheitskommissionen, bzw. Wahrheits-


und Versöhnungskommissionen sind, welche Funktionen, aber auch welche Grenzen sie
haben. Des Weiteren soll auf die Wahrheit und ihre psychosozialen Folgen und auf die
Möglichkeiten von Versöhnung und Heilung eingegangen werden. Im Zentrum der
Überlegungen stehen immer wieder die Opfer und Überlebenden. Als Referenzpunkte
dienen die Wahrheitskommissionen von Südafrika, Argentinien, Chile, El Salvador und
Guatemala11.

3.1 Erinnern oder Vergessen: Aufarbeiten konfliktreicher Vergangenheit


“So I asked, „Do you want to remember, or to forget?‟ He hesitated. „We must
remember what happened in order to keep it from happening again,‟ he said slowly.
„But we must forget the feelings, the emotions that go with it. It is only by forgetting
that we are able to go on. ” (Hayner, 2002, S. 1)

Der Umgang mit einer belasteten Vergangenheit ist oft eine vordringliche Frage in
Ländern, die sich nach einem Krieg, einem Bürgerkrieg oder politischer Repression in
einem Transitionsprozess befinden. Die Frage lautet immer wieder “to remember or to
forget“: „Wir müssen nach vorne schauen; weitermachen!“ ist eine häufige Forderung -
den Schrecken der Vergangenheit, in den man vielleicht selbst involviert war, hinter
sich lassen, den Mantel des Schweigens und des Vergessens darüber breiten.
Besonders die Täter tun alles, was in ihrer Macht steht, um einer Strafe zu entgehen:
„Gewöhnlich fordern sie eine Amnestie, eine politische Form der Amnesie“, wie Judith
Herman (1992, S. 392) es treffend ausdrückt.
Wie aber sollen jene vergessen, deren Leben tief erschüttert wurde, die täglich mit
den Folgen von Verlust, Folter und Bedrohung fertig werden müssen? Die
Vergangenheit kann von den Überlebenden nicht einfach ignoriert werden; die
Traumata und der Schmerz vergehen nicht mit dem Verstreichen der Zeit – sie haben
Konsequenzen für die Individuen (Hamber, 1995). „Repressed pain and trauma
generally block emotional life, have psychologically adverse consequences and can
even lead to physical symptoms“ (Miller zitiert nach Hamber, 1995, S. 2).

11
Eckdaten zu diesen Kommission finden sich im Anhang.

- 34 -
Ein häufiges Instrument der politischen Repression ist das „Verschwindenlassen“
politischer Gegner. Wie Barbara Preitler (2006) schreibt, bedeutet das „Verschwinden“
einer Bezugsperson immer einen Verlust unter besonders schwierigen Umständen. Ein
Abschied ist meist nicht möglich und es folgt die Zeit der Ungewissheit, die häufig auch
eine Zeit der Suche nach dem verschwundenen Angehörigen unter nicht ungefährlichen
Umständen ist. Die Angehörigen wollen die Wahrheit wissen, wollen wissen, was mit
ihren Liebsten geschehen ist. Sie werden so immer wieder, häufig unterstützt durch
Menschrechtsorganisationen, zu den vehementesten Verfechtern der Wahrheitssuche,
die dem Schweigen und Vergessen trotzen.
Aber nicht nur die Zivilbevölkerung, die Opfer und die Täter müssen sich der Frage
nach dem Umgang mit der Vergangenheit stellen, sondern auch die (neue) Regierung.
Oft gibt es internationalen und medialen Druck; vor allem nach der Beendigung einer
Diktatur wollen die neuen politischen Protagonisten eine demokratische Kultur
demonstrieren und somit das eigene politische Profil verbessern (Oettler, 2004). Früher
gab es als Alternative zum „Vergessen und Verschweigen“ eigentlich nur die
Möglichkeit der gerichtlichen Aufarbeitung des vergangenen Unrechts. Diese war/ist
immer wieder auch mit Risiken verbunden: so können noch amtierende
Staatsangestellte oder Angehörige der Streitkräfte aus Angst vor strafrechtlicher
Verfolgung den Transitionsprozess gefährden (Reisner, 2004), oder bestehende
Amnestiegesetze verhindern, dass die Verantwortlichen vor Gericht zur Rechenschaft
gezogen werden. Das führte dazu, dass sich in den letzten beiden Jahrzehnten das
Modell Wahrheitskommission als „dritter Weg“ (Tutu, 1999, S. 33) zur Aufarbeitung
der Vergangenheit etablieren konnte.

3.2 Definition, Arbeitsweise, Funktionen und Ziele

3.2.1 Definition
Wahrheitskommissionen, bzw. Wahrheits- und Versöhnungskommissionen bieten eine
Möglichkeit der Aufarbeitung konfliktreicher, gewaltsamer Vergangenheit, welche in
den letzten 20 Jahren, häufig als Form von nationalen Übergangsmechanismen immer
mehr an Bedeutung gewonnen hat. Ihren heutigen Bekanntheitsgrad verdanken sie vor
allem den zwei großen Wahrheitskommissionen Südafrikas und Guatemalas, die eine
breite Öffentlichkeit auf das Thema der offiziellen und institutionalisierten

- 35 -
Wahrheitssuche aufmerksam gemacht haben. Seit der “Commission of Inquiery into the
Disappearence oft People“ in Uganda 1974 hat es weltweit mindestens 25 offizielle
Wahrheitskommissionen gegeben; besonders häufig wurde dieses vergangenheits-
politische Instrument in Afrika und Lateinamerika12 eingesetzt (vgl. Freeman & Hayner,
2003; Oettler, 2004).
Esteban Cuya vom Nürnberger Menschenrechtszentrum definiert
Wahrheitskommissionen folgendermaßen:
„Wahrheitskommissionen sind Untersuchungsgremien, die Gesellschaften, welche
Situationen schwerer politischer Gewalt oder interne Kriege hinter sich haben, dabei
unterstützen, sich kritisch mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen, mit dem
Ziel, die von der Gewalt verursachten tiefen Krisen und Traumata zu bewältigen,
und um zu verhindern, dass solche Geschehnisse sich in der näheren Zukunft
wiederholen.
Mit Hilfe der Wahrheitskommissionen versucht man die Ursachen der Gewalt zu
untersuchen, die Elemente des Konfliktes zu identifizieren, die schwersten
Menschenrechtsverletzungen aufzuklären und die entsprechenden juristischen
Verantwortungen zu begründen.“ (Cuya13, Übers. d. Verf.)

Eine weitere Definition liefern Priscilla Hayner und Mark Freeman (2003), die
verallgemeinerbare Charakteristika von Wahrheitskommissionen folgendermaßen
zusammengefasst haben:
 Die Arbeitsdauer von Wahrheitskommissionen ist meist auf einen Zeitraum von
ein bis zwei Jahren beschränkt.
 Wahrheitskommissionen werden vom Staat, und in einigen Fällen im Rahmen
von Friedensverhandlungen auch von der bewaffneten Opposition, offiziell
genehmigt, autorisiert und mit bestimmten Machtbefugnissen ausgestattet.
 Sie haben keine strafrechtliche Gewalt, verfügen aber über ein verschieden
großes Ausmaß an rechtlicher Unabhängigkeit.
 Ihre Gründung ist häufig bedingt durch einen nationalen Transitionsprozess,
entweder vom Krieg zum Frieden oder von einem autoritären Regime zur
Demokratie.
 Die Richtung der Untersuchung ist die Vergangenheit, in welcher Missstände
und bestimmte Menschenrechtsverletzungen während eines Zeitraumes
untersucht werden sollen.
12
Afrikanische Kommissionen: Uganda, Zimbabwe, Chad, Südafrika, Burundi, Nigeria, Sierra Leone,
Ghana.
Lateinamerikanische Kommissionen: Argentinien, Chile, Guatemala, Ecuador, El Salvador, Bolivien,
Peru, Panama, Uruguay (Hayner, 2002; Freeman & Hayner, 2003).
13
Keine Angabe der Jahreszahl. Verfügbar unter: http://www.derechos.org/koaga/iii/1/cuya.html

- 36 -
 Die Arbeit der Kommission ist vollendet mit der Übergabe eines
Abschlussberichtes, der Schlussfolgerungen und Empfehlungen beinhaltet. Nach
der Abgabe dieses Berichtes löst sich die Kommission üblicherweise auf.

3.2.2 Ziele und Arbeitsmethoden


Das Hauptziel einer Wahrheitskommission liegt in der Aufklärung der Vergangenheit;
sie soll, wie ihr Namen sagt, der Wahrheit ans Licht verhelfen. Im Idealfall kann mit
ihrer Hilfe eine genaue, detaillierte, unparteiliche und offizielle Dokumentation der
Geschehnisse erstellt werden. So wie es aber immer Menschen und Institutionen gibt,
die diese Wahrheit einfordern, so gibt es auf der anderen Seite auch die Menschen und
Institutionen, die diese Wahrheit unterdrücken und verschleiern wollen. Die
Zugeständnisse und Machtbefugnisse, die eine Wahrheitskommission erhält, spiegeln
somit, laut Anika Oettler (2004) immer auch „das vorherrschende gesellschaftliche
Kräfteverhältnis“ des jeweiligen Landes wider. So wurden beispielsweise in
Argentinien vorwiegend Fälle von Kidnapping, „Verschwindenlassen“ und Folter
untersucht:
“[…] experiences arguably identified mostly with the middle classes. What of
collective massacres, thought to be more representative of the working class
experience? What of whole provinces where mass death came in the guise of open
military confrontation that fit the rubric of battles, except for the sinister fact that
casualties were never reported or even recognised?” (Taylor zitiert nach Humphrey,
2002, S 109)

In Guatemala durfte die Rolle des Paramilitärs nicht behandelt und auch das Schicksal
von ca. 50.000 Verschwundenen nicht tiefergehend untersucht werden (Kühner, 2002).
Das wohl wichtigste Instrument zur Wahrheitsfindung, auf welches sich die
Kommissionen stützen, sind die Aussagen14 von Opfern und Überlebenden. Weitere
Instrumente können öffentliche Hearings, Exhumierungen, museologische Formen der
Aufarbeitung, polizeiähnlich durchgeführte Untersuchungen und Dokumentenanalyse
sein (Freeman & Hayner, 2003). Gegen Ende des festgelegten Arbeitszeitraumes der
Kommission stehen oft nur wenige Monate zur Verfügung, um die gewaltigen

14
Diese Aussagen oder Zeugnisse werden auf Englisch als testimony bzw. auf Spanisch als testimonio
bezeichnet; dieser Begriff lässt sich leider nur ungenügend ins Deutsche übersetzen, da deutsche
Entsprechungen wie „Zeugnis“, „Zeugenaussage“ oder „Bezeugung“ den Beigeschmack einer Aussage
vor Gericht haben. Das englische „to give testimony“ oder spanische „dar testimonio“ bringen zum
Ausdruck, dass die Person die eigene Sichtweise des Erlebten und Gesehenen zur Verfügung stellt,
weshalb im Folgenden der Ausdruck „Testimonio“ verwendet wird (vgl. 3.3.2).

- 37 -
Datenmengen aus der Anhörung tausender Zeugen zu erfassen, statistisch auszuwerten
und die Ergebnisse der Kommission in einem Bericht zusammenzufassen (Oettler,
2004).

3.2.3 Abschlussbericht und Empfehlungen


Der Abschlussbericht ist sozusagen das Produkt, das bleibende Vermächtnis der
Wahrheitskommission. Er kann der Weiterbildung in Menschenrechtsfragen, oder wie
bereits erwähnt, der weiteren strafrechtlichen Verfolgung dienen. Die Berichte
vergangener Kommissionen umfassen hunderte bis mehrere tausend Seiten. Meist wird
der Bericht als Schlusspunkt der Arbeit der Kommission der Regierung übergeben und
in weiterer Folge via Internet, in Buchform oder als Zeitungsbeilage veröffentlicht.
Die Auswirkungen dieses Berichts sind aber weniger abhängig von seinem Inhalt als
viel mehr von den Umständen: wann und wie er veröffentlicht wird, der Auflage und
Art der Publikation sowie der Reaktionen der Medien (Freeman & Hayner, 2003). Der
Bericht selbst ist eine kollektive Erinnerung; ein Archiv der Gräuel und Grausamkeiten,
welches verhindern soll, dass diese wieder geschehen (Humphrey, 2002). Humphrey
kritisiert die Objektivität eines solchen Berichtes und bezieht sich dabei auf Taylor:
“Thus authority admits some narratives and omits others in a process of articulating
memory and power. Remembering, then, is also a process of forgetting. It is a
process of simultaneously constructing some subjectivities and doing violence to
others.” (Taylor zitiert nach Humphrey, 2002, S. 123)

Neben der Darstellung der Ergebnisse und Erkenntnisse, die die Kommission gewonnen
hat, gibt es im Abschlussbericht üblicherweise auch ein Kapitel, in welchem
Empfehlungen an die Regierung formuliert werden. Diese Empfehlungen können sich
zum einen auf Reformen des häufig desolaten Justizsystems, der Streitkräfte und
anderer staatlicher Institutionen beziehen, zum anderen aber auch Reparationen für die
Opfer fordern. Diese Reparationen können symbolisch, kollektiv und/oder individuell
sein. So erhalten beispielsweise die Familien der Getöteten oder Verschwundenen in
Chile eine monatliche Reparationszahlung und freie medizinische Versorgung (Hayner,
2003). 2004 wurden als Ergebnis einer weiteren Wahrheitskommission für die
politischen Gefangenen und Gefolterten 30.000 Personen als Opfer dieser Verbrechen
anerkannt, womit auch ihnen Reparationszahlungen zustehen15. In Argentinien wurde

15
www.gobiernodechile.cl/comision_valech/nomina2.asp

- 38 -
ebenfalls die Empfehlung der Kommission umgesetzt, und die Opfer erhielten eine
einmalige Zahlung (Hayner, 2002).

3.2.4 Gerechtigkeit und Justiz


Ein viel diskutierter Punkt ist die Stellung der Wahrheitskommission in Bezug auf die
Justiz und die strafrechtliche Verfolgung von Tätern. „Wahrheitskommissionen dürfen
und sollen zwar kein Recht sprechen, aber mit ihren Ergebnissen bezüglich der
Verantwortlichkeiten können sie zur rechtlichen Strafverfolgung beitragen“ (Reisner,
2004). Wenn man Wahrheit und Gerechtigkeit als sich ergänzende Aspekte betrachtet,
so ist die Wahrheit die Basis, auf der sich sodann die weitere strafrechtliche Verfolgung
aufbaut. Auf diese Sichtweise berufen sich häufig Menschenrechtsorganisationen; sie
fordern die Einsetzung einer Wahrheitskommission, deren Ergebnisse dann in der
Verfolgung der Täter münden. Kristy Sangster (1999) unterscheidet zwei grundsätzliche
Haltungen in Bezug auf dieses Thema. Zum einen den bereits beschriebenen Ansatz,
den sie „truth into justice“ nennt; Die andere Position beinhaltet die Meinung, dass
Wahrheit an und für sich bereits eine Form sozialer Gerechtigkeit darstellt, also „truth
as justice“. Eine Wahrheitskommission erlaubt eine tiefergehende Aufklärung der
Geschehnisse, und im Mittelpunkt stehen die Opfer, denen die Kommission
ermöglichen soll, ihre Würde zurückzuerhalten. Die Anerkennung, die den Opfern
zukommt, wird als eine andere Art der Gerechtigkeit verstanden (Reisner, 2004).
Auf Seiten der neuen Regierung steht die Suche nach einem gangbaren Weg im
Vordergrund; dieser Weg kann den Verzicht auf strafrechtliche Verfolgung zu Gunsten
der Wahrheit bedeuten (Goedeking, 2004). Hierbei spielen wieder die
Kräfteverhältnisse eine entscheidende Rolle und die bestehenden legalen, politischen
und gesellschaftlichen Umstände müssen berücksichtigt werden. Brandon Hamber,
Dineo Nageng und Gabriel O´Malley (2000) drücken es im Falle der afrikanischen
Wahrheits- und Versöhnungskommission (Truth and Reconciliation Commission, TRC)
folgendermaßen aus:
„…the African National Congress (ACN) did not have sufficient power during the
negotiations process to demand prosecution of all former human rights abusers. In
addition, the criminal justice system did not have the capacity to prosecute large
numbers of individuals. However, the ANC had sufficient power to prevent the
National Party from granting itself an unconditional blanket amnesty; the result was
a criterion-driven amnesty process.” (S. 18)

- 39 -
Die TRC bekam so eine weltweit einzigartige Machtbefugnis: Sie konnte bei politisch
motivierten Verbrechen, die von den Tätern völlig gestanden wurden, Amnestie
erteilen. Wenn es sich um schwere Menschenrechtsverletzungen handelte, musste der
Täter vor der Kommission im Rahmen einer öffentlichen Anhörung erscheinen; auch
die Macht der TRC, Personen vorzuladen, ist bisher einzigartig für eine solche
Kommission (Hayner, 2002).
Als der chilenische Präsident Patricio Aylwin 1990 sein Amt antrat, war die neue
Demokratie gewissen Restriktionen unterworfen: So hatte Pinochet bereits 1978 ein
breites Amnestiegesetz erlassen und 1980 in der Abänderung der Verfassung die Macht
des Militärs gesichert – er selbst blieb bis 1998 Oberbefehlshaber der Armee. Aylwin
wusste also, dass eine strafrechtliche Verfolgung Pinochets und seiner Armee zu riskant
wäre und entschloss sich daher zur Einsetzung einer Wahrheitskommission, die
zumindest ein Stück weit aufklären könnte, was mit den in der Diktatur
verschwundenen Menschen geschehen war (Hayner, 2002).
In Argentinien hingegen wurden auf Grund des Abschlussberichts fünf Mitglieder
der Militärjunta verurteilt. Diese Verurteilungen führten zu massivem politischem
Druck, unter welchem die Regierung nachgab – zuerst wurde ein Gesetz („Punto
Final“ – „Schlusspunktgesetz“) verabschiedet, das weitere strafrechtliche Verfolgungen
verhinderte. Ein weiteres Gesetz hob 1987 die Strafen der bereits Verurteilten auf
(Sangster, 1999). Der Fall Argentinien zeigt aber, dass Verbrechen, die ungestraft
bleiben, viele Jahre später noch ein gesellschaftliches und politisches Thema sind: Mit
der Wahl Néstor Kirchners 2001 zum Präsidenten wurde die Aufarbeitung der
Menschenrechtsverbrechen der Jahre 1976 bis 1983 wieder aktuell. 2005 wurden die
Amnestiegesetze annulliert und zahlreiche Verfahren wieder aufgenommen. Dies führte
aber auch zu Gegenreaktionen: Anwälte, Richter und Zeugen wurden bedroht. Am 17.
September 2006 „verschwand“ einer der Hauptzeugen, Jorge Julio López, des Prozesses
gegen den ehemaligen Leiter der Kriminalpolizei, Miguel Etchecolatz, und sein
Schicksal ist bis heute ungewiss. Ein weiterer Zeuge „verschwand“ im Dezember 2006,
tauchte aber zwei Tage später, mit Folterspuren am Körper, wieder auf (Amnesty
International Deutschland, 2007).
In El Salvador hatte die Wahrheitskommission das Recht, in ihrem Abschlussbericht
die Namen Schuldiger zu nennen – über hundert Militärangehörige wurden in dem
Bericht namentlich angeführt. Zwei Tage nach Erscheinen des Berichtes verabschiedete
die salvadorianische Regierung ein Amnestiegesetz, um den Militärs Straffreiheit zu

- 40 -
garantieren. Auf großen Druck von Seiten des UN-Generalsekretärs und der US-
Regierung wurden aber die namentlich angeführten Militärangehörigen zumindest
abgesetzt – dadurch „…wurde die soziale Gruppe der Täter gleichzeitig disqualifiziert
und rehabilitiert“ (Oettler, 2004, S. 101).
Das Nennen von Namen ist ein heiß diskutierter Punkt in Bezug auf
Wahrheitskommissionen. Priscilla Hayner (2002) fragt “How much truth should a truth
commission tell?” (S. 106). Die Gegner des “Namen-Nennens” argumentieren, dass die
Wahrheitskommissionen nicht das Gericht repräsentiert und sich auch nicht an dasselbe,
strikte Prozedere hält: Die Schuldigen werden genannt, ohne die Beweisführung eines
Prozesses und ohne rechtskräftig für schuldig befunden worden zu sein. Auf der
anderen Seite kann das Nennen von Namen wichtig sein, wenn ein schwaches
Justizsystem vorhanden ist und man annehmen kann, dass es zu keinen Prozessen
kommen wird. So könnte das Nennen der Namen dazu führen, dass es zumindest zu
einer Form moralischer Sanktion und öffentlicher Distanzierung von den Tätern kommt
(Hayner, 2002).
Anhand dieser kurzen Beispiele wird deutlich, wie schwierig die Verbindung von
Wahrheit und strafrechtlicher Gerechtigkeit ist, und dass die Gerechtigkeit auf Grund
der Umstände meist nur ungenügend hergestellt werden kann.
„In Chile, Argentinien, El Salvador und anderen lateinamerikanischen Ländern
wurde deutlich, dass das Recht auf Wahrheit und die Verfolgung der Täter zwei
verschiedene, im Prinzip komplementäre Aspekte juristischer Prozesse sind.
Manchmal wird der erste Aspekt in einer Wahrheitskommission behandelt, der
zweite vor Gerichten. In anderen Fällen werden beide innerhalb von
Gerichtsverfahren geklärt. Manchmal wird weder Wahrheit noch Gerechtigkeit je
hergestellt, weder innerhalb eines Gerichtes, noch außerhalb davon.“ (Becker, 2006,
S. 113)

3.3 Wahrheit
„Diese Wahrheit ist einerseits eine sozialpsychologisch fundierte Wahrheit über die
Möglichkeiten, die Mauern der Angst, des Schweigens, des Terrors und der
Straflosigkeit wenn nicht einzureißen, so doch abzutragen. Sie ist einerseits die
mythische Wahrheit, die von Versöhnung, Heilung und Überwindung spricht und
begierig auch von den gesellschaftlichen Protagonisten aufgegriffen und
reproduziert wird, für die die institutionalisierte Wahrheitsfindung ein Synonym für
den Schlussstrich ist: mit der Aufdeckung der Wahrheit, so dieser ebenfalls
mythische Glaube, käme die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit an ihr Ende
und würden die Täter strafrechtlich verschont.“ (Oettler, 2004, S. 121)

- 41 -
In diesem kurzen Absatz macht Oettler deutlich, welche Vielzahl an Erwartungen,
Hoffnungen und Mythen mit der Wahrheit verbunden sind. Gerade deswegen muss
hinterfragt werden, welche Wahrheit eine Kommission im Stande ist ans Tageslicht zu
befördern und was die Wahrheit für die Gesellschaft und das Individuum bedeuten
kann. Nach der Frage: „Was ist Wahrheit?“ sollen noch das Testimonio und die
Exhumierungen als zwei Wahrheitsfindungsinstrumente und ihre möglichen
Auswirkungen für die Opfer vorgestellt werden.

3.3.1 Was ist „die Wahrheit“?


Einer Wahrheitskommission geht ein Mandat, ein Auftrag voraus. Dieser Auftrag kann,
wie z. B. in Argentinien, Uruguay oder Sri Lanka, lauten, sich mit dem Schicksal
Verschwundener auseinanderzusetzen; oder – wie bereits erwähnt im Zusammenhang
mit den chilenischen Kommissionen – aufzuklären, was mit den Verschwundenen nach
der Verhaftung, den außergerichtlich Exekutierten und den Gefolterten geschehen ist
(vgl. Hayner, 2002, Lira, 2004).
Neben dieser äußeren Vorgabe ist es aber vor allem auch die eigene Interpretation
der Wahrheit durch die Kommissionäre selbst: Sie legen aus, was beispielsweise unter
„serious acts of violence […] whose impact on society urgently demands that the public
should know the truth.“16 fällt. Oft obliegt es auch ihnen zu entscheiden, ob es
öffentliche Anhörungen geben soll, ob Namen im Abschlussbericht genannt werden und
welche Fälle als Beispiele in den Bericht aufgenommen werden sollen (Hayner, 2002).
Wichtigste Grundlage der Wahrheit sind aber die Aussagen von Opfern und
Überlebenden. Ihre Erinnerungen sind das Kernstück jeder Wahrheitskommission; auf
Grund dieser Erinnerungen soll eine historische und möglichst gesicherte Wahrheit,
eine offizielle Version der Wahrheit, entstehen. Es soll ersichtlich werden, wie es den
Opfern ergangen ist und welche Ereignisse in ihrer Verkettung zur Gewalt geführt
haben (Lefranc, 2004).
Ein weiteres Problem der Wahrheit ist, dass es „die Wahrheit“ nicht gibt, sondern
viele verschiedene Wahrheiten: Die Menschen sprechen aus unterschiedlichen
Perspektiven von unterschiedlichen Erfahrungen – die eigene Wahrheit ist nicht
objektiv, sondern subjektiv (Becker, 2006). Die Wahrheit ist nicht unparteiisch, sie kann
verdeckt sein von Traumata, wird vielleicht von der Gesellschaft zensuriert, oder es ist

16
Auftrag der salvatorianischen Kommission, zitiert nach Hayner, 2002

- 42 -
überhaupt unmöglich sie auszusprechen (Humphrey, 2002). Trotzdem ist „die
gemeinsame Rekonstruktion von Wahrheit ein Schlüsselthema in jeder Gesellschaft, die
versucht, eine traumatische Vergangenheit zu überwinden“ (Becker, 2006, S. 140).
Die Wahrheit kann aber immer nur einen ersten, kleinen Schritt darstellen. Für sich
alleine genommen, ohne Einbettung in einen sozialen, gesellschaftlichen und
politischen Kontext, ist die Wahrheit nichts weiter als “a worthless re-experience of
pain“ (Cabrera, 1998) für die Opfer.

3.3.2 Testimonio
Unter Testimonio vor einer Wahrheitskommission versteht man die Erzählung eines
Überlebenden, eines Opfers. Die Testimonios beinhalten die persönlichen Erfahrungen
von politischer Repression, Folter, Miterleben von Massakern und Verlust von
Familienangehörigen. Die diversen Wahrheitskommissionen hören und sammeln in
ihrer Arbeitsperiode oft mehrere tausend Testimonios. Meist werden die Opfer
öffentlich dazu aufgerufen, sich vor der Kommission zu präsentieren, und Mitglieder
der Kommission reisen in die verschiedenen Regionen, so dass die Menschen ihr
Testimonio vor Ort geben können. Die Testimonios werden aufgezeichnet und
archiviert. Einige Kommissionen halten auch öffentliche Anhörungen ab, wobei
typische Fälle ausgewählt werden, die ein möglichst vollständiges Bild des
Geschehenen aus der Sicht der Opfer ergeben sollen. Die öffentlichen Anhörungen
werden meist vom Fernsehen übertragen und so einem breiten Publikum zugänglich
gemacht.
Das Geben des Testimonios ist ein höchst sensibler Prozess. Die Opfer, die vor die
Kommission treten, haben meist traumatische Erfahrungen gemacht und waren oft lange
Zeit über bedroht. Was das Testimonio möglicherweise an positiven bzw. negativen
Aspekten für sie bedeuten kann, soll im Folgenden hinterfragt werden.

Mögliche positive Aspekte von Testimonios


Nach den Erfahrungen mit der TRC wurden vermehrt Stimmen laut, dass die
Wahrheitskommissionen speziell durch die Testimonios große psychologische Vorteile
mit sich bringen würden. Das Testimonio sei für die Opfer befreiend und bestärkend,
ein Schritt in Richtung individueller und sozialer Heilung (Humphrey, 2002). Der
Prozess erleichtere eine Katharsis, er erlaube es der Nation, die Vergangenheit

- 43 -
durchzuarbeiten. Aber das Paradigma des „Revealing is Healing“ wird heute zum Glück
längst differenzierter betrachtet:
„Telling one‟s story can be very emotional, especially for those who have never told
their story before. But psychologists question the idea of a one-time catharsis
resulting in real psychological healing. In clinical counselling settings, in fact, most
therapists would avoid pushing someone to address the worst of their pain too
quickly, especially if it is rooted in events of extreme trauma.” (Hayner, 2002, S.
139)

Auch eine Studie mit 134 Überlebenden in Südafrika, die Testimonio vor der TRC
gegeben hatten, ergab keinen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Testimonio
und dem psychiatrischen Status der Probanden. Die Untersuchung fand zwei bis drei
Jahre, nachdem die Personen Testimonio gegeben hatten, statt (Kaminer, Stein, Mbanga
& Zungu-Dirwyi, 2001).
Was aber kann das Testimonio, eingebettet in den Wahrheitsprozess, tatsächlich für
die Opfer bewirken?
Für viele Überlebende ist es wichtig, über das, was ihnen geschehen ist, zu sprechen.
Sie haben das Bedürfnis, das Unfassbare mitzuteilen. So berichtet Priscilla Hayner, dass
Menschen in Südafrika, Haiti oder Guatemala Schlange standen und zum Teil weite
Reisen auf sich nahmen, um der Kommission ihr Testimonio zu geben (Hayner, 2002).
Das Testimonio kann von den Opfern in dem Sinne befreiend erlebt werden, als dass
endlich darüber gesprochen werden darf, was viele Jahre verschwiegen werden musste,
und es zu einer gewissen – kurzfristigen – Erleichterung kommt (ebd.).
Das Testimonio kann für die Opfer ein positives Ereignis sein, wenn sie erleben
können, dass ihnen zugehört wird, dass sie respektiert werden.
„Die Erfahrung, vor Repräsentanten des Staates Zeugnis abzulegen – die erstmals
die Angehörigen der Opfer, weil sie ihre Geschichte erzählten, weder
disqualifizierten, noch demütigten, sondern im Gegenteil ihnen zuhörten, sich
ergriffen zeigten und dem Leid Respekt erwiesen – war für sich, wie die
Familienangehörigen erklärten, ein Schritt zur Gesundung.” (Lira zitiert nach
Kühner, 2002, S. 104)

Als möglichen Vorteil des Testimonios gegenüber einer Zeugenaussage in einem


Gerichtsprozess sieht Angela Kühner (2002) die Tatsache, dass das Opfer seine
Geschichte so erzählen kann, wie er/sie sie erlebte. Als möglicherweise heilsam
beschreibt auch sie die Erfahrung, dass dem Opfer geglaubt wird, und es offizielle
Anerkennung erfährt. Unterstützend kann es sein, dass das Opfer nicht mehr mit seiner
Geschichte alleine ist, sondern sie in einen größeren Kontext einordnen kann (ebd.).

- 44 -
Eine besondere Stellung nimmt sicher auch das Testimonio im Rahmen eines
öffentlichen Hearings ein. Die öffentlichen Hearings können laut Kühner (2002) dazu
beitragen, dass die Opfer stärker in die Gemeinschaft integriert werden. Gleichzeitig
kann es dadurch aber zu einer ungewollten Wertung kommen: Die Opfer, die nicht die
Gelegenheit haben, öffentlich Testimonio zu geben, können das Gefühl haben, ihre
Geschichte sei weniger bedeutsam. Dieser Aspekt wurde von den Kommissionären in
Südafrika mehrmals angesprochen (Humphrey, 2002). Aus dem Modell der öffentlichen
Hearings entstand in Afrika das Projekt „Healing of Memory“ (HOM), das in
Wochenendworkshops allen Südafrikanern die Möglichkeit geben möchte, vor anderen
in Gruppen die eigene Geschichte zu erzählen. Das soll den Heilungsprozess
unterstützen, die Erfahrung ermöglichen, dass weiße und schwarze Südafrikaner sich
gegenseitig respektvoll zuhören und Raum geben, in dem man Konzepte wie
„Vergebung“, „Erinnern“ und „Vergessen“ kritisch diskutieren kann (Kayser, 2000).
Kayser, die selbst HOM-Prozesse begleitet hat, beschreibt aber auch die Grenzen der
Methode:
„The Healing of Memories facilitators point out that the workshop process is meant
to give the opportunity for a once-off experience of storytelling and in this sense is
catharsis-oriented. It does not have the infrastructure for a follow-up process that
assists participants with problem-solving and long-term intervention. In cases where
participants experience severe and continuous difficulties of a psychological or
economic nature the HOM process can only help with referrals.“ (S. 14)

Die chilenischen Psychologinnen Lira und Weinstein begannen in den 70er Jahre
Testimonio als therapeutische Intervention einzusetzen. Dabei wurde in einer Art
Kurzzeittherapie in mehreren Sitzungen die gesamte Lebensgeschichte erzählt, in
welche die Erfahrungen mit der politischen Gewalt eingebettet wurden. Die Erzählung
wurde auf Kassetten aufgenommen. Zum einen wurde damit ein Dokument über die
Menschenrechtsverletzungen geschaffen, zum anderen dem Opfer ermöglicht, die
traumatischen Erfahrungen in die Lebensgeschichte als Ganzes zu integrieren (Weine,
2006). Aus dem Ansatz von Lira und Weinstein entwickelte sich die Testimony-
Therapie, die von den dänischen PsychologInnen Agger und Jensen fortgeführt wurde.
Laut Agger und Jensen kann durch das Testimonio eine sinnvolle Verbindung zwischen
der Traumageschichte der Opfer und anderen Teilen ihrer Lebensgeschichte hergestellt
werden. Weine (2006) stellte in einer Studie über die Testimony-Therapie mit
bosnischen Flüchtlingen fest, dass durch das Testimony die Symptome von

- 45 -
posttraumatischem Stress reduziert werden konnten. Aber er weist auch darauf hin, dass
Testimony nicht für alle Menschen und unter allen Umständen nützlich ist.

Mögliche negative Aspekte von Testimonio


„I can´t say if the truth commission is good or bad, but for me personally it´s made
things much worse. My life has deteriorated since the hearing. It´s made me think
about these things again. The day that we went to the commission, I started thinking
about all of this again, and now all I can think about is the day of the massacre and
what happened.“ (Frau nach ihrem Testimonio vor der TRC, zitiert nach Hayner,
2002, S. 143)

Priscilla Hayner (2002) kommt nach Gesprächen mit Opfern und mit dem Psychologen
Brandon Hamber und der Psychiaterin Judith Herman zu dem Schluss, dass „victims
and witnesses can in effect be retraumatized by giving testimony to a commission“ (S.
141).
Die Opfer, die vor der Kommission Testimonio geben, müssen oft sehr genau und
detailreich schildern, was ihnen geschehen ist. Dieses Erinnern birgt die Gefahr, dass es
für das Opfer zu einem Wiedererleben mit ernsthaften psychischen Folgen wird. Eine
weitere Gefahr des Testimonio ist eine Reviktimisierung der Opfer:
„Victims often feel re-victimised by the process, such as those who are not heard but
only counted, or those whose abject humiliation is repeated in public. […] However,
the ritual structure of testimony and witnessing constructs the victim, but leaves
them in an ambiguous position. The victim is the vehicle to expel violence by
publicly revealing it but, despite the inclusive rhetoric of healing, only particular
kinds of suffering are recognised.“ (Humphrey, 2002, S. 123)

Die Opfer können sich durch die Kommission oder die Reaktionen der Gesellschaft
erneut ausgeschlossen oder marginalisiert fühlen. Wie Humphrey weiter ausführt, haben
auch die Zuhörer, das Publikum bei öffentlichen Hearings, nur eine limitierte Kapazität,
sich die furchtbaren Geschichten anzuhören. Sich die Wahrheit der Opfer anzuhören ist
schwierig und löst Widerstand aus (Becker, 2006). Außerdem entstammen die
Erzählungen vieler Opfer traumatischen Prozessen; das kann dazu führen, dass die
Erzählung fragmentiert, widersprüchlich, nicht kohärent ist und dem Opfer deswegen
von den Zuhörern die Glaubwürdigkeit abgesprochen wird (vgl. Becker, 2006; Hayner,
2002). Wenn breite Teile der Gesellschaft die Wahrheit der Opfer ablehnen, so werden
die Opfer erneut an den Rand der Gesellschaft gedrängt, und der soziale Ausschluss der
Opfer wiederholt sich.

- 46 -
Hayner (2002) spricht das Problem einer möglichen sekundären Traumatisierung von
Zuhörern oder Mitarbeitern einer Wahrheitskommission an. Sie weist darauf hin, dass
unbedingt auch psychologisches Fachpersonal hinzugezogen werden soll, um die
Mitarbeiter der Kommission im traumasensiblen Umgang zu schulen.

3.3.3 Exhumierungen
In vielen Wahrheitskommissionen waren und sind Exhumierungen ein Bestandteil des
Wahrheitsfindungsprozesses. Mit dem Auffinden der Körper von „Verschwundenen“,
Hingerichteten und Opfern von Massakern können wichtige Beweise erbracht, ein Stück
Wahrheit und Geschichte rekonstruiert werden.
Franc Kernjak (2006) beschreibt drei Phasen einer Exhumierung:
 Die erste Phase besteht aus Vorarbeiten. Mittels Zeugeninterviews wird
recherchiert, wo sich Gräber befinden, die Todesumstände und verschiedene
Merkmale der Person oder der Personen, die in dem Grab vermutet werden.
 Die zweite Phase ist die Phase der Grabungen, der eigentlichen Exhumierung.
Die menschlichen Überreste, Kleidung und Objekte werden mit
archäologischen Methoden und Techniken freigelegt und Spuren werden
sichergestellt.
 In der dritten Phase werden die Funde im Labor analysiert und durch den
Vergleich der Postmortem- und Prämortemdaten, wenn möglich, die Toten
identifiziert.

Nach Abschluss der Exhumierung werden die Toten, sofern möglich, ihren
Angehörigen übergeben und angemessen bestattet.
Die Exhumierungen haben Auswirkungen auf verschiedenen Ebenen. Auf der
juristischen Ebene kann das gewonnene Beweismaterial zur Verurteilung von Tätern
beitragen, aber auch auf administrativer Ebene z. B. zur Ausstellung des Totenscheins
führen. Der Totenschein kann für die Angehörigen beispielsweise in Erbschaftsfragen
von großer Bedeutung sein. Auf der gesellschaftlich-historischen Ebene können
Exhumierungen zur Rekonstruktion der Geschichte und zur kollektiven Aufarbeitung
der Vergangenheit beitragen. Auf der individuellen Ebene können Angehörige
Gewissheit erlangen, was mit ihren Liebsten geschah, und eine würdige Bestattung kann
stattfinden (Kernjak, 2006). Diese Ebene ist aus psychologischer Sicht sehr bedeutsam

- 47 -
und Susana Navarro (2000) weist darauf hin, dass im Falle von Exhumierungen eine
psychosoziale Begleitung sehr wichtig ist. Das Schweigen wird aufgebrochen und oft
wird es den Familienangehörigen erst durch die Exhumierung und die Bestattung nach
den eigenen kulturellen Riten möglich, die Trauerarbeit aufzunehmen, die viele Jahre
blockiert war. Laut Navarro kann der Exhumierungsprozess so zu einem
therapeutischen Raum werden „der es erlaubt, dass sich die betroffene Gruppe selbst
den Platz für die Kollektivierung der Verletzungen wie des Vertrauens, der Solidarität,
der gegenseitigen Hilfe schafft“ (S. 40). Im Idealfall kann die Gemeinde als Ganzes
gestärkt werden.
Beide hier angeführten Autoren waren/sind mit der psychologischen Begleitung von
Exhumierungsprozessen in Guatemala betraut. Dank der expliziten Empfehlung der
Wahrheitskommission in Guatemala, die in ihrem Abschlussbericht die Wichtigkeit der
Exhumierungen für die Angehörigen und den Versöhnungsprozess unterstrichen hat,
werden immer noch weitere Exhumierungen realisiert (Kernjak, 2006).

3.4. Versöhnung
Manchmal implementiert bereits der Namen „Wahrheits- und Versöhnungs-
kommission“ diesen zweiten, noch schwerer fassbaren Auftrag an die Kommission. Um
den Begriff der Versöhnung gibt es immer wieder Verwirrung; es gibt psychologische,
soziologische, theologische und philosophische Zugänge. Der Begriff kann auch stark
an den der „Forgiveness“, also „Vergebung“, geknüpft sein (Bloomfeld, 2006). Im
Idealfall soll Versöhnung das Wiederaufkeimen von Gewalt auf Grund der
Vergangenheit für immer verhindern; der Friede soll konsolidiert, der Kreislauf der
Gewalt unterbrochen werden, und die neu installierten oder wieder eingeführten
demokratischen Institutionen gestärkt werden. Den Überlebenden soll sie Heilung
bringen und das vergangene Unrecht reparieren. Für die Zukunft soll sie es Opfern und
Tätern ermöglichen, ihr Leben weiter zu führen und der politische Dialog soll sich auf
ihrer Basis etablieren (Huyse, 2003). In der Praxis sieht Versöhnung natürlich ganz
anders aus. Versöhnung wird missverstanden mit einer „Vergeben und Vergessen“-
Politik. Die Wahrheit wird ausgepackt, abgeschlossen und die Gesellschaft soll jetzt
nach vorne schauen. Vor allem Täter, aber auch die Regierung haben häufig ein
Interesse daran, die Vergangenheit möglichst schnell hinter sich zu lassen. Die Opfer,
die im Zentrum der Wahrheitskommission, des Wahrheitsfindungsprozesses stehen,

- 48 -
verschwinden langsam daraus. Becker (2006) schreibt, dass die Opfer früher oder später
sogar als den Friedensprozess störend wahrgenommen werden. Die, die das größte
Elend durchlitten haben, die am meisten Verluste zu beklagen haben, sind auch die, die
den größten Aufwand betreiben sollen, um sich zu versöhnen. Wenn sie vergeben, kann
die Vergangenheit ruhen. Die Opfer werden aufgefordert, die Anerkennung ihres Leides
gegen ihr Recht auf Gerechtigkeit einzutauschen (Humphrey, 2002).
Eine Wahrheitskommission kann, auch wenn ihr das gerne zugeschrieben wird, keine
Versöhnung bewirken; sie kann höchstens einen ersten Schritt in diese Richtung
bedeuten.
Luc Huyse (2005) hat fünf grundlegende Beobachtungen zum Thema Versöhnung
festgehalten:

Versöhnung ist ein langfristiger Prozess


Das Wort Versöhnung bezeichnet sowohl einen Zustand, ein Ziel, als auch einen
Prozess. Dieser Prozess ist schwierig, langwierig und zieht sich über verschiedene, nicht
chronologische oder logische Etappen hin – der Versöhnungsprozess ist kein linearer
Prozess. Der erste Schritt bewegt sich vom Hass und Feindseligkeit weg und ermöglicht
eine nicht-gewaltsame Koexistenz. Dieser Schritt kann beispielsweise auf der
pragmatischen Erkenntnis beruhen, dass weiteres Morden die Toten nicht lebendig
machen wird. Wenn es im Laufe der Zeit zu einem gewissen Gefühl der Sicherheit
kommt, das es erlaubt, Vertrauen aufzubauen, kann das zu Mitgefühl und vielleicht zur
Vergebung führen; das heißt nicht, das Gefühle wie Wut, Zorn und Trauer
verschwinden müssen. Versucht man diesen Prozess zu beschleunigen oder Versöhnung
und Vergebung zu erzwingen, so ist das allenfalls kontraproduktiv oder sogar
zerstörerisch.

Versöhnung ist breit und umfassend


Versöhnung involviert sowohl Individuen als auch Gemeinschaften; sie umfasst die
Opfer, die Täter und die Zivilbevölkerung. Wenn es zwischen diesen Gruppen und den
Individuen zu Versöhnung kommt, dann handelt es sich um Versöhnung auf der
interpersonellen Ebene. Diese Versöhnung kann nur stattfinden, wenn es sowohl von
unten nach oben (bottom-up), als auch von oben nach unten (top-down) Initiativen gibt.
Keine politische oder religiöse Institution kann im Namen der Opfer vergeben. Nur
wenn auch die Täter einbezogen werden, kann sie gelingen. Die Versöhnung kann nur

- 49 -
dann haltbar sein, wenn sie auch mit strukturellen, politischen und legalen Änderungen
einhergeht, die politische, soziale und ökonomische Gerechtigkeit fördern.

Überdauernde Versöhnung ist „home-grown“


Versöhnung muss den jeweiligen Kontext berücksichtigen. Die Zivilgesellschaft und
die Politik müssen die eigenen politischen und kulturellen Ressourcen heranziehen, um
überdauernde Versöhnung erreichen zu können.

Es gibt keinen „einzigen“ Weg zur Versöhnung


Eine Wahrheitskommission alleine macht noch keine Versöhnung. Reparation,
Gerechtigkeit und strafrechtliche Verfolgung sind weitere Instrumente. Ein einzelnes
Instrument wird das Problem nicht lösen.

Versöhnung ist nur eine der Herausforderungen, die eine Gesellschaft nach Krieg,
Gewalt, Diktatur und Repression bewältigen muss. Der Friede muss stabilisiert, die
politischen Institutionen wieder aufgebaut werden, Sicherheit soll hergestellt werden,
Menschenrechtsverletzungen müssen verhindert werden etc. Oft gibt es vordringlichere
Themen als die Versöhnung – wo sie aber gänzlich ignoriert wurde, blieb das nicht ohne
Konsequenzen und „it has come back to haunt the society“ (Huyse, S. 11).

Um noch einmal auf den Beitrag zur Versöhnung zurück zu kommen, den eine
Wahrheitskommission vielleicht am ehesten zu leisten im Stande ist, soll ein Blick auf
den „pragmatischen“ Ansatz Bloomfelds (2006) geworfen werden: Er argumentiert,
dass die Versöhnung auf der interpersonellen Ebene bestenfalls ein nicht erzwungenes
Geschenk von Seiten des Opfers sein kann. Das „timing“ bestimmt das Opfer und sein
persönlicher Prozess. Die Versöhnung, für welche nun die Wahrheitskommission den
Grundstein legen kann und die in der Verantwortung der Regierung und ihrer
Institutionen liegt, ist die politische Versöhnung.
„This does not require forgiveness or mutual love. It begins as grudging coexistence
and, by gradually nurturing basic respect both for new institutions and for former
enemies, aims to develop the habits of operating the shared processes and
institutions of society and of politics. “ (Bloomfeld, 2006, S. 29)

Bloomfeld spricht sich für realistische und pragmatische Dimensionen von Versöhnung
aus. Dieser Prozess bedeutet, an politischen und sozialen Beziehungen innerhalb der

- 50 -
Gesellschaft zu arbeiten. Die Versöhnung auf gesellschaftlicher Ebene setzt voraus,
dass die Gesellschaft erstens das Leid der Opfer anerkennt und zweitens in irgendeiner
Form handelt und versucht den Schaden, wieder gut zu machen (Herman, 1992). Kann
die Politik mit ihren Institutionen ein Stück weit Vertrauen und Sicherheit herstellen
und anerkennt die Gesellschaft das Leid der Opfer und bemüht sich um deren
Integration, dann ist ein großer Schritt in Richtung Versöhnung geschehen.

3.4.1 Vergebung
Besonders stark ausgeprägt war der Versöhnungs- und Vergebungsdiskurs in Südafrika,
wo mit dem Bischof Desmond Tutu ein Geistlicher Vorsitzender der Kommission war.
Tutu berichtet in seinem Buch „Keine Zukunft ohne Versöhnung“ von seinen
Erfahrungen mit der TRC. Ohne Versöhnung sieht er keine Zukunft für Südafrika, und
ohne Vergebung keine Versöhnung; im Vergeben, so Tutu, liegt für die Opfer die
Möglichkeit, sich zu befreien. So wendet sich Tutu bei einer öffentlichen
Täteranhörung, in welcher der Täter um Vergebung bittet, an die Anwesenden: „Es ist
nicht leicht, wie wir alle wissen, um Vergebung zu bitten, und genauso schwierig ist es,
zu vergeben, aber wir sind alle Menschen, die wissen, dass es ohne Versöhnung keine
Zukunft gibt“ (1999, S. 127). Vergebung beschreibt Tutu, als etwas, das es anzustreben
gilt: „[…] Gott der Allmächtige verlässt sich auf uns, schwächlich, zerbrechlich und
verletzlich wie wir sein mögen, seine guten Absichten zur Gerechtigkeit, zur
Vergebung, zur Heilung und zur Ganzheit zu erfüllen.“ (ebd., S. 134). Unter Vergeben
versteht Tutu das Recht auf Vergeltung, das „Auge um Auge“-Prinzip, aufzugeben.
Eine Studie von Kaminer et al.(2001) zeigte, dass Personen mit einem hohen
„Forgivness-Score“, weniger häufig unter PTDS und Depressionen litten. Summerfield
(2002) sieht dieses Ergebnis kritisch:
„Such studies seek to give scientific weight to the notion that the mental health of
victims is at risk if they do not forgive those who hurt them. The moral economy
that operated during the hearings [in South Africa] is indicated by the fact that
commissioners were not uncomfortable if testifiers wept while giving evidence but
that they did not like them to become angry.“ (S. 1105)

Die chilenische Psychologien Elisabeth Lira17 stimmt insofern mit Tutu überein, als
dass ein Opfer, das vergeben kann, frei wird. Aber sie insistiert: „Vergebung ist ein sehr

17
Zitat von Elisabeth Lira im Rahmen ihres Vortrags am 23. 8. 2006 in Lima zum Thema „Subjektive
Bedingungen für die Versöhnung“

- 51 -
persönlicher Prozess und eine Person ist fähig zu vergeben, wenn sie sich von dem
Schmerz, den sie erlitten hat, frei machen kann. Aber niemand kann von jemand
anderem verlangen, er soll vergeben.“ (Übers. d. Verf.). Das Drängen oder die
Aufforderung an ein Opfer, zu vergeben, bezeichnet sie sogar als einen Akt der Gewalt
am Opfer.
Überlebende dürfen unversöhnlich sein. Ein Opfer hat das Recht, sowie die
Holocaustüberlebende Ruth Klüger, zu sagen: „Verzeihen ist zum Kotzen“ (Klüger,
1992, S. 279). Wut, Zorn und Rachegefühle sind ebenso legitime Gefühle wie Trauer
und Schmerz und müssen den Opfern zugestanden werden.

3.5 Reparation
Das Thema Reparationen wurde unter Punkt 3.2.3 bereits angesprochen. Als
Empfehlung im Abschlussbericht von Kommissionen obliegt es der jeweiligen
Regierung, diese Reparationen umzusetzen. Reparationen können die Anerkennung für
das Leid der Opfer auf der materiellen Ebene bedeuten, sie können dem Opfer Würde
zurückgeben, den ökonomischen Schaden ausgleichen und das öffentliche Bewusstsein
für die moralische Verantwortung der Zivilgesellschaft erhöhen (Hamber, 2000).
Symbolische Reparation kann, wenn die Symbole kulturell relevant sind, helfen,
traumatische Erlebnisse zu konkretisieren, das Individuum zu unterstützen, mit seiner
Geschichte fertig zu werden, Trauerprozesse fördern und helfen, Verantwortlichkeiten
zuzuordnen (Hamber, 2000).
Reparationen können als Brücke zwischen der Vergangenheit und der Zukunft
dienen: Mit dem Blick auf die Vergangenheit können sie, dem Opfer eine
Entschädigung zukommen lassen, mit dem Blick auf die Zukunft ein Stück Vertrauen in
die neue Regierung geben. Außerdem kann sich der Staat so mit seiner eigenen
Vergangenheit versöhnen (Vandeginste, 2003). Vandeginste (2003) argumentiert, dass
eine Wahrheitskommission alleine durch ihre Arbeit – Raum für die Opfer geben,
öffentliche Anerkennung, Wahrheit über das Verbleiben von Angehörigen, etc. – bereits
eine gewisse Reparation leisten kann.
Obwohl von den Wahrheitskommissionen empfohlen, werden die Reparationen
großteils nicht umgesetzt. Wenn sich eine Regierung doch entschließt, den
Empfehlungen nachzukommen, entstehen weitere Probleme:

- 52 -
Zuerst einmal muss festgestellt werden, wer Opferstatus erhält. Dabei geht es darum,
möglichst alle Opfer einzuschließen, was aber schwierig zu erreichen ist. Hamber
(2000) spricht auch das Problem an, dass Angehörige Reparationszahlungen als eine Art
Schweigegeld sehen. So weigern sich die Mütter von der Plaza Mayo in Argentinien
hartnäckig, Reparationszahlungen anzunehmen18. Sie wollen nicht vergeben und nicht
schweigen – sie fordern immer noch die volle Wahrheit und Justiz. In Südafrika hatten
einige Opfer das Gefühl, sie würden durch die Reparationszahlungen zum Versöhnen
und Vergessen gezwungen.
„Clearly in this cases, and when some survivors or families of victims talk of
reparations as a form of „blood money‟ this is because the national process of
„moving forward and making amends‟ is not coinciding with the individual process.
This is particularly the case when survivors feel that reparations are being used to
buy their silence in the absence of the truth.“ (Hamber, 2000, S. 220)

Trotz dieser Schwierigkeiten können Reparationen einen wertvollen Beitrag zur


nationalen Versöhnung leisten und den Opfern zumindest auf der materiellen Ebene
helfen, ihren Lebensstatus zu erhöhen.

3.6 Heilung
Wie in den vorangegangenen Kapiteln dargestellt, führt eine Wahrheitskommission
weder automatisch zur Versöhnung noch zur Heilung. Denn Heilung ist, wie Hamber
(2003) schreibt, ein höchst komplexer und individueller Prozess – den eine
Wahrheitskommission im besten Fall beginnen kann. Hamber bezieht sich auf die
Definition der WHO, die Gesundheit nicht als bloße Abwesenheit von Krankheit
beschreibt, sondern als physisches, emotionales und soziales Wohlbefinden. Heilung im
Kontext von Wahrheitskommissionen bedeutet meist Heilung von vorangegangenen,
traumatischen Erfahrungen; auf individueller und gesellschaftlicher Ebene. Allerdings
resultieren nicht für jeden Menschen traumatische Symptome aus einer traumatischen
Erfahrung (Becker, 2001, vgl. 2.). Becker (2006) weist darauf hin, dass Trauma stets
auch im gesellschaftlichen Kontext gesehen werden muss. Deswegen muss Behandlung
und Unterstützung auch auf der psychosozialen Ebene und kontextbezogen stattfinden.
Wahrheit, Anerkennung und Gerechtigkeit können nicht vom Heilungsprozess
getrennt werden; keine psychosoziale Intervention kann diese drei Faktoren ersetzen
18
1986 kam es zu einer Spaltung in der Organisation. Die daraus entstandene zweite Gruppe nennt sich
„Madres de Plaza de Mayo – Linea Fundadora“. Diese Gruppierung akzeptiert die Annahme von
Reparationszahlungen.

- 53 -
(Hamber, 2003). Testimonio zu geben kann soziale Barrieren niederreißen und das
Schweigen brechen; für einige Menschen ist das der Endpunkt des persönlichen
Heilungsprozesses, für andere ist es nur ein erster Schritt. Verallgemeinern lässt sich,
dass weitere individuelle, soziale und gemeinschaftliche Interventionen nötig sind
(Hamber, 2003). Die Wahrheit über das Verbleiben einer verschwundenen Person und
das Finden der sterblichen Überreste durch Exhumierungen erlauben oft erstmals, die
Realität eines Verlustes anzuerkennen. Das ist schmerzhaft, bietet aber die Chance des
notwendigen Trauerprozesses (Becker, 2006; vgl. dazu 2.2.4).
Als hilfreich hat es sich für viele Menschen erwiesen, sich in Selbsthilfegruppen,
Verbänden von Angehörigen etc. zusammenzuschließen. Innerhalb dieser Gruppen
kann gegenseitiger Halt und Unterstützung gefunden werden und es erleichtert, die
Stimme zu erheben und Forderungen zu stellen (Hayner, 2002; vgl. dazu 2.3.1).
Den einen, richtigen Weg zu Heilung gibt es nicht. Das Sprechen vor der
Wahrheitskommission, öffentliche Anerkennung des Leides der Opfer, symbolische und
materielle Reparationen, Exhumierungen und gegenseitige Unterstützung sind zwar
nicht per se heilsam, können aber den individuellen Heilungsprozess fördern.
„Für die Gesellschaft bedeutet Heilung die Rekonstruktion der Erinnerung, d. h.
dass es möglich ist, die Vergangenheit wirklich Vergangenheit werden zu lassen.
Heilung beinhaltet das Wiederherstellen von Gesetzen, Moral und Sicherheit. Sie ist
letztendlich essentiell verknüpft mit der Wahrheit, mit der Möglichkeit,
verschiedene Wahrheiten darzustellen, die sich innerhalb eines offiziellen, sozialen
Rahmens gegenüberstehen. Heilung heißt immer auch Integration.“ (Becker, 2006,
S. 123)

Eine Wahrheitskommission und ihre Möglichkeiten, zu Versöhnung, Heilung und


Integration beizutragen, sind abhängig vom Kontext, in welchem die Kommission
arbeitet. Eine breite öffentliche Unterstützung, Identifikation der Zivilgesellschaft mit
den Opfern, eine unabhängige Presse sowie internationale Aufmerksamkeit erhöhen die
Chancen einer Kommission, der Gesamtgesellschaft dienlich zu sein (Freeman &
Hayner, 2003). Für die Umsetzung der Empfehlungen und weiterführende Maßnahmen
ist der politische Wille entscheidend, der auch mit den soeben genannten Faktoren
zusammenhängt (ebd.). Der Erwartungsdruck, dem Wahrheitskommissionen ausgesetzt
sind, ist sehr hoch und kann in dieser Form auch nicht erfüllt werden. Eine
Wahrheitskommission sollte nicht als Abschluss gesehen werden, sondern als Anfang,
als offener Prozess, als ein erster Schritt in eine bessere Zukunft, dem andere Schritte
folgen müssen.

- 54 -
4. Comisión de la Verdad y Reconciliación (CVR)

Nach der Flucht Alberto Fujimoris im November 2000 wurde Valentín Paniagua
(Acción Popular) zum Übergangspräsidenten bestimmt. Er stand vor der Aufgabe, die
von Fujimori ausgehöhlten demokratischen Institutionen wieder funktionsfähig zu
machen, der Korruption Einhalt zu gebieten, das kriminelle Netzwerk Fujimoris und
Montesinos‟ aufzulösen und den Bruch mit den menschenrechtsverletzenden Praktiken
zu vollziehen (Oettler, 2003). Mit dem Decreto Supremo N° 065-2001-PCM am 4. Juni
2001 wurde eine Wahrheitskommission einberufen; mit diesem Schritt demonstrierte
Paniagua zum einen den Willen zu einer neuen politischen Kultur in Peru, zum anderen
kam er den langjährigen Forderungen von Menschenrechts- und Opferorganisationen
nach (Huhle, 2004). Die Wahrheitskommission sollte den Zeitraum von 1980, dem
Beginn der bewaffneten Aktionen durch Sendero Luminoso, bis 2000, der Flucht
Fujimoris, untersuchen.
Der im April 2001 zum Präsident gewählte Alejandro Toledo trat im Juli desselben
Jahres sein Amt an und modifizierte im August 2001 durch ein weiteres Dekret (N°
101-2001-PCM) das vergangenheitspolitische Instrument: Er benannte die
Wahrheitskommission (Comisión de la Verdad) in „Kommission für Wahrheit und
Versöhnung“ (Comisión de la Verdad y Reconciliación, kurz: CVR) um, und beschloss
die Erweiterung von sieben auf zwölf Kommissionäre. Der Arbeitszeitraum der
Kommission wurde auf 18 Monate festgelegt und sollte um fünf Monate verlängerbar
sein.
Im Folgenden soll ein Überblick über die Konzeption und Arbeitsweise der
Kommission, ihre Ergebnisse und ihre Empfehlungen gegeben werden; die Reaktionen
der Bevölkerung und der Politik sollen kritisch hinterfragt und der aktuelle Stand der
Entwicklungen aufgezeigt werden.

4.1 Konzeption, Mandat und Arbeitsweise


Obwohl es in Peru im Jahr 2000 keine breite Front gab, die sich für Wahrheit und
Gerechtigkeit einsetzte (diese Forderung kam eher von speziellen Sektoren, wie z. B.
den Opferverbänden und Menschenrechtsorganisationen), so gab es doch ein Verlangen
und auch internationalen Druck nach Transparenz und Aufhebung der Straffreiheit. Die

- 55 -
Transition in Peru wurde nicht durch Verhandlungen herbeigeführt, sondern durch den
Zusammenbruch des totalitären Regimes und der Flucht seiner Funktionäre. Die
gesellschaftlichen und politischen Umstände begünstigten daher die Einsetzung einer
Wahrheitskommission mit einem sehr umfassenden Mandat (Degregori, 2004).
Gegenstand der Untersuchungen sollten Mord, Entführung, Verschwindenlassen, Folter,
Verletzungen der kollektiven Rechte indigener Dorfgemeinschaften und andere
Verbrechen und Verletzungen der Menschenrechte sein (Reisner, 2005). Im zweiten
und dritten Artikel des Decreto Supremo wurden die Ziele der Kommission definiert:
 Die Analyse der politischen, sozialen und kulturellen Umstände, die zur
Gewalt geführt haben.
 Die Kommission sollte einen Beitrag zur gerichtlichen Aufarbeitung der
Menschenrechtsverletzungen durch den Staat, aber auch die terroristischen
Gruppen leisten und wo möglich Verantwortliche benennen. Ausdrücklich
wurde aber auch darauf hingewiesen, dass die Kommission mit keinerlei
justiziellen Befugnissen ausgestattet sei.
 Erarbeitung eines Reparationsprogramms, welches sowohl materielle als auch
symbolische Komponenten beinhaltet.
 Erarbeitung von Empfehlungen für Reformen, welche einer Wiederholung der
Gewalt vorbeugen sollen (Reisner, 2005).
Die Schaffung der notwendigen Bedingungen für eine nationale Versöhnung war bereits
als Ziel in Paniaguas Dekret festgemacht, erhielt aber durch Toledos Umbenennung der
Kommission eine andere Gewichtung (Huhle, 2004).
Die Ernennung der ersten sieben Kommissionsmitglieder im Juli 2001 führte zu
harscher Kritik: Mit Beatriz Alva Hart war eine ehemalige Abgeordnete des
Fujimoriregimes vertreten, die daher auch als ungeeignet erschien, die Amtszeit
Fujimoris kritisch aufzuarbeiten (Oettler, 2003). Des Weiteren bemängelten die
Opferverbände, dass weder ein indigenes Kommissionsmitglied noch ein Mitglied aus
den Reihen der Menschenrechtsorganisationen eingesetzt worden war. Toledo wollte
also mit der Ernennung fünf weiterer Mitglieder und eines Beobachters die Objektivität
der Kommission erhöhen. Unter den neuen Kommissionsmitgliedern befanden sich ein
evangelischer und ein katholischer Geistlicher, ein Soziologe, eine Menschenrechts-
aktivistin – die gleichzeitig den Frauenanteil erhöhen sollte – und ein General der

- 56 -
Luftwaffe im Ruhestand19 (Oettler, 2003). Der Forderung nach einem indigenen
Kommissionär wurde aber auch in der neuen Zusammenstellung nicht nachgekommen.
Um ihrem umfangreichen Mandat Folge leisten zu können, war der Kommission der
Zugang zu allen relevanten staatlichen Dokumenten möglich. Sie konnte öffentliche und
nicht-öffentliche Zeugenanhörungen durchführen und Experten in den Prozess der
Wahrheitsfindung mit einbeziehen (Reisner, 2005). Die Kommission wurde von ca. 500
Mitarbeitern unterstützt und als Basis dienten 14 Büros in verschiedenen Regionen des
Landes. Die Finanzierung der Kommission wurde zu 50 % vom Staat und zu 50 %
durch ausländische Unterstützung gewährleistet. Die Kosten betrugen insgesamt 13
Mio. US-Dollar und die Gelder wurden vom Entwicklungsprogramm der UN verwaltet
(Margarell & Gutierrez, 2006).
Die peruanische CVR wurde von internationalen Experten aus den Bereichen Recht,
Psychologie, Sozialwissenschaft und Statistik beraten, die bereits für eine andere
Wahrheitskommission tätig oder am International Center for Trasitional Justice (ICTJ
in New York) beschäftig waren. Vor allem die Erfahrungen der südafrikanischen und
der guatemaltekischen Kommission wurden herangezogen: Die peruanische
Kommission war die erste Wahrheitskommission in Lateinamerika, die, ebenso wie die
TRC, öffentliche Hearings abhielt (Oettler, 2003). Einen Schwerpunkt setzte die CVR
nach dem Vorbild Guatemalas im Bereich der historiographischen Auseinandersetzung
mit der eigenen Geschichte – Ziel war es, ein historisches Narrativ zu verfassen
(Oettler, 2004). Die Erfahrungen Argentiniens und Chiles wurden in die Ausarbeitung
des Reparationsprogrammes miteinbezogen (Reisner, 2004).
Die CVR bildete thematische Arbeitsgruppen, mittels welcher sie „die Wahrheit
untersuchen, die Ursachen der Gewalt verstehen, Vorschläge für die Reparation und
Reformen erarbeiten wollte.“ (www.cverdad.org.pe/lacomision/balance/index.php,
Übers. d. Verf.). Die Bereiche waren: Öffentliche Anhörungen, Einholung der
Testimonios und Erstellung der Datenbanken, Analyse der Verbrechen und
Menschenrechtsverletzungen, Exhumierungen, Initiativen bzgl. der „Verschwundenen“,
der nationale Prozess der Gewalt, regionale Geschichten, vertiefende Studien,

19
Die ursprünglichen Kommissionäre: Dr. Salomón Lerner Febres (Vorsitzender), Dr. Beatriz Alva Hart,
Dr. Enrique Bernales Ballesteros, Dr. Carlos Iván Degregori Caso, Gastón Garatea Yori, Ing. Alberto
Morote Sánchez, Carlos Tapia García. Die nachträglich ernannten Kommissionäre: Dr. Rolando Ames
Cobián, Monseñor José Antúnez de Mayolo, General (i. R.) Luis Arias Grazziani, Pastor Humberto Lay
Sun und Sofía Macher Batanero. Beobachter: Monseñor Luis Bambarén Gastelumendi

- 57 -
Vorschläge für Reparationen und institutionelle Reformen, Versöhnung und ein
fotografisches Projekt (www.cverdad.org.pe).
Den Kommissionären oblag die Leitung des Prozesses; sie trafen die
richtungweisenden Entscheidungen, die sich auf die Vorarbeit der Forschungsteams
stützten (Reisner, 2004).
Kernstück im Wahrheitsfindungsprozess stellten auch bei der CVR die – öffentlichen
sowie nicht-öffentlichen – Testimonios dar. Um die Ursachen der Gewalt verstehen zu
können, wurden vertiefende Studien zu unterschiedlichen Themen durchgeführt.

4.1.1 Nicht-öffentliche Anhörungen


Die CVR nahm während ihrer Arbeitsperiode beinahe 17.000 Testimonios entgegen.
Ursprünglich wollte man etwa 12.000 Testimonios (CVR Boletín, 2002b) aufnehmen,
aber der Wunsch der Bevölkerung, ihr Testimonio zu geben, war stärker als
angenommen. Ludwig Huber, Koordinator der Untersuchungen im Süden Ayacuchos,
berichtete 2002:
„Es gibt ein enormes Verlangen, die Menschen kommen und wollen ihr Testimonio
geben, sie wollen, dass ihnen jemand zuhört. Nach 15 oder 20 Jahren ist es das erste
Mal, dass eine staatliche Körperschaft kommt, und sie bittet, dass sie erzählen, was
ihnen passiert ist.“ (CVR Boletín, 2002b, S. 5, Übers. d. Verf.).

Die Kommission bemühte sich, auch in entlegene Berg- und Dschungeldörfer


vorzudringen und möglichst alle Menschen, die über ihre Erfahrungen sprechen
wollten, zu inkludieren und so ein breites Bild der Geschehnisse zu erfassen. Es konnte
beinahe das gesamte von der Gewalt betroffene Gebiet abgedeckt werden – es wurden
509 Verwaltungsbezirke in 129 Provinzen des Landes aufgesucht
(http://www.cverdad.org.pe/lacomision/balance/index.php). Das Erfassen der
Testimonios erfolgte in vier Arbeitsschritten:
 Das Interview stellte den wichtigsten und sensibelsten Abschnitt dar. Dabei
sollte Information eingeholt werden, aber auch den Opfern, den
Familienangehörigen und den Dorfgemeinschaften durch eine respektvolle und
aufmerksame Haltung der Mitarbeiter der CVR ihre Würde wiedergegeben
werden. Das Testimonio wurde nur durch wenige Fragen angeleitet. Zur
Erfassung der Personalien und der wichtigsten Eckdaten wurde ein
standardisierter Fragebogen verwendet.

- 58 -
 Die Darstellung: Nach dem Abschluss des Interviews wurden die wichtigsten
Daten aus dem Testimonio von dem jeweiligen Mitarbeiter der CVR
zusammengefasst und geordnet. Diese Informationen wurden dann an das
Forschungsteam in Lima weitergeleitet.
 Die Datenbank sollte folgende Fragen beantworten: Wer hat wem was, wann
und wie angetan? Das Forschungsteam analysierte dazu die erhaltenen Daten
und speiste sie in das System ein.
 Die Berichte: Abschließend wurden die einzelnen Testimonios miteinander
verknüpft, um die Geschehnisse zu rekonstruieren. Zudem wurden statistische
Untersuchungen vorgenommen. Die Ergebnisse des Forschungsteams wurden
zusammengefasst und bilden große Teile des Abschlussberichts (vgl. Reisner,
2004, CVR Boletín, 2002b).

Für die vorliegende Arbeit besonders relevant ist die Erhebungsphase. Der empirische
Teil beschäftigt sich vor allem damit, wie die Opfer der politischen Gewalt das Geben
des Testimonios erlebt haben. Um noch mehr über diese erste Phase der Erhebung und
ihren Ablauf zu erfahren, habe ich am 2. Juli 2006 ein Interview mit dem Künstler und
Anthropologen Edilberto Jiménez (vgl. 2.3.2) geführt. Jiménez war von 2001 bis 2003
für die CVR in der Erfassung von Testimonios tätig. Die Gelegenheit dieses Interview
zu führen ergab sich im Rahmen meines Forschungsaufenthaltes im Andendorf
Lucanamarca, wo Jiménez gerade als Leiter eines Projektes für die
20
Menschenrechtsorganisation COMISEDH tätig war .
Thematisiert werden während des Interviews vor allem auch die Auswirkungen des
Entgegennehmens der Testimonios auf Jiménez selbst und die psychische Belastung,
die sich aus dem Zuhören ergab.
Becker und Weyermann (2006) halten fest, dass es für Mitarbeiter in
Konfliktgebieten verschiedene Risiken gibt: Bei der Arbeit mit traumatisierten
Menschen kann es zu einer sekundären Traumatisierung kommen. Das Elend des
anderen wird als überwältigend erlebt und die eigenen Privilegien verursachen
Schuldgefühle. Die eigenen Grenzen werden oft falsch eingeschätzt, was zum Burnout
führen kann. Vorbeugend gegen Sekundäre Traumatisierung und Burnout sind
Supervision und Coaching sinnvoll.

20
Für mehr Information über den Forschungsaufenthalt und das Projekt von COMISEDH vgl. 5.2.1.

- 59 -
Das Centro de Atención Psicosocial (CAPS, vgl. 2.3.1) war für die psychologische
Beratung der CVR zuständig und wies sehr wohl auf diese Gefahren für die Mitarbeiter
hin. Als Gegenmaßnahme wurde empfohlen, dass die Mitarbeiter nicht mehr als vier
Testimonios am Tag entgegennehmen sollten. Supervision gab es für die Mitarbeiter
leider keine. Aus dem Gespräch mit Jiménez wird die beachtliche psychische Belastung,
die sich aus dem Entgegennehmen der Testimonios ergab, ersichtlich.

Nora Ramirez: „Wie war es für dich, Testimonios für die CVR zu erfassen?“

Edilberto Jiménez: „Die Regel lautete nicht mehr als vier Testimonios am Tag
entgegenzunehmen – aus gesundheitlichen Gründen.“

N. R.: „Wegen der Gesundheit derer, die die Testimonios entgegennahmen?“

E. J.: „Das war Beitrag der Psychologen. Das war ihre Regel, „Mehr nicht, bitte‟.
Aber die Menschen kamen, um ihr Testimonio zu geben; dort wo es mehr
Sensibilisierung gegeben hatte, kamen sie, um Testimonio zu geben. Also
erwarteten wir sie. Oft kamen sie von weit weg. Wenn es mir möglich war, nahm
ich sechs oder acht [Testimonios] entgegen, von frühmorgens an. In den Dörfern,
wo man mich kannte – die Bevölkerung misstraute den anderen – baten sie mich:
„Nimm du meins, bitte‟. […] Manchmal handelte ich gegen meine eigene
Verantwortlichkeit, gegen die CVR und gegen alle Regeln, die sie mir vorgab. Aber
mein Mitgefühl drängte mich… Wenn du angefangen hattest [Testimonios]
entgegenzunehmen, dann war es wie ein Roman, du konntest nicht unterbrechen und
die Zeit lief davon – der Nächste klopfte schon an die Türe.“

N. R.: „Hast du auch Fragen gestellt oder nur zugehört?“

E. J.: „Fragen gestellt. Normalerweise haben sie erzählt, aber man musste auch
nachfragen. Dafür erhielten wir eine Schulung und auch meine eigene Erfahrung
verpflichtete mich: „Was ist dir zugestoßen? Was hast du erlitten? ‟. Aber auch
genauere Fragen, darüber wie es früher war... Es begegneten dir Testimonios, auf
die du nicht vorbereitet warst. Gefühle steigen auf…die Menschen erinnern sich,
weinen…schrecklich… […]“

N. R.: „Wie war es für dich, die Testimonios entgegenzunehmen, die Erzählungen
anzuhören?”

E. J.: „Die Testimonios entgegenzunehmen war wirklich… Erst dadurch habe ich
von der Barbarität, der Unmenschlichkeit dessen was geschehen ist, erfahren. Wie
sie sie wie Tiere behandelt haben, den Bauern, den Quechuasprechenden. Vorher
war ich in der Stadt. Natürlich wusste ich einige Dinge, aber erst dann habe ich von
dieser totalen Unmenschlichkeit erfahren. Schrecklich. Und bis heute ist die
ländliche Bevölkerung, die analphabetisierte Bevölkerung, die arme Klasse die am
meisten marginalisierte. Sie haben mit ihnen gemacht, was sie wollten. Sie haben
mit ihren Leben gespielt. Die ganze Armee hat das gemacht. Die Einstellung zu den
Menschenrechten war katastrophal. Zum Beispiel brachten sie Soldaten von der

- 60 -
Küste – sie diskriminierten, vergewaltigten, machten sich lustig; wenn der Bauer
sein Quechua sprach, dann diskriminierten sie ihn. Sie haben die Frauen benutzt;
Vergewaltigungen, Folter, man hat sie getötet wie ein beliebiges Tier. Und auch von
Sendero Luminoso gab es diese Diskriminierung. Es war ihnen gleich. Das totale
Missverhältnis. […] Durch das Testimonio-Geben wurden sie [die auskunfts-
gebenden Personen] nicht zufrieden. Das Opfer, das dir sein ganzes Leben erzählt
hat... Alle weinten sie. Sie zeigten mir ihre Verletzungen, einige kamen mit ihren
Dokumenten, sie haben mir alles gezeigt, sie zeigten Fotos von den Opfern.
Manchmal brachten sie diese Dinge, weil sie meinten, ich sei eine Autorität, dass
ich etwas machen könnte. Sie zeigten mir: „Schau, was man mir angetan hat...‟ Das
bleibt dir. Diese fürchterliche Anspannung. Du wirst krank. Diese dramatische
Situation beunruhigte mich.”

N. R.: „Glaubst du, die Regel der CAPS, nur vier Testimonios entgegenzunehmen,
war sinnvoll?“

E. J.: „CAPS ist mit der CVR dort aufgetaucht, wo es vorher keine Psychologen
gab. Auf der Universität in Ayacucho gibt es keine Fakultät für Psychologie. Der
Psychologe kommt aus Lima, spricht kein Quechua, er weiß diese Dinge nicht. Er
braucht einen Übersetzer und war damit schon verloren. Das war ein bisschen
schwierig. Ihre Regel mit den vier Testimonios am Tag war für uns eine Art
Verschnaufpause. Wir mussten nur die Testimonios der Leute nehmen, die freiwillig
kamen, man musste niemanden drängen. Unser Tagesplan gab uns so ein bisschen
Zeit, uns zu unterhalten, uns gegenseitig zu erzählen… Einmal kurz rausgehen,
nicht den ganzen Tag da drinnen sitzen… Ich habe Kollegen gesehen, die der CVR
gekündigt haben. Als ich zum ortsfesten Team kam, da gab es einen Lehrer. Die
Leute kamen mit ihren Testimonios. Die Testimonios waren schrecklich. Nach drei
Tagen kündigte er. Er sagte: „Ich kann mir das nicht anhören, es ist schrecklich. Ich
kann nicht, ich halte das nicht aus.‟ Wie ich beim mobilen Team war, haben vier
Personen, unter ihnen ein Anwalt und ein Psychologe, gekündigt.“

Im weiteren Verlauf des Gesprächs schildert Jiménez die Albträume zweier Kollegen,
die so belastend waren, dass die beiden kündigten. Diejenigen, die die Testimonios
entgegennahmen, mussten nicht nur mit dem Schmerz und dem Grauen fertig werden,
sondern sahen sich auch Erwartungen gegenüber, die sie nicht erfüllen konnten.
Edilberto erzählt, wie er angesichts des Leides bereit war, über die eigenen Grenzen zu
gehen, Regeln zu missachten. Als er von den Testimonios und den Reaktionen der
Befragten berichtet, wechselt er von der Vergangenheit in die Gegenwart, einige Sätze
bleiben bruchstückhaft, was auch für die traumatische Erzählungen bezeichnend ist, die
er vielfach gehört hat. Aus der Schilderung wird ersichtlich, dass sowohl das Zuhören
als auch das Erzählen schwierige, schmerzhafte Erfahrungen darstellen. Die Menschen,
die ihr Testimonio gaben, mussten detailreich die Geschichte ihres Leids wiedergeben.
Sie weinten, weil sie durch das Erzählen ihre traurige Vergangenheit wiederbelebten.

- 61 -
Aber trotz des Schmerzes und der Trauer war es 17.000 Menschen ein großes Anliegen,
jemandem ihre Geschichte zu erzählen.

4.1.2 Öffentliche Anhörungen


„Für viele Jahre hat es die peruanische Bevölkerung bevorzugt ihr Gesicht
abzuwenden, nicht hinzuschauen, die Tragödie, welche die bescheidensten unserer
Brüder durchlebten, nicht zu beachten. Diese Verurteilung zum Schweigen, dieses
Vergessen von Seiten des Staates und der Gesellschaft ist eine Form, uns die Würde
zu nehmen und das wollen wir nun beenden – mit öffentlichen Zeremonien, wie
dieser, welche heute zum ersten Mal stattfindet. Die öffentlichen Hearings sind eine
Instanz, in welcher die Kommission für Wahrheit und Versöhnung denen das Wort
geben möchte, die viele Jahre in Stillschweigen Gewalttaten und unbeschreibliche
Verbrechen erdulden mussten. Wir möchten diesem Schweigen ein Ende setzen und
das ganze Land soll zuhören, damit es beginnt, diese Tragödie als die eigene zu
begreifen.“ (Salomón Lerner, Eröffnungsrede des ersten öffentlichen Hearings am 8.
4. 2002, www.cverdad.org.pe/informacion/discursos/index.php, Übers. d. Verf.)

Nach dem Vorbild der TRC in Südafrika hatte sich auch die CVR entschlossen,
öffentliche Anhörungen abzuhalten und diese via Fernsehen und Radio zu übertragen.
Die CVR beschrieb die öffentlichen Hearings als feierliche Zeremonien, in welchen die
Opfer ihre Stimme zurückerhalten sollten. Während dieser Hearings sollten die Opfer
die Möglichkeit haben, ihre Geschichte so zu erzählen, wie sie sie erlebt hatten – in
respektvoller Umgebung und mit der Anerkennung ihrer Erfahrungen durch die
Kommission und die Zuhörenden. Die Menschen hatten die Möglichkeit in ihrer
Sprache zu sprechen, ohne sich Konfrontationen oder Zweifeln bezüglich ihres
Testimonios ausgesetzt zu sehen. Die Fälle, die während dieser Hearings präsentiert
wurden, waren von der Kommission selbst ausgewählt und auf ihre Wahrscheinlichkeit
hin überprüft worden (www.cverdad.org.pe/apublicas/audiencias/index.php).
Im Jahr 2002 wurden 21 solcher öffentlicher Anhörungen abgehalten, die in
thematische Bereiche eingeteilt waren (CVR Boletín, 2002b):
Bei den Opferhearings gab man den Opfern die Gelegenheit, ihre persönliche
Geschichte zu erzählen. Es ging dabei um unterschiedliche Fälle von
Menschrechtsverletzungen; die individuelle Wahrheit der Opfer stand im Vordergrund.
Die Thematischen Hearings sollten Muster von Menschrechtsverletzungen
öffentlich machen, die ganze Personengruppen betroffen hatten. Hearings zu den
folgenden Themenbereichen wurden abgehalten: Selbstverteidigungskomitees,
Antiterrorgesetzgebung und Verletzung des Rechts auf einen angemessenen Prozess,

- 62 -
Politische Gewalt und Verbrechen gegen Frauen, Politische Gewalt und die
Universitäten, Politische Gewalt und Bildung, Politische Gewalt und unfreiwillige
Migration sowie Politische Gewalt in der Hochebene.
Öffentliche Versammlungen (Asambleas Públicas) waren eine Form von
öffentlichen Anhörungen, die entworfen wurde, da die Nachfrage der Bevölkerung,
direkt vor der Kommission Testimonio zu geben, stark ausgeprägt war. Dabei wurde
eine Bürgerversammlung von Organen der Zivilgesellschaft in Zusammenarbeit mit den
regionalen Büros der CVR organisiert. Sie dienten dazu, die regionale Geschichte der
politischen Gewalt aufzuarbeiten. Die öffentlichen Versammlungen fanden vorwiegend
in Dörfern statt, in denen es nicht möglich war, eine öffentliche Anhörung abzuhalten.
Auch bei diesen Versammlungen war zumindest ein Kommissionär oder einer
Kommissionärin anwesend (vgl. CVR Boletín, 2002b, www.cverdad.org.pe/apublicas/
audiencias/index.php).
Insgesamt wohnten 9.500 Personen den öffentlichen Anhörungen direkt bei. 422
Personen berichteten von ihren Erfahrungen. Anders als in Südafrika, wo sehr breit und
ausführlich über die Arbeit der TRC berichtet wurde und sich der sonntägliche Truth
Commission Special Report zur beliebtesten Fernsehsendung entwickelte (Hayner,
2002), wurden die Hearings in Peru sehr kontrovers diskutiert. Es gab Beifall, aber auch
harte Kritik, welche die Anhörungen als verleumderisch und sensationsgierig
aburteilten. Diese Kritik spiegelte in ihren Grundzügen die allgemeine Kritik gegenüber
der CVR wieder, weswegen sich die CVR außerstande sah, den Effekt der öffentlichen
Hearings objektiv zu beurteilen. Da für die CVR aber die Opfer im Mittelpunkt standen,
führte sie eine Untersuchung über die Auswirkungen der öffentlichen Hearings 21 auf die
Personen, die öffentlich Testimonio gegeben haben, durch (www.cverdad.org.pe/
apublicas/audiencias/impacto.php). Es wurden zwanzig qualitative Interviews
durchgeführt, in welchen vier Aspekten für die CVR von Interesse waren:
 Es sollte untersucht werden, ob das öffentliche Geben des Testimonios von
den Opfern selbst als eine Möglichkeit gesehen wurde, die eigene Würde
zurückzuerhalten, oder als ein Erlebnis von „Empowerment“ empfunden
wurde.

21
El impacto de las audiencias públicas en los participantens, Studie der CVR Verfügbar unter:
http://www.cverdad.org.pe/apublicas/audiencias/impacto.php

- 63 -
 Die Auswirkungen des öffentlichen Testimonios auf das Selbstbild der Opfer,
sowie ihre Empfindungen gegenüber den Reaktionen, welche ihre Narrative in
den Kommissionären und im Publikum auslösten.
 Es sollte evaluiert werden, ob das Erlebnis des öffentlichen Testimonios die
Beziehungen zur Familie, zu Freunden oder der Dorfgemeinschaft verändern
konnte.
 Die Meinungen und die Erwartungen der Opfer der politischen Gewalt
gegenüber der CVR und ihrer Arbeit.

Bei den zwanzig Befragten handelte es sich um 13 Männer und 7 Frauen, die in
verschiednen öffentlichen Hearings ihre Geschichte erzählt hatten und die ein weites
Spektrum von Menschenrechtsverbrechen, wie unfreiwillige Migration, Verschwinden-
lassen, Folter, Ermordung und Attentate, abdeckten. Die CVR selbst sah ihre Studie nur
als einen Anfang, der eine Anregung für weitere Untersuchungen bieten sollte.
In ihrem Bericht über die Studie macht die CVR keine numerischen Angaben,
sondern sammelt immer wiederkehrende Schilderungen, Meinungen und Gefühle der
Befragten (www.cverdad.org.pe/apublicas/audiencias/impacto.php).
Ihre Dörfer zu verlassen und vor Publikum und Fernsehkameras zu sprechen war für
fast alle, die ihr Testimonio gaben, eine außergewöhnliche Erfahrung, die auch mit
Befürchtungen und Ängsten verbunden war:
Angstgefühle vor der Präsentation: Das Gefühl von Angst wurde vor allem im
Zusammenhang mit der Vorbereitungsphase berichtet. Am häufigsten wurde von der
Angst berichtet, innerhalb der vorgegebenen Zeit keine präzise und kohärente
Darstellung des Erlebten wiedergeben zu können. Dabei war den Befragten bewusst,
dass sie nicht nur für sich selbst sprachen, sondern auch für ihre Familien und Dörfer,
was den Druck und die Angst vor dem Versagen noch verstärkte (www.cverdad.org.pe/
apublicas/audiencias/impacto.php).
Herman (1992) weist darauf hin, dass sich gerade die Täter oft die Fragmentierung
und Widersprüchlichkeit von Traumaerzählungen zu Nutze machen, um die Opfer als
unglaubwürdig darzustellen. Viele der Personen, die ihr Testimonio gaben, sind in den
Jahren zuvor mit ihrer Geschichte ignoriert oder sogar als Terroristen abgestempelt
worden. Daher ist die Angst, das könnte erneut geschehen, umso verständlicher (vgl.
auch 3.3.2, Reviktimisierung).

- 64 -
Angst vor möglichen Vergeltungsakten: Einige der Befragten hatten Angst, dass
man an ihnen wegen ihres öffentlichen Testimonios Rache üben könnte
(www.cverdad.org.pe/apublicas/audiencias/impacto.php).
Angst, das Trauma erneut zu durchleben: Einige der interviewten Personen
fürchteten sich davor, sich erneut den alten Schmerzen auszusetzen und sich mit ihrer
Erzählung in die Vergangenheit zu begeben. Für die Opfer ging es darum, abzuwägen,
ob die moralische Verpflichtung ihre Geschichte, und damit auch die Geschichte ihrer
Dörfer öffentlich zu machen, stärker war, als die Angst davor, alte Wunden aufzureißen
(www.cverdad.org.pe/apublicas/audiencias/impacto.php).
Sich an traumatische Situationen zu erinnern, kann dazu führen, dass diese
Erfahrungen wieder aktiviert werden. Wie unter 3.3.2 erläutert wurde, kann das Sich-
Erinnern im Rahmen des Testimonios zu einer Retraumatisierung führen. Daher ist vor
allem auch der sensible Umgang mit dem Opfer durch das Umfeld gefragt. Die CVR hat
erhoben, welche Faktoren während des Testimonios als unterstützend erlebt wurden:
Emotionale Unterstützung: Alle Personen, die öffentlich Testimonio gaben wurden
– sofern sie es nicht ausdrücklich ablehnten – persönlich von einem Psychologen oder
einer Psychologin vor, während und nach dem Hearing begleitet. Neben den
PsychologInnen war es vor allem auch die Anwesenheit der geistlichen Kommissionäre,
die den Menschen Mut machte, vor das Publikum und die Kommission zu treten.
Allgemein fühlten die Befragten die positive Aufmerksamkeit, die die Kommissionäre
ihnen schenkten und sie bemerkten, dass ihre Geschichten die Kommissionäre und das
Publikum emotional berührten. Die Tränen der Zuhörenden ließen die Erzählenden
spüren, dass ihnen geglaubt und Mitgefühl entgegengebracht wurde.
Carlos Jibaja (2003), einer der Psychologen von CAPS, die die Opfer bei den
öffentlichen Hearings begleiteten, unterstreicht, wie wichtig sowohl die Position der
Kommissionäre (sie saßen an demselben Tisch wie die Testimonio gebenden Personen),
als auch ihre Aufmerksamkeit und die Dankesworte an die Opfer waren. Die Opfer
wurden mit Respekt und Würde behandelt. In der Befragung durch die CVR gaben die
Opfer wiederholt an, dass sie endlich wie Menschen, wie gleichwertige Bürger, wie
Personen mit Rechten behandelt worden wären. Auch mit anderen Opfern, die
öffentlich Testimonio gaben, konnten Kontakte geknüpft werden und es gab ein Gefühl
von Solidarität (www.cverdad.org.pe/apublicas/audiencias/impacto.php).
Wahrheit und Prävention: Die CVR fragte in ihrer Studie auch nach der Motivation
der Personen, öffentlich Testimonio zu geben. Fast alle interviewten Personen brachten

- 65 -
zum Ausdruck, dass sie mit ihrem Testimonio dazu beitragen wollten, die
Wiederholung solcher Gräueltaten zu verhindern. Anderen war es wichtig, durch ihr
Testimonio den Namen ihrer Familien rein zu waschen und ihre (eigene) Unschuld zu
beteuern. Ein weiteres Motiv war das Bedürfnis, dem Staat und der Gesellschaft
mitzuteilen, was geschehen war, damit die schrecklichen Tatsachen nicht weiter
verleugnet werden könnten (www.cverdad.org.pe/apublicas/audiencias/impacto.php).
Opfern von Gewalt hilft bei der Bewältigung ihres Traumas häufig, diesem einen
Sinn zu geben (Herman, 1992). Wenn sie mit ihrer Geschichte dazu beitragen können,
dass sich die Schrecken der Vergangenheit nicht wiederholen, ist das auch für die Opfer
selbst heilsam.
Der Antrieb einiger der Befragten kreiste um die Themen Justiz und Reparation
(www.cverdad.org.pe/apublicas/audiencias/impacto.php). Sie erhofften sich von dem
Hearing ein greifbares Resultat, wie z. B. den Beginn eines Gerichtsprozesses gegen
einen Täter oder eine Form von Reparation.
Die CVR kommt zu der Schlussfolgerung, dass die öffentlichen Hearings einen
Schritt nach vorne in der Wiederherstellung der Würde der Opfer bedeuten, dass diese
aber immer noch marginalisiert und materiell benachteiligt wären. Deshalb sei das
Reparationsprogramm ebenso unerlässlich wie die strafrechtliche Verfolgung von
Tätern. Das Erlebnis öffentlich Testimonio zu geben, wurde überwiegend als positiv
erlebt und hat in den Opfern neue Hoffnungen geweckt (www.cverdad.org.pe/
apublicas/audiencias/impacto.php).
Hermann (1992) schreibt, dass es mit der Anerkennung der Wahrheit der Opfer nicht
getan ist. Die Opfer müssen erleben, dass ihre Wahrheit zu Handlungen, zu konkreten
Ergebnissen führt. Daher ist die strafrechtliche Verfolgung der Täter ebenso wichtig wie
die Reparationen an den Opfern. Dass die Befragten das öffentliche Testimonio aber
überwiegend als positiv erlebt haben zeigt, dass es der CVR gelungen ist, bei den
Hearings ein unterstützendes und anerkennendes Umfeld für die Opfer zu schaffen.

4.1.3 Weitere öffentliche Aktivitäten der CVR


Neben den öffentlichen Hearings hatte die CVR noch weitere Projekte, die unter
Einbeziehung der Öffentlichkeit realisiert wurden: Die „Initiative zur Aufklärung des
Schicksals der Verschwundenen“ war ein gemeinsames Projekt der CVR, des
Internationalen Roten Kreuzes, der Volksanwaltschaft (Defensoría del Pueblo) und der

- 66 -
nationalen Koordinationsstelle für Menschrechte (Coordinadora Nacional de Derechos
Humanos). Wie auch in anderen lateinamerikanischen Ländern, waren es in Peru vor
allem die Angehörigen von Verschwundenen, die sich zu Verbänden zusammen-
geschlossen hatten und die Einsetzung einer Wahrheitskommission forderten (Oettler,
2003, vgl. 2.3.1). Deshalb war die Aufklärung über den Verbleib der Verschwundenen
ein Ziel der CVR. Es wurde eine Liste mit allen Namen der bei den vier Organisationen
als verschwunden gemeldeten Personen erstellt. Diese Liste wurde am 5. November
2002 veröffentlicht. Die Datenanalyse der CVR hatte ergeben, dass in 84 % der Fälle
die Staatsgewalt für das Verschwindenlassen verantwortlich war. Diese
Schuldzuweisung wurde jedoch im Abschlussbericht nicht mehr publiziert (Oettler,
2003).
Die CVR erstellte auch eine Fotodatenbank aus den Archiven der Presse, der
Streitkräfte, Privatbeständen und der Menschenrechtsorganisationen. Eindrucksvolle
Bilder aus der Zeit der Gewalt wurden für die Ausstellung „Yuyanapaq. Para recordar“
ausgewählt und sind heute im Museum der Nation in Lima ausgestellt, sowie als
Fotoband erhältlich (www.cverdad.org.pe/apublicas/p-fotografico/index.php).

Exhumierungen
Eine weitere, auch medial aufbereitete Aktivität der CVR waren die Exhumierungen.
Anders als in Guatemala, wo zahlreiche Exhumierungen stattfanden (vgl. 3.3.3), wurden
in Peru nur drei exemplarische Exhumierungen von der CVR vorgenommen, „die aber
weniger die Beweislage vervollständigen als die Notwendigkeit von Exhumierungs-
prozessen öffentlich anzeigen sollten.“ (Oettler, 2003, S. 184). Die Exhumierungen
wurden in den Dörfern Chuschi, Totos und Lucanamarca in Ayacucho durchgeführt. In
allen drei Fällen handelte es sich um die Gräber von Massakern, die in Chuschi und
Totos vom Militär und in Lucanamarca von Sendero Luminoso verursacht worden
waren. Die CVR definiert ein Massaker folgendermaßen:
„Die Kommission versteht unter Massaker die mehrfache, widerrechtliche und mit
großer Grausamkeit durchgeführte Hinrichtung oder Ermordung von schutzlosen
Personen, die oft mit anderen Formen von Menschenrechtsverletzungen wie zum
Beispiel Folter und Verstümmelung einhergehen.“ (CVR, 2003, Band VI, S. 21,
Übers. d. Verf.)

Die CVR nahm für die Exhumierungen internationale Expertenhilfe in Anspruch und
arbeitete mit der Volksanwaltschaft, dem Innenministerium und der nationalen

- 67 -
Koordinationsstelle für Menschrechte zusammen. Um die psychologische Begleitung
der Angehörigen während des Exhumierungsprozesses zu gewährleisten, wurde ein
Abkommen mit CAPS geschlossen (CVR, 2003).

4.2 Der Abschlussbericht


Nach 22monatiger Arbeit überreichte die CVR am 29. August 2003 dem damaligen
Präsidenten der Republik, Alejandro Toledo, ihren Abschlussbericht. Der Bericht in
neun Bänden umfasst mehr als 4.000 Seiten: Band I beschreibt den Prozess der
politischen Gewalt, die Ereignisse von 1980 bis 2000 und ihre juristische Dimension.
Band II beschäftigt sich mit den bewaffneten Akteuren des Konflikts – dazu zählen
neben Sendero Luminoso und den staatlichen Streitkräften auch die Revolutionäre
Bewegung Túpac Amaru und die ländlichen Selbstverteidigungskomitees. Band III
untersucht die Rolle der politischen Parteien, der Regierungen und staatlichen
Institutionen von 1980 bis 2000. Der 2. Teil des III. Bandes befasst sich mit den
sozialen Institutionen, wie der Kirche und den Menschenrechtsorganisationen, aber
auch der Bildungseinrichtungen. Band IV widmet sich den verschiedenen regionalen
Szenarien der Gewalt. Er zeigt auf, dass bestimmte Teile des Landes sehr viel stärker
von der politischen Gewalt betroffen waren als andere. Im Band V werden 23
repräsentative Fälle eingehender untersucht. Die Bandbreite reicht von der Geschichte
einzelner Dörfer bis zu den Verhältnissen in den Gefängnissen und den Universitäten.
Band VI beschäftigt sich mit den Mustern der Menschenrechtsverletzungen, ihren
Urhebern und Opfern. Massaker und Verschwindenlassen werden darin ebenso
behandelt, wie auch sexuelle Gewalt gegen Frauen und die Verletzung kollektiver
Rechte. Der Band VII behandelt 73 von der CVR eingehend untersuchte Fälle, von
denen in 47 Fällen genügend Beweise vorlagen, um diese an die Staatsanwaltschaft
weiterzuleiten. Im Band VIII werden die Faktoren, die die politische Gewalt möglich
gemacht haben, sowie die Folgen des Konflikts analysiert. Komplettiert wird der
Abschlussbericht von den Empfehlungen der Kommission bezüglich der Reparationen
und Reformen im Band IX. Dieser Band zielt speziell auf das Thema der Versöhnung
ab. In den sechs Anhängen des Berichts ist unter anderem eine Liste mit allen von der
CVR untersuchten Fällen, sowie zusätzliche Information zu den statistischen
Berechnungen und der Chronologie des Konflikts zu finden (vgl. CVR, 2003; Ames,
2005). Der komplette Bericht ist online verfügbar (www.cverdad.org.pe) und 2004

- 68 -
erschien eine gekürzte Version des Berichts unter dem Titel „Hatun Willakuy – Versión
abrevidada del Informe Final del Comisión de la Verdad y Reconciliación“ in
Buchform.
Aus der Aufzählung der behandelten Themen in den neun Bänden wird bereits
ersichtlich, wie umfangreich der Abschlussbericht der CVR ausfiel. Im Folgenden
sollen die wichtigsten Zahlen und Fakten, die der Bericht ans Tageslicht förderte,
zusammengefasst werden und die Reaktionen aus den Medien, der Bevölkerung und der
Politik auf den Bericht sollen diskutiert werden.

4.2.1 Die bewaffneten Akteure und die Opfer der politischen Gewalt
Bis zur Veröffentlichung des Abschlussberichts der CVR ging man in Peru von ca.
25.000 Todesopfern des bewaffneten Konflikts aus. Die statistischen Berechnungen der
CVR ergaben eine mehr als doppelt so hohe Zahl: Die Zeit der politischen Gewalt hatte
69.280 Menschenleben gefordert (CVR, 2003). Wie aber können 40.000 Personen ums
Leben kommen, ohne dass dies von der Öffentlichkeit bemerkt wird?

Die Opfer
Einen Teil der Antwort liefern die demografischen Daten der Opfer (CVR, 2004):
 Armut: „Wie man weiß, tragen die soziale Exklusion und die Armut in Peru
ein ländliches und bäuerliches Gesicht.“ (CVR, 2004, S. 22, Übers. de. Verf.).
Vorwiegend die arme, ländliche Bevölkerung war von der politischen Gewalt
betroffen. Allein in der Andenregion Ayacucho wurden 40 % aller Todesopfer
registriert. Weitere 45 % der Opfer verteilen sich auf die Regionen Apurímac,
Huancavelica, Huánuco, San Martín und Junín. Ayacucho, Apurímac,
Huancavelica und Huánuco zählen zu den fünf ärmsten Regionen Perus (CVR,
2004).
 Muttersprache: Quechua oder eine andere indigene Sprache war die
Muttersprache von 75 % der Todesopfer und der Verschwundenen, obwohl
diese Sprachen laut einer Erhebung 1993 nur von 20 % der Bevölkerung
gesprochen wurden.
 Bildung: 68 % der Opfer verfügten über keine Schulbildung oder hatten
höchstens die Volksschule (primaria) abgeschlossen.

- 69 -
 Geschlecht und Alter: 80 % der Opfer waren männlich. Mehr als 55 % davon
waren zwischen 20 und 49 Jahren alt. 75 % aller Opfer waren verheiratet oder
lebten in einer Lebensgemeinschaft. Der Verlust so vieler junger Väter und
Ehemänner, die für den Erhalt ihrer Familie und die Bestellung des Landes
zuständig gewesen waren, war für den ländlichen Raum verhängnisvoll.
 Beruf: 56 % der Opfer waren Bauern oder Viehzüchter.

Die hier aufgezählten Merkmale – indigene Muttersprache, Bewohner des ländlichen,


andinen Gebiets oder der Dschungelregion, unzureichende Bildung, Armut – sind seit
Jahrhunderten Hauptmerkmale für die soziale Exklusion und Diskriminierung ganzer
Bevölkerungsschichten in Peru (vgl.dazu 1.3). Mehr als 40.000 Opfer wurden vom Gros
der Gesellschaft aus schlichtem Desinteresse nicht registriert. Im Gegensatz zu Chile
oder Argentinien, wo die Mehrheit der Opfer dem Mittelstand entstammte und daher
auch über sozialen und politischen Einfluss verfügte,
„waren in Peru drei Viertel aller Toten indigener Herkunft: Bürger zweiter Klasse,
viele von ihnen ohne Dokumente […]. Man nimmt die Opfer nicht wie Landsleute
wahr; manchmal hat man den Eindruck, es handle sich um einen Krieg, der in einem
anderen Land statt gefunden hat.“ (Manrique, Peru.21, 4.9.2006, S. 4, Übers. d.
Verf.).

Die CVR kommt zu dem Schluss, dass es sich bei der politischen Gewalt um keinen
ethnischen Konflikt gehandelt habe, da sich im Kampf nicht zwei oder mehrere
Gruppen gegenüberstanden, welche sich auf Grund von Rasse, Religion, Hautfarbe oder
Sprache von einander unterschieden oder abgrenzt hätten. Die CVR hält aber sehr wohl
fest, dass der Konflikt eine starke ethnische und rassische Komponente beinhaltet habe,
da die indigene Bevölkerung unproportional stärker von der Gewalt betroffen war
(CVR, 2003). Nicht mit dieser Meinung konform geht beispielsweise Gonzalo
Portocarrero (2003), der von einer genozidalen Politik der Streitkräfte gegenüber den
Andenbewohnern spricht.
Wie bereits angeführt, sind bei den Todesopfern weit mehr Männer als Frauen zu
beklagen. Das Leid, das den Frauen zugefügt wurden, war anderer Natur: Die Frauen
wurden zu Opfern sexueller Gewalt, Folter und waren oft zur Migration gezwungen, um
das eigene Leben und das ihrer Familien zu retten (CVR, 2003).
Der bewaffnete Konflikt zwischen 1980 und 2000 hatte mehr Menschenleben
gefordert als die beiden größten Kriege der Republik zusammen. Wer aber war für die
große Opferzahl verantwortlich?

- 70 -
Die subversiven Organisationen
Die unmittelbare Ursache des Konflikts sieht die CVR (2003) in der Entscheidung
Sendero Luminosos dem peruanischen Staat den Krieg zu erklären. Diese Entscheidung
wurde von Sendero in dem Moment getroffen, als das Land nach einer 12jährigen
Diktatur zur Demokratie zurückkehrte, was sowohl von der Gesellschaft, als auch den
politischen Parteien unterstützt wurde. Im Gegensatz zu anderen bewaffneten
Konflikten in Lateinamerika, war nicht der Staat, sondern die subversive Bewegung für
den Großteil der Opfer verantwortlich. Aus den erhaltenen Testimonios schließt die
CVR, dass Sendero Luminoso 54 % aller Todesopfer verursacht hat. Sendero Luminoso
hat systematisch und in massivem Ausmaß Terror und Gewalt als Methoden eingesetzt
und dabei vorsätzlich die Menschenrechte verletzt (CVR, 2004).
Auffallend hoch ist die Zahl der ermordeten Führerpersönlichkeiten (dirigentes) und
Autoritäten (autoridades), mittels welcher sich die ländlichen Dörfer und Gemeinden
selbst organisieren. Die CVR hat errechnet, dass 24 % der durch Sendero ermordeten
Personen eine solche Funktion in ihrem Dorf oder ihrer Gemeinde innehatten. Sendero
bezeichnete jene als Vertreter des „alten Staates“ und erklärte sie somit zu Feinden. Die
Führungspersönlichkeiten aus dem Weg zu räumen erzeugte eine Leere im
Machtgefüge der Gemeinden, welche Sendero durch eigene Führer füllte (CVR, 2003).
Eine weitere Methode Sendero Luminosos, die Menschen mittels Schrecken und
Terror gefügig zu machen, bzw. ihren Ungehorsam zu bestrafen, waren die Massaker.
Der CVR wurden 215 Massaker durch Sendero Luminoso berichtet, welche 28 % der
Todesoper durch die subversive Organisation verursacht haben. Als Massaker wird die
Ermordung von fünf oder mehr, zu diesem Zeitpunkt schutzlosen Personen bezeichnet
(CVR, 2003).
Auch das Verschwindenlassen von Personen, sowie Hinrichtungen in so genannten
„Volksprozessen“ (juicios populares) waren systematische Praktiken Sendero
Luminosos. Neben den Führungspersönlichkeiten stellten auch die relativ reicheren
Bauern einer Gemeinde ein Feindbild für Sendero Luminoso dar (CVR, 2003). Die
meisten Opfer Senderos waren Zivilpersonen, die im landwirtschaftlichen Bereich tätig
und unbewaffnet waren (CVR, 2003).
Neben Sendero Luminoso trat 1984 die „Revolutionäre Bewegung Túpac Amaru“
(MRTA – Movimiento Revolucionario Túpac Amaru) in Aktion gegen den Staat. Laut
der eigenen Definition der Bewegung hielt sich diese – zumindest zu Beginn ihres
Agierens – an die Genfer Menschenrechtskonventionen. Ihre Strategie war die der

- 71 -
klassischen lateinamerikanischen Guerillaorganisationen: Sie trugen Uniformen, durch
welche sie sich von der Bevölkerung unterschieden und stationierten sich außerhalb der
Dörfer. 1.8 % der Todesopfer sind auf die MRTA zurückzuführen (CVR, 2003).

Der Staat und seine Repräsentanten


Der Staat hatte die Verpflichtung, die Verfassung und Gesetze ebenso zu schützen wie
die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten. Die Regierungen verfügten aber nicht
über geeignete Strategien, um die Subversion unter Kontrolle zu bringen und überließen
den Kampf den staatlichen Streitkräften. Tausende Anzeigen von Menschenrechts-
verletzungen wurden von den Regierungen nicht behandelt; in einigen Fällen wurde
sogar von vornherein Straffreiheit garantiert (CVR, 2004). Von 1980 bis Dezember
1982 wurde die Aufgabe der Bekämpfung der Subversion der Polizei übertragen, die
auf eine solche Herausforderung nicht vorbereitet war. Als sich abzeichnete, dass die
Polizei der Aufgabe nicht gewachsen war, wurde diese dem Militär übergeben. Ab
diesem Moment ist ein starkes Ansteigen der Opferzahlen zu verzeichnen. Den
Höhepunkt in Bezug auf die Todesopfer erreichte die politische Gewalt 1983 und 1984,
was im direkten Zusammenhang mit dem Eintritt des Militärs in den Konflikt steht.
Die CVR errechnete, dass die staatlichen Streitkräften – Militär und Polizei – sowie
die Selbstverteidigungskomitees und die paramilitärischen Gruppen für 37 % der Toten
und Verschwunden verantwortlich sind. Drei von vier Opfern starben durch das Militär
(CVR, 2004).
Die CVR untersuchte auch die Verantwortung der drei Regierungen, die von 1980
bis 2000 die Macht innehatten. So stellt sie fest, dass unter der Regierung Fernando
Belaúndes (1980–1985) 35 % aller Opfer ums Leben kamen und, dass in der Repression
Senderos keine Rücksicht auf die Menschenrechte – vor allem in Bezug auf die
indigene und marginalisierte Bevölkerung – genommen wurde (CVR, 2003).
Im ersten Regierungsjahr Alan Garcías sanken die Opferzahlen signifikant ab, denn
García versuchte den Terror mittels Entwicklungsprogrammen in den ärmsten Regionen
einzudämmen und schuf die „Kommission für Frieden“ (Comisión de Paz), mit deren
Hilfe neue Strategien für die Bekämpfung des Terrorismus erarbeitet werden sollten.
Dieser positive Ansatz nimmt mit den Gefängnismassakern im Juni 1986 eine
unerwartete Wende. 1988 kommt es zur Hyperinflation und die Wirtschaft bricht
zusammen. 1989 zeichnet sich ein neuer Gipfel in den Opferzahlen ab (CVR, 2003).

- 72 -
Mit der Wahl Fujimoris im Jahr 1990 nimmt der Kampf gegen die Subversion abermals
neue Formen an. Fujimori baut den Geheimdienst aus und das selektive
Verschwindenlassen von Personen nimmt stark zu. Am 5. April 1992 putscht Fujimori
die eigene Regierung und löst den Kongress auf. Die Todesschwadron „Grupo Colina“
agiert mit der Unterstützung von Fujimoris Geheimdienstchef Vladimier Montesinos.
Die Beweislage erlaubt es der CVR zu bestätigen, dass Fujimori, Montesinos und
andere hohe Funktionäre seiner Regierung die strafrechtliche Verantwortung für Morde,
Fälle von Verschwindenlassen und Massakern, durchgeführt von eben jener
Todesschwadron, tragen (CVR, 2003).

4.2.2 Schwierige Opfer- und Täterrollen


Im Falle Perus ist die Definition der Opfer- und Täterrollen besonders schwierig, denn
sie sind häufig miteinander verknüpft oder fließen ohne klar auszumachende Grenzen
ineinander über.

Militär und Polizei


Die Streitkräfte hatten die Pflicht, die Bevölkerung und den Staat zu schützen und sie
standen einem bewaffneten Feind im eigenen Land gegenüber, der zu Verhandlungen
nicht bereit war und sich mit der Bevölkerung vermischte:
„Die Herausforderung war über die Maßen groß und es war die Aufgabe des Staates
und seiner Vertreter, das Leben und die Unversehrtheit der Bevölkerung mit den
Waffen des Gesetzes zu schützen. Die Ordnung, welche die demokratischen Völker
in ihrer Konstitution festhalten, garantiert allen Bürgern ihr Recht auf Leben und
Unversehrtheit. Unglücklicherweise haben die Beauftragen dieser Mission,
innerhalb eines Kampfes, den sie nicht begonnen haben und dessen Rechtfertigung
die Verteidigung der Gesellschaft, die attackiert wurde, war, ihre Pflicht nicht
verstanden. […] Mit Bedauern haben wir festgestellt, dass die Vertreter des Militärs
und der Polizei in systematisierte, generalisierte Praktiken von Menschenrechts-
verletzungen verfallen sind.“ (Salomón Lerner, 28. 8. 2003, www.cverdad.org.pe/
informacion/discursos/en_ceremonias05.php, Übers. d. Verf.)

Die Strategie im Kampf gegen die Subversion differenzierte besonders in den frühen
Jahren des Konflikts in der ländlichen Bevölkerung nicht zwischen Anhängern
Senderos und jenen, die es nicht waren. Jeder wurde wie ein potentieller Feind
behandelt und weder die Polizei noch das Militär hielten sich an die
Menschenrechtskonventionen. Die Menschenrechtsverletzungen fanden zum Teil mit
Billigung oder zumindest mit der Duldung der Regierung statt. Viele Soldaten verloren

- 73 -
in der Erfüllung ihrer Pflicht ihr Leben oder wurden verwundet; wiederum waren es die
Soldaten, die sich Verbrechen wie Verschwindenlassen, Folter, außergerichtliche
Hinrichtungen und Vergewaltigung schuldig machten (CVR, 2003). Die CVR versucht
in ihrem Bericht sowohl das Andenken jener zu ehren, die für die Verteidigung der
Republik starben als auch abzulehnende Praktiken aufzuzeigen, für welche auch
strafrechtliche Konsequenzen gefordert werden.

Selbstverteidigungskomitees
Eine sehr zwiespältige Rolle fiel den Selbstverteidigungskomitees (CAD - Comités de
Autodefensa oder auch Rondas Campesinas) zu: „Bei keinem anderen Akteur des
Krieges ist die Linie zwischen Täter und Opfer, zwischen Held und Schurke, so schmal
und porös, wie bei den Selbstverteidigungskomitees oder den rondas campesinas“
(CVR, 2003, S. 437, Band II, Übers. d. Verf.). Die bewaffneten Selbstverteidigungs-
komitees, die 1991 von der Regierung anerkannt22, und zum Teil vom Militär trainiert
und mit Waffen ausgestattet wurden, leisteten einen wichtigen Beitrag zur Niederlage
Sendero Luminosos. Es gibt aber ebenso Berichte über Exzesse und
Gewaltausschreitungen der CAD´s: Die Waffengewalt wurde ausgenützt, um
Nachbardörfer zu überfallen und auszurauben; es wurden Fälle von Exekutionen,
Verschwindenlassen und Folter berichtet. So wurden sie für die einen zu
„Friedensstiftern, für die anderen zu Mördern“ (CVR, 2003, S. 437, Band II). Die CVR
(2003) hält aber fest, dass nicht alle CAD´s gegen die Menschenrechte verstoßen haben
und dass tausende Bauern ihre Dörfer und ihr Hab und Gut verteidigt haben. Viele
haben bei dieser Aufgabe ihr Leben verloren – einer Aufgabe, die eigentlich von den
Vertretern des Staats hätte erfüllt werden müssen.

Die ländliche Bevölkerung


In vielen Dörfern gab es Perioden, in welchen die Herrschaft zwischen Sendero und den
Komitees wechselte. Sowohl die Mitglieder Senderos als auch die Mitglieder der
Komitees waren oft Bewohner desselben Dorfes und allen wohlbekannt. In vielen
Regionen erfuhr Sendero besonders in der Anfangszeit Unterstützung und die
Bevölkerung sympathisierte mit der Untergrundorganisation. Die Stimmung schlug im
Laufe der Jahre aber immer mehr gegen Sendero um.

22
Bereits 1986 wurden die unbewaffneten Selbstverteidigungskomitees von der Regierung anerkannt.

- 74 -
„Unbeteiligt und frei von Schuld konnten unter diesen Umständen nicht viele
bleiben. So entstand ein höchst komplexes Gemenge von Schuld und Verdiensten
inmitten einer über Jahre anhaltenden Situation. […] Vor allem in den zahlreichen
Dörfern, die mehrmals von verschiedenen feindlichen Parteien angegriffen und
niedergebrannt wurden, wo viele Gemeindeangehörige von der Hand aller Parteien
starben oder vertrieben wurden, zerflossen auch die Grenzen zwischen Tätern und
Opfern. In vielen Familien, und bisweilen in einer Person, gab es beides.“ (Huhle,
2004, S. 140).

Die von der politischen Gewalt betroffene Bevölkerung spricht heute häufig von „der
Zeit der großen Verwirrung“, in der nichts so war wie vorher (Theidon, 2004).

4.2.3 Sozialpolitische, ökonomische und psychosoziale Folgen


„[…] die Folgen des bewaffneten Konflikts zu analysieren ist ein sehr komplexer
Prozess; bereits vor der politischen Gewalt und ihren Folgeerscheinungen befand
sich das Land in einer Situation, die als strukturelle Gewalt bezeichnet werden
kann.“ (Bazán & Tovar, 2004, S. 7, Übers. d. Verf.)

Die CVR beschreibt in ihrem Bericht die Folgen des bewaffneten Konfliktes und teilt
diese in drei Bereiche ein, die einander beeinflussen. Diese Folgen sind sowohl auf
individueller als auch auf kollektiver Ebene angesiedelt (CVR, 2004). Neben den
psychosozialen Folgen, auf welche im Anschluss näher eingegangen werden soll, stellte
die CVR auch sozialpolitische und ökonomische Auswirkungen der politischen Gewalt
fest (CVR, 2003).

Ökonomische Folgen
Den größten Verlust stellt das „menschliche Kapital“ dar: 73 % der Opfer,
hauptsächlich Männer, sorgten für den Unterhalt ihrer Familien und ihr Verlust
bedeutete, dass oft das einzige Einkommen verloren ging und, dass das Land nicht mehr
auf die gleiche Weise bewirtschaftet werden konnte, was zu Ertragsverlusten führte
(CVR, 2003). Die massive Flucht vom Land in die Städte ließ ganze Dörfer wie
ausgestorben zurück. Viele Familien mussten ihr Vieh und andere Güter zurücklassen
und gerieten in extreme Armut. Schätzungen zu Folge kehrte nur die Hälfte der ca.
600.000 Flüchtlinge in ihre Dörfer zurück. Sendero zerstörte ganz bewusst die
Infrastruktur wie z. B. Straßen und Stromleitungen der ländlichen Regionen. Die
Entwicklung in den Dörfern und Gemeinden wurde durch die politische Gewalt lahm
gelegt und traditionelle Organisationsstrukturen, wie das gemeinschaftliche Arbeiten für
die Gemeinden, wurden zerstört (CVR, 2003). All diese Entwicklungen führten zu einer

- 75 -
drastischen Verarmung der ohnehin bereits unvermögenden Landbevölkerung. Eine
Studie des Jahres 1993 schätzt, dass die ökonomischen Verluste für das Land und seine
Bevölkerung durch die politische Gewalt 21.000 Millionen US-Dollar betrugen (CVR,
2003).

Sozialpolitische Folgen
Unter sozialpolitischen Folgen versteht die CVR (2004) sowohl die Schwächung der
Strukturen in den Gemeinden (comunidades) als auch den Zerfall der demokratischen
Ordnung auf nationaler Ebene, welcher den Weg für die Rückkehr eines autoritären
Systems freimachte.
Der Hauptgrund für die Zerrüttung der kollektiven Strukturen in den Dörfern war die
massive Abwanderung der Bevölkerung und das Misstrauen innerhalb der
Dorfgemeinschaften. Dies führte dazu, dass die althergebrachten Regeln und
Umgangsformen nicht mehr respektiert wurden (Bazán & Tovar, 2004). Das Verbot, die
traditionellen Dorfversammlungen abzuhalten, bei welchen wichtige Beschlüsse für die
Gemeinschaft getroffen wurden und die vielfache Ermordung der Dorfvorstehern und
Autoritätspersonen innerhalb des Kollektivs, zerstörten die Ordnung der Gemeinden
(CVR, 2004).
Anders als in anderen lateinamerikanischen Ländern fanden die schwersten
Menschenrechtsverletzungen nicht während einer Diktatur, sondern unter der Führung
von drei aufeinander folgenden, demokratisch gewählten Regierungen statt (CVR,
2004). Die Politik versäumte es, der Polizei und dem Militär klare Regeln im Kampf
gegen die Subversion aufzuerlegen und die Verbrechen, die von den Vertretern des
Staates begangen wurden, zu bestrafen (CVR, 2004). Ein großer Teil der peruanischen
Bevölkerung unterstützte den Putsch Fujimoris am 5. April 1992, da die Meinung
vorherrschte, dass dieser Kampf nur mit autoritären Methoden gewonnen werden könne
(CVR, 2004).

Psychosoziale Folgen
„Für tausende Personen war die Gewalt, welcher sie ausgesetzt waren, eine
traumatische Erfahrung, ein Bruch in ihrer Lebensgeschichte. Die Folgen und die
Intensität der Gewalterfahrungen hatten einen destabilisierenden und zerstörerischen
Charakter. […] Ein entscheidender Faktor für den traumatischen Charakter dieser
Erfahrungen war das auferlegte Schweigen: Man verbat mit Drohungen über das
Geschehene zu sprechen; das führte dazu, dass in vielen Fällen das traumatische

- 76 -
Erlebnis abgekapselt wurde und dadurch weder individuell noch kollektiv
verarbeitet werden konnte.“ (CVR, 2003, Band VIII, S. 167, Übers. d. Verf.)

Die CVR hat 401 Testimonios qualitativ und quantitativ ausgewertet, um mehr über die
psychischen Folgen der Gewalt zu erfahren. Dabei waren besonders zwei
Erzählmomente in den Testimonios von Bedeutung: Der Eintritt eines traumatischen
Ereignisses und die dazu geschilderten Gefühle sowie die eigene Befindlichkeit und die
von Familienmitgliedern nach diesem Ereignis (CVR, 2003). Dabei waren für die CVR
sowohl individuelle Reaktionen als auch soziale Folgeerscheinungen von Bedeutung.
Die Ergebnisse der Untersuchung der CVR decken sich zum großen Teil mit den
Folgeerscheinungen von Traumata, die im Unterkapitel „Psychosoziales Trauma“
erläutert werden (vgl. 2.2.3).
Becker und Weyermann (2006) schreiben, dass chronische Angst eine
Begleiterscheinung der Lebensverhältnisse in Kriegs- und Krisengebieten ist. Die
chronische Angst führt zum sozialen Rückzug; eine Kultur des Schweigens entwickelt
sich. Die Ergebnisse der Untersuchung der CVR (2003) zeigen ein ähnliches Bild: Auf
der individuellen Ebene ist Angst das am häufigsten spontan berichtete Gefühl. Sowohl
Sendero Luminoso als auch die staatlichen Streitkräfte setzten wissentlich Taktiken wie
Exekutionen, Verschwindenlassen und Folter ein, um Terror und Angst zu erzeugen
(vgl. 2.1.1). Mehr als die Hälfte (53,3 %) der Personen berichten in ihren Testimonio
von großer Angst, die meist zu einem überdauernden Gefühl wurde – auch zum
Zeitpunkt des Testimonios drückten viele ihre Furcht davor aus, dass Sendero sich
wieder formieren könnte, und dadurch die Spirale der Gewalt erneut in Gang gesetzt
würde (CVR, 2003).
Damit in Zusammenhang stehen auch Zustände von Hypervigilanz, welche in 16,2 %
der untersuchten Testimonios beschrieben werden (CVR, 2003) und ein klassisches
Symptom der PTBS darstellen (vgl. 2.2.1). Aus der Angst entsteht Misstrauen: 44 %
der Testimonios zeugen davon, dass die Angst nicht nur die jeweilige Person selbst
betroffen hat, sondern die gesamte comunidad (Gemeinde, Gemeinschaft). Besonders
destabilisierend für die Bevölkerung war das Gefühl, zwischen zwei Fronten zu stehen,
und oft im eigenen Dorf, ja, sogar in der eigenen Familie, nicht zu wissen, wer für
welche Seite kämpfte. Das führte auch zu einer Schädigung der Gemeinschafts-
strukturen (CVR, 2003), oder, um es mit den Worten Martín-Barós auszudrücken, zu
einer Traumatisierung der Beziehungen (vgl. 2.2.3). Sendero verbot der Bevölkerung

- 77 -
ihre traditionellen Feste zu feiern und tötete viele Dorfvorsteher. Das hatte einen äußerst
destabilisierenden Charakter auf die comunidades. Es wurde mit alten Traditionen wie
zum Beispiel der minka, dem Arbeiten für die Gemeinschaft, gebrochen. Neben dem
Vertrauen in die eigene Dorfgemeinschaft fehlte aber auch das Vertrauen in die
staatlichen Institutionen: Vom Militär selbst ging eine Bedrohung für die Bevölkerung
aus, und jene, die Anzeige erstatteten, erfuhren dadurch keine Gerechtigkeit. Familien
und sogar ganze Dorfgemeinschaften mussten unter diesen Umständen fliehen: Die
Häuser und Felder wurden dem Verfall anheim gegeben und die Beziehungen verloren
sich auf der Suche nach einem neuen Zuhause (CVR, 2003).
Die Erfahrungen mit der Gewalt und der Verlust von Angehörigen lösten große
Trauer aus. 46,2 % der Testimonios beschreiben die Trauer, die durch einen Verlust
erfahren wurde, als ein überdauerndes Gefühl (CVR, 2003). Die CVR stellt aber auch
eine Störung des Trauerprozesses fest: Die Umstände erlaubten oft nicht, die Toten mit
den üblichen Ritualen zu verabschieden und beizusetzen. Die Hinterbliebenen mussten
zum Teil auch noch mit der Schändung ihrer Toten fertig werden: Sendero z. B. tötete
so genannte Verräter und stellte ihre Leichen als abschreckendes Beispiel zur Schau
(CVR, 2004). Besonders erschwert wurde die Trauer aber, wenn der Körper nie
gefunden wurde, das Schicksal eines Verwandten nicht geklärt werden konnte (vgl.
2.2.4). Oft 15, 20 Jahre später hoffen die Angehörigen immer noch auf ein
Lebenszeichen des Verschwundenen, unfähig dessen Tod als solchen zu akzeptieren
und zu betrauern (CVR, 2004).
Die Menschen waren einem Terror ausgesetzt, in dem es scheinbar keine Regeln gab.
Man hatte keine Möglichkeit sich selbst oder seine Familie zu schützen, was in vielen
Personen Hilflosigkeit und Verzweiflung hervorrief. In 38,2 % der untersuchten
Testimonios findet sich der Ausdruck dieser Gefühle wieder (CVR, 2003). Und bis
heute fragen viele Opfer der politischen Gewalt nach dem „Warum?“. Die Menschen
wissen nicht, wie es zu solch fürchterlichen Ereignissen kam und können ihren
Verlusten daher auch keinen Sinn geben. Dies erzeugt Gefühle von Sinnlosigkeit,
Leere, Unsicherheit aber auch Schuld (CVR, 2003): Was hätte man selber anders
machen können, um den Tod eines Angehörigen zu verhindern? Der Verlust von
Angehörigen, von Besitz, Verletzung und Flucht führten dazu, dass das eigenen Leben
bis in die Grundfesten erschüttert wurde, dass Pläne zerstört wurden und das Leben nie
wieder die selbe Qualität hatte, wie vor der Gewalt. 38,2 % derjenigen, die ein
Massaker, Überfälle und Gewalt in ihren Dörfern erlebten und 34,7 % der Frauen, die

- 78 -
durch die politische Gewalt zu Witwen wurden, berichten, dass diese Ereignisse ihre
Lebensprojekte blockiert oder gar zerstört haben (CVR, 2003).
In den Testimonios wird häufig auch die Erfahrung von Erniedrigung und
Demütigung geschildert:
„Viele Personen berichteten, dass sie „wie Tiere‟, oder „schlechter als Tiere‟
behandelt wurden; in extremen Fällen von Erniedrigungen sagten die misshandelten
Menschen, dass sogar sie selbst begonnen hatten an ihrem Menschsein zu zweifeln.“
(CVR, 2004, S. 367, Übers. d. Verf.)

Besonders die Gruppe der Frauen, die Opfer sexueller Gewalt geworden waren,
berichten häufig von dem Gefühl gedemütigt und erniedrigt worden zu sein (66, 7 %)
(CVR, 2003).
Neben den Auswirkungen auf der emotionalen Ebene leiden zahlreiche Opfer des
bewaffneten Kampfes an psychosomatischen Symptomen: Am häufigsten tauchen in
diesem Zusammenhang Kopfschmerzen, Schlafprobleme, Albträume, Schmerzen im
Brustbereich, Magenschmerzen, Ohnmacht und Rückenprobleme auf (CVR, 2003).
Die Folgen der Gewalt zeigen sich auch in den familiären Strukturen: Durch den
Verlust von Familienmitgliedern, speziell des Vaters, stürzten viele Familie in große
Armut. Die Funktionen der Familie – z. B. den jüngeren Familienmitgliedern Schutz
und Orientierung zu bieten – wurde gestört. Die Witwen büßten durch den Verlust ihres
Lebensgefährten an Rechten und Status in der comunidad ein. Eltern mussten den Tod
ihrer Kinder beklagen. Viele Familien mussten fliehen und wurden zerrissen. Dies
führte dazu, dass viele Familien ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen konnten und es auch
häufig zu einer Reproduktion der Gewalt, die sie erfahren haben, kam (CVR, 2003).

4.2.4 Die Empfehlungen der CVR


Den Abschluss des Berichts bilden die Empfehlungen der CVR, welche dazu beitragen
sollen, dass sich die Schrecken der Vergangenheit nicht wiederholen und es zu einer
Versöhnung in der Gesellschaft kommen kann. Aus diesem Grund wird an diesem
Punkt auch etwas näher auf die Versöhnungskonzeption der CVR eingegangen werden,
um anschließend die Hauptlinien der Empfehlungen zu erläutern.

Versöhnung
„Die CVR versteht unter Versöhnung einen Prozess der Wiederherstellung der
fundamentalen Bande zwischen den Peruanern; Bande, die durch den Konflikt der

- 79 -
letzten beiden Jahrzehnte zerstört und verletzt wurden. Diese Versöhnung hat drei
Dimensionen: 1. Eine politische Dimension, das heißt eine Versöhnung zwischen
Staat, Gesellschaft und den politischen Parteien; 2. Eine soziale Dimension, also
eine Versöhnung der öffentlichen Institutionen und Räume der Zivilbevölkerung mit
der Gesamtgesellschaft, insbesondere mit den marginalisierten ethnischen Gruppen;
und 3. Eine zwischenmenschliche Dimension – der Mitglieder der Gemeinden oder
Institutionen, die sich gegenüber standen. Es handelt sich dabei also um die
Wiederherstellung des sozialpolitischen Paktes.“ (CVR, 2004, S. 411, Übers. d.
Verf.).

Die CVR hat für ihre Arbeit einen sehr breiten Versöhnungsbegriff gewählt, der nicht
nur die „volle Bürgerschaft“ (ciudadanía plena), die Integration und Einbeziehung aller
Peruaner fordert, sondern auch die Versöhnung auf der zwischenmenschlichen und
sogar familiären Ebene anstrebt (CVR, 2003). Die CVR ist sich dabei bewusst, dass
viele Probleme nicht erst durch den bewaffneten Konflikt aufgetreten sind, sondern
schon lange Zeit vorher existiert haben. Carlos Degregori, Ex-Kommissionär der CVR,
drückt es folgendermaßen aus: „Es ist schwierig von Versöhnung zu sprechen, in einem
Land, das niemals versöhnt war“ (Seminario Internacional, am 24. 8. 2006, Übers. d.
Verf.). Die Versöhnung in Peru muss aber gerade mit den Gruppen von Personen
stattfinden, die historisch betrachtet seit Jahrhunderten ausgeschlossen, marginalisiert
und diskriminiert werden. Daher ist für die CVR die Gerechtigkeit sowohl
Vorrausetzung als auch Ergebnis des Versöhnungsprozesses (Ames, 2005). Die
Gerechtigkeit soll durch Wahrheit und Aufklärung, durch bestrafende Gerechtigkeit,
durch Entschädigungen sowie durch soziale und politische Gerechtigkeit hergestellt
werden (CVR, 2003).

Empfehlungen
Ihre Empfehlungen, die das Fundament der Versöhnung bilden sollen, hat die CVR
(2003) in vier Hauptlinien zusammengefasst:
1.) Die institutionellen Reformen betreffen den Staat selbst:
 Seine Präsenz soll auf das ganze territoriale Gebiet ausgeweitet werden.
Infrastruktur wie Schulen, Polizeiposten und Gesundheitsposten sollen auch in
entlegenen Dörfern geschaffen werden. Dabei soll aber auf die kulturelle
Vielfalt Rücksicht genommen werden und eine Beteiligung der Bevölkerung
soll gewährleistet werden.

- 80 -
 Die demokratischen Institutionen der inneren und äußeren Sicherheit (Polizei
und Militär) sollen gestärkt werden, aber auch ihre Schulung verbessert und
die rechtliche Lage ihrer Einsätze konkretisiert werden.
 Der Justizapparat soll reformiert werden, so dass die Rechte eines jeden
Bürgers geschützt werden können. Dazu ist eine größere Unabhängigkeit von
der Staatsgewalt notwendig.
 Die Schulbildung soll verbessert und demokratische Werte gelehrt werden –
insbesondere der Respekt für die Menschenrechte und die kulturelle Vielfalt
sollen gefördert werden.

2.) Die CVR betont die Notwendigkeit von Reparationen an der betroffenen
Bevölkerung. Sie argumentiert, dass der Staat es verabsäumt hätte, seine Bürger zu
schützen, und es sich deshalb um seine Pflicht handle, die Bevölkerung zu entschädigen
(Drha, 2007). Der Integrale Reparationsplan (PIR) umfasst sechs Programme (CVR,
2003):
 Symbolische Reparationen, welche öffentliche Entschuldigungen bei den Opfern
sowie die Errichtung von Gedenkstätten beinhalten.
 Reparationen im Gesundheitsbereich wie der verbesserte Zugang zum
Gesundheitswesen und psychologische Betreuung für die Opfer. Dazu soll auch
psychotherapeutisch geschultes Personal in die Dörfer entsandt werden.
 Reparationen im Bildungssektor, wie z. B. Schulungsmöglichkeiten und das
Erlassen von Studiengebühren für jene, deren Schulbildung durch die Gewalt
unterbrochen wurde oder gar nicht stattfinden konnte.
 (Wieder-) Herstellung der umfassenden Bürgerrechte für alle: Dazu gehört die
Registrierung jener Personen, die über keine Papiere verfügen oder die
rechtliche Regelung bezüglich des legalen Status der Verschwundenen.
 Ökonomische Reparationen der Opfer und ihrer Familienmitglieder sowie
staatliche Hilfsprogramme zur Verbesserung der Wohn- und
Beschäftigungssituation.
 Kollektive Reparationen: Die am stärksten von der Gewalt betroffenen
comunidades sollen mit den grundlegenden staatlichen Einrichtungen
(Gesundheitsposten, Schulen) ausgestattet werden. Die Infrastruktur soll
verbessert werden und Initiativen, die den Dörfern eine Weiterentwicklung
ermöglichen, sollen unterstützt werden.

- 81 -
3.) Insgesamt konnte die CVR mehr als 4.000 inoffizielle Grabstätten registrieren. Die
CVR erachtet es als wichtig, dass weitere Exhumierungen durchgeführt werden, da
diese sowohl der weiteren Wahrheitsfindung dienlich sind, als auch den Angehörigen
von Verschwundenen zur nötigen Gewissheit verhelfen würden (CVR, 2003). Der dritte
Teil beinhaltet daher den Vorschlag für einen nationalen Plan bezüglich der
Exhumierungen.

4.) Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit der Umsetzung der Empfehlungen. Dazu soll
ein nationaler Rat der Versöhnung (Consejo Nacional de Reconciliación) geschaffen
werden, der die Umsetzung der Empfehlungen koordiniert und überwacht. Außerdem
soll eine interinstitutionelle Arbeitsgruppe gegründet werden, die sich mit der
Publikation und Verbreitung des Abschlussberichtes beschäftigen soll (CVR, 2003).

Die Empfehlungen der CVR sind sehr umfangreich und auch kostspielig – ihre
Umsetzung erfordert großen politischen und gesellschaftlichen Willen, weshalb auch
die Volksanwaltschaft (Defensoría del Pueblos) und die Zivilbevölkerung zur
Unterstützung einbezogen werden sollen (Reisner, 2004).

4.2.5 Reaktionen auf den Abschlussbericht


Die Reaktionen von Seiten der Politik, des Militärs und der Zivilbevölkerung auf den
Abschlussbericht fielen zum Teil sehr heftig aus, was vor allem mit der Zuweisung von
Verantwortung und Schuld zusammenhängt. Neben der politischen Verantwortung
deckt der Bericht auch die Verantwortung einer Gesellschaft auf, die mit Indifferenz auf
eine Tragödie reagierte, welche sie nicht als ihre eigene anerkannte:
„Der Bericht stellt nicht nur die Politiker und die Vertreter des Staates in Frage,
sondern die Integrität unserer Gesellschaft. Diese Gewalt, sowohl von der einen
Seite, als auch von der anderen, wurde von Peruanern verkörpert und realisiert.“
(Neira, 2003, S. 23, Übers. d. Verf.).

Obwohl der Bericht Sendero Luminoso als hauptverantwortlich und als Auslöser für die
politische Gewalt deklariert, werden auch die Verantwortlichkeiten der Politiker und der
Staatsgewalt diskutiert. Einflussreiche Persönlichkeiten der peruanischen Gesellschaft
waren mit den Schuldzuweisungen, welche der Bericht macht, nicht einverstanden und
sie hatten wichtige Kommunikationsmedien auf ihrer Seite, was zu einer Polarisierung
auch innerhalb der Zivilgesellschaft führte (Ames, 2005).

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Die wichtigsten Kritikpunkte sollen an dieser Stelle genannt werden:
 Die CVR wurde beschuldigt, eine Pro-Sendero-Haltung einzunehmen: Sendero
Luminoso wird in dem Bericht nicht als eine Organisation von Terroristen
bezeichnet, sondern als politische Partei. Die Staatsanwaltschaft in Lima leitete
sogar Untersuchungen gegen Kommissionsmitglieder ein, da sie wegen dem
Verdacht, Verbindungen zu Sendero Luminoso zu unterhalten, angezeigt
worden waren (Oettler, 2003)
 Das Militär und verschiedene politische Parteien ließen verlauten, dass es
gefährlich sei, die Verantwortung Senderos auf einer Ebene mit der
Verantwortung des Staates anzusiedeln. Außerdem sei es eine Übertreibung, von
„systematischen und generalisierten“ Praktiken von Menschenrechts-
verletzungen seitens des Militärs zu sprechen (Guillerot, 2003). In diesem
Zusammenhang sei auch erwähnt, dass ein Kommissionsmitglied, nämlich der
General im Ruhestand, Luis Arias Grazziani, den Abschlussbericht nur mit
Vorbehalten bezüglich der Rolle des Militärs und der Bezeichnung Sendero
Luminosos als politische Partei unterzeichnete (CVR, 2003).
 Die Parteien von García (APRA) und Belaúnde (AP) wiesen die politische
Verantwortung, welche der Bericht ihnen zuschrieb, zurück, ebenso wie die
Partei Fujimoris dessen strafrechtliche Verantwortung nicht anerkannte
(Guillerot, 2003).
 Die hohen Kosten der Kommission, 13 Mio. US-Dollar, wurden von
verschiedenen Sektoren heftig diskutiert, die der Meinung waren, das Geld hätte
besser für Bauvorhaben oder die Bekämpfung der Armut eingesetzt werden
sollen (Guillerot, 2003).
 Auch die Bezeichnung der Kriegsjahre als eine Zeit, welche durch „Scham und
Ehrlosigkeit“ gekennzeichnet war – sowohl durch den Staat, als auch durch die
peruanische Gesellschaft – wurde als ungerecht gegenüber jenen empfunden, die
sich nicht direkt schuldig gemacht hatten (Guillerot, 2003).
 Sehr umstritten sind die Opferzahlen, welche die Kommission veröffentlich hat:
Die statistischen Methoden, mittels welcher aus ca. 29.000 registrierten
Todesopfern fast 70.000 wurden, wurden ebenso angegriffen, wie die
Zurechnung der Schuld: Es gibt viele Stimmen, die anzweifeln, dass Sendero
Luminoso die meisten Opfer verursacht hat. Der CVR wird vorgeworfen, die

- 83 -
Zahlen geschönt zu haben, um nicht das Militär als Hauptverantwortlichen
sichtbar werden zu lassen (Wiener, 2003).
 Die soziale Exklusion der indigenen Bevölkerung als den Ursprung der Gewalt
zu identifizieren wird kritisiert, weil dadurch dem Handeln Sendero Luminoso
ein historischer Sinn gegeben würde (Guillerot, 2003).

Die CVR hatte während ihrer Arbeitszeit oft damit zu kämpfen, sich eine genügende
Medienpräsenz zu verschaffen. Die Präsentation des Abschlussberichtes erhielt zwar
ausreichende Abdeckung und löste auch kurzfristig ein mediales Erdbeben aus; auf
Grund der großen Widerstände gegen den Bericht flaute aber das öffentliche Interesse
schnell wieder ab (Peñaflor, 2005). Ein weiteres Problem war, dass die Arbeit der CVR
großen Teilen der Bevölkerung nicht vertraut ist, speziell den ärmeren Schichten. In
einer Umfrage in Lima im Jahr 2005 gaben nur 34,6 % der Befragten an über den
Abschlussbericht der CVR Bescheid zu wissen. Von jenen, welchen die CVR bekannt
war, gaben immerhin 56,5 % an, eine positive Meinung von der CVR und ihrer Arbeit
zu haben (Peñaflor, 2005).

4.3 Die aktuelle Situation


In diesem Kapitel soll beleuchtet werden, was sich seit der Präsentation des
Abschlussberichtes der CVR im August 2003 in Bezug auf die strafrechtliche
Verfolgung, die Reparationen und die Versöhnung getan hat. Am 28. August 2007
jährte sich die Übergabe des Abschlussberichtes an die Regierung zum vierten Mal, was
in Peru zu einer Reflexion, aber auch zu erneuten Diskussionen rund um die Arbeit der
CVR und den Fortschritt ihrer Empfehlungen geführt hat.
Bezüglich des Jahrestages wurden alte Vorwürfe gegen die CVR erneut vorgebracht.
So sagte beispielsweise der Generalsekretär der Regierungspartei APRA, Mauricio
Mulder, dass die Empfehlungen der CVR nicht vertrauenswürdig seien, weil sie auf
einer linksgerichteten, ideologischen Subjektivität basieren würden (Expreso, 30. 8.
2007). Auf der anderen Seite beklagen sich Opfer und Menschrechtsorganisationen über
das Stagnieren der strafrechtlichen Verfolgung. Der Direktor der Tageszeitung Peru21
stellt ernüchtert fest: „Nach einem Tag wie heute, vier Jahre nachdem die CVR ihren
Abschlussbericht übergeben hat, kann man festhalten, dass – wie auch beim ersten,

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zweiten und dritten Jahrestag – in Bezug auf die Empfehlungen fast nichts geschehen
ist.“ (Álvarez, 28. 8. 2007, Übers. d. Verf.)

4.3.1 Justiz
Bereits vor der Einsetzung der CVR sind Fälle von Menschrechtsverletzungen am
Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (Corte Interamericana de
Derechos Humanos) zur Verhandlung gekommen und der peruanische Staat wurde zu
symbolischen und ökonomischen Reparationsleistungen an die Opfer verurteilt (Drha,
2007).
Justiz und Gerechtigkeit wurden sowohl von Seiten der Opfer als auch von der CVR
gefordert. Trotzdem war sich die Kommission darüber im Klaren, dass der Staat nicht
über die Kapazität verfügt, solch eine enorme Fülle an Fällen zu verhandeln. Weiters
kam auch erschwerend dazu, dass viele Beweise vernichtet worden waren oder verloren
gingen. Daher ging der Ansatz, Gerechtigkeit herzustellen, hauptsächlich über die
strafrechtliche Verfolgung von Persönlichkeiten auf Führungsebene des Militärs, der
Polizei und der subversiven Organisationen (Magarrell, 2005).
Die CVR hat 47 Fälle schwerer Menschenrechtsverletzungen, die 1.647 Opfer und
492 Täter betreffen, nach ausgiebigen eigenen Ermittlungen an die Justizbehörden
übergeben (Huhle, 2004). Dass von diesen Anklagen das Militär häufiger betroffen ist,
als Mitglieder von Sendero Luminoso, resultiert laut der CVR aus dem Umstand, dass
bereits zahlreiche Mitglieder der subversiven Organisationen in den 80er und 90er
Jahren verurteilt worden sind (Castillo, 29. 8. 2007). Bis Oktober 2006 kamen 26 Fälle
vor Gericht – in vier Fällen gab es ein Urteil in erster Instanz; die anderen Fälle waren
und sind Gegenstand von weiteren Untersuchungen (IDL, 2006).
2003 beschloss man außerdem die Wiederaufnahmen von allen Prozessen wegen
terroristischer Delikte, in welchen die Angeklagten durch einen „Richter ohne Gesicht“,
also einen Richter, dessen Identität geheim blieb, verurteilt worden waren (IDL, 2006).
Sowohl das Instituto de Defensa Legal (IDL) als auch Vega Luna kommen zu dem
Schluss, dass es bis 2006, trotz einiger Schwierigkeiten, Fortschritte im Bereich der
Justiz gegeben hat: In Peru, im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern,
wurden die Fälle, welche die CVR an die Justiz übergeben hatte, tatsächlich bearbeitet
und die Richter wiesen Berufungen auf das Amnestiegesetz Fujimoris aus dem Jahr
1995 seitens der Angeklagten zurück. Auch der Forderung der CVR nach der Gründung

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eines eigenen Gerichtshofs für Menschrechtsverletzungen wurde nachgekommen,
obschon dieser noch schwere Mängel aufweist (Vega, 2006).
Schwierigkeiten in Bezug auf die Prozesse bereitete die mangelnde
Kooperationsbereitschaft des Militärs. Und obwohl es gerichtliche Verfügungen für die
Verhaftung von angeklagten Mitgliedern der Streitkräfte gibt, befinden sich ein Großteil
eben dieser auf freiem Fuß (Vega, 2006). Bedauernswert ist auch das Fehlen eines
geeigneten Schutzprogramms für die Zeugen und Opfer, welche in nur ca. einem Viertel
der Fälle über einen eigenen Rechtsvertreter verfügen (IDL, 2006).
Obschon dieser vorsichtig-positiven Bilanz für die vergangenen Jahre diagnostiziert
das IDL ein Jahr nach der Amtsübernahme durch García ein Stagnieren des
Gerechtigkeitsprozesses: Die Regierung spricht in Bezug auf die Prozesse gegen
Mitglieder des Militärs von Rachakten gegenüber jenen, die das Vaterland verteidigt
haben. Es wurde ein Dekret erlassen, welches die Verteidigung der angeklagten Militärs
durch Staatsgelder vorsieht. Zwei Mitglieder des Militärs, die sich wegen
Verschwindenlassen von Personen verantworten mussten, wurden freigesprochen. Seit
Ende 2006 ist nur ein neuer Fall vor Gericht gekommen, wobei es einen klaren
Zusammenhang zwischen dieser Stagnation und der neuen Regierung zu geben scheint:
„In den letzten 12 Monaten war die Botschaft der Regierung – speziell in Richtung
der Staatsanwälte und Richter – sehr klar: Der Justizprozess ist ihnen [den
Regierungsmitgliedern] unangenehm und lästig. Die Gründe sind offensichtlich –
sind doch der Präsident und der Vizepräsident direkt in Fälle von schweren
Menschenrechtsverletzungen verstrickt – und wir können auch nicht außer Acht
lassen, dass es heute in Peru eine neue, klar dem Gerechtigkeitsprozess entgegen
gesetzte Haltung in der Politik gibt, welche die Straffreiheit begünstigt.“ (Rivera,
2007, http://www.justiciaviva.org.pe/noticias/2007/julio/26/justicia.htm, Übers. d.
Verf.)

Rivera spricht von einer offenen Kampagne gegen den Abschlussbericht der CVR und
gegen die Urteile des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschrechte von Seiten
der neuen Regierung (Rivera, 2007). Auch eine Anklage der Staatsanwaltschaft gegen
die Verantwortlichen des Massakers im Gefängnis El Frontón, welches während der
ersten Amtszeit Garcías stattfand, wird mit der Begründung, der Vorfall sei verjährt,
nicht weiterbearbeitet (Buen Gobierno, 30. 8. 2007).
Neben dieser rückschrittlichen Tendenz in der Herstellung strafrechtlicher
Gerechtigkeit beschäftigt derzeit die Auslieferung des Ex-Präsidenten Alberto Fujimori
die peruanischen Menschenrechtsorganisationen gleichermaßen wie die Justiz. Gegen
den Ex-Präsidenten sind 22 Verfahren am Laufen – am schwersten wiegt dabei wohl

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seine Verstrickung in die Massaker von „La Cantuta“ und „Barrios Altos“, welche von
der Todesschwardron „Grupo Colina“ durchgeführt wurden (Vega, 2006). Fujimori
reiste 2005 in Chile ein und wurde dort unter Hausarrest gestellt. Im Juli dieses Jahres
wurde ein Antrag auf Auslieferung des Ex-Präsidenten abgelehnt. Der Oberste
Gerichtshof entschied in letzter Instanz aber anders und am 21. 9. 2007 wurde die
Auslieferung Fujimoris an Peru beschlossen. Die Entscheidung des Obersten
Gerichtshofes wird als historischer Schritt im Kampf gegen die Straflosigkeit
(impunidad) in Lateinamerika angesehen (Humans Right Watch, 22. 9. 2007,
www.rpp.com.pe/portada/politica/ 97293_1.php).

4.3.2 Reparationen
Die Umsetzung des Reparationsprogramms in Peru verläuft eher schleppend. Nachdem
bis 2006 noch kaum Maßnahmen des Reparationsplans umgesetzt worden waren, wurde
daran gezweifelt, ob der neu und wieder gewählte Alan García daran etwas ändern
würde. Aber noch im Oktober 2006 wurden endlich die Mitglieder des nationalen Rates
für Reparationen (Consejo Nacional de Reparaciones) ernannt. Ihre Aufgabe ist es, ein
Register der Opfer (Registro Ùnico de Victimas) zwischen 1980 und 2000 zu erstellen.
Vorsitzende des Rates ist Sofía Macher, ein ehemaliges Mitglied der CVR (Flores,
2006).
Zur allgemeinen Überraschung wurde am 16. Juni 2007 mit der Auszahlung von
kollektiven Reparationen für die am stärksten vom Terrorismus betroffenen Regionen
begonnen. Bei dieser Gelegenheit brachte der Präsident auch zum Ausdruck, dass den
kollektiven auch individuelle Reparationen folgen würden (Aprodeh, 2007). Es bleibt
also abzuwarten, ob das Versprechen wahr gemacht wird, und ob es auch in den
anderen Programmen – Bildung, Gesundheit, Infrastruktur und Bürgerrechte –
Fortschritte geben wird.

4.3.3 Versöhnung
Die CVR hat für ihre Arbeit einen sehr ambitionierten Versöhnungsbegriff gewählt und
es ist fraglich inwieweit, auch wenn der Staat den gesamten Empfehlungen der CVR
Folge leistet, es dadurch zu einer Versöhnung auf allen von der CVR angestrebten
Ebenen kommen kann. Die Kluft, die es zu überbrücken gilt, hat ihre Wurzeln tief in

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der Geschichte Perus und ist in der Gesellschaft nach wie vor fest verankert – auch in
den Politikern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Das ehemalige
Kommissionsmitglied Carlos Degregori kommentierte in seinem Vortrag zum Thema
Versöhnung in Peru am 24. 8. 2006 drei Begebenheiten, die sich während der Wahlen
zugetragen hatten, und die ein Bild der immer noch bestehenden Diskriminierung und
Marginalisierung eines großen Teils der Gesellschaft zeichnen:
 Am 25. Juli 2006, bei der Angelobung der Kongressabgeordneten der neuen
Regierung, legten zwei Abgeordnete ihren Eid in Quechua, einer der offiziellen
Landessprachen Perus, ab. Dies führte zu heftigen Diskussionen und die beiden
Kongressabgeordneten Supa und Sumire sahen sich schweren Angriffen
ausgesetzt, weil sie den Eid in ihrer Muttersprache schworen.
 Der Moderator und Schriftsteller Jaime Bayly kommentierte das Ergebnis der
Präsidentschaftswahlen im andinen Peru, wo 85 % der Bevölkerung Ollanta
Humala gewählt hatten, entgegengesetzt zu den Stimmabgaben der
Küstenbewohnern, dass dies wohl auf das Fehlen von Sauerstoff in der
Höhenluft zurückzuführen sei.
 Der Kongressabgeordnete Antero Flores Araoz sagte im Gespräch mit einem
Journalisten am 2. Juni 2006, dass es unnötig wäre, die „Lamas und Vicuñas“
(er meinte damit die Andenbewohner) zu ihrer Meinung bezüglich des
Freihandelsabkommens mit den USA zu befragen.

Degregori kommt zu dem Schluss, dass Peru noch immer ein Land ist, in welchem man
weißer Hautfarbe, männlich, Stadtbewohner, gebildet und spanischsprachig sein muss,
um Zugang zu allen Staatsbürgerrechten zu haben.
Die Probleme und Schwierigkeiten einer Versöhnung auf der nationalen Ebene
unterscheiden sich drastisch von jenen auf der interpersonalen Ebene, welche von der
CVR ebenfalls angesprochen wurde. Während es bei der Versöhnung zwischen dem
Staat und seinen Bürgern um die Veränderung alter Muster geht, um die Integration und
Inklusion, so sind es die Dorfgemeinschaften, die es mit der unmittelbaren Zerrüttung
von Beziehungen und der Zerstörung von Strukturen zu tun haben (vgl. 4.1.3). Die
Versöhnungsfrage stellt sich in den comunidades auch nicht erst seit der CVR, sondern
begann in vielen Dörfern in den 80er und 90er Jahren (Huhle, 2004). Der bewaffnete
Konflikt wütete nicht in allen Teilen des Landes zur gleichen Zeit und in einigen
Regionen konnte Sendero bereits relativ früh verdrängt werden. Teile der Bevölkerung

- 88 -
waren geflohen und kehrten zurück – andere hatten die Jahre der Gewalt in ihren
Dörfern zugebracht. Die Dorfgemeinschaften mussten sich nun der Frage stellen, wie
sie mit der Vergangenheit, mit der Schuld, mit den Verlusten umgehen sollten (Huhle,
2004).
„Als die schlimmsten Jahre der Gewalt im ländlichen Gebiet der Anden vorüber
waren, stießen die Bemühungen um die Wiederherstellung des Gemeinschaftslebens
auf ein großes Problem: den bestehende Groll zwischen Nachbarn, die durch
verschiedene Umstände während dieser Jahre zu Gegnern, zu Tätern und Opfern,
wurden.“ (CVR, 2004, S. 359, Übers. d. Verf.)

Kimberly Theidon untersuchte den Umgang mit dem Thema von Schuld und
Versöhnung in sieben Dörfern in Ayacucho. Dabei stieß sie in den Dörfern auf
unterschiedliche Mechanismen, das Gleichgewicht in der comunidad wieder
herzustellen: In einigen Dörfern mussten z. B. ehemalige Senderistas vor der
Dorfgemeinschaft Reue zeigen. Ihnen wurden besonders schwere Arbeiten zum Wohl
der comunidad zugewiesen und sie konnten sich so wieder in die Gemeinschaft
eingliedern (Theidon, 2004). In anderen Dörfern gibt es den uralten Brauch, einen
Konflikt zu „begraben“: Dabei müssen die Konfliktparteien solange ihren Standpunkt
darlegen, bis sie zu einer Übereinkunft kommen. Danach wird der Konflikt „begraben“
und es darf nicht mehr darüber gesprochen werden (Theidon, 2004). Sehr viel mehr
Schwierigkeiten, so berichtet Theidon (2004), haben jene comunidades, in welche das
Militär reuige Senderistas eingliederte. Diese Senderistas standen gewissermaßen unter
dem Schutz des Militärs und mussten sich keinen Gemeinschaftsritualen unterziehen.
Dadurch blieben ihre Taten aber auch ungesühnt und die Konflikte lebendig (Theidon,
2004).
Das Auftauchen der CVR löste bei der Bevölkerung aus mehreren Gründen
Widerstände aus: Zum einen hatten die comunidades, wie beschrieben, zum Teil bereits
ein Gleichgewicht hergestellt, welches sie nun durch ein neuerliches Aufreißen der alten
Wunden gefährdet sahen (vgl. Huhle, 2004, Theidon, 2004). Zum anderen gab es ein
großes Misstrauen gegen alles was von Außen kommt: Die andine Bevölkerung sieht
sich seit Jahrhunderten der Unterdrückung wechselnder Protagonisten – von den Inka
über die spanischen Konquistadoren bis hin zur ständigen Marginalisierung durch den
Staat und seine Vertreter – ausgesetzt:
„Die Geschichte erscheint aus Sicht der andinen Dorfgemeinden wie eine einzige
Verschwörung gegen ihr kommunales Wohlergehen, gegen die nur ein Mittel hilft:
die soziale Kohäsion der Gemeinde und die Wahrung ihrer Autonomie gegen alle
Eingriffe von außen.“ (Huhle, 2004, S. 145).

- 89 -
Eine Studie der „Consejería en Proyectos“ aus dem Jahr 2003, welche im andinen
Huancavelica durchgeführt wurde, zeigt, dass Wertbegriffe wie Wahrheit, Gerechtigkeit
und Versöhnung von der andinen Bevölkerung prozesshaft, ergebnisorientiert und auf
das Wohl der comunidad hin ausgerichtet, ausgelegt werden (Consejería en Proyectos
zitiert nach Huhle, 2004). Daher verwundert es auch nicht, dass die Mehrheit der
Menschen in den indigenen comunidades die kollektiven Reparationen wichtiger als die
individuellen erscheinen (Drha, 2007).

Wie im Unterkapitel 3.4 bereits ausgeführt wurde, ist der Beitrag, den eine
Wahrheitskommission in Bezug auf Versöhnung leisten kann, eher im Sinne eines
ersten Schrittes auf einem langen Weg zu verstehen. Die CVR hat in ihrer
Versöhnungskonzeption drei Ebenen angeführt, auf welchen Versöhnung stattfinden
soll (vgl. 4.1.4): die politische, die soziale und die zwischenmenschliche Ebene. Es
bleibt aber fraglich, ob und welchen Beitrag einen Wahrheitskommission insbesondere
in Bezug auf die zwischenmenschliche Ebene leisten kann.
Die nationale Versöhnung setzt einen politischen und gesellschaftlichen Willen
voraus, welcher in Peru nur teilweise zu sehen ist. Es hat in dem einen oder anderen
Bereich Fortschritte gegeben, welche auch gewürdigt werden sollen – denn auch der
weiteste Weg beginnt mit dem ersten Schritt.

- 90 -
5. Fragestellung und Forschungsaufenthalt in Peru

5.1 Fragestellung
Knapp 17.000 Menschen gaben der CVR ihre Testimonios. Diese Menschen waren
Opfer der politischen Gewalt in Peru geworden (vgl. 3.3.2), viele von ihnen waren
mehrfach, und oft über einen langen Zeitraum hinweg traumatischen Situationen
ausgesetzt (vgl. 2.1). Um die Wahrheit zu finden und aufzuzeigen, was vorgefallen war,
aber auch um die Öffentlichkeit aufzuklären, die Geschichte aufzuarbeiten und in der
Hoffnung Entschädigung zu erhalten, sprachen sie über ihre Erfahrungen.
Mich interessierte, was es für die Zeugen bedeutete, vor Mitarbeitern der CVR und
teilweise auch vor der Öffentlichkeit über diese dramatischen und schmerzhaften
Erfahrungen zu sprechen.
Hierbei gab es mehrere Aspekte, die mir bedeutsam erscheinen:
 Die Menschen, die vor der Wahrheitskommission aussagten, taten dies aus
unterschiedlichen Motiven heraus. Welche Erwartung hatten sie an die
Kommission? Welche Erwartungen wurden erfüllt, welche enttäuscht?
 Wie wird das Ereignis des Testimonio-Gebens von ihnen bewertet und welche
Bedeutung hat es heute in ihrem Leben?
 Verschiedene Autoren (vgl. Becker, 2006, Herman, 1992) haben darauf
hingewiesen, dass insbesondere die öffentliche Anerkennung der Wahrheit für
die Opfer bedeutsam ist und als solche auch eine Heilungsperspektive beinhaltet
(vgl. 3.6.). Fühlen die Opfer in Peru heute mehr Anerkennung, für das, was
ihnen widerfahren ist? Fühlen sie, dass die Mauer des Schweigens durch die
Arbeit der CVR durchbrochen werden konnte?
 In Bezug auf Trauma wird immer wieder die Bedeutung des „über das Trauma
Sprechens“ diskutiert. Im Kontext einer Wahrheitskommission steht – ohne
einen begleitenden therapeutischen Prozess – die Geschichte des eigenen Leides
im Mittelpunkt. Wie im Unterkapitel 3.3.2 dargestellt, kann das Testimonio-
Geben einen ersten Schritt in Richtung Heilung bedeuten, genauso kann es aber
zu einer Retraumatisierung oder Reviktimisierung führen (vgl. Hayner, 2001).
Wie wurde das Erzählen, das Testimonio-Geben von den Betroffenen erlebt?
Hat sich für sie dadurch etwas verändert?

- 91 -
 Mark Freeman und Priscilla B. Hayner (2003) sehen den Aspekt der
„Versöhnung“ kritisch: Sie beschreiben ein gewisses Potential der
Wahrheitskommissionen zu einer Versöhnung auf der politischen Ebene und
somit auf nationalem Niveau beizutragen. Die Versöhnung auf der
zwischenmenschlichen Ebene ist sehr viel komplexer und schwieriger zu
erreichen (vgl. auch 3.4). Wie sehen die Menschen selbst den Aspekt der
„Versöhnung“, was verstehen sie darunter? Konnte die Kommission ihrer
Meinung nach zur Versöhnung beitragen?

Diesen Fragen wollte ich während meines dreimonatigen Forschungsaufenthaltes in


Peru, der im Folgenden mit seinen verschiedenen Stationen kurz dargestellt werden soll,
nachgehen.
Im Vordergrund standen persönliche Gespräche mit Betroffenen und
Literaturrecherche vor Ort. Am 18. Juni 2006 reiste ich nach Peru. Bereits nach einer
knappen Woche machte mir Carola Falconí von der Menschenrechtsorganisation
COMISEDH (Comisión de Derechos Humanos) das Angebot, zwei ihrer Mitarbeiter bei
deren Arbeit in dem Bergdorf Lucanamarca in der Andenregion Ayacucho zu
begleiteten. Ayacucho war die am stärksten von der politischen Gewalt betroffene
Region und Lucanamarca ein Dorf, das durch eines der größten Massaker von Seiten
Sendero Luminosos in die Aufmerksamkeit der CVR gerückt war. Ich nahm diese
einmalige Chance wahr, und zwei Tage später befand ich mich schon auf der Reise in
das abgeschiedene Dorf. Da die meisten Interviews, die dem empirischen Teil dieser
Arbeit zu Grunde liegen, mit Bewohnern Lucanamarcas geführt worden sind, sollen die
Geschichte und aktuelle Situation des Dorfes geschildert werden, ebenso wie
persönliche Eindrücke und Erfahrungen, die ich in Lucanamarca machen durfte.
Im Anschluss daran möchte ich noch einen kurzen Einblick in die weiteren
Aktivitäten während des Forschungsaufenthaltes in Peru geben.

5.2 Santiago de Lucanamarca


Lucanamarca liegt auf 3.500 Meter Seehöhe in einer kargen Region, wo die Vieh- und
Landwirtschaft die Lebensgrundlage der Bevölkerung darstellen. Zum Hauptort, wo
sich auch eine Schule (primaria und secundaria) und das Gemeindeamt befinden,
gehören sieben kleine Dörfer (anexos), welche zum Teil noch nicht über Elektrizität

- 92 -
verfügen; ein anexo kann nur zu Fuß erreicht werden. In Lucanamarca selbst gibt es seit
2001 Strom und ein Münztelefon. Der Großteil der ca. 3.000 Bewohner lebt unter der
Armutsgrenze, was nach peruanischem Standard bedeutet, dass den Menschen weniger
als zwei US-Dollar am Tag zum Leben zur Verfügung stehen (COMISEDH, 2002). Die
Muttersprache in der Region ist Quechua, aber vor allem die Bauern, die Handel mit der
Küste betreiben bzw. die Bewohner, die länger an der Küste gearbeitet haben, sprechen
auch gut Spanisch. In den Schulen wird ebenfalls auf Spanisch unterrichtet, weshalb vor
allem die jüngeren Menschen die Sprache beherrschen.

Abb. 7: Lucanamarca

Lucanamarca ist durch das größte Massaker, das von Seiten Sendero Luminosos verübt
wurde, zu trauriger Berühmtheit gelangt. Bereits Ende der 70er Jahre kamen Lehrer und
Studenten der Universität von Huamanga, an welcher Abimael Guzmán lehrte (vgl.
1.1.2), in die Gegend, um Propaganda für Sendero Luminoso zu machen. 1982 trafen
die Kameraden „Omar“ und „Carla“ in Lucanamarca ein, und in einer
Gemeindeversammlung ernannten sie die ortsansässigen Brüder Olegario, Nicanor und
Gilber Curitomay zu den lokalen Führern Senderos (CVR, 2003). Zwischen September
1982 und Februar 1983 gab es Enteignungen (arrasamientos) durch Sendero Luminoso,
und einige Bauern wurden dazu gezwungen, Teile ihres Besitzes zu „spenden“, welche
dann unter der restlichen Bevölkerung aufgeteilt wurde. Während diese Verteilung der
Güter anfänglich Teile der Bevölkerung mit Sendero sympathisieren ließ, wuchs mit der
Zeit der Widerstand:
„Sie [die Bewohner] waren unzufrieden wegen des Missbrauches und der Art und
Weise, in welcher Sendero sie kontrollierte: [die Senderistas] verboten ihnen, den
Distrikt zu verlassen, weshalb die Bewohner nicht mit ihrem Vieh handeln konnten;

- 93 -
ihr Vieh und das der comunidad war ihnen weggenommen worden. Die
Dorfautoritäten waren ersetzt worden und lebten nun in ständiger Gefahr. Der Tod
einiger comuneros durch die Senderistas und die schwerwiegenden ökonomischen
Nachteile, welche die Maßnahmen der Senderistas verursachten, veranlassten die
Bevölkerung, sich gegen Sendero zu organisieren […].“ (Bewohner Lucanamarcas,
zitiert nach Falconí, Jiménez & Alfaro, 2007, Übers. d. Verf.).

Diese Ereignisse führten dazu, dass die Dorfautoritäten ein Komitee zur Verteidigung
Lucanamarcas gründeten (COMISEDH, 2002). Im Februar 1983 gab es in den
benachbarten Gemeinden Huancasancos und Sacsamarca einen Aufstand gegen Sendero
Luminoso, der als Konsequenz auch die Polizei in die Gegend brachte. Am 23. Februar
kam es zu einem Zusammenstoß zwischen der Polizei und den Senderistas und 31 von
ihnen wurden getötet; einige stammten aus der Gegend (COMISEDH, 2002).
Olegario Curitomay befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf der Flucht, wurde
aber am 27. März 1983 von Mitgliedern des Verteidigungskomitees aufgespürt und auf
den Hauptplatz in Lucanamarca gebracht.
„An diesem Platz attackierten ihn die versammelten Dorfbewohner mit Steinen und
Hacken, dann zündeten sie ihn an und schlussendlich töteten sie ihn mit einer
Feuerwaffe. Für die Mehrheit der Zeugen war der Tod von Olegario Curitomay
ausschlaggebend für die Rache Sendero Luminosos an der Bevölkerung
Lucanamarcas.“ (CVR, 2003, Band V, S. 43, Übers. d. Verf.).

Sechs weitere Senderistas erfuhren ein ähnliches Schicksal, und die Bevölkerung
Lucanamarcas, die eine Rache von Seiten Senderos vorausahnte, schickte nach Hilfe
durch das Militär.
Als das Militär am 5. April 1983 eintraf, hatte das blutige Massaker schon
stattgefunden: Am Sonntag, dem 3. April erreichte eine Truppe von ca. 80 Senderistas
Lucanamarca und tötete mit Macheten, Äxten und Schusswaffen auf grausame Art und
Weise 69 Personen, unter ihnen Frauen und Kinder (CVR, 2003).
Das Massaker von Lucanamarca wurde von der Führungsebene Sendero Luminosos
geplant, um ein Exempel zu statuieren. Guzmán selbst sagte im so genannten „Interview
des Jahrhunderts“ (La Entrevista del Siglo):
„Auf Grund […] der reaktionären Handlungen des Militärs antworteten wir
durchschlagend mit einer Aktion: Lucanamarca, weder sie noch wir werden sie [die
Aktion] vergessen, natürlich, weil dort sahen sie eine Antwort, die sie sich nicht
erwartet hatten; dort wurden mehr als 80 Menschen zermalmt, das ist die Realität
[…] ein überzeugender Schlag, um sie zu zügeln, um ihnen zu zeigen, dass es nicht
so leicht war; […] dort war die Hauptsache, dafür zu sorgen, dass sie verstehen, […]
dass wir zu allem bereit waren, zu allem […]“ (Guzmán im Interview für die
Zeitung El Diario, 1988, zitiert nach CVR, 2003, Band V, S. 45, Übers. d. Verf.)

- 94 -
Am Morgen nach dem Massaker wurden die Eltern Curitomays in einem Racheakt von
der Bevölkerung ermordet. Einige Zeit nach diesen Ereignissen errichtete man in
Lucanamarca eine Polizeistation.
„Die Bewohner glaubten, dass ihre Albträume nun ein Ende fänden, aber der
Missbrauch ihnen gegenüber setzte sich fort. Nach dem Massaker durch Sendero
Luminoso waren es die sinchis [eine Spezialeinheit der Polizei], die raubten, Frauen
vergewaltigten und viele Personen umbrachten.“ (COMISEDH, 2002, Übers. d.
Verf.)

Es kam in den folgenden Jahren immer wieder zu Zusammenstößen zwischen


Senderistas und den sinchis, aber auch mehrere unbeteiligte Personen starben unter
nicht geklärten Umständen. 1996 wurde die Polizeistation wieder geschlossen (CVR,
2003).
2002 beschloss die CVR die Exhumierung der Opfer des Massakers, die in acht
Grabstätten, zum Teil nahe der Stelle, an welcher sie starben, begraben wurden. Nach
der Exhumierung wurden die sterblichen Reste nach Lima in ein Labor gebracht und
identifiziert. Am 20. Dezember hielt man in Lima eine Messe für die Verstorbenen ab
(CVR, 2003). Nach der Übergabe der sterblichen Überreste der Opfer des Massakers an
ihre Angehörigen stattete der damalige Präsident Alejandro Toledo, als erster Präsident
Perus, dem Dorf einen Besuch ab, um den Opfern des 3. April 1983 Anerkennung zu
zollen. Am 10. Jänner 2003 erfolgte die Beisetzung der Verstorbenen am neu
errichteten Friedhof in Lucanamarca (http://www.cverdad.org.pe/informacion/
nprensa/notas.php?idnota=114).

Abb. 8: Verabschiedung der Opfer des Massakers, Quelle: COMISEDH

- 95 -
Im Oktober 2006 wurden Abimael Guzmán und andere Mitglieder der Führungsebene
Sendero Luminosos für das Massaker in Lucanamarca zu lebenslanger Haft verurteilt
(Winter, 2007).

5.2.1 Forschungsaufenthalt in Lucanamarca


An dieser Stelle möchte ich einige eigene Eindrücke meines Aufenthaltes in
Lucanamarca zusammenfassen; Eindrücke einer anderen Kultur, die durch meine
Augen vielleicht auch dem Leser und der Leserin ein besseres Verständnis für die
Lebenswelt der Bevölkerung dieses Dorfes vermitteln.
„Wie kommt man nach Lucanamarca?
Fünf Stunden Autofahrt auf der Panamericana, der Autobahn, die sich der gesamten
Küste entlang zieht, dann Übernachtung in Palpa, und heute, Donnerstag, weitere
sechs Stunden unasphaltierte Andenstraße. Um die Anreise kurz
zusammenzufassen: Rumpeln, hupen und leichter Anflug von Höhenkrankheit und
stundenlange Fahrt über ein Hochplateau, wo außer hin und wieder ein paar Alpacas
und dem wunderschönen Himmel nichts zu sehen ist.“ (Eintrag aus dem
Feldtagebuch, 29. 6. 2006)

Abb. 9: Hochebene auf der Reise nach Lucanamarca

Gleichzeitig mit meiner Ankunft begann ein Projekt der NRO COMISEDH, welches
durch den Deutschen Entwicklungsdienst (DED) finanziert, und von Edilberto Jiménez
geleitet wurde. Außer ihm waren noch zwei weitere Mitarbeiter für das Projekt „Hacia
la justicia, la paz y la reconciliación: Reconstrucción de la memoria histórica en el
distrito de Santiago de Lucanamarca“ (In Richtung Gerechtigkeit, Frieden und
Versöhnung: Rekonstruktion der historischen Erinnerung im Distrikt Santiago de
Lucanamarca) tätig. Ziel des Projektes war es, durch das Finden der gemeinsamen

- 96 -
Geschichte das soziale Netz innerhalb des Dorfes wieder zu stärken. Parallel dazu
sollten auch Mitarbeiter von CAPS in regelmäßigen Abständen das Dorf besuchen und
psychologische Beratung anbieten, sowie Workshops abhalten.
Obwohl ich im Jahr 2005 ein Auslandssemester in Peru verbracht hatte, war das
Leben in dem Dorf nicht mit meinen vorherigen Erfahrungen vergleichbar. Es war für
mich eine große Unterstützung, dass die Mitarbeiter von COMISEDH mich mit
Dorfbewohnern bekannt machten und mir grundsätzliche Dinge über die andine Kultur
und gewisse Verhaltensregeln erklärten. Umgekehrt war ich natürlich alleine schon
durch mein Aussehen eine Exotin in dem kleinen Dorf, was in den Menschen sowohl
Misstrauen als auch Neugier weckte.

Abb. 10: Frauen und Kinder in Lucanamarca

Ich möchte an dieser Stelle eine kurze Szene schildern, die einen kleinen Einblick in
den Kontakt zwischen mir und den Bewohnern des Dorfes gibt; in diesem Fall mit einer
jungen, tauben Frau:
„Während wir mit der Frau [ich hatte Edilberto zu einem „Hausbesuch“ bei einer
älteren Dame begleitet] sprachen, saßen wir in ihrem Lehmziegelhaus auf Fellen am
Boden. Dadurch, dass es nur ein kleines Fenster gab, war es recht dunkel und
zwischen meinen Füßen auf dem Lehmboden liefen drei kleine Kücken herum. Über
meinem Kopf hing eine Wäscheleine mit Kleidung und einem großen Stück Fleisch.
Die anderen Frauen des Haushalts saßen draußen in einer kleinen Lehmhütte um ein
Feuer herum. Die Tür stand offen, damit mehr Licht hereinkommen konnte, und die

- 97 -
junge Frau [sie ist taub] sah mich da sitzen. Sie winkte, ich solle rauskommen, und
gegen Ende des Gesprächs kam sie selbst herein und drückte mir ein Säckchen mit
gerösteten Bohnen in die Hand. Danach wartete sie ungeduldig, bis ich herauskam,
und zog mich an der Hand bis zu ihrem Haus, wo wohl ihre Großmutter vorne
heraußen am Boden hockte und eben jene Bohnen röstete. Sie wollte mir ihr Haus
von innen zeigen und die Großmutter schickte sie etwas holen. Sie kam mit einem
Stück Fleisch zurück, das ich dann freundlich ablehnte (die beiden sprachen nur
Quechua). Am Schluss fragte mich die Großmutter noch: „Tanta, tanta?“ – mein
erstes Wort auf Quechua, dass ich dank der Bäckerei gelernt hatte: „Brot.“ Es ist
üblich, wenn man hier ein Haus besucht, dass man Brot oder ein anderes Geschenk
mitbringt.“ (Eintrag aus dem Feldtagebuch, 2. 7. 2006)

Die Großmutter, die junge taube Frau und deren kleinen Sohn habe ich während meiner
Zeit im Dorf noch zweimal besucht. Obwohl wir uns kaum verständigen konnten,
entstand ein fröhlicher Austausch mittels Blicken, Gesten und Lachen. Bei den
Besuchen brachte ich dann einmal Brot und ein weiteres Mal einen kleinen Sack mit
Zucker mit, wie es mich auch Edilberto Jiménez gelehrt hatte.
Ich bemühte mich, einige Sätze auf Quechua zu erlernen, da sich ein paar
gestammelte Wörter als guter Eisbrecher erwiesen. Meine Versuche, ihre Sprache zu
sprechen, wurden von den Dorfbewohnern oft mit Gelächter quittiert und stellten einen
Anhaltspunkt für Gespräche dar.

Die Kontaktaufnahme mit Betroffenen


Über die Mitarbeiter von COMISEDH und den Präsidenten des Angehörigenverbandes
erhielt ich eine Liste mit Namen von Personen, die der CVR Testimonio gegeben hatten
und zum Teil auch gut Spanisch sprachen. Diese Personen suchte ich dann in ihren
Häusern auf und bat sie um ein Interview. Ich traf jede/n meiner InterviewpartnerInnen
mindestens zweimal: das erste Mal, um anzufragen, ob sie bereit wären mit mir zu
sprechen, das zweite Mal zum Gespräch selbst. Die Interviews (bis auf eines) fanden bei
den Leuten zu Hause statt, was den Vorteil hatte, dass sich meine
GesprächspartnerInnen in vertrauter Umgebung befanden. Meist setzten wir uns vor
dem Haus auf ein Bänkchen oder ein Schafffell, um sich zu unterhalten. Bei meinen
Besuchen brachte ich üblicherweise Brot und Zucker mit. Im Gegenzug wurde ich oft
zum Essen – Kartoffeln und Käse oder eine Suppe – eingeladen, wie z. B. auch bei
Marcilino und seiner Frau:
„Nach meinem Gespräch mit Marcilino wollte ich mich verabschieden. Aber er
bestand darauf, dass ich mit ihm und seiner Frau Suppe esse. Das war für mich eine
Herausforderung; grau und etwas schleimig. Ich wollte ihm erklären, dass ich nicht

- 98 -
soviel essen könne, weil ich gerade gefrühstückt hätte. Aber er sagte nur, die Suppe
würde mir gut tun und ich solle essen. Währenddessen belästigte mich ein Huhn, das
mit mir aus meiner Schüssel essen wollte. Sehr amüsiert habe ich mich aber bei der
Unterhaltung mit Marcilino und seiner Frau (die kaum Spanisch spricht). Sie haben
mir ein bisschen Quechua beigebracht – unter anderem die Sätze „Ich hab dich lieb‟
und „Ich liebe Dich‟ […].“ (Eintrag aus dem Feldtagebuch, 3. 7. 2006)

Insgesamt sechs Tag verbrachte ich in den verschiedenen anexos, wo die Mitarbeiter
von COMISEDH ihr Projekt vorstellten. Dörfer zu besuchen, die weder über Elektrizität
noch über fließendes Wasser verfügen, die Abgeschiedenheit, der fehlende Zugang zu
Information, der niedrige Bildungsstand der Bevölkerung und die Mühe, mit welcher
die Produkte fürs tägliche Überleben erzeugt werden, waren neue Erfahrungen für mich.

Schwierige Beziehungen
Die Risse im sozialen Gefüge des Dorfes wurden für mich bald sichtbar; immer wieder
hörte ich Schuldzuweisungen: Es ging um gestohlenes Vieh und Ackerland, aber auch
um die Ermordung von Dorfbewohnern durch andere Dorfbewohner. Neid war ein sehr
vorherrschendes Thema: Jeder fühlte sich benachteiligt und zurückgesetzt. Die
Verstrickung von Schuld, Opfer- und Täterrollen, war mir nicht bewusst gewesen, bis
ich sie in Lucanamarca erlebte.
Immer wieder wurde die Angst davor, dass Sendero sich neu formieren könnte, von
den Menschen zum Ausdruck gebracht. Obwohl nun schon viele Jahre vergangen sind,
ist die Furcht immer noch präsent.

Abb. 11: „Es lebe Präsident Gonzalo“, Stein mit Sendero-Propaganda, 2006

- 99 -
5.3 In Lima
Die Zeit in Lima nutzte ich zur Literaturrecherche in der ausgezeichneten Bibliothek der
Universität Católica sowie im Instituto de Estudios Peruanos (IEP). Ich erhielt
außerdem eine Genehmigung zur Benutzung des Archivs der CVR, welches seit 2003
von der Volksanwaltschaft (Defensoría del Pueblo) verwaltet wird. Dort befinden sich
die Transkriptionen sämtlicher Testimonios, Videoaufzeichnungen der öffentlichen
Anhörungen, Fallgeschichten, historische Informationen, etc.
Von 22. – 24. August 2006 nahm ich an dem Seminario internacional: Condiciones
para lograr la reconciliación en el Perú („Internationales Seminar: Konditionen um die
Versöhnung in Peru zu erreichen“) teil. Nationale sowie internationale Experten, wie z.
B. Salómon Lerner, der ehemalige Vorsitzende der CVR, die chilenische Psychologin
Elisabeth Lira und die US-amerikanische Anthropologin Kimberley Theidon
beleuchteten das Thema Versöhnung auf der Grundlage der Versöhnungskonzeption der
CVR aus unterschiedlichen Blickwinkeln.
Obwohl ich mich mit Hilfe von NRO´s und Angehörigenverbänden nach meiner
Rückkehr aus Lucanamarca um weitere Interviews bemühte, verstrich mehr als ein
Monat bis ein Interview in Lima zustande kam. Immer wieder wurde ich versetzt,
musste warten – was allerdings in Peru durchaus nicht unüblich ist. In der letzten
Woche meines Aufenthalts erhielt ich eine Liste mit mehreren Personen in Lima, die
Testimonio gegeben hatten, aber die Zeit ließ keine weiteren Treffen zu.

- 100 -
6. Fallbeschreibungen

In diesem Kapitel sollen die Geschichten und die Einstellungen zur CVR von drei
meiner InterviewpartnerInnen näher betrachtet werden. Bei den ersten beiden Personen
handelt es sich um zwei Männer, Timoteo H. und Honorio Curitomay23, aus
Lucanamarca. Aus ihren Erzählungen wird deutlich, wie schwer die Folgen des
Konflikts auch heute noch wiegen und wie sich die Vorfälle von damals auf das tägliche
Zusammenleben auswirken. Ich möchte an diese Stelle auf Martín-Baró (vgl. 2.2.3)
verweisen, der die Störungen der zwischenmenschlichen Beziehungen als Symptom
eines psychosozialen Traumas betrachtet.
Die dritte Beschreibung steht vor einem gänzlich anderen Erfahrungshintergrund als
die ersten beiden: Doris Caqui ist die Präsidentin einer Angehörigenorganisation. Sie
musste aus ihrem Heimatort vor dem Militär fliehen und sich in Lima ein neues Leben
aufbauen. Sie war nicht, wie die Menschen von Lucanamarca, weitgehend von
Information abgeschnitten, sondern hat selbst für die Einsetzung einer
Wahrheitskommission gekämpft.
Die Beschreibungen stützen sich auf die mit den Personen geführten Interviews und
Gespräche im Zeitraum zwischen dem 10. Juli und dem 1. September 2006, sofern nicht
anders vermerkt. Alle drei Interviews wurden auf Spanisch geführt.

6.1 Timoteo

6.1.1 Biografischer Hintergrund


Timoteo ist von Beruf Lehrer, geboren und aufgewachsen in Lucanamarca. Er ist 50
Jahre alt, verheiratet und hat vier Kinder. Im Laufe der Jahre hat er immer wieder
verantwortungsvolle Aufgaben im Dorf übernommen. Er war einer der Mitbegründer
des Verteidigungskomitees in Lucanamarca, und als Lehrer erledigt er auch heute noch
viele Schreibarbeiten für andere Dorfbewohner.

23
Beide Männer haben vor der CVR Testimonio abgelegt und sind namentlich bekannt. Da es mit
Timoteo H. keine Vereinbarung bzgl. der Nennung seines Namens gibt, wurde die Form einer
Teilanonymisierung gewählt, um trotzdem größtmögliche Transparenz zu gewährleisten.

- 101 -
6.1.2 Die Umstände des Interviews
Timoteos Namen hatte ich vom Präsidenten des örtlichen Angehörigenverbandes
erhalten, und man beschrieb mir den Weg zu seinem Haus. Ich traf Timoteo auch
tatsächlich an, und wir vereinbarten ein Treffen für den nächsten Tag. Als ich zur
vereinbarten Stunde eintraf, war das Haus leer. Ich wartete, aber es kam niemand. Ich
kehrte daher später noch einmal zurück und traf Timoteos Frau und einen seiner Söhne
an. Sie erklärten mir, dass Timoteo wegen eines Vorfalls zu einer kurzfristig
einberufenen Sitzung in die Gemeinde geholt worden war. Seine Frau schlug vor, ich
sollte am nächsten Tag um sieben Uhr in der Früh kommen, da wäre er sicher zu Hause.
So geschah es dann auch. Das Interview fand in einem Zimmerchen statt, in welchem
Timoteo, Lehrer von Beruf, normalerweise Schreibarbeiten für andere Dorfbewohner
erledigt. Im Zimmer hingen García-Wahlplakate24 an den Wänden und auf dem Tisch
stand Timoteos Schreibmaschine. Timoteo eröffnete das Gespräch mit den Worten: „Sé
lo que pasó, cómo pasó y porqué pasó.“ („Ich weiß was passiert ist, wie es passiert ist
und warum es passiert ist.“). Timoteo war es wichtig, sich als Mann mit Bildung zu
präsentieren; er sprach davon, was er gelesen hatte und dass er verstünde, was Dialektik
sei. Einerseits fühlte ich mich durch sein lehrerhaftes Auftreten anfangs
eingeschüchtert, anderseits hatte ich manchmal das Bedürfnis, ihn zu korrigieren oder
ihm zu widersprechen; speziell als er über die CVR, das Programm „Juntos“25 und die
Lügen der „anderen“ sprach. Ich nahm meine eigenen Gefühle in der Interviewsituation
wahr. Ich erinnerte mich selbst daran, dass ich nicht gekommen war, um
irgendjemanden zu belehren, sondern um etwas von der Sichtweise und Lebensrealität
meiner InterviewpartnerInnen zu erfahren. Spürbar war während des ganzen Gesprächs
Timoteos ehrliches Interesse am Wohlergehen seines Dorfes.

6.1.3 Während der Zeit der politischen Gewalt


Der Interviewleitfaden (vgl. 7.1) enthielt keine direkte Frage nach den Erlebnissen
während der Zeit der politischen Gewalt. Alle, mit Ausnahme von Timoteo, berichteten
aber trotzdem, was ihnen damals widerfahren war. Dafür gab es zwei Gründe: Zum

24
Timoteo H. zeigte sich als überzeugter Anhänger von Alan García, der im April 2006 zum zweiten Mal
zum Präsidenten Perus gewählt worden war. Das Interview wurde kurz vor Garcías Amtsantritt im Juli
2006 geführt (vgl. 1.4).
25
Durch das Programm „Juntos“ erhalten allein erziehende Mütter umgerechnet etwa 25,-€ im Monat als
Unterstützung (http://www.juntos.gob.pe/intro.php).

- 102 -
einen hatten einige Personen das Bedürfnis, mich wissen zu lassen, was ihnen
geschehen war. Zum anderen war ich nicht die erste Person, die sich für ihre Geschichte
interessierte. Nach der CVR waren Reporter und NRO´s gekommen und hatten sie um
ihre Geschichte gebeten, wodurch die Annahme im Raum stand, auch ich wolle, dass
sie mir ihr Testimonio wiedergäben.
Timoteo hatte aber offensichtlich nicht dieses Bedürfnis. Er sagte im Laufe des
Interviews mehrmals, man solle die Vergangenheit ruhen lassen. Timoteo berichtete,
dass er Mitglied des Verteidigungskomitees gewesen war. Die Schuldigen des
Konfliktes waren für ihn ganz klar die Subversiven, wie er die Mitglieder Senderos
nannte. Nur einige wenige aus Lucanamarca wären dabei gewesen, aber sie hätten das
Dorf unter Druck gesetzt, weswegen man sich zur Wehr setzen musste. Die Ursache für
die Entstehung Sendero Luminosos sah er in der Abwesenheit des Staates im andinen
Raum.
Durch das Massaker hatte er selbst keine direkten Angehörigen verloren, aber er
betonte, dass ihm – wie dem ganzen Dorf – ein ökonomischer Schaden zugefügt worden
war.
Mit der Polizeistation war es nicht besser geworden, auch die sinchis haben dem
Dorf geschadet. Er sprach mehrmals über die Gefahr, die von beiden Seiten
ausgegangen war: Kooperierte man mit der Staatsgewalt, so wurde man von Sendero
bedroht und umgekehrt.

6.1.4 Zur CVR


Wie ich während aller Gespräche und Interviews in Lucanamarca feststellen konnte,
sind Rolle, Funktion und Nutzen der CVR sehr unklar. So fragte sich auch Timoteo,
warum die Wahrheitskommission nicht in dem Moment kam, als all die schrecklichen
Dinge passierten. Sie kam viele Jahre später, und weckte alte Erinnerungen: „La
Comisión de la Verdad, [...] es un organismo para de repente…hacer recordar más que
nada [...]. Ya todo estaba olvidado, ya son diez, veinte años. Imagínate, después de
veinte años viene y luego, hace recordar. Para mí eso no..., yo no estoy de acuerdo.”
(„Die Wahrheitskommission ist ein Organismus […] der, mehr als alles andere, die
Erinnerungen wieder wach ruft […]. Es war schon alles vergessen, es waren schon
zehn, zwanzig Jahre [vergangen]. Stell dir vor, zwanzig Jahre später kommt sie, und ruft

- 103 -
die Erinnerungen wieder wach. Für mich ist das nicht …, nein, ich bin nicht
einverstanden damit.“).
Timoteo war der Meinung, dass das Geld, welches in die Wahrheitskommission
floss, besser in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Landwirtschaft eingesetzt hätte
werden sollen. Er sprach sich deutlich für die kollektiven Reparationen aus. Die
individuellen Reparationen, welche die CVR vorschlägt, hielt er für negativ. Sie würden
eine Spaltung im Dorf herbeiführen. Er war regelrecht erbost über die Beihilfe aus dem
Programm „Juntos“, welches allein erziehende Mütter unterstützt. Timoteo hielt dieses
Geld für eine Art von individueller Reparation, welches aber von den Müttern falsch
eingesetzt werde. Das Geld sollte besser für Medikamente und Unterrichtsmaterialien
verwendet werden, da es die Doktoren und die Lehrer seien, die für Gesundheit und
Bildung sorgen.
Auch die Exhumierungen kritisierte Timoteo: Geld und Energie sollten in die
Zukunft investiert werden, denn die Toten seien tot – sie würden keinen Nutzen mehr
daraus ziehen, dass man sie ausgräbt und auf den Friedhof bringt.
Auf die Frage nach seinen Motiven, der Wahrheitskommission sein Testimonio zu
geben, sagte er, man habe ihn gebeten, Testimonio zu geben. Außerdem habe er
gewusst, dass insbesondere die Angehörigen der Subversiven in ihren Testimonios
gelogen hätten. Das hätte er richtig stellen wollen.

6.1.5 Zum Thema Versöhnung


„Entonces para mí, la reconciliación, no hay.“ („Für mich gibt es keine Versöhnung.“)
sagte Timoteo. Die CVR hätte dadurch, dass sie all die bereits vergessenen
Erinnerungen wach gerufen habe, neuerlich einen Konflikt in Gang gebracht. Für ihn
hatte die Wahrheitskommission nicht zur Versöhnung beigetragen, sondern das
Gegenteil erreicht. Die Familienangehörigen der Senderistas hätten in ihren
Testimonios gelogen: „Otros….más que nada los, los familiares de los subversivos han
mentido, han mentido, esa mentira han recogido y ellos han creido.“ („Andere, vor
allem die Angehörigen der Subversiven, haben gelogen; sie haben gelogen und diese
Lügen haben sie [die Mitarbeiter der CVR] entgegengenommen, und sie haben sie
geglaubt.“). Timoteo war das Sprechen über die Vergangenheit unangenehm. Er stellte
klar, dass er gegen die Subversion gekämpft hatte. Er war auf der Seite des Rechts – mit
wem sollte er sich versöhnen? Er hat nichts Unrechtes getan, sondern das, was

- 104 -
notwendig war. Er sagte, diejenigen, die Fehler begangen haben – die Subversiven und
ihre Angehörigen – müssten Reue zeigen.
Wie fast alle Personen, die ich interviewt habe, bezog Timoteo die Versöhnung auf
die unmittelbaren Beziehungen der Dorfbewohner zueinander.
Timoteo setzt sich für den Fortschritt der comunidad, für die Zukunft des Dorfes ein.
Die Vergangenheit ist dafür nur hinderlich.

6.2 Honorio

6.2.1 Biografischer Hintergrund


Honorio Curitomay ist Mitte vierzig, verheiratet und Vater von vier Kinder. Er lebt mit
seiner Familie in bescheidenen Verhältnissen und verrichtet Gelegenheitsarbeiten.
Seine Eltern zogen nach Lucanamarca als er ein Kind war, aber ab dem neunten
Lebensjahr wurde er in Ica und dann in Lima auf die Schule geschickt. Während er in
Lima war, schlossen sich seine Brüder in Lucanamarca Sendero Luminoso an und
bekamen Führungsrollen im Dorf zugeteilt. In den blutigen Wirren des Konfliktes
wurden zwei seiner Brüder und seine Eltern umgebracht. Honorio meinte, wäre er zu
jener Zeit im Dorf gewesen, so hätte er sich wahrscheinlich den Senderistas
angeschlossen.

6.2.2 Die Umstände des Interviews


Am Tag nach meinem Gespräch mit Timoteo hatte ich ein Treffen mit Honorio
vereinbart. Während des Interviews fand ich heraus, wie die Geschichten der beiden
Männer zusammenhängen und welche Auswirkungen sie auch heute noch haben.
Honorio war der einzige, der nicht bei sich zu Hause interviewt werden wollte, weshalb
wir uns in meiner Unterkunft trafen. Honorio machte auf mich einen traurigen,
resignierten Eindruck. Er sprach mit sehr leiser Stimme und hielt den Blick gesenkt. Er
erzählte mit vielen Bildern und schrecklichen Details von Ereignissen, die sein Leben
verändert haben, bei denen er aber nicht persönlich anwesend war. Er weckte in mir
Mitgefühl, aber auch Hilflosigkeit und Traurigkeit.

- 105 -
6.2.3 Während der Zeit der politischen Gewalt
Honorio war in Lima als die Gewalt in Lucanamarca ihren Höhepunkt erreichte. Seine
Brüder wurden von Mitgliedern des Verteidigungskomitees von Lucanamarca ermordet,
ebenso wie seine Eltern. Honorio erklärte, dass seine Brüder von Sendero verführt
worden waren; sie wären jung gewesen und hätten für den Fortschritt, für ein besseres
Leben gekämpft. Er schilderte mir, wie zuerst einer seiner Brüder und dann der andere
vom Selbstverteidigungskomitee Lucanamarcas ermordet worden sind. Er beschrieb
mir, wie seinem Bruder Olegario die Augen aus den Augenhöhlen traten, wie sein
Fleisch verbrannte, wie er noch immer nicht starb, weil er ein kräftiger, sportlicher
Bursche gewesen war. Und schlussendlich, wie sein Bruder vom Lehrer Timoteo
erschossen wurde.
Dann erzählte er noch, wie seine Eltern hingerichtet wurden; der Vater wurde mit der
Axt erschlagen und die Mutter erhängt. Honorio war weder als seine Brüder starben,
noch als seine Eltern getötet wurden in Lucanamarca und kennt die Ereignisse selbst nur
aus Erzählungen.
Seiner Meinung nach waren die Dorfautoritäten und die Mitglieder des
Verteidigungskomitees schuld am Massaker des 3. April 1983, weil sie es durch ihre
Handlungen provoziert hätten. Die Schuld, die seine Brüder auf sich geladen haben,
stellte er als jugendlichen Enthusiasmus und Verführung durch Seiten Senderos dar.
Honorio kehrte 1983, nach dem Massaker, nach Lucanamarca zurück. Damals,
erzählte er, hätten einige Dorfbewohner versucht, einen Polizisten zu bestechen, damit
dieser ihn umbringe. Stattdessen habe dieser ihn gewarnt. Auch heute noch sei sein
Leben in Gefahr, auch heute noch werde er diskriminiert und marginalisiert, weil seine
Brüder sich Sendero angeschlossen hatten: „Hasta hoy en día estoy olvidado, hasta hoy
en día soy marginado, hasta hoy en día tratan de…de disimularme o darme muerte.“
(“Bis heut bin ich vergessen, bis heute bin ich marginalisiert, bis heute versuchen sie
mich zu ...zu vertuschen oder mich umzubringen.“).
Der Schmerz und das Leid sind für ihn immer präsent. Er sagte: „Yo me siento muy
mal, muy mal. Yo a veces me paralizo, mi cabeza se paraliza. Mis hijitos hacen todo.“
(„Ich fühle mich sehr schlecht, sehr schlecht. Manchmal bin ich wie paralysiert, mein
Kopf ist wie paralysiert. Meine Kinder müssen alles machen.“).

- 106 -
6.2.4 Zur CVR
Vielleicht, meinte Honorio, hilft die CVR ja den Opfern des Massakers, den Opfern, die
durch Sendero starben. Die Familienmitglieder von Senderistas hingegen würden
wahrscheinlich keine Reparationen bekommen. Den Tod seiner Brüder und seiner
Eltern habe er angezeigt, aber für ihn gäbe es keine Gerechtigkeit: „[…] hasta he
esperado la Comisión de la Verdad, pero para los que verdaderamente buscamos
justicia no hay, no hay“ („[..] sogar gewartet habe ich auf die Wahrheitskommission,
aber für die, die wir wahrlich [strafrechtliche] Gerechtigkeit suchen, gibt es keine, gibt
es keine.“).
Hilfe hat er durch die Bibel und den Glauben erfahren, aber auch durch COMISEDH
– wie er betont: „Yo agradezco bastante a COMISEDH [...]. La institución
COMISEDH sí, me dió una mano, me dió psicología, me dió basatante, pero mis
paisanos me siguen odiando.“ („Ich bin COMISEDH sehr dankbar […]. Die
Organisation COMISEDH hat mir die Hand gereicht, sie hat mir Psychologie
[Vermutung: Anerkennung als Opfer, Zuspruch] gegeben, sie hat mir ziemlich viel
gegeben, aber meine Nachbarn hassen mich noch immer.“).

6.2.5 Zum Thema Versöhnung


Eine Versöhnung würde voraussetzen, dass die Schuldigen verurteilt werden, sagte
Honorio. Aber im Gegenteil, die Mörder seiner Brüder hätten gute Arbeit, seien
angesehene Menschen. Er erzählte, dass er immer wieder wegen seiner Familie
beschuldigt werde, selbst ein terruco, ein Terrorist zu sein. Das Vieh und die Güter der
Familie waren ihnen weggenommen worden, weshalb er und seine Familie nun in
bitterer Armut leben müssten.
Am schwersten schien es aber für ihn zu sein, Timoteo so gut wie täglich zu treffen:
„Diariamente me encuentro [con Timoteo], pero qué hago, Dios mio? Cada vez
trauma, trauma, me agacho nomá.s“ („Jeden Tag treffe ich ihn [Timoteo], aber mein
Gott was mache ich? Jedes Mal Trauma, Trauma, ich mache mich einfach klein.“).
Als sein Sohn in Timoteos Klasse kam, nahm er ihn von der Schule, da, wie er sagte,
Timoteo ihm Schaden zugefügt hätte.
Honorio erklärte, dass er am liebsten aus Lucanamarca wegziehen würde, aber seine
Familie wolle das nicht. Außerdem hatte er Angst woanders keine Arbeit zu finden.

- 107 -
Die Geschichten von Timoteo und Honorio verdeutlichen, wie schwierig das
Zusammenleben auf Grund der Vergangenheit ist. Sie zeigen aber auch, wie komplex
die Opfer- und Täterrollen sind: Timoteo hat sein Dorf verteidigt. Sendero stellte eine
lebensbedrohende Gefahr dar. Für Honorio aber ist Timoteo einfach der Mörder seines
Bruders. Seines Bruders, der in seinen Augen ein guter, aber leider irregeführter
Mensch war.
Timoteo möchte sich nicht mehr mit dieser Vergangenheit auseinandersetzten. Er
möchte, dass die Lebensumstände in Lucanamarca sich verbessern.
Honorio hingegen kann auf Grund seiner Geschichte nicht mit der Vergangenheit
abschließen. Sie ist für ihn jeden Tag auf schmerzhafte Art und Weise präsent: Er lebt
zusammen mit den Menschen, die seine Familie umgebracht haben; und er lebt in
Armut, weil diese Menschen ihn um den Familienbesitz gebracht haben.
Die Wahrheitskommission ist daher für beide auch schwierig: Der eine will nicht,
dass die alten Geschichten wieder aufgewühlt werden, der andere befürchtet, dass ihm
die Kommission nicht helfen wird, da seine Familie damals auf der falschen Seite
gestanden hat.

6.3 Doris

6.3.1 Biografischer Hintergrund


Doris Caqui ist Anfang 40, Lehrerin und hat vier Kinder. Sie stammt ursprünglich aus
Cerro de Pasco, einer Stadt in den Zentralanden. 1991 musste sie fliehen und lebt seit
damals in Lima. Sie ist Mitbegründerin und Präsidentin eines Angehörigenverbandes:
Asociación Nacional de Familiares de Desaparecidos, Ejecutados Extrajudicialmente y
Torturados, casos de la Comision Interamericana de Derechos Humanos (ANFADET-
CIDH) (Nationaler Verband der Familienangehörigen von Verschwundenen,
außergerichtlich Exekutierten und Gefolterten; Fälle der Interamerikanischen
Kommission für Menschenrechte).

6.3.2 Umstände des Interviews


Der Kontakt zu Doris Caqui kam über die Angestellte einer befreundeten Familie in
Lima zustande. Der Mann dieser Angestellten war bei den Gefängnismassakern 1986
ums Leben gekommen und der Fall war vor die Interamerikanische Kommission für

- 108 -
Menschenrechte gelangt; sie selbst ist Mitglied in dem Angehörigenverband, der von
Doris Caqui geleitet wird. Ich rief Doris an und sie war sofort bereit zu einem Interview,
allerdings fiel unser Telefonat in die Zeit vor dem dritten Jahrestag des
Abschlussberichtes der CVR, weshalb wir das Treffen auf einen späteren Zeitpunkt
verschieben mussten. Das Gespräch fand in den Räumlichkeiten der
Menschrechtsorganisation APRODEH statt, mit welcher Doris eng zusammenarbeitet.
Doris ist eine gebildete Frau mit viel Energie und Herzlichkeit, die ihre Gedanken klar
formuliert. Sie ist es gewohnt, über ihre Geschichte, die CVR und ihre Organisation, die
sie auch nach außen hin vertritt und repräsentiert, zu sprechen.

6.3.3 Während der Zeit der politischen Gewalt


Am 23. Juni 1986 drangen Soldaten in das Haus von Doris und ihrem Mann ein26.
Doris‟ Mann wurde auf Grund seiner Tätigkeit für die Gewerkschaft verdächtigt, mit
Sendero zu sympathisieren. Doris‟ Mann wurde aus dem Schlafzimmer, wo die beiden
und ihre drei Kinder geschlafen hatten, in das Wohnzimmer gezerrt und
zusammengeschlagen. Die Soldaten nahmen ihn mit; es war das letzte Mal, dass Doris
ihn sah. Am nächsten Tag begann sie, nach ihm zu suchen. Doris erfuhr später von
einem Mitgefangenen, dass ihr Mann in der Kaserne zu Tode gefoltert worden war, was
aber von offizieller Stelle abgestritten wurde. Als all dies passierte war Doris im
zweiten Monat schwanger mit dem vierten Kind; die älteste Tochter war fünf.
In den folgenden Jahren wurde Doris dreimal verhaftet und musste 1991
schlussendlich nach Lima fliehen. Ohne Geld und ohne Arbeit schlug sich Doris
anfangs durch. Immer wieder bekam sie zu hören, dass ihr Mann wohl ein Terrorist
gewesen sei, sonst wäre das nicht geschehen.
Sie fand aber auch andere, denen Ähnliches zugestoßen war. Sie begann wieder als
Lehrerin zu arbeiten und gründete einen Angehörigenverband. Der Fall ihres Mannes
gelangte vor die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte, die eine
Verantwortlichkeit des peruanischen Staates am Tode von Doris‟ Mann feststellte. Bis
heute kämpft Doris darum, etwas über den Verbleib der sterblichen Überreste ihres
Mannes zu erfahren.

26
Das öffentliche Testimonio von Doris Caqui ist online verfügbar unter:
http://www.cverdad.org.pe/ingles/apublicas/audiencias/trans_huancayo03a.php; einige Daten wurden
dem Testimonio entnommen.

- 109 -
6.3.4 Zur CVR
Anders als meine GesprächspartnerInnen in Lucanamarca, denen die Funktion und
Arbeitsweise der CVR meist unklar ist, weiß Doris ganz genau über die CVR Bescheid.
Wie sie sagte, hat sie mit vielen anderen Angehörigen darum gekämpft, dass es eine
solche Kommission geben solle. Die tatsächliche Einsetzung der CVR war für sie ein
großer Triumph. Sie nahm auch an einem öffentlichen Hearing teil: „Era por primera
vez que hablábamos a toda voz. […] a toda voz, con toda la fuerza si se quiere decir,
eh… nuestro dolor, la verdad de los hechos que nos habían ocurrido – por primera vez
teníamos la oportunidad de comunicar a los demás cuál era nuestra situación.“ („Es
war das erste Mal, dass wir in voller Lautstärke sprechen konnten […] in voller
Lautstärke und mit aller Kraft, wenn man so will… [über] unseren Schmerz, die
Wahrheit, über das was uns geschehen ist – zum ersten Mal hatten wir die Gelegenheit
den anderen mitzuteilen, wie unsere Situation war.“). Aber sie sagte auch: „Recordar lo
vivido y contarlo en público era muy doloroso.“ („Das Erlebte zu erinnern und es in der
Öffentlichkeit zu erzählen war sehr schmerzhaft.“). Vor der Einsetzung der CVR hätte
man nur hinter vorgehaltener Hand über die eigene Geschichte sprechen können:
„Hemos sido señalados con el dedo, hemos sido marginados, hemos sido
estigmatizados y hasta ahora seguimos viviendo las secuelas. Los que nos ven en la
televisión no nos dicen son vícitmas, dicen son las, las terrucas.“ („Man zeigte mit den
Finger auf uns, wir sind marginalisiert worden, wir sind stigmatisiert worden und bis
heute leben wir mit den Folgen. Die, die uns im Fernsehen sehen, sagen nicht, dass sind
die Opfer, sie sagen, dass sind die Terroristinnen.“).
Doris sagt, dass die Wahrheitskommission den Angehörigen und Opfern neue Räume
eröffnet hat, dass es sehr viel mehr Anerkennung für ihr Schicksal gibt, dass die CVR
ihnen Kraft und Auftrieb gegeben hat.
Als ich sie fragte, was die CVR besser oder anders hätte machen können, formulierte
sie sehr klar drei Kritikpunkte:
 Die CVR hätte alle Testimonios entgegennehmen sollen; sie hätte auch in die
sehr entlegenen Dörfer fahren sollen, da sie immer wieder Beschwerden darüber
hören würde, dass Personen nicht die Chance gehabt hätten Testimonio zu
geben. Diese Menschen würden sich von der Kommission vergessen und im
Stich gelassen fühlen.

- 110 -
 Zumindest ein Mitglied der Kommission hätte aus dem Kreis der Betroffenen
stammen sollen, denn auch das Militär hatte einen Vertreter in der Kommission
gehabt.
 Die CVR hätte die ganze Wahrheit sagen sollen, wie es schon ihr Name vorgibt:
Für Doris steht fest, dass die Streitkräfte die Hauptverantwortlichen für die
Toten und die schwersten Menschenrechtsverletzungen waren.

6.3.5 Zum Thema Versöhnung


Obwohl es durch die Arbeit der CVR mehr Anerkennung für das Schicksal der Opfer
gibt, ist das für Doris nur ein erster Schritt – die Versöhnung erfordert weitere
Maßnahmen: „La justicia es la que va a dar paso a la reconciliación, si no logremos
alcanzar justicia nosotros no podemos hablar de reconciliación y mucho menos quienes
tenemos a nuestros seres queridos en situación de desaparecidos.“ („Die
[strafrechtliche] Gerechtigkeit ist es, die den Weg für die Versöhnung ebnet. Wenn wir
keine Gerechtigkeit erreichen, können wir nicht von Versöhnung sprechen. Besonders
schwer ist es für uns, deren geliebte Menschen noch immer verschwunden sind.“).
Neben der Gerechtigkeit sind die Reparationen eine weitere wichtige Maßnahme für
eine mögliche Versöhnung. Doris fordert Krankenversicherung für die Opfer und ihre
Angehörigen und freien Zugang zu den Universitäten für deren Kinder ebenso, wie
weitere kollektive und individuelle Reparationen.

Doris Caqui und ihre Familie haben viel Schreckliches erlebt während der Jahre der
politischen Gewalt. Aber Doris hat einen Weg gefunden, mit ihrem Schicksal
umzugehen. Für ihre Rechte zu kämpfen und Leidensgenossinnen zu finden, hat ihrem
Leben und den dramatischen Ereignissen einen neuen Sinn gegeben. Sie ist stolz auf
ihre Tätigkeit als Lehrerin und als Präsidentin des Angehörigenverbandes. Ihre vier
Kinder studieren alle an höheren Schulen, so wie sie und ihr Mann es gewollt haben.
Die CVR war ein wichtiges Ereignis auf ihrem Weg. Für Doris ist klar, was die
Wahrheitskommission für den Kampf der Angehörigen und Opfer beigetragen hat, aber
sie sieht auch die Defizite und Schwächen, sowie die Arbeit, die noch vor ihr und den
anderen Angehörigen liegt.

- 111 -
7. Qualitative Inhaltsanalyse: Methode und Ergebnisse

Das während des dreimonatigen Forschungsaufenthaltes gesammelte Material setzt sich


zusammen aus zehn Interviews mit Betroffenen der politischen Gewalt, die der CVR
Testimonio gegeben haben, einem Experteninterview, sechs Vorträgen im Rahmen
eines internationalen Seminars zum Thema Versöhnung in Peru sowie meinen
Beobachtungen, die ich in einem Feldtagebuch festgehalten habe. Neun der zehn
Interviews mit den Betroffenen wurden mittels qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring
(1983) ausgewertet.
Mittels der qualitativen Inhaltsanalyse können Interviews, Feldtagebücher,
Beobachtungsprotokolle, Texte – jede Art von Material, die aus irgendeiner Form
fixierter Kommunikation stammt – bearbeitet werden (Mayring, 1983). Das zu
analysierende Material wird immer in seinem Kommunikationszusammenhang
betrachtet. Es handelt sich um ein regel- und theoriegeleitetes, systematisches
Verfahren, das mit Gütekriterien überprüft wird. Die qualitative Inhaltsanalyse
ermöglicht es, quantitative Arbeitsschritte einzubauen (Mayring, 2000).
Es wurde ein qualitativer Ansatz gewählt, da er im Zugang zu dem untersuchten
Phänomen offener ist, das Neue und Unbekannte zu finden – es kann ein konkreteres,
plastischeres Bild aus der Sicht der Betroffenen gezeichnet werden, da ihre subjektive
Sichtweise berücksichtigt wird (Flick, Kardorff & Steinke, 2005). Der offene Zugang
schien mir deshalb wichtig, da es zu dem beforschten Gegenstand noch sehr wenige
Publikationen gibt. Ich wollte nicht mit vorgefertigten Annahmen an das Thema
herantreten, sondern den Betroffenen Raum geben, über ihre persönlichen Erfahrungen
zu sprechen. Die befragten Personen stammen aus einem anderen Kulturkreis und
vorgefertigte Annahmen hätten das Erfassen und Verstehen dieser fremden Kultur
behindert.
Als Orientierung bei den Interviews diente mir ein Leitfaden, welcher zusätzliche
Fragen, die sich aus dem Gespräch ergaben, zuließ.

7.1 Bestimmung des Ausgangsmaterials


Neun der zehn Interviews bilden die Grundlage für die qualitative Inhaltsanalyse. Acht
Interviews wurden auf Spanisch geführt, zwei auf Quechua mit Dolmetscher. Die

- 112 -
meisten meiner Interviewpartner beherrschten beide Sprachen: Sie waren in der
Herkunftsfamilie mit Quechua aufgewachsen, hatten sich aber während der Ausbildung
und Aufenthalten an der Küste Spanischkenntnisse angeeignet. Nur eine meiner
InterviewpartnerInnen sprach ausschließlich Spanisch.
Als etwas schwieriger erwiesen sich die beiden Interviews in Quechua. Mein
Dolmetscher stammte selbst aus Lucanamarca und seine eigenen Meinungen und
Ansichten beeinflussten die Übersetzung, weshalb ich ein Interview aus der Wertung
ausgeschlossen habe. Das zweite Interview auf Quechua habe ich in der Auswertung
belassen, da meine Interviewpartnerin sehr wohl über Spanischkenntnisse verfügte. Sie
wollte zur eigenen Sicherheit mittels Dolmetscher mit mir sprechen und korrigierte
auch, was dieser sagte, wenn sie sich nicht richtig wiedergegeben fühlte.
Für die Interviews wurde ein Leitfaden verwendet. Christiane Schmidt (2000) sieht
den Erhebungsprozess „…als eine Art Wechselspiel zwischen theoretischen
Überlegungen auf der Basis von Auseinandersetzungen mit Literatur und
Theorietraditionen auf der einen Seite, Erfahrungen und Beobachtungen bei der
Erkundung des Forschungsfeldes auf der anderen Seite.“ (S. 448). Eine erste Version
des Leitfadens wurde bereits in Österreich erarbeitet, dann in Rücksprache mit Experten
vor Ort (Dr. Gloria Díaz Acosta, Psychologieprofessorin an der San Marcos Universität,
Lima und Edilberto Jiménez von COMISEDH) überarbeitet und schließlich in der
Interviewsituation dem jeweiligen Gesprächsverlauf und meinen Beobachtungen
angepasst. Rücksicht war im Speziellen auch geboten, da ich meine Interviewpartner
keinesfalls zu sehr aufwühlen wollte, zum anderen musste ich meine Fragen gemäß dem
Verständnis und dem Kontext meiner InterviewpartnerInnen anpassen.

Leitfaden

Motivation für das Testimonio


 Wie haben Sie von der Wahrheitskommission erfahren?
 Was war Ihre Motivation, Ihr Testimonio zu geben? Was haben Sie sich
davon erwartet?

Über das Testimonio


 Können Sie mir erzählen, wie es für Sie war, Testimonio zu geben? Wie
haben Sie sich dabei gefühlt?
 Wie ging es Ihnen danach?

Veränderungen
 Hat sich für Sie durch das Geben des Testimonios etwas verändert?
 Wie geht es Ihnen jetzt? Leiden Sie an irgendwelchen Beschwerden?

- 113 -
Versöhnung
 Glauben Sie, dass es durch die Wahrheitskommission mehr öffentliche
Anerkennung (Staat/Gesellschaft) für das gibt, was passiert ist?
 Wie sehen Sie das Thema der Versöhnung? Was verstehen Sie
darunter? Gibt es so etwas wie Versöhnung durch die Arbeit der
Wahrheitskommission

Evaluation
 Wie bewerten/sehen Sie die Arbeit der Wahrheitskommission? Was
hätte sie anders oder besser machen können?

Abschlussfrage
 Gibt es noch etwas, das Sie diesem Thema oder unserem Gespräch
hinzuzufügen hätten?

7.2 Festlegung des Materials


Die mich interessierende Grundgesamtheit waren all jene, die vor der CVR Testimonio
gegeben haben. Die äußeren Umstände und der Zeitrahmen erlaubten mir aber nur in
zwei Orten, nämlich in Lucanamarca und in Lima meine Interviews durchzuführen. Alle
Interviews fanden auf freiwilliger Basis statt.
Da es sich mit neun Personen um eine kleine Stichprobe handelt, werden nur
numerische und keine prozentualen Angaben gemacht.

Beschreibung:
Geschlecht: 4 Frauen und 5 Männer
Alter: Zw. 37 und 82 Jahren
Altersdurchschnitt: 46,8 Jahre
Familienstand: Verheiratet: 7 (4 davon in 2. Ehe, weil Gatte/Gattin durch
politische Gewalt verstorben)
Geschieden: 1
Verwitwet: 1 (Gatte durch politische Gewalt verstorben)
Beruf: 3 Bauern bzw. Viehzüchter
3 Angestellte (zwei Lehrer und eine Kindergartenpädagogin)
2 Selbstständige (Schneiderin und Restaurator)
1 Pensionist

Tabelle 1: Beschreibung der Stichprobe

- 114 -
7.3 Analyse der Entstehungssituation
Auf die Entstehungssituation der neun Interviews in Lucanamarca wurde bereits
ausführlich eingegangen (vgl. 5.2). Ein weiteres Interview fand dann in späterer Folge
in Lima statt. Der Erfahrungshintergrund der Menschen in Lucanamarca und der Frau,
die ich in Lima interviewt habe, war ein anderer, sowie die aktuelle Lebenssituation
auch die Einstellung zur CVR beeinflusst hat. Die Gemeinsamkeiten der Sichtweisen
ließen sich durch die qualitative Inhaltsanalyse gut herausarbeiten, während die
Unterschiede, Besonderheiten und Kontraste bereits in den Fallbeschreibungen
dargestellt wurden. Zwischen dem Testimonio vor der CVR und den Interviews sind
drei bis vier Jahre vergangen. Zu den formalen Charakteristika der Interviews ist zu
sagen, dass alle Interviews mit einem digitalen Aufnahmegerät aufgezeichnet und
anschließend wörtlich transkribiert wurden. Die Dauer der Interviews beträgt zwischen
30 und 60 Minuten.

7.4 Auswertung

7.4.1 Induktive Kategorienbildung mittels qualitativer Inhaltsanalyse


Die Auswertung der Interviews erfolgte mittels qualitativer Inhaltsanalyse (Mayring,
1983, 2000), wobei die Kategorien induktiv, also direkt aus dem Material heraus
gebildet wurden.
Es wurde dabei nach folgendem Modell vorgegangen:

Abb. 12: Ablaufmodell nach Mayring (1983)

- 115 -
Zuerst wurden die Auswertungseinheiten bestimmt:
 Kodiereinheit: Stichwörter oder Sätze
 Kontexteinheit: Die Äußerung einer Person zu dieser Frage unter Einbeziehung
des gesamten Interviews – wie auch Schmidt (2000) anmerkt: „In einem offen
geführten Leitfadeninterview befinden sich die wichtigen Textpassagen zudem
nicht immer im direkten Kontext der gestellten Frage; die vom Interviewer
eingebrachten Aspekte werden häufig erst nach einiger Zeit ausführlicher
aufgegriffen oder tauchen in der Antwort auf eine andere Frage innerhalb eines
ganz anderen Kontextes (wieder) auf.“
 Auswertungseinheit: alle Antworten einer Person zu einer Frage

Die inhaltstragenden Textstellen wurden markiert und paraphrasiert27. Danach wurden


die Paraphrasen ins Deutsche übersetzt. Entlang dieser Paraphrasen wurden beim
nächsten Durchgang der ersten drei Interviews Kategorien gebildet, wobei, wie Mayring
(1983) vorschlägt eine möglichst gegenstandsnahe Abbildung des Materials ohne
Verzerrungen und Vorannahmen geschehen soll.
Die gefundenen Kategorien wurden in einem erneuten Durchgang der ersten drei
Interviews überarbeitet (formale Reliabilitätsprüfung) und es wurde ein Kodierleitfaden
mit Beschreibungen und Ankerbeispielen zu den einzelnen Kategorien erstellt.
Anhand des Kodierleitfadens, der laufend überarbeitet wurde, wurde dann das
gesamte Material durchkodiert. Im abschließenden Materialdurchgang erfolgte die
summative Reliabilitätsprüfung: Das zusammengefasste Material wurde mit dem
Ausgangsmaterial auf Übereinstimmung verglichen.

7.4.2 Kodierleitfaden
Der Kodierleitfaden ermöglicht eine bessere Nachvollziehbarkeit der Auswertung. Hier
werden Beschreibungen und Ankerbeispiele zusammengestellt. Der Kodierleitfaden
wird während des Analyseprozesses auch ständig überarbeitet und eventuell erweitert.

27
Eine Paraphrase ist eine knappe, nur auf den Inhalt beschränkte, beschreibenden Wiedergabe der
Kodiereinheit, bei welcher nicht inhaltstragende Textbestandteile fallen gelassen werden (Mayring,
1983).

- 116 -
Kategorie Beschreibung Ankerbeispiele
Anerkennung durch Anerkennung von Seiten der „Erst nach den Testimonios und
die Arbeit der CVR Regierung/Gesellschaft für den Exhumierungen durch die
CVR anerkannte die Regierung
die Opfer durch die Arbeit der unsere Toten.“
CVR. Die Öffentlichkeit
erfuhr/nahm Kenntnis davon, „Dank der CVR sind wir als
wie es den Opfern während Überlebende und Angehörige von
der Zeit der politischen Opfern anerkannt. Vorher waren
wir vergessen. Dafür bin ich
Gewalt ergangen war. Die dankbar.“
Wahrheit gelangte (zumindest
teilweise) ans Licht. „Die Gesellschaft hat jetzt mehr
Bewusstsein, über das, was
passiert ist.“

Verschlechterung des Vermehrte Trauer, „Der Doktor hat mir verboten


Zustandes durch das Verstärkung von Symptomen mich zu erinnern, da ich ein
Herzleiden habe.“
Darüber-Sprechen wie Kopfschmerzen, Schlaf-
und sich Erinnern störungen, etc. werden in „Durch das Erinnern wurde ich
Verbindung mit dem krank.“
„Darüber-sprechen“ und dem
Erinnern berichtet. „[Nach den Exhumierungen hatte
ich] Kopfschmerzen. Mein ganzer
Körper war traurig; mein ganzer
Körper hat geschmerzt.“

Marginalisierung und Schilderung des Gefühls „Ich werde von der CVR
Diskriminierung durch die CVR marginalisiert, marginalisiert, weil ich einen
Beruf, eine Profession habe. Das
durch CVR diskriminiert oder ungerecht/ finde ich nicht richtig. Man
ungleich behandelt worden zu anerkennt nicht, dass ich auch
sein oder behandelt zu Waise bin.“
werden.
„Die CVR sollte alle Opfer
würdigen.“

„Die CVR hätte versuchen sollen


in alle Dörfer zu gelangen und
alle Testimonios einzusammeln.
Viele comunidades beklagen sich
deswegen.“

Enttäuschung, weil es Enttäuschung und „Ich habe erwartet, dass es


bis heute keine Desillusionierung bzgl. der Reparation gibt und bis jetzt
warte ich noch.“
Reparationen gibt Reparationen wird
geschildert. „Ich bin unzufrieden, dass es bis
heute noch keine Reparationen
gibt.“

Angst vor Rache/ Befürchtung durch das „Sie [die Ex-Senderistas] hören
Diskriminierung Testimonio-Geben von der auch unsere Testimonios und
könnten uns deswegen schlecht
durch das Testimonio Gesellschaft oder von behandeln.“
Nachbarn bzw. ehemaligen
Senderoanhängern bedroht „Alle hatten wir Angst vor
oder diskriminiert zu werden. unserem Testimonio. Wir sagten,

- 117 -
vielleicht hören sie uns in den
Medien, vielleicht gibt es
Rachakte.“

Wahrheit/Aufklärung Aufklären wollen, was „Sie [CVR] haben mich motiviert,


als Motivation für geschehen war, Wunsch die mein Testimonio zu geben, sie
haben Information gesammelt.
Testimonio subjektive Wahrheit Die Familienmitglieder der
mitzuteilen, der Wahrheit ans Subversiven haben gelogen,
Licht zu verhelfen. haben Sachen gegen die
Autoritäten, sogar gegen das
Militär gesagt.“

„Es war das erste Mal, dass wir


in voller Lautstärke sprachen,
davon was in Wahrheit geschehen
war. Zum ersten Mal konnten wir
unsere Situation erklären.“

Tabelle 2: Auszug aus dem Kodierleitfaden

7.4.3 Einsatz des Programms ATLAS.ti


Da ich das Programm kennen lernen wollte, habe ich mit Atlas.ti gearbeitet. Zuerst
wurde jedes Interview als eigenes Primary Document erfasst, und die inhaltstragenden
Stellen markiert und paraphrasiert. Die Paraphrasen jedes Interviews wurden ins
Deutsche übersetzt und erneut als Primary Documents festgelegt. Anhand dieser
Paraphrasen wurden die ersten drei Interviews kodiert und ein Kodierleitfaden erstellt.
Dieser wurde dann laufend überarbeitet. Atlas.ti bietet die Möglichkeit,
Netzwerkdarstellungen anzufertigen und die Ergebnisse in verschiedener Form
darzustellen. Auch Korrekturen von Codes lassen sich leicht durchführen.

7.5 Ergebnisse
Auf Grund der geringen Datenmenge lassen sich die Ergebnisse nicht verallgemeinern
und müssen auch in ihrem Kontext betrachtet werden. Es werden nur numerische und
keine prozentualen Angaben gemacht. Die Ergebnisse sind entsprechend den Fragen im
Leitfaden angeordnet.

- 118 -
7.5.1 Motivation Testimonio zu geben

Kategorie Subkategorien Nennungen


Reparationen: individuelle und 6
Erwartung an die CVR kollektive (Infrastruktur, Bildung,
Mobilität, Unterkunft, Landwirtschaft)
Justiz / Gerechtigkeit 3
Wahrheit/Aufklärung als 5
Motiv für das Testimonio

Tabelle 3: Motivation Testimonio zu geben

Am häufigsten wurde als Motivation die Erwartung, durch das Testimonio


Reparationen zu erhalten, genannt. Vor allem wünschten sich die Menschen kollektive
(welche häufiger genannt wurden) und individuelle Reparationen: Bessere
Ausbildungsmöglichkeiten, eine Transportmöglichkeit (es gibt in Lucanamarca nur
einmal wöchentlich einen Bus) und Zugang zu medizinischer Versorgung standen im
Vordergrund. Symbolische Reparationen wurde nur ein einziges Mal explizit genannt,
wobei die Person keine Angabe darüber machte, wie diese Reparationen aussehen
sollten.
Drei weitere Personen gaben Testimonio, weil sie sich davon (strafrechtliche)
Gerechtigkeit erhofften. Sie wollten die Mörder ihrer Familienangehörigen verurteilt
sehen (vgl. auch Fallbeschreibungen, Kap. 6).
Fünf Nennungen gab es in der Kategorie „Wahrheit und Aufklärung als Motiv für
Testimonio“ – hierbei stand im Vordergrund, die persönliche, individuelle Wahrheit
zum Ausdruck zu bringen, aufzuklären, was geschehen war. Zweimal wurde auch der
Aspekt genannt, mit der eigenen Aussage die Lüge einer anderen Person widerlegen zu
wollen (vgl. auch 6.1.4).
Dies zeigt, ebenso wie die Fallbeschreibungen, dass es nicht nur eine Wahrheit gibt,
sondern viele verschiedene. David Becker (2006) weist darauf hin, dass dadurch, dass
die Wahrheit ans Licht gelangt und soweit wie möglich Gerechtigkeit hergestellt wird,
es nicht, wie häufig angenommen, zu Harmonie kommt. „[…] die Lösung individueller
und kollektiver Katastrophen ist nie vollständig und ohne Widerspruch. Ambivalenz
und Integration scheinen die Schlüssel zu sein, die das Tor zu realistischer
Konfliktlösung öffnen“ (S. 127).

- 119 -
Die Motive für das Testimonio-Geben stimmen größtenteils mit den Motiven überein,
welche in der Studie der CVR zu den öffentlichen Anhörungen genannt wurden (vgl.
4.1.2). Sie decken sich auch mit den klassischen Annahmen über die Voraussetzungen
für eine Versöhnung. Sie zeigen, dass die Herstellung der Wahrheit allein noch kein
zufrieden stellendes Ergebnis für die Opfer und Angehörigen ist.

7.5.2 Über das Testimonio-Geben und Veränderungen dadurch

Kategorie Nennungen

Testimonio-Geben als schmerzhaft und traurig empfunden 6

Schmerz und Trauer während der Exhumierungen 2

Nach dem Testimonio kurzfristige Erleichterung 2

Verschlechterung des Zustandes durch das Darüber-Sprechen und 2


Erinnern

Seit dem Massaker andauernde physische oder psychische Symptome 5

Tabelle 4: Über das Testimonio-Geben

Nicht überraschend ist die häufige Nennung der ersten Kategorie. Die Inhalte der
Testimonios waren mit Erfahrungen von Verlust, Angst und Zerrüttung verknüpft.
Häufig schilderten die Menschen, dass sie während des Testimonios weinen mussten,
dass das Erinnern schmerzhaft war: „De vuelta a recordarte,…ay, con qué color; ay,
con esa ropa, con ese color de chompa [...]. Hasta el lunar, hasta cómo se peinaba [...].
Todo eso cuando te preguntan, es un ... doloroso. [se le corta la voz] Ya no deberían
¿no? preguntarnos o hacernos recordar.“ („Wieder dich erinnern,... ach, was für eine
Farbe, ach, mit dieser Kleidung, die Farbe des Pullovers [...] sogar die Muttermale, wie
sie sich frisiert hat [...]. Wenn sie dich das alles fragen, dann ist das ... schmerzhaft.
[ihre Stimme bricht] Sie sollten uns nicht mehr fragen, nicht?, oder uns daran
erinnern.“, Orfelinda Q.).
Zwei Personen berichteten, dass sie sich nach dem Testimonio zumindest kurzfristig
erleichtert fühlten: „[Después del testimonio] me he sentido aliviado por un rato, por
momentos, pero después cuando llega algún sentimiento de nuevo re…re…recuerdo
todo ese mi sentimiento, de nuevo estoy así. No sé, no puedo olvidar eso.“ („[Nach dem

- 120 -
Testimonio] habe ich mich für eine Weile erleichtert gefühlt, für Momente, aber dann
kommt irgendein Gefühl, und von Neuem erinnere ich mich an all diese Gefühle, von
Neuem geht es mir so. Ich weiß nicht, ich kann das nicht vergessen.“, Gualberto T.).
Das Schweigen zu brechen, die Erfahrung zu machen, dass einem zugehört, man
ernstgenommen wird, kann einen ersten Schritt in Richtung Heilung darstellen. Ohne
weitere Maßnahmen ist die Erleichterung aber nur von kurzer Dauer und kann in Folge
auch in Enttäuschung umschlagen (vgl. 3.3.2, 3.6).
Edda H. berichtete von einer Verschlechterung ihres Zustandes nach dem
Testimonio. Sie bekam Albträume, Kopfschmerzen und Schlafstörungen. Auch
Orfelinda ging es nach dem Testimonio schlechter: „Ya un poco que me estaba
olvidando, de vuelta recordarme me enfermé, me enfermé.“ („Ich hatte schon ein
bisschen vergessen, dann erinnerte ich mich wieder [durch das Testimonio], ich wurde
krank, ich wurde krank.“).
Die Kategorie wurde bewusst „Verschlechterung des Zustandes durch das Darüber-
Sprechen“ genannt, da es nicht Ziel des Interviews war, eine traumatische Störung zu
diagnostizieren und deshalb auch nicht von einer Retraumatisierung gesprochen werden
kann. Die Angaben dieser zwei Personen lassen aber Vermutungen in diese Richtung zu
(vgl. auch 3.3.2).
Insgesamt fünf Personen – das schließt auch jene zwei Personen ein, die über eine
Verschlechterung ihres Zustandes nach dem Testimonio berichtet haben – gaben an, seit
dem Massaker an andauernden physischen und/oder psychischen Problemen zu leiden:
„Mi sentimiento, mi dolor siempre lo tengo. Mantengo eso, por este caso que me ha
sucedió. Nunca, no se borra todavía, siempre mantengo [...] ese dolor.“ („Meine
Gefühle, meinen Schmerz habe ich immer, wegen dem Ereignis [das Massaker], dass
mir zugestoßen ist. Das verlischt nicht, immer existiert […] dieser Schmerz.“).
Besonders häufig wurden Traurigkeit, Schmerzen in Brust- und Magengegend, und
Schlafprobleme genannt.
Auch im Zusammenhang mit den Exhumierungen wurden von zwei Personen
Gefühle von Schmerz und Trauer zum Ausdruck gebracht: Reyna Q., eine Frau, die
zum Zeitpunkt des Massakers vierzehn Jahre alt war, und deren Eltern und Geschwister
umgebracht worden waren, erzählt: „Cuando han empezado a exhumar ahí, sí, me he
puesto bien, bien triste como esa vez, como esa vez que perdí a mi familia. Así igualita
me habìa sentido.“ („Als sie mit den Exhumierungen begonnen haben, da bin ich sehr,
sehr traurig geworden – so wie damals, als ich meine Familie verloren habe. Genauso

- 121 -
habe ich mich gefühlt.“). In weiterer Folge berichteten die beiden Personen von Freude
und Dankbarkeit darüber, dass ihre Angehörigen nun angemessen bestattet seien (vgl.
3.3.3). Reyna schildert: „En mi sueño también me revelaba, mi mamá, me decía: estoy
con frío, me está mojando la lluvia. Así me decía en el sueño, cuando estaba en la puna.
Ahora nada ya no me dice nada, nada ya. Ya no me decía. [...] Sí, pues yo me siento
alegre.“ („In meine Träumen sagte mir meine Mutter „Mir ist kalt, der Regen macht
mich nass‟. Das sagte sie mir, als sie noch auf der Hochebene [begraben] war. Jetzt sagt
sie das nicht mehr. […] Das macht mich froh.“). Reynas Mutter war bei dem Massaker
auf der Hochebene von Senderistas getötet und später auch dort begraben worden. Die
angemessene Bestattung in einem Friedhof war Reyna ein großes Anliegen, das sie
alleine nicht hatte durchführen können. Als dies endlich geschehen war, hörten die
Albträume auf.

7.5.3 Versöhnung

Kategorie Nennungen
Keine Versöhnung durch CVR wegen der Vergangenheit 6
Anerkennung durch die Arbeit der CVR 7
Angst vor Rache und Diskriminierung durch das Testimonio 4

Tabelle 5: Versöhnung

Die CVR siedelt die Versöhnung auf drei Ebenen – zwischen dem Staat und den
Bürgern, den Bürgern und den Institutionen und auf der zwischenmenschlichen Ebene –
an (vgl. 4.1.4).
Von dieser Definition ging ich ursprünglich auch aus. Auf die Frage nach
Versöhnung bekam ich aber in Lucanamarca fast immer dasselbe zu hören: Eine
Versöhnung sei kaum möglich, oder gar unmöglich, auf Grund der Rolle, die die
anderen Dorfmitglieder während der Zeit der politischen Gewalt gehabt hätten. Mit
anderen Worten: Die Familien, die mit Sendero sympathisierten, liegen im Streit mit
den Familien, die sich gegen Sendero auflehnten. Sehr oft geht es dabei um Güter oder
Grund, welche ihnen weggenommen worden waren oder gar um die Verantwortlichkeit
für den Tod von Familienmitgliedern (vgl. auch Fallbeschreibungen, Kap. 6). Nach der
Versöhnung befragt, sagte Orfelinda: „Sería total de hacer desaparecer Lucanamarca y
de vuelta revivir. [se ríe irónicamente] ¿Tu crees ese resentimientos van a olvidarse?“

- 122 -
(„Es wäre, wie Lucanamarca verschwinden und dann auferstehen zu lassen. [sie lacht
ironisch] Glaubst du, dass dieser Groll vergessen wird?“).
Das Gefühl der Benachteiligung oder ungerechten Behandlung spielt für den
Versöhnungsaspekt ebenfalls eine Rolle. Er spiegelt die schwierigen Beziehungen
zwischen den Menschen wieder. Edda H. drückte es so aus: „Hay envidia […] cuando
hay cualquier apoyo. Entre la comunidad hay envidia. Para algunos llega y para
algunos no“ („Wenn es irgendeine Unterstützung gibt, gibt es immer Neid. In der
comunidad gibt es Neid. Für einige kommt Unterstützung, für andere nicht.“).
Die politische Dimension von Versöhnung wurde von den Menschen kaum
angesprochen. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal an Degregori (vgl. 4.2.3)
erinnern, der fragt, wie man zu einem Zustand von Versöhnt-Sein (re-concilicación)
zurückkehren soll, wenn dieser niemals existiert hat. Die zwischenmenschlichen
Spannungen sind für die Menschen im täglichen Leben spürbar, während die
Abwesenheit des Staates nicht so sehr auffällt, da es nie anders war. Sehr wohl ist aber
der Wunsch nach einer Veränderung da: Durch die CVR und die öffentliche
Aufmerksamkeit haben die Menschen Hoffnung geschöpft, es könnte Maßnahmen in
den Bereichen Bildung und Gesundheit geben – dieser Wunsch drückt sich auch in den
Motiven für das Testimonio aus (vgl. 7.5.1).
Die Kategorie „Anerkennung durch die Arbeit der CVR“ erhielt sieben Nennungen;
d. h. die Menschen haben sehr wohl das Gefühl, dass es durch die Arbeit der CVR mehr
Anerkennung von Seiten des Staates und der Gesellschaft für ihr Leid und ihre
Geschichte gibt. Das könnte als ein erster, notwendiger Schritt in Richtung Versöhnung
auf nationaler Ebene interpretiert werden.
Vier Personen berichteten, sie hätten vor dem Testimonio Angst gehabt, weil sie
Racheakte durch ehemalige Senderoanhänger oder Diskriminierung durch die
Gesellschaft befürchtet hatten. Auch diese Kategorie weist auf die anhaltende
Zerrüttung innerhalb der Dorfgemeinschaften und die andauernde Diskriminierung der
indigenen Bevölkerung durch die Gesellschaft hin. Ebenso fürchten die Menschen, dass
Sendero sich wieder formieren und sich an den Personen, die Testimonio gegeben
haben, rächen könnte: „De repente puden venir de vuelta organizando; por venganza a
los sobrevivientes pueden matarnos.“ („Vielleicht organisieren sie [Sendero] sich und
kommen wieder; aus Rache könnten sie uns Überlebende töten.“, Antonio Q.).

- 123 -
7.5.4 Bewertung der Arbeit der CVR
Die Fragen: „Wie bewerten/sehen Sie die Arbeit der Wahrheitskommission? Was hätte
sie anders oder besser machen können?“ war für meine InterviewpartnerInnen in dieser
Form manchmal schwierig zu verstehen und zu beantworten, weshalb ich die Frage
häufig in etwas abgewandelter Form stellte: „Hat die CVR ihre Arbeit gut oder schlecht
gemacht? Warum?“. Die Antworten kamen in Form von positiven und negativen
Aspekten, weshalb auch diese Einteilung gewählt wurde.

Kategorie Subkategorie Nennungen


Positive Aspekte Dank der CVR sind die Verstorbenen am 4
Friedhof
Durch die CVR Hoffnung und neuen Mut 3
geschöpft
Durch CVR Menschlichkeit erfahren 3
Negative Aspekte Enttäuschung, weil es bis heute keine 2
Reparationen gibt
Marginalisierung und Diskriminierung 3
durch CVR

Tabelle 6: Bewertung der Arbeit der CVR


Obwohl keine Frage danach in meinem Leitfaden vorkam, berichteten mir vier
Personen, dass sie glücklich darüber wären, dass ihre Familienmitglieder exhumiert und
angemessen bestattet worden sind. Dieses Ergebnis ist natürlich sehr spezifisch für den
Kontext in Lucanamarca, da die CVR nur in drei Dörfern Exhumierungen
vorgenommen hat (vgl. 4.1.3.). Die Exhumierungen waren sicher das greifbarste
Resultat der Arbeit der CVR für die Bewohner. Sie erlebten unmittelbar, wie die
Grabungen stattfanden, sahen die schönen Särge, in welche man die sterblichen
Überreste gebettet hatte, erlebten große mediale Aufmerksamkeit und den Besuch des
Präsidenten der Republik. Ein neuer Friedhof wurde eigens für die Bestattung der Opfer
des 3. April errichtet. Das erklärt auch, warum die Exhumierungen, obwohl nicht nach
ihnen gefragt wurde, häufig ein Thema waren. Nur eine interviewte Person empfand die
Exhumierungen als sinnloses Unterfangen (vgl. 6.1.4).
Mut und Hoffnung haben die Menschen geschöpft, als jemand von offizieller Stelle
kam, ihnen zuhörte und ihnen glaubte. Die Mitarbeiter der CVR sprachen in Quechua
mit den Leuten, waren freundlich und bemüht, zeigten mitmenschliche Wärme –

- 124 -
berichteten mir drei Personen. Antonio berichtet: „Era buena gente, todos me conocían
casi todos, me concían.“ („Sie waren gute Leute, alle kannten sie mich, fast alle
kannten sie mich.“). Persönlich erkannt und angesprochen zu werden (in Quechua), war
für diese Personen eine positive Erfahrung, welche unter der Kategorie „Durch die CVR
Menschlichkeit erfahren“ zusammengefasst wurde: „Todos eran amigos, buenos y
tranquilos. [...] en quechua así nos hablaban, todo nos ha hecho comprender todo. Eso
lo agradecemos, en nuestro idioma pes siempre nos hablaban.“ („Alle waren sie gute
Freunde, ruhig [die Mitarbeiter der CVR]. [...] in Quechua haben sie mit uns
gesprochen, und haben uns alles erklärt. Dafür sind wir dankbar, immer haben sie zu
uns in unserer Sprache gesprochen.“, Gualberto T.).
Durch die CVR marginalisiert und diskriminiert fühlten sich drei der befragten
Personen. Eine Lehrerin klagte, dass sie auf Grund ihres Berufes von der CVR nicht
gleichermaßen in ihrem Leid anerkannt würde wie andere Opfer. Es wurden auch
Unterschiede in der Behandlung von Angehörigen von Sympathisanten und Gegnern
Senderos beklagt (vgl. auch Fallbeschreibung, Kap. 6). Dadurch ergab sich die
Meinung, die CVR hätte die Bevölkerung in mehrere Lager gespalten. Auch würde den
Toten vom 3. April 1983 mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als den anderen Opfern, was
ebenfalls zu Unstimmigkeiten führt.
In den alltäglichen Gesprächen mit den Menschen zeigten sie mir oft ihre
Unzufriedenheit darüber, dass es immer noch keine Reparationen gäbe. Deshalb hat es
mich eher erstaunt, dass diese Kategorie nur zweimal explizit genannt wurde. Das hat
aber wohl damit zu tun, dass die Menschen immer noch darauf hoffen, dass die
Reparationen Wirklichkeit werden.

7.5.5 Andere unterstützende Faktoren


Unter diesem letzten Punkt sind einige Faktoren aufgelistet, nach denen nicht gefragt
wurde, welche die Menschen aber als positiv und unterstützend erwähnten.

Kategorie Subkategorie Nennungen


Als unterstützend erlebt Kollektive Hilfestellung 3
Individuelle Hilfestellung 3
Individuelle Ressource 2

Tabelle 7: Andere unterstützende Faktoren

- 125 -
Die unterstützenden Faktoren sind im Kontext zu verstehen: Die Deutsche Botschaft hat
über den DED (Deutscher Entwicklungsdienst) die Gelder zur Errichtung des neuen
Friedhofs bereitgestellt und dem Dorf eine Bäckerei eingerichtet. Dies wurde als
Unterstützung der Dorfgemeinschaft erlebt (kollektive Hilfestellung).
Die NRO COMISEDH war vor, während und nach der Arbeit der CVR immer
wieder im Dorf präsent und hat im Zuge der Exhumierungen mit der CVR kooperiert.
Sie hat die Dorfgemeinschaft allgemein und einige Personen speziell unterstützt und
wurde deshalb auch von diesen Personen erwähnt (individuelle Hilfestellung). So
erklärt Reyna, dass sie durch COMISEDH Medikamente erhalten hätte, die sie
gebraucht habe, Marcilino haben sie zu einer wichtigen Operation verholfen.
Zwei Personen berichteten mir, dass vor allem der Glaube ihnen durch diese schwere
Zeit geholfen hätte. Ich vermute, dass der Glaube auch anderen eine Stütze war, es gab
aber keine Frage danach im Leitfaden.

7.5.6 Estábamos todos traumados ya…


„Wir waren alle schon traumatisiert von den zwei Feinden [Sendero und die Polizei]“ –
während meines Aufenthalts in Lucanamarca stellte ich fest, dass die Menschen immer
wieder von Trauma und Traumatisierung sprachen, obwohl ich mich selbst nie dieser
Begrifflichkeiten bediente. Kimberley Theidon (2004) machte eine ähnliche
Beobachtung; wie sie es ausdrückt, haben die Menschen in den Anden gelernt, im Stil
des wissenschaftlichen Modells zu leiden:
„Wir meinen, dass die Bauern und Bäuerinnen lernen, ihr Leid in eine Sprache zu
pressen, die es für die Experten erkennbar macht. Von Trauma zu sprechen
legitimiert ihren Schmerz vor denjenigen, die ihre „males del campo‟ [andine
Krankheitskonzepte] als Aberglaube abtun. […] Wir haben herausgefunden, dass,
dort wo es NRO´s oder viele zurückgekehrte comuneros gibt, sich der Diskurs des
„Traumatisiert-Seins‟ zeigt.“ (S. 91, Übers. d. Verf.).

In fünf von neun Interviews, die ich in Lucanamarca geführt habe – sogar im Interview
mit einer quechuasprachigen Frau – begegnete mir der Traumabegriff. Ich vermute, dass
die Menschen mir gegenüber speziell auf den Begriff des Traumas zurückgegriffen
haben, um mir, als von außen Kommende, ihr Leid zu verdeutlichen: „Ahí yo estaba
mal, mal, tanto como traumada me he puesto“ („Da ging es mir schlecht, schlecht, ganz
so wie traumatisiert war ich.“, Reyna. Q.).

- 126 -
7.6 Gütekriterien und Kritikpunkte
Abschließend sollen noch einige Kritikpunkte im Zusammenhang mit den Interviews
und der Auswertung angemerkt werden.
Im Unterkapitel 7.4.1 wurden bereits die formale und summative Reliabilitätsprüfung
erläutert. Durch Rückkoppelungsschleifen wurde das Kategoriensystem laufend
überprüft und modifiziert. Die Interkoderreliabilität ließ sich auf Grund der sprachlichen
Barriere nicht ohne weiteres feststellen. Um diese aber doch zumindest ansatzweise zu
gewährleisten, bat ich eine Kollegin, die übersetzten Paraphrasen an Hand meines
Kodierleitfadens zu kodieren. Es herrschte auch weitgehende Übereinstimmung, was
sicher damit zusammenhing, dass die Kategorien sehr nahe am Material gebildet
wurden.
Neben der nur teilweisen Möglichkeit der Anwendung der Gütekriterien war ein
weiteres Problem die Sprache. Wie bereits erläutert, konnte ein Interview aus
übersetzungstechnischen Gründen gar nicht ausgewertet werden. Dass die
Muttersprache der meisten meiner InterviewpartnerInnen Quechua ist, die Interviews
aber auf Spanisch geführt wurden, hatte sicher auch Auswirkungen auf die Spontaneität
und den Inhalt der Antworten. Dazu kommt, dass auch meine eigene Muttersprache
nicht Spanisch ist, weshalb ich manchmal Fragen nicht so exakt stellen konnte, wie ich
es gerne getan hätte.
Womit ich nicht gerechnet hatte, war die Unklarheit, die für die meisten meiner
Interviewpartner bzgl. der CVR herrschte, was aber gewissermaßen auch eine
Erkenntnis darstellt und aufzeigt, dass es in der Kommunikationspolitik der CVR sicher
Probleme gegeben hat, wie andere AutorInnen schon aufgezeigt haben (vgl. Reisner,
2004, Drha, 2007). Gewisse Erwartungen oder Enttäuschungen meiner
InterviewpartnerInnen sind darauf zurückzuführen, dass sie nicht wussten, welche
Aufgaben die CVR hatte und über welche Befugnisse sie verfügte.

- 127 -
8. Diskussion und Schlussfolgerungen

Die psychologischen Aspekte von Wahrheitskommissionen und ihre Wahrnehmung aus


der Sicht der Betroffenen ist ein Gebiet, das noch sehr wenig erforscht wurde. Während
meines Aufenthalts in Peru habe ich versucht, die CVR aus dem Blickwinkel der
Betroffenen zu verstehen. Das gesammelte Material wurde in Österreich systematisch
ausgewertet und die Ergebnisse dargestellt. Obwohl die Ergebnisse nicht
verallgemeinerbar sind und im spezifischen Kontext der interviewten Personen zu
verstehen sind, konnte ein Einblick in die Gedanken, Gefühle und Einstellungen von
Betroffenen gewonnen werden.
In Südafrika haben Hamber et al. (2000) zwanzig Personen vor und nach ihrem
Testimonio zu ihrer Meinung bezüglich der TRC befragt. Der Hintergrund dieser
Untersuchung ist ein anderer, trotzdem gibt es einige Überschneidungen mit den
Ergebnissen der vorliegenden Arbeit:
 Die Erwartungen an die Kommissionen kreisten in der südafrikanischen
Untersuchung ebenfalls um die Themen Wahrheit, Reparation und
Gerechtigkeit. In Südafrika war allerdings auch die Befugnis der TRC Amnestie
zu gewähren, ein zentrales Thema.
 Ein positiver Effekt der TRC war, dass sich das Bewusstsein in der Gesellschaft
bzgl. der Situation der Opfer erhöht hatte. Dies haben auch die befragten
Personen in Peru bezüglich der CVR zum Ausdruck gebracht.
 Positive Effekte auf das psychische Wohlbefinden nach dem Testimonio waren
laut Hamber et al. (2000) eher von kurzer Dauer. Ähnliches erlebten es auch
meine beiden InterviewpartnerInnen in Peru, die von einer kurzfristigen,
momentanen, Eleichterung durch das Testimonio-Geben berichtet haben.

Die Versöhnungsperspektive beschreiben Hamber et al. als unmittelbar verbunden mit


Reparation und Gerechtigkeit, was auch auf den peruanischen Kontext umgelegt werden
kann. Für die Versöhnung hat sich außerdem in Peru die zwischenmenschliche Ebene
für die befragten Personen als vorrangig erwiesen: Bis heute ist es spürbar wie belastet
die Beziehungen durch die Ereignisse der Vergangenheit sind. Obwohl die CVR auch
die zwischenmenschlichen Beziehungen in ihre Versöhnungskonzeption miteinbezieht,
ist es fraglich, welchen Einfluss ihre Arbeit auf dieser Ebene haben kann.

- 128 -
Bedeutsam für die Betroffenen sind konkrete Schritte, wie Gerichtsprozesse,
materielle Entschädigung, etc., die der Wahrheitskommission folgen. Diese
Maßnahmen sind aber nur möglich, wenn der politische und der gesellschaftliche Wille
vorhanden sind. Für die befragten Personen in Peru waren die Rolle, die Funktion und
die Befugnisse der CVR vielfach unklar. Das hat zu Erwartungen geführt, die nicht
erfüllt werden konnten. Die Kommunikation von Seiten der CVR war in diesen Fällen
scheinbar nicht ausreichend gegeben, was bei vielen zu ambivalenten Gefühlen
gegenüber der CVR geführt hat.
Das Testimonio-Geben wurde als schmerzhaft und traurig empfunden. Auch
Ereignisse, die bereits viele Jahre zurückliegen, sind noch sehr stark mit Trauer besetzt
und nicht abgeschlossen, wie die Forderung nach Gerechtigkeit oder nach der
Auffindung der sterblichen Überreste eines Angehörigen zeigen. Trotzdem war das
Bedürfnis der meisten Betroffenen, über ihre Geschichte zu sprechen, spürbar. Das
Testimonio kann zu kurzfristigen Gefühlen der Erleichterung, aber auch zu einer
Verschlechterung der psychischen Verfassung führen.
Die Bedeutung der Exhumierungen für die Bewohner Lucanamarcas wurde
aufgezeigt. Die Identifizierung und angemessene Bestattung der sterblichen Überreste
ihrer geliebten Personen war für die Angehörigen sehr wichtig und hatte positive
Auswirkungen auf ihre psychische Verfassung.
Eine der größten Errungenschaften der CVR ist, dass das Schweigen gebrochen
wurde und für die Menschen mehr Anerkennung für ihr Schicksal, für ihr Leid spürbar
geworden ist.
Mehrfach wurde darauf hingewiesen, dass es sich bei der Versöhnung um einen
Prozess handelt; einen Prozess, bei dem es Rückschläge gibt und um einen Prozess, der
auch manchmal ins Stocken gerät. Aber wie im Jahr 2007 die Auszahlung der ersten
kollektiven Reparationszahlungen und die Übergabe Fujimoris an die peruanische Justiz
gezeigt haben, gibt es auch Fortschritte. Die Kommission für Wahrheit und Versöhnung
war für die Angehörigen und Opfer sowie für die Gesellschaft weder der erste noch der
letzte Schritt auf einem langen Weg – aber sie hat einen bedeutsamen Wendepunkt
markiert, sie hat neue Räume für Opfer und Angehörige geöffnet.
.

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Anhang

Land Name der Kommission Arbeitsperiode

Comisión Nacional para la Desaparición


Argentinien 1983 – 1984
de Personas (CONADEP). Nationale
Kommission über das Verschwinden von
Personen

Comisión Nacional para la Verdad y


Chile 1990 – 1991
Reconciliación. Nationale Kommission für
Wahrheit und Versöhnung
(Rettingkommission)

Comisión Nacional sobre Prisión Política


Chile 2003 – 2004
y Tortura. Nationale Kommission über
politische Gefangenschaft und Folter

Comisión de la Verdad para El Salvador.


El Salvador 1992 – 1993
Kommission für Wahrheit für El Salvador

Truth and Reconciliation Commission 1995 – 2000


Südafrika
(TRC). Wahrheits- und Abschlußbericht:
Versöhnungskommission 1998

Comisión para el Esclarecimiento


Guatemala 1997 – 1999
Histórico. Kommission für die historische
Aufklärung

Vgl. Hayner, 2002

- 138 -
EL HOMBRE
Ranulfo Fuentes Rojas

Ich möchte nicht der Mensch sein,


Yo no quiero ser el hombre der sich in seinen Tränen ertränkt,
que se ahoga en su llanto der sich auf wunden Knien
De rodillas hechas llagas vor dem Tyrannen niederwirft.
que se postran al tirano Ich möchte sein, wie der Wind,
Yo quiero ser como el viento der über die Kontinente hinweg fegt,
que recorre continentes. alle Übel mitreißt
Y arrastrar tantos males und sie an den Felsen zerschellt.
Y estrellarlos entre rocas
Ich möchte nicht der Scharfrichter sein,
No quiero ser el verdugo, der die Welt mit Blut befleckt
que de sangre mancha el mundo und die Herzen herausreißt,
y arrancar corazones die die Gerechtigkeit liebten
que amaron la justicia, und die Herzen herausreißt,
Y arrancar corazones die Freiheit suchten.
que buscaron la libertad. Ich möchte der Bruder sein,
Yo quiero ser el hermano der dem Gefallenen die Hand reicht
que da mano al caído und ihn fest umarmt,
y abrazados férreamente die feindlichen Welten bezwingt
vencer mundos enemigos und fest umarmt
y abrazados férreamente die unterdrückenden Welten bezwingt.
vencer mundos que oprimen
Für was von Lügen leben, cholita,
Para qué vivir de engaños, cholita, von Worten, die Gift absondern;
de palabras que segregan veneno; Werke, die die Welt quälen,
Acciones que martirizan al mundo, ach, nur für deine Launen, Geld;
¡ay! Sólo por tus caprichos, dinero; ach, nur für deine Launen, Reichtum.
¡ay! Sólo por tus caprichos, riqueza
(Übers. d. Verf.)

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