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Lisa-Franziska Rauch

»Ein Glied in den Ketten«


nationalsozialistischer Konzentrationslager:
Eine soziologische Perspektive auf die Überlebenseinheiten
innerhalb der Häftlingsgesellschaften.

Masterarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades


eines Masters of Arts
der Studienrichtung Soziologie
an der Karl-Franzens-Universität Graz

Betreuer: Assoz. Prof. Mag. Dr.rer.soc.oec. Dieter Reicher


Institut: Institut für Soziologie

Graz, März 2022


Gedenkraum
»Möge die Welt wenigstens einen Tropfen, ein
Minimum dieser tragischen Welt, in der wir lebten,
erblicken.«1

Mein stiller Dank gilt jenen Überlebenden, die durch ihr narratives Erinnern unter dem
schmerzhaften Postulat des Begreifbar-Machens zum Sprachrohr für ihre ermordeten
Schicksalsgefährt*innen wurden sowie durch ihr Zeugnis als Träger*innen der erlittenen
Erfahrungen innerhalb der nationalsozialistischen Konzentrationslager als zentrale Bindeglieder
über die Zeitperspektive hinweg gegen das Vergessen eintraten. Ihre Zeugenschaft fungierte als
Türöffner, um den soziologischen Blick auf die Orte des Terrors zu richten und im diskursiven
Raum dieser Erfahrungswelten jenen Menschen innerhalb der Häftlingsgesellschaften unter der
Prämisse des Verstehen-Wollens zu begegnen. Die Rückgabe ihrer Namen soll dem
nationalsozialistischen Angriff auf ihre soziale Identität sowie der Zerstörung der Menschenwürde
die Stirn bieten, den Überlebenden ebenso ein Denkmal setzen, wie sie es als »Gerettete« für
die »Untergegangenen« taten und ein Zeichen der Wertschätzung ihres engagierten Plädoyers
für das Erinnern sein.

• Augusta Allerhandt • Alexander Robert Askenasy • Henry Astor, vorm. Heinz Austerlitz • Leon Beiler •
Hilde Berger-Olsen • Inge Berner, geb. Gerson • Vratislav Bušek • August Cohn • Armand Eisler • Ernst
Konrad Federn • Otto Feuer • Edith Fiedler • John Fink, vorm. Hans Bodo Finke • Eric Julius Floss, vorm.
Erich Floersheimer • Fritz [Friedrich] Friedler • Heinrich Glass • Charles [Karl] Holzer • Margot Irvin, vorm.
Caspary, geb. Golinsky • Eric Kandell, vorm. Erich Kalkstein • Eva Landauer • Karoline Landauer, geb.
Kahn • Edith Libman, geb. Berliner • Ludwig Libman, vorm. Libmann • Henry [Heinz] Mamlok • Margaret
Emma Mehler, geb. Glaserfeld • Rose Monschein • Steven Morrow vorm. Stephan Morowitz • Paul Martin
Neurath • Lucie Plaut, geb. Mandelbaum • Wolf Sachs, vorm. Sikarewicz • Rolf Salomon • Eta Sanders, geb.
Weisz • Michael Sanders, vorm. Moniek Szlamowicz • Morris [Moritz] Schweizer • Mirko Sedlák • Sidney
Shuftan, vorm. Siegmund Schuftan • Bernie Simon • Mary [Marie] Simons, vorm. Goldenberg, geb.
Friedmann • Rudy [Rudolf] Simons • Kurt Sitte • Paul Stein • Herta Stern, geb. Lindemann • Henry Strick,
vorm. Chaim Strykowski • Friedel Treitel, geb. Strykowski • Herbert Treitel • Max Ullman, vorm. Ullmann •
Hyman [Chaim] Unger • Haydee Wantuch, geb. Herta Lipmann • Walter Kenneth Winters, vorm. Werner
Klaus Winter • Alice Wolf, geb. Weil • Allen [Abraham] Zendel • George Ziele, vorm. Jerzy Zielezinski •

Darüber hinaus gilt das erinnernde Andenken vor allem jenem Soziologen, der diesen Zeug*innen
Gehör schenkte und durch dessen reflexive Sensibilität sowie soziologischen Weitblick diese
unwiederbringlichen Zeitdokumente entstanden und archiviert wurden. Diese Memorialisierung
der dialogischen Erinnerungen bildet die Grundlage der vorliegenden Auseinandersetzung,
welche dem lebenslangen Engagement für die sozialwissenschaftliche Erforschung des
nationalsozialistischen Terrors von Elmer Luchterhand gewidmet ist.

1 Auszug aus dem Brief von Salmen Gradowski vom 6. September 1944, entdeckt nach der Befreiung in einer
Aluminiumfeldflasche, die auf dem Gelände des Krematoriums von Auschwitz-Birkenau vergraben war, zitiert nach
Wachsmann, Nikolaus: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. München: Pantheon 2018.

I
Inhaltsverzeichnis

Gedenkraum .............................................................................................................................. I

Inhaltsverzeichnis .................................................................................................................... II

Vorwort ..................................................................................................................................... 1

1 Einleitung ........................................................................................................................... 2

1.1 Soziologie und Konzentrationslager ............................................................................. 3

1.2 Problemstellung und Forschungsfrage ......................................................................... 7

1.3 Theoretischer Bezugsrahmen .................................................................................... 10

1.4 Zeitdokumente und Konzeptualisierung...................................................................... 15

2 Methode ........................................................................................................................... 17

2.1 Qualitative Sekundäranalyse ...................................................................................... 18

2.2 Im Stil der Grounded Theory ...................................................................................... 21

2.3 Modus Operandi......................................................................................................... 24

3 Dekonstruktion der Primärstudie ................................................................................... 27

3.1 Resonanz: Bettelheim und Arendt .............................................................................. 30

3.2 Dissonanz: Luchterhand versus Bettelheim................................................................ 33

3.2.1 Historische Kontextualisierung und empirische Forschungsstrategie .................. 34

3.2.2 Interviewleitfaden und Sampling .......................................................................... 36

3.2.3 Zentrale Erkenntnisse: Einsame Wölfe und stabile Paare ................................... 40

4 Übersetzungsprozess: Prämisse des Begreifbar-Machens und Verstehen-Wollens . 45

4.1 Zeugenschaft im Kontext nationalsozialistischer Konzentrationslager ........................ 46

4.2 Die Sprache und Symbolik der Lager ......................................................................... 48

4.3 Übersetzungsarbeit zwischen Engagement und Distanzierung .................................. 58

4.4 Die Rückgabe der Namen? ........................................................................................ 61

5 Analyse ............................................................................................................................ 69

5.1 Beziehungsgeflechte .................................................................................................. 70

5.2 Ursache: Stressoren und Reaktionen ......................................................................... 74

5.3 Intervention: Erfahrung – Zeit-Raum – Grauzone ....................................................... 80

5.4 Kontext: Bindung und Räume..................................................................................... 92

5.5 Strategien: individuelle, kollektive und räumliche Bewältigung ................................... 98

II
5.6 Soziale Unterstützung als Funktion und Konsequenz ............................................... 104

6 Fazit: Synthese und Ausblick ....................................................................................... 110

Anhang .................................................................................................................................. 115

Literaturverzeichnis ............................................................................................................. 121

Archivalien ............................................................................................................................ 131

Internetquellen...................................................................................................................... 135

Darstellungsverzeichnis ...................................................................................................... 136

III
Vorwort
»Das Menschliche als, das, was es ist –, als eine Legierung von gut und böse! (…) Was also ist
der Mensch? Er ist das Wesen, das immer entscheidet, was es ist. Er ist das Wesen, das die
Gaskammern erfunden hat; aber zugleich ist er auch das Wesen, das in die Gaskammern
gegangen ist aufrecht und ein Gebet auf den Lippen.«2

Dieses Zitat des Psychologen und Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrationslager


Viktor Emil Frankl begleitet mich nunmehr seit nahezu 20 Jahren, legte den Grundstein für meine
soziologische Spurensuche nach vorhandenen respektive beschnittenen Handlungsspielräumen
innerhalb der nationalsozialistischen Terrorlandschaft. Geleitet von diesem menschlichen, mittelbar
und unmittelbar vorhandenen Entscheidungspostulat galt mein Interesse vorerst der direkten und
indirekten weiblichen Partizipation innerhalb des nationalsozialistischen Netzes des Terrors.
Dahingehend erwies sich ein Schwarz-Weiß-Denken in Form einer Täter*innen-Opfer-Dualität als
unzulänglich für die vorhandene wechselseitige Bezugnahme innerhalb der nationalsozialistisch
zementierten Räume. Denn Handlungs- und Entscheidungsräume bedürfen konkreter Orte der
Verwirklichung, seien es die Schreibtischen der selbsternannten »Volksgemeinschaft«, an denen
beiläufig Denunziationsbriefe, Transport- und Vernichtungslisten signiert wurden oder die Orte des
Terrors, wo die Opfer hastig gekritzelte heimliche Notizen verfassten, welche der Welt außerhalb
des Stacheldrahtes als Warnung und Mahnruf zuteilwerden sollten. Im ersten Moment als
unbedeutend abgetane Entscheidungen hatten und haben oftmals eine bedeutende Wirkmacht,
vor allem in jenen mittels Gewalt geformten Gesellschaften, denn im Sinne von Norbert Elias sind
wir alle ein »Glied in den Ketten«3. Die Hinwendung zu den Häftlingsgesellschaften an den
konkreten Orten des Terrors verdanke ich allen voran Christian Fleck, welcher mir beherzt die
richtungsweisende Studie von Elmer Luchterhand in die Hand gelegt hat, sowie im Einverständnis
mit Andreas Kranebitter das umfassende Datenmaterial des Soziologen in digitalisierter Form für
die vorliegende Arbeit zugänglich machte. Darüber hinaus wurde der interdisziplinäre Blick auf die
Orte des Terrors durch das perspektivenerweiternde Nachdenken am Centrum für Jüdische
Studien geschärft, wobei folgende Menschen die Entstehung dieser Arbeit mittelbar oder
unmittelbar beförderten: Birgit Erdle, Klaus Hödl, Susanne Korbel, Gerald Lamprecht sowie Ljiljana
Radonić. Darüber hinaus wurde die kritische Annäherung an die methodische Problematik
dankenswerterweise durch die Expertise von Barbara Hönig bereichert, die mir ihre Zeit gewidmet
hat, um eine adäquate methodische Annäherung an die aufgeworfenen Fragestellungen ausfindig
zu machen. Mein außerordentlicher Dank gilt dem begleitenden Rat, der umfassenden kritischen
Expertise sowie dem unterstützenden Zuspruch durch meinen Betreuer Dieter Reicher. Jenen
Menschen, die mit mir in familiären sowie freundschaftlichen Beziehungsgeflechten verbunden
sind, möchte ich an dieser Stelle von Herzen für die emotionale, instrumentelle und informationelle
Gefährtenschaft danken.

2 Frankl, Viktor E.: … trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. München: dtv
2002, S. 139. Hervorhebung im Original.
3 Elias, Norbert: Die Gesellschaft der Individuen. [Hg.]: Schröter Michael. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, 34.

1
1 Einleitung
»Begreifen bedeutet, sich aufmerksam und
unvoreingenommen der Wirklichkeit, was immer sie
ist oder war, zu stellen und entgegenzustellen.«4

Innerhalb dieser Prämisse der politischen Theoretikerin Hannah Arendt verbirgt sich einerseits ein
genuin soziologischer Anspruch und andererseits eine anhaltende sowie aktuelle Einsicht im
Kontext der kontroversen Debatten über adäquate Formen einer gesamtgesellschaftlichen
Erinnerungskultur hinsichtlich der Tatsache nationalsozialistischer Konzentrations- und
5
Vernichtungslager. Gleichwohl die Erforschung der »Orte des Terrors« relevante mikro-, meso-
und makrosoziologische Fragestellungen in sich birgt, lassen sich im interdisziplinären Diskurs
soziologische Positionen meist nur in Form von vereinzelten Schlaglichtern erkennen. Darüber
hinaus führt die Soziologie der Konzentrationslager nach wie vor ein »Schattendasein«6 im
innerdisziplinären Diskurs. Eine selbstkritische Annäherung an die Konzentrationslager als »totale
Institution«7 und die damit verbundene Eingrenzung des Forschungsfeldes sowie der
Problemstellung rückt unmittelbar die Menschen in den Mittelpunkt der diskursiven
Auseinandersetzung. Jene Menschen, durch deren Augen es anhand von reflexiven Erinnerungen
der erlittenen Erfahrung zu blicken gilt, um im figurationssoziologischen Sinn die »Außenwelt« der
Konzentrationslager und die »Innenwelt« der einzelnen Individuen innerhalb dieser spezifischen
Überlebenseinheiten zu betrachten.8 Eine wesentliche Denkfigur dieser Annäherung stellt der
Funktionszusammenhang der Menschen nach Norbert Elias dar:
»Und auf diese Weise ist also jeder einzelne Mensch in der Tat gebunden; er ist dadurch
gebunden, daß er ständig in funktioneller Abhängigkeit von anderen Menschen lebt; er ist ein
Glied in den Ketten, die andere Menschen binden, jeder andere – mittelbarer oder unmittelbarer
– ein Glied in den Ketten, die ihn selber binden.«9

Geleitet von diesem grundlegenden Elias'schen Verständnis liegt der Fokus der Arbeit auf den
Schicksalsgemeinschaften innerhalb der Konzentrationslager unter dem Gesichtspunkt der
sozialen Beziehungen. Wesentlich ist hierbei die Kontroverse der frühen Forschung, denn das
Vorhandensein von Beziehungsmustern innerhalb dieser Extremsituationen galt und gilt
durchaus als umstritten.10 Einen wesentlichen Kontrast dazu stellt die lebenslange

4 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, 10.

Auflage, München: Piper Verlag 2005, 25.


5 Die Bezeichnung des weitgespannten Netzes nationalsozialistischer Konzentrations- und Vernichtungslager als Orte

des Terrors wird in Anlehnung an nachstehendes lexikalische Werk verwendet und im Folgenden zur Verdeutlichung
der Raumkomponente herangezogen. Benz, Wolfgang/Distel, Barbara [Hg.]: Der Ort des Terrors. Geschichte der
nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 1-9. München: C.H. Beck 2005-2009.
6
Vgl. Christ, Michaela: Die Soziologie und das ›Dritte Reich‹. Weshalb Holocaust und Nationalsozialismus in der
Soziologie ein Schattendasein führen, in: SOZIOLOGIE, 40 (2011) 4, 407-431.
7
Goffman, Erving (1961): Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt:
Suhrkamp 1973.
8 Vgl. Elias, Norbert: Zum Menschen- und Gesellschaftsbild. Die Gesellschaft der Individuen, in: Hans-Peter Bartels

[Hg.]: Menschen in Figurationen. Opladen: Leske + Budrich 1995, 23.


9
Elias, Norbert: Die Gesellschaft der Individuen, 33f.
10 Siehe hierzu Kapitel 3.1 Resonanz: Bettelheim und Arendt sowie 3.2 Dissonanz: Luchterhand versus Bettelheim.

2
Einleitung

soziologische KL-Forschung11 von Elmer Luchterhand dar, welche in den Fokus der
Auseinandersetzung gerückt werden soll. Denn Luchterhand spricht den Häftlingen die
Fähigkeit zur Bildung sozialer Beziehungen keineswegs ab und richtet in seiner Studie12 den
Blick auf wechselseitige Beziehungsmuster, wobei sich vor allem folgender Schwerpunkt als
richtungsweisend herauskristallisierte:
»In der Annahme, dass die Frage von aktueller Bedeutung ist: Wie kommt man zu einem
annehmbaren Verständnis davon, wie Menschen in lang andauernden und schweren
Extremsituationen miteinander leben?«13

1.1 Soziologie und Konzentrationslager

Die Annäherung an die Problemstellung der vorliegenden Arbeit erfordert an dieser Stelle die Frage
nach spezifischen soziologischen Beiträgen zur Analyse der nationalsozialistischen
Konzentrationslager, wobei dadurch keineswegs die Erklärungskraft des interdisziplinären Blickes
geschmälert werden soll. Denn eine »Soziologie der Konzentrationslager« ist einerseits eng mit
»Soziologie und Nationalsozialismus«14 verknüpft und andererseits gilt es den wesentlichen Aspekt
der interdisziplinären Verzahnung zu beachten. Bezeichnend ist hierbei die Tatsache, dass die
frühe wissenschaftliche Erforschung der nationalsozialistischen Konzentrationslager durch die
unmittelbar betroffenen Überlebenden betrieben wurde, die durch ihre reflexiven Berichte über die
erlittenen Erfahrungen an den Orten des Terrors das Unbegreifliche begreifbar machen wollten und
dadurch gleichzeitig als Opfer, Augenzeug*innen und Analytiker*innen argumentierten.15 Diese
ersten Erfahrungsberichte stellen den Beginn der sozialwissenschaftlichen Betrachtung der
Häftlingsgesellschaften in den Konzentrationslager dar und sind keineswegs bloße
Tatsachenschilderungen, sondern folgen vielmehr konkreten Zielen. Diese reichen von der
Psychologie über die Politikwissenschaften bis hin zur Soziologie. Als genuin psychologische
Annäherungen können die Auseinandersetzungen von Bruno Bettelheim16, Ernst Federn17 sowie
Viktor E. Frankl18 begriffen werden, hingegen verstand Benedikt Kautsky19 sein soziologisches

11 Anm.: Bei Verwendung eines Akronyms der Konzentrationslager folgt die Autorin der Einsicht von Nikolaus

Wachsmann und bedient sich der Abkürzung KL: »In offiziellen Dokumenten und im allgemeinen Sprachgebrauch
wurden sie oft als ›KL‹ bezeichnet (das härter klingende ›KZ‹ wurde erst im Nachkriegsdeutschland zur
Standardabkürzung).« Wachsmann, Nikolaus: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, 11f.
12
Luchterhand, Elmer: Einsame Wölfe und stabile Paare. Verhalten und Sozialordnung in den Häftlingsgesellschaften
nationalsozialistischer Konzentrationslager. [Hg.]: Kranebitter, Andreas/Fleck, Christian, Mauthausen-Studien,
Schriftenreihe der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Band 11, Wien: new academic press 2018.
13 Ebd., 37.
14 Siehe hierzu: Christ, Michaela/Suderland, Maja [Hg.]: Soziologie und Nationalsozialismus – Positionen, Debatten,

Perspektiven. Berlin: Suhrkamp 2014; Kranebitter, Andreas/Reinprecht Christoph [Hg.:]: Die Soziologie und der
Nationalsozialismus in Österreich. Bielefeld: transkript Verlag 2019.
15 Vgl. Fleck, Christian/Müller, Albert: Bruno Bettelheim (1903-1990) und die Konzentrationslager, in: Barboza,

Amalia/Henning, Christoph [Hg.]: Deutsch-jüdische Wissenschaftsschicksale. Studien über Identitätskonstruktionen in


den Sozialwissenschaften. Bielefeld: transcript Verlag 2006, 181.
16 Bettelheim, Bruno: Individual and Mass Behaviour in Extreme Situations, in: Journal of Abnormal and Social

Psychology 38 (1943), 417-452.


17
Federn, Ernst: Essai sur la Psychologie de la Terreur, in: Synthéses 1 (1946), 81-108.
18 Frankl, Viktor E.: … trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. München:

Deutscher Taschenbuch Verlag 2002.


19
Kautsky, Benedikt: Teufel und Verdammte. Erfahrungen und Erkenntnisse aus sieben Jahren in deutschen
Konzentrationslagern. Zürich: Büchergilde Gutenberg 1946.

3
Einleitung

Werk als eine politische Schrift, wobei die frühe Abhandlung von Hannah Arendt20 eine Ausnahme
im Hinblick auf die unmittelbar erlittene Erfahrung darstellt. Als genuin soziologisch begriffen Eugen
Kogon21, Paul Martin Neurath22, Anna Pawełczyńska23 sowie Hans G. Adler24 ihre analytischen
Erfahrungsberichte, die um soziallwissenschaftliche Distanzierung bemüht waren. Der
unmittelbaren Verzahnung der Autor*innen mit dem Untersuchungsfeld der Konzentrationslager
wurde häufig Skepsis entgegengebracht, die alsbald ein enormes Maß an Beweissicherung von
den Verfasser*innen einforderte. Diese grundlegende Kritik steht in engem Zusammenhang mit der
methodischen Konzeptualisierung, da die »teilnehmende Beobachtung« zu diesem Zeitpunkt
keineswegs im sozialwissenschaftlichen Methodenkanon verankert war und als unwissenschaftlich
kritisiert wurde.25 Die zermürbende Problematik der Darstellbarkeit der Innenansichten in
Verbindung mit der ablehnenden Haltung vieler Verlage verzögerte respektive verhinderte allzu
häufig die Publikationen dieser für die Erforschung der Konzentrationslager unabdingbaren
Erfahrungsberichte. Im Fall von Neurath, dessen soziologische Studie über »Die Gesellschaft des
Terrors« zurecht als herausragend begriffen werden kann sowie mit der Einführung des Terminus
der »Häftlingsgesellschaft« in den wissenschaftlichen Sprachgebrauch in Verbindung gebracht
wird,26 war diese zermürbende Kritik für die erst posthume Veröffentlichung dessen Werkes
verantwortlich. Neurath, der das soziale Innenleben in den Konzentrationslagern aus der
Perspektive der Häftlinge verständlich machen wollte, tat dies unter zwei wesentlichen Ansprüchen.
Erstens ging es dem Soziologen, um die detaillierte Beschreibung und Interpretation seiner
Lagererfahrungen und zweitens brachte er »alle soziologischen Erwägungen absolut in eine
Sprache des Nichtakademikers, gerade zu dem Zweck, um die Sache womöglich doch an einen
größeren Leserkreis zu bringen.«27 Letztlich verstärkte dies von akademischer Seite das Diktum
der Unwissenschaftlichkeit und die kritische Verortung seiner Abhandlung im Genre der
Populärliteratur führte zu erheblichen Selbstzweifeln.28

»Eigentlich kann man es gar nicht einen soziologischen Bericht nennen: es ist einfach ein Bericht
über gewisse Erscheinungen, die jemand mit soziologischem Interesse besser sieht und besser
berichtet als jemand ohne das.«29

20 Arendt, Hannah: Konzentrationsläger, in: Die Wandlung 3 (1948) 4, 309-329.


21
Kogon, Eugen (1946): Der SS-Staat. Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, 175.-180.
Tausend, 5. Vollständige und erweitere Auflage, o.J., Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt.
22
Neurath, Paul Martin: Die Gesellschaft des Terrors. Innenansichten der Konzentrationslager Dachau und
Buchenwalt. Christian Fleck und Nico Stehr [Hg.]. Frankfurt am Main 2004.
23 Pawełczyńska, Anna: Werte gegen Gewalt. Betrachtungen einer Soziologin über Auschwitz. Oświęcim: Verlag des

staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau 2001.


24
Adler, Hans G. (1955): Theresienstadt 1941-1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Geschichte, Soziologie,
Psychologie, Tübingen: Mohr Siebeck.
25
Vgl. Kranebitter, Andreas: Zahlen als Zeugen. Soziologische Analysen der Häftlingsgesellschaft des KZ Mauthausen.
Mauthausen-Studien. Schriftenreihe der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Band 9. Wien: new academic press 2014, 19-25.
26 Vgl. Suderland, Maja: Ein Extremfall des Sozialen. Die Häftlingsgesellschaft in den nationalsozialistischen

Konzentrationslagern, Frankfurt am Main: Campus 2009, 22.


27
Neurath an Willy Ernst, 23.1.1943, zitiert nach Fleck, Christian/ Müller, Albert/Stehr, Nico: Nachwort, in: Dies. [Hg.]:
Neurath, Paul Martin: Die Gesellschaft des Terrors. Innenansichten der Konzentrationslager Dachau und Buchenwalt.
Frankfurt am Main 2004, 423.
28
Vgl. ebd., 422-426.
29 Neurath an Rudolf Pass, 30.10.1942, zitiert nach ebd., 427.

4
Einleitung

Der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit verstellt in dieser frühen Phase der Annäherung an die
Erfahrungswelt der Konzentrationslager häufig den Blick auf diese unwiederbringlichen sowie vor
allem unmittelbaren Zeugnisse aus der Mitte der Häftlingsgesellschaften. Die erwähnten
»Träger*innen der Erfahrungen« wurden zu Beginn nur von wenigen Beiträgen, jener
Soziolog*innen flankiert, die ihr Erkenntnisinteresse ohne die leidvolle Lagererfahrung verfolgten,
wie beispielsweise Luchterhand, dessen umfassende Studie über die Häftlingsgesellschaften, an
welcher sich unter anderem Neurath und Federn als Interviewpartner beteiligten, weitgehend
ignoriert wurde. Für die zeitliche Einordnung der soziologischen Perspektiven auf die Orte des
Terrors differenziert Maja Suderland drei Phasen der sozialwissenschaftlichen KL-Forschung. Die
erste Phase umfasst jene bereits erwähnten frühen Beiträge, welche teilweise bereits während
sowie unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs verfasst wurden und aufgrund ihrer jeweiligen
Publikationsgeschichte aktuell keineswegs als abgeschlossen begriffen werden können.30
Innerhalb dieser unmittelbaren Auseinandersetzungen hebt sich vor allem Neurath durch dessen
explizite Verortung »der grundlegenden Ideen«31 von Gesellschaft innerhalb der
Konzentrationslager ab. Nach der Entstehung dieser »teilnehmenden Selbstbeobachtungen«
ebbte die soziologische Auseinandersetzung vor allem im deutschsprachigen Raum weitgehend
ab, wobei Adler 1964 ein umfassendes Konzept für die soziologische Analyse der
Konzentrationslager vorlegte, welches lange Zeit unbeachtet blieb.32 Interessant ist, dass sich
Suderland kritisch über die fehlende Hinwendung unbelasteter Fachkolleg*innen in dieser frühen
Phase äußert, wobei sie dahingehend die Interviewstudie von Luchterhand ignorierte.
Erwähnenswert ist an dieser Stelle ebenso die 1944 in den USA durchgeführte soziologische Studie
mit weiblichen Befragten zur Erforschung der antisemitischen Persönlichkeit von Else Frenkel-
Brunswik und R. Nevitt Sanford.33 Die zweite Phase verortet Suderland Anfang der 1990er-Jahre,
wobei hier der Perspektivenwechsel von Zygmunt Bauman zu nennen ist, der den Genozid als
Produkt der Moderne begreift, sowie eine scharfe Kritik am Umgang der Soziologie mit dem
Holocaust übt und die Betrachtung der darin enthaltenen Gewalt als notwendiges
Analyseelement unterstreicht. Gerhard Armanski nimmt sich dieser Aufgabe an, indem er die

30 Vgl.: Suderland, Maja: »Das Konzentrationslager als giftigste Beule des Terrors«. Soziologische Perspektiven auf

die nationalsozialistischen Zwangslager, in: Christ, Michaela/Suderland, Maja [Hg.]: Soziologie und
Nationalsozialismus – Positionen, Debatten, Perspektiven. Berlin: Suhrkamp 2014, 377-388.
31
Neurath, Paul Martin: Die Gesellschaft des Terrors, 381.
32 »(1) die Untersuchung der Gesellschaft der Konzentrationslager hinsichtlich ihrer inneren Verhältnisse und

Einrichtungen; (2) die Erforschung der Institution Konzentrationslager im System der zeitgenössischen Gesellschaft
aus herrschaftssoziologischer Perspektive; (3) im Rahmen einer ›Soziologie des unfreien Menschen‹ die vergleichende
Analyse der Stellung der Konzentrationslager im System aller freiheitsentziehenden Einrichtungen; (4) eine
›sozialgeschichtliche Würdigung und sozialmorphologische Bestimmung‹ der Institution KZ, die nur vor dem
Hintergrund einer tiefgehenden Beschäftigung mit dem Wesen der Sklaverei möglich seien; und schließlich (5) die
Untersuchung der Konzentrationslager aus sozialpsychologischer Perspektive (…).« Adler, Hans G. (1964):
»Gedanken zu einer Soziologie des Konzentrationslagers«, 210-213, zitiert nach Suderland, Maja: »Das
Konzentrationslager als giftigste Beule des Terrors«, 388.
33
Diese Studie war aufgrund der geringen Stichprobe nicht repräsentativ. Jedoch entstand aus dieser Vorstudie die
Theorie Des Autoritären Charakters [Theodor W. Adorno 1950]. Die im Zuge der Vorstudie entwickelte F-Skala wird
bis heute in den empirischen Sozialwissenschaften zur Messung des faschistischen Potential verwendet. Frenkel-
Brunswik, Else/Sanford R. Nevitt: Die antisemitische Persönlichkeit. Ein Forschungsbericht, in: Simmel Ernst [Hg.]:
Antisemitismus. Frankfurt am Main 1993, 119-147.

5
Einleitung

Konzentrationslager als eklatanteste Ausprägung von Gewalt begreift und mit einer umfassenden
Gewaltanalyse verzahnt. Wesentlich scheint in dieser Phase neben der Hinwendung zur
Gewaltforschung auch die sichtbar werdende und zunehmende Täter*innenforschung. Die
Annäherung von Armanski kann durchaus als Antwort auf die strukturanalytische Studie von
Wolfgang Sofsky gelesen werden, die zu dieser Zeit vor allem für Aufsehen sorgte und
innerdisziplinäre Kontroversen sowie interdisziplinäre Kritik am Fach der Soziologie auslöste.34
Im Zusammenhang mit der vorliegenden Arbeit erweist sich das häufig als statisch bezeichnete
soziologische Konzept der »absoluten Macht« im als geschlossenes System begriffenen
Konzentrationslager, welches »an der Grenze jeder Sozialität«35 liegt, als Gegenposition zu den
hier vertretenen Einsichten. Denn die »Zerstörung der Sozialität«36 spricht der Existenz der
Häftlingsgesellschaften ihre Berechtigung ab und fördert darüber hinaus die Annahme, dass
durch den nationalsozialistischen Terror im Sinne Arendts die vollständige »Zerstörung der
Individualität«37 ausnahmslos gelungen sei. Suderland erkennt innerhalb dieser soziologischen
Herangehensweise folgerichtig:

»Die Ambiguität des Sozialen, die sich allein schon dann auftut, wenn man unterschiedliche
Erfahrungsberichte verschiedener ehemaliger KZ-Inhaftierter liest, verschwindet in dieser
Perspektive vollkommen und wird von Sofsky aus der Sicht von absoluter Macht homogenisiert.«38

Die damit verbundene Unfähigkeitskritik an der Soziologie der Konzentrationslager sorgte


spätestens mit der Jahrtausendwende für die soziologische Qualifizierung anhand von konkreten
thematischen Aspekten, wesentlich ist in dieser dritten Phase der Rückbezug auf die
Häftlingsgesellschaften, welche die KL-Forschung, seit deren Anfängen, nachhaltig prägte.
Suderland erwähnt innerhalb dieser dritten sowie anhaltenden Phase ausgewählte Beiträge, die
stark auf die Opferforschung zentriert sind, wobei für die vorliegende Arbeit vor allem ihre eigenen
soziologischen Studien zu den Häftlingsgesellschaften richtungsweisend sind. Denn Suderland39
knüpft in ihren Auseinandersetzungen an die grundlegenden Überlegungen von Neurath an und
legte fundierte soziologische Arbeiten zum Innenleben der Konzentrationslager vor, welche der
Erhaltung der Individualität eine tragende Bedeutung für die sozialen Identitäten der Häftlinge
zuschreiben und mittels der Analyse sozialer Kontinuitäten das komplexe Wirkungsgefüge der
Häftlingsgesellschaften herausarbeitet. Neben den überwiegend qualitativen Studien kann die
quantitative Analyse der Mortalität in Verbindung mit den jeweiligen Häftlingskategorien von
Andreas Kranebitter als wesentlicher und ergänzender Kontrast innerhalb des aktuellen
Diskurses eingeordnet werden.40 Beide Perspektiven haben ihr Für und Wider, gemeinsam ist
ihnen, dass »sie explizit soziologische Fragen an die Konzentrationslager stellen und dadurch

34
Vgl. Suderland, Maja: »Das Konzentrationslager als giftigste Beule des Terrors«, 391-394.
35 Sofsky, Wolfgang: Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager, 4. Auflage, Frankfurt am Main: Fischer 2002, 18.
36
Ebd., 106.
37
Arendt, Hannah: Konzentrationsläger, 326.
38 Suderland, Maja: »Das Konzentrationslager als giftigste Beule des Terrors«, 395.
39 Siehe hierzu: Suderland, Maja: Ein Extremfall des Sozialen. Die Häftlingsgesellschaft in den nationalsozialistischen

Konzentrationslagern, Frankfurt am Main: Campus 2009.


40 Vgl. Suderland, Maja: »Das Konzentrationslager als giftigste Beule des Terrors«, 396-400.

6
Einleitung

Antworten hervorrufen, die über deren begrenzte und abgeriegelte Welt hinaus weisen.«41 Die
Tatsache, dass die soziologische Perspektive innerhalb der KL-Forschung von Beginn an eine
Rolle spielte, stellt sich als unumstritten dar, dennoch findet sich die »Soziologie der
Konzentrationslager« innerhalb der Disziplin neben prominenten Vertreterinnen von sogenannten
Bindestrichsoziologien wieder.

1.2 Problemstellung und Forschungsfrage

Im Mittelpunkt der Arbeit steht die diskursive Annäherung an das Innenleben der
nationalsozialistischen Konzentrationslager, wobei diese ihren Ausgangspunkt in den kontrovers
geführten Debatten über die Existenz der Sozialität an den Orten des nationalsozialistischen
Terrors fand. Denn über die Herausbildung der Häftlingsgesellschaften herrscht keineswegs
Einigkeit, »die verbreitete Ansicht, diese könnten als beispielloser Extremfall des Sozialen nicht
unter dem Aspekt des Gesellschaftlichen betrachtet werden«42, beförderte nicht zuletzt einander
diametral gegenüberstehende soziologische Perspektiven. Diese Sichtweisen sind eng an die
jeweiligen Untersuchungsaspekte geknüpft sowie an die eingenommene Zeitperspektive
gebunden, feststeht jedoch, dass die Verortung der Konzentrationslager »außerhalb des Sozialen«
die Zuständigkeit der Soziologie infrage stellt.43 Im Hinblick auf den kontrovers diskutierten Begriff
der »Häftlingsgesellschaft« legt Andreas Kranebitter eine dienliche Rekonstruktion, der sich
dadurch herauskristallisierenden diametralen Dimensionen, in Form der Gegenüberstellung der
Sichtweisen auf die Konzentrationslager als »anarchische Wolfsgesellschaft« oder
»Solidargemeinschaft gegen den Terror« vor, um die Widersprüchlichkeit innerhalb dieser
Zuspitzungen zu verdeutlichen.44
»Es ist – kurz gesagt – leicht, Zeugen der Erinnerung für die These des Kampfes aller gegen alle
zu finden, ebenso wie es umgekehrt problemlos möglich ist, den Nachweis anzutreten die
Gesellschaft des Terrors sei durch eine harmonische Solidargemeinschaft konterkariert worden.«45

Aufgrund dessen gilt es diese Kontroversen ernst zu nehmen, um eine einseitige unreflektierte
Übernahme vorgefertigter Perspektiven auf die Häftlingsgesellschaften entgegenzuwirken. Denn
die Betrachtung von erinnernden Reflexionen der erlittenen Erfahrungen innerhalb der
Konzentrationslager erfordert es ihre zeitliche und örtliche Gebundenheit zu beachten, als auch die
subjektiven Erinnerungsfilter der Überlebenden mitzudenken und vor allem den ad-hoc-
gesellschaftlichen Charakter in diesen sich permanent wandelnden Zwangsgemeinschaften zu
erkennen.46 Im Sinne von Elias kristallisierte sich einerseits der prozesssoziologische Wandel47 als

41 Ebd., 398.
42
Suderland, Maja: Sichtweisen der Welt – Normalitätsentwürfe sozialer Verhältnisse unter der Bedingung der
Konzentrationslagerhaft, in: Gert Albert, Rainer Greshoff und Rainer Schützeichel [Hg.]: Dimensionen und
Konzeptionen von Sozialität. Wiesbaden: VS Springer 2010, 240.
43
Vgl. Suderland, Maja: »Das Konzentrationslager als giftigste Beule des Terrors«, 372-377.
44
Vgl. Kranebitter, Andreas: Zahlen als Zeugen, 70-78.
45 Ebd., 78.
46 Vgl. ebd., 226f.
47
»Aus dieser ständigen Verflechtung ergeben sich immer wieder langfristige Veränderungen des gesellschaftlichen
Zusammenlebens der Menschen, die kein Mensch geplant und wohl auch niemand vorausgesehen hat.« Elias,

7
Einleitung

zentrales Element für die Auseinandersetzung mit den Häftlingsgesellschaften heraus sowie
andererseits dessen Einsicht, dass »das Zusammenleben von Menschen in Gesellschaften (…)
selbst im Chaos, im Zerfall, in der allergrößten sozialen Unordnung, eine ganz bestimmte Gestalt«48
annimmt. Darüber hinaus ist es wesentlich, die Dichotomie diametraler Grenzbegriffe, wie
Solidarität und Konkurrenz, aufgrund ihres fehlenden Prozesscharakters auszubalancieren
respektive als Denkwerkzeuge in Form ihrer situativen höheren oder geringeren Ausprägung
nutzbar zu machen.49 Dahingehend wären sowohl die romantisierende Solidargemeinschaft als
auch die zerstörerische Wolfsgesellschaft an den äußeren Grenzen der Erfahrungswelt innerhalb
der Konzentrationslager zu verorten, denn »[z]wischen den beiden Polen liegt ein Kontinuum, und
dieses Kontinuum bildet das eigentliche Problem.«50 Nämlich jenes, im Zusammenhang der
vorliegenden Arbeit, zentrale Phänomen der Häftlingsgesellschaft, wobei die Einführung dieses
Terminus ebenso umstritten ist, wie deren Entwicklung. Vonseiten der Soziologie wird der Begriff,
dem als jüdischer Regimegegner verfolgten und an zwei Orten des Terrors inhaftierten
Sozialwissenschaftler Neurath zugeschrieben, welcher nach dem glücklichen Umstand der
Entlassung sowie Emigration in die USA seine erlittenen Erfahrungen bereits 1943 in seiner
Dissertation analysierte und in Bezug auf das Innenleben der Gesellschaft des Terrors konstatierte:

»Aber unter der Oberfläche wächst die Häftlingsgesellschaft heran und entwickelt ein Eigenleben, ein
Leben, dessen Rahmenbedingungen mit den natürlichen und administrativen Bedingungen des Lagers
vorgegeben sind, dessen menschlicher und sozialer Gehalt jedoch in hohem Maße von dem sozialen,
politischen und religiösen Hintergrund der Männer [und Frauen] bestimmt wird, die dieses Leben.«51

Neurath rekrutiert hier sowohl auf die sichtbaren und verborgenen Gesetzmäßigkeiten dieser Ad-
hoc-Gesellschaften, wobei die vorliegende Auseinandersetzung die Häftlingsgesellschaft als
genuin soziales Phänomen begreift und dahingehend einerseits die inhaftierten Menschen in den
Mittelpunkt rückt sowie andererseits den Fokus auf die beständigen sowie wandelbaren
Interdependenzketten der Überlebenseinheiten legt. Das Erkenntnisinteresse an diesem durch
den nationalsozialistischen Terror verborgenen sozialen Innenleben mündete in folgender
zentralen Fragestellung: Welche spezifischen Beziehungsgeflechte werden innerhalb der
Häftlingsgesellschaften der nationalsozialistischen Konzentrationslager sichtbar? Innerhalb der
eingehenden theoretischen Annäherung an die Erfahrungswelt der Orte des Terrors
kristallisierten sich wesentliche Aspekte des Lagerlebens heraus, die weiterführende Hypothesen

Norbert: Prozesse, soziale. In: Bernhard Schäfers [Hg.]: Grundbegriffe der Soziologie, 8. überarbeitete Auflage,
Opladen: Leske + Budrich 2003, 275. Wobei hier angenommen wird, dass innerhalb der Schnelligkeit sich rasch
verändernder Bedingungen des Lagerlebens die »Langfristigkeit« und somit die Veränderungen beschleunigt wurde.
48 Elias, Norbert: Figuration, in: ebd., 90.
49
Vgl. Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen,
Zweiter Band, Wandlung der Gesellschaft – Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. Frankfurt am Main: Suhrkamp
1997, 49; sowie Elias, Norbert: Engagement und Distanzierung. Gesammelte Schriften, Band 8, Frankfurt am Main:
Suhrkamp 2003, 108.
50
Ebd., 108f.
51
Neurath, Paul Martin: Die Gesellschaft des Terrors, 30.

8
Einleitung

beförderten, diese forschungsleitenden Annahmen wurden ebenso als Fragestellungen


formuliert, um einen explorativen Zugang zum analytischen Vorhaben zu gewährleisten.

Forschungsleitende Aspekte52

Beziehungsmuster Inwieweit lassen sich Handlungs- und

Figurationen Entscheidungsspielräume in den Beziehungsmustern der


Häftlingsgesellschaften feststellen?

Inhaftierungsdauer und Ort des Terrors Hat Zeitpunkt und Dauer der Inhaftierung und der damit

Zeit-Raum-Komponente einhergehende nichtlineare Funktionswandel an den


konkreten Orten des nationalsozialistischen Terrors
positive respektive negative Auswirkungen auf die sozialen
Beziehungen?

Bindungsformen Welche Bindungsformen werden innerhalb der

Überlebenseinheiten Überlebenseinheiten sichtbar und welche Form von


Bindung hilft zu überleben?

Affektive Bindungen Zeigen sich affektive Bindungen innerhalb der

Emotion und Gewalt Häftlingsgesellschaften und haben diese Auswirkungen


auf die Traumabewältigung sowie die extreme
Gewalterfahrung?

Bewältigungsstrategien Lassen sich geschlechtsspezifische Unterschiede

Geschlechtsspezifik innerhalb der Beziehungsmuster feststellen und äußern


sich diese in differenten Bewältigungsstrategien innerhalb
der Überlebenseinheiten?

Tabelle 1: Forschungsleitende Aspekt: »Ein Glied in den Ketten«

Die Erforschung der angeführten Fragestellungen erfordert eine Überwindung der Kluft zwischen
mikro- und makrosoziologischen Sichtweisen sowie eine interdisziplinäre Verknüpfung
soziologischer und historischer Forschungsperspektiven. Dieser Forschungsanspruch ist mit der
Einsicht verknüpft, dass ein derartiges Vorhaben keineswegs lückenlos bleibt, noch als
abgeschlossen begriffen werden kann. Der hier aufgenommene analytische Faden wird anhand
einer wachsenden zusammenhängenden Geschichte integriert und strebt mittels des dargelegten
Erkenntnisstandes eine weiterführende respektive vertiefende Forschung an.

52
Angemerkt sei, dass die angeführten Aspekte vom Erkenntnisinteresse ihrer hemmenden oder fördernden Wirkung
auf die Bewältigungsstrategien geleitet wurden, im Zusammenhang mit den innerhalb der Konzentrationslager
erzeugten und anhaltenden Stressoren: »eine von innen oder außen kommende Anforderung an den Organismus, die
sein Gleichgewicht stört und die zur Wiederherstellung des Gleichgewichtes eine nicht-automatische und nicht
unmittelbar verfügbare, energieverbrauchende Handlung erfordert«. Antonovsky, Aaron: Health, stress and coping.
San Francisco: Jossey-Bass 1979, 72.

9
Einleitung

1.3 Theoretischer Bezugsrahmen

Im Hinblick auf die aufgeworfenen Fragestellungen kristallisierten sich die prozess- und
figurationssoziologischen Ansätze von Elias als richtungsweisend heraus, denn die
wechselseitigen Abhängigkeiten in Form der Figurationen stellen die Beziehungsgeflechte dar,
die sich innerhalb der nationalsozialistischen Konzentrationslager gegebenenfalls wandelten,
jedoch keineswegs gänzlich auflösten. Auch hier gilt es wieder der Denkfigur des zwischen den
Polen liegenden Kontinuums zu folgend, um den Blick darauf zu schärfen, dass auch an den
Orten des Terrors die erleidenden Individuen, sowohl eine feste gegenseitig verankerte Bindung
entwickeln konnten als auch in ihrer Suche nach effektiven Zusammenschlüssen weniger
erfolgreich waren. Darüber hinaus veranschaulicht Elias den für die Erfahrungswelt der
Konzentrationslager wesentlichen Aspekt des Todes, welcher innerhalb affektiver Bindungen für
die Überlebenden eine Imbalance der Beziehungsgeflechte zur Folge hat.53 Im Zusammenhang
mit der Zeit-Raum-Komponente der erlittenen Erfahrungen gilt es ebenso, die Etablierten-
Außenseiter-Konstellation miteinzubeziehen, um die Position sowie die daran gebundenen
Erwartungen der Menschen innerhalb der Überlebenseinheiten fassbar zu machen. Die
Ambivalenz der darin verborgenen Machtbalancen sowie Gefahrenpotentialen verdeutlicht Elias
folgendermaßen:
»In vielen Fällen erwarten Menschen von ihren Wir-Gruppen, insbesondere von einer
Überlebensgruppe, sowohl Unterstützung, Schutz, Hilfe in der Not als auch die unentbehrliche
Befriedigung ihrer Selbstachtung; und doch sind sie vielleicht gleichzeitig bereit, ihr Leben für ihre
Gruppe (…) aufs Spiel zu setzen. (…) Die paradoxe Situation steht in einem engen
Zusammenhang mit der Tatsache, daß das menschliche Selbst sowohl ein Ich-Selbst als auch
ein Wir-Selbst ist.«54

Die darin enthaltenen Konfliktpotentiale und Spannungszustände stellen substantielle


gesellschaftliche Bestandteile dar, unterliegen der »Ordnung des Wandels«55, können durch
Fremd- und Selbstzwänge in Form der Selbstregulierung ausbalanciert werden, haben aber auch
das Potential ein barbarisches Ausmaß zu entwickeln, befördert wird diese De- respektive
Entzivilisierung durch eine »Verringerung der Reichweite des Mitgefühls«.56 Diesen im
nationalsozialistischen Terror sichtbar werdenden Wandel bezeichnet Elias als Zusammenbruch
der Zivilisation und erkennt in dieser Schattenseite zivilisierter Menschen »den tiefsten Rückfall
in die Barbarei«, wobei für den Zweck des Machterhalts eine gewaltsame Zerstörung mit
Sinnhaftigkeit besetzt wird und eine zivilisierte Selbstregulierung in den Hintergrund treten lässt.
Die nationalsozialistische Umfunktionierung des staatlichen Gewaltmonopols gegen jene zu
Feinden erklärte Menschengruppen, welche nunmehr staatenlos und entrechtet der Verfolgung

53
Vgl. Elias, Norbert: Was ist Soziologie? Gesammelte Schriften, Band 5, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, 132f
sowie 179f.
54 Elias, Norbert: Engagement und Distanzierung, 15.
55
Exemplarisch hierzu: Elias, Norbert: Die Gesellschaft der Individuen, 234; Elias, Norbert: Was ist Soziologie? 200.
56 Vgl. Elias, Norbert: Zivilisation, in: Bernhard Schäfers [Hg.]: Grundbegriffe der Soziologie, 446-450.

10
Einleitung

ausgesetzt waren, ging mit der Objektivierung und Entmenschlichung dieser Außenseitergruppen
einher. Im Sinne von Elias gilt es im Zusammenhang mit dieser Durchbrechung der Zivilisation
ebenso dichotome Denkweisen in Form einer Entweder-oder-Haltung zu vermeiden, um die darin
verborgenen Zwischenräume freizulegen. Der nationalsozialistische Verfolgungsdruck
gegenüber den als Opfergruppen ausgewählten Menschen setzte einen Vernichtungsprozess,
welcher vom »Fortschritt der Rationalisierung und Bürokratisierung«57 geprägt war, in Gang, die
Opfer wurden registriert und an den Orten des Terrors isoliert, um die Entrechteten mittels
vielschichtiger Formen der Gewalt dauerhafter Repression und Deprivation auszusetzen.58
Innerhalb dieser totalen Institutionen der Konzentrationslager entstehen die für diese Arbeit
zentralen mittels Gewalt geformten Häftlingsgesellschaften, die als eine Art soziale
Gegenposition inmitten des zerstörerischen Kontinuums der Lager begriffen werden können und
als »Glieder in den Ketten« unmittelbar mit ihren Peiniger*innen verzahnt sind. Die direkte
Konfrontation der Opfer und Täter*innen an den Orten des Terrors erzeugte, selbst unter diesen
extremen sowie ungleichen Bedingungen, wandelbare soziale Figurationen, die spezifische
Gesetzmäßigkeiten aufwiesen und keineswegs weniger komplex waren. Entscheidend für die
sozialen Beziehungen unter den Verfolgten sowie für die Nähe und Distanz zu den Verfolgern ist,
in Anlehnung an Abram de Swann, die jeweilige Ausprägung der Empathie respektive Antipathie.
Jenes zwischen diesen Polen liegende Kontinuum eines mehr oder weniger starken Mitgefühls
sowie das Fehlen desselben. Feststeht, jenes erklärte nationalsozialistische Ziel der Auslöschung
der Empathie sollte gerade an den Orten des Terrors restlos verwirklicht werden, eine emotionale
Erosion, die bei den Täter*innen ihre Wirkung entfachte, hinsichtlich der Opfer hinterfragt werden
muss.59 Denn innerhalb der konzentrierten Räume wird jenseits des Schwarz-Weiß-Denkens die
»Grauzone«60 sichtbar, deren unscharfe Konturen fluide Grenzen der Handlungsräume zwischen
Erleidenden und Peiniger*innen sichtbar machen und die vielschichtigen Formen der darin
enthaltenen Gewalt in den Fokus rücken. Hinsichtlich der soziologischen Gewaltforschung im
Zusammenhang mit dem nationalsozialistischen Terror verweist Michaela Christ auf ein
figurationssoziologisches Desiderat, welches für die vorliegende Arbeit essenziell erscheint:

57
Elias bezieht sich hierbei auf die Sphäre zwischen direkter und indirekter Gewalt und verdeutlicht den
sichtbarwerdenden Wandel wie folgt: »Das war die Tötung in Gaskammern. Verglichen mit Pogromen und anderen,
militärischen Verfahren, bedeutet diese neue Vernichtungsform einen Fortschritt der Rationalisierung und
Bürokratisierung.« [Elias 2005: 399]
58
Vgl. Elias, Norbert: Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert.
[Hg.]: Michael Schröter. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, 391-516.
59
Vgl.: Swaan, Abram de: The Killing Compartments. The Mentality of Mass Murder. New Haven: Yale University Press
2015, 1-17; 203-251. Angemerkt sei, dass vor allem das durch de Swann in Kapitel 8 aufgeworfene Konzept im
Zusammenhang mit »Genocidal Perpetrators and the Compartmentalization of Personality« im Umkehrschluss
erhebliches Potential für die Opferforschung bereithält.
60
Diese These Primo Levis bezieht sich auf die Sphäre zwischen Opfern und Verfolger*innen: »Sie ist eine Grauzone
mit unscharfen Konturen, die die beiden Bereiche (…) voneinander trennt und zugleich miteinander verbindet. Sie
besitzt eine unvorstellbar komplizierte innere Struktur und enthält in sich soviel, wie ausreicht, um unser Bedürfnis nach
einem Urteil durcheinanderzubringen.« Levi, Primo (1986): Die Untergegangenen und die Geretteten. München: dtv
2021, 39f.

11
Einleitung

»[K]onkrete Ereignisse des Zufügens und Erleidens von Schmerz, das heißt Gewalt als Form
sozialen Handelns oder als zweckrational eingesetztes Mittel sowie Gewalt als Machtform und
Herrschaftsmittel [werden], nur selten zum Gegenstand soziologischer Untersuchungen.«61

Die Soziologie der Konzentrationslager vereint sich mit Gewaltsoziologie nicht zuletzt ob ihrer
innerdisziplinären Positionen als Bindestrichsoziologien, denn Gewalt ist mit wenigen Ausnahmen
laut Trutz von Trotha bis in die 1990er-Jahre ein ungeliebtes Stiefkind der soziologischen Theorie.
Trotha widmet sich der herausfordernden Aufgabe, den gewaltsoziologischen Diskurs seit der
Gründung der Disziplin nachzuzeichnen und kritisiert zu Recht, dass es sich bei der Soziologie der
Gewalt um eine Soziologie der Ursachen handelt, erstere fordert der Soziologe jedoch für die
Theoriebildung in genuiner Form ein. Der Kritik Trothas entgeht ebenso wenig die Ausweitung des
Gewaltbegriffs um die Dimension der »strukturellen Gewalt« durch Johan Galtung in seinem
gleichnamigen Werk Anfang der 1970er-Jahre. Das galtungsche Konzept verweist Trotha in eine
dunkle Seitenstraße der Theoriebildung, aufgrund einer zu starken Dehnung des Gewaltbegriffes.62
Entgegen dieser Meinung stellt jedoch die Erweiterung der Gewalt in die Mehrdimensionalität für
die Analyse von direkter und indirekter Gewalt an den konkreten Orten des Terrors eine dienliche
Handreichung dar. Wobei Trothas Forderung nach einer detaillierten Prozessanalyse zuzustimmen
ist, denn »[d]er Schlüssel zu Gewalt ist in den Formen der Gewalt selbst zu finden.«63 Dieses
Traktat verknüpft jene vielschichtigen Formen respektive Dimensionen der Gewalt nach Galtung
mit dem geforderten mikroskopischen Blick, der die situationsbezogenen Handlungsradien an den
konkreten Orten des Terrors in den Fokus der Betrachtung rückt, um die darin enthaltenen Formen
von Gewalt zu analysieren. Das mehrdimensionale, gewaltsoziologische Konzept von Galtung
fungierte einerseits als theoretischer Bezugsrahmen, welches nachstehend betrachtet wird und
andererseits als eine Schablone für die Analyse der durch Gewalt erzeugten
Häftlingsgesellschaften, aufgrund dessen findet sich eine detaillierte Abbildung der galtungschen
Gewalttypologie im Anhang dieser Arbeit.64

Festzuhalten ist, dass Galtung den Schlüsselbegriff des Konzepts eher unscharf definiert: »Gewalt
liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige
Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung.«65 Der Soziologe betont, dass diese
weite Definition bewusst gewählt wurde, da dessen Fokus weniger auf der engmaschigen
Präzisierung des Terminus liegt, sondern vielmehr auf dem Aufzeigen signifikanter Dimensionen
von Gewalt. Darüber hinaus zeigt der galtungschen Blick auf Gewaltphänomene eine erhebliche
Nähe zum Konzept der »symbolischen Gewalt«, aufgrund dessen empfiehlt sich eine
Achsendrehung hin zum Macht-Herrschaft-Gewalt-Verhältnis bei Bourdieu, um den

61
Christ, Michaela: Gewalt in der Moderne. Holocaust und Nationalsozialismus in der soziologischen Gewaltforschung,
in: Christ, Michaela/Suderland, Maja [Hg.]: Soziologie und Nationalsozialismus, 353.
62
Vgl. Trotha, Trutz von: Zur Soziologie der Gewalt, in: ders. [Hg.]: Soziologie der Gewalt. Kölner Zeitschrift für
Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft, 9-20.
63 Ebd., 20.
64 Abbildung 7: Eigene Darstellung: Typologie der Gewalt [Galtung 1975:15] im Anhang auf Seite 115.
65
Galtung, Johan: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
1975, 9. Hervorhebung im Original.

12
Einleitung

Systematisierungsgrad des galtungschen Gewaltdreiecks zu untermauern. Denn im Sinne


Bourdieus sind Herrschaft, Macht und Gewalt nicht getrennt voneinander zu begreifen, jedoch
besteht die Möglichkeit der konzeptuellen Trennung. Für die vorliegende Untersuchung stellt
demnach die nationalsozialistische Herrschaft ein gesellschaftlich institutionalisiertes Über- und
Unterordnungsverhältnis dar, welches auf einer ungleichen Ressourcenverteilung, Bewegungs-
und Handlungsräumen beruht und dadurch die Kräfteverhältnisse fixiert. Macht ist das Vermögen
der nationalsozialistischen Akteur*innen und Institutionen, Ressourcen zu mobilisieren und
einzusetzen, um eigene Interessen, Ziele und Ansprüche durchzusetzen, wobei Gewalt letztlich der
Modus ist, durch und in dem sich Macht konkret realisiert.66 Dieser Modus beinhaltet einen
Interaktionsprozess, welchen Bourdieu anhand von drei Momenten symbolischer Gewalt verortet:
Erkennen, Anerkennen und Verkennen. Wobei das Erkennen von Herrschaft einer
übereinstimmenden gesellschaftlichen Interpretation entspricht, welche durch das Anerkennen in
eine gesellschaftliche Legitimation der Herrschaftsordnung mündet.67 In diesem Moment verbirgt
sich ein wesentliches Charakteristikum der nationalsozialistischen Herrschaft:
»Anerkennung von symbolischer Gewalt als legitime gesellschaftliche Praxis äußert sich unter
anderem in der Verinnerlichung, Duldung, Bejahung und Mystifizierung gegebener
Herrschaftsverhältnisse als irreversibel, wünschenswert, unantastbar und funktional.« 68

Innerhalb der nationalsozialistischen Gesellschaft kulminierte die symbolische Gewalt in das


Moment des Verkennens, welches im Sinne Bourdieus als »soziale Magie« bezeichnet wird. In
diesem Sinne kann die symbolische Gewalt im galtungschen Gewaltdreieck anhand der
»kulturellen Gewalt« verortet werden, welche mittels der vorherrschenden geteilten Kultur
direkte und indirekte Gewalt legitimiert. Wobei die direkte oder auch personale Gewalt das
Vorhandensein von mindestens einem*r Akteur*in voraussetzt, die indirekte oder strukturelle
Gewalt ist hingegen in das institutionelle System eingebaut und kann deshalb als soziale
Ungerechtigkeit begriffen werden. Hinsichtlich der Frage der Sichtbarkeit kann erstere als
offene und letztere sowie auch die kulturelle Dimension als weitgehend verdeckte Gewalt
begriffen werden, denn Galtungs Annäherung an Gewalt erfolgt über die traditionelle
Differenzierung der manifesten oder latenten Gewalt.69 Darüber hinaus gilt es bei Gewalt
zwischen nicht intendierter und intendierter Gewalt zu unterscheiden, diese Differenzierung bezieht
sich auf das jeweilige vorherrschende Rechtssystem und die damit verbundene Legitimation von
Gewalt. Zudem bedarf es einer Unterscheidung zwischen negativer und positiver Einflussnahme,
diese bezieht sich auf die Art der Umsetzung von Gewalt, ob durch Bestrafung oder Belohnung –
auch letztere verringert den Handlungsspielraum. Die bereits erwähnten Dimensionen können die
wesentliche Erweiterung der Gewalt durch Galtung, mittels der Differenzierung von personaler und

66
Vgl. Peter, Lothar: Prolegomena zu einer Theorie der symbolischen Gewalt, in: Österreichische Zeitschrift für
Soziologie 36 (2011), 13.
67 Vgl. ebd., 18.
68
Ebd.
69 Vgl.: Galtung, Johan: Strukturelle Gewalt, 12-14.

13
Einleitung

struktureller Gewalt, gleichbedeutend durchziehen. Des Weiteren kann sowohl bei der personalen
als auch bei der strukturellen Gewalt zwischen objektbezogener, objektloser, psychischer und
physischer Gewalt unterschieden werden. Bei der physischen Gewalt nimmt Galtung eine weitere
Abstufung mittels struktur- und funktionsbezogener Gewalt vor. Letztere zielt auf den Entzug von
Bedürfnissen oder die Einengung des menschlichen Körpers ab, die in vollendeter Weise innerhalb
der nationalsozialistischen Konzentrationslager zum Einsatz kam sowie in den Gaskammern ihren
absoluten Höhepunkt fand. Die strukturbezogene Gewalt wird durch Einsatz der menschlichen Kraft
und technischer Hilfsmittel verwirklicht. Die psychische Gewalt ist oft eng an die physische
gebunden, kommt es zu Androhungen von körperlicher Gewalt, so ist dies eine Form der
psychischen Gewalt, jedoch ist diese Gewalt objektlos, da in diesem Fall die Beschädigung noch
nicht vollzogen wurde. Die objektbezogene Gewalt zielt auf die Zerstörung von Gegenständen ab,
in diesem Fall kann es sich ebenso um eine Ankündigung der Vernichtung von Personen handeln,
wie beispielsweise bei Pogromen.70 Es sei hier noch festgehalten, dass laut Galtung die
Dimensionen der personalen und strukturellen Gewalt oft eng miteinander verknüpft sind und
deshalb keine scharfe Trennlinie gezogen werden kann, wobei die Notwendigkeit der kulturellen
Legitimation eine wesentliche Rolle einnimmt. Die notwendige Innen- und Außensicht auf die
Häftlingsgesellschaften inmitten des jeweiligen Lagersystems rückt ebenso die Historische
Soziologie in den Mittelpunkt, welche gleichsam den Methodenkasten beider Nachbardisziplinen
miteinander verbindet sowie den Bedarf der historischen Sicht für die soziologische Erforschung
der Konzentrationslager verdeutlicht. Eine erhellende und umfassende Darstellung, welche sich der
Trennung von Mikro- und Makroebene verwehrt und beide Perspektiven miteinander verschränkt,
stellt das Werk »KL« von Nikolaus Wachsmann dar. Die Studie besticht durch die systematische
Verzahnung des »Lagermikrokosmos« mit dem »Weitwinkel-Objektiv auf äußere Kräfte« und
zeichnet die historische, dynamische, nicht-lineare Entwicklung der Konzentrationslager nach.71
Neben dieser wesentlichen Handreichung ist ebenso das lexikalische Standardwerk72 von
Wolfgang Benz und Barbara Distel unerlässlich, um die analytische Zeit-Raum-Komponente
fassbar zu machen. Denn die disziplinären Identitäten, der Geschichtswissenschaft und der
Soziologie, die sich in ihrer geteilten Vergangenheit weder als explizit verbunden noch implizit
getrennt begreifen können, sind unweigerlich miteinander verbunden. Diese Einsicht brachte
Ernst Topitsch in Anlehnung an Immanuel Kant treffend auf den Punkt: »Geschichte ohne
Soziologie ist blind, Soziologie ohne Geschichte ist leer«73.

70
Vgl. Galtung, Johan: Strukturelle Gewalt, 10-19.
71
Vgl. Wachsmann Nikolaus: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, 26-28.
72 Benz, Wolfgang/Distel, Barbara [Hg.]: Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen
Konzentrationslager. Band 1-9. München: C.H. Beck 2005-2009.
73
Topitsch 1971, 129, zitiert nach Acham, Karl: Die Soziologie und ihre Nachbardisziplinen im Habsburgerreich. Wien:
Böhlau Verlag 2020, 49.

14
Einleitung

1.4 Zeitdokumente und Konzeptualisierung

Die zentrale Datenquelle für die vorliegende Auseinandersetzung stellen jene 52


Interviewprotokolle der bereits erwähnten frühen Studie über die Häftlingsgesellschaft von Elmer
Luchterhand dar. Der spätere Soziologe und damalige Nachrichtenoffizier der U.S. Army wurde
während seiner Marschroute durch das nationalsozialistische Deutschland und Österreich mit der
Tatsache der Konzentrations- und Vernichtungslager konfrontiert. Die gewonnenen Eindrücke
während und nach der Befreiung der Lager wurden zum zentralen Inhalt seiner soziologischen
Forschung, welche bedauerlicherweise bis zu seinem Tod keine nennenswerte Beachtung fand.
Ein wesentlicher Schritt hinsichtlich der Reputation Luchterhands ist der Edition dessen
Dissertation durch Andreas Kranebitter und Christian Fleck zu verdanken. Die Qualifikationsarbeit
erfährt durch die Herausgeber einleitend eine aufschlussreiche Kontextualisierung und wurde mit
kritischen Anmerkungen versehen. Luchterhand wollte den Stimmen der Überlebenden Gehör
schenken und tat dies in avantgardistischer soziologischer Form, indem er in den Jahren 1950
und 1951 insgesamt 52 Interviews mit Überlebenden der Konzentrationslager in den USA führte,
um diese im Rahmen seiner Doktorarbeit mit dem Titel »Prisoner Behavior and Social System in
Nazi Concentration Camps« mit damals verfügbaren Methodologien zu analysieren. Diese
Dissertation ist seit 2018 einer breiteren Öffentlichkeit unter dem deutschsprachigen Titel
»Einsame Wölfe und stabile Paare. Verhalten und Sozialordnung in den Häftlingsgesellschaften
nationalsozialistischer Konzentrationslager« zugänglich.74 Das Datenmaterial dieser Studie stellt
ein Konglomerat an unwiederbringlichen Zeitdokumenten dar, aufgrund der Unmittelbarkeit in Form
der geringen zeitlichen Distanz zwischen Befreiung und Befragung sowie der darin
angesprochenen Aspekte des Lagerlebens. Die kritische Annäherung an das Datenmaterial zeigte
einerseits, dass der Verzicht auf Volltexttranskripte den Soziologen gleichsam in den Protokollen
mitsprechen lässt, dadurch werden die Erfahrungen der Überlebenden im Sinne von Niklas
Luhmann zu einer Beobachtung »zweiter Ordnung«75. Anderseits scheiterten die frühen
soziologischen und durchaus umfassenden Untersuchungen häufig an der Suche nach einer
geeigneten Forschungsmethode und blieben aufgrund der methodischen Problematik
unveröffentlicht, so auch die Studie von Luchterhand.

Aufgrund dieser Einsichten wurde die vorliegende Arbeit als ein dreifaches Forschungsvorhaben
konzipiert, welches ausgehend von der Methodenproblematik über die Dekonstruktion der
herangezogenen Primärstudie in einer Sekundäranalyse des Datenmaterials anhand der
aufgeworfenen Fragestellungen respektive forschungsleitenden Aspekten mündet. In einem ersten
Schritt gilt es eine kritisch-reflektierte methodologische Annäherung vorzunehmen, um eine
adäquate Forschungsmethode für die empirische Analyse des qualitativen Datenmaterials
ausfindig zu machen. Im zweiten Schritt, der Dekonstruktion der Primärstudie, sollen Stärken und

74
Vgl. Kranebitter, Andreas/Fleck, Christian: Elmer Luchterhands Forschung zu nationalsozialistischen
Konzentrationslagern. Eine Einleitung. In.: Dies. [Hg.]: Luchterhand, Elmer: Einsame Wölfe und stabile Paare, 7-36.
75
Vgl. Krause, Detlef: Luhmann-Lexikon: Eine Einführung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann, 4. Auflage,
Stuttgart: UTB 2005, 129f.

15
Einleitung

Schwächen innerhalb der Studie Luchterhands herausgearbeitet werden, um Unzulänglichkeiten


auszuräumen und das Potential dieser frühen Forschung innerhalb des gegenwärtigen Diskurses
nutzbar zu machen. Daran anknüpfend werden die Überlebenden als Träger*innen der erlittenen
Lagererfahrungen in den Mittelpunkt gerückt, um die spezifische Form ihrer Zeugenschaft genauer
zu beleuchten. Dahingehend gilt es ebenso, die Sprache und Symbolik der Konzentrationslager
sowie die damit verbundenen Innen- und Außenansichten zu hinterfragen, denn innerhalb der
Auseinandersetzung mit den Orten des Terrors ist die nationalsozialistische Terminologie
allgegenwärtig und darf keinesfalls unreflektiert in den alltäglichen Sprachgebrauch übernommen
werden. Diese reflexive Annäherung an die Zeugenschaft und den darin enthaltenen
Übersetzungsprozess fungiert als Türöffnerin für die daran anknüpfende prozesshafte Analyse
sowie Synthese, geleitet von der Frage nach der Ausgestaltung sozialer Beziehungen innerhalb
der Häftlingsgesellschaften nationalsozialistischer Konzentrationslager.

16
2 Methode
»Wenn es richtig ist, daß die Konzentrationsläger die
konsequenteste Institution totalitärer Herrschaft sind,
dann dürfte zu ihrer Erkenntnis ein Verweilen beim
Grauen unerläßlich sein.«76

Die Forderung, der Tatsache der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager


durch »ein Verweilen beim Grauen« zu begegnen, meint im Sinne Arendts, die Gegenwart des
Grauens in Zeiten der Abwesenheit von Gewalt auszuhalten, um zu unvoreingenommenen
Erkenntnissen zu gelangen.77 Dieser theoretische Anspruch ist eng an die Kritik der politischen
Theoretikerin an der damaligen sozialwissenschaftlichen Methodologie gebunden. Denn Arendt
prognostizierte das Scheitern der Sozialwissenschaften am Untersuchungsgegenstand der
Konzentrationslager, aufgrund der fehlenden Analysewerkzeuge innerhalb des vorhanden
Methodenkastens, diese verharren aus ihrer Perspektive in unhinterfragten Vorannahmen und
würden kaum mehr als ein Oberflächenphänomen erblicken.78 Diese Kritik gilt es ernst zu
nehmen, denn tatsächlich scheiterte die frühe amerikanische Nachkriegssoziologie meist am
Versuch etablierte sozialwissenschaftliche Methoden für die Analyse der Konzentrationslager
heranzuziehen und die umfassenden Forschungsprojekte blieben häufig unveröffentlicht.79
Exemplarisch für diese Methodenproblematik steht auch jene für die vorliegende
Auseinandersetzung herangezogene Primärstudie des Soziologen Luchterhand.80 Aufgrund
dessen gilt es die soziologische Perspektive auf die Überlebenseinheiten innerhalb der
Häftlingsgesellschaften anhand einer kritisch-reflektierten methodologischen Annäherung zu
untermauern sowie eine adäquate analytische und methodische Forschungsstrategie
heranzuziehen. Die empirische Basis stellen 52 Protokolle von Interviews mit Überlebenden der
nationalsozialistischen Konzentrationslager dar, welche von Luchterhand im Rahmen seiner
Dissertation Anfang der 1950er Jahre generiert und analysiert wurden. Aus diesem Grund lassen
sich diese soziologischen Zeitdokumente als bereits vorhandene Fremddaten klassifizieren,
dahingehend rückt die Forschungsstrategie der qualitativen Sekundäranalyse in den Fokus der
methodologischen Präzisierung. Dieser analytische Forschungsaspekt soll im Folgenden anhand
von drei Schritten eine eingehende Betrachtung erfahren, um vom theoretischen Analyserahmen
der qualitativen Sekundäranalyse über den methodischen Stil der Grounded Theory zur
Auslotung der praktischen Anwendung im Zuge der vorliegenden Arbeit zu gelangen.

76
Arendt, Hannah: Konzentrationsläger, in: Die Wandlung 3 (1948) 4, 312.
77 Vgl. ebd., 312f.
78
Vgl. Arendt, Hannah: Social Science Techniques and the Study of Concentration Camps, in: Jewish Social Studies,
12 (1950) 1, 49-64.
79 Vgl. Kranebitter, Andreas: Zahlen als Zeugen. Soziologische Analysen der Häftlingsgesellschaft des KZ Mauthausen.

Mauthausen-Studien, Schriftenreihe der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Band 9, Wien: new academic press 2014, 25.
80
Luchterhand, Elmer: Prisoner Behavior and Social System in Nazi Concentration Camps, Dissertation, 1950-1953,
University of Wisconsin-Madison; deutschsprachige Publikation: Luchterhand, Elmer: Einsame Wölfe und stabile
Paare. Verhalten und Sozialordnung in den Häftlingsgesellschaften nationalsozialistischer Konzentrationslager. [Hg.]:
Kranebitter, Andreas/Fleck Christian, Mauthausen-Studien, Schriftenreihe der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Band 11,
Wien: new academic press 2018.

17
Methode

2.1 Qualitative Sekundäranalyse

Der Terminus Sekundäranalyse respektive secondary analysis wurde erstmals 1950 von Patricia
L. Kendall und Paul F. Lazarsfeld angewandt, um die methodische Vorgangsweise der
quantitativen Studie »The American Soldiers« einzuordnen. Jedoch ist festzuhalten, dass die
Forschungsstrategie wesentlich älter als die Begrifflichkeit ist. Denn sowohl Friedrich Engels griff
bereits 1845 für seine Studie »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« auf statistische
Fremddaten zurück als auch Émile Durkheim in seiner 1897 erschienen Studie »Le Suicide«.81
Darüber hinaus hat sich die Sekundäranalyse vor allem in der quantitativen Sozialforschung als
Forschungsstrategie für die Analyse bereits existierender statistischer Daten etabliert. Dennoch
plädierte Barney G. Glaser 1962 für die Nutzbarmachung der Sekundäranalyse innerhalb der
qualitativen Sozialforschung und konstatierte: »To be sure, secondary analysis is not limited to
quantitative data.«82 Zunächst blieb die praktische Anwendung innerhalb der qualitativen
Forschung weitestgehend aus, erst in den 1990er-Jahren wurde die Forschungsstrategie
vorwiegend in der nordamerikanischen Methodendebatte revitalisiert und durchläuft seither eine
kontinuierliche Präzisierung sowie Weiterentwicklung. Eine erste Monografie liegt seit 2004 unter
dem Titel »Reworking Qualitative Data« von Janet Heaton vor, welche den Einzug in die
qualitative Methodenliteratur des deutschsprachigen Raumes beförderte.83 Heaton schlägt für die
Auseinandersetzung mit dem Potential der Sekundäranalyse als qualitative Methodologie
nachstehende Definition vor, welche aufgrund der treffenden Beschreibung für die hier
behandelte, analytische und methodische Präzisierung übernommen wird.
»Secondary analysis is a research strategy which makes use of pre-existing quantitative data or
pre-existing qualitative research data for the purpose of investigating new questions or verifying
previous studies.«84

Diese Begriffsbestimmung verortet die Sekundäranalyse innerhalb der Verwendung eines


spezifischen qualitativen Datentyps und verweist auf zwei wesentliche Aufgaben dieser
Forschungsstrategie. Im Folgenden gilt es die Frage nach den geeigneten Datenquellen sowie
den spezifischen Funktionen der qualitativen Sekundäranalyse zu klären, um diese von
anderen Analysearten abzugrenzen. Daran anknüpfend wird die Typologie der qualitativen
Sekundäranalyse nach Heaton betrachtet, um die Vorgehensweise der Arbeit analytisch zu
verankern. Darüber hinaus gilt es einige wesentliche epistemologische Aspekte zu betrachtet,
um mögliche empirische Probleme auszuloten.

81 Vgl.: Friedrichs, Jürgen (1973): Methoden empirischer Sozialforschung, 14. Auflage, Wiesbaden: Springer 1990,
353.
82
Glaser, Barney G.: Secondary Analysis: A Strategy for the Use of Knowledge from Research Elsewhere, in: Social
Problems, 10 (1962) 1, 74.
83 Exemplarisch hierzu: Medjedović, Irena: Qualitative Sekundäranalyse. Zum Potenzial einer neuen
Forschungsstrategie in der empirischen Sozialforschung. Wiesbaden: Springer VS 2014.
84 Heaton, Janet: Reworking Qualitative Data. London: SAGE 2004, 16.

18
Methode

Eine wesentliche Unterscheidung im Zusammenhang mit den geeigneten bereits vorhandenen


qualitativen Datenquellen besteht zwischen naturalistischen und nicht-naturalistischen Daten.
Erstere meinen Daten, welche ohne den Einfluss von Forschenden entstanden sind, wie
beispielsweise Tagebücher, Autobiografien, Briefe, Fotografien und Filme. Naturalistische Daten
werden mit anderen analytischen Methoden untersucht. Einerseits bilden diese die
Datengrundlage für die Dokumentenanalyse, andererseits werden aufgezeichnete alltägliche
soziale Interaktionen typischerweise einer Konversationsanalyse unterzogen. Demgegenüber
stehen nicht-naturalistische Daten, welche durch Forschende für einen bestimmten
Analysezweck erzeugt wurden. Diese sogenannten artefaktischen Daten umfassen
beispielsweise Feldnotizen, Beobachtungsprotokolle sowie Interviews und die qualitative
Sekundäranalyse wurde für Untersuchungen dieser bereits vorhandenen Datenquellen
konzeptualisiert. Ein Spezifikum ist, dass sich Sekundäranalysen keineswegs ausschließlich auf
Sekundärdaten im Sinne fremder Datenquellen beziehen, sondern ebenso auf eigene bereits
vorhandene Primärdaten angewendet werden können. Anzumerken ist, dass es hinsichtlich
individueller Lebensgeschichten als Datenmaterial zu Überschneidungen zwischen
Dokumenten- und Sekundäranalyse kommt – entscheidend ist hierbei die Art der Entstehung
sowie der Strukturierungsgrad. Demnach eignen sich jene lebensgeschichtlichen
Aufzeichnungen, die im Rahmen eines Forschungsvorhabens für die Beantwortung spezifischer
Fragestelllungen generiert sowie archiviert wurden als potentiell wertvolle Sekundärressourcen.
In Bezug auf die Funktionen von qualitativen Sekundäranalysen verweist Heaton auf drei
Hauptzwecke der Verwendung von bereits existierendem Datenmaterial. Erstens die
Untersuchung von neuen oder zusätzlichen Forschungsfragen, zweitens die Verifizierung,
Widerlegung oder Verfeinerung bestehender Forschung sowie drittens die Synthese der
Forschung. Die erste Funktion ermöglicht es, die Daten der Primärstudie für neue respektive
zusätzlich Forschungszwecke heranzuziehen. Die zweite Möglichkeit kann als eine Reanalyse
der Primärstudie verstanden werden, da diese das Ziel verfolgt, die vorhandenen primären
Forschungsergebnisse zu verifizieren, zu widerlegen oder zu verfeinern. Sowohl diese Position
als auch die dritte Funktion einer Forschungssynthese werden kontroversiell diskutiert und
gelten aufgrund ihrer eigenen Methodik in Form der Reanalyse sowie der Metaanalyse als
umstrittener Bestandteil der Sekundäranalyse.85

In Bezug auf eine Charakterisierung der divergierenden Zielsetzungen qualitativer


Sekundäranalysen entwickelte Heaton eine Typologie, welche auf der praktischen Anwendung
sowie dem Näheverhältnis der Fragestellungen von Primär- und Sekundärstudie beruht. Hierbei
kristallisierten sich drei spezifische Varianten der Sekundäranalyse sowie zwei damit verbundene
Arten der Datennutzung heraus, welche in nachstehender Tabelle veranschaulicht werden.

85 Vgl. ebd., 5-12.

19
Methode

Typologie qualitativer Sekundäranalysen86

Varianten

Supra- oder transzendierende Analyse Geht über den Fokus der Primärstudie, aus der die Daten

Supra analysis stammen, hinaus und untersucht neue empirische,


theoretische oder methodologische Fragen.

Ergänzende Analyse Eine tiefergehende Untersuchung einer auftauchenden

Supplementary analysis Frage oder eines sich abzeichnenden Aspekts der Daten,
der in der Primärstudie nicht berücksichtigt oder vollständig
behandelt wurde.

Reanalyse Die Daten werden neu analysiert, um die Primäranalysen

Re-analysis der qualitativen Datensätze zu verifizieren und zu


untermauern.

Datennutzung

Erweiterte Analyse Kombiniert Daten aus zwei oder mehr Primärstudien zu

Amplified analysis Vergleichszwecken oder um eine Stichprobe zu


vergrößern.

Kombinierte Analyse Kombiniert die Sekundäranalyse von Forschungsdaten mit

Assorted analysis Primärforschung und/oder der Analyse von


naturalistischen qualitativen Daten.

Tabelle 2: Eigene Darstellung: Typologie qualitativer Sekundäranalysen [Heaton 2004:38]

Hinsichtlich dieser idealtypischen Einordnung der Varianten der Sekundäranalyse kann die
Vorgehensweise der vorliegenden Arbeit als Supra- respektive transzendierende Analyse
verortet werden. Dies begründet sich dahingehend, dass die herangezogenen Primärdaten
sowohl mittels neuer respektive divergierender Fragestellungen als auch anhand eines aktuellen
theoretischen Bezugsrahmens sowie einer gegenwärtigen methodologischen Perspektive
untersucht werden. Hinsichtlich der Art der Datennutzung birgt die kombinierte Analyse das
Potential neben den Primärdaten historische Dokumente zu inkludieren sowie Literatur zum
soziohistorischen Kontext heranzuziehen. Nicht zuletzt, um mögliche erkenntnistheoretische
Probleme auszuräumen. Denn im Zusammenhang mit dem naturalistischen
erkenntnistheoretischen Paradigma der qualitativen Sekundäranalyse verweist Heaton auf drei
Probleme, jenes der Datenanpassung »data ›fit‹«, das Problem der Abwesenheit im
Forschungsfeld »not having ›been there‹« sowie die Crux der Überprüfbarkeit »verification«. Die
Frage, ob das jeweilige bereits existierende Datenmaterial zur Beantwortung der aufgeworfenen
Forschungsfrage passt, stellt vor allem innerhalb einer Supra-Analyse ein Schlüsselelement dar.

86Anm.: Die deutsche Übersetzung der Analysevarianten folgt jener von Medjedović. Vgl. Medjedović, Irena:
Qualitative Sekundäranalyse. Zum Potenzial einer neuen Forschungsstrategie in der empirischen Sozialforschung.
Wiesbaden: Springer VS 2014, 23-25.

20
Methode

Da diese Variante der qualitativen Sekundäranalyse das Ziel verfolgt, divergierende


Fragestellungen mittels der Primärquellen zu untersuchen. Dem Problem der Datenanpassung
stehen zwei konkrete Lösungsstrategien gegenüber, einerseits die Möglichkeit zusätzliche
primäre oder naturalistische Daten miteinzubeziehen sowie andererseits die Option der
Umformung. Letztere bezieht sich auf die Datenauswahl in Form von ›sorting‹ statt ›sampling‹,
um dadurch eine passende Stichprobe zu generieren. Das Problem der Abwesenheit im
Forschungsfeld stellt ein weiteres zentrales Attribut innerhalb der qualitativen Forschung dar, vor
allem in der Datenverwendung von anderen Forschenden. Die Lücke der fehlenden Beziehung
zu den Daten kann einerseits durch die Beschaffung von Kontextinformationen wie
beispielsweise Feldnotizen, Forschungstagebücher oder relevantem Schriftverkehr geschlossen
werden. Andererseits kann die Kommunikation mit Schlüsselpersonen, die über tiefergreifende
Kenntnisse über die Primärstudie sowie die Primärforschenden verfügen, zur Sensibilisierung
hinsichtlich des Entstehungskontextes des Datenmaterials beitragen.87 Der Crux der
Überprüfbarkeit wird mittels einer differenzierten Zerlegung der Primärstudie entgegengewirkt,
um anhand dieser Dekonstruktion Stärken und Schwächen des Datenmaterials aufzuzeigen,
Unzulänglichkeiten zu erkennen und dadurch das Potential der Rohdaten für den Forschungsstil
der Grounded Theory nutzbar zu machen. Denn ausgehend von der Einsicht, dass die
avantgardistische soziologische Herangehensweise von Luchterhand bereits Ansätze der
Grounded Theory durchscheinen ließ, obwohl dieser Forschungsstil erst nachfolgend in die
soziologische Forschungslandschaft eingeführt wurde, zeichnet sich dieser Analyseansatz als
eine vielversprechende methodische Präzisierung der qualitativen Sekundäranalyse ab.

2.2 Im Stil der Grounded Theory

Die methodische Vorgehensweise der vorliegenden Analyse folgt dem Forschungsstil der
Grounded Theory, welcher von Barney G. Glaser und Anselm Strauss in den 1960er-Jahren
vorgeschlagen und entwickelt wurde sowie von Strauss und Juliet Corbin durch eine methodische
und praktische Forschungsanleitung expliziert wurde. Der Stil der Grounded Theory versteht sich
als ein gegenstandsverankerter, induktiver sowie interpretativer Theoriebildungsprozess, welcher
sich auf die systematische Datenauswahl und -analyse stützt. Diese methodische Basis
ermöglicht den Fokus auf die Handlungs- und Prozessorientierung innerhalb der biografischen,
interaktiven und organisatorischen Dimensionen des Untersuchungsphänomens. Darüber hinaus
gestattet dieser Forschungsstil, die Daten in einer Synthese zu integrieren und erfordert im
Forschungsprozess sowohl eine induktive als auch deduktive Vorgehensweise. Ein
Schlüsselelement der Grounded Theory ist die Schaffung einer theoretischen Sensibilität, um ein
Bewusstsein für die Feinheiten innerhalb der Daten zu entwickeln.88 Die Förderung dieser
Fähigkeit durch ein tiefgreifendes Literaturstudium ist vor allem im Zusammenhang mit der

87Heaton, Janet: Reworking Qualitative Data, 54-63.


88
Vgl. Strauss, Anselm/Corbin, Juliet: Grounded Theory. Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Weinheim: Beltz 1996,
3-38.

21
Methode

historischen Perspektive der vorliegenden Auseinandersetzung unumgänglich. Denn eine


ahistorische Forschungsperspektive und somit einen »Rückzug auf die Gegenwart«89 gilt es im
Sinne von Elias zu vermeiden, wie dieser pointiert:
»Wenn man keine klare soziologische Vorstellung von der Vergangenheit hat, wird man
unvermeidlicherweise zu einem verzerrten Bild von den gesellschaftlichen Verhältnissen der
Gegenwart kommen«90

Wesentlich ist, dass die Grounded Theory laut Strauss und Corbin ein transaktionales System
darstellt, wobei Handlungs- und Interaktionsabfolgen das Herzstück sind, welche zu
spezifizierbaren Konsequenzen führen und wiederum zu einem Teilaspekt der relevanten
Bedingungen werden können. Das transaktionale System weist bestimmte Eigenschaften auf und
setzt sich aus interaktiven sowie miteinander verbundenen Bedingungsebenen zusammen,
welche in Form von Ursachen, Kontexten und intervenierenden Bedingungen der Interaktionen
innerhalb des Phänomens verzahnt sind. Dieses System wird innerhalb der Grounded Theory als
Bedingungsmatrix begriffen und dargestellt, mit dem primären Vorteil der Förderung der
theoretischen Sensibilität.91 Darüber hinaus bietet die Matrix in Form eines konzentrischen
Kreises den spezifischen Vorteil, die historische Kontextualität systematisch fassbar zu machen,
denn der »Zeitverlauf in Form von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist an und für sich
schon eine Bedingung auf jeder Matrixebene.«92 Hinsichtlich der Auswahl der Datenquelle zeigt
sich, dass der Stil der Grounded Theory offen für qualitative Sekundäranalysen ist, wie Strauss
und Corbin betonen:
»Eine besondere Art von Dokumenten sind die gesammelten Interviews oder Feldnotizen eines
anderen Forschers. (…) Ein Forscher, der mit der Grounded Theory arbeitet, kann auch dieses
Material kodieren. Dabei wendet er theoretisches Sampling in Verbindung mit den gewöhnlichen
Kodierverfahren an.«93

Die angesprochenen Kodierverfahren meinen das offene, axiale sowie selektive Kodieren. Das
offene Kodieren ist in einem hohen Maß auf die Benennung von Kategorien auf der Basis
interpretativer Kompetenz fokussiert und dient ebenso der Schärfung der theoretischen
Sensibilität. Das axiale Kodieren zielt auf Bedeutungsnetzwerke für eine möglichst umfassende
Erklärung der Schlüsselkategorien ab. Wesentlich innerhalb des axialen Kodierverfahrens ist das
paradigmatische Modell, denn durch dieses gewinnt die Grounded Theory an Dichte und
Präzision.94 Da das sogenannte Kodierparadigma das eigentliche Schlüsselelement der
methodischen und analytischen Vorgehensweise darstellt, wird dieses anhand der

89 Siehe hierzu: Elias, Norbert: Über den Rückzug der Soziologen auf die Gegenwart, in: Kölner Zeitschrift für

Soziologie und Sozialpsychologie 35 (1983) 1, 29-40.


90
Elias, Norbert: Studien über die Deutschen, 55.
91 Vgl. Strauss, Anselm/Corbin, Juliet: Grounded Theory, 133-135.
92 Ebd., 144.
93
Ebd., 160.
94 Vgl. ebd., 39-85.

22
Methode

nachstehenden Abbildung veranschaulicht sowie die wesentlichen Bestandteile mittels relevanter


Fragestellungen konkretisiert.

Abbildung 1: Eigene Darstellung: Kodierparadigma in Anlehnung an Strauss/Corbin 1996

Das Phänomen ist jenes Ereignis, auf das sich eine Vielzahl von Interaktionen richten, um es zu
bewältigen, respektive auf das die Handlungen Bezug nehmen. Die ursächlichen Bedingungen
sind Vorfälle, die das Auftreten oder das Generieren eines Phänomens befördern, wobei Strauss
und Corbin betonen, dass es sich hier um zeitlich vorausgehende Ereignisse handelt. Der Kontext
stellt einerseits die Eigenschaften dar, welche zu einem Phänomen gehören und andererseits die
Bedingungen, in welchen sich die Handlungsstrategien vollziehen, um ein Phänomen zu
bewältigen respektive darauf zu reagieren. Bei den intervenierenden Bedingungen handelt es sich
um Voraussetzungen, welche innerhalb eines Kontextes zum Einsatz kommen, um interaktionale
Strategien entweder zu fördern oder zu hemmen. Diese einwirkenden Bedingungen umfassen
Zeit, Raum, Kultur, sozio-ökonomischen sowie technologischen Status, Karriere, Geschichte und
individuelle Biografien. Die interaktionalen Strategien beziehen sich auf konkrete Handlungen der
Akteur*innen, welche die daraus resultierenden Konsequenzen entweder fördern oder hemmen.
Diese Konsequenzen werden als zeitlich wandelbar begriffen und können somit zu einem späteren
Zeitpunkt zu Bedingungen für das Phänomen werden.95 Wobei das offene und axiale Kodieren in
steter Wechselwirkung erfolgt und letztlich in das selektive Kodieren mündet, welches auch als
Integration begriffen wird und sich nur nuanciert vom axialen Kodieren unterscheidet. Dieser letzte
Schritt des Kodierverfahrens fokussiert sich auf das Herausarbeiten des roten Fadens, hierbei wird
eine Synthese der Ergebnisse anhand einer Schlüsselkategorie angestrebt.96

95
Vgl. ebd., 79-85.
96 Vgl. ebd., 74-117.

23
Methode

2.3 Modus Operandi

In einem dritten Schritt gilt es nun den Analyserahmen der qualitativen Sekundäranalyse im
methodischen Stil der Grounded Theory hinsichtlich der praktischen Anwendung im Zuge der
vorliegenden Arbeit auszuloten respektive die analytische und methodische Vorgehensweise zu
präzisieren. Innerhalb der Auseinandersetzung konnte bereits festgestellt werden, dass es sich
bei den herangezogenen Sekundärdaten um nicht-naturalistische Daten in Form von 52
Interviewprotokollen handelt. Diese können darüber hinaus als historische Zeitdokumente
begriffen werden, da ähnliche Quellen aufgrund der zeitlichen Distanz und der damit
verbundenen Problematik der fehlenden Zeitzeug*innen in diesem umfassenden Ausmaß primär
nicht mehr erhoben werden können. Das herangezogene Forschungsdesign wurde als Supra-
Analyse charakterisiert, wobei gegebenenfalls historische Dokumente inkludiert werden und
somit von einer kombinierten transzendierenden Analyse gesprochen wird. Im Zusammenhang
mit der Qualität und Eignung des Datenmaterials für die Sekundäranalyse stellt Heaton einen
präzisen Fragenkatalog zur Verfügung, um dieses zu prüfen und etwaigen Problemen gezielt
entgegenzuwirken.97 Die Datenqualität betreffend lässt sich feststellen: Das Datenset kann als
komplett begriffen werden und die einzelnen Befragungen folgten einem strukturierten
Interviewleitfaden, wobei narrative Passagen als gewinnbringende Abweichungen eingestuft
werden können. Bedauerlicherweise verzichtete Luchterhand auf Volltexttranskripte, jedoch
wurde das Datenmaterial sorgfältig aufbereitet, dahingehend ist eine Sekundäranalyse möglich.
Des Weiteren wurde das anonymisierte Interviewmaterial innerhalb der Edition der Primärstudie
für die deutschsprachige Publikation durch die Herausgeber anhand einer Rekonstruktion
wesentlicher biografischer Eckdaten der Überlebenden erweitert. Dieses Faktum wirkt sich auf
die Sekundäranalyse in Form einer Erleichterung der Recherche nach relevanten historischen
Dokumenten positiv aus. Darüber hinaus kann die Forschungsarbeit von Luchterhand mit einigen
wenigen Abstrichen innerhalb des zeitlichen Kontextes der Erhebung als gut konzipiert und
durchgeführt bewertet werden. Wie bereits erwähnt sollen die Schwächen sowie Stärken mittels
der Dekonstruktion der Primärstudie offengelegt werden, um das Potential des Datenmaterials
für die gegenwärtige Forschung nutzbar zu machen. Die analytische Eignung der
herangezogenen Sekundärdaten zeigt sich nicht zuletzt dahingehend, dass diese genuin
soziologischen Daten innerhalb ihrer zeitlichen Entstehung »als theoretisches Sampling avant la
lettre bezeichnet werden könnte[n].«98

Gleichwohl kann das theoretische Sampling im Stil der Grounded Theory problematisch sein, wie
Heaton anmerkt, »because the data are already ›given‹.«99 Im konkreten Fall einer Supra-Analyse
kann dieser Problematik zwar mit der Strategie ›sorting‹ statt ›sampling‹ entgegengewirkt werden,

97
Vgl. Heaton, Janet: Reworking Qualitative Data, 93.
98 Kranebitter, Andreas/Fleck, Christian: Elmer Luchterhands Forschung zu nationalsozialistischen
Konzentrationslagern. Eine Einleitung, in: Dies. [Hg.]: Luchterhand, Elmer: Einsame Wölfe und stabile Paare, 20.
Hervorhebung im Original.
99 Heaton, Janet: Reworking Qualitative Data, 97.

24
Methode

jedoch wird dadurch das Datenmaterial stark beschnitten und eine wesentliche Stärke der
Primärstudie untergraben. Aus diesem Grund wird vornehmlich der Lösungsansatz des ›re-
coding‹ verfolgt, wobei in Abhängigkeit von der Relevanz verankerte Analysecodes entfernt,
überarbeitet oder beibehalten wurden, um in einer Art des reflexiven Neustarts einen
unverstellten Blick auf die Daten zu erlangen. Denn es gilt im Stil der Grounded Theory die durch
die Primärstudie vorgegebenen Daten einem intensiven theoretischen Sampling innerhalb der
vorhandenen Interviewprotokolle zu unterziehen. Strauss und Corbin sehen das Potential darin,
Vergleiche auf theoretischer Basis anzustellen und präzisieren diese Strategie wie folgt:
»Diese Verfahren arbeiten gewissermaßen so, als ob ein Interview-Pool sich immer weiter entwickelt
oder als ob Interviewpartner entweder überlegt ausgewählt oder als bedeutsam für die Untersuchung
erkannt worden wären.«100

Des Weiteren nimmt innerhalb der Sekundäranalyse die Kontextualität einen relevanten
Stellenwert ein, welche eng an das Problem des »not having ›been there‹«101 gebunden ist und
mit der Beobachtungsordnung im Sinne Niklas Luhmanns verglichen werden kann. Demnach
kann der retrospektive Blick der Überlebenden in Form ihrer erinnerten Erzählungen als eine
Beobachtung erster Ordnung verstanden werden, welche über binäre Ordnungssysteme auf der
faktischen Ebene kommunizieren. Der soziologische Blick Luchterhands durch die Augen der
Überlebenden kann auf der Ebene einer Beobachtung zweiter Ordnung verortet werden, da
dieser gemeinsam mit den Zeitzeug*innen über Subsysteme reflektiert. Die transzendierend
Sekundäranalyse unterliegt dem Anspruch einer Beobachtung dritter Ordnung, das bedeutet eine
reflexionstheoretische Beobachtung beider vorangegangen Ordnungen und versucht dadurch
einer gegenstandsverankerten Theoriebildung gerecht zu werden.102 Neben dem Kontext-Aspekt
ist die Reflexivität ein weiterer Grundpfeiler der qualitativen Sekundäranalyse, denn es gilt in
Bezug auf Harold Garfinkel die Einzelheiten der dokumentierten Erscheinungen und die
Kontextualität in ihrer reflexiven Beziehung zu betrachten.103 Hier verbirgt sich ein relevantes
Gegenargument der Realisierbarkeit von Sekundäranalysen. Folgt man dem radikalen Argument:

»›Daten‹ seien das Produkt der Interaktion des bestimmten Forschers mit dem bestimmten Befragten
an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten historischen Punkt. Sekundäranalysen (…) seien
daher unvereinbar mit einer interpretativen und reflexiven Epistemologie.«104

Zeigt sich laut Medjedović eine allzu engen Perspektive auf die Erforschbarkeit der sozialen Welt
und darüber hinaus wäre dann die Archivierung jeglicher Daten für die empirische Sozialforschung
obsolet.105 Diesen neuralgischen Punkt gilt es ernst zu nehmen und mittels der akribischen

100
Strauss, Anselm/Corbin, Juliet: Grounded Theory, 164.
101
Heaton, Janet: Reworking Qualitative Data, 60-64.
102 Vgl. Krause, Detlef: Luhmann-Lexikon: Eine Einführung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann, 129f.
103 Vgl. Medjedović, Irena: Qualitative Sekundäranalyse, 139.
104
Ebd.
105 Vgl. ebd., 140.

25
Methode

Beschaffung von Kontextinformationen entgegenzuwirken sowie Techniken der Selbstreflexivität,


welche einen fixen Bestandteil der Grounded Theory darstellen, konsequent zu verfolgen.

Die Vertiefung der analytischen und methodischen Vorgehensweise wurde von der Frage nach
dem Potential der qualitativen Sekundäranalyse im Stil der Grounded Theory für die empirische
Untersuchung der Beziehungsgeflechte innerhalb der Häftlingsgesellschaften der
nationalsozialistischen Konzentrationslager geleitet. Hinsichtlich des analytischen Rahmens
werden die nicht naturalistischen Sekundärdaten für die Untersuchung von neuen respektive
ergänzenden Fragestellungen herangezogen, wobei die Option der Ausweitung des Datenkorpus
mittels weiterer Archivalien in den Analyseprozess einbezogen wurde. Die Forschungsstrategie
einer kombinierten Supra-Analyse verfolgt das Ziel, die Sekundärdaten unter dem Gesichtspunkt
neuer theoretischer, empirischer und methodischer Aspekte zu analysieren. Konkret sind diese
einerseits der figurationssoziologische theoretische Bezugsrahmen, andererseits divergierende
forschungsleitende Aspekte sowie das hier vertiefte, analytische und methodische
Instrumentarium. Die damit verbundenen Problematiken wurden herausgearbeitet und
Lösungsstrategien benannt, um das Potential der Primärdaten für die Sekundäranalyse nutzbar
zu machen. In Bezug auf den methodischen Stil der Grounded Theory konnte gezeigt werden,
dass Sekundäranalysen innerhalb dieses Theoriebildungsprozesses methodisch verankert sind.
Festzuhalten ist, dass die geforderte Fähigkeit der theoretischen Sensibilität sowie das
Instrument der Bedingungsmatrix wesentliche Analysewerkzeuge für die Vermeidung einer
ahistorischen Forschungsperspektive darstellen. Denn die Eignung der Sekundärdaten für die
praktische Anwendung einer Sekundäranalyse ist an ein kritisches Augenmerk auf die
Analyseaspekte der Kontextualität und Reflexivität gebunden, um diese im Sinne eines
kumulativen Forschungs- und Erkenntnisprozesses nutzbar zu machen. Die Präzisierung der
Forschungsstrategie unter Berücksichtigung der als problematisch eruierten epistemologischen
sowie methodologischen Aspekte förderte das Potential der qualitativen Sekundäranalyse für die
empirische Untersuchung der Beziehungsgeflechte innerhalb der Häftlingsgesellschaften der
nationalsozialistischen Konzentrationslager zutage.

26
3 Dekonstruktion der Primärstudie
»Die Männer und Frauen, die den Terror der
nationalsozialistischen Konzentrationslager überlebt
haben, einen Terror, den nur dieselben lebenden Opfer
selbst begreifen können, sind keine gewöhnlichen
Leute. Sie waren es vielleicht einmal. Aber wenn du sie
lächeln siehst (…) wenn du sie mit Zuversicht (…)
reden hörst, mit einem Mitgefühl (…), das man nicht mit
Schwäche verwechseln darf, weißt du, dass du wirklich
großartige Menschen getroffen hast.«106

Elmer Luchterhand begegneten den Überlebenden unmittelbar während und nach der Befreiung
der nationalsozialistischen Konzentrationslager in seiner Funktion als Nachrichtenoffizier und
›Public Relations Writer‹. Die Marschroute seiner Einheit107 durch Deutschland und Österreich
konfrontierte ihn im Zeitraum von April bis November 1945 mit den befreiten Konzentrationslagern
Wanfried, Ohrdruf, Buchenwald, Hersbruck/Happurg, Dachau, Feldafing, Gusen und
Mauthausen sowie mit der unmittelbaren Umgebung der Lager. Diese Eindrücke bewogen
Luchterhand einerseits aus eigener Motivation an den Orten des Geschehens zur Befragung von
rund 75 Überlebenden als auch Anwohner*innen der umliegenden Dörfer sowie andererseits zu
dessen lebenslangen Erkenntnisprozess über die nationalsozialistischen Konzentrationslager.
An dieser Stelle sei erwähnt, dass der spätere Soziologe und Sohn deutschstämmiger
Einwanderer bereits in jungen Jahren einen antifaschistischen Standpunkt bezogen hat, sich als
politischer Aktivist der Kommunistischen Partei engagierte, um sich gegen die
deutschamerikanischen nationalsozialistischen Organisationen zu stellen. Dahingehend
polarisierte Luchterhand im sogenannten »German state« Wisconsin, geriet mit dem Gesetz in
Konflikt und stand mehrmals im medialen Fokus.108

»Die Zeitungen Wisconsins berichteten (…), als er etwa 1936 (unter dem Decknamen Elmer
Lochner) verhaftet wurde, weil er mit einem Kompagnon auf einem Picknick in Milwaukee eine
Nazi-Fahne von der Picknick-Plattform heruntergerissen und damit eine erbitterte
Auseinandersetzung provoziert hatte.«109

Es zeigt sich hier neben dem politischen Engagement vor allem der kritische Beobachter
Luchterhand, der innerhalb der persönlichen Eindrücke bereits im Jahr 1945 die Notwendigkeit
des Dialogs mit den Menschen als unmittelbare Zeug*innen der erlittenen Erfahrungen erkennt
und diese wesentliche Einsicht wie folgt reflektiert:

106
Brief Elmer Luchterhands an Patricia Luchterhand, 21. Mai 1945, KZ-Gedenkstätte Mauthausen (AMM)
Zwischenarchiv, Sammlung Erika Luchterhand, zitiert nach Kranebitter, Andreas/Fleck, Christian: Elmer Luchterhands
Forschung zu nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Eine Einleitung, 12.
107107
»[D]ie 261st Infantry der 65th Infantry Division der U.S. Army – die Einheit, in der Luchterhand von März 1943 bis
März 1946 nach einem Training im Rang eines Sergeant zwölf Monate als Section Leader, sechs Monate als Platoon
Guide und schließlich elf Monate als Public Relation Writer diente«. Ebd., 8f. Hervorhebung im Original.
108
Vgl. ebd., 10-14.
109 Ebd., 14f.

27
Dekonstruktion der Primärstudie

»Gestern war ein denkwürdiger Tag. Ich verbrachte ihn im KZ Mauthausen, um die Verbrechen
gegen die gesamte Menschheit zu untersuchen, Verbrechen und Torturen, die nur Menschen
begreifen können, deren Seelen und Körper sie überlebt haben.«110

Dieser Überzeugung folgte Luchterhand als angehender Soziologe, indem er sein zentrales
Thema das Leben respektive Überleben in nationalsozialistischen Konzentrationslagern zum
kritisch reflektierten Inhalt seiner Masterarbeit als auch Dissertation macht. Dabei kristallisiert sich
für Luchterhand die Widersprüchlichkeit der in der damaligen Forschung vorherrschenden
Sichtweise bereits bei der auf einer eingehenden Analyse von Konzentrationslager-Literatur
basierenden Masterarbeit heraus. Denn Luchterhand verwehrt sich im Zusammenhang mit den
Häftlingsgesellschaften gegen das Hobbessche Diktum »Homo homini lupus«111:

»(…) mag es überzeugend klingen, das Leben in der KZ-Gesellschaft als einen Hobbesschen
›Krieg aller gegen alle‹ zu charakterisieren, wie dies einige Beobachter auf Basis von
journalistischen Berichten getan haben (…). Die Fakten sprechen, wie in dieser Studie dargelegt,
eine andere Sprache.«112

Neben dem Zuspruch der vorherrschenden Sozialität innerhalb der Konzentrationslager wird hier
die Kontroverse innerhalb des öffentlichen Diskurses sichtbar, welche getragen von divergierenden
Erfahrungsberichten unter wissenschaftlicher Perspektive eher einseitig befördert wurde. Als ein
wesentlicher Aspekt innerhalb dieser Debatte kann die Problematik von Erfahrung versus
Wissenschaft begriffen werden. Dahingehend erreichte bereits 1943 die wissenschaftliche
Abhandlung von Bruno Bettelheim unter dem Titel »Individual and Mass Behaviour in Extreme
Situations«113 die öffentliche Aufmerksamkeit. Denn die frühe Forschung über die
nationalsozialistischen Konzentrationslager wurde wie bereits erwähnt einerseits von den wenigen
vor Kriegsbeginn Entlassenen betrieben, wobei diese nach der Befreiung von vielschichtigen
Publikationen der Überlebenden flankiert wurden. Diese Erinnerungsberichte zählen zu den
wichtigsten Zeugnissen, wobei die Reflexion der erlittenen Erfahrungen eine literarische
Verarbeitung erforderte, um öffentlich wahrgenommen respektive verlegt zu werden oder um die
jeweilige Innensicht mit einer wissenschaftlichen Perspektive zu verzahnen. Es gilt hier zu
bedenken, dass die Berichtenden keineswegs daran interessiert waren, eine lückenlose
Geschichte der Konzentrationslager zu verfassen, sondern vielmehr um die Reflexion ihrer eigenen
Erfahrungen unter psychologischen, soziologischen oder literarischen Gesichtspunkten bemüht
waren. Hinzu kam eine die generelle Publikationsproblematik, welche sich in der
entgegengebrachten Skepsis der Verlage sowie in dem zermürbenden Vorwurf der
Unwissenschaftlichkeit äußerte.114 Neben jenen Auseinandersetzungen aus einer gleichzeitigen

110
Brief Elmer Luchterhands an Patricia Luchterhand, 21. Mai 1945, KZ-Gedenkstätte Mauthausen (AMM)
Zwischenarchiv, Sammlung Erika Luchterhand, zitiert nach ebd., 11.
111
»Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.« Hobbes, Thomas: De cive. Vom Bürger. Ditzingen: Reclam 2017, 7.
112
Elmer Luchterhand: The Nazi Concentration Camps: A Study in Survival and Rebellion. Unveröffentlichte
Diplomarbeit, University of Wisconsin, Madison 1949, 223, zitiert nach ebd. 24.
113 Bettelheim, Bruno: Individual and Mass Behaviour in Extreme Situations, in: Journal of Abnormal and Social

Psychology 38 (1943), 417-452.


114 Vgl. Kranebitter, Andreas: Zahlen als Zeugen, 19-25.

28
Dekonstruktion der Primärstudie

Perspektive von Opfer, Zeug*in und teilnehmender Beobachter*in traten andererseits anfänglich
einige wenige Ausnahmen, wobei hier Arendt als berühmtes und Luchterhand als weitgehend
vergessenes Beispiel angeführt werden kann. Interessant ist, dass sowohl die politische
Theoretikerin als auch der Soziologe aus der vorhandenen Konzentrationslager-Literatur ein
nahezu deckungsgleiches Konglomerat heranziehen, jedoch zu diametralen Standpunkten
gelangen. Die übereinstimmenden Erinnerungsberichte reichen von Eugen Kogon115 über David
Rousset116 bis hin zu Ernst Federn, wobei Arendt letzteren in einer Fußnote als Ernest Feder117
erwähnt und Bezug auf dessen »Essai sur la Psychologie de la Terreur«118 nimmt. Hingegen hat
Luchterhand mit dem österreichischen Psychoanalytiker im Zuge seines Dissertationsprojekts auch
ein Interview unter dem Pseudonym »Sol« geführt. Darüber hinaus zeichnet sich vor allem die
Sichtweise Bruno Bettelheims als zentrales sowie kontroverses Verbindungselement ab. Die
genannten Zeugen eint deren Innensicht auf das Konzentrationslager Buchenwald, wobei sich
erhebliche Unterschiede in Zeitraum und Dauer der erlittenen Erfahrung zeigen. Im Fall von
Bettelheim zeigt sich, dass dieser zwischen Juni 1938 und April 1939, in der »Expansionsphase«119
der Konzentrationslager, für rund 11 Monate zunächst in Dachau und danach in Buchenwald
inhaftiert war.120 Im Gegensatz dazu wurde Rousset in der Endphase, gezeichnet von »Klimax und
Kollaps«121 der Lager, ab Januar 1944 nahezu 14 Monate in Buchenwald und Neuengamme
festgehalten.122 Kogon verbrachte zwischen 1939 und 1945 mit kurzen Rücküberstellungen in
Haftanstalten der Gestapo rund 68 Monate ausschließlich in Buchenwald.123 Federn war zwischen
1938 und 1945 zunächst in Dachau und danach in Buchenwald für nahezu 84 Monate und somit
sieben Jahre inhaftiert.124 Die beiden Psychoanalytiker Bettelheim und Federn begegneten sich im
Konzentrationslager Buchenwald, ihre lebenslange Freundschaft wird in ihrem Briefwechsel125
sichtbar, dennoch äußert sich Federn retrospektiv kritisch über die Zeit-Raum-Komponente in
Bezug auf die Innensicht Bettelheims:

»Es ist ja ein Unterschied, ob man erstens 10 Monate drinnen ist oder 12 Monate oder 10 Jahre,
zweitens in welchem Lager – es war jedes Lager anders – und, ob man ein Jude war oder ein Nicht-
Jude usw., und ob man Ausländer war, ist alles ganz verschieden. Das heißt, also ein wirklicher Experte
vom Konzentrationslager ist er nicht und kann er nicht sein, weil er nicht lange genug drinnen war.«126

115
Kogon, Eugen (1946): Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, München.
116 Rousset, David [1946]: L’univers concentrationnaire, Paris: Editions du Pavois; Rousset, David [1947]: Les Jours
de notre mort, Paris: Editions du Pavois.
117 Vgl. Arendt, Hannah: Social Science Techniques and the Study of Concentration Camps, Fußnote 17, 58.
118 Federn, Ernst: Essai sur la Psychologie de la Terreur, in: Synthéses 1 (1946), 81-108.
119 Vgl. Wachsmann, Nikolaus: The dynamics of destruction: the development of the concentration camps, 1933–1945,

in: Wachsmann Nikolaus/Caplan, Jane [Hg.]: Concentration Camps in Nazi Germany. The New Histories. London:
Routledge 2010, 18.
120
Vgl. Häftlings-Personal-Karte Bruno Bettelheim, 1.1.5.3/5531785/ ITS Digital Archive, Arolsen Archives.
121
Vgl. Wachsmann, Nikolaus: The dynamics of destruction, 18.
122 Vgl. Effektenkarte David Rousset, 1.1.5.3/6962894/ ITS Digital Archive, Arolsen Archives.
123
Vgl. Häftlings-Personal-Karte Eugen Kogon, 1.1.5.3/6303825/ ITS Digital Archive, Arolsen Archives.
124
Vgl. Häftlings-Personal-Karte Ernst Federn, 1.1.5.3/5840154/ ITS Digital Archive, Arolsen Archives.
125 Siehe hierzu: Federn, Ernst: Dokumentation des Briefwechsels Bruno Bettelheim – Ernst Federn, in: Kaufmann,

Roland [Hg.]: Versuche zur Psychologie des nationalsozialistischen Terrors. Gießen: Psychosozial 2014, 235-253.
126
Interview mit Prof. Ernst Federn, 31.5.1990, zit. nach Fleck, Christian/Müller Albert: Bruno Bettelheim (1903-1990) und
die Konzentrationslager, 215.

29
Dekonstruktion der Primärstudie

Ungeachtet der Dauer der Inhaftierung stößt Bettelheims Verhaltensanalyse der Häftlinge bei
Arendt auf weitgehend positive Resonanz und bei Luchterhand auf kritische Dissonanz.

3.1 Resonanz: Bettelheim und Arendt

Arendt knüpft hinsichtlich der Funktion der Konzentrationslager in ihrer Auseinandersetzung an


Bettelheim an, dieser identifiziert folgende Ziele.127 Erstens sollten die Inhaftierten gebrochen und
in gefügige Massen verwandelt werden, aus denen weder individueller noch kollektiver
Widerstand hervorgehen konnte. Zweitens wurde die Verbreitung von Terror unter der
Bevölkerung durch die demonstrative Geiselnahme vermeintlicher Regime-Gegner*innen
forciert. Drittens sollte für die Gestapo- Mitglieder128 eine Ausbildungsstätte geschaffen werden,
um Empathielosigkeit gegenüber wehrlosen Zivilist*innen zu schüren. Viertens dienten die
Konzentrationslager, als Laboratorien für die wirksamsten Mittel, um Menschen gänzlich zu
brechen.129 Arendt pflichtet Bettelheim indirekt bereits 1948 in ihrem Artikel über die
»Konzentrationsläger« bei und begründet wenig später ihren Vergleich mit dem »Pawlowschen
Hund« in Anlehnung daran:

»We know that the object of the concentration camps was to serve as laboratories in training
people to become bundles of reactions, in making them behave like Pavlov's dog, in eliminating
from the human psychology every trace of spontaneity«130.

Arendt verortet innerhalb des nationalsozialistischen Experiments der Abtötung jeglicher


Spontanität den Prozess der »Präparation lebendiger Leichname«, mit dem Ziel, denkende und
handelnde Menschen in bloße »Reaktionsbündel« zu transformieren. Dies sei im Sinne Arendts
an einen dreistufigen Entmenschlichungsprozess gebunden, wobei sich hier Parallelen zu den
von Bettelheim konstatierten »Stadien der Anpassung« zeigen.

»The first of these stages centers around the initial shock of finding oneself unlawfully imprisoned.
The main event of the second stage is the transportation into the camp and the first experiences
in it. The next stage is characterized by a slow process of changing the prisoner's life and
personality. It occurs step by step, continuously. It is the adaptation to the camp situation. (…)
The final stage is reached when the prisoner has adapted himself to the life in the camp.«131

Die politische Theoretikerin knüpft hier mit ihrer Feststellung von Rechtlosigkeit sowie der
willkürlichen Inhaftierung an, welche sich in der »Tötung der juristischen Person« manifestiert.
Dieser erste Schritt birgt das zentrale Moment der Willkür im Zusammenhang mit einer fehlenden
Straftat, dahingehend erkennt Arendt einen signifikanten Widerspruch, denn »[e]s ist
paradoxerweise schwerer, die juristische Person in einem Menschen zu töten, der sich etwas hat

127
Hinsichtlich der Zielsetzung der Abhandlung von 1943 heben Fleck und Müller hervor: »Unzweideutig heißt es bei
Bettelheim, die Gefangenen sollten durch die KZ-Haft zu nützlichen Bürgern (›more useful subjects‹) des Nazistaates
gemacht werden – diesen Vorgang zu analysieren, diene der Aufsatz! Die von den Nazis proklamierten Funktionen der
Lager – die Lager dienten der Umerziehung – werden also von Bettelheim in die Analyse übernommen.« Ebd., 201.
128 Angemerkt sei, dass Bettelheim in seinem Aufsatz die SS fälschlicherweise als Gestapo bezeichnete.
129 Vgl. Bettelheim, Bruno: Individual and Mass Behaviour in Extreme Situations, 418f.
130
Arendt, Hannah: Social Science Techniques and the Study of Concentration Camps, 63.
131 Bettelheim, Bruno: Individual and Mass Behaviour in Extreme Situations, 420. Hervorhebung im Original.

30
Dekonstruktion der Primärstudie

zuschulden kommen lassen als in einem völlig Unschuldigen.«132 Ein weiterer entscheidender
Schritt ist laut Arendt die »Tötung der moralischen Person«, welche eng an ihre Verortung der
Konzentrationslager innerhalb »eines Systems des Vergessens« geknüpft ist. Denn die totale
Abschottung bewirkt einerseits das Verschwinden von moralischen Instanzen sowie andererseits
den Verlust des erinnernden Andenkens durch die Anonymisierung des Todes innerhalb der Lager.
Darüber hinaus zerstörte der permanente Überlebenskampf die Möglichkeit der persönlichen
Gewissensentscheidung, indem die Opfer zu Kompliz*innen ihres eigenen Vernichtungsprozesses
degradiert werden. Schließlich mündet der Entmenschlichungsprozess in die »Tötung der
Individualität«, wobei für Arendt die prozesshafte Zerstörung der Einzigartigkeit des Menschen mit
den endlos dauernden, unmenschlichen Transporten in die Konzentrations- und Vernichtungslager
beginnt. Diese setzt sich in Anlehnung an den »Initial Shock« bei Bettelheim fort, welcher von
Arendt als »wohlorganisierter Schock der ersten Stunden« betont wird und vollendet sich in der
Herstellung langanhaltenden Leidens und kontrollierten Sterbens durch die Lager-SS. Die
Auslöschung der Individualität zeigt sich für Arendt am deutlichsten im widerstandslosen Verhalten
der Häftlinge – hier verdichtet sich der Kern ihres Prozesses der Entmenschlichung hin zu jenen
»marionettenartigen Reaktionsbündel«.133 Wobei Bettelheim versucht in Bezug auf den »Intial
Shock« Verhaltensunterschiede anhand von Klassenzugehörigkeit festzumachen, von diesem
Schichtmodell distanziert sich Arendt entschieden.134

Doch der Psychoanalytiker geht noch einen Schritt weiter, um zu seiner »Anpassungsthese« zu
gelangen, wobei er die behauptete Identifikation mit den Aggressoren in Form des SS-
Wachpersonals in der letzten Phase der Anpassung an den Lageralltag bei etablierten Häftlingen
verortet. Bettelheim sieht in dieser Identifikation einen Rückfall in kindliche Verhaltensmuster,
welche sich in einer Persönlichkeitsveränderung äußert und in der Übernahme des SS-
Wertekonstrukts kulminiert. Diese Behauptung konkretisiert der spätere Kinderpsychologe
anhand von vier Beispielen: Erstens hätten alle sogenannten »alten« Häftlinge die Haltung der
SS gegenüber den »Neuankömmlingen« übernommen und seien gegen vermeintliche
Schwächlinge sowie Verräter*innen aus Gründen des Selbstschutzes nach dem Vorbild ihrer
Peiniger vorgegangen. Zweitens, neben dem aggressiven Verhalten wurde das Aussehen des
Wachpersonals durch die Aneignung von alten Uniformen kopiert. Drittens hätten die »alten«
Häftlinge nationalsozialistische Ziele akzeptiert, indem sie sich gegen eine ausländische
Intervention aussprachen und somit ein persönliches Befreiungsinteresse negierten. Viertens sei
die Identifikation so weit gegangen, dass die kindliche Haltung neben der Übernahme ebenso die
Verteidigung des nationalsozialistischen Wertekonstrukts zur Folge hatte, obwohl die Häftlinge
dahingehend keinesfalls vom Wachpersonal indoktriniert wurden.135 Diese generalisierende und
problematische Anpassungsthese Bettelheims wurde in den wissenschaftlichen Diskurs

132 Arendt, Hannah: Konzentrationsläger, 318.


133 Vgl. ebd., 322-327.
134
Vgl. Arendt, Hannah: Social Science Techniques and the Study of Concentration Camps, Fußnote 24, 63.
135 Vgl. Bettelheim, Bruno: Individual and Mass Behaviour in Extreme Situations, 447-451.

31
Dekonstruktion der Primärstudie

durchaus zustimmend übernommen,136 so auch von Elias137 und somit nicht zuletzt von Arendt
befördert, die ohne explizit auf den Urheber zu verweisen, dessen These in ihre
Auseinandersetzung mit den Konzentrationslagern aufnimmt.
»It is in this atmosphere that the amalgamation of criminals, political opponents, and ›innocent‹
people takes place, (…) that hostility against the SS guards or the camp administration gives way
to complicity, that the inmates assimilate themselves to the outlook on life of their persecutors,
although the latter rarely attempt to indoctrinate them.«138

Arendt erkennt jedoch, dass es sich hierbei keineswegs, wie Bettelheim behauptet, um eine
Abwehrstrategie in Form einer Identifikation handelt. Aus ihrer Sicht verdeutlicht sich hier der
Entmenschlichungsprozess, mit dem Ziel, die Häftlinge in nichts anderes als »Reaktionsbündel«
zu verwandeln. Interessant ist, dass die politische Theoretikerin Ende der 1940er-Jahre ein
Forschungsprojekt über Konzentrationslager plante, welches aufgrund mangelnder Unterstützung
nie zustande kam. Jedoch kann der Artikel in Jewish Social Studies, welcher einerseits ihre Kritik
an den Sozialwissenschaften beinhaltet sowie andererseits Bezug auf Bettelheim nimmt, als eine
Art Konzept für diese Forschungsbemühungen verstanden werden.139 Das Scheitern dieses
Forschungsvorhaben kann retrospektiv aus zwei Gründen als bedauerlich eingestuft werden.
Einerseits aufgrund der theoretischen sozialwissenschaftlichen Methodenkritik von Arendt, welche
durch die praktische Annäherung im Zuge einer Studie möglicherweise zur Klärung des postulierten
Modus Operandi eines »Verweilen beim Grauen« beigetragen hätte. Andererseits hätte sich im
Zuge der intensiven Auseinandersetzung im Forschungsfeld gegebenenfalls ihre Sichtweise auf
die verallgemeinernde Anpassungsthese Bettelheims relativiert. Die Resonanz Arendts in Bezug
auf die These durch die »Zerstörung der Individualität« führte zu ihrer pauschalen Schlussfolgerung
einer nur aus teilnahmslosen »Marionetten« bestehenden »Gesellschaft des Sterbens«.140 Die
damit einhergehende wissenschaftliche Reputation beförderte die These zu einer ›Theorie‹, welche
die Häftlingsgesellschaft bis dato häufig »an der Grenze jeder Sozialität« verortet sowie innerhalb
der Konzentrationslager eine gänzliche »Zerstörung der Sozialität« konstatiert.141 Gleichwohl die
These Bettelheims den wissenschaftlichen Diskurs beherrschte, fokussierte sich der Soziologe

136 Einen guten Überblick zur Rezeptionsgeschichte der Abhandlungen Bettelheims geben Christian Fleck und Albert

Müller. Darüber hinaus leisten die Autoren einen wesentlichen Beitrag zur Relativierung der von Bettelheim
herangezogenen Indikatoren für die Identifikation mit dem Wachpersonal anhand der Einschätzung von Überlebenden
des Konzentrationslagers Dachau und Buchenwald. Fleck, Christian/Müller Albert: Bruno Bettelheim (1903-1990) und
die Konzentrationslager, 206-229.
137 Elias kommt in Bezug auf Bettelheims Abhandlung »Aufstand gegen die Massen. Die Chance des Individuums in

der modernen Gesellschaft« [1964:136f] zum Schluss: »Mit der Zeit identifizieren sich, als Reaktion darauf, nicht
wenige Häftlinge mit der SS und unterwarfen sich ihr. Auch in diesem Fall mag die Identifizierung mit dem Unterdrücker
ein Stück weit planmäßig herbeigeführt worden sein, als ein besonders geeignetes Mittel, um die Herrschaft der
Unterdrücker zu gewährleisten und ihnen Ärger zu ersparen.« Elias, Norbert: Studien über die Deutschen, 491.
138
Arendt, Hannah: Social Science Techniques and the Study of Concentration Camps, 61.
139
Vgl. Fleck, Christian/Müller Albert: Bruno Bettelheim (1903-1990) und die Konzentrationslager, 221f.
140 Vgl. Arendt, Hannah: Konzentrationsläger, 327-330.
141
Vgl. Sofsky, Wolfgang: Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager, 4. Auflage, Frankfurt am Main: Fischer
2002, 18 sowie 106. Angemerkt sei, dass Maja Suderland in diesem Zusammenhang folgerichtig die Frage stellt:
»Reproduziert Sofsky hier mit der Vorstellung von erfolgreicher und vollständiger sozialer Vernichtung nicht nochmals
die Täterperspektive?« Suderland, Maja: Relektüre: »Absolute Macht […] ist ziellose, negative Praxis […].« Wolfgang
Sofskys Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager, in: MEDAON – Magazin für jüdisches Leben in Forschung
und Bildung, 8 (2014) 15, 6.

32
Dekonstruktion der Primärstudie

Luchterhand auf den Wandel sowie die Stabilität sozialer Beziehungen innerhalb der
nationalsozialistischen Konzentrationslager und bezieht somit früh eine kritische Gegenposition.

3.2 Dissonanz: Luchterhand versus Bettelheim

Innerhalb dieser Kontroverse standen sich zwei divergierende Erfahrungswelten gegenüber: Im


Fall von Bettelheim dessen entschiedener Versuch, die Selbsterfahrung und Zeugenschaft dem
Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit zu entreißen und sich als wissenschaftlich objektiver
Psychoanalyst gleichzeitig innerhalb sowie außerhalb der Häftlingsgesellschaft als Forscher zu
positionieren. In Bezug auf Luchterhand dessen gewonnene Eindrücke während und nach der
Befreiung der Konzentrationslager als US-Nachrichtenoffizier, gepaart mit den einschneidenden
Begegnungen am Ort des Geschehens sowie die Einsicht aus eigener Motivation unmittelbar
informelle Befragungen durchzuführen und somit als Außenstehender mit den Überlebenden in
den Dialog zu treten. Ersterem wird aufgrund der erlittenen Erfahrung als Überlebender zu Recht
eine subjektive »Deutungsautorität«142 zugesprochen, diese gilt es jedoch im wissenschaftlichen
Kontext Bettelheims durchaus kritisch zu reflektieren. Luchterhand stieß bereits während seiner
Masterarbeit auf konkrete Vorbehalte gegenüber Bettelheims Behauptungen, diese einer
empirischen Überprüfung zu unterziehen, war das erklärte Ziel seiner Dissertation. Ein
ambitionierter Widerspruch gegen gängige wissenschaftliche Sichtweisen, welcher innerhalb des
Forschungsvorhabens begleitet von Hans Gerth vor allem für Gegenwind vonseiten des
Gutachters Howard P. Becker sorgte, wie die Herausgeber der Studie veranschaulichen:

»›‚Hypothesen aufstellen‘ trifft die Sache nicht, ‚Mutmaßung‘ oder ‚Wunschdenken‘ würde besser
passen‹, lautete ein spitzer Kommentar zur Erstfassung. Zugleich bemäkelt Becker, dass
Bettelheim in den Augen Luchterhands immer falsch liege: ›Letztendlich waren Heilig und
Bettelheim aber in den Lagern‹.«143

Luchterhand rückte dennoch die Kritik an Bettelheim in den Fokus seiner Qualifikationsarbeit und
baut sein theoretisches und empirisches Forschungskonstrukt um diese Dissonanzen als
zentrales Erkenntnisinteresse auf. Neben der generalisierenden Identifikationsthese hinterfragt
der Soziologe vor allem die generelle Ablehnung einer Beziehungsfähigkeit144 der Häftlinge sowie
deren Aversion gegenüber einer Gruppenbeteiligung aufgrund des steigenden Leidensdruckes145
durch Bettelheim, worin sich zudem die Behauptung der allgemeinen Widerstandslosigkeit
verbirgt. Dahingehend kristallisiert sich folgende richtungsweisende Hypothese heraus:

142
Siehe hierzu: Reemtsma, Jan Philipp: Die Memoiren Überlebender. Eine Literaturgattung des 20. Jahrhunderts, in:
ders.: Mord am Strand. Allianzen von Zivilisation und Barbarei. Hamburg: Hamburger Edition 1998, 227-253.
143 Kranebitter, Andreas/Fleck, Christian: Elmer Luchterhands Forschung zu nationalsozialistischen
Konzentrationslagern. Eine Einleitung, 19.
144
Hier bezieht sich Luchterhand auf: »They were unable to establish durable object-relations. Friendships developed
as quickly as they broke up« Bettelheim, Bruno: Individual and Mass Behaviour in Extreme Situations, 445.
145 Dahingehend führt Bettelheim aus: »If a prisoner tried to protect a group [and] if his action came to the knowledge

of the camp administration then the whole group was always more severely punished than it would have been in the
first place. In this way the group came to resent the actions of its protector because it suffered under them« Ebd. 436.

33
Dekonstruktion der Primärstudie

»Die neuen und ›alten‹ Häftlinge nach Bettelheim und die damit in Zusammenhang stehende
Phasentheorie der Anpassung von Häftlingen können das Verhalten eines bedeutenden Teils der
Häftlingspopulationen nicht erklären.«146

Diese Gegenthese wird von zwei forschungsleitenden Aspekten flankiert, zum einen hebt
Luchterhand orts- und zeitgebundene Auswirkungen auf die Beziehungsgeflechte hervor, welche
»von gewaltsamem Konflikt bis zu Kooperation; in Hinblick auf die Häftlingsgesellschaft von
extremer Destruktivität bis zu Konstruktivität«147 reichen. Zum anderen sieht der Soziologe einen
eklatanten Widerspruch hinsichtlich der von etablierten Häftlingen initiierten
Untergrundorganisationen und der Anpassungsthese, da die Identifikation mit der SS die
literarisch belegte Existenz dieser Zusammenschlüsse kategorisch ausschließt. Denn
maßgeblich war für Luchterhand die bereits gewonnene Einsicht seiner vorangegangenen
Analyse, »dass die aktive Beteiligung an einer Gruppe die Überlebenschancen verbesserte«148,
wobei er diese eigene These ebenso innerhalb des empirischen Forschungsprozesses
kontinuierlich berücksichtigte und kritisch überprüfte.

3.2.1 Historische Kontextualisierung und empirische Forschungsstrategie


Die historische Annäherung Luchterhands bezieht sich auf den damaligen zur Verfügung
stehenden Forschungsstand, wobei primär das bereits erwähnte Werk Kogons herangezogen
wird. Wesentlich ist, dass sich Luchterhand ausdrücklich gegen eine ahistorische Perspektive auf
nationalsozialistische Konzentrations- und Vernichtungslager verwehrt und dafür plädiert, die
Entstehung dieses Systems als Prozess zu begreifen.

»Vielmehr gilt es den Beweisen kompromisslos ins Auge zu sehen, dass die Ausweitung sozialer
Kontrolle durch Gewalt und ihre Kulmination im Genozid eine prozesshafte Abfolge bildet, d.h.
eine Abfolge mit ›einer Logik‹ und einer Dynamik, die nicht ausgeblendet werden können.«149

Eine soziologische Weitsicht, die sich 50 Jahre später bei Michael Mann in dessen idealtypischen
soziologischen Konzept über den sechsstufigen Prozess des Ausmaßes von »eliminatorischer
Säuberung« und Gewalt in Beziehungen zwischen Gruppen wiederfindet.150 Des Weiteren
erkennt Luchterhand folgerichtig den Funktionswandel des Lagersystems, welchen er in zwei
Phasen unterteilt und folgende nationalsozialistische Ziele daran knüpft: Von 1933-1939 sieht er
die Lagerfunktion erstens in der Isolation oder Tötung von politischen Gegner*innen, zweitens
der Verbreitung von Terror unter der Bevölkerung sowie drittens nach der Erweiterung der
Verfolgtengruppen eine »kontinuierliche und zunehmende Gewalt« innerhalb der Lager. Ab 1939
kam viertens die Ausbeutung der Häftlinge für die Kriegsproduktion hinzu sowie die
systematische Vernichtung von rassenpolitisch verfolgten Opfern, wobei Luchterhand

146
Luchterhand, Elmer: Einsame Wölfe und stabile Paare, 39.
147
Ebd.
148 Ebd., 40.
149 Ebd., 65.
150
Siehe hierzu: Mann, Michael: Eliminatorische ethnische Säuberungen: Eine makrosoziologische Erklärung, in:
Berliner Journal für Soziologie, 10 (2000) 2, 241-277.

34
Dekonstruktion der Primärstudie

richtigerweise das größte Ausmaß der Vernichtungspolitik in den annektierten Ostgebieten


verortet.151 Darüber hinaus verweist Luchterhand auf die mangelhafte Kartografie hinsichtlich des
weitreichenden Stamm- und Außenlagernetzes, die starken Abweichungen bei den Opferzahlen
sowie die vorherrschenden wissenschaftlichen Spekulationen über die sogenannte
»Häftlingsselbstverwaltung«.152 Hier zeigt sich besonders deutlich, dass die
Geschichtsschreibung der nationalsozialistischen Konzentrationslager zu diesem Zeitpunkt erst
am Anfang stand.153 Dahingehend ist die eingeforderte Prämisse Luchterhands umso
bemerkenswerter: »Diskussionen über das Lagersystem müssen drei Spezifika und ihre
Wechselbeziehungen berücksichtigen: Art, Zeitpunkt und Ort des Lagers.«154

Ausgehend von diesen wesentlichen Einsichten näherte sich Luchterhand auf induktive Weise der
empirischen Überprüfung seiner zentralen Fragestellungen, wobei er aufgrund der
Methodenproblematik einen eher eigenwilligen experimentellen Forschungsstil entwickelte.
Angemerkt sei, dass Luchterhand seine Dissertation als qualitative Studie verstand, sich jedoch
innerhalb des Forschungsberichtes an einigen Stellen zu haltlosen respektive schwachen
statistischen Berechnungen hinreißen ließ. Die daraus entstandene deskriptive Statistik in Form
von Häufigkeitstabellen kann weniger als quantitative Analyse, sondern vielmehr als eine Art
Rechtfertigung gegenüber dem vorherrschenden Methodenkanon eingeordnet werden. Abgesehen
von diesem defizitären Mixed-Methods-Versuch besticht Luchterhand durch dessen akribische
qualitative Forschungsstrategie. Die Basis seiner empirischen Untersuchung bietet das
umfangreiche Interviewmaterial und somit die intensive Auseinandersetzung mit den
Überlebenden, welche von Luchterhand als Informant*innen bezeichnet werden. Der Soziologe
betont, dass es innerhalb dieser dialogischen Begegnung unerlässlich sei als Forschender über
örtliche, zeitliche und sprachliche Kenntnisse im Zusammenhang mit den nationalsozialistischen
Konzentrationslagern zu verfügen, um den Befragten ein basales Verständnis für die Bedeutungen
ihrer Narrationen zu signalisieren. Die Haltung Luchterhands gegenüber seinen Informant*innen,
wirft durchaus Fragen auf, welche der Soziologe kontinuierlich reflektiert. Denn Luchterhand maßt
sich keineswegs an, die erlittenen Erfahrungen der Überlebenden begreifen zu können, sondern
begegnet dem Forschungsgegenstand mit einer Haltung des Verstehen-Wollens. Hinsichtlich
dessen reflektiert der Soziologe über die Schwierigkeit des Erinnerns, versuchte durch die
Verwendung von Reizwörtern155 ein Vertrauensverhältnis herzustellen und bot den Befragten
ausgewählte Fallgeschichten anderer Überlebender an, um vermeintlich problematische
Verhaltensweisen des Lageralltags zu thematisieren.156 Die damit verbundene Ausbalancierung

151 Vgl. Luchterhand, Elmer: Einsame Wölfe und stabile Paare, 70f.
152
Vgl. ebd., 71-73.
153
Eine erste umfassende Darstellung wurde 2015 von Nikolaus Wachsmann unter dem Originaltitel KL. A History of
the Nazi Concentration Camps vorgelegt.
154 Ebd. 79.
155
Hier sind einschlägige Begriffe der sogenannten Lagersprache gemeint, siehe dazu Kapitel 4.2.
156 Vgl. Luchterhand, Elmer: Einsame Wölfe und stabile Paare, 52-60.

35
Dekonstruktion der Primärstudie

zwischen provozierten Reizsituationen und erforderlichen Bewältigungsstrategien, um die


notwendige Vertrauensbasis zu schaffen, zeigt sich in folgender Reflexion Luchterhands.

»Während aller Interviews bemühten wir uns aktiv, das Selbstbild der Informantinnen und
Informanten zu schützen, indem wir moralische Urteile sorgsam vermieden (…). Zudem waren
wir bemüht, so beiläufig wie möglich darauf hinzuweisen, dass wir in der Lage waren, in
emphatischer Weise zwischen den Normen des Nicht-Lagerlebens und den Normen der
Häftlingsgesellschaft zu unterscheiden und dadurch (…) ›unvermeidliche‹ Mittel der
Häftlingsgesellschaft zu akzeptieren.«157

3.2.2 Interviewleitfaden und Sampling


Das systematische Vorgehen Luchterhands bei der Generierung seiner Stichprobe weist
erhebliche Ähnlichkeiten mit dem Mitte der 1960er-Jahre entwickelten Forschungsstil der
Grounded Theory auf. Eine genauere Betrachtung der Herangehensweise zeigt die wachsende
theoretische Sensibilität des Soziologen sowie die innerhalb des Forschungsprozesses
verankerte Reflexivität. Grundsätzlich unterscheidet Luchterhand innerhalb des Datenmaterials
zwischen Sonder- und Standardinterviews, erstere sind bezeichnend für den empirischen
Annäherungsprozess. Denn die Auswahl des ersten Zeugen knüpfte an eine informelle
Befragung kurz nach der Befreiung in Buchenwald an, wobei Luchterhand den Informanten in
einem Briefwechsel um dessen Einschätzung zur Behauptung Bettelheims gegenüber den
»alten« Häftlingen bittet. Die entschiedene Ablehnung der These durch den ehemaligen
Buchenwald-Häftling veranlasste Luchterhand zur Überprüfung einer von Bettelheim als
Extremsituation geschilderten Erfahrung eines verlängerten Appells in der Nacht des 17.
Dezembers 1938 im Konzentrationslager Buchenwald. Bettelheim beschreibt, dass sich in dieser
Situation ein Autoritätsverlust der SS aufgrund einer totalen Gleichgültigkeit der widerstandslosen
Häftlinge einstellte. Diese vermeintliche Angstreduktion rief laut dem Psychologen ein
Glücksgefühl, ausgelöst durch die kollektive Leidenserfahrung hervor, welches mit dem Ende des
Appells in eine dysphorische Stimmung umschlug.158 Luchterhand interessierte sich in diesem
Zusammenhang für die Gefühlslagen und Eindrücke der Mitgefangenen Bettelheims während
und nach dem Appell sowie für etwaige Widerstandshandlungen oder explizite
Unterstützungsleistungen, die auf ein Wir-Gefühl der Häftlingsgesellschaft hindeuten würden.
Dahingehend führte der Soziologe vier Sonderinterviews159, die sich ausschließlich auf diesen
Teilaspekt der erlittenen Erfahrungen fokussierten und gleichzeitig als ein Wendepunkt im
Forschungsprozess begriffen werden können. Denn bereits der dritte Befragte merkt während
des Interviews an, »this assembly didn’t seem so bad to me. Why do you think it is so

157
Ebd., 55.
158Vgl. Bettelheim, Bruno: Individual and Mass Behaviour in Extreme Situations, 433-435.
159 Angemerkt sei, dass die vier Interviewpartner wie Bettelheim zwischen 1938 und 1939 sowohl das

Konzentrationslager Dachau als auch Buchenwald durchliefen sowie zu den wenigen vor Kriegsbeginn Entlassenen
gezählt werden können.

36
Dekonstruktion der Primärstudie

important?«160 Eine ähnliche Verständnislosigkeit über dieses spezifische Interesse begegnete


Luchterhand im letzten Sonderinterview mit Paul Martin Neurath unter dem Pseudonym »Ira«,
der seine erlittenen Erfahrungen, wie bereits erwähnt, 1943 in seiner sozialwissenschaftlichen
Dissertation161 verarbeitete sowie aus einer soziologischen Perspektive argumentierte. Im
Protokoll notiert sich Luchterhand: »He repeatedly stated that there were much worse things that
went on in the camps than this prolonged assembly. (…) In general Ira seemed to feel that the
interviewer needed to be warned against exaggerating the severity of this experience.«162 Ebenso
verweist Luchterhand auf eine an das Interview anschließende Diskussion der beiden
Soziologen, in welcher Neurath dessen Forschungsinteresse hinterfragt. Ersterer geht zwar nicht
explizit auf den Einfluss dieser Debatte innerhalb dessen Forschungsprozesses ein, dennoch
zeigt sich eine unmittelbare Auswirkung durch die Erweiterung des Interviewleitfadens für die
anschließenden standardisierten Interviews.

An dieser Stelle empfiehlt es sich, den Interviewleitfaden mit dem daraus resultierenden Protokoll
zu verschränken, um den Bedeutungsgehalt des Datenmaterials für die Sekundäranalyse sichtbar
zu machen. Angemerkt sei, dass Luchterhand die Interviews in Form von kontinuierlichen Notizen
auf verschiedenfarbigen Bögen des Leitfadens aufzeichnete, um diese anschließend in
ausführliche Memos zu integrieren. Am Anfang jedes Protokolls findet sich der erstellte
Haftkalender, denn die Ambition des Soziologen war es »einzelne Lager für Untersuchungszwecke
zu kategorisieren. Ein Blick auf die Komplexität des Kalenders legt jedoch die Unmöglichkeit einer
solchen Vorgehensweise nahe.«163 Dennoch stellen die erhobenen Daten über die Lagerorte sowie
den jeweiligen Inhaftierungszeitraum für die Sekundäranalyse der Interviewprotokolle eine
wesentliche Handreichung hinsichtlich einer Einordnung der Orte des Terrors dar. Die unter dem
Überbegriff Basisdaten abgefragten Lebensverläufe vor sowie nach der Lagererfahrung beziehen
sich vorwiegend auf familiäre und kulturelle Hintergründe, wobei auch besondere Fähigkeiten der
Befragten hervorgehoben werden. Daran anknüpfend reflektiert Luchterhand über die
eingenommene Haltung sowie Reaktionen der Befragten während des Interviews, wobei an dieser
Stelle eine Beschreibung der körperlichen Merkmale der Interviewten enthalten ist. Jedoch wirkt die
Verknüpfung der äußeren Erscheinung mit den rassistischen Stereotypen der
nationalsozialistischen Ideologie befremdlich, denn der Soziologe präzisiert keineswegs, wie er zu
seiner Einschätzung des »Nazi-Stereotyps eines Juden« gelangt. Nichtsdestotrotz wirken sowohl
die erhobenen Eckdaten zu den Interviewpartner*innen als auch die Reflexion Luchterhands über
die Haltung während des Interviews dem bereits erwähnten Problem der Abwesenheit im
Forschungsfeld entgegen. Unter der von Luchterhand verwendeten Bezeichnung »Induction« sind

160
Interviewprotokoll 4 »Eli«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series
1, Box 1, pag. 3.
161
Originaltitel der Dissertation: Social Life in the German Concentration Camps Dachau and Buchenwald. Publikation:
Neurath, Paul Martin (1943): Die Gesellschaft des Terrors. Innenansichten der Konzentrationslager Dachau und
Buchenwald. [Hg.]: Fleck, Christian/Müller, Albert/Stehr, Nico, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.
162 Interviewprotokoll 5 »Ira«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series

1, Box 1, pag. 5.
163 Luchterhand, Elmer: Einsame Wölfe und stabile Paare, 50.

37
Dekonstruktion der Primärstudie

die Erinnerungen der Befragten an Verhaftung, Deportation und Einweisungsprozedur protokolliert,


wobei nach anwesenden Bezugspersonen als auch nach spezifischen Gewalterfahrungen gefragt
wurde. Luchterhand beschäftigte sich während des Interviews implizit mit auftauchenden
Narrationen, die einen Nachweis auf Traumatisierungen darstellten. Der Soziologe sprach mit den
Überlebenden über Selbstmordgedanken, extreme Ängste, Wutausbrüche sowie über deren
Einschätzung, ob sie sich während der Lagerzeit im Stadium eines »Muselmannes«164 befanden.
Den Kern des Datenmaterials stellen die erinnerten zwischenmenschlichen Beziehungsmuster
sowie das Teilverhalten der Befragten dar, Luchterhand folgt bei der Protokollierung der
chronologischen Reihenfolge des Haftkalenders. Darüber hinaus werden hier die unterschiedlichen
Arbeitskommandos, Aktivitäten in der knapp bemessenen Freizeit sowie Veränderungen innerhalb
der Beziehungen festgehalten. Neben den Auskünften über eine etwaige Position in der
Häftlingshierarchie ist es bemerkenswert, dass Luchterhand die Überlebenden explizit nach deren
Sexualverhalten respektive sexuellen Gefühlen während und nach der Lagerzeit fragte. Darüber
hinaus interessierte sich der Soziologe bei den Interviewpartnerinnen für die Veränderungen
innerhalb deren Menstruationszyklen. Ein schwieriges Thema stellte die Frage nach begangenen
Diebstählen gegenüber anderen Häftlingen dar, aufgrund dessen legte Luchterhand folgende
Fallgeschichte in schriftlicher Form vor:

»Nothing else counted but that I wanted to live. I would have stolen from my loved ones – child,
parent or friend – in order to keep alive. Every day I planned how I could steal a sweater, or
bargain for a blanket, an undergarment, or an extra bowl of soup. I would remain close to those
who were ill, and if they were too weak to eat their bread or soup, I would take it from them. I
would become terribly discourage by the end of the day if I had not been able to get something
extra in order to live.«165

Der Soziologe betont, dass diese Aussage die Vertrauensbasis eher zu belasten schien und von
den Befragten entschieden zurückgewiesen wurde. Im Forschungsprozess konnte jedoch eine
weitere Aussage direkt aus dem erhobenen Interviewmaterial generiert werden. Diese wurde ab
Standardinterview 16 unmittelbar nach der zu lesenden Fallgeschichte vom Interviewer wie folgt
wiedergegeben:

»One survivor told me that she (he) was with a large group of foot marchers which traveled for
about two months in Poland in February and March, 1945. The marchers were finally housed in
various wooden shacks on an estate. In one of these there were about 100 women (men), all of
them weak or sick from hunger and the other hardships of the winter-time march and work on

164
»Muselmann« oder auch »Muselweib« war eine in der Lagersprache verbreitete Bezeichnung für jene Häftlinge, die
dem Tod nahe waren – die Entkräftung, der Hunger, die Apathie minimierten ihre Überlebenschancen. Siehe hierzu: Ryn,
Zdzisław/Kłodziński Stanisław: An der Grenze zwischen Leben und Tod. Eine Studie über die Erscheinung des
»Muselmanns« im Konzentrationslager, in: Hamburger Institut für Sozialforschung [Hg.]: Die Auschwitz Hefte: Texte der
polnischen Zeitschrift »Przegląd Lekarski« über historische, psychische und medizinische Aspekte des Lebens und
Sterbens in Auschwitz, Bd. 1, Weinheim: Beltz 1987, 89-154.
165 Luchterhand, Elmer: Einsame Wölfe und stabile Paare, 258. Luchterhand merkt an dieses Statement I in

abgewandelter Form aus der Abhandlung »The Personality of Inmates of Concentration Camps« des Soziologen
Herbert A. Bloch entwickelt zu haben. [Vgl. ebd.: 58]

38
Dekonstruktion der Primärstudie

fortifications. In order to be allowed to dip into the kettle at mealtime on had to have a tin cup. But
among the 100 women (men) there must have been only about 95 cups. One evening, before
feeding arrangements were really organized, this prisoner discovered that her (his) cup was
missing. The prisoner knew she (he) had to get one in place of the one that was stolen, or starve.
At that time this prisoner was so weak that she (he) could walk only with the help of others. She
(he) saw another cup, crawled over near it, kicked it a little way and then picked it up.«166

Die theoretische Sensibilität Luchterhands ermöglichte den Befragten die Bezugnahme auf eine
annehmbare Assoziation sowie »das Vertrauen zwischen Interviewer und Interviewten zu einem
Zeitpunkt zu bestärken, als ebendieses am schwersten auf die Probe gestellt wurde.«167 Eine
weitere schwierige Thematik stellt die Erinnerung an erlittene Extremsituationen dar, welche von
kollektiven Erniedrigungen und Strafmaßnahmen über die Zeugenschaft bei öffentlichen
Hinrichtungen und Massenmorden bis hin zu Transporterfahrungen und Todesmärschen reichten.
Neben diesen persönlichen Erfahrungen und Verhaltensweisen, interessierte sich Luchterhand für
Beobachtungen innerhalb des Lageralltags vor allem in Bezug auf die sogenannten »alten«
Häftlinge, Häftlingsorganisationen, Selbstmordwellen, Sabotageakte und das Teilverhalten von
Gruppen innerhalb der Häftlingsgesellschaft, hinsichtlich des letztgenannten Aspekts sollte das
Lesen nachstehender Aussage die Erinnerung an spezifische Gegebenheiten verstärken.

»They were very unselfish toward others. They shared their rations to feed a group of childen in
the camp, and they also donate small articles of clothing. When transports arrived from their
homeland they took the most weak and injured under their protection. They organized themselves
and made collections in the blocks for this purpose.«168

Es gilt zu betonen, dass sich Luchterhand bei der meist in zwei Sitzungen stattfindenden
Befragungen keineswegs auf den Interviewleitfaden versteifte, sondern diesen vielmehr als
Hilfsmittel zur aktiven Lenkung verstand. Wobei auf der Verstärkung von Erinnerungsprozessen
anhand von erzählgenerierenden Interviewtechniken ein wesentliches Augenmerk lag und den
dadurch erreichten ausführlichen narrativen Erzählphasen wurde der nötige Raum gegeben.169
Wie sich zeigt, umfasste Luchterhands Erkenntnisinteresse vielschichtige Aspekte des
Lagerlebens, aufgrund dessen fokussierte sich der Soziologe auf eine systematische sowie
gezielte Auswahl der Stichprobe. Im Bewusstsein, dass die Erreichung einer repräsentativen
Stichprobe aufgrund der unbekannten Grundgesamtheit der Häftlingspopulation illusorisch ist,
ging es Luchterhand darum, Interviewpartner*innen ausfindig zu machen, »die – kollektiv
betrachtet – den gesamten Umfang des Terrors und der Deprivationen der nationalsozialistischen
Lager erfuhren.«170 Wobei sich die unbeabsichtigte Verzerrung des Samples dahingehend zeigt,
dass die Mehrheit der von Luchterhand Interviewten jüdische Überlebende waren. Den

166
Ebd., 258.
167 Ebd., 59.
168 Ebd., 258.
169
Vgl. ebd., 54.
170 Ebd., 40.

39
Dekonstruktion der Primärstudie

Feldzugang stellte die Kontaktaufnahme mit Überlebensorganisationen dar, wobei sich Mitglieder
einer dieser Verbände in New York bereits für die Durchführung des Prätests der
Interviewleitfäden zur Verfügung stellten. Es zeigt sich, dass Luchterhand einerseits gezielt
vorging, um vergleichende Daten ausfindig zu machen, wurde bewusst auf Ähnlichkeiten und
Differenzen innerhalb des Samples geachtet. Andererseits versuchte der Soziologe systematisch
in den Interviews erwähnte Personen, welchen Anerkennung oder Kritik zuteilwurde, zu
kontaktieren. Darüber hinaus wurden Überlebende mit einer geteilten Lagererfahrung befragt, um
die Entdeckung feinerer Unterschiede zu fördern. Es gelang dem Soziologen, mit 35 Männern
und 17 Frauen, die zum Zeitpunkt ihrer Deportation größtenteils jünger als 30 Jahre waren, über
ihre erlittenen Erfahrungen zu sprechen. Die Befragten fühlten sich überwiegend der Mittelschicht
zugehörig, wobei es dem Soziologen gelang, 12 Facharbeiter*innen zu interviewen. Das
Datenmaterial sowie die daran anknüpfende Recherche zeigte, dass der Leidensweg der
Überlebenden durch insgesamt 93 Orte des Terrors führte. Interessant ist, dass einige der
Interviewten in familiären respektive verwandtschaftlichen Beziehungen zueinander standen,
wobei die vier befragten Ehepaare jeweils keine geteilte Lagererfahrung aufwiesen. Luchterhand
konnte für seine Untersuchung vier Mütter, die gemeinsam mit ihren Kindern die Lagerzeit
überlebten, gewinnen sowie in einem Fall ebenso die Tochter befragen. Bei jenen zwei Frauen,
die der Soziologe als Schwestern bezeichnet, zeigte sich im Zuge der Recherche, dass hier keine
biologische Schwesternschaft vorliegt, sondern vom äußerst interessanten Phänomen der
»Lagerschwestern«171 ausgegangen werden kann. Darüber hinaus finden sich bei neun der
männlichen Befragten explizite Verbindungen hinsichtlich der Lagererfahrung. Des Weiteren
reflektierten sechs der Interviewpartner*innen über ihre persönlichen Verbindungen zum
politischen Untergrund innerhalb der Konzentrationslager und 16 der Befragten machten
Angaben über deren eingenommene Positionen innerhalb der Häftlingshierarchie. Generell
verstand es Luchterhand ein kumulatives theoretisches Sampling vorzunehmen, welches mit
einem angemessenen Maß an Flexibilität im Untersuchungsverlauf an Tiefe gewann. Die
theoretische Sensibilität Luchterhands sowie dessen Fähigkeiten als Beobachter und Interviewer
äußerte sich einerseits in der entgegengebrachten Kooperation der Interviewpartner*innen trotz
der Schwere der erinnerten Thematik. Andererseits konnte durch das angewandte Sampling-
Verfahren ein reichhaltiges Datenmaterial generiert werden, welches das Aufdecken von
Beziehungsmustern sowie wesentlicher Aspekte der Häftlingsgesellschaften ermöglichte.

3.2.3 Zentrale Erkenntnisse: Einsame Wölfe und stabile Paare


Das soziologische Erkenntnisinteresse Luchterhands bestand darin, »in sozialen
Beziehungsmustern Faktoren für die Bestimmung von menschlichem Verhalten zu erkennen.«172

171
Brana Gurewitsch stellte fest, dass sich dieser in den Konzentrationslagern geprägte Terminus »Lagerschwestern«
auf eine enge »familienähnliche« Bindung bezieht, welche in Form von gegenseitiger Unterstützung und Stärkung
diese »Ersatzfamilien« entstehen ließen. Vgl. Gurewitsch, Brana [Hg.]: Mothers, Sisters, Resisters: Oral Histories of
Women Who Survived the Holocaust. Tuscaloosa: University of Alabama Press 1998, xviii-xix.
172 Luchterhand, Elmer: Einsame Wölfe und stabile Paare, 98.

40
Dekonstruktion der Primärstudie

Aufgrund dessen kategorisiert der Soziologe die 52 Fallbeispiele in Rückbezug auf die
methodischen Überlegungen des Pragmatikers Leonard A. Salter Jr., wobei sich erneut eklatante
Ähnlichkeiten mit dem Forschungsstil der Grounded Theory zeigen. Denn Luchterhand entwickelt
seine Kategorien zwischenmenschlicher Beziehungsmuster mittels systematischem Vergleichen
der Daten, um Homogenität respektive Heterogenität herauszuarbeiten und anhand dessen eine
Typologie zu erstellen. Dahingehend erkennt der Soziologe in den Daten sechs Arten von
Beziehungsmuster, wobei diese Verhaltensweisen nach Hinweisen auf Zweckbündnisse
hinterfragt werden. Die Kategorie »Einsamer Wolf« entwickelt Luchterhand aus dem Invivo-Kode
»Speckjäger« und bezieht sich auf eine geringe Beziehungsfähigkeit sowie eigennütziges
Verhalten. Dem gegenüber stehen »Stabile Paare«, wobei es sich um wachsende Beziehungen
handelt, die sich durch gegenseitige Hilfestellungen auszeichnen. Eine wesentliche Abstufung
Luchterhands zeigt sich in der Kategorie »Instabile Paare«, welche konfliktgeladene
Zusammenschlüsse sowie schwankende Beziehungsfähigkeiten umfasst. Darüber hinaus zeigten
sich in den untersuchten Fällen Beteiligungen in Klein- und Großgruppen sowie die bereits
erwähnten Zweckbündnisse,173 diese definiert der Soziologe als »Beziehungen, die eingegangen
oder aufrechterhalten wurden, um an privilegierte Positionen oder Güter zu kommen, um die
Überlebenschancen zu erhöhen.«174

Die Zuordnung der Fälle zu den entwickelten Kategorien wirkt, ob der Dichte des Datenmaterials,
an manchen Stellen zu eng, da diese die beiläufig erwähnten Nuancierungen Luchterhands
unberücksichtigt lassen. Denn die Einsichten des Soziologen über »unvereinbare« Paare sowie
»unmögliche« Freundschaft, welche »unmögliche« Gegenseitigkeiten wie soziokulturelle
Gegensätze auflösten, um für die geteilte Lagerzeit stabile Paare zu bilden, sowie die darin
enthaltene Feststellung einer raschen Kompensation bei Verlust werden lediglich durch zeitliche
und räumliche Zwänge begründet. Luchterhand sieht im Allgemeinen innerhalb der Schnelligkeit,
aufgrund der sich rasch verändernden Bedingungen der Lager, die Notwendigkeit einer
gegensätzlichen Kooperation und stellt dennoch eine genuine Gegenseitigkeit in diesen ebenso als
stabile Paare kategorisierten Beziehungen fest. Bemerkenswert ist die Bandbreite der von
Luchterhand erfragten Aspekte des Lageralltags im Zusammenhang mit Häftlingsorganisationen,
diese reichten von politischen Untergrundorganisationen, entwickelten Häftlingskodexen über
Fluchtgruppen bis hin zu kulturellen und sportlichen Aktivitäten. Wesentlich ist, dass Luchterhand
die durchschnittliche Haftzeit in Zusammenhang mit Veränderungen innerhalb der
Beziehungsmuster setzte, wobei aufgrund der Komplexität Art und Ort der jeweiligen Lager
überwiegend unberücksichtigt blieben. Im Hinblick auf die Anpassungsthese Bettelheims fokussiert
sich Luchterhand auf die Häftlingsgesellschaft, um dieses soziale System mit einem spezifischen
Normenkatalog in Verbindung mit der Haftdauer der Befragten auf Veränderungen zu überprüfen.
Dahingehend liegt der Fokus auf Diebstahlverhalten sowie anderen Beschaffungsarten,

173
Vgl. ebd., 47 sowie 80f.
174 Ebd., 47.

41
Dekonstruktion der Primärstudie

Teilverhalten, Widerstand gegenüber der SS sowie Beteiligungen an der


»Häftlingsselbstverwaltung« und Intergruppenbeziehungen der Häftlinge.175 Darüber hinaus stellt
Luchterhand ein Kompensationsverhalten der Häftlinge fest, geht jedoch nicht tiefer darauf ein, als
dass »die Bagatellisierung des eigenen Leidens unter Häftlingen ein Muster war«176 und »aus der
Vertrautheit mit dem Tod resultierende Härte wird«177. Die Verzahnung von spezifischen
Verhaltensweisen mit der Perspektive auf Veränderungen im Kontext von »Neuankömmlingen«
und »alten« Häftlingen lässt einen Umkehrschluss hinsichtlich der Anpassungsleistung sichtbar
werden. Luchterhand revidiert die Behauptung Bettelheims, dass es mit steigender Haftdauer zu
einer Identifikation mit der SS kam, durch die Feststellung einer zunehmenden Anpassung an die
Häftlingsgesellschaft getragen von der Akzeptanz des darin enthaltenen Normen- und
Wertesystems. Des Weiteren stellt Luchterhand einen Bezug zwischen Traumata und
Anpassungsleistungen her, um Nachweise für positive therapeutische Effekte
zwischenmenschlicher Beziehungsmuster zu erbringen178 sowie den Widerspruch, den »die
Lagergesellschaft aufwirft, (…) die hohe Inzidenz von Traumata und die niedrige Inzidenz
psychischer Störungen«179 zu klären. Letztlich richtet sich sein soziologischer Blick auf
Verhaltenskonstanten respektive -veränderungen der Häftlinge in Extremsituationen, um die damit
verbundenen Deprivationen und Auswirkungen auf die Häftlingsgesellschaft herauszuarbeiten. Im
Fazit distanziert sich Luchterhand erneut entschieden von der Behauptung Bettelheims, neben
begünstigenden Faktoren für die Akzeptanz der These übt Luchterhand Kritik an dessen
Versäumnissen und verweist auf die durch den Psychoanalytiker vernachlässigten Aspekte des
Lagerlebens. Luchterhand kritisiert die Negation von stabilen Beziehungen, die oppositionelle
Teilung der Häftlingsgesellschaft in »alte« und »neue« Häftlinge, die Vernachlässigung der
niedrigen Inzidenzen von Psychosen und Selbstmorden im Zusammenhang mit Traumatisierungen
sowie von entlastenden Auswirkungen und die Ausklammerung von im Untergrund agierender
Häftlingsorganisationen sowie deren Anführer*innen als auch von widerständischen Verhalten.180
Diese kritische Einschätzung der Abhandlung Bettelheims pointiert der Soziologe wie folgt:
»Praktisch werden mit Ausnahme der Einflüsse der Gestapo, alle anderen Einflüsse in der
Untersuchung der Anpassungsprozesse von Häftlingen ausgeschlossen.«181

Die Fixierung Luchterhands auf die Prüfung der Gegenthese beschränkte einerseits dessen
Forschungsperspektive auf das umfassende Datenmaterial, denn die darin enthaltenen Aspekte
haben durchaus das Potential für eine tiefgreifende qualitative Analyse fernab der kritisierten
Interpretationen Bettelheims. Andererseits verstellte die vordergründige Kritik den Blick auf den
Wert dieser soziologischen Untersuchung für die Konzentrationslagerforschung und verdeckte

175 Vgl. ebd., 98-166.


176
Ebd., 168.
177
Ebd., 169.
178 Vgl. ebd., 172-216.
179 Ebd., 207.
180
Vgl. ebd., 217-244.
181 Ebd., 244.

42
Dekonstruktion der Primärstudie

die zentralen Einsichten Luchterhands, der »versucht[e], das Lagersystem nicht als Welt für sich
(…), sondern als System anzusehen, das kulturelle Kontinuitäten mit Nicht-Lagergesellschaften
aufweist.«182 Dennoch blieb Luchterhand die Reputation im Zusammenhang mit seiner
lebenslangen Forschung verwehrt, obwohl der Soziologe sein Dissertationsprojekt Anfang der
1970-er Jahre in eine Langzeitstudie mit Seltenheitswert ausweitete sowie vorab eine
Kurzfassung der zentralen Ergebnisse der Qualifikationsarbeit publizierte. Luchterhand brachte
in diesem Kontext seine zentrale Einsicht wie folgt auf den Punkt:

»Aus den Daten dieser Studie lässt sich feststellen, dass ein großer Teil der Kraft für ein
Überleben – psychisch wie physisch – offenbar aus einer ›stabilen‹ Paarbildung kam. Jenseits
aller schwerer Konflikte in den Lagern waren es die Paare, wiederholt von Transporten und Tod
zertrennt und bei Todesfällen paradoxerweise durchgängig wiederhergestellt, in denen der
Häftling einen Anflug von Menschsein am Leben hielt.«183

Angemerkt sei, dass Bettelheim die durch Luchterhand aufgeworfenen Dissonanzen ignorierte
respektive keine öffentliche Stellungnahme dazu abgab. Der bereits erwähnte Psychoanalytiker
und befreundeter Mithäftling Bettelheims Ernst Federn, welcher als Interviewpartner Teil der
Studie Luchterhands war, gab diesem 1969 ein kritisches Feedback in Briefform. Einerseits
plädierte Federn für eine Trennschärfe der Disziplinen bei der Untersuchung der
nationalsozialistischen Konzentrationslager, welche entbehrlich ist, da Luchterhands Perspektive
genuin soziologisch war.184 Andererseits zeigt sich hier dessen wissenschaftliche Anerkennung
sowie eine Art stellvertretende Stellungnahme:

»Thank you for the reprint of ›Prisoner Behavior‹ (…) I found very interesting and important and
very readable. (…) lt is of course Bettelheim’s mistake not to have put on an immediate disclaimer
on the fame he gained with his first paper on survival. (…) I know him very well and l am probably
the only person from whom he has ever accepted any criticism. But l also know too well his
shortcomings. One is the tendency to take a good idea and exagerate [sic] its application to such
an extent that it becomes practically a nuisance. (…) Bettelheim, who was so fortunate to get free
after a year published this idea and then expanded it to a general law. It is one generally true
mechanism of defense used by children and by grown ups [sic] especially when a life situation
puts them into a relationship of dependency. It is not the general defense against terror and
suppression and was that in camp.«185

Neben dieser wissenschaftlichen Zustimmung wird am Ende des Briefes ein wesentlicher Aspekt
der Konzentrationslagerforschung sichtbar, Federn betont: »I cannot perceive sufficiently how little

182
Ebd., 248.
183
Luchterhand, Elmer: Prisoner Behavior and Social System in the Nazi Concentration Camps, in: International Journal of
Social Psychiatry, 13 (1967) 4, 259f, zitiert nach Kranebitter, Andreas/Fleck, Christian: Elmer Luchterhands Forschung zu
nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Eine Einleitung, 26.
184
Vgl. ebd., 26f.
185 Brief Ernst Federn an Elmer G. Luchterhand, 9. April 1969, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Sub-Group I,

Series 1, Box 3, pag. 1. Ein vollständiges Transkript des Briefes findet sich in kommentierter Form in: Fleck,
Christian/Kranebitter Andreas: Von der Psychologie zur Soziologie des Terrors. Ernst Federn, Elmer Luchterhand und die
sogenannte Bettelheim-These, in: WERKBLATT. Psychoanalyse und Gesellschaftskritik Nr. 79, 34 (2017) 2, 106-116.

43
Dekonstruktion der Primärstudie

those know about the camps who have not lived through it. Most human experiences are shared by
many people.«186 Aufgrund dessen erfordert die Annäherung an die Zeugnisse der Überlebenden
eine kontinuierliche Reflexion über die Innen- und Außensicht auf die nationalsozialistischen
Konzentrationslager, um innerhalb der diskursive Annäherung die Herausforderungen der jeweiligen
Perspektive zu erkennen und anhand einer gegenseitigen Übersetzungsleistung anzuerkennen.
Luchterhand nutzte bewusst sprachliche Assoziationen der Konzentrationslager, um den narrativen
Erinnerungsprozess der Überlebenden zu fördern. Aus heutiger Perspektive gilt es vielmehr die
Sprache der Überlebenden zu entschlüsseln, um ihrem entschiedenen Versuch des Begreifbar-
Machens mit der Haltung des Verstehen-Wollens begegnen zu können.

186 Brief Ernst Federn an Elmer G. Luchterhand, 9. April 1969, pag. 4.

44
4 Übersetzungsprozess: Prämisse des Begreifbar-Machens und
Verstehen-Wollens
»Aber Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich,
sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes
seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je
187
unbewußter ich mich ihr überlasse.«

Sprache als Vermittlungsinstanz menschlicher Beziehungen ist jenes notwendige Bindeglied, um


Zugang zu den tiefgreifenden lebensgeschichtlichen Erfahrungen der Überlebenden
nationalsozialistischer Konzentrationslager zu erlangen. Die reflexiven Erinnerungen an die
erlittenen Eindrücke in mündlicher und schriftlicher Form ermöglichen erst die diskursive
Auseinandersetzung, welche wiederum an die jeweiligen Wahrnehmungsformen gebunden ist.
Dahingehend kristallisiert sich ein fortwährender wechselseitiger Übersetzungsprozess heraus,
welcher die Frage nach der Art der Zeugenschaft sowie der Tragfähigkeit der Sprache aufwirft.
Innerhalb der Übersetzungsleistung sind die Überlebenden das zentrale Bindeglied, die erst durch
ihr Erfahrungswissen eine diskursive Auseinandersetzung ermöglichen. Dahingehend ist es
unumgänglich, sich innerhalb der wissenschaftlichen Distanznahme, die darin enthaltenen zeitlichen
und räumlichen Perspektiven bewusst zu machen. Denn die Zeugnisse der unmittelbaren
Betroffenen stellen eine Innensicht auf die nationalsozialistischen Vernichtungs- und
Konzentrationslager dar, die Erinnerungen sind verhaftet mit den vorherrschenden Konventionen
des Lageralltags sowie im Vermittlungsprozess mit der Herausforderung des Begreifbar-Machens
konfrontiert. Aufgrund dessen sollte die sozialwissenschaftliche Außensicht der genuin
soziologischen Prämisse des Verstehen-Wollens folgen, um notwendige Reflexionsräume innerhalb
der wechselseitigen Übersetzungsarbeit zu schaffen. Wobei die Frage nach dem »täglichen
Sprachgift« im Sinne von Viktor Klemperer keinesfalls unbeachtet bleiben darf, denn die darin
zementierten nationalsozialistischen Zuschreibungen gilt es zu reflektieren, um einer unhinterfragten
Reproduktion im Alltagsdenken entgegenzuwirken. Im Folgenden sollen die Überlebenden als
Träger*innen der Lagererfahrungen in den Mittelpunkt gerückt werden, um in einem ersten Schritt
die spezifische Form ihrer Zeugenschaft genauer zu beleuchten. Daran anknüpfend wird die
Sprache und Symbolik der Lager betrachtet, um den Blick auf die damit konfrontierten Menschen zu
lenken und deren Verhaftung in den Erinnerungen fassbar zu machen. Anschließend sollen die
fluiden Grenzen zwischen den Innen- und Außenansichten innerhalb des Übersetzungsprozesses
mittels der von Elias vorgeschlagenen Denkfigur einer wandelbaren »Engagement-Distanzierungs-
Balance« in den Fokus gerückt werden, um die Herausforderungen der jeweiligen Perspektive zu
präzisieren. Letztlich soll vor der empirischen Betrachtung der Beziehungsgeflechte innerhalb der
Häftlingsgesellschaften der kontrovers diskutierten Frage nach der Angemessenheit einer De-
Anonymisierung der durch Luchterhand befragten Zeug*innen nachgegangen werden.

187
Klemperer, Viktor: Die Sprache des Dritten Reiches. Beobachtungen und Reflexionen aus LTI. Hg.: Heinrich
Detering, Ditzingen: Reclam 2020, 20.

45
Übersetzungsprozess: Prämisse des Begreifbar-Machens und Verstehen-Wollens

4.1 Zeugenschaft im Kontext nationalsozialistischer Konzentrationslager

Das Zeugnis als Zeichen der Sichtbarmachung der Zeit des Nationalsozialismus wurde zu einem
wesentlichen Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses, ein enden wollender Baustein der
Erinnerungskultur im Sinne des unmittelbaren Dialogs mit den Zeitzeug*innen. Überlebende für
die Avishai Margalit die Bezeichnung des »moralischen Zeugen« prägte, jener »kennt das Leid
in Form von Erfahrungswissen. Doch bedeutet ‚›Erfahrung‹ hier, dass man das Leid aus erster
Hand erleben muss – nämlich als Opfer.«188 Aleida Assmann platziert diese Figur der
Zeugenschaft innerhalb von vier Grundformen, lotet Ähnlichkeiten sowie Differenzen zwischen
juridischen, religiösen, historischen und moralischen Zeug*innen aus, um einen differenzierten
Blick auf die Handlung des Zeugens zu ermöglichen.189 Erstere, die juridische Zeugenschaft, lässt
sich vorwiegend innerhalb einer gerichtlichen oder aber vertraglichen Entscheidungsfindung
verorten und ist laut Assmann an folgende Merkmale gebunden: unmittelbare Sinneseindrücke
am Ort des Geschehens, Zuverlässigkeit der erinnerten Wahrnehmung, Glaubwürdigkeit und
Unparteilichkeit. Die Eidesablegung vor Gericht dient wiederum der Gewährleistung von
Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit, wobei die Unparteilichkeit abhängig von der jeweiligen
Perspektive ist, ob es sich um direkte Betroffenheit oder teilnehmende Beobachtung des
Sachverhaltes handelt. Im Gegensatz dazu steht die religiöse Zeugenschaft, welche in Form des
Märtyrer*innentums sichtbar wird und verknüpft mit den jeweiligen kulturellen
Rahmenbedingungen durch das Sterben ein ideologisches Bekenntnis zum Ausdruck bringt.
Durch den Akt des Todes endet die religiöse Zeugenschaft, aus diesem Grund braucht es für die
nachhaltige Interpretation und Tradierung ein sekundäres Zeugnis, welches den Tod mit
sinnhaften-symbolischen Aufladungen besetzt. Diese Doppelbödigkeit des Zeugnisses zeigt sich
laut Assmann beispielsweise im Verhältnis von Jesus Christus und den Evangelisten sowie in der
Erhöhung der sogenannten »Blutzeugen« durch die nationalsozialistische Bewegung, aber auch
anhand der medialen Reaktionen auf Selbstmordattentäter*innen. Die Übermittlung einer
Botschaft ist wiederum das zentrale Moment der historischen Zeugenschaft, wobei diese
Vermittlungsfigur sowohl vergangene als auch aktuelle Geschehnisse unmittelbar von den
jeweiligen Schauplätzen übermittelt, bewertet und dadurch an die Empfänger*innen appelliert.
Die historische Zeugenschaft als zentrale Kategorie von Geschichtsschreibung zeigt sich laut
Assmann sowohl durch die ungeschönte Berichterstattung aus Krisengebieten als auch anhand
der Erfahrungsdimensionen von Zeitzeug*innen, wobei es sich im Kontext der Zeit des
Nationalsozialismus um das Zeugnis der sogenannten »Zuschauer*innen«190 handelt. Denn die

188
Margalit, Avishai: Ethik der Erinnerung. Max Horkheimer Vorlesungen. Frankfurt am Main: Fischer 2002, 61.
189
Assmann, Aleida: Vier Grundtypen von Zeugenschaft, in: Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ [Hg.]:
Zeugen und Zeugnisse: Bildungsprojekte zur NS-Zwangsarbeit mit Jugendlichen, Berlin 2008, 12-26. Sowie erstmals
in: Fritz Bauer Institut [Hg.]: Zeugenschaft des Holocaust. Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung, Frankfurt/New
York: Campus Verlag 2007, 33-51.
190 Raul Hilberg differenziert zwischen drei konkreten Akteursgruppen, den Täter*innen, den Opfern und den

Zuschauer*innen, welche in den Vernichtungsprozess verstrickt aber dennoch durch ihre jeweilige Perspektive,
divergierende Einstellungen und Reaktionen klar voneinander getrennt waren. Hilberg konstatiert für die
Zuschauer*innen: »Sie hatten ja mit dieser Angelegenheit ›nichts zu tun‹: wollten weder einem Opfer etwas zuleide tun

46
Übersetzungsprozess: Prämisse des Begreifbar-Machens und Verstehen-Wollens

Zeugnisse der Verfolgten weisen Merkmale der juridischen, religiösen und historischen
Zeugenschaft auf, grenzen sich jedoch auch von diesen ab und münden in die moralische
Zeugenschaft. Wobei es sich zugleich um Opfer und Zeug*innen handelt, welche sich vom
Martyrium durch das Zeugnis des Überlebens abgrenzen.191

»Als Überlebender (superstes) wird er wiederum in erster Linie zum Sprachrohr und Zeugen für
die, die nicht überlebt haben, zum Sprachrohr der ermordeten Toten und der erinnernden
Würdigung ihrer ausgelöschten Namen.«192

Eine weitere Differenz zur religiösen Zeugenschaft verortet Assmann in der unheilvollen
respektive beklemmenden Botschaft der moralischen Zeug*innen, welche durchdrungen von
deren gewaltvollen Erfahrungen keineswegs einen sinnstiftenden Charakter aufweisen. Jedoch
ist das moralische Bekenntnis ebenso an jene sekundären Zeug*innen gebunden, die als
Empfänger*innen diese Botschaften wahrnehmen, um dem Überleben sinngebende
Anerkennung sowie dem Zeugnis Nachhaltigkeit zu versichern. Ein fortwährender
gesellschaftlicher Prozess, der sich anfänglich überwiegend auf die gerichtlichen Einvernahmen
der Opfer fokussierte und somit auf der juridischen Ebene bewegte. Erst nach und nach traten
durch emphatische Hinwendung zu den schriftlichen und mündlichen Bekenntnissen sowie den
Appell an eine verantwortungsvolle Erinnerungskultur die sekundären mit den moralischen
Zeug*innen in jenen notwendigen Dialog.193 Darüber hinaus benennt Assmann in Bezug auf
Margalit drei wesentliche Aspekte der moralischen Zeugenschaft: »die verkörperte Wahrheit des
Zeugnisses, die Konstruktion einer moralischen Instanz und die Wahrheitsmission.«194 Erstere
grenzt die moralischen Zeug*innen klar von Beobachtungspositionen wie der juridischen und
historischen Perspektive ab, denn moralische Zeugnisse unterliegen einer physisch erlittenen
Erfahrung. Der zweite Aspekt verzahnt sich wiederum mit jener essenziellen dialogischen
Beziehung zu Dritten, welche die Botschaft der Zeugnisse erkennen sowie anerkennen und
dadurch erst einen breiteren gesellschaftlichen Diskurs ermöglichen. Dahingehend wirkt die
Wahrheitsmission jener durch das NS-Regime beabsichtigten Reaktion der Unglaubwürdigkeit195
entgegen und fungiert als Gegenpol zu lang tradierten Abwehrmechanismen. Das moralische
Zeugnis bietet dem Vergessen durch das kompromisslose Postulat des erinnernden Bezeugens
in Wort und Schrift die Stirn, in der Angewiesenheit auf gegenwärtige Botschafter*innen, die in

noch von den Tätern mißhandelt werden. Nur war die Wirklichkeit nicht immer derart unkompliziert. (…) In einigen
Bereichen wurden die Zuschauer selber zu Tätern. Oft nutzten sie das Unglück der Juden und schlugen Profit daraus;
aber es gab auch jene, die den Gejagten halfen. Hie und da traten Boten auf und verbreiteten ihre Nachrichten.«
Hilberg, Raul: Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933-1945. Frankfurt am Main: Fischer 1996, 11.
191 Vgl. Assmann, Aleida: Vier Grundtypen von Zeugenschaft, 13-18.
192
Ebd., 18f.
193
Vgl. ebd., 19f.
194 Ebd., 20. Hervorhebung im Original.
195
Hannah Arendt spricht vom anhaftenden »Odium der Unsicherheit« als beabsichtigte Reaktion, denn »(…) was die
Nazis schon immer gewußt haben; daß es nämlich, ist man zum Verbrechen entschlossen, zweckmäßig ist,
Verbrechen in allergrößten, allerunwahrscheinlichstem Maßstabe zu inszenieren.(…) die Ungeheuerlichkeit der
begangenen Verbrechen schafft automatisch eine Garantie dafür, daß den Mörder, die mit Lügen ihre Unschuld
beteuern, eher Glauben geschenkt wird, als den Opfern, deren Wahrheit den gesunden Menschenverstand beleidigt.«
Arendt, Hannah: Konzentrationsläger, in: Die Wandlung 3 (1948) 4, 311.

47
Übersetzungsprozess: Prämisse des Begreifbar-Machens und Verstehen-Wollens

Zukunft für eine reflektierte Erinnerungskultur eintreten.196 In diesem Kontext plädiert Geoffrey
Hartman für die Loslösung vom generationsbezogenen sekundären Zeugnis durch die
Hinwendung zur intellektuellen Zeugenschaft:

»Dieser Terminus bezeichnet all diejenigen als Zeugen, die mit der ersten Generation noch in
Kontakt stehen oder die Shoah nicht als in der Vergangenheit eingeschlossen betrachten,
sondern als eine aktuelle Angelegenheit, deren Darstellung einer Intensität bedarf, die der
Aussage des Augenzeugen so nahe wie möglich kommt.«197

Die intellektuelle Annäherung an die moralischen Zeugnisse setzt die Prämisse des Verstehen-
Wollens voraus, welche unabdingbar mit einer notwendigen Distanzierung verbunden ist, um
einem verantwortlichen Umgang mit den erinnerten Erfahrungen der Überlebenden gerecht zu
werden. Wobei hier die Problematik der Grenzziehung zwischen »emischer und etischer«198
Perspektive sichtbar wird. Demnach lassen sich die moralischen Zeugnisse der Erfahrungen
innerhalb der nationalsozialistischen Konzentrationslager kulturanthropologisch als »emisch«
respektive als Innensicht verorten. Das intellektuelle Zeugnis in Form von einer
wissenschaftlichen Auseinandersetzung beansprucht die Außensicht auf das Forschungsfeld und
somit die Bezeichnung »etisch«. Diese theoretische Vereinfachung greift jedoch zu kurz, denn
die Beforschten als auch die Forschenden begegnen sich im Dialog innerhalb derselben Welt,
um in einen wechselseitigen Übersetzungsprozess zu treten. Dahingehend stellt sich die Frage
nach den spezifischen Herausforderungen der jeweiligen Perspektive innerhalb dieser
Übersetzungsleistung, die ihren Ausgangspunkt in der Erinnerungsarbeit der Überlebenden
findet. Ein Erinnern mit einer traumatischen Wirkungsmacht, im Spannungsverhältnis zwischen
dem Willen Zeugnis abzulegen und der bewussten Abkapslung der erlittenen Erfahrungen vom
gegenwärtigen Selbst, denn »die Erinnerung daran bleibt ein Fremdkörper in der Seele, etwa wie
eine nicht operierbare Bleikugel im Leib.«199

4.2 Die Sprache und Symbolik der Lager

Neben der zu überwindenden Schwere der Erinnerung konfrontieren die literarischen Zeugnisse
einen unweigerlich mit der Sprachlosigkeit gegenüber dem »Unsagbaren«, ein Fehlen der Worte,
welches explizit zur Sprache gebracht wird, um den Lesenden die Sprachproblematik begreifbar
zu machen. Der damit verbundenen Gefahr des Schweigens stellt sich Primo Levi entschieden
entgegen, denn »[d]ie Behauptung, man könne nicht kommunizieren, ist falsch: man kann es
immer. Die Verweigerung der Kommunikation stellt eine Schuld dar.«200 Das bewusste
Kommunizieren der Sprachbarrieren stellt wiederum einen entscheidenden Schritt innerhalb der

196
Vgl. Assmann, Aleida: Vier Grundtypen von Zeugenschaft, 20-22.
197 Hartman, Geoffrey: Intellektuelle Zeugenschaft und die Shoah, in: Ulrich Baer [Hg.]: „Niemand zeugt für den
Zeugen“. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, 36.
198
Ursprünglich wurde die sprachwissenschaftliche Unterscheidung »phonemisch« und »phonetisch« in Form von
»emisch« und »etisch« durch Kenneth Pike auf kulturelles Verhalten übertragen. Pike, Kenneth: Language in relation
to a unified theory of the structure of human behavior. Den Haag: Mouton 1967.
199
Klüger, Ruth (1992): weiter leben. Eine Jugend. Göttingen: Wallstein 2008, 138.
200 Levi, Primo (1986): Die Untergegangenen und die Geretteten, 92.

48
Übersetzungsprozess: Prämisse des Begreifbar-Machens und Verstehen-Wollens

Übersetzungsarbeit der moralischen Zeug*innen dar, eine Problematik die Levi in Form des
kollektiven Erlebens verdeutlicht.

»Wir sagen ›Hunger‹, wir sagen ›Müdigkeit‹, ›Angst‹ und ›Schmerz‹, wir sagen ›Winter‹, und das
sind andere Dinge. Denn es sind freie Worte, geschaffen und benutzt von freien Menschen (…).
Hätten die Lager länger bestanden, wäre eine neue, harte Sprache geboren worden; man braucht
sie einfach, um erklären zu können (…).201

Inmitten der Transnationalität und Vielsprachigkeit der Häftlingsgesellschaften entstand jedoch


diese Sprache der Lager, ein multilinguales Gemisch, dominiert von der aufgezwungenen
deutschen Sprache, durchzogen von Euphemismen, zynisch als »Krematoriums-Esperanto«
bezeichnet – neu im Sinne der Begriffsbildung und hart im Ton. Es gilt jedoch den Sprechweisen
der Konzentrationslager in Form der Lagerszpracha202 respektive Lagersprache Beachtung zu
schenken, um am Übersetzungsprozess teilnehmen zu können. Denn die authentische
Artikulation der Überlebenden beinhaltet jene spezifischen Ausdrücke des Lageralltags, wobei
durch korrigierende, glättende Auslassungen oder Umschreibungen »den Erinnerungen der
Betroffenen gewissermaßen die ›Seele‹ genommen«203 wird. Gleichzeitig sind die
Überlebenden in ihrer Erinnerungs- und Übersetzungsarbeit unaufhörlich mit »der Sprache der
Täter«204 sowie Täterinnen konfrontiert, denn das Deutsche wurde als aufgezwungene
Amtssprache der Konzentrationslager »das Idiom der Vernichtung schlechthin«205. Aufgrund
dessen verortet Wolf Oschlies in seinem soziolinguistischen Modell zur Lagersprache die
deutsche Sprache respektive SS-Sprache auf der offiziell-schriftlichen Ebene, wobei drei nicht-
offizielle Ebenen einen wesentlichen Einfluss auf die speziellen Formen der Lagersprache
hatten. Zum einen wurde die Vielsprachigkeit der einzelnen Häftlingsgruppen in Form der
jeweiligen Muttersprachen durch die Vorherrschaft des Deutschen auf die dialektale Ebene
verbannt, zum anderen trugen die Häftlinge mit ihren individuellen Ausdrucksweisen auf
idiolektaler Ebene zur Herausbildung der Lagersprache bei. Darüber hinaus kristallisierte sich
auf soziolektaler Ebene der »Lagerjargon« heraus, welcher für die Kommunikation der Häftlinge
untereinander einen besonderen Stellenwert einnahm.206

»[V]erstanden zum einen als der verbalisierte Ausdruck eines bestimmten Lebensgefühls, zum
anderen als gruppenspezifische Sondersprache zur Förderung innerer Kohäsion und äußerer

201 Levi, Primo (1947): Ist das ein Mensch? München: dtv 2020, 119.
202 Der Begriff »Lagerszpracha« ist auf die intensive sprachwissenschaftliche Forschung in Polen zurückzuführen. Wolf
Oschlies verortet in diesem Terminus den geeigneten Sammelbegriff für die Sprachkonventionen innerhalb der
einzelnen Konzentrationslager. Dahingehend pflichtet die Autorin Oschlies bei, denn der Begriff »Lagerszpracha«
spiegelt nicht zuletzt die sprachliche Hybridität wider. Die Ausführungen zur Lagersprache stützen sich zwar
paradigmatisch auf die soziolinguistische Forschung von Oschlies, jedoch distanziert sich die Autorin entschieden von
den darin getätigten rassenideologischen Differenzierungen »Herren- und Untermenschen«.
203
Oschlies, Wolf: “Lagerszpracha“. Zu Theorie und Empirie einer KZ-spezifischen Soziolinguistik, in: Zeitgeschichte
13 (1985) 1, 11.
204 Braese, Stephan [Hg.]: In der Sprache der Täter. Neue Lektüren deutschsprachiger Nachkriegs- und

Gegenwartsliteratur, Opladen: Westdeutscher Verlag 1998.


205
Ebd., 7.
206 Vgl. Oschlies, Wolf: “Lagerszpracha“, 4f.

49
Übersetzungsprozess: Prämisse des Begreifbar-Machens und Verstehen-Wollens

Abwehr, und zum dritten schließlich als bewußt geplantes konspiratives Element, über das sich
Botschaften nach draußen bringen ließen.«207

Ein wesentliches Merkmal der Lagerszpracha ist ihre Herausbildung durch die wechselseitige
Bedingtheit aller vier genannten Ebenen sowie ihre damit verbundene Wandelbarkeit als auch ihr
Wesensmerkmal einer genuinen Sondersprache, denn die Lagersprache fungierte zugleich als
Geheim-, Gruppen- und Fachsprache. Ihren tarnsprachlichen Charakter entfaltete die
Lagersprache sowohl in Form von verschlüsselten Umschreibungen für den Austausch von
Botschaften unter den Häftlingen als auch anhand von versteckter Nachrichtenübermittlung an
die Außenwelt. Als Gruppensprache kristallisierte sich das integrative Sprachmotiv zum Zweck
des inneren Zusammenhaltes, aber auch als spezifischer Abwehrmechanismus der
Häftlingsgesellschaften heraus. Die fachsprachliche Komponente äußerte sich dahingehend,
dass die Realität der Konzentrationslager unweigerlich neue Begrifflichkeiten hervorbrachte,
welche vor allem von der nationalsozialistischen Verwaltungssprache geprägt waren.208 Bevor
die vielschichtigen Ausprägungen der Sprache der Lager einer genaueren Betrachtung
unterzogen werden, gilt es, sich die Situation der Häftlinge zu vergegenwärtigen. Denn die
Beherrschung des aufgezwungenen Lagerdeutsch war einerseits zwar ein überlebensfördernder
Faktor, andererseits bedeutete dieser orts- und zeitgebundene »Kopfjägerdialekt«209 für die einen
die Entfremdung von ihrer Muttersprache sowie für die anderen die Verstümmelung derselben.
Hinzu kam der Verlust des Namens durch die Kennzeichnung mit einer Nummer sowie die
Aberkennung des sozialen Status durch die willkürliche Kategorisierung der Verfolgten anhand
von verschiedenfarbigen Winkeln.

»Farben, Markierungen und Sonderbezeichnungen – in dieser Hinsicht war das ganze KL ein
Narrenhaus. Gelegentlich entstanden wahre Regenbogen-Ausstattungen: so gab es einmal einen
jüdischen Bibelforscher als Rassenschänder mit Strafkompaniepunkt und Fluchtzielscheibe!«210

Eugen Kogon verdeutlicht anhand seiner Innensicht auf das Konzentrationslager Buchenwald die
irrsinnige Willkür der nationalsozialistischen Kennzeichnungen, welche als »Symbole des Terrors«
für die Entrechtung und Entwürdigung der Opfer stehen, wie Annette Eberle betont. Die Entwicklung
dieser künstlich geschaffenen Hierarchie ging mit den sich wandelnden Häftlingsgesellschaften
einher sowie mit der beabsichtigten Ungleichbehandlung der einzelnen Häftlingsgruppen. Die
dezentrale Herausbildung der nationalsozialistischen Markierungen bis 1937/38 erfuhr ihre
Vereinheitlichung durch die Einführung der Winkel für alle Konzentrationslager, jene
gleichschenklige verschiedenfarbige Dreiecke aus Stoff. Auf der Häftlingskleidung fand sich ab
1938 neben der Nummer ein stigmatisierendes Sammelsurium bestehend aus der zugewiesenen
Winkel-Kategorie sowie diversen Sondermarkierungen. Die weithin sichtbaren Winkel, mit nach

207
Ebd., 5f.
208 Vgl. ebd., 6.
209 Kogon, Eugen (1946): Der SS-Staat. Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, 175.-180.

Tausend, 5. Vollständige und erweitere Auflage, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt, o.J., 41.
210 Ebd., 51.

50
Übersetzungsprozess: Prämisse des Begreifbar-Machens und Verstehen-Wollens

unten zeigender Spitze, symbolisierten anhand der Farbe die jeweilige SS-Häftlingsklassifizierung:
rot für »Politisch«, grün für »Berufsverbrecher«, blau für »Emigrant«, lila für »Bibelforscher«211, rosa
für »Homosexuell«212, schwarz für »Asozial«213 sowie in manchen Konzentrationslagern braun für
»Zigeuner«214. Jüd*innen215 erhielten einen gelben Winkel mit nach oben zeigender Spitze, welcher
in Kombination mit der Häftlingskategorie einen Davidstern bildete. Anstelle des Winkels trat ein
schwarzer Triangel für »jüdische Rasseschänder«, hingegen zeigte bei Jüdinnen, die als
»Rassenschänderin« diffamiert wurden, die gelbe Spitze nach unten und wurde mit einem
schwarzen Winkel hinterlegt. Hinzu kamen die zahlreichen SS-Sonderkennzeichnungen: Ein
gleichfarbiger Balken über dem Winkel stand für sogenannte »Rückfällige«, ein schwarzer Punkt
auf weißem Grund markierte die Zuteilung zur »Strafkompanie«, vermeintliche »Fluchtverdächtige«
trugen einen roten Punkt auf weißem Grund, wobei die beiden letztgenannten jeweils unter dem
Winkel angebracht waren. Angehörige anderer Staaten wurden mit dem Buchstabenkürzel ihrer
jeweiligen Nationalität im Inneren des meist roten Winkels versehen. Darüber hinaus erhielten
sowohl Funktionshäftlinge, die von der SS zur »Häftlingsselbstverwaltung« eingesetzt wurden, als
auch jene mit »Sonderstatus«, wie beispielsweise sogenannte »Prominente«, meist schwarze
Armbinden mit weißer Aufschrift. Die Zuweisung zur jeweiligen Kategorie war vonseiten der
Lagerverwaltung an eine Vielzahl von Haftkürzel gebunden, welche sich aus den
Einweisungsbestimmungen ergaben, sowie durch nationalsozialistische Erlasse legitimiert
wurde.216 Ebenso hingen Überlebenschance und Vernichtungsdruck neben der künstlich
geschaffenen Hierarchie an dem nationalsozialistischen rassistischen Konstrukt »arisch – nordisch
– slawisch – semitisch«. Innerhalb der Einweisungsprozedur verzahnt sich für die Verfolgten der
entschiedene Versuch der Entindividualisierung mit der SS-Fremdzuweisung zu einer vermeintlich
homogenen Häftlingsgruppe, um anhand der nationalsozialistischen Feindkategorisierung eine
sichtbare Differenzierung innerhalb der Häftlingsgesellschaft zu schaffen. Fraglich ist jedoch,
inwieweit die jeweilige Verfolgungskategorie das Selbstbild der Häftlinge prägte, jedenfalls

211
Die Internationale Bibelforschervereinigung Vereinigung respektive Zeug*innen Jehovas wurden aufgrund ihrer
Wahl- und Wehrdienstverweigerung verfolgt, für einen detaillierteren Einblick siehe Garbe, Detlef: Zwischen
Widerstand und Martyrium: Die Zeugen Jehovas im „Dritten Reich“, 4. Auflage, München: Oldenbourg 1999.
212
Diese SS-Kategorisierung nahm ausschließlich auf durch den §175 denunzierte respektive verfolgte Männer Bezug.
Als eine vergessene Opfergruppe können die verfolgten lesbischen Frauen verortet werden, da diese unter dem
schwarzen Winkel subsumiert wurden. Für die Einordnung der Situation von lesbischen Frauen vor und während der
Zeit des Nationalsozialismus, siehe Schoppmann, Claudia: Zeit der Maskierung. Lebensgeschichten lesbischer Frauen
im »Dritten Reich«. Berlin: Orlanda Frauenverlag 1993.
213
Die Diffamierung durch den schwarzen Winkel »kann als sozialrassistische Fortführung des ›grünen Winkels‹
angesehen werden. (…) War der Anteil der aufgrund der ›Aktion Arbeitsscheu Reich‹ inhaftierten Frauen noch gering,
kann man ab dem Jahr 1940 von einer Feminisierung der ›Asozialen‹-Verfolgung sprechen.« [Eberle 2005:97]
214 Rom*nja und Sinti*zze wurden je nach Ort des Terrors entweder mittels brauner oder schwarzer Winkel etikettiert,

wie Eberle anmerkt. Die jenische Bevölkerung wird jedoch durch Eberle als verfolgte Gruppe ausgespart. Robert
Domes merkt hierzu an: »Die einen behaupten, es handle sich um einen Stamm des Roma-Volkes, sogenannte ›weiße
Zigeuner‹ (…). Die Jenischen selbst sehen ihre Ursprünge im Keltentum. (…) Aufgrund ihrer nicht sesshaften
Lebensweise, einer ähnlichen Kultur und der meist ähnlichen Berufszweige der Fahrenden wurden Jenische (…)
ebenso diskriminiert und verfolgt wie Sinti und Roma.«, Domes, Robert: Nebel im August. Die Lebensgeschichte des
Ernst Lossa München: cbt 2008, 267.
215
Die Autorin ist sich bewusst, dass die hier verwendete gendergerechte Variante zu einer Verfälschung des
Maskulinums führt. Dennoch wird im Folgenden die Sammelbezeichnung Jüd*innen verwendet, um die geteilte
weibliche und männliche Betroffenheit der erlittenen Erfahrungen zu verdeutlichen.
216
Eberle gibt einen ausführlichen, tabellarischen Überblick über die Verknüpfung von Winkel – Kürzel –
Einweisungsbestimmungen [Eberle 2005: 102-106].

51
Übersetzungsprozess: Prämisse des Begreifbar-Machens und Verstehen-Wollens

manifestierten sich die farblichen Bezeichnungen in der Lagersprache und konservierten sich in
den Zeugnissen der Überlebenden. Denn die SS-Häftlingskategorisierung basierte auf
vorherrschenden gesellschaftlichen Abstufungen, diese schürten wiederum die stereotypen
Sichtweisen der Opfergruppen untereinander und begünstigten sowohl Solidaritätsbekundungen
als auch Ablehnungszuschreibungen.217

»Nur wenigen Häftlingen gelang es, das Kategoriensystem der Ungleichheit, das die Identität der
Häftlinge brechen und ihre Sozialstrukturen zerstören sollte, auf eigene Überlebensstrategien zu
übertragen. (…) Die Bildung von Abgrenzungsidentitäten gegenüber einzelnen Winkelkategorien
und Nationalitätenkennzeichnen gründete oft in sozialen, politischen wie kulturellen
Herkunftsmilieus und den in ihnen verwurzelten Vorbehalten.« 218

Insofern griff die »neuartige« SS-Kategorisierung auf althergebrachte, gesellschaftlich tradierte


Zuschreibungen zurück, um eine Spaltung der Häftlingsgesellschaft zu provozieren. Es handelt
sich hierbei um Trennlinien, die sich in Abhängigkeit zur jeweiligen Selbstzuschreibung in Form
von divergierenden Fremdeinschätzungen der anderen Häftlingsgruppen in den Erinnerungen
der Überlebenden wiederfinden. Ebenso wenig konnten oder wollten sich jene als soziologisch
begriffenen Innenansichten von vorurteilsbehafteten Abgrenzungsmechanismen distanzieren,
wie der Blick auf die Häftlingskategorien von Kogon und Neurath veranschaulicht. Angemerkt sei,
dass beide Autoren von der SS als jüdische, politische Häftlinge etikettiert wurden. Dahingehend
erkennt Kogon »besonders enge Wechselbeziehungen zwischen den jüdischen und
nichtjüdischen Politischen«219 und Neurath attestiert:

»Das intellektuelle Niveau und der Bildungsstand der Politischen einschließlich der Konservativen
und Liberalen ist höher als bei jeder anderen Gruppe im Lager. Nur einige unpolitische Juden
haben den gleichen hohen Stand.«220

Neben der Solidaritätsbekundung sowie spürbarer Selbstzuschreibungen weisen die


Beschreibungen der »Politischen« einen ungleich hohen Differenzierungsgrad auf. Neurath trennt
jene unter der roten Winkelkategorie subsumierten Häftlinge in »Sozialdemokraten und
Kommunisten«, »Konservative und Faschisten«, »die Liberalen« und »Andere«221, wobei auch
Kogon die Heterogenität der »Politischen« hervorhebt. Dennoch zeigt sich bei letzterem eine
gruppenspezifische Aversion gegenüber der grünen sowie schwarzen Winkelkategorie, denen
Kogon eine verwandtschaftliche Beziehung bescheinigt. Denn seiner Einschätzung nach bestand
die überwiegende Mehrheit der »Grünen« »aus üblen, zum Teil übelsten Elementen«222, diese

217
Vgl. Eberle, Annette: Häftlingskategorien und Kennzeichnungen, in: Wolfgang Benz/Barbara Distel [Hg.]: Der Ort
des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 1: Die Organisation des Terrors,
München: C. H. Beck 2005, 91-102.
218
Ebd., 101.
219 Kogon, Eugen (1946): Der SS-Staat, 46.
220
Neurath, Paul Martin (1943): Die Gesellschaft des Terrors. Innenansichten der Konzentrationslager Dachau und
Buchenwald, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, 91.
221 Vgl. ebd., 88-95.
222 Angemerkt sei, dass Kogon am Ende seiner Ausführungen den Versuch unternimmt diese Generalisierung zu

relativieren: »Betont muss werden, dass die Markierungen als solche keine absolute Garantie für Qualität und wirkliche
Zugehörigkeit des Trägers boten. Es befand sich zum Beispiel unter den Grünen immer wieder eine Anzahl brachbarer

52
Übersetzungsprozess: Prämisse des Begreifbar-Machens und Verstehen-Wollens

Zuschreibung steht in Verbindung mit dem in den Erinnerungsberichten viel beschriebenen


Machtkampf »rot gegen grün«. Die sogenannten »Asozialen« stuft Kogon »als unzuverlässig,
haltlos und wegen mancher Praktiken, die sie aus ihrem früheren Leben in die Lager
mitübernommen hatten, als wenig erwünscht«223 ein. Hinsichtlich der als »Berufsverbrecher«
etikettierten bleibt Neurath zwar seiner sozialwissenschaftlichen Distanznahme treu, indem er
innerhalb der Ablehnung gegenüber dieser Häftlingsgruppe die Herausbildung eines gut
entwickelten Wir-Gefühls verortet. Den »Schwarzen« hingegen bescheinigt er »eine Art
animalische Existenz« sowie die generelle Unfähigkeit zur Kooperation224, dies mündet in dessen
widersprüchlichen Einschätzung:

»Aber bei ihren Mithäftlingen gelten sie als die unzuverlässigste und dümmste Gruppe im Lager.
Dies ist nicht immer gerechtfertigt, denn es gibt Hunderte ganz normale Bürger unter ihnen, die nur
zufällig irgendeiner Autorität im Wege waren; für die große Mehrheit jedoch ist es gerechtfertigt.«225

Als äußerst aufschlussreich erweist sich jedoch die Innensicht Neuraths auf die jüdische
Häftlingsgruppe, welche ungeachtet ihres religiösen, kulturellen oder nationalen Selbstbildes
anhand des gelben Winkels subsumiert wurde. Denn entgegen der innerjüdischen Kontroverse war
die nationalsozialistische Vorstellung über die jüdische Zugehörigkeit eine ausschließlich
rassenideologische Klassifikation, welche mittels der Nürnberger Gesetze gerechtfertigt wurde.
Somit ist die rassentheoretische Trennung in Voll-, Halb- und Vierteljüd*innen respektive »jüdisch«
als nationalsozialistische Zuschreibung zu verstehen und hat keinerlei Bezug zu den jeweiligen
Identitätszuschreibungen der Verfolgten. Der gelbe Winkel symbolisierte das antisemitische Stigma
des »Jüdisch-seins« ungeachtet der persönlichen Nähe oder Ferne zur jüdischen Identität und
konstruierte im Inneren eine durchwegs heterogene Gruppe mit auseinanderstrebenden
Geisteshaltungen.226 Die dadurch provozierte Außensicht der Vereinheitlichung sowie die SS-
Sonderkennzeichnung in Form des doppelten Dreiecks wiederum exponierte die jüdische
Häftlingsgruppe als »doppelt angeklagt«, leicht identifizierbar sowie mit tradierten Attributen
konfrontiert, welche nach der nationalsozialistischen Wegnahme- und Zuschreibungsprozedur
zuallererst und durch den Vernichtungsdruck zuallerletzt »Juden« waren. Diese SS-Klassifikation
prägte sich in die Wahrnehmung der Häftlingsgesellschaften ein und manifestierte sich als zynische
Konsequenz in der Historiographie227, wobei sich aus einer unverstellten Perspektive zeigt, dass
vor allem die jüdische Häftlingsgruppe ein durchwegs multikulturelles und -linguales sowie
transnationales Konglomerat verkörperte. Die nationalsozialistische Absurdität der
Vereinheitlichung der Vielfalt bringt Neurath wie folgt auf den Punkt:

Menschen, ja guter Kameraden, während so mancher Rote eigentliche einen grünen Winkel hätte haben müssen.«
Kogon, Eugen (1946): Der SS-Staat, 51.
223
Kogon, Eugen (1946): Der SS-Staat, 47f.
224 Vgl. Neurath, Paul Martin (1943): Die Gesellschaft des Terrors, 97-100.
225 Ebd., 100.
226
Vgl. ebd., 110f.
227 Vgl. Suderland, Maja: Ein Extremfall des Sozialen, 233.

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Übersetzungsprozess: Prämisse des Begreifbar-Machens und Verstehen-Wollens

»Die Vermischung der Rassen geht so weit, dass manche der Männer, die jetzt im Lager
gezwungen werden, den ›Davidstern‹ zu tragen, draußen glühende Antisemiten waren (…). Ich
erinnere mich immer noch an den grotesken Anblick eines Mannes mit dem Davidstern des
jüdischen Berufsverbrechers an der Hose – die ihrerseits vom Gürtel jener SA-Einheit
zusammengehalten wurde, der er angehört hatte«.228

Anknüpfend an diese erinnernde Reflexion deutet Neurath auf einen wesentlichen Aspekt
innerhalb der Beziehungsgeflechte der Konzentrationslager hin – den Umgang der
Häftlingsgesellschaften mit verfolgten Minderheiten – Jüd*innen, Rom*nja und Sinti*zze. Denn
antisemitische, antiziganistische oder anders geartete Vorurteile machten keineswegs am
Lagertor halt, wobei Neurath betont, »dass es der Lagerleitung nicht gelingt, im Lager mehr
Antisemitismus aufzubauen, als von bestimmten Gruppen bereits von draußen mitgebracht
wird.«229 Dennoch war Antisemitismus unter den Häftlingen weitverbreitet und kam meist situativ
zum Ausdruck, veränderte sich durch das persönliche Nähe- und Distanzverhältnis innerhalb der
nicht-jüdischen und jüdischen Beziehungen. Wobei Gewaltakte von Funktionshäftlingen
gegenüber jüdischen Gefangenen häufig durch antisemitische Beschimpfungen, wie »dreckige
Judensau, dreckige«, verstärkt wurden.230 Hinsichtlich des Antiziganismus zeigt sich, dass der von
antisemitischen Vorurteilen betroffene Neurath der romanesisch-sintischen Minderheit
geringschätzig begegnet, denn »[s]ie begriffen kaum, warum sie im Konzentrationslager waren,
und kümmerten sich um niemanden sonst. Wenn sie einen Vorteil für sich selbst sahen,
denunzierten sie bedenkenlos andere.«231 Die Häftlingswinkel erfüllten ihren doppelten Zweck,
indem diese einerseits für die SS die Identifizierung der jeweiligen NS-Feindkategorie erleichterten
sowie die damit einhergehenden Ressentiments und Gewaltakte für die Opfergruppen zu einer,
dieser künstlichen Hierarchie innewohnenden, spezifischen Gewalterfahrung machte.
Andererseits verstärkte die farbliche Kennzeichnung ebenso die Wahrnehmung von
vorurteilsbehafteter sozialer Ungleichheit unter den Häftlingsgruppen. Die im Sinne von Elias
Machtbalance-Kämpfe forcierten, wobei sich die Problematik des sozialen Vorurteils in der
Figuration sowie deren Struktureigentümlichkeiten zwischen den Gruppen verbirgt,232 »denn
kollektive Lob- und Schimpfphantasien spielen auf allen Ebenen von Machtbalance-Beziehungen
eine ganz unübersehbare Rolle«233, wie die Reflexion Neuraths verdeutlicht.

»Die Beziehungen zwischen Gruppen werden stärker als die Beziehungen zwischen Individuen
von sozialen Vorurteilen bestimmt, die sich von den in der Außenwelt herrschenden wenig
unterscheiden. Unpolitische Nichtjuden halten Juden in der Regel für reich und korrupt, die
überwiegende Mehrheit der Nichtkriminellen hält die Kriminellen für unzuverlässig, und fast

228
Neurath, Paul Martin (1943): Die Gesellschaft des Terrors, 111f.
229
Ebd., 112.
230 Vgl. ebd., 322f.
231 Ebd., 101.
232
Vgl. Elias, Norbert/Scotson, John L.: Etablierte und Außenseiter, 10. Auflage, Berlin: Suhrkamp 2020, 14.
233 Ebd., 35.

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Übersetzungsprozess: Prämisse des Begreifbar-Machens und Verstehen-Wollens

jedermann meint, Zigeunern sei nicht zu trauen. Die sozialen Vorurteile unterscheiden sich von
Gruppe zu Gruppe, je nach deren sozialem Hintergrund.«234

Aufgrund dessen verwundert es kaum, dass sich in den gruppenspezifischen Sondersprachen


der Lager ein »Vokabular der Schmähung«235 manifestierte, welches von der SS in Form der
bewussten Differenzierung forciert wurde und sich in der Lagersprache wiederfindet. Die
Bezeichnungen der Häftlingsgruppen untereinander wurde zwar von der SS initiiert, verfestigten
sich jedoch durch die Übernahme in den jeweiligen Lagerjargon. Neben den »Roten« gab es die
»Grünen« und »Schwarzen« sowie die »Juden« und die »Zigeuner«, wobei Häftlinge mit dem
rosa Winkel mit Zusatzbezeichnungen wie »Rosarote«, »Bubis« und »175er« bedacht wurden.236
Als »Himmelskomiker«, »Jordanscheiche«, »Paradiesvögel« oder »Bibelwürmer« wurden
Zeug*innen Jehovas, jene mit dem violetten Winkel, diffamiert.237 Als sogenannter »Neuzugang«
entschied sich in nationalsozialistischen Vernichtungslagern bei der Ankunft das persönliche
Schicksal an der »Rampe«, diese erste Phase der perfiden SS-Einführungsprozedur brannte sich
in den Erinnerungsberichten der Überlebenden ein.

»Keiner von uns konnte das Geringste ahnen von der Bedeutung, die diese winzige Bewegung
eines menschlichen Zeigefingers hatte – bald nach links, bald nach rechts, weit öfter nach links.
(…) Am Abend wußten wir um die Bedeutung dieses Spiels mit dem Zeigefinger: es war die erste
Selektion! Die Entscheidung über Sein oder Nichtsein«.238

Die daran anschließende Drangsalierung der »Neuzugänge«, deren Reduzierung auf die nackte
Existenz, durchzogen von physischer und psychischer Gewalt wurde in der Lagersprache
»Begrüßung« respektive »Empfang« genannt.239 Dieser Prozess der Entindividualisierung
vollzog sich auf zwei wesentlichen Ebenen in Form der Wegnahme des sozialen Status durch die
Etikettierung der Verfolgten mit dem Häftlingswinkel sowie die Wegnahme des Namens und
dessen Ersatz durch die Häftlingsnummer, die für die sogenannten »alten« Häftlinge leicht zu
dechiffrieren war. In Auschwitz wurde die Nummernvergabe durch die Tätowierungsprozedur
verstärkt, wie sich Levi erinnert:

»›Häftling‹: Ich lernte, daß ich ein ›Häftling‹ bin. Mein Name ist 174 517; wir wurden getauft, und
unser Leben lang werden wir das tätowierte Mal auf dem linken Arm tragen. (…) Wochen und
Monate waren nötig, bis wir ihren deutschen Klang im Ohr hatten. Und tagelang, wenn mich die
Gewohnheit aus dem freien Leben nach der Uhrzeit auf meinen Arm blicken ließ, erschien mir
dafür höhnisch mein neuer Name, die bläulich unter die Haut eingestichelte Nummer.«240

234 Neurath, Paul Martin (1943): Die Gesellschaft des Terrors, 198.
235
Elias weist im Zusammenhang mit dem emotionalen Aspekt von Gruppenbeziehungen darauf hin: »Ob im geheimen
oder nicht, sie alle haben ein Vokabular des Selbstlobs und ein entsprechendes Vokabular der Schmähung, das gegen
andere Gruppen gerichtet ist.« Elias, Norbert: Engagement und Distanzierung. Gesammelte Schriften, Band 8,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, 14.
236
Vgl. Oschlies, Wolf: “Lagerszpracha“, 7.
237 Vgl. Garbe, Detlef: Zwischen Widerstand und Martyrium, 409.
238 Frankl, Viktor E.: … trotzdem Ja zum Leben sagen, 29.
239
Vgl. Oschlies, Wolf: “Lagerszpracha“, 17 sowie 21.
240 Levi, Primo (1947): Ist das ein Mensch?, 25f.

55
Übersetzungsprozess: Prämisse des Begreifbar-Machens und Verstehen-Wollens

Nach der Eingliederungsprozedur waren die »Neuzugänge« mit der Häftlingsgesellschaft


konfrontiert, wurden von den »alten« Häftlingen aufgrund ihrer anfänglichen Unerfahrenheit
misstrauisch beobachtet und versuchten sich im rauen Lageralltag zurechtzufinden. Innerhalb
der Aneignung dieser überlebensnotwendigen Erfahrungen lernten die »Neuzugänge« die
Bedeutung von Funktionshäftlingen kennen, die sogenannten »Kapos«, »Lager- und
Blockältesten« bis hin zum »Scheißmeister«, der für den Latrinendienst eingeteilt war. Es
entschlüsselte sich die Bedeutung der Art der zugeteilten Arbeit, ob »unter Dach« oder »außen«
respektive leichte oder schwere Kommandos ebenso wie die unzähligen Arten der
Strafmaßnahmen, mit denen die Häftlinge konfrontiert waren.241 Der SS-Foltermethoden-Katalog
reichte von Prügelstrafen bis hin zum sogenannten »Baum- oder Pfahlhängen«, wobei das
Auspeitschen der Häftlinge eine »Lieblingsstrafe der Lager-SS« darstellte.242 Die Opfer der
Prügelstrafe wurden auf den sogenannten »Bock«, in der Lagersprache auch »fortepiano«
genannt, geschnallt und bekamen eine vorab festgelegte Anzahl von Stockhieben. Die Schläge
wurden auch als »Auszahlung« bezeichnet und mussten von den Gequälten deutlich hörbar in
deutscher Sprache mitgezählt werden.243 Das Martyrium des Pfahlhängens bedeutete für die
Opfer, dass ihnen ihre Arme mittels Fesseln an den Handgelenken auf den Rücken gebunden
wurden und sie daran an einem Pfahl aufgehängt wurden. Diese Qual konnte sich über Stunden
ziehen und wurde von der SS durch Ziehen an den Beinen oder stetes hin- und herpendeln der
geschundenen Körper verstärkt.244 Die SS-Foltermethoden waren für die Opfer nur schwer zu
überleben, die permanente Bedrohung, eine sogenannte »Meldung« zu erhalten – erforderte von
den Häftlingen »Augenarbeit«. Das Wort »Achtung« war im Lageralltag allgegenwärtig und wurde
vorwiegend von der SS sowie den Funktionshäftlingen verwendet. Die Häftlinge untereinander
verwendeten als Warnsignal hingegen das Wort »Achtzehn« und die Entwarnung wurde mit
»Zwanzig« signalisiert. Den meisten »Neuzugängen« wurde rasch bewusst, dass die Aneignung
des Lagerdeutschs ein überlebensnotwendiger Faktor war, dies verdeutlichte nicht zuletzt der
Schlagstock der SS, der bei Verständigungsschwierigkeiten eingesetzt wurde und in der
Lagersprache als »Dolmetscher« bezeichnet wurde.245

»Immer war die ›lagerzpracha‹ Widerspiegelung des KZ-Alltags, und wie dieser war sie rauh,
vulgär und pathologisch – Medium von Menschen, bei denen sich alles nur darum drehte, den
nächsten kleinsten Zeitabschnitt zu überleben.«246

Das Verstehen der Sprache der Lager war verbunden mit einer Überlebenshoffnung, denn jene,
denen die Anpassung an die Lagerbedingungen nicht gelang, wurden als »Geiseln« bezeichnet.
Gleichwohl der Lagersprache ein vulgärer Ton anhaftet, ist es jene Sprache, in der sich die
Überlebenden erinnern, so finden sich spezifische Ausdrücke des Lagers in deren Berichten

241
Vgl. Oschlies, Wolf: “Lagerszpracha“, 8-10.
242
Vgl. Wachsmann, Nikolaus: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, 128f.
243 Vgl. Oschlies, Wolf: “Lagerszpracha“, 19.
244 Vgl. Wachsmann, Nikolaus: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, 129.
245
Vgl. Oschlies, Wolf: “Lagerszpracha“, 17-19.
246 Ebd., 14.

56
Übersetzungsprozess: Prämisse des Begreifbar-Machens und Verstehen-Wollens

wieder. Wenn die moralischen Zeug*innen beispielsweise vom »Organisieren« erzählen, meint
das die Beschaffung von Lebensmitteln oder anderen Dingen meist aus SS-Beständen, jedoch
ist dies keinesfalls mit einem Diebstahl von Mithäftlingen zu verwechseln, welcher verpönt war
und unter den Häftlingen schwer geahndet wurde. Die Beschaffung von Essen ist ein zentraler
Aspekt in den Erinnerungen der Überlebenden, wobei in den Konzentrationslagern keinesfalls
gegessen oder getrunken wurde, sondern von »fressen« und »saufen« die Rede war. Gelang die
Beschaffung von nützlichen Dingen, so konnten diese auf dem »Basar« in ein einträgliches
Tauschgeschäft verwandelt werden, denn die tägliche Versorgungslage der Häftlinge mit »Koks«
und »Jodtinktur« respektive Brot und Kaffee sowie der dünnen Lagersuppe reichte keineswegs
aus. Wobei jene, die den Tod eines Mithäftlings nicht meldeten, um dadurch eine Zusatzration zu
erhalten als »Leichenzüchter« bezeichnet wurden. In den Baracken waren Läuse und Flöhe, die
als »Blondinnen« und »Brünette« tituliert wurden, quälende Begleiterinnen, über die sich die
Häftlinge auch in Form der »Lausrinne« oder des »Läuseboulevard«, einen in die
kurzgeschorenen Haare rasierten Mittelstreifen, belustigten. Es galt sich stets vor einem
sogenannten »Abgang« durch Ermordung zu bewahren, die »Selektionen« zu überstehen und
keiner »Sonderbehandlung« zugeführt zu werden, denn vonseiten der SS waren entkräftet
Häftlinge »Kaminfutter«. Der euphemistische SS-Sprachgebrauch durchzog die Lagersprache
und versuchte deren Grausamkeiten zu verschleiern, wobei die Häftlinge den Tod mit dem
Ausspruch »durch den Kamin gehen« bezeichneten. Die Übernahme von gewissen Funktionen
wirkte sich auf dieses Schicksal vor- und nachteilig aus, denn sogenannte »Geheimnisträger«,
die beispielsweise im »Krematoriumskommando« eingesetzt waren, wurden in regelmäßigen
Abständen ermordet. Einige oft jüngere männliche Häftlinge verdingten sich als Hilfskräfte für SS-
Angehörige oder Funktionshäftlinge und wurden in der Lagersprache als »Schwung«
bezeichnet,247 kam es dahingehend zu sexuellen Übergriffen durch Kapos, sprach man von den
sogenannten »Pi(e)pel«, die neben der Drangsalierung durch sexuelle Gewalt permanent Gefahr
liefen von den Kapos ermordet zu werden.248 Jene Häftlinge, die apathisch, ausgehungert und
dem Tod nahe waren, wurden als »Muselmann« oder »Schmutz- respektive Schmuckstück«
bezeichnet, wie Levi ausführt.249

»Sie, die Muselmänner, die Untergegangenen, sind der Kern des Lagers: sie, die anonyme, die
stets erneuerte und immer identische Masse schweigend marschierender und sich abschuftender
Nichtmenschen, in denen der göttliche Funke erloschen ist und die schon zu ausgehöhlt sind, um
wirklich zu leiden.«250

Innerhalb dieser reflexiven Erinnerung erweist sich die Degradierung dieser Gruppe zu
»Nichtmenschen« als äußerst problematisch, denn die nationalsozialistischen Täter*innen
haben ihre Opfer entwürdigt und entmenschlicht – jedoch waren es zuallererst Menschen, die

247 Vgl. ebd., 14-24.


248 Vgl. Wachsmann, Nikolaus: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, 594.
249
Vgl. Levi, Primo (1986): Die Untergegangenen und die Geretteten, 102.
250 Levi, Primo (1947): Ist das ein Mensch?, 87.

57
Übersetzungsprozess: Prämisse des Begreifbar-Machens und Verstehen-Wollens

der überwältigenden Todesnähe ausgesetzt waren und sich in den Erinnerungen der
Überlebenden einbrannten. Als »Untergegangene« sind sie im Sinne von Elias an jenem Punkt
innerhalb des Vernichtungsprozesses angelangt, an dem »den in sie verstrickten Menschen
keine Chance mehr bleibt, ihre physische und psychische Integrität zu erhalten oder auch nur
ihr Überleben zu sichern.«251 Die geringe Überlebenschance innerhalb dieses Stadiums der
Todesnähe lässt dieser Gruppe das Idiom der Sprach- und Erinnerungslosigkeit anhaften, den
als Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie blieb ihnen die Möglichkeit
Zeugnis abzulegen verwehrt. Levi betont eindringlich die Notwendigkeit der Verständigung
innerhalb des Sprachgewirrs der Konzentrationslager und verdeutlicht durch seine Erinnerung
an den kleinen Hurbinek, die problematische Sprachentwicklung eines in Auschwitz geborenen
und gestorbenen Kindes.

»Hurbinek war ein Nichts, ein Kind des Todes, ein Kind von Auschwitz. Ungefähr drei Jahre alt,
niemand wußte etwas von ihm, es konnte nicht sprechen und hatte keinen Namen: Den
merkwürdigen Namen Hurbinek hatten wir ihm gegeben (…). Die Sehnsucht nach dem Wort, das
ihm fehlte, das ihn zu lehren niemand sich die Mühe gemacht hatte, das Bedürfnis nach dem Wort
sprach mit explosiver Dringlichkeit aus seinem Blick (…). Nach einer Woche verkündete Henek
ernst, aber ohne eine Spur von Einbildung, daß Hurbinek ›ein Wort sage‹. Was für ein Wort? Er
wußte es nicht, ein schwieriges Wort, kein ungarisches, irgend etwas wie ›mass-klo‹, ›matisklo‹.«252

Trotz eindringlicher Bemühungen erschöpfte sich die Deutung der Mitgefangenen des kleinen
Hurbineks an dieser anderen Sprache eines Kindes sozialisiert inmitten des
Konzentrationslagers. Das Kind verfügte über keine genuine Muttersprache, somit wurde dessen
Bezugsrahmen aus der translingualen Lagerumgebung gespeist. Aufgrund dessen blieb der
Bedeutungsgehalt seiner spezifischen Sprache für dessen Mithäftlinge und erst recht aus
heutiger Distanz unzugänglich. Dennoch kann dieses Zeugnis als Sinnbild für die
Herausforderungen innerhalb der engagierten Übersetzungsleistung der moralischen Zeug*innen
dienen. Denn deren Wille des Verständlich-Machens äußert sich im Engagement des Bezeugens
unter der Prämisse des Begreifbar-Machens ihrer erlittenen Erfahrungen stellvertretend für all
jene verstummten Untergegangenen.

4.3 Übersetzungsarbeit zwischen Engagement und Distanzierung

An dieser Stelle dechiffriert sich nun der Übersetzungsprozess und äußert sich als diskursives
Modell, welches beginnend mit dem engagierten Begreifbar-Machen durch die moralischen
Zeugnisse aus emischer Perspektive, die distanzierte Prämisse des Verstehen-Wollens als
etischer Anspruch einfordert, um eine wissenschaftlich-reflexive Auseinandersetzung zu
ermöglichen. Wesentlich ist, dass »Engagement und Distanzierung« im Sinne von Elias nicht
getrennt voneinander fungieren, sondern aufeinander bezogene menschliche Wesensarten der

251
Elias, Norbert: Engagement und Distanzierung, 179.
252 Levi, Primo: Die Atempause. München: dtv 1994, 20f.

58
Übersetzungsprozess: Prämisse des Begreifbar-Machens und Verstehen-Wollens

Selbststeuerung darstellen253 sowie in ihrer jeweiligen Ausprägung an die eingenommene


Zeitperspektive gebunden sind. Denn dem soziologischen Paradigma des Verstehens sowie
Erklärens können Sozialwissenschaftler*innen keineswegs gerecht werden, indem sie ihren
Untersuchungsgegenstand der ihm innewohnenden Zeit entreißen.254

»Die modellhafte Rekonstruktion der Prozesse, die von der Vergangenheit durch die kurzen Tage
derjenigen, die noch leben, zur Zukunft führen, ist daher eine für Soziologen unerläßliche
Aufgabe. Natürlich fordert sie ein relativ hohes Niveau der Selbstdistanzierung.«255

Im Zusammenhang mit der zeitlichen Ausweitung der soziologischen Perspektive verwehrt sich
Elias entschieden gegen die Etikettierung als historische Soziologie, da in der Vergangenheit
liegende soziale Phänomene keinesfalls als von gegenwärtigen soziologischen Problemen
getrennt betrachtet werden können. Darüber hinaus basiert die Wahrnehmung von
gesellschaftlicher Wirklichkeit sowie der soziologische Wissenserwerb in wesentlichen Teilen auf
Engagement und Distanzierung, so auch das Wissen über die nationalsozialistischen
Konzentrationslager. Dahingehend ist eine intellektuelle Zeugenschaft unmöglich ohne die
Gruppe der moralischen Zeug*innen »als Trägerin des Wissens«, wobei sich in dieser Beziehung
beide Seiten unterschiedlich innerhalb der wandelbaren »Engagement-Distanzierungs-Balance«
positionieren.256 Elias betont, dass die wechselseitige Abhängigkeit der Menschen, welche diese
prozesshaft in »weiträumigen Figurationen« aneinanderbindet, mit steigender emotionaler
Betroffenheit einhergeht, sich dadurch ihre Wahrnehmung verengt sowie ihre Sichtweise
begrenzt. Kurzum, die Involvierten entfernen sich zunehmend von deren Fähigkeit eine
reflektierte etische Perspektive einzunehmen. Wesentlich ist, dass Forschende ebenso wenig
getrennt von deren gruppenspezifischen Beziehungsgeflechten und den darin enthaltenem
gesellschaftlichen Konfliktpotential sowie dem damit verbundenen engagiertem Denken sind.257
Innerhalb der Soziologie werden die fluiden Grenzen zwischen emischer und etischer Perspektive
deutlich sichtbar, aufgrund der Situation der Forschenden als Teil des Strukturwandels einer
gemeinsamen sozialen Welt.

»Auf dieser Wissenschaftsebene begegnen Menschen sich selbst und einander; (…) sind mit in
diese Muster einverwoben. Sie können nicht umhin, sie – direkt oder durch Identifizierung – als
unmittelbar Beteiligte von innen zu erleben; und je größer die Spannungen und Belastungen,
denen sie oder ihre Gruppe ausgesetzt sind, desto schwerer ist es für sie, den Akt der
Detachierung von ihrer Rolle als unmittelbare Beteiligte zu vollziehen, der allem
wissenschaftlichen Bemühen zugrundliegt.«258

Hier tritt die Problematik der bereits erwähnten »Engagement-Distanzierungs-Balance« zutage,


die in ihrer jeweiligen Verlagerung spezifische Bedeutungen für das Denken der moralischen

253
Vgl.: Elias, Norbert: Engagement und Distanzierung, 44f.
254
Vgl. ebd., 18-20.
255 Ebd., 20.
256 Vgl. ebd., 29-31.
257
Vgl. ebd., 119 sowie 125.
258 Ebd., 122f.

59
Übersetzungsprozess: Prämisse des Begreifbar-Machens und Verstehen-Wollens

Zeugenschaft hat als auch eine wesentliche Herausforderung für die soziologische
Auseinandersetzung birgt. Erstere, die Überlebenden, sind durch ihre erlittenen Erfahrungen und
unmittelbaren Wahrnehmungen innerhalb der nationalsozialistischen Konzentrationslager
zutiefst involviert, ihre körperliche und emotionale Betroffenheit manifestiert sich in ihren
rückschauenden Erinnerungen und ihr Postulat des Begreifbar-Machens artikuliert sich mehr aus
engagierten Haltungen heraus. Wobei Strategien der Distanznahme für die moralischen
Zeug*innen äußerst relevant sind, um sich die nötigen Reflexionsräume für literarische sowie
dialogische Übersetzungsleistungen zu schaffen. Der sozialwissenschaftliche
Forschungszugang zu diesen Diskursräumen gelingt keineswegs ohne partizipierendes
Engagement sowie ein gewisses Maß an empathischer Betroffenheit, um gegenüber den darin
verhafteten sozialen Phänomenen ein adäquates Verständnis zu entwickeln. Innerhalb dieser
notwendigen Teilhabe gilt es vom soziologischen Standpunkt aus Positionen und Haltungen
kontinuierlich auszuloten, um die Ausbalancierung von Engagement und Distanzierung in der
wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu fördern. Das Gelingen der bewussten
Selbstdistanzierung erfordert die Begrenzung des persönlichen Identifizierungsgrades, die
konsequente Differenzierung zwischen mitgebrachten »heteronomen Wertungen« und »relativer
soziologischer Autonomie«259 sowie ein kritisches Auseinanderhalten von fundiertem Wissen und
im Alltagsdenken verhafteten tradierten Sichtweisen.260 Wenn man sich an dieser Stelle mit
Arendt fragt, ob es aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ausreicht »beim Grauen zu
verweilen«261, gilt es im Sinne von Elias für weniger Engagement und mehr Distanzierung im
wissenschaftlichen Denken zu plädieren, um der Denkfigur des Verstehen-Wollens mittels
soziologischer Erklärungen gerecht zu werden. Außer Frage steht, dass die Überlebenden
Zeugnis über einen abgründigen kritischen Prozess ablegen, wobei Elias dem Momentum der
Distanzierung eine Bedeutung für das Überleben zuschreibt. Die bedrohliche Erzählung von
Edgar Allan Poe über den Sturz in den Mahlstrom dient ihm hierfür als Sinnbild.262 Die
divergierenden Verhaltensweisen sowie Gefühlslagen innerhalb der Konfrontation mit kritischen
Prozessen verdeutlichen die Abhängigkeit von Selbst- und Prozesskontrolle, jedoch betont Elias:

»Nicht alle Formen und Stadien kritischer Prozesse bieten denen, die in sie verwickelt sind,
solche Chancen. (…) Wie groß auch ihre Distanzierung, ihre Fähigkeit zu realistischem

259 Elias, Norbert: Was ist Soziologie?, 75-77.


260 Vgl. Elias, Norbert: Engagement und Distanzierung, 123-129 sowie 157f.
261 Arendt, Hannah: Konzentrationsläger, 312.
262
»Während die Fischer langsam in den Abgrund des Strudels gezogen wurden, (…) waren beide Brüder – der jüngste
war bereits im Sturm untergegangen – zu sehr von Furcht überwältigt (…). Nach einer Weile jedoch, so erzählt uns
Poe, vermochte einer der Brüder seine Furcht abzuschütteln. Während der ältere durch die nahende Katastrophe
gelähmt, hilflos im Boot kauerte, faßte sich der jüngere Mann und begann, mit einer gewissen Neugierde um sich zu
schauen. Nun, als er alles mit größerer Ruhe zusammen sah, beinahe als ob er nicht davon betroffen wäre, bemerkte
er gewisse Regelmäßigkeiten (…). Kurz: Durch Beobachten und Überlegen kam er zu einer ›Idee‹; ein
zusammenhängendes Bild des Prozesses, in den er verwickelt war (…). Während sein Bruder in Furcht erstarrt blieb,
band er sich selbst an ein Faß. Vergeblich forderte er den Älteren auf, dasselbe zu tun; dann sprang er über Bord. Das
Boot mit dem Bruder sank schneller und wurde am Ende von dem Abgrund verschlungen. Das Faß (…) wurde weit
langsamer in die Tiefe gezogen, so daß sich der Fischer, (…) an der Oberfläche des Meeres wiederfand und schließlich
unter die Lebenden zurückkehrte.« Elias, Norbert: Engagement und Distanzierung, 177f.

60
Übersetzungsprozess: Prämisse des Begreifbar-Machens und Verstehen-Wollens

Nachdenken sein mag, der Prozeß hat für sie den Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr
gibt. Sie können sich nicht retten, was immer sie denken oder tun.«263

Entgegen der Naturgewalt ist der Mahlstrom der Konzentrations- und Vernichtungslager eine
durch Menschenhand geschaffene Abwärtsspirale des Terrors. Die permanenten Bedrohungen,
denen die Verfolgten ausgesetzt waren, beeinflussten ihre emotionalen sowie körperlichen
Reaktionen – innere wie äußere Einflüsse, die den Kontrollverlust erhöhen und die
Überlebenschancen verringern, waren im Lageralltag allgegenwärtig. Die Willkür beherrschte
diesen abgründigen kritischen Prozess – der notwendige »Raum zum Nachdenken, zum Ordnen
von Gedanken, zum Empfinden von Regungen war vernichtet.«264 Hier drängt sich im
Nachdenken mit Elias die Frage auf, wie gelang es Menschen den enormen affektuellen
Vernichtungsdruck zu bewältigen? Sind es zufällige oder glückliche Umstände, die
»Schlupfwege des Entrinnens« sichtbar machen? An dieser Stelle stehen die vielen
»Untergegangenen«, jene, die den tiefsten Punkt des Abgrunds berührt haben, den wenigen
»Geretteten« diametral gegenüber. Wobei die Überlebenden als Träger*innen der
Lagererfahrungen beide Pole unter der Prämisse des Begreifbar-Machens vereinen, indem sie
ihr engagiertes Erinnern dem Postulat verschreiben: »Jetzt sprechen wir, als Bevollmächtigte,
an ihrer Stelle.«265 Die wissenschaftliche Annäherung hat die Aufgabe des verantwortungsvollen
Umgangs mit den Zeugnissen sowie im Prozess des Verstehen- und Erklären-Wollens »sich
selbst die Disziplin größerer Distanzierung aufzuerlegen«266.

4.4 Die Rückgabe der Namen?

Die Entscheidung der De-Anonymisierung der von Luchterhand befragten Überlebenden wurde
von Kranebitter und Fleck bereits bei deren Publikation der Primärstudie getroffen, wobei die
Erklärung der Herausgeber auf den ursprünglichen Beweggründen für die Pseudonymisierung
fußt. Denn die von Luchterhand gehegten Bedenken einer »etwaige[n] politische[n]
Verfänglichkeit für die Interviewten«267 seien aus heutiger Sicht nicht mehr gegeben. Aufgrund
dessen wurde innerhalb der Primärstudie die Erstnennung des jeweiligen Pseudonyms mit einer
biografischen Rekonstruktion versehen, um die Identität der Interviewpartner*innen für die
Lesenden greifbar zu machen. Der dadurch zur Verfügung gestellte umfassendere Blick auf die
Lebensgeschichten der moralischen Zeug*innen bot einerseits die Möglichkeit, die Lücke der
Abwesenheit im Feld durch die Beschaffung von Kontextinformationen zu schließen.
Andererseits verbirgt sich darin die Gefahr, die Identitäten und Kurzbiografien unhinterfragt zu
übernehmen, ohne der geforderten methodischen Reflexivität gerecht zu werden. Dieser
Problematik sollte im Zuge der akribischen Sichtung der Interviewprotokolle durch die
Verbindung mit einer tiefergreifenden Recherche zu den Befragten in Opferdatenbanken und

263
Ebd., 179.
264 Vgl. Levi, Primo (1986): Die Untergegangenen und die Geretteten, 76.
265 Ebd., 87.
266
Elias, Norbert: Engagement und Distanzierung, 156.
267 Luchterhand, Elmer: Einsame Wölfe und stabile Paare, 45.

61
Übersetzungsprozess: Prämisse des Begreifbar-Machens und Verstehen-Wollens

Archiven entgegengewirkt werden. In diesem Zusammenhang zeigten sich vor allem bei der
Kontextualisierung von zwei Protokollen erhebliche Abweichungen zwischen dem Datenmaterial
und der Identitätszuweisung durch Kranebitter und Fleck. Wobei im Folgenden anhand der
Recherchebemühungen zu der von Luchterhand unter dem Pseudonym »Jennie« befragten
Interviewpartnerin betrachtet werden, um exemplarisch die kontroverse Frage der De-
Anonymisierung unter dem Gesichtspunkt der Reflexivität zu verdeutlichen. In der Fußnote
bieten die Herausgeber folgende biografische Beschreibung an:

»Anm. d. Hg.: ›Jennie‹ ist das Pseudonym von Gusta Allerhand, geborene Kreisler, geboren am
10. Jänner 1904 in Kraków. Allerhand lebte einem ›Fragebogen zur Erfassung der jüdischen
Bevölkerung der Stadt Krakau‹ zu folge (USHMM, Accession Number: ID 25031) mit ihren Kindern
Salo (geboren 1928), Anna und Róza (beide geboren 1930) im Krakówer Stadtteil Czyżyny, bevor
sie ins Ghetto Krakau übersiedeln mussten; ihr Ehemann war als polnischer Offizier in deutscher
Kriegsgefangenschaft im Offizierslager (Oflag)IIe (vgl. ebd.). Allerhand wurde ihren Angaben nach
im April 1944 (ein Jahr nach der Auflösung des Ghettos Krakau) wegen der Verwendung falscher
Papiere verhaftet und im Mai 1944 ins KZ Plaszow, im Oktober 1944 ins KZ Auschwitz und im
Jänner 1945 ins KZ Ravensbrück und dessen Außenlager Rechlin-Retzow deportiert (vgl.
Interviewprotokoll „Jennie“, Elmer G. Luchterhand Papers, Brooklyn College Archives and Special
Collections, Accession #2001-005, Sub Group I, Series 1, Box 1). Das Außenlager Rechlin-Retzow
fungierte als ›Auffanglager‹ (Angelika Meyer: Rechlin-Retzow, in: Wolfgang Benz/Barbara Distel
(Hg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 4:
Flossenbürg, Mauthausen, Ravensbrück (München 2006), S. 592-594). Luchterhand zufolge sei
sie „scheinbar in Plazow und dann wieder in Rechlin kurz vor der Befreiung von
Selbstmordgedanken besessen gewesen. In Ravensbrück war sie ein Muselmann. Sie hatte
gänzlich damit aufgehört, sich zu waschen, doch Alice [Pseudonym – Anm. d. Hg.] schleppte Sie
gelegentlich aus der Baracke und wusch sie mit Schnee“ (Interviewprotokoll „Jennie“). Allerhand
wurde im Zuge der „Weiße Busse“ genannten Rettungsaktion des Dänischen und Schwedischen
Roten Kreuzes mit 7.000 anderen Frauen aus dem KZ Ravensbrück im April 1945 nach Dänemark
und schließlich Malmö gebracht (vgl. dazu ausführlich KZ-Gedenkstätte Neuengamme/Oliver von
Wrochem (Hg.): Skandinavien im Zweiten Weltkrieg und die Rettungsaktion Weiße Busse.
Ereignisse und Erinnerung (Berlin 2012)). Über Allerhands weiteres Schicksal wie auch über das
Schicksal ihrer Zwillingstöchter, die sie in ihrem Interview nicht erwähnt, ist nichts bekannt. Der
Name ihres Sohnes Salo Allerhand findet sich auf „Schindlers Liste“ (vgl.
https://www.ushmm.org/online/hsv/person_view.php?PersonId=4473358, Aufruf am
18.1.2018).«268

Im Vergleich mit dem Interviewprotokoll ergaben sich allerdings erhebliche Unstimmigkeiten


hinsichtlich der zitierten biografischen Angaben. Luchterhand notierte sich zur Befragten, dass
diese die Angabe ihres Alters verweigerte, stufte sie als äußerst selbstkritisch sowie relativ
kooperativ ein und vermerkte eine anfängliche Angespanntheit sowie Zurückgezogenheit,
welche sich im Laufe der Interviewsituation legte. Darüber hinaus hielt er fest, dass »Jennie«

268 Ebd., 112.

62
Übersetzungsprozess: Prämisse des Begreifbar-Machens und Verstehen-Wollens

ihrer eigenen Aussage zu folge »does not want to forget her experiences in the camps, and that
she welcomes the chance to talk about them and constantly thinks about her experiences.«269
Hinsichtlich der biografischen Eckdaten vermerkt Luchterhand, dass die Befragte nach seiner
Schätzung ungefähr 1905 in Bielsko geboren wurde, zwei ältere Brüder und eine ältere
Schwester hatte, angab nach der Befreiung geheiratet zu haben und zum Zeitpunkt des
Interviews geschieden zu sein sowie vor ihrer Verhaftung eine Schneiderei geführt zu haben.270
Auffällig im Vergleich zur zitierten Kurzbiografie erschien das Verschweigen respektive
Verdrehen wesentlicher biografischer Eckdaten sowie die erheblichen Auslassungen
hinsichtlich der von Kranebitter und Fleck konstatierten familiären Situation. Darüber hinaus
erwähnte die Interviewte mit keiner Silbe einen Aufenthalt im Ghetto Krakau, sowie die daraus
resultierende zu überbrückende Zeit von einem Jahr im Untergrund nach der Auflösung des
Ghettos im März 1943271 bis zu ihrer Verhaftung. An dieser Stelle drängte sich die Frage auf,
ob es sich bei der Identität von »Jennie« gegebenenfalls nicht um jene Gusta Allerhand
geborene Kreisler handelt. Aufgrund dessen wurde in die Suche ebenso der vermeintliche Sohn
Alexander alias Salo Allerhand einbezogen, um einerseits detaillierte Informationen über seine
Mutter sowie andererseits Hinweise über den Verbleib dessen Schwestern Anna und Róza zu
erhalten. Dahingehend stellte sich heraus, dass Alexander dem Yad Vashem Rememberance
Center sein Notizbuch gespendet hatte, welches während seiner Zeit in der Fabrik von Oskar
Schindler in Brünnlitz entstanden war. In dem Artikel des Yad Vashem erschließt sich einerseits
das Schicksal seines Vaters Leopold, welcher als polnischer Kriegsgefangener die Zeit des
Nationalsozialismus überlebte. Andererseits werden bezugnehmend auf Alexanders Memoiren
dessen letzte Erinnerungen an seine Mutter im Zusammenhang mit deren Deportation vom
Ghetto Krakau in das Vernichtungslager Bełżec rekonstruiert. Angemerkt sei, dass Gusta ihre
Zwillingstöchter zwei Tage zuvor aus dem Ghetto geschmuggelt und zu einer polnischen
Bauersfamilie in das Dorf Mogiła nahe Krakau gebracht hat.272

»Alexander relates in his memoir that he and his mother had no doubt that they were being sent
on their final journey. His mother pleaded with him to leap from the cattle car. Initially Alexander
refused, but his mother’s fears for his sisters’ fate, should no one from the family return to take
them, eventually convinced him to try to escape. Alexander parted from his mother for the last
time, and at almost one o’clock in the morning, leapt from a small window in the car.«273

269
Interviewprotokoll 15 »Jennie«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I,
Series 1, Box 1, pag. 2.
270 Vgl. ebd.
271
Siehe hierzu Pohl, Dieter: Ghettos, in: Benz, Wolfgang/Distel, Barbara [Hg.]: Der Ort des Terrors. Geschichte der
nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 9: Arbeitserziehungslager, Ghettos, Jugendschutzlager,
Polizeihaftlager, Sonderlager, Zigeunerlager, Zwangsarbeitslager. München: C. H. Beck 2009, 161-191.
272 Vgl. A Notebook from Schindler’s Fatory, Yad Vashem, https://www.yadvashem.org/gathering-
fragments/stories/from-the-inferno/allerhand.html?utm_source=social&utm_medium=tw [letzter Zugriff: 23.03.2021].
273 Ebd.

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Übersetzungsprozess: Prämisse des Begreifbar-Machens und Verstehen-Wollens

Daran anknüpfend fanden sich im Zusammenhang mit dem Projekt Polish Righteous des POLIN
Museum of the History of Polish Jews unter den Stories of Rescue274 Einträge zu Alexander und
Anna Allerhand. Daraus geht hervor, dass Salo nach seiner Flucht aus dem Transport nach Bełżec
nach Krakau zurückkehrte, wo er sich für eine Nacht bei der befreundeten Familie Kwiatek
versteckte. Danach holte der Bruder Róza und Anna aus deren Versteck in Mogiła und kehrte mit
ihnen ins Ghetto zurück. Kurz darauf wurde Salo allerdings in ein Außenlager zur Zwangsarbeit
versetzt und musste seine Schwestern zurücklassen.275 An diesem Punkt knüpft Annas
Überlebensgeschichte an, denn Salo gelang es sich aus dem Außenlager an eine weitere
befreundete Familie, die Kowalczyks, in Krakau zu wenden. Diese Familie brachte die
Zwillingsschwestern vorerst bei Freunden in dem Dorf Monasterzyska in getrennten Häusern
unter. Dennoch wurden die Dorfbewohner*innen misstrauisch, weshalb Annas Name in Marysia
geändert und sie zurück nach Krakau geschickt wurde, um für die Schwestern »arische Papiere«
zu besorgen.276 Der Anhaltspunkt der Namensänderung führte letztlich zu einer Sammlung von
Rettungsberichten durch die Polish Educational Foundation in North America, welche weitere
Hinweise über den Verbleib der Schwestern beinhalten und deren Geschichte komplettieren.
Diesem Bericht folgend zeigt sich, dass Anna nach ihrer erneuten Rückkehr nach Krakau von der
Familie Kowalczyk auf deren Gemüsehof außerhalb der Stadt als vermeintliche Gärtnerin
untergebracht wurde, wobei die Familie weiter nach einem sicheren Ort für sie suchte. Schließlich
arrangierten die Kowalczyks deren Unterbringung bei einer verwandten Witwe und Mutter von drei
Kindern, Helena Przebindowska, welche Anna wie eine Familienangehörige behandelte. Dieser
Helferin gelang es schließlich gemeinsam mit dem örtlichen Priester »arische Papiere« für Anna
zu besorgen sowie dieser unter dem Namen Marysia Malinowska den Schulbesuch zu
ermöglichen. Der Unterhalt für das Mädchen wurde von einem Freund aus dem Vermögen von
Gusta Allerhands bezahlt, welches sie diesem anvertraut hatte. Róza musste ebenso ihr Versteck
in Monasterzyska verlassen und zurück nach Krakau, im Zug begegnete sie dem Priester Alfons
Walkiewicz, welcher sich als ihr Bruder ausgab, dadurch konnte Róza ohne Papiere eine deutsche
Kontrolle passieren. Dieser Priester brachte Róza bei einer polnischen Familie im Dorf Kocmyrzów
nahe Krakau unter, wo sie unter dem Namen Kasia überlebte.277 Nach dem Krieg wurde die
Familie Allerhand, mit Ausnahme der Mutter Gusta, wiedervereint und emigrierte nach Israel.278
Darüber hinaus haben sowohl Leopold als auch Alexander zwei unabhängige Gedenkblätter für
die zentrale Datenbank der Namen des Yad Vashem eingereicht und sie wie folgt als Opfer der

274 Anm.: Die Überlebensgeschichten wurden im Zuge der Ausstellung »Polish Heroes: Those Who Rescued Jews,

curated by the Auschwitz Jewish Center, the Galicia Jewish Museum, and the Polish/American/Jewish Alliance for
Youth Action, 2006« rekonstruiert.
275
Vgl. Story of Rescue - The Kwiatek Family, POLIN Museum of the History of Polish Jews, Polish Rigtheous,
https://sprawiedliwi.org.pl/en/stories-of-rescue/story-rescue-kwiatek-family [letzter Zugriff: 23.03.2021]
276 Vgl. Story of Rescue - The Kowalczyk Family, POLIN Museum of the History of Polish Jews, Polish Rigtheous,

https://sprawiedliwi.org.pl/en/stories-of-rescue/story-rescue-kowalczyk-family-0 [letzter Zugriff: 23.03.2021]


277
Vgl. Wartime Rescue of Jews by the Polish Catholic Clergy. The Testimony of Survivors, Mark Paul [Hg.], Polish
Educational Foundation in North America 2016, 54-55, https://azkurs.org/wartime-rescue-of-jews-by-the-polish-
catholic-clergy.html [letzter Zugriff: 23.03.2021]
278
Vgl. Story of Rescue - The Przebindowski Family, POLIN Museum of the History of Polish Jews, Polish Rigtheous,
https://sprawiedliwi.org.pl/en/stories-of-rescue/story-rescue-przebindowski-family [letzter Zugriff: 23.03.2021]

64
Übersetzungsprozess: Prämisse des Begreifbar-Machens und Verstehen-Wollens

Shoa eintragen lassen: Gusta Allerhand geboren am 10.01.1904 als Gusta Waltner-Kreisler in
Krakau, Todesursache: Transport nach Bełżec am 28.10.1942 – Gaskammer.279

Die kritische Reflexion dieser Rechercheergebnisse verstärkte die Vermutung einer fälschlichen
Re-Identifikation der Interviewpartnerin »Jennie«. Diese Skepsis manifestierte sich aufgrund von
folgenden Anhaltspunkten: Erstens, der von Luchterhand angegebene Geburtsort der Befragten
ist Bielsko und liegt rund 80 Kilometer von Krakau entfernt. Zweitens steht die Aussage von Salo
Allerhand über den Transport in das Vernichtungslager Bełżec am 28.10.1942 der Angabe im
Interviewprotokoll, dass »Jennie« im April 1944, also ein Jahr nach der Auflösung des Ghettos,
aufgrund der Verwendung von Ausweispapieren einer Nichtjüdin verhaftet wurde, kontrovers
gegenüber.280 Darüber hinaus widerspricht sich die durch Salo erwähnte Sorge der Mutter um die
Zwillingsschwestern mit den familiären Aussparungen respektive der Verschwiegenheit über die
Existenz der Kinder im Interviewprotokoll. Drittens kommt die Tatsache hinzu, dass es sich beim
Vernichtungslager Bełżec um das erste Lager mit stationär installierten Gaskammern handelte,
welches Ende 1941 im Zuge der Planung des Massenmordes an der jüdischen Bevölkerung im
Generalgouvernement errichtet wurde. Mit Beginn der »Aktion Reinhardt« im März 1942 kam es
zu den ersten Opfern in den Gaskammern von Bełżec. Wesentlich ist, dass dieses Lager lediglich
aus zwei Lagerteilen bestand – dem Verwaltungs- und dem Vernichtungsbereich. Die Opfer
mussten sich unmittelbar nach der Ankunft an der Rampe in gegenüberliegenden Baracken
entkleiden und wurden ihrer Haare beraubt.281 »Von den Auskleidebaracken bis zu den
Gaskammern führte eine Art Korridor, den die Deutschen ›Schlauch‹ nannten und den die Opfer
nackt durchlaufen mussten.«282 Neben den mit einem Motor angetriebenen Gaskammern,
Verbrennungsrosten, einer Knochenzerkleinerungsmaschine und Massengräbern befanden sich
in diesem Lagerteil ebenso die Baracken der jüdischen Häftlinge die als »Geheimnisträger*innen«
dem Sonderkommando zugeteilt waren. Bełżec war als reines Todeslager konzipiert, welches
Ende Dezember 1942 aufgelöst wurde, die Existenz des Vernichtungslagers wurde vertuscht und
die Spuren verwischt. In Bełżec wurden innerhalb von zehn Monaten nahezu 500.000 Menschen
ermordet, darüber hinaus fanden sich nur drei Überlebende, die Zeugnis über dieses
Vernichtungslager ablegten.283 Hier wird deutlich, dass sich die Befürchtung »der letzten Reise«
von Gusta Allerhand mit hoher Wahrscheinlichkeit bewahrheitet hat.

Im Hinblick auf die Identität von »Jennie« führen diese Überlegungen zu zwei möglichen
Szenarien: Die erste sowie für wenig wahrscheinlich gehaltene Annahme ist, dass sich hinter

279 Vgl. Gedenkblatt Gusta Allerhand, eingereicht von Aleksander Allerhand, Yad Vashem Gedenkblätter Sammlung, ID:
1744675 sowie Gedenkblatt Gusta Allerhand, eingereicht von Leopold Allerhand, Yad Vashem Gedenkblätter Sammlung,
ID: 1829720.
280 Vgl. Interviewprotokoll 15 »Jennie«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I,

Series 1, Box 1, pag. 2.


281
Vgl. Kuwałek, Robert: Bełżec, in: Benz, Wolfgang/Distel, Barbara [Hg.]: Der Ort des Terrors. Geschichte der
nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 8: Riga-Kaiserwald, Warschau, Vaivara, Kauen (Kaunas), Płaszów,
Kulmhof/Chełmno, Bełżec, Sobibór, Treblinka. München: C. H. Beck 2008, 331-341.
282
Ebd., 333f.
283 Vgl. ebd., 334-360.

65
Übersetzungsprozess: Prämisse des Begreifbar-Machens und Verstehen-Wollens

dem Pseudonym dennoch die von den Herausgebern beschriebene Gusta Allerhand verbirgt.
Das würde bedeuten, dass die Befragte im Interview mit Luchterhand konsequent ihre wahre
Identität verschwiegen hat oder sich möglicherweise die Identität einer anderen Jüdin aneignete.
Dahingehend wäre die Möglichkeit einer anhaltenden schweren Psychose aufgrund der
Lagererfahrungen denkbar, welche sich beispielsweise in einer dissoziativen Identitätsstörung
niederschlägt. Die akribische Sichtung des Datenmaterials förderte ebenso die Erfahrung mit
der Beobachtungsgabe des Interviewers zutage, aufgrund dieser Einsichten steht ein
Versäumnis dieser Erkenntnisse durch Luchterhand außer Frage. Hinzu kommt, dass diese
erste Annahme die Konsequenz mit sich bringt, dass die Familie Zeit ihres Lebens nichts vom
Überleben ihrer Ehefrau respektive Mutter wussten. Demnach hätten sich die ahnungslosen
Familienmitglieder wiedervereint in Israel ein neues Leben aufgebaut und Gusta Allerhand hätte
ihrerseits versucht in Chicago Fuß zu fassen. Hier kann selbst in pre-digitalen Zeiten von einem
surrealen Szenario ausgegangen werden.

Daraus resultierte die Neigung der zweiten Annahme zu folgen, nämlich dass »Jennie« nicht der
durch Kranebitter und Fleck zugewiesenen Identität entspricht. Dieser neuralgischen Punkt
innerhalb des Rechercheprozesses rückte die zentrale Frage, wer ist respektive war die
anonymisierte Interviewte, in den Fokus. Geleitet von dieser Frage galt es eine Recherchestrategie
anhand der Eckpfeiler des Interviewprotokolls zu entwickeln, wobei die Angabe der Heirat sowie
Scheidung nach der Befreiung den vermeintlichen Geburtsnamen der Befragten fraglich erscheinen
ließen. Die wesentlichen Aspekte des Geburtsortes sowie des durch Luchterhand erstellten
Haftkalenders wurden bei der Recherche innerhalb der Opferdatenbanken sowie bei der Sichtung
diverser Transportlisten zu steten Begleiterinnen. Schließlich verdankt dieser kumulative Prozess
der De-Anonymisierung der Fußnote von Kranebitter und Fleck den entscheidenden Hinweis zur
Identitätsklärung von »Jennie« in Form der »Rettungsaktion der Weißen Busse«284 in den letzten
Wochen der Befreiung, welche im von Luchterhand erstellten Protokoll ebenso erwähnt wird. Diese
Überlegungen mündeten in der Annahme, dass gegebenenfalls im Zusammenhang mit dieser
Rettungsaktion digital zugängliche Listen erstellt wurden, eine dieser fand sich in den Arolsen
Archives, wobei die Akte in polnischer Sprache folgenden Eintrag hinsichtlich des Namens, Datums
und Orts der Geburt, Vornamens der Eltern, letzten gemeldeten Wohnsitzes sowie des Berufs
enthielt: »Alerhandt Augusta; 6.5.10 Bielsko; Leopold, Eugenia; Bielsko; krawo. [=Schneiderin]«285.
Anhand dieser Erkenntnisse fand sich in der Holocaust Suvivors and Victims Database des United

284
»Geheime Verhandlungen zwischen dem Vertreter des Schwedischen Roten Kreuzes, Graf Folke Bernadotte, und
dem Reichsführer SS, Heinrich Himmler, hatte es schon seit Wochen gegeben. (…) Himmler war zu Zugeständnissen
bereit, weil er auf einen Separatfrieden mit den Amerikanern hoffte und seine eigene Haut retten wollte. In diesem
seltsamen Freiraum gelang es mit Verhandlungsgeschick und auch dank der Zivilcourage des Schwedischen Roten
Kreuzes vor Ort, etwa 7500 Häftlinge aus Ravensbrück nach Schweden zu bringen, die genaue Zahl ist bis heute nicht
bekannt. Außer den skandinavischen Frauen handelte es sich um Französinnen, Belgierinnen, Luxemburgerinnen,
Niederländerinnen, Polinnen unter ihnen auch Jüdinnen.« Leo, Annette: Ravensbrück – Stammlager, in: Benz,
Wolfgang/Distel, Barbara [Hg.]: Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band
4: Flossenbürg, Mauthausen, Ravensbrück. München: C. H. Beck 2017, 512.
285
Liste polnischer Flüchtlinge, die sich in Schweden aufhalten und durch die Aktion des Grafen Bernadotte aus deutschen
KZ-Lagern nach Schweden kamen, 15.8.45, Polen, 3.1.1.3 / 348000 / 78815754 / ITS Digital Archive, Arolsen Archives.

66
Übersetzungsprozess: Prämisse des Begreifbar-Machens und Verstehen-Wollens

States Holocaust Memorial Museum ein Eintrag zu Augusta Allerhandt, welcher sich einerseits mit
dem Listeneintrag deckte, sowie andererseits hinsichtlich der Inhaftierungsorte mit dem
Haftkalender Luchterhands übereinstimmte.286 Darüber hinaus wird darauf verwiesen, dass jene
Augusta Allerhandt im Jahr 1996 einem Interview mit der USC Shoa Foundation zustimmte, wobei
sich sowohl das darin enthaltene biografische Profil als auch ihr Zeugnis über die erlittenen
Erfahrungen mit dem Interviewprotokoll von Luchterhand deckt.287 Das Rechercheergebnis und die
damit verbundene Klärung der Identität von »Jennie« führten zu den in dieser Arbeit vertretenen
kritischen Überlegungen hinsichtlich der Rückgabe der Namen. Denn die Entscheidung zur De-
Anonymisierung von Kranebitter und Fleck birgt für einen kumulativen Forschungsprozess die
Möglichkeit einer Kontextualisierung, jedoch ebenso die Gefahr von fälschlichen
Identitätszuschreibungen. Ein Rezensent der Publikation, Dennis Bock, kritisiert die
Vorgehensweise der Herausgeber wie folgt:

»Dennoch wirft dieses Vorgehen aus wissenschaftsethischer Perspektive auch Fragen auf,
werden mindestens in Kapitel 3 der Studie dadurch intime Details eines Probanden bekannt. Auch
wenn eine ›etwaige politische Verfänglichkeit für die Interviewten‹, wie Kranebitter und Fleck als
Erklärung anfügen, ›heute nicht mehr besteh[en]‹ mag, so ist sie für die Nachfahren keineswegs
automatisch suspendiert.«288

Folgt man dieser Kritik, so kristallisiert sich hinsichtlich der fälschlichen Re-Identifikation von
»Jennie«, die Behauptung des Weiterlebens von Gusta Allerhand gegenüber deren
Nachkommen heraus. Dieses Zerrbild wird bei den Lesenden der Publikation durch den
Entschluss der Herausgeber zur Abbildung des von Gusta Allerhand gestellten Ansuchens um
»Ausstellung einer Kennkarte für Juden und um Einweisung in den Judenwohnbezirk Krakau«
verstärkt. Denn auf diesem Dokument finden sich neben dem Passbild von Gusta Allerhand die
Namen und Geburtsdaten ihrer Kinder.289 Die ausführliche Darstellung der Recherche sollte
einerseits als Richtigstellungsbemühung verstanden werden sowie andererseits der
Verdeutlichung der Problematik innerhalb des Re-Identifikationsprozesses dienen. Im Sinne der
Klarstellung sei an dieser Stelle angemerkt, dass es sich bei der unter dem Pseudonym »Louise«
befragten Interviewpartnerin den Rechercheergebnissen zufolge um Alice Wolf, geborene Weil,
geboren am 21.03.1923 in Haigerloch, handelt und nicht um »Alice Rosenrauch, geborene Wolf,
geboren am 26. September 1913 in Bad Cannstatt.«290 Diese Erkenntnis fußt auf dem durch
Luchterhand erstelltem Interviewprotokoll im Vergleich mit den Deportationslisten von Stuttgart

286
Vgl. Augusta Allerhandt, Holocaust Survivors and Victims Database, 4976017/ITS Digital Archive. Accessed at the
United States Holocaust Memorial Museum on 25.03.2021.
[https://www.ushmm.org/online/hsv/person_view.php?PersonId=4976017]
287
Vgl. Allerhandt, Augusta. Interview 13276. Interview by Arnold Levin. Visual History Archive, USC Shoa Foundation,
March 20, 1996. Accessed 25.03.2021.
[https://vha-usc-edu.uaccess.univie.ac.at/viewingPage?testimonyID=13386&segmentNumber=0]
288
Bock, Dennis: Rezension: Luchterhand, Elmer: Kranebitter, Andreas/Fleck, Christian [Hg.]: Einsame Wölfe und stabile
Paare. Verhalten und Sozialordnung in den Häftlingsgesellschaften nationalsozialistischer Konzentrationslager. Wien
2018, in: H-Soz-Kult, 11.09.2019, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-27636.
289
Vgl. Luchterhand, Elmer: Einsame Wölfe und stabile Paare, 115.
290 Luchterhand, Elmer: Einsame Wölfe und stabile Paare, 58.

67
Übersetzungsprozess: Prämisse des Begreifbar-Machens und Verstehen-Wollens

nach Riga291 sowie auf dem Interview von Alice Wolf mit der USC Shoa Foundation.292 Wobei zu
betonen ist, dass die Entscheidung der Herausgeber zur De-Anonymisierung in Verbindung mit
den Kurzbiografien einen wesentlichen Orientierungspunkt innerhalb der Annäherung an die
Interviewpartner*innen von Luchterhand darstellt, aufgrund dessen ist Kranebitter und Fleck im
Sinne der Kontextualität beizupflichten. Der Rückbezug auf die erwähnte numerische
Anonymisierung der Konzentrationslager als Angriff der sozialen Identität sowie Zerstörung der
Menschenwürde – verdeutlicht die Frage nach der Rückgabe der Namen. Die Erinnerung an die
»Untergegangenen« ist das Verdienst der »Geretteten«, die ihnen dadurch gleichsam ein
Denkmal setzen. Die Pseudonymisierung der Überlebenden trägt hingegen wenig zum Gedenken
an jene Menschen bei, die durch ihre engagierten Zeugnisse den Mahlstrom der Konzentrations-
und Vernichtungslager begreifbar machen wollten. Der nationalsozialistischen Auslöschung der
Namen sollte durch die würdigende Nennung der Klarnamen der moralischen Zeug*innen, im
dieser Auseinandersetzung vorangestellten Gedenkraum, entgegengewirkt werden. Im Falle
einer Erwähnung im Fließtext293 werden anstelle der Pseudonyme die Vornamen, als Zeichen
ihrer persönlichen Identität in Form der Namensgebung bei ihrer Geburt respektive ihrer
Entscheidung der bewussten Namensänderung nach den erlittenen Erfahrungen, genannt.

Die Denkfigur des Übersetzungsprozesses verdeutlicht sich im wissenschaftlichen Schreiben


über die nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager und rückt die Menschen
in den Mittelpunkt, welche als »Glieder in den Ketten« unmittelbar aneinander gebunden waren
sowie durch die diskursive Übersetzungsleistung mittelbar verbunden sind. Aus gegenwärtiger
Zeitperspektive gilt es, sich die fluiden Grenzen zwischen den Innen- und Außensichten auf die
Konzentrationslager bewusst zu machen, um den engagierten moralischen Zeugnissen unter der
Prämisse des Begreifbar-Machens auf der Ebene des Verstehen-Wollens zu begegnen.
Dahingehend stellt neben dem Hinterfragen der Tragfähigkeit der Sprache vor allem die stetige
Reflexion der Balance zwischen Engagement und Distanzierung einen wesentlichen Aspekt dar,
um im soziologischen Sinne des Erklären-Wollens, die innerhalb dieses abgründigen kritischen
Prozesses sichtbar werdenden Beziehungsgeflechte anhand eines prozesshaften Analyse- und
Synthesemodells sichtbar zu machen. Dies bekräftigt der jüdische Augenzeuge der
nationalsozialistischen Verfolgung und Soziologe Elias:

»Die Kamera kann als Beispiel dienen. Man ist in der Lage, das Objektiv auf verschiedene
Distanzen einzustellen – auf Nahsicht, auf mittlere Distanz, auf große Entfernungen. Ähnliches
gilt für die Sicht dessen, der zugleich Mitlebender und Forscher ist«294

291
Vgl. Verzeichnis der aus dem Landkreis Hechingen am 27.11.1941 evakuierten Juden, Teilliste, Hauptstaatsarchiv
Stuttgart, EA99/001, Bü235, https://www.statistik-des-holocaust.de/OT411201-Hechingen9.jpg.
292
Vgl. Wolf, Alice. Interview 785. Interview by Rosemarie Levin. Visual History Archive, USC Shoa Foundation,
February 09, 1995. Accessed 30.03.2021.
[https://vha-usc-edu.uaccess.univie.ac.at/viewingPage?testimonyID=52&segmentNumber=0#]
293 Angemerkt sei, dass die in den Interviewprotokollen verwendeten Pseudonyme unter der Prämisse des Schutzes

der persönlichen Integrität im Folgenden ebenso durch den Klarnamen ersetzt werden.
294 Elias, Norbert: Studien über die Deutschen, 7.

68
5 Analyse
Ȇberall, wo sehr viele Menschen zusammengeworfen
werden, unter welchen Umständen und zu welchem
Zweck auch immer, werden sie, um Reibungen zu
vermeiden und die wie auch immer geartete Aufgabe
auszuführen, die diese Situation ihnen abverlangt, bald
ein System von Alltagsroutinen und Kooperationen
entwickeln. Sind sie lange genug zusammen, entsteht
(…) eine mehr oder weniger strukturierte Gesellschaft.
Häftlinge in einem Konzentrationslager sind keine
Ausnahme von dieser Regel.«295

Die Bewusstmachung, dass jene Menschen, die in den nationalsozialistischen


Konzentrationslagern mit dem Ziel der Isolation, der Repression bis hin zur Vernichtung durch
diese »vollendete Sinnlosigkeit«296 zusammengeballt wurden, entschieden versuchten, ihre
Menschlichkeit zu wahren, stellt eine wesentliche Einsicht der vorliegenden Analyse dar. Denn
Menschen, die der Willkür ihrer nationalsozialistischen Peiniger*innen unaufhörlich ausgesetzt
waren, knüpften Beziehungen zueinander, um sich als »Glieder in den Ketten« zu
Überlebenseinheiten zusammenzuschließen und ihr Durchhaltevermögen zu stärken.
Beziehungen, die wandelbar und konfliktgeladen sind, sowie permanent durch das
vorherrschende System des Terrors bedroht wurden, mussten der Härte des Lageralltags
standhalten. Die äußeren Einflüsse zielten darauf ab, die Menschen in »ein Rädchen im riesigen
Getriebe des Nazi-Terrors«297 zu verwandeln, wie Neurath konstatiert:

»Ein Mensch (…) soll niemanden haben, mit dem er reden, und niemanden, dem er zuhören
kann. Sein Leben soll, solange man es ihm lässt, nur noch ein physisches Dahinvegetieren
sein, ohne Erinnerung an die Vergangenheit, ohne Sinn in der Gegenwart und ohne Ziel in der
Zukunft. (…) Aber innerhalb dieser Gesellschaft findet der Mensch wieder einen Sinn für seine
eigene Existenz«.298

Der Soziologe spricht der Häftlingsgesellschaft einen sinnstiftenden Charakter zu, wobei gerade
die eingegangenen Bindungen und Zusammenschlüsse als eine Art innerer Widerstand im
Überlebenskampf gegen den äußeren einwirkenden nationalsozialistischen Terror verstanden
wird. Die zentrale Frage nach diesen spezifischen Beziehungsgeflechten innerhalb der
nationalsozialistischen Konzentrationslager stand im Mittelpunkt der qualitativen
Sekundäranalyse im Stil der Grounded Theory. Anhand des paradigmatischen Modells soll die
analytische Konzeptualisierung verdeutlicht werden, wobei neben dem In-Beziehung-Setzen der
herausgearbeiteten Kategorien auf dimensionaler Ebene ein wesentliches Augenmerk auf

295
Neurath, Paul Martin (1943): Die Gesellschaft des Terrors, 197.
296
Arendt, Hannah: Die vollendete Sinnlosigkeit, in: Geisel, Elke/Bittermann Klaus [Hg.]: Nach Auschwitz. Essays &
Kommentare 1. Berlin: Edition Tiamat 1989, 7-30. Dies ist die deutsche Übersetzung des englischen Originalartikels in
Jewish Social Studies, 12 (1950) 1, 49-64.
297
Neurath, Paul Martin (1943): Die Gesellschaft des Terrors, 199.
298 Ebd.

69
Analyse

exemplarische Auszüge aus den Interviewprotokollen gelegt wird, um den Stimmen der
moralischen Zeug*innen Gehör zu schenken. Denn anhand des analytischen Fadens gilt es, die
Narrationen der erlittenen Erfahrungen der befragten Überlebenden in eine zusammenhängende
Geschichte zu integrieren, in dem Wissen, dass ein Manuskript nie vollendet ist und getragen von
der respektvollen Verantwortung gegenüber den Zeugnissen der Überlebenden.

5.1 Beziehungsgeflechte

Als zentrales Phänomen kristallisieren sich innerhalb der Daten die Beziehungsgeflechte anhand
von 13 Beziehungsformen heraus, welche sich teilweise überschneiden sowie über den zeitlichen
Verlauf wandelbar waren. Innerhalb der Beziehungsgeflechte verbirgt sich gleichsam jenes
Spannungsverhältnis des Menschen, welches Elias anhand der »Wir-Ich-Balance« verdeutlicht.
Denn will sich der Mensch seiner eigenen Identität vergewissern, tut er dies sowohl unter
Bezugnahme auf seine Individualität als auch als soziales Wesen, mit konkreten Wir-Gefühlen
und das darin enthaltene Ausbalancieren stellt »einen integralen Bestandteil des sozialen Habitus
eines Menschen«299 dar. Die gebildeten Figurationen innerhalb des Überlebenskampfes an den
konkreten Orten des Terrors nationalsozialistischer Konzentrationslager stellen keineswegs eine
Ausnahme dar. Wesentlich ist, dass sich Ich- und Wir-Identität komplementär zueinander
verhalten und lediglich »die Gewichte der Ich-Wir-Balance, die Muster der Ich-Wir-Beziehung sind
wandelbar.«300 Die im Mahlstrom der Konzentrationslager entstandenen Häftlingsgesellschaften
beinhalten im Sinne von Elias ebenso »die allgemeinen Kennzeichen von strukturierten
Figurationen mit Unterfigurationen auf mehreren Ebenen«301, wobei die Frage nach der Balance
zwischen Konflikt und Kooperation sowie nach der Reziprozität der Bindung kontinuierlich
mitbedacht werden muss. In einem ersten Schritt werden die im Datenmaterial sichtbar
gewordenen Beziehungsgeflechte in nachstehender Tabelle veranschaulicht sowie mit ihrem
jeweiligen Bedeutungsgehalt verzahnt.

Beziehungsform Bedeutungsgehalt

Einzelgänger*in Diese Kategorie bezieht sich auf gewolltes respektive ungewolltes


Einzelgängertum, im Sinne von Elias auf das »wirlose Ich«.

Gefährtin Die Gefährtenschaft wurde geschlechtsspezifisch kategorisiert und meint

Gefährte zwei Menschen, die durch das geteilte Schicksal freiwillig eine wachsende
Verbundenheit aufbauten, sowie sich als Wegbegleiter*innen
gegenseitige Hilfestellungen und Unterstützungen zuteilwerden ließen.

Paarbeziehung Diese Beziehungsform reicht von Sexualpartnerschaften über


Liebesbeziehungen bis hin zu Ehen.

299 Elias, Norbert: Die Gesellschaft der Individuen, 245.


300
Ebd., 247.
301 Elias, Norbert: Engagement und Distanzierung, 151.

70
Analyse

Familie Diese Kategorie umfasst jene, die in einer Familien- oder


Verwandtschaftsbeziehung zueinander standen. Diese Art der
Überlebenseinheit beinhaltet sowohl die Frau-Mann-Beziehung sowie
Eltern-Kind-Beziehung und vice versa als auch Geschwister-
Beziehungen. Es handelt sich hierbei um familiäre Wir-Beziehungen.

Gruppe Der freiwillige Zusammenschluss von drei oder mehr Menschen, um das
geteilte Schicksal durch gemeinsame Zielsetzungen zu bewältigen und
durch die spezifische Rollendynamik sowie Gruppenkonstellation deren
Überlebenschancen zu verbessern.

Feindschaft Hier wurden Feindseligkeiten kategorisiert, die sowohl auf individueller als
auch auf kollektiver Ebene sichtbar wurden, die Bewältigung dieser
Konflikte respektive des Eskalationsprozesses war an die jeweilige
Reziprozität sowie an Machtbalancen gebunden.

Funktionshäftling Diese Kategorie bezieht sich auf jene die innerhalb der sogenannten
»Häftlingsselbstverwaltung« eine Kontroll-, Ordnungs- oder
Verwaltungsaufgabe innehatten sowie auf persönliche Erfahrungen mit
Funktionshäftlingen.

Arbeitskommando Diese willkürlich zusammengesetzten Arbeitsgruppen unterlagen der SS-


Zuteilung und waren wiederum Funktionshäftlingen unterstellt, wobei ein
Wechsel des Arbeitskommandos ein schwieriges Unterfangen darstellt
und abhängig von der Nutzbarmachung von Netzwerken war.

Etablierte Hier wird auf die Sichtbarwerdung der Beziehungsgeflechte zwischen


„alten“ Häftlingen und Neuankömmlingen bezuggenommen. Im Sinne von
Elias zeigt sich innerhalb der Häftlingsgesellschaften die Dynamik von
Etablierten-Außenseiter-Beziehungen.

Blockgemeinschaft Diese unfreiwillige Zusammenballung in Form von


Zwangsgemeinschaften der jeweiligen Blöcke folgte bei der Zuteilung vor
allem den Häftlingskategorien respektive SS-Kennzeichnungen.

Häftlingsorganisation Diese Art der Bindung bezieht sich auf nationale Zusammenschlüsse
sowie auf politische Häftlingsgruppen, hier werden ebenso Tätigkeiten
des Häftlingsuntergrunds sichtbar.

Häftlingsgesellschaft Diese Gesellschaftskategorie meint die Gesamtpopulation eines


spezifischen Konzentrationslager zu einem bestimmten Zeitpunkt.

Tabelle 3: Analyse: 13 Beziehungsformen und deren Bedeutungsgehalt

Die Erinnerungen der befragten moralischen Zeug*innen spiegelten die Vielschichtigkeit der
Häftlingsgesellschaften anhand der Beziehungsformen auf unterschiedlichen Figurationsebenen
wider. Wesentlich ist hierbei, die Frage nach den spezifischen Eigenschaften der jeweiligen

71
Analyse

Beziehungsformen. Hinsichtlich des Einzelgängertums zeigte sich, dass die Befragten meist
ungewollt in den Gefühlszustand eines »wirlosen Ichs« gerieten. Diese Wirlosigkeit äußerte sich
in einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Vereinsamung, die auf einer situationsbedingten
Unfähigkeit Beziehungen zu entwickeln basierte.302 Vorwiegend wurde diese ungewollte
Einsamkeit durch Isolations-, Deportations- und Transportsituationen provoziert, wie
beispielsweise bei Otto, der nahezu ein Jahr im Krankenbau des KL Buchenwald verbrachte.
Denn aufgrund der durchgeführten TBC-Experimente an den Häftlingen litt er an einer
Rippenfellentzündung, die damit einhergehende Isolation äußerte sich im erinnerten Gefühl der
Einsamkeit.303 In Bezug auf die Gefährtenschaft sei angemerkt, dass dieser Terminus in
Anlehnung an Primo Levi gewählt wurde, dieser spricht in seinen Werken von seinen Schicksals-
respektive Leidensgefährten. Die Gefährt*innen schlossen sich freiwillig zu diesen kleinen
Überlebenseinheiten zusammen und versuchten eine Stabilität ihrer Bindung über einen längeren
Zeitraum zu entwickeln. Hinsichtlich der Paarbeziehungen stellte sich einerseits die Frage, ob
diese sexuellen Beziehungen bereits vor der Deportation bestanden haben oder erst in den
Konzentrationslagern entstanden sind. Andererseits wurde zwischen reinen
Sexualpartnerschaften, Liebesbeziehungen und Ehen unterschieden. Eine spezifische Form von
Überlebenseinheit stellte die Familie dar, wobei diese Bindungen in der Regel durch den
nationalsozialistischen Terror zerschlagen wurden und dadurch lediglich familiäre Teileinheiten
wie Geschwister oder Vater und Sohn in Form einer familiären Gefährtenschaft erhalten blieben.
Interessant ist, dass sich der Zusammenschluss zu einer Gruppe häufig um eine bereits
bestehende dyadische Einheit entwickelte. Als Zwangsgemeinschaften können sowohl die
Arbeitskommandos als auch die Blockgemeinschaften begriffen werden. Die Schwierigkeit, die
damit verbundene SS-Zuteilung zu beeinflussen, veranschaulicht Kogon:

»Innerhalb des Kommandos einen besseren Arbeitsplatz zu bekommen, hing ganz vom Kapo
und den Vorarbeitern ab. In der Regel waren sie bestechlich. Um aber aus einem Kommando
heraus- und in ein anderes hineinzukommen, bedurfte es sehr komplizierter und guter
Beziehungen. (…) Praktisch ging es also überhaupt nur illegal, indem man sich von den
Kommandoschreibern im Einverständnis oder noch besser auf Anweisung des Kapos
›umbuchen‹ und sich von Kameraden in der Arbeitsstatistik die Karteikarte ändern liess [sic].«304

Eine weitere Willkür äußerte sich in der Zuteilung zu den Baracken respektive Blöcken, wobei
sich diese Teilung an der jeweiligen Nationalität sowie zugewiesenen Häftlingskategorie
orientierte. Die Baracken wurden ebenso von Funktionshäftlingen überwacht, Blockälteste sowie
diverse Hilfskräfte achteten penibel auf die Einhaltung der SS-Vorschriften innerhalb der meist
überfüllten Blöcke, um Kollektivstrafen zu vermeiden. Neuzugängen wurden von
Funktionshäftlingen eingewiesen und wurden einer Pritsche zugeteilt, wie sich Friedel an die

302 Elias, Norbert: Die Gesellschaft der Individuen, 268f.


303 Vgl. Interviewprotokoll 11 »Karl«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I,
Series 1, Box 1, pag. 8f.
304 Kogon, Eugen (1946): Der SS-Staat, 89f.

72
Analyse

Schlafsituation in Auschwitz in einem Interview mit Fern Niven erinnert: »We had to line up at
night all six or eight of us and when one of us wanted to turn the entire group had to turn.«305
Gegenüber Luchterhand erwähnte Friedel darüber hinaus eine andere Bettnachbarin, welche
flüchtete und sie dadurch in erhebliche Gefahr brachte. Denn die drohende Tötung als
vermeintliche Mitwisserin respektive SS-Geisel konnte nur durch ein von der Blockgemeinschaft
mitgetragenes und geschickt geplantes Alibi für Friedel verhindert werden.306 Hingegen erinnerte
sich Moritz durchwegs positiv an dessen Bettnachbarn und erwähnt folgendes Ritual:

»There were standard expressions that had some importance for the cohesiveness of the group.
Moritz might say to the man in the bunk above ›Herbert, good night to you. What is new in
Düsseldorf?‹ For Moritz this pattern of association with bunk neighbors was (…) a kind of enforced
fellowship.«307

Inmitten der divergierenden Häftlingsgesellschaften wurden die sogenannten Neuankömmlinge


bereits während der Einweisungsprozedur mit Funktionshäftlingen konfrontiert und danach mit
der Ablehnung ihrer Mithäftlinge, die bereits über mehr Lagererfahrung verfügten und ihre
unvorsichtige Ahnungslosigkeit misstrauisch beäugten. Die Häftlingsveteran*innen, ob
gewöhnliche oder etablierte Gefangene, verstärkten die ersten und schwersten Lagertage häufig
durch Ignoranz, Hohn, Spott sowie durch diverse Initiationsriten, wie Levi konstatiert, denn viele
der »Alten« verpassten den »Neuen« eine Art Sündenbockstatus.308

»Es ist möglich, daß die Feindseligkeit gegenüber dem Zugang im wesentlichen [sic] wie jede
andere Intoleranz begründet war, nämlich in dem unbewußten Versuch, das ›wir‹ auf Kosten der
›anderen‹ zu festigen, also jene Solidarität unter den Unterdrückten zu schaffen, deren
Nichtvorhandensein Ursache zusätzlicher Leiden war«.309

Hier wird ein Phänomen sichtbar, welches von Elias als Etablierten-Außenseiter-Beziehung
bezeichnet hat, deren Figuration auf einer ungleichen Machtbalance gründet und primär anhand
der Inhaftierungsdauer innerhalb des jeweiligen Lagers differenziert wurde. Die Neuankömmlinge
mussten sich im Lageralltag und in der Häftlingsgesellschaft erst zurechtfinden, die
vorherrschenden Normen verinnerlichen und nicht zuletzt den Überlebenskampf der ersten und
meist entscheidenden Monate bewältigen, um Erfahrungen und Beziehungen zu generieren
sowie eine stetig wandelbare Position innerhalb der Häftlingshierarchie zu besetzten. Denn der
Kern dieser dynamischen Etablierten-Außenseiter-Figuration ist im Sinne von Elias »die
Möglichkeit, soziale Positionen mit einem hohen Machtgewicht für die eigenen Leute zu

305
Transcript: USHMM, Accession Number: 1992.A.0127.27 | RG Number: RG-50.154.0027, Oral history interview
with Friedel Treitel, 1986 May 16, Interviewer Fern Niven, Accessed at the United States Holocaust Memorial Museum
on 29.03.2021. [https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn510734], 21f.
306
Vgl. Interviewprotokoll 18 »Greta«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I,
Series 1, Box 1, pag. 2-6.
307 Interviewprotokoll 50 »Warren«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I,

Series 1, Box 1, pag. 4.


308
Vgl. Levi, Primo (1986): Die Untergegangenen und die Geretteten, 36f.
309 Ebd.; Hervorhebung im Original.

73
Analyse

reservieren, was seinerseits ihren Zusammenhalt verstärkt«310. Dies gelang vorwiegend den
Häftlingsveteran*innen, die für ihre Mitgefangenen als Funktionshäftlinge zur Gefahr, aber auch
zu Lebensretter*innen avancierten. Jedoch war der Status etablierter Häftlinge permanent
gefährdet, wie Vratislav erinnerte, »that old prisoners, when admitted to another camp, had to
establish anew the basis for their survival.«311 Denn innerhalb der nationalsozialistischen
Konzentrationslager war der Mensch aufgrund der äußeren Einflüsse permanent bedroht
ungewollt auf das Dasein eines wirlosen Ichs zurückgeworfen zu werden.

5.2 Ursache: Stressoren und Reaktionen

Der nationalsozialistische Terror wirkte weit vor der Deportation in ein Lager auf die
Lebenswirklichkeit der Verfolgten ein, dennoch stellte vor allem der »wohlorganisierte Schock der
ersten Stunden«312 einen entscheidenden Bruch für die Betroffenen dar. Ab dem Zeitpunkt der
Verhaftung waren die Opfer der Willkür ihrer Peiniger*innen unaufhörlich ausgesetzt, dies wurde
begleitet von gezielt provozierten Stressoren, die durchzogen von Gewalt den Menschen
unaufhörlich den Rückgriff auf Widerstandsressourcen abverlangt. Der daraus resultierenden
Spannungszustände sowie die Begleitreaktionen der Überlebenden haben sich innerhalb der
vorliegenden Analyse als ursächliche Bedingungen für das Festhalten an respektive Entwickeln
von sozialen Beziehungen herauskristallisiert, wie nachstehende Abbildung veranschaulicht.

Abbildung 2: Kodierparadigma: Detailansicht ursächliche Bedingungen

310
Elias, Norbert: Zur Theorie von Etablierten-Außenseiter-Beziehungen, in: Elias, Norbert/Scotson, John L.: Etablierte
und Außenseiter, 10. Auflage, Berlin: Suhrkamp 2020, 12.
311 Interviewprotokoll 36 »Steve«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series

1, Box 1, pag. 15.


312 Arendt, Hannah: Konzentrationsläger, 324.

74
Analyse

Die Stressoren wirken sich in Anlehnung an Antonovsky sowohl exogen als auch endogen in
Form von physikalischen, biochemischen und psycho-sozialen Reizen auf die Häftlinge aus.313
Wesentlich ist, dass die äußeren und inneren Einflüsse durch physische und psychische Gewalt
begleitet respektive verstärkt werden. Darüber hinaus zeigten die Erinnerungen der
Überlebenden ein breites Spektrum physikalischer Reize, welche unmittelbar mit psycho-sozialen
Stimuli verzahnt waren. Die erlittenen Erfahrungen vor der Deportation reichten von
nationalsozialistischen Straßenaktionen und Novemberpogromen über Emigrationsversuche bis
hin zu Untergrund-, Gefängnis- und doppelten Hafterfahrungen. Einer besonders perfiden Qual
respektive schweren Misshandlung war August während seiner Inhaftierung wegen Hochverrats
1933 in seiner Heimatstadt ausgesetzt.

»The SA beat him for 12 hours and poured castor oil down his throat, bound him to an ox and led
him through the city (August showed the interviewer a picture published in a Swiss newspaper,
of this last bizarre torture.) Despite the violent and prolonged beating and the strain of the tour of
the city streets August did not lose consciousness until he was brought back to the cell.«314

In Bezug auf die Deportationserfahrung zeigte sich, dass die Mehrheit der Befragten diese
Situation gemeinsam mit ihren Familien, Freunden oder Bekannten durchlebten, wobei acht der
Überlebenden von ihren Familien getrennt wurden und drei gänzlich auf sich allein gestellt waren.
Die Einweisungsprozedur sowie die erste Selektionserfahrung stellten vor allem in Auschwitz
einen überwältigenden psycho-sozialen Reiz dar. Die damit verbundene Verlusterfahrung von
Familie und Freunden, die Realisation deren Tötung sowie die Wegnahme der Habseligkeiten,
der Haare und des Namens gepaart mit den erschütternden ersten Eindrücken innerhalb des
jeweiligen Lagers begleitet von Lärm, Hektik und permanenter Getriebenheit durch Gewalt
konnten kaum erfasst noch kompensiert werden. Rolf, dessen schwangere Frau in der
Gaskammer von Auschwitz-Birkenau ermordet wurde sowie Henry und Herbert, die an der
Rampe von Auschwitz für immer von ihren Frauen und Kindern getrennt wurden, wollten dieses
Ausmaß des Grauens nicht wahrhaben.

»The first night upon arrival Herbert wept and he recalls that the next day the prisoner who cut
his hair told him the fate of his wife and children and step cousin. Herbert states that he did not
believe this was true, and he wasn’t really shocked at the time because he didn’t believe it.«315

Das Schicksal der Frauen mit Kindern war bei der Ankunft in einem Vernichtungslager bereits
besiegelt, denn »von Ausnahmen abgesehen, [hatten] nur kinderlose, junge und gesunde Frauen

313 Vgl. Bengel, Jürgen: Was erhält Menschen gesund? Antonovskys Modell der Salutgenese – Diskussionsstand und

Stellenwert. Eine Expertise von Jürgen Bengel, Regine Strittmacher und Hildegard Willmann, Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung [Hg.]: Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung, Band 6, Köln: BZgA 2001, 32-34.
314 Interviewprotokoll 41 »Richard«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I,

Series 1, Box 1, pag. 2f.


315
Interviewprotokoll 19 »Philip«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series
1, Box 1, pag. 3.

75
Analyse

eine geringe Chance, das Lager zu überleben.«316 Darüber hinaus prägte sich die Entwürdigung
der ersten Stunden in besonderer Weise in die Erinnerung der weiblichen Befragten ein, denn die
körperliche Erniedrigung der Einweisung verbunden mit dem Scheren der gesamten
Körperbehaarung ging einher mit dem Gefühl der Zerstörung der Weiblichkeit. Haydee, die ihren
Ehemann verloren hatte, konnte den provozierten Spannungszuständen der
Einweisungsprozedur kaum Widerstandsressourcen entgegensetzten.

»(…) she recalls her shock at having her head shaven, and mentions that she ›sat with her curls in
her lap, weeping.‹ [T]he violent beatings, and the sight of corpses seem to have made her indifferent
about living or dying, and, for the one time in her camp life, indifferent about her appearance.«317

Hinzu kam, dass in Auschwitz-Birkenau die Wegnahme des Namens durch die Tätowierung der
Nummer verstärkt wurde, diese Prozedur stellte vor allem für gläubige Jüd*innen einen
aufgezwungenen Verstoß gegen die Vorschriften der Thora dar, wie Suderland konstatiert.318
Wobei John, ein Gatekeeper Luchterhands und konservativer Jude, retrospektiv betont: »The
numbers were only given to people, who lived. They didn’t give no numbers to the people, who
were shoved in the gas chamber.«319 Ebenso verband Augusta mit der tätowierten
Häftlingsnummer eine starke Überlebenshoffnung.320 Die Bewältigungsfähigkeit der durch
unzählige Stressoren provozierten Spannungszustände wurde vor allem in den ersten Tagen an
den Orten des Terrors auf härteste Proben gestellt. Die Häftlinge waren als Neuankömmlinge mit
Zwangsarbeit, Hunger, Schlafentzug und unzähligen Umgebungsreizen konfrontiert sowie der
Eingliederung in dieses System der Bestrafung und Folter ausgesetzt. Eine besondere Belastung
stellte neben der unmittelbaren körperlichen Gewalterfahrung die Zeugenschaft von Gräueltaten
des SS-Wachpersonals und die damit verbundene Hilflosigkeit dar. Gewalttaten, Ermordungen
und Vernichtungen dar. Steven zeigte während nachstehender Erinnerung sichtbare körperliche
Reaktionen des Grauens:

»Soon after his induction a girl was whipped brutally before the assembled prisoners. After the
beating an SS man thrust a stick into her genitals and tortured her until she was dead.«321

316
Distel, Barbara: Frauen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern – Opfer und Täterinnen, in: Wolfgang
Benz/Barbara Distel [Hg.]: Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 1:
Die Organisation des Terrors, München: C. H. Beck 2005, 198.
317 Interviewprotokoll 12 »Amy«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series

1, Box 1, pag. 3.
318 »Für die jüdischen Inhaftierten kommt hinzu, dass es ihnen auf Grund religiöser Vorschriften der Thora verboten

ist, Tätowierungen oder andere bleibende Zeichen auf der Haut anzubringen.« Suderland, Maja: Ein Extremfall des
Sozialen, 172.
319
Fink, John. Interview 11006. Interview by Phyllis Dreazen. Visual History Archive, USC Shoa Foundation, January
16, 1996, Tape 3, SEQ 73-74, TC: 00:12:53-00:13:00, Accessed 22.08.2021.
[https://vha-usc-edu.uaccess.univie.ac.at/viewingPage?testimonyID=10487&segmentNumber=0#]
320
»They put the number on and everybody said to the next one: ›In heaven, now we will live.‹« Allerhandt, Augusta.
Interview 13276. Interview by Arnold Levin. Visual History Archive, USC Shoa Foundation, March 20, 1996, Tape 2,
SEQ 13, TC: 00:21:07-00:21:13, Accessed 25.03.2021.
[https://vha-usc-edu.uaccess.univie.ac.at/viewingPage?testimonyID=13386&segmentNumber=0]
321
Interviewprotokoll 8 »Ben«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series
1, Box 1, pag. 2.

76
Analyse

Einen weiteren Stressor stellten biochemische Reize dar, denen vor allem jene Häftlinge
ausgesetzt waren, die in Fabriken für die Rüstungsproduktion abkommandiert wurden. Denn
durch die fehlende Schutzkleidung wurden die Zwangsarbeiter*innen einer enormen Belastung
ausgesetzt und die Sterblichkeit war dementsprechend hoch. Die Befragten erwähnten in diesem
Zusammenhang die Gefahr von der in der Munitionsproduktion verwendeten Pikrinsäure, welche
die Haut der Häftlinge zitronengelb färbte und innerhalb dieser Arbeitskommandos niemand
länger als drei Monate überleben konnte. Die Pikrinsäure wurde in den Fabriken sowohl über die
Haut aufgenommen als auch eingeatmet und ging neben der Färbung von Haut und Nägeln mit
weiteren toxischen Symptomen einher. Denn die Vergiftung belastete Lunge, Magen, Darm und
Herz der Betroffenen, führte zu Erschöpfungserscheinungen, bitterem Mundgeschmack,
Kopfschmerzen sowie Brechreiz und färbte den Urin gelbrot oder braunrot. Die toxische Wirkung
tritt bereits bei der Belastung mit einigen Gramm des hochexplosiven Giftes auf und der Tod
äußert sich in Form von Herzversagen.322 Hier zeigt sich darüber hinaus der permanente
Vernichtungsdruck, welcher als psychischer Spannungszustand unaufhörlich auf die Häftlinge
einwirkte. Die endogenen und exogenen Stressoren werden begleitet respektive verstärkt durch
physische und psychische Gewalt, wobei diese im Sinne Galtungs vorwiegend als direkte
personale Gewalt begriffen werden kann. Diese äußert sich auf der körperlichen Ebene als
struktur- und funktionsbezogene Gewalt, wobei letztere auf den Entzug von lebensnotwendigen
Bedürfnissen sowie auf die Einengung des menschlichen Körpers abzielt. Die strukturbezogenen
Gewalt wird durch Einsatz menschlicher Kraft und technischer Hilfsmittel verwirklicht. Die
psychische Gewalt ist eng an die physische gebunden, kommt es zu Androhungen von
körperlicher Gewalt, so ist dies eine Form der psychischen Gewalt,323 wie sich Sidney erinnerte:

»His breakdown occurred after SS guards threatened to set fire to the place with gasoline. The
threat was made because of the terrific noise coming from the quarantine huts. The death toll in
this period in the quarantine barracks was extremely high, because of the punishment exercises
and the shock experiences which prisoners had endured in transport and at the time of arrest.«324

Der psychische Zusammenbruch stellt eine unmittelbare Reaktion dar, welche sich in Form eines
situativ nicht kompensierbaren Spannungszustandes ausgelöst durch die Stressoren in Verbindung
mit Gewalt äußert. Wesentlich ist, dass sich Gewalt innerhalb der Konzentrationslager auf
unterschiedlichen Ebenen verwirklichte, zuallererst und vorwiegend auf vertikaler Ebene, hier
werden die unzähligen Gewalthandlungen des SS-Wachpersonals gegen die Häftlinge verortet.
Jedoch gilt es ebenso die laterale Ebene zu berücksichtigen, um die gewalttätigen Übergriffe der
Funktionshäftlinge gegenüber ihren Mitgefangenen fassbar zu machen. Darüber hinaus werden auf

322
Vgl. Handwörterbuch der Gerichtlichen Medizin und Naturwissenschaftlichen Kriminalistik. In Gemeinschaft mit
Zahlreichen Fachgenossen des In- und Auslandes. [Hg.]: Neureiter, Ferdinand von/ Pietrusky, Friedrich/Schütt,
Eduard. Berlin/Heidelberg: Springer 1940, 570. Es ist der Autorin bewusst, dass die Herausgeber hochrangige
Mitglieder des NS-Ärztebundes waren, jedoch verdeutlicht sich dadurch das komplexe Wissen der Täter*innen über
die begangenen Verbrechen.
323 Vgl. Galtung, Johan: Strukturelle Gewalt, 10-19.
324
Interviewprotokoll 24 »Jacob«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series
1, Box 1, pag. 3.

77
Analyse

horizontaler Ebene die sichtbar gewordenen Gewalterfahrungen unter den gewöhnlichen


Häftlingen differenziert. Ebenso wirkte sich die räumliche Umgebung als spezifische Gewaltform
auf die Gefangenen aus, denn die Wahrnehmung der Gaskammern und Krematorien sowie die
unerträglichen Gerüche als auch der permanente Lagerlärm und die erschütternden Schreie von
Mitgefangenen, manifestierten sich als äußere Reize im psychischen Erleben der Betroffenen.
Margaret, die aufgrund von ausländischen Papieren gemeinsam mit ihrer Familie im sogenannte
»Sternlager« von Bergen-Belsen, als Geisel für den Austausch mit dem feindlichen Ausland
festgehalten wurde, erfüllte die räumliche Umgebung mit Angst.

»(…) she experienced considerable anxiety regarding camp life in Belsen. (…) From the small
special camp one could see all of the horror of severe concentration camp conditions, and one
could hear screaming and shouting, day and night.«325

Es zeigte sich, dass Stressoren in Verbindung mit Gewalt erhebliche Spannungszustände


auslösten, welche von physischen und psychischen Reaktionen begleitet wurden. Die
bedrohlichen Stimuli lösten bei den Überlebenden situationsbedingte Gefühlszustände aus, im
Sinne von Antonovsky lassen sich die Emotionen entweder als zielgerichtet oder schwer
regulierbar begreifen.326 Die permanente Anspannung löste im Zusammenhang mit bedrohlichen
Ereignissen bei 17 der Befragten Angstzustände aus, jedoch konnten diese mehrheitlich
kontrolliert werden und lösten nur in seltenen Fällen Schock- oder Panikverhalten aus. Von den
Überlebenden erinnerten sich acht an Zeiträume, in denen sie sich in depressiven respektive
apathischen Zuständen befanden, wobei dies meist mit schockierenden Erlebnissen oder
körperlicher Schwäche einherging. »Die Apathie, die Abstumpfung des Gemüts, die innere
Wurstigkeit und das Gleichgültigwerden [sic]«327 zeigte sich bei Haydee im Zusammenhang mit
dem Transport von Freiberg nach Mauthausen: »I didn’t feel hungry. I was very weak. If I died on
a day like one of those, I wouldn’t feel it.«328 Die emotionale Lage jener Frauen, die gemeinsam
mit ihren Kindern in die Lager deportiert wurden, war geprägt durch die Sorge um ihre Töchter
und Söhne, wie sich Margot an die erste Selektionserfahrung im Ghetto Lodz erinnerte: »At that
time she was terrified at the possibility of losing her husband or son. At this time her son was
emaciated, and she was especially apprehensive about his being taken.«329 Besonders in
Extremsituationen empfanden die Überlebenden ab und an Hilflosigkeit, jedoch ebenso Ärger
respektive Wut gegenüber ihren Peiniger*innen, dennoch versuchten sie ihre Haltung zu
bewahren. Hinsichtlich der empfundenen Wut zeigte sich, dass diese mehrheitlich von den
Befragten kontrolliert werden konnte sowie vorwiegend gegenüber dem SS-Wachpersonal

325
Interviewprotokoll 21 »Paula«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series
1, Box 1, pag. 6.
326 Vgl. Bengel, Jürgen: Was erhält Menschen gesund? Antonovskys Modell der Salutgenese – Diskussionsstand und

Stellenwert, 33f.
327
Frankl, Viktor E.: … trotzdem Ja zum Leben sagen, 45.
328 Interviewprotokoll 12 »Amy«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series

1, Box 1, pag. 4.
329
Interviewprotokoll 16 »Selma«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I,
Series 1, Box 1, pag. 3.

78
Analyse

empfunden wurde. Dennoch kam es ab und an zu Wutausbrüchen, in denen der unkontrollierbare


Gefühlszustand durch Gewalt gegenüber den Mithäftlingen kompensiert wurde. Besonders
schwer zu ertragen, war die Zeugenschaft von SS-Gräueltaten, denn in diesen Momenten paarte
sich Hilflosigkeit mit unterdrückter Wut, wie sich Eric erinnerte:

»(…) he states that he was ›wild with anger‹ involved the behavior of SS men who went into the
children’s barracks just across the way from where Eric lived and told the youngsters who ranged
from six to ten years of age (there were 400 of them) that they were to be gassed and burnt. The
kids were wild with fear and SS men shot into the group.«330

Darüber hinaus waren die Körper der Häftlinge enormen Belastungen ausgesetzt, dies wurde
zusätzlich durch Strafen sowie Extremsituationen verstärkt, wobei Erschöpfung, Krankheit oder
Verletzungen die Gefahr bargen, an die Grenze zwischen Leben und Tod zu geraten. Es gab in
den Konzentrationslagern zwar Krankenbaracken respektive »Schonungsblöcke«, jedoch stieg
bei einem Aufenthalt im Krankenbau die Bedrohung für die Vernichtung selektiert zu werden.
Darüber hinaus bedeutet eine Einweisung den Verlust aller mühevoll erkämpften Habseligkeiten,
denn der Eintritt in die Krankenbarracken erfolgte nackt und die Entlassung glich einem
vollständigen Neustart. Denn die Männer und Frauen hatten nun erneut nichts außer
unpassender Häftlingsbekleidung sowie zu weites oder zu enges Schuhwerk und mussten sich
Löffel, Messer und sonstige überlebenswichtige oder -fördernde Dinge beschaffen. Zurück in den
Lageralltag geworfen sahen sich die kaum Genesenen mit einer Wiedereingewöhnung
konfrontiert, in einer anderen Blockgemeinschaft an den unteren Rand gedrängt sowie einem
anderen Arbeitskommando unterstellt.331 Im Zusammenhang mit den bereits erwähnten
Vergiftungen ausgelöst durch die Fabrikarbeit, erinnert sich Mary an ihre Zeit im größten Frauen-
Außenlager des Konzentrationslagers Groß-Rosen332, denn im Winter 1944 brach im
Zwangsarbeitslager Christianstadt eine schleierhafte Krankheit aus.

»The individual concerned would fall down, lose control of the eyes and speech organs, froth at
the mouth, and become rigid. The attacks were sudden and three days later the patients were
apparently completely recovered. Upon recovery they had no recollection of any illness.«333

Die Krampfanfälle können als ein sogenannter bilateraler tonisch-klinischer epileptischer Anfall
eingeordnet werden, welcher einerseits durch die Lagerumstände und die daraus resultierende
körperliche Verfassung der Frauen begünstigt wurde. Andererseits hantierten die weiblichen
Häftlinge in der Munitionsfabrik ohne geeignete Schutzausrüstung mit hochgiftigen
Sprengstoffen, wobei das produzierte Hexogen starke Effekte auf das Zentralnervensystem

330
Interviewprotokoll 29 »Herman«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I,
Series 1, Box 1, pag. 3.
331
Vgl. Levi, Primo (1947): Ist das ein Mensch?, 45-55.
332
Siehe hierzu: Rudorff Andrea: Christianstadt (Krzystkowice), in: Wolfgang Benz/Barbara Distel [Hg.]: Der Ort des
Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 6: Natzweiler, Groß-Rosen, Stutthof,
München: C. H. Beck 2007, 270-275.
333
Interviewprotokoll 42 »Leila«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series
1, Box 1, pag. 8.

79
Analyse

haben und ebenso eine toxische Enzephalopathie als auch die beschriebenen Krampfanfälle
auslösen kann.334 Darüber hinaus führten Krankheiten, Verletzungen oder Zeiten extremer
Entbehrungen häufig zu einem todesnahen körperlichen Zustand, welcher begleitet vom dumpfen
Gefühl der Apathie die Betroffenen von der Entwicklung potentieller Überlebensstrategien
abgeschnitten hat. Während ihrer Lagerzeit gerieten vier der befragten Frauen in das Stadium
eines »Muselweibes« und zwölf der männlichen Überlebenden berichteten über ihr Muselmann-
Dasein, wobei zwei der Überlebenden zum Zeitpunkt der Befreiung in dieser Verfassung waren.
Entgegen der weitverbreiteten gesellschaftlichen Sichtweise zeigte sich, dass die
Interviewpartner*innen trotz dieser Todesnähe im Sinne Antonovskys Widerstandsressourcen für
eine erfolgreiche Spannungsbewältigung mobilisieren konnten. Die Widerstandsfähigkeit wird
neben körperlichen, geistigen sowie kulturellen Faktoren ebenso von kognitiven Wahrnehmungen
und dem Vorhandensein sozialer Unterstützung beeinflusst.335 Hinsichtlich der beschriebenen
ursächlichen Bedingungen in Form von Stressoren, welche begleitet von Gewalt einen
Spannungszustand provozierten, konnte festgestellt werden, dass die befragten Überlebenden
versuchten, Ressourcen mittels sozialer Beziehungen zu aktivieren.

5.3 Intervention: Erfahrung – Zeit-Raum – Grauzone

Innerhalb des nationalsozialistischen Lagersystems werden neben den ursächlichen Faktoren


ebenso intervenierende Bedingungen sichtbar, welche einen Einfluss auf die
Beziehungsgeflechte sowie die Bewältigungsstrategien haben. Diese Interventionen können als
gegebene Umstände begriffen werden, die sich fördern oder hemmend auf die individuellen
Handlungsräume als auch auf die Interaktionsmöglichkeiten innerhalb der
Häftlingsgesellschaften auswirken. Dahingehend kristallisierten sich in den Narrationen der
Überlebenden drei wesentliche Aspekte heraus, die in nachstehender Abbildung
veranschaulicht werden. Erstens die mitgebrachte Erfahrung, die im Sinne von Elias als
»soziale Persönlichkeitsstruktur« respektive »sozialer Habitus« begriffen werden kann und auf
der »Ich-Wir-Identität« basiert sowie die Herausbildung spezifischer Überlebenseinheiten
befördert.336 Zweitens kann sich Zeit respektive die divergierenden Phasen im Sinne des
Funktionswandels der nationalsozialistischen Konzentrationslager sowie Raum in Form des
jeweiligen Ortes des Terrors fördernd oder hemmend auswirken. Drittens werden die
Bewältigungsstrategien durch die Grauzone337 beeinflusst, jenem Raum zwischen Opfer und
Täter*innen, welcher keineswegs leer blieb und in welchem permanent Machtbalancen
ausgehandelt wurden, um die Reichweite des Entscheidungsspielraumes auszuloten sowie die
Häftlinge in die »Selbstverwaltung« drängte.

334
An dieser Stelle gilt mein Dank Dr. med. Georg Grömer für seine medizinische Expertise hinsichtlich der Einordnung
dieser spezifischen Vergiftungserscheinungen. [vgl. E-Mail von Georg Grömer an die Autorin, 14.10.2021]
335 Vgl. Bengel, Jürgen: Was erhält Menschen gesund? Antonovskys Modell der Salutgenese – Diskussionsstand und

Stellenwert, 36.
336
Elias, Norbert: Die Gesellschaft der Individuen, 244f.
337 Vgl. Levi, Primo (1986): Die Untergegangenen und die Geretteten, 33-69.

80
Analyse

Abbildung 3: Kodierparadigma: Detailansicht intervenierende Bedingungen

Hinsichtlich der mitgebrachten Erfahrungen zeigten sich drei wesentliche Aspekte, welche sich
sowohl auf die Entwicklung sozialer Beziehungen als auch auf die Bewältigungsstrategien
innerhalb des täglichen Überlebenskampfes auswirkten. Auf der kulturellen Ebene finden sich
eine Vielzahl von Fähigkeiten – wie Musik, Rezitations- und Sprachkenntnisse sowie spielerische
und sportliche Begabungen. In diesem Zusammenhang zeigten sich geschlechtsspezifische
Unterschiede, denn Musik als auch die Rezitation von Gedichten, Geschichten oder Witzen
wurde mehrheitlich von den Frauen erwähnt, wobei Gesang ein zentrales Moment darstellte, wie
sich Edith erinnerte.

»Edith states, that in the evenings during the first months at Auschwitz-Birkenau before they had
been given a work assignment five or six women would gather around Edith and Mrs. W. on the
top bunks and all of them would sing softly after eight o’clock when the lights were turned out.«338

Die männlichen Überlebenden erwähnten ihre sportlichen Fähigkeiten, vor allem Fußball, aber
auch andere Sportarten bis hin zum Boxen. Ebenso spielten die Männer in den
Konzentrationslagern Schach, wobei neben der Ablenkung vom Lageralltag häufig hilfreiche
Kontakte geknüpft wurden. In einigen Konzentrationslagern wurden Schachmeisterschaften
ausgetragen, so wurde beispielsweise Mirko in Flossenbürg internationaler Schachmeister.339 Auf
der kulturellen Ebene tritt am deutlichsten der Aspekt der Geselligkeit in den Vordergrund, im
Sinne von Georg Simmel als einheitsstiftendes Spiel, wobei innerhalb der nationalsozialistischen

338 Interviewprotokoll 31-32 »Lottie & Elsie«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-

Group I, Series 1, Box 1, pag. 6.


339
Vgl. Interviewprotokoll 37 »Boris«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I,
Series 1, Box 1, pag. 5.

81
Analyse

Konzentrationslager die gute Form und das Taktgefühl durch die Abstumpfung und Gereiztheit340
eine andere Gestalt annimmt. Dennoch bedarf es einem gewissen Maß an Selbstkontrolle, um
Geselligkeit erst möglich zu machen und eine Distanznahme zu verwirklichen, in welcher es für
einen Moment gelingt, die erdrückende Schwere in eine gewisse Leichtigkeit des Spiels zu
verwandeln.341 Johan Huizinga begreift die Funktion des Spiels als genuinen Kulturfaktor, darüber
hinaus gleicht das Handeln des spielenden Menschen keineswegs den alltäglichen
Handlungsweisen, sondern nimmt eine sinnliche sowie soziale Funktion ein. Wesentliche ist, die
»unbedingte Ordnung«, die das Spiel einfordert, wobei der sinnliche Faktor des Spiels jenes
menschliche Bedürfnis nach einer geordneten Form widerspiegelt.342 Innerhalb der Schnelligkeit
des Lageralltags und der permanenten Reizüberflutung eröffnet das Spiel die Möglichkeit, für
kurze Zeit einen begrenzten Abstand zu gewinnen. In Form des Spiels als bewusst Handlung,
»die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht,
die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft und Gemeinschaftsverbände ins Leben
ruft«343. Des Weiteren kam es in einigen Konzentrationslagern zu Theateraufführungen oder
sonstiger Bühnenkunst, wobei die Häftlinge das Schauspiel zur Verarbeitung der Lagereindrücke
nutzten sowie über die jeweilige Häftlingsgesellschaft auf humoristische Weise reflektierten. Otto
war im KL Buchenwald beispielsweise an der Häftlingsproduktion der Komödie »Was ihr wollt«
von William Shakespeare beteiligt sowie der Mitverfasser von folgendem Sketch:

»The skit, written and produced by long-time prisoners, was a self-critical commentary on the
behavior of ›old‹ prisoners in their relations with new ones. The theme was that of a well-fed, ›old‹
prisoner in a position of authority, eating, and talking with full mouth about comradeship.«344

Hinsichtlich der Kameradschaft erwies sich eine politische Vorerfahrung der Befragten einerseits
als hilfreich, da die Aktivist*innen innerhalb der Konzentrationslager auf diese bereits vorhandene
Wir-Identität zurückgreifen konnten sowie aufgrund des Wir-Gefühls dieser Überlebenseinheiten
im Sinne von Elias durchaus Schutz, Unterstützung und Hilfe erhielten. Andererseits wirkte sich
die politische Zugehörigkeit hemmend in Form des konfliktgeladenen Spannungsverhältnisses
zwischen den politischen Gruppierungen aus. Denn Sozialist*innen, Kommunist*innen,
Trotzkist*innen respektive divergierende linksorientierte Gruppen wurden in den
Konzentrationslagern unter dem roten Winkel subsumiert und versuchten in Machtkämpfen ihr
Bündnis sowohl gegen politisch Andersdenkende als auch andere Häftlingskategorien zu
etablieren. Der Kern dieser Gruppierungen wurzelte in ihren früheren politischen Leben und den
damit verbundenen Kooperationserfahrungen, wie Neurath ausführt:

340 Vgl. Frankl, Viktor E.: … trotzdem Ja zum Leben sagen, 102-106.
341
Vgl. Simmel, Georg: »Die Geselligkeit (Beispiel der Reinen oder Formalen Soziologie)«, in: ders.: Gesamtausgabe,
Band 16, Grundfragen der Soziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, 107-110; 119-121.
342 Vgl. Huizinga, Johan: Homo Ludens – Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2015, 11-19.
343 Ebd. 22.
344
Interviewprotokoll 11 »Karl«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series
1, Box 1, pag. 10.

82
Analyse

»So entwickelte sich in den frühen Stadien des Konzentrationslagers ein soziales Leben, dessen
Wurzeln in erster Linie im früheren, von der Organisation bestimmten Leben der Häftlinge und in
dem kooperativen Verhalten lagen, das sie dort gelernt hatten. Die gemeinsame Ideologie und die
Tatsache, dass sie gemeinsam wegen dieser Ideologie verfolgt wurden, hielt sie zusammen.«345

Im Zusammenhang mit den mitgebrachten Erfahrungen zeigte sich als dritter intervenierender
Aspekt die jeweilige Profession der Befragten. Von den Männern mussten vier bereits vor der
Einweisung in ein Konzentrationslager Zwangsarbeit leisten, vier erwähnten ihre militärische
Erfahrung und zwei der Überlebenden waren Teil eines Kibbuz, wo sie Erfahrungen in
landwirtschaftlichen Tätigkeiten sowie kooperativer Zusammenarbeit sammelten. Eine
handwerkliche Begabung respektive Berufsausbildung wiesen 15 der Befragten auf, sieben
hatten Erfahrung in Fabrikarbeit und ebenso sieben in Büroarbeit, wobei zwei Frauen über
Kenntnisse in Stenografie verfügten. Die handwerkliche Profession der männlichen Befragten
reichte von Mechaniker, Maurer, Elektriker über Installateur, Schäfte- und Werkzeugmacher bis
hin zu Fleischer sowie Friseur. Die weiblichen Überlebenden profitieren vor allem von ihrer
Vorerfahrung als Schneiderinnen und Näherinnen teilweise mit Fabrikerfahrung, wie sich Augusta
retrospektiv erinnerte, war ihre Profession ein lebensrettender Faktor.

»Shortly after arrival at Plaszow she and eight other women were taken from a large heavily
loaded truck because she stated that she was a dressmaker. Within an hour she was told by
another, and older prisoner that the rest of the truckload was taken to an open pit, shot an
cremated on open fires in the pit.«346

Die von der Überlebenden erwähnte Massenerschießung ereignete sich im Mai 1944 im Lager
Plaszów, das 1942 als Zwangsarbeitslager für Jüd*innen aus dem liquidierten Krakauer Ghetto
errichtet und zu diesem Zeitpunkt als Stammlager vom Kommandanten Amon Göth geführt wurde.
Der Ort dieser Gräueltat war einer der Tötungsstätten des KL Plaszów, wobei davon ausgegangen
werden kann, dass es sich hier um die im Lagerjagon als »Hujowa Górka«347 bezeichnete
Hinrichtungsstätte handelt. Denn an diesem Ort des Terrors wurden jene nicht-jüdischen und
jüdischen Menschen ermordet, die zuvor in Krakau festgenommen und wie Augusta im Gefängnis
Montelupich inhaftiert waren.348 Hier zeigt sich, dass Zeit und Raum ebenso intervenierende
Bedingungen darstellen, die während der Analyse kontinuierlich mitbedacht wurden. Die Orte des
Terrors wurden anhand der umfassenden Enzyklopädie der Herausgeber*innen Wolfgang Benz
und Barbara Distel kategorisiert, die gemeinsam mit interdisziplinären Autor*innen ein lexikalisches
Standardwerk in neun Bänden in Form einer Topografie der Orte des Terrors vorgelegt haben.

345 Neurath, Paul Martin (1943): Die Gesellschaft des Terrors, 90.
346
Interviewprotokoll 15 »Jennie«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I,
Series 1, Box 1, pag. 3.
347 »Das Terrain erhebt sich etwas über das umliegende Gelände, weshalb es im Lagerjargon als ›Górka‹ (=Hügel)

bezeichnet wurde. ›Hujowa‹, manchmal ›Chujowa‹, ist ein vulgärer Ausdruck für das männliche Fortpflanzungsorgan,
ein Wortspiel auf den SS-Mann Hujar, der sich häufig an den Erschießungen beteiligte.« Awtuszewska-Ettrich,
Angelika: Płaszów-Stammlager, in: Benz, Wolfgang/Distel, Barbara [Hg.]: Der Ort des Terrors. Geschichte der
nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 8: Riga-Kaiserwald, Warschau, Vaivara, Kauen (Kaunas), Płaszów,
Kulmhof/Chełmno, Bełżec, Sobibór, Treblinka. München: C. H. Beck 2008, 266.
348 Vgl. ebd.: 235; 264-267.

83
Analyse

Hinsichtlich der konkreten 93 Orte, an denen unsere moralischen Zeug*innen um ihr Überleben
kämpften, gilt es zwischen Stamm-, Außen- und Zwangsarbeitslager sowie Austausch-, Polizeihaft-
und Internierungslager zu unterscheiden, ferner waren die Befragten auch mit Ghetto- und
Gefängniserfahrungen konfrontiert. Insgesamt existierten 24 Stammlager mit bis zu 1000
Außenlagern,349 wobei sich in den vorliegenden Narrationen 14 Stammlager, 48 Außenlager, 15
Zwangsarbeitslager, 10 Ghettos, vier Internierungslager sowie jeweils ein Polizeihaft- und
Austauschlager wiederfanden. Jener Ort des Terrors und der Vernichtung, der sich im
Alltagsdenken im Zusammenhang mit dem Holocaust vorwiegend einbrannte, Auschwitz wurde
1940 als erstes Konzentrationslager für nicht-deutschsprachige Häftlinge errichtet, mit dem
primären Ziel der Vernichtung. Von der Errichtung bis zur Auflösung im Jänner 1945 entwickelte
sich Auschwitz zu einem weitläufigen Lagerkomplex, bestehend aus dem Stammlager Auschwitz I,
dem Arbeits- und Vernichtungslager Auschwitz II respektive Birkenau und dem Werksgelände der
I.G. Farbenindustrie AG, als Auschwitz III beziehungsweise vormals Buna-Werke bezeichnet und
ab Ende 1944 in KL Monowitz umbenannt. Der Tod war im Lagerkomplex Auschwitz ständig
gegenwärtig, hinzu kam die permanente Angst vor Selektionen, denn ab Mitte 1941 fanden im
Stammlager die ersten »Versuchsvergasungen« mit dem Giftgas Zyklon B statt, die ersten Opfer
im Keller von Block II waren sowjetische Kriegsgefangene. Zu diesem Zeitpunkt befand sich
Auschwitz-Birkenau bereits im Aufbau und die Instrumentarien der Massenvernichtung, die
Gaskammern sowie Krematorien, wurden für den nationalsozialistischen Massenmord
kontinuierlich ausgebaut. Das Stammlager war geprägt von Zwangsarbeit, Deprivation und
Vernichtung, wobei Auschwitz II vorwiegend dem nationalsozialistischen Ziel der »Endlösung der
Judenfrage« diente und über vier Gaskammern und Krematorien sowie die gefürchtete »Rampe«
verfügte.350 An diesem Ort des Terrors wurden unsere Überlebenden als arbeitsfähig selektiert,
somit der Einweisungsprozedur unterzogen und nahmen ihren Überlebenskampf entweder im
Quarantänebereich oder im Männer- sowie Frauenlagen Auschwitz-Birkenau auf, in ständiger
Anspannung vor weiteren Selektionen sowie physischer und psychischer Repressalien. Insgesamt
teilten 28 unserer Befragten erlittene Erfahrungen im Lagerkomplex Auschwitz, wobei diese meist
ein paar Tage, Wochen oder Monate in Auschwitz-Birkenau zubrachten, bevor sie in ein anderes
Stamm- oder Außenlager deportiert wurden. Die befragten Männer wurden mehrheitlich in den rund
sieben Kilometer entfernte Buna-Werken zur Arbeit gezwungen und verblieben dort bis zur
Auflösung des Lagerkomplexes im Jänner 1945, um ähnlich wie die Frauen von der SS auf
Todesmärschen Richtung Westen von ihren späteren Befreiern »evakuiert« zu werden.

Wesentlich ist, dass das System der Konzentrationslager mit den unzähligen Außenlagern von
der Inspektion der Konzentrationslager in Berlin kontrolliert wurde, ausgenommen waren die vier

349
Vgl. Benz, Wolfgang/Distel, Barbara: Vorwort, in: Dies. [Hg.]: Der Ort des Terrors. Geschichte der
nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 1: Die Organisation des Terrors, München: C. H. Beck 2005, 7.
350 Vgl. Benz, Wolfgang/Bistrović, Miriam/Curio, Claudia/Distel, Barbara/Jahn, Franziska/Königseder,Angelika/Mihok,

Brigitte/Walter, Verena: Auschwitz, in: Wolfgang Benz und Barbara Distel [Hg.]: Der Ort des Terrors. Geschichte der
nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 5: Hinzert, Auschwitz, Neuengamme, München: C.H. Beck 2007,
95-112; 121-125.

84
Analyse

Vernichtungslager »Kulmhof/Chełmo, Bełżec, Sobibór und Treblinka, die nur mit der Intention
gegründet worden waren, dort Menschenleben zu vernichten, ohne Aufenthalt der Opfer im
Lager, ohne vorherige Ausbeutung ihrer Arbeitskarft.«351 Hinzukamen Zwangsarbeitslager, die
unter anderen Bezeichnungen und Verwaltungsstrukturen geführt wurden, wobei sich die
vorgefundenen Bedingungen kaum von jenen in den Konzentrationslagern unterschieden,
ebenso herrschten in den Ghettos der annektierten Gebiete katastrophale Lebensumstände.352
Im Anhang findet sich ein tabellarischer Überblick jener Orte des Terrors, an denen unsere
moralischen Zeug*innen systematisch ausgebeutet und gequält wurden, unter Berücksichtigung
der Lagerart sowie der Anzahl der dorthin verbrachten Überlebenden. Es zeigte sich, dass 39 der
Befragten in mindestens einem bis hin zu vier Stammlagern waren und 35 der Überlebenden
durchliefen zwischen einem bis zu sechs Außenlager. Ein häufiger Lagerwechsel bedeutete für
die Betroffenen eine Art Neustart innerhalb der jeweiligen Häftlingsgesellschaft und kann daher
als intervenierende Bedingung begriffen werden, welche sich sowohl hemmend als auch fördernd
auf die Entwicklung sozialer Beziehungen auswirken konnte. Darüber hinaus gilt es sich zu
vergegenwärtigen, dass die Lebensbedingungen sowie Überlebenschancen zwischen Stamm-,
Außen- und Zwangsarbeitslagern stark variierten und sich vor allem abhängig vom jeweiligen Ort
sowie Zeitraum unterschieden.

Hinsichtlich der Lagerart stellten vor allem Internierungs-, Polizeihaft- und Austauschlager eine
Ausnahme, aufgrund ihrer jeweiligen Intention und Funktion, dar. Der französischen
Internierungspolitik war unter unseren Befragten der westdeutsche Jude Rudy ausgesetzt,
welcher insgesamt durch vier Internierungslager geschleust wurde. In Amsterdam festgenommen
wurde er über Le Fauga-Mazères nach St. Cyprien sowie weiter nach Gurs und letztlich sollte er
von Drancy nach Auschwitz deportiert werden. Jedoch kam es bei diesem Transport vor der
Ankunft in Auschwitz, in Kosel, zu einer Selektion arbeitsfähiger Männer, wodurch Rudy vorerst
in das Zwangsarbeitslager Johannisdorf deportiert wurde.353 Diese von den französischen
Behörden verwalteten Sammel- und Durchgangslager wurden für die jüdischen Menschen zum
»Vorzimmer des Todes«, wo die Verfolgten unter schlechten bis katastrophalen
Lebensbedingungen gezwungen wurden auf ihre Deportation in die deutschen Konzentrations-
und Vernichtungslager zu warteten.354 Hinsichtlich der Bewachung durch französische
Gendarmen erinnerte sich Rudy, »they behaved exactly as I have seen the German SS behave
in similar situations.«355 Jene unserer Befragten, die ähnlich wie Rudy vor dem Terror des

351
Benz, Wolfgang/Distel, Barbara: Vorwort, in: Dies. [Hg.]: Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen
Konzentrationslager. Band 9: Arbeitserziehungslager, Ghettos, Jugendschutzlager, Polizeihaftlager, Sonderlager,
Zigeunerlager, Zwangsarbeitslager. München: C. H. Beck 2009, 7.
352
Vgl. ebd.
353 Vgl. Wetzel, Juliane: Frankreich und Belgien, in Wolfgang Benz [Hg.]: Dimensionen des Völkermords. Die Zahl der

jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. München: Oldenbourg 1991, 121.


354
Vgl. Distel, Barbara: Frankreich, in: Benz, Wolfgang/Distel, Barbara [Hg.]: Der Ort des Terrors. Geschichte der
nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 9: Arbeitserziehungslager, Ghettos, Jugendschutzlager,
Polizeihaftlager, Sonderlager, Zigeunerlager, Zwangsarbeitslager. München: C. H. Beck 2009, 285.
355
Interviewprotokoll 40 »Bennet«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I,
Series 1, Box 1, pag. 2.

85
Analyse

Nationalsozialismus flohen und in die Niederlande emigrierten, wurden in das Polizeihaftlager


Westerbork deportiert. Darunter auch Moritz, der im Sammellager Westerbork versuchte,
Informationen über die in das dortige Waisenhaus deportierten Kinder zu sammeln, in der
Hoffnung, dass diese nach der Befreiung von ihren Eltern wiedergefunden werden könnten.356
Denn in diesem zentralen Durchgangslager dominierte die Angst vor den meist dienstags
stattfinden Deportationen in die Konzentrations- und Vernichtungslager den Alltag der jüdischen
Menschen. Zwischen 1942 und 1944 wurden über 100.000 Jüd*innen nach und schließlich aus
Westerbork deportiert,357 unter ihnen befanden sich die Mutter Karoline mit ihrer Tochter Eva und
deren Vater. Friedel, die ihrer Mutter unaufgefordert nach deren Selektion nach Theresienstadt
folgte sowie Margaret mit ihrer Familie, darunter ihre zwei kleinen Kinder. Letztere litt unter
enormen Angstzuständen während ihrer Zeit in Amsterdam, die Deportation nach Westerbork
bedeutete für Margaret, wenn auch nur kurzzeitig: »Die Erlösung, wenn die Spannung vorbei
war.«358 Im Gegensatz dazu steht Lucie, deren Ehemann vor Kriegsausbruch in die USA
emigrierte, um die Auswanderung für seine Frau und deren kleine Tochter zu arrangieren: »Lucie
was worried about her child from the first at Westerbork, and was afraid of transport to Poland
which she ›knew at that time already would mean gassing.‹«359 Eine Ausnahme stellte Mary dar,
die für den jüdischen Rat in Amsterdam tätig war und sich am Abend ihrer Hochzeit in Westerbork
einfand, um dort unter der Prämisse ihre Familie vor der Deportation zu bewahren
»Registrierungsarbeit« zu leisten. Während der zwei Jahre in Westerbork versuchte Mary durch
ihre Beziehungen zum jüdischen Lagerarzt Spanier die Deportation ihrer Verwandten, Freunde
und Bekannten zu verzögern,360 denn:

»Every week you were able to save them from transport was maybe a lifesafer, and it was. (…)
So, the longer you could keep somebody in Westerbork, the better your chances were. My best
friends, I saved from transport too, and after four weeks they got papers from Israel. They were
sent to Bergen-Belsen, but that was also a transitcamp, and they stayed there. This was not a
Vernichtungslager, this was a camp for people who had papers to go to various countries. They
were somehow protected, inspite of the fact they had horrible life there, but they didn’t go to the
gas chamber.«361

Mary spricht hier vom Austauschlager in Bergen-Belsen, wobei sie selbst von Westerbork über
Theresienstadt nach Auschwitz-Birkenau, wo sie ihren Ehemann an der »Rampe« verlor,

356 Siehe hierzu: Documents and correspondence of Moritz Schweitzer, 1939-1945, Box: 1, Folder: 2. Moritz Schweizer

Collection, AR 11789. Archives of the Leo Baeck Institute at the Center for Jewish History.
[https://archives.cjh.org/repositories/5/archival_objects/1104853] Accessed August 16, 2021.
357
Vgl. Königseder, Angelika: Polizeihaftlager – Westerbork, in: Benz, Wolfgang/Distel, Barbara [Hg.]: Der Ort des Terrors.
Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 9: Arbeitserziehungslager, Ghettos,
Jugendschutzlager, Polizeihaftlager, Sonderlager, Zigeunerlager, Zwangsarbeitslager. München: C. H. Beck 2009, 25f.
358
Interviewprotokoll 21 »Paula«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series
1, Box 1, pag. 3.
359
Interviewprotokoll 23 »Laura«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series
1, Box 1, pag. 3.
360 Vgl.: Simons, Mary. Interview 2098. Interview by Janice Englehart. Visual History Archive, USC Shoa Foundation, April

20, 1995, Tape 2, SEQ 40-43, TC: 00:09:00-00:12:30, Accessed 03.09.2021.


[https://vha-usc-edu.uaccess.univie.ac.at/viewingPage?testimonyID=2135&segmentNumber=0#]
361 Ebd., Tape 3, SEQ 45-46, TC: 00:14:10-00:15:15.

86
Analyse

deportiert wurde und erst nach dem Todesmarsch vom Außenlager Christianstadt im Stammlager
Bergen-Belsen ihre Befreiung erlebte. Die weiteren sechs Überlebenden, die in Westerbork
waren, wurden hingegen nach Bergen-Belsen deportiert, wo diese als jüdische
Austauschhäftlinge im sogenannten »Sternlager«362 registriert wurden. Dieser Sonderbereich
wurde als eine Art Familienlager geführt, wobei die als Geiseln betrachteten Insass*innen über
Papiere anderer Staaten verfügten. Frauen und Männer wurden zwar in getrennten Baracken
untergebracht, durften sich jedoch tagsüber treffen und die Kinder verblieben bei ihren Müttern.
Gleichwohl einiger Privilegien der Austauschhäftlinge, wie das Tragen von Zivilkleidung als auch
die Mitnahme von persönlichem Gepäck, dominierte der Hunger den Alltag im Aufenthaltslager
und trotz des direkten Misshandlungsverbots schikanierte das SS-Wachpersonal die Häftlinge
mittels individueller und kollektiver Torturen. Die Hoffnung im Zuge eines Austauschtransportes
aus Bergen-Belsen befreit zu werden, blieb für die meisten Gefangenen unerfüllt.363 »In den so
genannten deutsch-amerikanischen Zivilpersonenaustausch wurden Ende Januar 1945
insgesamt 301 Häftlinge Bergen Belsens einbezogen«364, darunter auch Lucie und ihre kleine
Tochter. Zu diesem Zeitpunkt herrschten im Sonderlager ebenso katastrophale
Lebensbedingungen wie im Stammlager, jedoch kam der Sonderstatus der Austauschhäftlinge
dahingehend zum Tragen, dass sie kurz vor der Befreiung mittels Sondertransporten aus dem
heillos überfüllten Lagerkomplex, in dem eine Typhusepidemie ausgebrochen war, auf eine
Irrfahrt Richtung Theresienstadt geschickt wurden.365 In diesen Sondertransporten, die erst nach
Tagen befreit wurden, befanden sich Moritz, Karoline und ihre Tochter Eva sowie Margaret, mit
ihren beiden Kindern, die kurz vor dem Abtransport ihren Ehemann verloren hatte. Suzanne, die
damals neunjährige Tochter von Margaret, verband folgende Erinnerung mit diesem Abtransport.

»My mind was dissolving and at the same moment I realized that my mother and my brother were
already on the (…) car and the railroad was already beginning to move, and I would be left behind
in these pits. (…) I ran, and I grabbed, and I hung there for moments and I remember thinking:
›don’t be afraid, you can’t be afraid, if you’re afraid you're gonna fall and die, don’t be afraid.‹ And
then a man, who reached and pulled me in, and then I realized that's the car where my mother
was. And I looked up and the relief on her face, was so, you know, I could see it.«366

Neben den konkreten Orten des Terrors gilt es jedoch ebenso den Zeitpunkt und die Dauer der
Inhaftierung innerhalb der intervenierenden Bedingungen zu verorten. Wachsmann beginnt sein
richtungsweisendes Werk über die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager
mit den auseinanderklaffenden Schilderung von drei Tagen in Dachau – im Jahr 1945, 1939 und

362
»(…) so genannt, weil die Häftlinge hier auf ihrer Zivilkleidung den Judenstern tragen mussten«. [Rahe 2008: 191]
363
Vgl. Rahe, Thomas: Bergen-Belsen – Stammlager, in: Wolfgang Benz und Barbara Distel [Hg.]: Der Ort des Terrors.
Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 7: Niederhagen/Wewelsburg, Lublin-Majdanek,
Arbeitsdorf, Herzogenbusch (Vught), Bergen-Belsen, Mittelbau-Dora. München: C.H. Beck 2008, 189-195.
364
Ebd., 195.
365 Vgl. ebd., 212.
366 Whiteley, Suzanne. Interview 2519. Interview by Wendy Lipsman. Visual History Archive, USC Shoa Foundation, May

12, 1995, Tape 4, SEQ 102-104, TC: 00:06:46-00:08:31, Accessed 25.09.2021.


[https://vha-usc-edu.uaccess.univie.ac.at/viewingPage?testimonyID=2576&segmentNumber=0#]

87
Analyse

1933, um den keineswegs linear verlaufenden Funktionswandel des Lagersystems zu


verdeutlichen. Der Historiker erkennt im Wandel ein wesentliches Hauptmerkmal der
Konzentrationslager und versucht diese unsteten Entwicklungsverläufe anhand von sechs
ineinandergreifenden Phasen fassbar zu machen.367 Wesentlich ist, dass die folgenden Perioden
nach Wachsmann fluide Übergänge aufweisen, sich jedoch durch spezifische Veränderungen
innerhalb des nationalsozialistischen Terrors abgrenzen: 1933-1934 »frühe Lager«, 1934-1937
»Formierung und Koordinierung«, 1937-1939 »Expansion«, 1939-1941 »Krieg und
Massenmord«, 1942-1944 »Kriegswirtschaft und Vernichtung«, 1944-1945 »Höhepunkt und
Zusammenbruch«.368 Die frühen Lager waren Orte der gesetzlosen Gewalt an denen die
nationalsozialistische Repressionsmaschinerie vorwiegend gegenüber politisch
Andersdenkenden erprobt wurde, wobei diese häufig einen hohen Improvisationsgrad aufwiesen.
Diese Phase ist geprägt von Masseninhaftierungen, welche mit Demütigung und Folter der
politischen Gefangenen einherging. Von diesen Inhaftierungswellen waren vier unserer
männlichen Befragten unmittelbar betroffen, wobei August im Gegensatz zu den anderen von
den Haftstätten, während der Formierungs- und Koordinierungsphase ohne zeitweilige
Entlassung, direkt in das frühe Konzentrationslager Esterwegen verbracht wurde. Die erste
Phase war darüber hinaus vom Machtkampf zwischen SA und SS geprägt, die ihre Folterhöhlen
an den unwahrscheinlichsten Orten installierten und neben politischen Aktivist*innen vor allem
jüdische Menschen ins Visier nahmen. Im Übergang zur Phase der Formierung und
Koordinierung sollten Vorzeigelager respektive Modelllager entstehen, wobei hier das Dachauer-
Modell von Heinrich Himmler eine zentrale Rolle spielte. Daran anknüpfend entstand ein
einheitliches landesweites System, welches von der Inspektion der Konzentrationslager unter der
Leitung von Theodor Eicke verwaltet wurde. Himmler verfestigte die Koordinierung und
Formierung mithilfe der Rückendeckung von Hitler und forcierte 1937 die Entstehung von neuen
Lagern, die in ihrer Funktion als kleine Städte des Terrors konzipiert sowie erweiterbar waren.
Die Phase der Expansion war gekennzeichnet von einer Veränderung der Häftlingsgesellschaften
und der damit einhergehenden Einführung der SS-Häftlingskategorien. Denn die Ausdehnung
der Lager war verbunden mit der exzessiven Verfolgung von vermeintlichen gesellschaftlichen
Außenseiter*innen getragen von unzähligen nationalsozialistischen »Aktionen«. Darüber hinaus
rückte die Zwangsarbeit zunehmend in den Fokus der Ausbeutungsstrategie, wobei in der
Frühphase die Häftlinge vorwiegend externe Bauarbeiten sowie den internen Lagerausbau und
Aufbau der neuen Lager übernehmen mussten, wurde die Ausbeutung der Gefangenen für die
SS-Wirtschaft nun in den Blick gefasst und es entstanden Steinbruch-, Bergwerk- und
Fabriklager. Hinzu kamen die weitreichenden antijüdischen Maßnahmen und Übergriffe, nicht
zuletzt die Novemberpogrome, die das Lagersystem aus den Angeln hoben und die heillos
überfüllten Orte des Terrors in ein Chaos stürzten.369 Die jüdische Bevölkerung sollte in einen

367 Vgl. Wachsmann, Nikolaus: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, 9-32.
368
Vgl. Wachsmann, Nikolaus: The dynamics of destruction, 18.
369 Vgl. Wachsmann, Nikolaus: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, 33-215.

88
Analyse

Schock versetzt werden, Lucie, die zu diesem Zeitpunkt schwanger war, erinnerte sich an den 9.
November 1938 in Köln wie folgt:

»(…) Lucie was dragged out of bed and thrown by the hair down one flight of stairs into the street
at two o’clock in the morning. She survived this incident without apparent physical consequences,
although it was three weeks before confinement got the birth of her first child.«370

Die sogenannten »Novemberjuden« fielen in den Lagern der SS-Korruption zum Opfer, wurden
gequält und in den Selbstmord getrieben. Jedoch kam es zu dieser Zeit zu an Bedingungen
gebundenen Massenentlassungen der jüdischen Gefangenen. Von unseren Befragten wurden
zwischen Jänner und Mai 1939 Heinrich, Armand, Paul, Paul Martin, Sydney und Max aus dem KL
Buchenwald entlassen sowie nach Kriegsbeginn am 22. März 1940 Bernie. Die Pogrome waren
einschneidende Vorboten, generell verschlechterten sich die Haftbedingungen während der
Expansionsphase, um mit Kriegsbeginn in einen Terror ungeahnten Ausmaßes zu versinken. Denn
die tödliche Wende des Konzentrationslagersystems begann mit dem Krieg, ein rassenfeindlicher
Feldzug der Vernichtung und des Massenmordes. Erneut veränderten die Massenverhaftungen in
den annektierten Gebieten die Häftlingsgesellschaften und es kam zu einer breiten Ausweitung des
Terrornetzes der Konzentrationslager. Hunger, Krankheit, Zwangsarbeit, Tod und Hinrichtungen
ließen die Überlebenschancen der Häftlinge in den frühen Kriegsjahren drastisch sinken. Darüber
hinaus hatten die nationalsozialistischen »Euthanasie-Aktionen« bereits unmittelbar vor
Kriegsbeginn eingesetzt, durch die Entstehung zahlreicher Tötungsanstalten mit Gaskammern
stellten de Stätten des Massenmordes an Menschen mit Beeinträchtigungen Vorboten des
Holocaust dar. Denn die Selektionen der T4-Ärzt*innen wurden 1941 auf die Konzentrationslager
ausgeweitet, um die ausgewählten Opfer in die Gaskammern der T4-Tötungszentren zu
transportieren. In den Ostgebieten tobte der NS-Vernichtungskrieg, die jüdische Bevölkerung
wurde Opfer von systematischen Massenerschießungen durch die nationalsozialistischen
Tötungskommandos und in den Konzentrationslagern begann die Exekution der dorthin
verbrachten sowjetischen Kriegsgefangenen. Ab Mitte 1941 nahmen die Experimente mit dem
Massenmord in den Lagern stark zu, neben Massenerschießungen kamen Todesspritzen,
Genickschussanlagen sowie Gaswagen zum Einsatz, in Auschwitz wurde mit Zyklon B
experimentiert und »Versuchsvergasungen« durchgeführt.371 Der Häftling Jan Balzejewski
erinnerte sich an eine der zahlreichen Erschießungen an der Wand von Block II in Auschwitz:

»Ich werde dieses Bild nie vergessen. Das jüngste Mädchen im Lager, sieben Jahre alt, wurde
zur Erschießung mit seiner Großmutter gebracht. Die Großmutter wurde als erste erschossen.
Das kleine Mädchen wandte sich zu dem Mörder und fragte: ›Tut das weh?‹ Ich wurde gerufen,

370 Interviewprotokoll 23 »Laura«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series
1, Box 1, pag. 6f.
371 Vgl. Wachsmann, Nikolaus: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, 215-317.

89
Analyse

um ihre Worte zu übersetzten. Placke’s (SS-Mann) Antwort war: ›Sie kann es auch anders
haben.‹ Er zerschlug ihr mit seiner Waffe den Kopf.« 372

Die mörderischen Vernichtungspläne und die Eroberung des sogenannten »Lebensraum im


Osten« zeigte zum Jahreswechsel 1941/42 deutliche Veränderungen durch die enorme
Ausweitung und Umgestaltung des Konzentrationslagersystems seit Kriegsausbruch. Am 20.
Jänner 1942 stellte die Wannsee-Konferenz die Weichen für die Koordination der »Endlösung«,
wobei die Verzahnung von Kriegswirtschaft und Vernichtung mittels »Vernichtung durch Arbeit«
erreicht werden sollte. Zwei Aspekte galt es im Sinne Himmlers zu erreichen, die wirtschaftliche
Ausbeutung der Häftlinge und die Massentötung der europäischen Jüd*innen, wobei Auschwitz
eine zentrale Rolle einnahm. Auschwitz als Bestimmungsort für die umfassende Selektion
arbeitsfähiger Jüd*innen und deren Umverteilung in kriegswichtige Produktionsstätten sowie
nationalsozialistische Todesfabrik. Die Phase der Kriegswirtschaft und Vernichtung ist verbunden
mit Massendeportationen seit Mitte 1942 aus ganz Europa und mit der Einbindung der
Konzentrationslager in den systematischen Völkermord. Im Laufe des Jahres 1943 verlagerte
sich der Holocaust von den Mordäckern der besetzten Ostgebiete in die neuen Tötungskomplexe,
Ghettos wurden liquidiert und Zwangsarbeitslager im Osten wurden in Stamm- und Außenlager
umgewandelt. Auschwitz war zum Mittelpunkt des Konzentrationslagersystems geworden. Zum
Zweck der Kriegswirtschaft wurde die Ausbeutung der Arbeitskraft der Häftlinge weiter
vorangetrieben, als die mörderische Tötungsmaschinerie ihren Höhepunkt erreichte, wurde Mitte
1944 durch eine Kehrtwende innerhalb des NS-Terrors mehr und mehr arbeitsfähige jüdische
Häftlinge nach Deutschland deportiert und die Gewissheit der nationalsozialistischen
»Endlösung« verbreitete sich in den dortigen Lagern.373 »Die Wahrheit kam rasch heraus,
manchmal in dem Augenblick, wenn jüdische Neuankömmlinge zum Duschen geführt wurden
und riefen: ›Nicht Gas! – Nicht Gas!‹«374 Den tödlichsten Höhepunkt erreichte Auschwitz im
Frühjahr und Sommer 1944 durch die Ermordung der ungarischen Jüd*innen, innerhalb von drei
Monaten wurden mehr jüdische Menschen nach Auschwitz deportiert als in den
vorangegangenen zwei Jahren zusammen. Diese letzte Phase des erschütternden Höhepunkts
war bereits unmittelbar mit dem Zusammenbruch verzahnt, doch je näher die Befreiung rückte,
desto mörderischer wurde das System der Konzentrationslager, nicht zuletzt aufgrund der
unzähligen Todesmärsche. Frühe Evakuierungen begannen bereits Mitte 1944 und leiteten einen
anhaltenden Leidensweg der Häftlinge ein, vor allem im Osten, wo die Frontlinie rasant näher
rückte. Für die Gefangenen begann eine Odyssee zu Fuß, per Schiff, per Bahn auf den
weitverzweigten »Evakuierungsrouten« und ab Anfang 1945 war das System der
Konzentrationslager in ständiger Bewegung. Dies ging einher mit Selektionen, Massakern, Tod

372
Auschwitz. The Hell at the Border of the Wood. Report by Jan Balzejewski, Prisoner Number 1121 from Krotozin,
Poland, in: APMAB, Bestand ZO, Bd. 43, Bl. 232, zitiert nach Distel, Barbara: Lebensbedingungen im Stammlager (Arbeit
und Vernichtung), in: Wolfgang Benz und Barbara Distel [Hg.]: Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen
Konzentrationslager. Band 5: Hinzert, Auschwitz, Neuengamme, München: C.H. Beck 2007, 103.
373
Vgl. Wachsmann, Nikolaus: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, 322-516.
374 Ebd. 516f.

90
Analyse

in den Transporten und Erschießungen der Zurückgefallenen auf den Todesmärschen sowie dem
Massensterben in den überfüllten Lagern auf österreichischen und deutschen Boden. Die
Befreiung der Konzentrationslager zog sich ein knappes Jahr hin, glich einem apokalyptischen
Wettlauf ums Überleben der Häftlinge im Strudel des Untergangs der Täter*innen.375 George
erinnerte sich eindrücklich an dessen Befreiung durch amerikanische Truppen während des
Todesmarsches von Flossenbürg:

»We were liberated by American tank drivers who drew food and cigarettes at us. They joked, but
I did not understand their ways. They said ›Now you are under the Americans, and you must
polish our shoes.‹ There I sat in a hole and tried to polish their shoes. I couldn`t think out what
one was to do. I couldn`t even laugh or shout, I had forgotten the forms for expressing happiness.
But I was happy.«376

Hinsichtlich der KL-Phasen nach Wachsmann zeigte sich, dass einige wenige unserer Befragten
in den ersten beiden Phasen in die Konzentrationslager verbracht wurden, lediglich der
Leidensweg von August durchzieht alle sechs genannten Perioden. Mit der Phase der Expansion
kam es einerseits zur Entlassung von sieben unserer männlichen Befragten, wobei diese Freiheit
für Sidney und Max nicht von Dauer war. Andrerseits profitierte weder Ernst noch Otto von diesen
willkürlichen Freilassungen. Mit Kriegsausbruch wurden nach und nach zwölf unserer Zeug*innen
in Konzentrationslager deportiert, darunter drei Frauen und neun Männer. Die große Mehrheit
unserer Überlebenden, nämlich 28 Frauen und Männer, wurden in der Phase der Kriegswirtschaft
und Vernichtung inhaftiert. In der letzten Phase wurden die ungarische Jüdin Ete, die im Berliner
Untergrund aufgegriffene österreichische Jüdin Rose sowie in den letzten Kriegsmonaten, der als
»Halbjude« stigmatisierte Alexander, verschleppt. Die Phase der Inhaftierung konnte sich ähnlich
wie die konkreten Orte des Terrors für die Betroffenen sowohl hemmend als auch fördernd auf
die Überlebensstrategien und die Entwicklung sozialer Beziehungen auswirken. Darüber hinaus
wirkte in Verbindung mit der mitgebrachten Erfahrung sowie der zeitlichen und örtlichen
Komponente jener Raum zwischen Opfern und Täter*innen, den Levi als Grauzone bezeichnete
und welcher keinesfalls leer blieb. Innerhalb dieser Räume kam die sogenannte
»Häftlingsselbstverwaltung« zum Tragen, hier wird Kollaboration, Gewalt, Scham, Macht und
Widerstand sichtbar. Die Grauzone lässt die Grenzen des schwarz-weiß Denkens
verschwimmen, jenseits der Dichotomie von Gut und Böse treffen hier gewöhnliche Häftlinge und
Funktionshäftlinge auf das SS-Wachpersonal und es gilt unter der Prämisse des Verstehen-
Wollens ein moralisches Urteil zu vermeiden, denn es war ein erklärtes nationalsozialistisches
Ziel ihre Opfer mit Schuld zu beladen. Die fluiden Grenzen umfassen eine hierarchisch
strukturierte Bandbreite vermeintlicher Privilegien, eine Sphäre der Gewalt und Aushandlung von

375Vgl. ebd., 528-684.


376
Interviewprotokoll 35 »Felix«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series
1, Box 1, pag. 8.

91
Analyse

Macht, verbunden mit prekären und schicksalhaften Entscheidungen.377 Die Schattierungen der
Grauzone variierten je nach eingenommener Position, wobei Levi betont:

»Um uns Häftlinge ohne Rang herum, wimmelte es von privilegierten Häftlingen der niederen
Ebene. Sie stellten eine bunt zusammengewürfelte Fauna dar: Kehrer, Kesselwäscher,
Nachtwächter, Pritschenkontrolleure (…) Läuse- und Krätzekontrolleure, Befehlsüberbringer,
Dolmetscher, Knechte der Knechte. Im allgemeinen waren sie genauso arme Teufel wie wir, die
genauso lange arbeiteten wie alle anderen auch, die aber für einen zusätzlichen halben Liter
Suppe bereit waren, diese und andere ›drittrangige‹ Aufgaben zu übernehmen«378.

Die Grauzone beinhaltete jedoch auch weibliche und männliche Kapos, die in ihrer
Kollaborationsbereitschaft und Streben nach Macht für ihre Mithäftlinge
Entscheidungsträger*innen über Leben und Tod sein konnten. Blockälteste, Vorarbeiter*innen
und andere Funktionshäftlinge hatten durch ihr Handeln negative wie positive Auswirkungen auf
die Lebensbedingungen und Überlebenschancen ihrer Mitgefangenen und waren gleichzeitig
permanent gefährdet die Gunst der SS zu verlieren. Grundsätzlich erforderte die Beteiligung
innerhalb der Grauzone eine bewusste Entscheidung, wie die Narrationen unserer Überlebenden
zeigten, konnten die vermeintlichen Privilegien durchaus abgelehnt werden. Eine wesentliche
Ausnahme stellten die Häftlinge der »Sonderkommandos« dar, deren Schicksal als
»Geheimnisträger*innen« häufig besiegelt war, diese meist jüdischen Häftlinge wurden von der
SS ausgewählt.

»Die Erfindung und Aufstellung der Sonderkommandos ist das dämonischste Verbrechen des
Nationalsozialismus gewesen. (…) Mit Hilfe dieser Einrichtung wurde der Versuch unternommen,
dass Gewicht der Schuld auf andere, nämlich auf die Opfer selbst, abzuwälzen«379.

Dennoch konnte die Grauzone als intervenierende Bedingung innerhalb des Mahlstromes der
Konzentrations- und Vernichtungslager individuell und kollektiv nutzbar gemacht werden, um im
Sinne von Elias den Überlebensgruppen »Schlupfwege des Entrinnens« zu eröffnen, dafür galt
es ebenso Ressourcen mittels sozialer Beziehungen zu aktivieren.

5.4 Kontext: Bindung und Räume

An dieser Stelle rückten nun einerseits die Ausprägungen der Beziehungsformen sowie
andererseits die spezifischen Bedingungen für konkrete Strategien der Überlebenden in den
analytischen Fokus. Hinsichtlich der Bindungen wurden im Datenmaterial fünf wesentliche
Aspekte sichtbar, welche wiederum in Abhängigkeit zu den vorgefundenen Räumen standen, um
anhand der geknüpften Beziehungen Strategien zu verwirklichen und Handlungsräume
auszuloten. Innerhalb der Vielschichtigkeit der Beziehungsgeflechte zeichneten sich fünf
wesentliche kontextuelle Aspekte der Bindungen ab, die eng mit den kontrollierten

377 Vgl. Levi, Primo (1986): Die Untergegangenen und die Geretteten, 37-41.
378
Ebd., 42.
379 Ebd., 52.

92
Analyse

Begegnungsräumen innerhalb der Konzentrationslager verzahnt waren, wie nachstehende


Abbildung veranschaulicht.

Abbildung 4: Kodierparadigma: Detailansicht Kontext

Wesentlich ist, dass die Ausprägung der Bindung abhängig von der Art der Beziehungsgeflechte
ist, wobei hier vor allem familiäre Wir-Beziehungen eine Ausnahme darstellten, da diese bereits
vor der Lagererfahrung Bestand hatten. Diese Tatsache wurde hinsichtlich des
Entstehungskontextes berücksichtigt, welcher sich grundsätzlich auf den Begegnungsort sowie
den Zeitpunkt und die damit einhergehenden Umstände der sozialen Verknüpfung bezieht.
Hinsichtlich vorhandener familiärer Bindungen zeigte sich bei unseren Befragten eine Fixierung
auf diese spezifische Überlebenseinheit. Es gilt jedoch zu betonen, dass der
nationalsozialistische Terror die Zerschlagung bestehender Beziehungseinheiten forcierte, wobei
das Austauschlager in Bergen-Belsen eine seltene Ausnahme darstellte. Hinsichtlich der
Gefährtenschaft zeigte sich, dass vor allem der Erhalt geschwisterlicher Beziehungen einen
wesentlichen Stellenwert einnahm, wobei lediglich drei gemeinsam mit ihren Geschwistern befreit
wurden, denn sechs der Überlebenden verloren während der Lagerzeit durch Trennung oder Tod
ihre Geschwister. Diese einschneidenden Verlusterfahrungen kompensierten die Befragten durch
die Bindung mit Gefährt*innen, denen sie unmittelbar innerhalb der geteilten Lagererfahrung
begegneten. Diese Situationen reichten von geteilten Arbeitskommandos über Transport- und
Selektionserfahrungen bis hin zu spontanen Zusammenschlüssen in Extremsituationen.
Hinsichtlich der Gruppenbildung erwiesen sich bestehende zweier Konstellationen häufig als
Basis dieser Einheiten, wie es sich bei Michael und dessen später ermordeten Bruder zeigte.

93
Analyse

»(…) the persistence of the small friendship group is striking. This harmony seems to be
explainable in the first place by the personality of Michael and his brother, who quite clearly
constituted the core of the small friendship group.«380

Bezeichnend ist, dass vor allem größere Gruppen nach nur kurzer Zeit sowie meist unfreiwillig
durch den äußeren Einfluss der SS getrennt wurden, dennoch strebten die Befragten einen
langfristigen Erhalt dieser spezifischen Dynamik an. Eine langfristige Bindung dominierte vor
allem die Gefährtenschaft, wobei zehn der weiblichen und zwanzig der männlichen Befragten
eine dauerhafte Wegbegleitung entwickeln und erhalten konnten. Kurzfristige, jedoch keineswegs
weniger enge Bindungen, erwähnten vor allem die männlichen Überlebenden, wobei sowohl drei
männliche als auch weibliche Befragte kurzweilig lose Gefährtenschaft pflegten. Die eher raren
spontanen Zusammenschlüsse ereigneten sich unter den extremen Bedingungen der letzten
Phase, die geprägt von Todesmärschen war, wie sich Margot erinnerte: »On the foot march from
Geislingen to Dachau when she was near death a Hungarian girl kept her on her feet and
supported her, sometimes pulling her along.«381 Allen hingegen, der nach dem Verlust seines
Bruders Ignatz um keinen Ersatzgefährten bemüht war, verlor seinen spontanen Marschbegleiter.

»On the three day foot march from Flossenbürg to liberation Allen and another prisoner marched
together. Allen, in reply to a direct question, said that they marched arm in arm at one time but
that the other prisoner became exhausted. Allen said he could not sustain him, and that this other
prisoner sat down and was shot.«382

Innerhalb dieser spontanen Unterstützungen wurde vonseiten der Befragten wenig Augenmerk
auf die Persönlichkeitsmerkmale ihrer Begleiter*innen gelegt. Je dauerhafter die Bindungen
waren, desto augenscheinlicher kristallisierten sich Ähnlichkeiten und Differenzen heraus, wobei
beide Merkmale durchaus Vor- und Nachteile mit sich brachten. Hinsichtlich der
Gemeinsamkeiten waren ähnliche Sichtweisen, Einstellungen und Interessen neben einer
geteilten nationalen sowie sozialen Herkunft förderliche Faktoren für die Entwicklung einer
Gefährtenschaft als auch der Herausbildung einer Gruppe. Jedoch wiesen die
Zusammenschlüsse ebenso unterschiedliche Merkmale auf, die einander ergänzende Einheiten,
unabhängig von Bildungsstand, sozialer Herkunft sowie Alter, hervorbrachten. Denn ergänzende
Differenzen wie unterschiedliche körperliche Fähigkeiten als auch individuelles Geschick sowie
divergierende Lebenseinstellungen beförderten die Überlebensstrategien der Gefährt*innen als
auch der Gruppenkonstellationen. Besonders einschneidend waren Verlusterfahrungen, wobei
nahezu alle unserer Überlebenden, die diese erschütternde Erfahrung machten, der unfreiwilligen
Einsamkeit mittels der Entwicklung einer neuer Gefährtenschaft entgegenwirkten. Interessant ist,
dass diese Ersatzpartner*innen eklatante Gegensätzlichkeiten zu den verlorenen Gefährt*innen

380
Interviewprotokoll 25 »Jim«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series
1, Box 1, pag. 4.
381 Interviewprotokoll 16 »Selma«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I,

Series 1, Box 1, pag. 4.


382
Interviewprotokoll 49 »Ralph«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series
1, Box 1, pag. 5.

94
Analyse

aufwiesen und sich hinsichtlich ihrer Persönlichkeitsmerkmale ebenso von ihren neuen
Begleiter*innen unterschieden. Innerhalb der Herausbildung von Überlebenseinheiten waren
sowohl Gemeinsamkeiten als auch ergänzende Unterschiedlichkeiten förderlich, für den Erhalt
der Bindungen war jedoch die Reziprozität ein maßgebender Faktor, um die sozialen
Beziehungen zu koordinieren. George brachte die dahinterliegende Tit-for-Tat-Strategie wie folgt
auf den Punkt:

»When I got my first package, I kept about one tenth of it and gave the rest to others, most of
whom were acquaintances, but not yet friends. (…) My second package came about three weeks
later and by then I had begun to calculate about who might give me something in return.«383

Denn die Ausgewogenheit respektive Wechselseitigkeit innerhalb der Bindungen stellte die Basis
der Kooperation dar. Die Erhaltung der Balance beruht auf Gegenseitigkeit und fördert die
Legitimität der Bindung sowie die Loyalität. In den Narrationen der Überlebenden spiegelt sich
diese Vertrauensfrage in Form des gerechten Teilverhaltens innerhalb ihrer Bindungen wider,
wobei subjektiv empfundene Imbalance häufig mittels situativen Gegebenheiten gerechtfertigt
wurden. Inge, die den Tod ihrer Gefährtin Eva lange Zeit nicht wahrhaben wollte, erinnerte sich
an ihre Ersatzverbündete Charlotte mit gemischten Gefühlen.384

»In the pair relationship Inge took responsibility most often, and Inge was the most optimistic.
Other prisoners, in speaking to Inge, accused Charlotte of taking advantage of Inge. Inge stoutly
maintains that the sharing was on the basis of complete mutuality and that Charlotte was utterly
loyal in her friendship. Inge said, ›She was the kind of person who had to have somebody for a
friend and at the same time had difficulty getting along with other people.‹«385

Die Überlebenden fanden für erhaltene Hilfeleistungen durchwegs anerkennende Worte, wobei sie
häufig ihre eigene Hilfsbereitschaft schmälerten. Imbalance wurde jedoch auch freiwillig erzeugt,
um das schwächere Gegenüber zu unterstützen, wie beispielsweise im Falle von Lagermüttern und
-vätern, die versuchten von ihren Eltern getrennte Kinder zu unterstützen. An eine ähnliche Art der
Unterstützung erinnerte sich Wolf, der ebenso zu den jüngeren Häftlingen zählte:

383 Interviewprotokoll 35 »Felix«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series

1, Box 1, pag. 7.
384 Angemerkt sei, dass Inge zum Zeitpunkt des Interviews mit Elmer Luchterhand festhielt, dass die Freundschaft

zwischen ihr und Charlotte nun vorbei sei. Diese Sichtweise veränderte sich jedoch über die Jahre, wie ein Interview
mit Inge zeigt, in welchem sie an mehreren Stellen ihre Dankbarkeit gegenüber ihrer Gefährtin ausdrückte, sowie im
Segment 193 eine Fotografie der beiden aus dem Jahr 1989 vorzeigte. Siehe hierzu: Berner, Inge. Interview 31206.
Interview by Nonie Akman. Visual History Archive, USC Shoa Foundation, July 15, 1997. Accessed 21.07.2021.
[https://vha-usc-edu.uaccess.univie.ac.at/viewingPage?testimonyID=34182&segmentNumber=0#].
Ebenso finden sich anerkennende Worte für Inge in den Memoiren von Charlotte: Arpadi Baum, Charlotte: Charlotte’s
memoirs. October 8, 1991. Claims Conference Holocaust Survivor Memoir Collection. Library Call Number:
DS134.42.B377 A3 1991. Accessed at the United States Holocaust Memorial Museum on 30.07.2021.
[https://collections.ushmm.org/search/catalog/bib265411].
385
Interviewprotokoll 43 »Trudy«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series
1, Box 1, pag. 4f.

95
Analyse

»(…) ›a lot of prisoners helped me; they gave me bread at times, and I often got extra soup.‹ At
Auschwitz-Buna one bricklayer got more food than he needed and regularly gave the surplus to
Wolf. Wolf stated repeatedly in the interview ›I didn’t ask for anything.‹«386

Im Gegensatz dazu sorgten bewusst wahrgenommene Unausgewogenheit innerhalb von


gleichwertigen Überlebenseinheiten jedoch für erhebliches Konfliktpotential, wobei mittels
deeskalierendem Verhalten versucht wurde die Beziehungen aufrechtzuerhalten. Trotz der
vorherrschenden allgemeinen Gereiztheit innerhalb der Lager gelang es unseren Überlebenden
aufkommende Streitigkeiten meist beizulegen. Eskalationen gingen vorwiegend mit
Persönlichkeitsveränderungen einher und sorgten wie im Fall von Fritz für eine Abgrenzung von
dessen Gefährten:

»At another camp (…) Heinrich was both Kapo and block senior. ›Here Heinrich started to show
his authority.‹ He became arrogant and shouted at everyone, including Fritz. Although they still
shared in the beginning at Kratzau, this practice soon came to an end.«387

Eine weitere Besonderheit stellten Paarbeziehungen dar, wobei die Bandbreite von
Ehegemeinschaften über Liebesbeziehungen bis hin zu ausschließlichen Sexualpartnerschaften
reichten. Ehe- und Liebesbeziehungen waren vor allem geprägt von Opferbereitschaft, wobei
nahezu alle unserer Überlebenden den Verlust ihrer Liebsten erlitten. Von den verpartnerten
Befragten verloren sieben ihre Ehefrauen und -männer im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau
durch deren Erstickung in den Gaskammern, drei der Ehefrauen mussten den Tod ihrer Männer
durch Krankheiten im Ghetto sowie im Austauschlager Bergen-Belsen miterleben und zwei der
jüngeren Frauen verloren ihre ersten Liebespartner durch den nationalsozialistischen Terror.
Hinsichtlich der Liebesbeziehungen zeigte sich, dass diese eher mit Erwartungshaltungen
verbunden waren, die zu erheblichen Spannungen führen konnten. Hingegen waren die
Ehepaare darum bemüht einander Sicherheit zu geben, vor allem jene, die gemeinsam mit ihren
Kindern nach Bergen-Belsen deportiert wurden, versuchten ihre Familienmuster zu erhalten. Die
Opferbereitschaft der Mütter für ihre Kinder und vice versa kristallisiert sich vor allem durch deren
gegenseitige Begleitung bei einseitigen Selektionen für einen Transport heraus. Margot begleitete
ihren Sohn völlig unvorbereitet nach Auschwitz-Birkenau: »At Lodz her son was taken but she
was not. She followed him to the station and was herded into the same car with him. In the cattle
car her son shared everything he had with her. She had brought nothing with her.«388 Die Fürsorge
unter Ehepartnern zeigte sich bei Karoline, die für ihren Mann ein gefährliches Wagnis einging:

»She had assured him during his illness that no matter what happened, she would somehow get
to be with him when he was taken to the hospital. But she was unable to get the required three
signatures from the doctors requesting that she be allowed to enter the hospital. (…) She went

386
Interviewprotokoll 10 »Edward«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I,
Series 1, Box 1, pag. 4.
387 Interviewprotokoll 51 »Harry«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series

1, Box 1, pag. 4.
388
Interviewprotokoll 16 »Selma«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I,
Series 1, Box 1, pag. 4.

96
Analyse

into the hospital without permission as the last in line and requested permission herself. Her
boldness won the support of another Jewish prisoner doctor with the result that she got the
permission, definitely a rare concession.«389

Bezeichnend ist, dass die Frage nach spezifischen Bedingungen für die Bewältigungsstrategien
der Überlebenden eng mit den vorgefundenen Räumen in Verbindung steht. Dahingehend gilt es
die Annahme der nationalsozialistischen Durchdringung der Räume innerhalb der
Konzentrationslager zu hinterfragen. Denn hätte diese ihre totale Verwirklichung in Form von
absolut kontrollierten Räumen erreicht, so wäre eine Schaffung von privaten, intimen sowie
informellen Begegnungszonen nahezu unmöglich gewesen. Die Tatsache, dass es sich bei den
nationalsozialistischen Konzentrationslagern, um ein System des Überwachens und Strafens mit
einer panoptischen Parzellierung des Raumes handelte, steht außer Frage.390 Jedoch zeigten die
analysierten Narrationen, dass gerade die geschaffenen intimen, privaten und informellen Räume
essenziell für die Verwirklichung von Strategien anhand der Beziehungsgeflechte waren. Darüber
hinaus war die Nutzbarmachung von Handlungsräumen auf horizontaler, lateraler sowie vertikaler
Ebene nicht zuletzt abhängig von informellen Begegnungs- und Entscheidungsräumen. Denn
innerhalb der Häftlingsgesellschaften kommt es zu einer permanenten Aushandlung von
Machtbalancen, wobei im Sinne von Elias »reziproke und multipolare Abhängigkeiten und
Kontrollen«391 sichtbar werden. Diese wechselseitigen Abhängigkeiten waren vor allem auf der
Ebene der Häftlingsorganisation mit Machtchancen und Machtdifferenzialen verbunden, wie die
Einschätzung von Vratislav zeigt:

»The SS men needed the politicals for administration; they needed the greens for graft. The
political in turn needed the greens because of the strategic position of the latter in the kitchen and
the clothing warehouse. In Mauthausen the green needed the politicals because of the strategic
position of the latter in the hospital set-up. Politicals in the labor allocation office (Arbeitseinsatz)
were also able to influence, or practically determine the assignment to jobs or alternatively the
assignment to what often were fatal transports. (…) each of the categories mentioned had certain
jurisdictional areas which were definitely limited, however, by frequent SS interventions.«392

Wesentlich ist, dass diese funktionalen Abhängigkeiten alle Ebenen der Beziehungsgeflechte
innerhalb der Konzentrationslager durchzogen und sowohl hemmend in Form von Stressoren auf
die Betroffenen wirkten als auch fördernd für die Aktivierung von Ressourcen respektive
Entwicklung von Bewältigungsstrategien sein konnten.

389 Interviewprotokoll 13 »Minna«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series

1, Box 1, pag. 4.
390
Vgl. Foucault, Michel: Der Panoptismus, in: Überwachen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses, 10. Auflage,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, 251- 292.
391 Elias, Norbert: Was ist Soziologie?, 88f.
392
Interviewprotokoll 36 »Steve«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series
1, Box 1, pag. 8f.

97
Analyse

5.5 Strategien: individuelle, kollektive und räumliche Bewältigung

Die in der Analyse herausgearbeiteten ursächlichen, intervenierenden und kontextuellen


Bedingungen wirkten sich sowohl auf die Beziehungsgeflechte als auch auf die Handlungen und
Interaktionen der Betroffenen aus. Die konkreten Bewältigungsstrategien der befragten
Überlebenden können auf der individuellen, kollektiven sowie räumlichen Ebene verortet werden,
wie nachstehende Abbildung veranschaulicht.

Abbildung 5: Kodierparadigma: Detailansicht Strategie

Die individuelle Bewältigung äußerte sich sowohl in psychischer als auch physischer Form, wobei
die mentalen Strategien der Überlebenden von optimistischem Denken über Selbstreflexion bis hin
zu kognitiver Selbstbeherrschung reichte. Die bewusste Regulierung des eigenen Verhaltens und
die Selbstreflexion halfen der Unvorhersehbarkeit des Lageralltags mittels stetig wachsender
Erfahrung zu begegnen und förderte die Fähigkeit gefährliche Situationen zu erkennen respektive
zu vermeiden. Ebenso war ein erklärtes Ziel vor allem gegenüber den Peiniger*innen keine
Schwäche zu zeigen und ihren Gräueltaten mit stoischer Gefasstheit zu begegnen, wie sich anhand
von Rudys Reaktion auf eine einstündige Kollektivbestrafung begleitet von roher Gewalt zeigte.

»When Rudy came back to the block his companions were afraid for his life. They asked him what
they could do for him, and he remembers managing to say ›Nothing – maybe a puff on a cigarette.‹
Rudy says ›This was the way the group members playing down the torture was good for morale.
I tried never to show to friend or enemy that I had pains.‹«393

Ähnlich verhielt es sich bei Ernst, der nach der extremen Tortur des sogenannten »Baumhängens«
gegenüber seinen Mithäftlingen im Moment höchster Erschöpfung meinte: »Coming down is

393
Interviewprotokoll 40 »Bennet«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I,
Series 1, Box 1, pag. 6f.

98
Analyse

wonderful that the rest is all forgotten.«394 Diese Aussage brachte ihm innerhalb der
Häftlingsgesellschaft den anerkennenden Ruf eines widerstandsfähigen und optimistischen
Menschen ein. Der Rückzug in mentale Welten half nicht zuletzt bei der individuellen Bewältigung
der Erfahrung von extremer Gewalt, sondern diente beispielsweise den Müttern als unterstützendes
Mittel für den Lebenserhalt ihrer Kinder, wie es Margaret bei ihrer Tochter Suzanne tat: »(…) when
I couldn’t eat the turnips and she told me stories about when she was a little girl and they were like
magical stories to me.«395 Der kurzweilige Rückzug in mentale Welten zeigte sich besonders
eindrücklich bei Mirko, der aus diesen Phantasien innere Stärke schöpfte: »He would mentally take
a trip to Australia, try to visualize everything he had come to know about the continent or he would
reconstruct a city laying out its streets and business districts (…) in his mind.«396 Neben der
individuellen mentalen Bewältigung wurden ebenso physische Strategien sichtbar, wie die
Aufrechterhaltung der täglichen Hygiene und der Versuch der körperlichen Schonung. Als
wesentlichen Faktor in diesem Zusammenhang nannten die Überlebenden die eingenommene
Haltung sowie das damit verbundene Auftreten. Denn wie Henry betonte: »Pose and dress made
the difference between life and death many times.« Bei den befragten Frauen zeigte sich der
Stellenwert der Aufrechterhaltung der Weiblichkeit als wesentliche Strategie, wie es vor allem
Haydee hervorhob:

»(…) very early in her imprisonment she organized a piece of string with which she designed a
brassiere which she wear throughout the camps. She credits her use of lipsticks and attention to
appearance with her survival and with the fact that she was able to always report her age as ten
years younger. (…) At Mauthausen she made up for the loss of her curls by wearing a scarf (…).
She also used a graphite pencil for her eyebrows. Against the grossness and violence of the SS
this informant seems to have opposed a scrupulous femininity.« 397

Im Kontext dieser individuellen Strategien kristallisierte sich darüber hinaus die Zustimmung
respektive Ablehnung von Diebstählen sowie der Umgang mit Selbstmordgedanken als Indikator
für gelungene oder misslungene Spannungsbewältigung heraus. Die Ablehnung von Selbstmord
äußerten 28 der Befragten, wobei 12 aufgrund der traumatischen Erfahrungen von
Selbstmordgedanken geplagt wurden, jedoch erfolgreich dagegen ankämpften, denn wie Edith
betonte: »Never! I wouldn’t give them the safisfaction.«398 Wesentlich ist, dass 33 unserer
Überlebenden Diebstähle kategorisch ablehnten, 13 erwähnten konkrete Diebstahlhandlungen,
wobei diese meist auf drastischen Verschlechterungen der Lagerbedingungen sowie auf situativen

394 Interviewprotokoll 38 »Sol«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series

1, Box 1, pag. 7.
395 Whiteley, Suzanne. Interview 2519. Interview by Wendy Lipsman. Visual History Archive, USC Shoa Foundation, May

12, 1995, Tape 3, SEQ 88, TC: 00:24:28-00:24:38.


396
Interviewprotokoll 37 »Boris«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series
1, Box 1, pag. 6.
397
Interviewprotokoll 12 »Amy«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series
1, Box 1, pag. 6. Angemerkt sei, dass diese weibliche Überlebende ein besonderes Geschick in der Erhaltung ihrer
Weiblichkeit bewies und zu diesem Zweck Kosmetikprodukte aus Margarine herstellte, welche sie ebenso zum Tausch
für zwei Scheiben Brot anbot.
398
Interviewprotokoll 28 »Julia«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series
1, Box 1, pag. 2.

99
Analyse

Notlagen gründeten. Darüber hinaus erwähnten zwei der Befragten im Zusammenhang mit ihrer
schlechten körperlichen Verfassung, dass sie kurzzeitig zu sogenannten »Leichenzüchter*innen«
wurden, um eine Extraration zu erhalten. Diebstahlgedanken überkamen zeitweilig 12 der
Überlebenden, die sich jedoch bewusst dagegen entschieden oder wie im Fall von Eric mittels
Selbstreflexion ihre Tat revidierten:

» (…) at Minsk when he worked on the burial detail, he had a lot of chances to take things from
corpses, and that on one occasion he took a watch, and then felt badly about it and returned it to
the widow. (…) He then told on other occasions he felt like trying to take something and then
somehow he just didn’t do it.«399

Hinsichtlich des Diebstahlverhaltens spielte vor allem der Häftlingskodex eine intervenierende Rolle
in Form eines normativen Regulatives, welches aufgrund des kollektiven und geahndeten
Fremdzwanges der kompromisslosen Ablehnung von Häftlingsdiebstählen, die erfolgreiche
Selbstregulierung beförderte. Eine weitere Bewältigungsstrategie, die meist eine bewusste
individuelle Entscheidung voraussetzte, war die Zustimmung oder Ablehnung gegenüber einer
funktionalen Position innerhalb der Häftlingshierarchie. Von den Befragten nahmen 21 sowohl kurz-
als auch langfristig formelle vermeintlich privilegierte Positionen ein, diese reichten von Hilfs- über
Schreibtätigkeiten bis hin zu Funktionen als Vorarbeiter*innen, Stuben- und Blockälteste. Diese
Entscheidung stand ihnen frei, konnte jedoch für die informelle Häftlingsorganisation von großem
Nutzen sein. Des Weiteren waren manche dieser Tätigkeiten mit enormen Spannungszuständen
verbunden, brachten jedoch durchaus Privilegien mit sich, vier der Überlebenden lehnten ein
derartiges Angebot respektive eine Partizipation ab. Denn die Teilhabe an der
»Häftlingsselbstverwaltung« war je nach Position mit einem mehr oder weniger starken
Entscheidungsdruck verbunden, wobei die Reaktionen von extremer Anspannung bis hin zu
Überlegenheitsgefühlen reichten. Einer unserer Überlebenden, der innerhalb seiner Funktion
Momente extremer Spannungszustände durchlebte, sowie ein extremes Geschick für die positive
Nutzbarmachung der Grauzone für die Häftlinge bewies, meinte hinsichtlich seiner Position
innerhalb der Häftlingshierarchie: »I am sure it isn’t often that you interview the kings second
minister of a Nazi concentration camp.«400

Die kollektiven Bewältigungsstrategien lassen sich anhand der Überbegriffe Organisation,


Engagement und Kultur verorten. Ersterer bezieht sich vorwiegend auf Solidaritätsakte sowohl in
kleineren als auch in größeren Überlebenseinheiten, um durch kollektive Zusammenschlüsse
Ressourcen für die Bewältigung des Lageralltags sowie von Extremsituationen zu aktivieren.
Bezeichnend sind hierfür getroffene Vereinbarungen, wie beispielsweise Versicherungsverträge
gegen die willkürliche Strafmaßnahme des Rationsentzugs, das organisierte Merken von Namen
mit dem Versprechen einer Todesmeldung an Verwandte gegen das System des Vergessens,

399 Interviewprotokoll 48 »Alfred«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series
1, Box 1, pag. 4f.
400 Von einer namentlichen Nennung wird aufgrund des Schutzes der persönlichen Integrität Abstand genommen.

100
Analyse

das Entwickeln eines Warnsystems innerhalb der Arbeitskommandos und Blockgemeinschaften


um den überraschenden Übergriffen der SS entgegenzuwirken aber auch die gegenseitige
spontane Unterstützung in Situationen extremer Belastung, wie bei Strafappellen, Fußmärschen
oder in Transportsituationen. Diese spezifische Form der Häftlingsorganisation war häufig
getragen durch nationale Zusammenschlüsse sowie durch den Häftlingsuntergrund unterstützt,
so gelang es beispielsweise durch organisiertes Handeln vonseiten der Häftlinge innerhalb der
»Evakuierungstransporte« in den einzelnen Waggons jeweils medizinisches Personal zu
positionieren, wie sich Friedel erinnerte:

»The first car in which Friedel rode for a little more than two days included Czech, Polish and
Russian women mainly. There were two or three deaths, and one birth at which a Russian woman
doctor attended.«401

Das Engagement innerhalb der Häftlingsgesellschaft äußerte sich in Form von


»Sabbotageakten« der Arbeitskommandos, die durch ihren Zugriff auf Kleidungsstücke oder
andere nützliche Dinge Häftlingsgruppen unterstützen, wie sich Rose erinnerte: »(…) others
smuggled clothing out and threw it over a fence to another group of barracks where people were
literally without any clothing.«402 Darüber hinaus kam es neben Hilfeleistungen innerhalb kleinerer
Überlebenseinheiten und nationalen Zusammenschlüssen zu kollektiven Rettungsaktionen im
größeren Still, die mit der Abgabe eines Teils der individuellen Essensration der Helfenden
verbunden war. Durch diese Essensspenden wurden insbesondere Kinder und Neuankömmlinge
in schlechter gesundheitlicher Verfassung unterstützt, davon profitierte unter anderem Michael.

»At Buchenwald, all prisoners arriving from other camps with picrin poisoning were given double
rations in accordance with an established procedure of the prisoner apparatus established by
politicals there.«403

Das kulturelle Leben inmitten der Häftlingsgesellschaft reichte von der Aufrechterhaltung religiöser
Traditionen über wissenschaftliche Diskussionen und Vorträge bis hin zu Bühnendarbietungen. Die
bewusste Loslösung von der schier unerträglichen Wirklichkeit verbunden mit der Leichtigkeit und
zugleich Ernsthaftigkeit des Spiels bot darüber hinaus eine reflexive Plattform innerhalb des
Lageralltags. Denn diese Darbietungen enthielten häufig versteckte politische Botschaften, im
Zusammenhang mit Möglichkeiten des verborgenen Informationsaustausches war die Kreativität
der Häftlinge bemerkenswert, wie auch die Erinnerung von Mirko, an dessen den Lagererfahrungen
zwischengelagerten Gefängnisaufenthalt, bezeugt.

401
Interviewprotokoll 18 »Greta«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series
1, Box 1, pag. 5.
402 Interviewprotokoll 6 »Edna«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series

1, Box 1, pag. 5.
403
Interviewprotokoll 25 »Jim«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series
1, Box 1, pag. 8.

101
Analyse

»At Amberg Prison there was an underground organization which ›met‹ in the church on Sunday.
(…) The ceremony was given in German and Mirko translated it at intervals into Bohemian and
offered political inserts and interpretations with the translations.«404

Wesentlich ist auch, dass dem erwähnten Umgang mit Diebstählen das sogenannte
»Organisieren« diametral gegenüber stand, welches verbunden mit dem Tauschhandel am
Schwarzmarkt, eine durch die Häftlingsgesellschaft geduldete individuelle und zugleich kollektive
Bewältigungsstrategie darstellte. Denn durch diesen kollektiven Austausch wurden unter anderem
Bestechungen des Wachpersonals bis hin zur Lagerleitung ermöglicht, welche mitunter die
Reduktion von Transport- und Selektionslisten befördern konnte. Entscheidend für die kollektiven
Verhaltensweisen innerhalb der Häftlingsgesellschaften war vor allem der jeweilige
herausgebildete und vorherrschende Häftlingskodex. Vratislav der sich als Häftlingsschreiber des
Krankenbaus in Mauthausen kurz vor der Befreiung an der Sabotage einer Selektion von rund
3.000 Häftlingen, die in den Gaskammern ermordet werden sollten, beteiligte und sich weigerte
daran teilzunehmen,405 betonte im Zusammenhang mit den Verhaltensweisen: »(…) it was most
important to be recognized as a good fellow. (…) One could not exist in the camp without
participating somehow in a sharing relationship.«406 Dies bestätigte auch die Aussage eines
langjährigen Blockältesten, der im Falle des Entscheidungsdruckes hinsichtlich des Transportes
von Häftlingen ins Ungewisse betonte: »[he] usually had assigned to it those he regarded as
socially less valuable.«407 Einen weiteren vorwiegend individuellen Faktor stellt die räumliche
Bewältigung dar, welche sich vor allem auf Veränderungen, um einerseits Bedrohungen zu
entgehen sowie Begegnungsräume zu schaffen, bezieht und andererseits auf damit verbundene
Routinebrüche. Letztere konnten in Situationen der extremen Belastung ein Gefühl der
Zufriedenheit bewirken, wie die emotionale Lage von Fritz während des bis zur Befreiung
anhaltenden Todesmarsches verdeutlicht:

»This march was in some ways a relief from life in the camp, even though we had little to eat and
were usually thirsty, and the weather was often very cold. Here on the march we could see people
living somehow as before, and things were going on all around.«408

Jedoch wirkten kurzzeitige bewusste und durchaus gefährliche räumliche Veränderungen in Form
des Ausfindigmachens eines Verstecks den alltäglichen Lagerbedrohungen entgegen, drei unserer
männlichen als auch weibliche Überlebende wandten diese Strategie an, um durchgeführten
Selektionen und den damit verbundenen Abtransport ins Ungewisse abzuwenden. Ein weitaus

404 Interviewprotokoll 37 »Boris«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series
1, Box 1, pag. 9.
405
Sieh hierzu ebenso Freund, Florian/Perz, Bertrand: Mauthausen-Stammlager, in: Wolfgang Benz und Barbara Distel
[Hg.]: Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 4: Flossenbürg,
Mauthausen, Ravensbrück. München: C.H. Beck 2006, 331.
406
Interviewprotokoll 36 »Steve«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series
1, Box 1, pag. 11.
407 Von einer namentlichen Nennung wird aufgrund des Schutzes der persönlichen Integrität Abstand genommen.
408
Interviewprotokoll 51 »Harry«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series
1, Box 1, pag. 6.

102
Analyse

größeres Risiko stellten Fluchtgedanken dar, welche mit individuellen wie kollektiven Stressoren
verbunden waren und im Falle des Scheiterns weitreichende Konsequenzen nach sich zogen.
Denn Fluchtversuche gingen mit kollektiven Strafmaßnahmen der Häftlingsgesellschaft sowie der
Tötung von Kompliz*innen einher und endeten im Falle des Scheiterns mit der öffentlichen
Hinrichtung der Geflüchteten. Trotz aller Widrigkeiten gelang vier unserer Überlebenden im Chaos
der Endphase des nationalsozialistischen Terrors die Flucht, eine davon war Inge, die gemeinsam
mit ihrer ungleichen Gefährtin Charlotte diesen Schritt wagte.

»Inge and Charlotte escaped from the march during a period of wild shooting, Inge received a
flesh wound on the scalp and was abandoned as dead or dying along with Charlotte who was
lying uninjured beside her.«409

Derartige Pläne erforderten neben dem spontanen Mut zur Umsetzung häufig eine
vorangegangene Auslotung der Möglichkeiten, dies beinhaltete die Schaffung von informellen
Räumen. Innerhalb dieser Begegnungsräume gelang es n seltenen Fällen eine stille Hilfe durch
zivile Personen zu verwirklichen, die im Umfeld der Konzentrations- und Vernichtungslager
agierten. Das in diesem Zusammenhang bekannteste Beispiel stellt die Intervention von Oskar
Schindler dar, zu den dadurch Geretteten zählte die Überlebende Hilde, der es aufgrund ihrer
deutschen Sprachkenntnisse sowie ihrer Profession als Sekretärin und Stenotypistin gelang sich
und andere auf Schindlers-Liste zu setzen.410 Eine andere Form der stillen Hilfe fand unter anderem
auch Walter nach der schmerzhaften Trennung von seiner Mutter in Auschwitz-Monowitz, dort
unterstützte ihn ein deutscher Zivilist namens Max, den er als seinen Lebensretter bezeichnete.411
Charles erinnerte sich an die stille Hilfe eines zivilen polnischen Vorarbeiters in den Kohleminen
des Außenlagers Fürstengrube, dieser Mann gab ihm die Möglichkeit sich auszuruhen, brachte
Charles regelmäßig Essen und stellte als Mittelsmann den Briefkontakt zu dessen Tante in Wien
her.412 Die Schaffung informeller Räume als potentieller Überlebensfaktor verdeutlicht sich in der
anerkennenden Erinnerung durch Charles an diese stille Hilfe unter Tage: »And that’s were I found
my private Schindler. I call him private Schindler because he helped me to suvive.«413 Innerhalb
der Aktivierung von Ressourcen der Bewältigung mittels sozialer Beziehungen kristallisierte sich
in den Narrationen unserer Überlebenden der zentrale Aspekt von funktionaler sozialer
Unterstützung heraus. Wesentlich ist, dass diese mehrdimensionale Handlungs- und
Interaktionsstrategien eng mit den daraus resultierenden Konsequenzen verzahnt sind.

409 Interviewprotokoll 43 »Trudy«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series
1, Box 1, pag. 5.
410 Siehe hierzu: Hesse, Reinhard [Hg.]: »Ich schrieb mich selbst auf Schindlers Liste«. Die Geschichte von Hilde und

Rose Berger. Gießen: Haland & Wirth im Psychosozial-Verlag 2013.


411
Winters, Walter. Interview 32676. Interview by Sara Ghitis. Visual History Archive, USC Shoa Foundation, August
29, 1997, Tape 3, SEQ 59-62, TC: 00:01:20-00:04:22. Accessed 06.09.2021. [https://vha-usc-
edu.uaccess.univie.ac.at/viewingPage?testimonyID=35256&segmentNumber=0#].
412
Vgl. Interviewprotokoll 46 »Martin«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I,
Series 1, Box 1, pag. 3.
413 Holzer, Charles. Interview 379. Interview by Benjamin Weiner. Visual History Archive, USC Shoa Foundation,

December 5, 1994, Tape 3, SEQ 64, TC: 00:04:16-00:04:26. Accessed 25.09.2021. [https://vha-usc-
edu.uaccess.univie.ac.at/viewingPage?testimonyID=185&segmentNumber=0#].

103
Analyse

Dahingehend galt es, die sichtbar gewordene soziale Unterstützung sowohl auf ihre spezifische
Funktion als auch auf ihren möglichen und tatsächlichen Nutzen zu hinterfragen.

5.6 Soziale Unterstützung als Funktion und Konsequenz

Die sichtbar gewordenen Handlungs- und Interaktionsstrategien der befragten Überlebenden


nationalsozialistischer Konzentrationslager zeigten eine vielschichtige Bandbreite an sich
verwirklichten sozialen Unterstützungen innerhalb der Mehrdimensionalität der
Beziehungsgeflechte. Hinsichtlich der Kategorisierung dieser funktionalen
Bewältigungsstrategien erwiesen sich die Überlegungen zur Messbarmachung von
wahrgenommener und erhaltender Unterstützung durch Thomas A. Wills und Ori Shinar als
richtungsweisend. Denn die Einordnung von funktionalem sozialen Support der Autoren basiert
auf der Grundannahme, dass die verfügbaren Ressourcen für die Bewältigung von akuten sowie
anhaltenden Stressoren durch soziale Beziehungen generiert und bereitgestellt werden, wobei
soziale Reziprozität sowie Kohäsion eine zentrale Rolle spielen. Die miteinander verknüpften
Dimensionen sozialer Unterstützung können anhand ihrer Funktionalität auf fünf Ebenen
voneinander abgegrenzt sowie mit dem erwarteten Nutzen verknüpft werden.414 Diese
Multidimensionalität der funktionalen Messbarmachung nach Wills und Shinar wurde für die
vorliegende Arbeit in angepasster Form, wie in nachstehender Tabelle veranschaulicht, als
analytischer Rahmen herangezogen.

Funktion soziale Unterstützung mögliche Konsequenzen

emotionale Gespräche über Sorgen, Ängste und Verringerung der wahrgenommenen

emotional support Gefühle; Bekundung von Sympathie, Bedrohlichkeit; Verstärkung von


Zuneigung und Anteilnahme; Selbstbewusstsein; Förderung von
Akzeptanz der Person Bewältigungsstrategien;

instrumentelle Materielle Unterstützung in Form von Beitrag zur Lösung praktischer

instrumental support Essen, Kleidung und Medizin; Hilfe in Probleme; unterstützt die Entwicklung
Arbeitssituationen; anderer Bewältigungsstrategien;

informationell Informationen über Ressourcen; Steigerung des Anteils verfügbaren

informational support Vorschlag von alternativen und Informationen; Erreichbarkeit von


effektiveren Handlungsstrategien; erforderlicher Unterstützung; effektivere
Bewältigung;

Gefährtenschaft Begleitung und Schutz durch Positiver Affekt der Begleitung;

companionship Zugehörigkeit, Geselligkeit und Entlastung und Ablenkung;


support Integration;

414Vgl. Wills, Thomas A./Shinar, Ori: Measuring perceived and received social support, in: Sheldon Cohen, Lynn G.
Underwood und Benjamin H. Gottlieb [Hg.]: Social support measurement and intervention. A guide for health and social
scientists. New York: Oxford University Press 2000, 87f.

104
Analyse

Feedback Orientierung an Normen und Werten; Verringerung der subjektiven

validation kritische Fremdeinschätzung von Wahrnehmung von eigenen


Verhaltensweisen und Gefühlen; Abweichungen; kritische Reflexion als
Möglichkeit der Orientierung und
Bewältigung;

Tabelle 4: Eigene Darstellung: Funktionen und Konsequenzen sozialer Unterstützung [Wills/Shinar 2000:89]415

Wesentlich ist, dass alle unsere Überlebende in irgendeiner Form Bezug auf funktionale soziale
Unterstützungen nehmen. Jene, die eine Tendenz zum Einzelgängertum aufwiesen, erwähnten
in ihren Erinnerungen zwar augenscheinlich den Erhalt von sozialem Support, jedoch missglückte
in weiterer Folge die Einordnung dieser Erfahrung innerhalb der subjektiven Wahrnehmung von
erhaltender Unterstützung und die daraus resultierenden Konsequenzen traten, wenn überhaupt,
lediglich unterbewusst in Erscheinung. An dieser Stelle gilt es zu betonen, dass die Mehrheit der
befragten Überlebenden auf eine Verknüpfung innerhalb einer Form der Gefährtenschaft
zurückblickte und den schutzbringenden Nutzen dieser unterstützenden Begleitungen
hervorhoben. Die Erwähnung respektive Wahrnehmung instrumenteller Unterstützung findet in
über hundert Erinnerungsfragmenten bei 41 der Befragten, dies lässt sich vor allem anhand des
anhaltenden existentiellen Überlebenskampfes begründen, der geprägt war von Hunger,
Krankheit, Zwangsarbeit und Deprivation. Dahingehend sind vor allem Handlungen, welche
spontan und ohne vorangegangene Auslotung der sozialen Reziprozität respektive einer
erwartbaren Gegenleistung erwähnenswert. Diese Unterstützungsakte kristallisierten sich
vorwiegend im Zusammenhang mit belastenden Ausnahmesituationen heraus, wie es das
Verhalten von Leon während des Fußmarsches im Sommer 1944 von Warschau nach Żychlin
exemplarisch widerspiegelte:

»On this march Leon, after six days ›with almost no water‹ finally got a small portion in a cup from
a civilian. At this time his friend was separated from him in the column, but another man,
somewhat older than Leon, begged him for just a part of the water in the cup. There was not
enough for even a good drink for either of them, but this person was at the point of death
apparently, and Leon gave him the cup.«416

Im Regelfall war die instrumentelle Unterstützung, aufgrund der mangelhaften Verfügbarkeit von
lebensnotwendigen Gütern, an Exklusivität respektive einen »erweiterten Egoismus«417
gebunden. Dies zeigte sich anhand der Fixierung auf spezifische Wir-Einheiten wie Familie,
Gefährtenschaft, gruppenspezifische oder nationale Zusammenschlüsse, die in den
mehrdimensionalen Beziehungsgeflechten der Häftlingsgesellschaften verankert waren. Ebenso

415
Anm.: Die deutsche Übersetzung folgt im Wesentlichen jener von Vonneilich. Vgl. Vonneilich, Nico: Soziale
Beziehungen, soziales Kapital und soziale Netzwerke – eine begriffiche Einordnung, in: [Hg.]: Andreas Klärner, Markus
Gamper, Sylvia Keim-Klärner, Irene Moor, Holger von der Lippe und ders. [Hg.]: Soziale Netzwerke und
gesundheitliche Ungleichheiten. Eine neue Perspektive für die Forschung. Wiesbaden: Springer VS 2020, 37.
416 Interviewprotokoll 52 »Roy«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series

1, Box 1, pag. 5.
417
Primo Levi bezieht sich in diesem Zusammenhang auf eine Form des Gruppenegoismus, welchen er treffend auch
als »Nosismus« bezeichnet. Vgl. Levi, Primo: Die Untergegangenen und die Geretteten, 82.

105
Analyse

verwirklichte sich die emotionale Unterstützung meist innerhalb eines ausgewählten


Personenkreises, denn die Nutzbarmachung dieser Ressource erforderte die Schaffung von
intimen respektive privaten Räumen inmitten der kontrollierten Orte des Terrors. Die
unterstützende Funktion in Form von emotionaler Anteilnahme durch Gespräche und
Diskussionen nahmen 35 der Überlebenden bewusst wahr und betonten in diesem Kontext häufig
eine spürbare Erleichterung. Gleichwohl der emotionale Support mehrheitlich innerhalb
gefestigter Zusammenschlüsse sichtbar wurde, konnte dieser auch inmitten der ambivalenten
Grauzone eine förderliche Wirkung zeigen. Eine emotionale Unterstützung auf lateraler Ebene
spiegelte sich beispielsweise in den Erinnerungen von Ernst an dessen Funktion als
Nachtwächter in Buchenwald wider:

»In this period Ernst read hundreds of books and newspapers which were available at this time
at the camp library. When prisoners woke up during the night to go to the latrine they stopped and
talked because waking up in the camp was always experienced as a shock, even after one had
been there for a long time. At such moments they were eager to discuss news and just any
happenings with Ernst.«418

Dieser lose Informationsaustausch verbunden mit der Bereitschaft des Zuhörens förderte bei den
Mithäftlingen die situative Bewältigung durch die emotionale Unterstützung. Wiederum ist der
informationelle Support an zweckdienliche Informationen in Form von Ratschlägen gebunden,
welche meist innerhalb der Interaktion mit erfahreneren »alten« respektive privilegierten
Häftlingen bereitgestellt wurden. Die Bandbreite dieser Informationen reichte von
Radionachrichten, Dolmetschertätigkeiten, Kontakten zur Außenwelt über Hilfe bei der Erlernung
einer nützlichen Profession, die Zuteilung zu einem »besseren« Arbeitskommando, den Schutz
durch Häftlingsorganisationen bis hin zur Auslotung von Fluchtplänen sowie der Erteilung
praktischer und moralischer Ratschläge. Wesentlich ist, dass die informationelle Unterstützung
das Potential hatte die eigene Erfahrung zu steigern und wie im Fall von Otto effektivere
Bewältigungsstrategien hervorbrachte.

»(…) a prisoner asked Otto ›Do you want to stay healthy? Then don’t work and eat well!‹ For
Otto this was the beginning of a thoughtful reorientation of his efforts to survive. (…) The half-
mocking advice of the prisoner at the infirmary provoked the thought and belief that by more
active efforts he might determine his own survival (…). Otto credits that moment with ›a change
in my personality.‹« 419

418 Interviewprotokoll 38 »Sol«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series

1, Box 1, pag. 4.
419
Interviewprotokoll 11 »Karl«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series
1, Box 1, pag. 13.

106
Analyse

Darüber hinaus konnte ein informationeller Support zum richtigen Zeitpunkt in Form einer
Warnung über Leben und Tod entscheiden, wie die schmerzhafte Erinnerung von Charles an den
Verlust seines Gefährten Alberts kurz vor der Befreiung zeigt.420

»(…) an SS man announced that the Jews, Gypsies and Poles would be evacuated by truck.
A German from Hamburg saved Charles’ life at that moment by getting him to join the
footmarch and ignore the SS man’s order. Albert went with the truck transport the whole of
which was exterminated.« 421

Eine erweiterte informationelle Unterstützung innerhalb der Beziehungsgeflechte zeigte sich


durch die Äußerung einer kritischen Fremdeinschätzung der Verhaltensweisen innerhalb der
Häftlingsgesellschaft. Diese Feedbackfunktion war aufgrund des rauen Lageralltags häufig mit
Gewalthandlungen verbunden, welche todbringende Konsequenzen für die Delinquent*innen
bedeuten konnten. Die Beobachtung dieser Sanktionen gegen deviantes Verhalten, ausgeführt
von anderen Häftlingen, übte in vielen Fällen einen korrigierenden Effekt auf das persönliche
Handeln aus. Auf horizontaler Ebene betrafen die Bestrafungen Verstöße gegen den informellen
Moralkodex, dessen Verletzung für die Geschädigten entweder individuelle Repressalien, wie bei
Brotdiebstahl oder aber kollektive Strafmaßnahmen beispielsweise im Zusammenhang mit
Fluchthandlungen nach sich zog. Denn abweichendes Verhalten setzte häufig eine Gewaltspirale
in Gang, die durch Androhungen auf lateraler sowie vertikaler Ebene verstärkt wurde. Wesentlich
ist, dass die Feedbackfunktion keineswegs nur einseitig den hierarchischen Strukturen folgte,
sondern durchaus von unten nach oben eingesetzt wurde. Im Fall von Rose führte ihr Feedback
gegenüber dem gewohnheitsmäßig prügelnden weiblichen Kapo vorerst zu einer Unterlassung
gegenüber unserer Befragten und in weiterer Folge generellen Verhaltensänderung.422 Einige der
Überlebenden gingen noch einen Schritt weiter, indem sie ihre Handlungsräume auf die vertikale
Ebene ausweiteten, wobei diese Art der Rückmeldungen mit einem enormen Gefahrenpotential
verbunden war und durchaus längerfristige Konsequenzen nach sich zog. Dieses Eintreten für
sich, aber vor allem für die Mithäftlinge wagten meist jene, die eine privilegierte Position innerhalb
der Häftlingsgesellschaft innehatten, wie es Margot während des schweren Sturms am im
November 1944 im Frauen-Zeltlager von Bergen-Belsen tat.423

»(…) when the tent in which she was then serving as barracks senior, blew down, an SS man
began kicking the woman prisoners in the stomach in order to drive them through the small

420 Angemerkt sei, dass Charles dessen Freund Albert Göttinger warnte und ihm riet sich keinesfalls dem Transport
anzuschließen, jedoch beteuerte Albert, dass er nicht mehr in der Lage war noch länger zu marschieren. Vgl. Holzer,
Charles. Interview 379. Interview by Benjamin Weiner. Visual History Archive, USC Shoa Foundation, December 5, 1994,
Tape 4, SEQ 93, TC: 00:04:09-00:04:15.
421
Interviewprotokoll 46 »Martin«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series
1, Box 1, pag. 7.
422 »Rose said to her ›You are good to me, why is it that you still beat the other women?‹ And in course of time this

women stopped beating anybody.« Interviewprotokoll 6 »Edna«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession
#2001-005, Sub-Group I, Series 1, Box 1, pag. 6.
423 Siehe hierzu: Rahe, Thomas: Bergen-Belsen – Stammlager, 203.

107
Analyse

doorway, she grabbed him by the arm and told him to stop it. He was too surprised at this audacity
to be able to think of anything to do to her, and stopped kicking.« 424

Im Gegensatz zu diesen honorierten Verhaltensweisen wurden vor allem Diebstahlhandlungen


innerhalb der Häftlingsgesellschaft schwer geahndet, wobei es auch hier Fälle von gewaltfreien
Lösungsstrategien gab, die sich vor allem in Form von individuellen oder gruppenspezifischen
Feedbacks äußerten, dennoch überwog in diesem Zusammenhang die strukturbezogene
körperliche Gewalt. Wobei angemerkt sei, dass sich durch das Feedback von erfahreneren
Häftlingen, die wahrgenommenen Sanktionen sowie die Realisation, der innerhalb devianter
Verhaltensweisen verborgenen psychischen und funktionsbezogenen körperlichen Gewalt
gegenüber den Mitgefangenen eine Akzeptanz des vorherrschenden Häftlingskodex einstellte.
Die Herausbildung und Aufrechterhaltung des Normen- und Wertesystems wurde nicht zuletzt
durch die funktionalen sozialen Unterstützungen befördert, sondern auch mittels der damit
verbundenen strategischen Ausschöpfung der Handlungsräume in Form der positiven
Nutzbarmachung der Grauzonen verwirklicht. Hierbei spielt im Sinne Galtungs negative, wie
positive Gewalt eine wesentliche Rolle, wobei sich eine Art Gewaltenteilung herauskristallisierte,
demnach kann sich der Häftlingskodex als Legislative, die »Lagerpolizei«425 als Exekutive und
die »Selbstjustiz« innerhalb der Häftlingsgesellschaft als Judikative eingeordnet werden. Denn
die Häftlingsorganisation war mithilfe der Lagerpolizei darum bemüht, die Ordnung sowie die
damit verbundene Machtbalancen innerhalb des jeweiligen Ortes des Terrors auszutarieren, wie
die folgende Narration auf drastische Weise veranschaulicht.

»[Michael] saw the justice organization (Lagerfehme) in Buchenwald in operation when he


arrived. (…) the members of the camp police at Buchenwald who were under the leadership of
old political prisoners approached the rank and file prisoners in the transport to give them
information about who were the worst prisoner leaders. They asked what such person had done
against prisoners. The next morning twelve Kapos, foremen and block seniors (…) were hanging
from trees within the camp of Buchenwald.«426

Wobei auch hier gilt, dass aus gegenwärtiger Zeitperspektive ein moralisches Urteil obsolet ist.
Wesentlich ist, dass diese sich im Sinne Neuraths herausbildende »mehr oder weniger
strukturierte Gesellschaft«427 innerhalb des Überlebenskampfes einen individuellen sowie
kollektiven funktionalen Nutzen hervorbrachte, wie nachstehende Abbildung veranschaulicht.

424
Interviewprotokoll 16 »Selma«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I,
Series 1, Box 1, pag. 3f.
425 Hierbei handelte es sich um den sogenannten »Lagerschutz«, welcher aus Häftlingen von der SS zusammengestellt

wurde, jedoch durchaus eine Doppelfunktion einnahm und vom Häftlingsuntergrund sowie den nationalen
Häftlingsorganisationen geschickt besetzt wurde. Siehe hierzu exemplarisch: Hacket, David A. [Hg.]: Der Buchenwald-
Report. Bericht über das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar. München: C.H. Beck 1997, 294-296.
426 Interviewprotokoll 25 »Jim«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I, Series

1, Box 1, pag. 9.
427 Neurath, Paul Martin (1943): Die Gesellschaft des Terrors, 197.

108
Analyse

Abbildung 6: Kodierparadigma: Detailansicht Konsequenzen

Angemerkt sei, dass sich der analytische Kreis im Sinne der Grounded Theory verband, indem
die festgestellten Konsequenzen im Zeitverlauf die Handlungs- und Interaktionsreihen als
intervenierende sowie kontextualisierende Bedingungen beeinflussten.428 Dies zeigte sich vor
allem anhand der gesammelten Lagererfahrung, welche selbstregulierende Verhaltensweisen
sowie effektivere Bewältigungsstrategien förderte und mittels der Etablierung des jeweiligen
Häftlingskodexes als regulatives Normen- und Wertesystem. Die vorliegende analytische
Auseinandersetzung zeigte im Sinne Primo Levis, dass Überlebende »objektiv wie subjektiv, das
Konzentrationslager auf (…) [ihre] Weise durchlebt[en]«429, aber anhand ihrer jeweiligen Position,
als »Glied in den Ketten«, die unabdingbare Voraussetzung für den Austausch funktionaler
sozialer Unterstützung waren. Gleichwohl die nachstehende Reflexion von Wolf ein subjektives
Erleben darstellt, ist diese zugleich Sinnbild für den Lageralltag, den Übersetzungsprozess sowie
die quälende Überlebensschuld.

»The most shocking experience in camp in Auschwitz was hearing the cries and screaming from
the people who had to go to the gas chambers. These included women and children. My daily life
in the camp was work, 12 hours a day, little food, beaten up by SS men and expecting my turn
for the gas chamber. My work was mostly carrying the clothes from the people who were sent to
the chambers to the room for disinfection. The friends I had in camps were many, but also many
of them I saw getting shot and killed on transports from one camp to another, because of
weakness. The only good deed I could do in camp for others was sharing food mostly soup with
the weak and hungry.«430

428 Das vollständige Kodierparadigma ist im Anhang abgebildet, siehe hierzu Seite 120 der Arbeit.
429 Levi, Primo: Die Untergegangenen und die Geretteten, 76.
430
Interviewprotokoll 10 »Edward«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005, Sub-Group I,
Series 1, Box 1, pag. 11.

109
6 Fazit: Synthese und Ausblick
»Theoretische Modelle zeigen wie Landkarten die
bisher bekannten Zusammenhänge der Ereignisse.
Wie Landkarten unbekannter Gegenden zeigen sie
dort, wo man die Zusammenhänge noch nicht kennt,
weiße Flächen. (…) Vielleicht sollte man hinzufügen,
daß man sich soziologische Modelle zum Unterschied
von Landkarten als Modelle in Zeit und Raum, also als
vierdimensionale Modelle vorstellen muß.«431

Die analytische Auseinandersetzung mit den Narrationen der moralischen Zeug*innen unter der
Prämisse des Verstehen-Wollens eröffnete den Blick auf ein mehrdimensionales, transaktionales
System sozialer Beziehungen. Die sichtbar gewordenen Beziehungsgeflechte lassen sich in
Anlehnung an Elias432 sowie mittels des Analysewerkzeuges der Bedingungsmatrix433 in Form
von konzentrischen Kreisen begreifen, wobei sich die einzelnen Ebenen von außen nach innen
und vice versa durch gegenseitige Abhängigkeiten und funktionale Bindungen wechselseitig
beeinflussen sowie aufeinander bezogen sind. Denn den Kern dieser konzentrischen Kreise
bildet die funktionale soziale Unterstützung als wesentliche Strategie und Konsequenz innerhalb
des sozialen Innenlebens an den Orten des Terrors. Diese unterstützenden Funktionen sind
wiederum eng mit den individuellen, kollektiven und räumlichen Bewältigungsstrategien verknüpft
und entfalten erst durch interaktionale Handlungen ihren möglichen Nutzen. Dahingehend haben
sich auf der individuellen und kollektiven Ebene sowohl meist unfreiwillige Einzelgänger*innen
als auch konkrete Überlebenseinheiten herauskristallisiert, die in ihrer Größe variierten und von
Gefährt*innen über Familien bis hin zu unterschiedlichen Kleingruppen reichten. Eine weitere
Ebene, die als eine Art Untereinheit gefasst werden kann, ist jene der Funktionshäftlinge, welche
die Grauzonen der Konzentrationslager für die Häftlingsmasse auf positive, ambivalente
respektive negative Art prägten sowie nutzbar machten. Auf der institutionellen Ebene können
die Arbeitskommandos angesiedelt werden, wobei die unfreiwillige Blockgemeinschaft auf der
kommunalen Ebene verortet wird. Eine größere Überlebenseinheit wurde in Form der
Zusammenschlüsse zu Häftlingsorganisationen sichtbar, welche auf nationaler Ebene ihre
Handlungsräume ausloteten, um nationsbezogene Unterstützungsleistungen zu verwirklichen.
Diese konzentrischen Kreise werden umfasst von der jeweiligen Häftlingsgesellschaft, welche
sich durch ihr durchwegs multikulturelles und -linguales sowie transnationales Wesen als
internationale Ebene begreifen lässt.

Darüber hinaus wirken drei wesentliche Faktoren permanent auf dieses transaktionale System
des sozialen sowie wandelbaren Innenlebens der Konzentrationslager ein. Zum einen die Zeit-
Raum-Komponente, die für die Bewältigungsstrategien der befragten Überlebenden positive

431 Elias, Norbert: Was ist Soziologie?, 216.


432
Ebd., 13f.
433 Strauss, Anselm/Corbin, Juliet: Grounded Theory, 132-147.

110
Fazit: Synthese und Ausblick

sowie negative Auswirkungen zeigten. Denn der nicht-lineare Funktionswandel an den


konkreten Orten des Terrors hatte erhebliche Auswirkungen auf die Lager-, Lebens- und
Überlebensbedingungen. Darüber hinaus erschwerten häufige Abtransporte in andere
Zwangsarbeitslager einerseits die Entwicklung sowie den Erhalt von längerfristigen Bindungen
und andererseits glich dies einem erzwungenen Neustart als Neuankömmling an einem
weitgehend unbekannten Ort des Terrors innerhalb einer unvertrauten Häftlingsgesellschaft.
Zum anderen wirkte sich der Faktor der permanenten Gewalt, die in das System der
Konzentrationslager eingebettet war, auf die Beziehungsgeflechte ein. Denn die strukturelle
Gewalt durchzieht als indirekte Zwangsapparatur die absolute Institution der
Konzentrationslager, wobei innerhalb der Narrationen unserer Überlebenden vor allem direkte
Gewalt auf psychischer und physischer Ebene sichtbar wurde. Hinsichtlich der Richtung der
Gewaltausübung zeigte sich diese sowohl vertikal, lateral und horizontal als auch räumlich,
wobei die Gewalt von oben eindeutig überwog. Im Sinne Galtungs gilt es bei der körperlichen
Gewalt zwischen strukturbezogener und funktionsbezogener Einwirkung zu unterscheiden.
Hinsichtlich der strukturbezogenen Gewalt zeigten sich alle sechs darin enthaltenen
Abstufungen, wobei das Zerschmettern durch Schläge sowie das Durchbohren des Körpers
durch Erschießungen im Lageralltag allgegenwärtig war. Das Zerreißen äußerte sich in Form
des SS-Foltermethodenkatalogs, wie im Martyrium des Pfahl- respektive Baumhängens sowie
in den öffentlichen Hinrichtungen. Des Weiteren waren die Häftlinge durch die Zwangsarbeit in
Munitionsfabriken der Gefahr von Explosionen und Vergiftungen ausgesetzt, letztere gipfelte im
nationalsozialistischen Vernichtungswahn der Gaskammern und führte zur Verbrennung der
Opfer in den Krematorien. Die Gaskammern stehen als genozidale Tötungsmaschinerie für
enorme psychische und physische Gewalt auf strukturbezogener und funktionsbezogener
Ebene. Letztere bezieht sich auf den Entzug menschlicher Bedürfnisse, wie Luft, Wasser oder
Nahrung, dahingehend kann der Brotdiebstahl unter den Häftlingen als funktionale körperliche
Gewalt begriffen werden. Die nationalsozialistischen Orte des Terrors sind das beispielloseste
Sinnbild für funktionale körperliche Gewalt in Form des Entzuges der Bewegungsfreiheit durch
die Einengung des Körpers, die Beschränkung des Raumes sowie die Durchdringung desselben
mittels multipolarer Kontrolle.434 Letztere verdeutlicht sich anhand des dritten Aspektes, der KL-
Verwaltungsstruktur, welche ausgehend von der Kommandantur über eine uneingeschränkte
Befehlsgewalt verfügte. Aus der Perspektive der Häftlinge hatte die politische Abteilung die
Macht über deren Namen und vor allem die Schutzhaftabteilung Macht über deren Körper.435
Darüber hinaus verbirgt sich innerhalb dieser komplexen Struktur die Grauzone in Form der
durch die SS erzwungenen »Selbstverwaltung der Häftlinge«. Fest steht, dass sich trotz dieser
einwirkenden Widrigkeiten ein Netz an komplexen Beziehungen unter der Oberfläche der Orte

434 Siehe hierzu Kapitel 1.3 sowie Abbildung 7: Eigene Darstellung: Typologie der Gewalt [Galtung 1975:15] im Anhang

auf Seite X.
435
Vgl. Wachsmann, Nikolaus: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, 135f.

111
Fazit: Synthese und Ausblick

des Terrors spannte und die »Glieder in den Ketten« ein soziales Innenleben der
Häftlingsgesellschaften entwickelten.

Hinsichtlich der forschungsleitenden Aspekte hat sich gezeigt, dass sich innerhalb der
kontrollierten Räume durchaus informelle Begegnungszonen herauskristallisierten, in denen die
Häftlinge Handlungs- und Entscheidungsräume für die effektive Verwirklichung von
Bewältigungsstrategien in Verknüpfung mit funktionaler Unterstützung geschaffen haben. Die
vielschichtigen Überlebenseinheiten variierten zwar in ihrer Art der Bindung, bezüglich ihres
Entstehungskontextes sowie der Dauerhaftigkeit, jedoch waren diese Einheiten für unsere
Überlebenden meist geprägt von sozialer Reziprozität und Kohäsion. Dieser innere
Zusammenhalt wirkte sich auf die Bewältigung der traumatischen Erfahrungen, den Umgang mit
inneren Spannungszuständen sowie von außen einwirkende Gewalt aus. Wesentlich ist, dass
persönliche Feindschaften meist mittels einer Abgrenzung von der betreffenden Person
einhergingen, wobei Anfeindungen vor allem im Kontext der politischen Zusammenschlüsse
innerhalb der Lager sichtbar wurde sowie durch die Übernahme einer »privilegierten« Funktion
verstärkt wurde. Dennoch zeigte sich bei unseren Überlebenden, der darin verborgene
Handlungsraum in Form von bewussten Entscheidungen gegen die Partizipation an dieser
janusköpfigen »Selbstverwaltung« sowie deren entschiedener Versuch, mittels dieser
begrenzten Teilhabe die Grauzone im positiven Sinn für ihre Mithäftlinge nutzbar zu machen. Im
Zusammenhang mit der aufgeworfenen Frage nach geschlechtsspezifischen Unterschieden
innerhalb der Beziehungsmuster sowie der damit verbundenen Bewältigungsstrategien hat die
bisherige Analyse lediglich feine Abstufungen sichtbar gemacht. Wobei hier vor allem individuelle
Aspekte, wie die Aufrechterhaltung der Weiblichkeit sowie das Spezifikum der Mütter, die
gemeinsam mit ihren Kindern die Lagererfahrung durchlitten, erwähnenswert sind. Darüber
hinaus kann angenommen werden, dass die Menstruation sowie die häufig damit verbunden
Amenorrhö enorme individuelle Spannungszustände erzeugt, wobei sich vor allem bei den
weiblichen Befragten die Auslebung ihrer sexuellen Gefühle als eine Art der Kompensation des
Lageralltags respektive die Flucht in eine mentale Welt in Verbindung mit Lustbefriedigung
schilderten. Die damit verbundenen Gefahren waren für Frauen ungleich höher, denn eine
Schwangerschaft hatte weitreichend Konsequenzen, wie an dieser Stelle anhand einer
Erinnerungspassage aus dem Interviewmaterial, die gewiss einen seltenen Ausnahmefall
darstellt, gezeigt wird, um die Relevanz einer weiterführenden Forschung hinsichtlich der
Geschlechtsspezifika zu verdeutlichen.

»She describes herself as being abnormally pre-occupied with sexual feelings in 1943, about a
year after losing her family. It was a period when the Germans were repeatedly making selections
for extermination, a time when she ›hoped for survival, but did not believe in it‹ She became
pregnant and was saved from the usual fate of transport to an extermination camp by the fact that

112
Fazit: Synthese und Ausblick

her boss436 (…) arranged to have her taken to a non-Jewish hospital for the abortion, and again
subsequently for treatment for an ovary inflammation.«437

Innerhalb der aktuellen Forschungsdebatte über die Konzentrationslager wird das darin
verborgene Geschlechtsspezifikum zaghaft, jedoch vor allem kontrovers diskutiert, wobei wie
Distel438 zeigt durchaus Unterschiede erkennbar sind und dieser Aspekt im Sinne von Elias einen
nahezu weißen Fleck innerhalb der soziologischen Forschungslandschaft darstellt sowie meist
anhand eines Opfer-Täterinnen-Dualismus erforscht wird. Die analytische Annäherung hat
gezeigt, dass die Erfahrungswelt der Konzentrationslager die Häftlinge durchaus mit
geschlechtsspezifischen Aspekten konfrontierte, welche wiederum divergierende
Bewältigungsstrategien von den Betroffenen erforderten. Dahingehend scheint es lohnend,
innerhalb der angestrebten weiterführenden Forschung geschlechtsspezifische Ähnlichkeiten
und Differenzen detaillierter zu erforschen, um vorherrschende Einschätzungen in diesem
Zusammenhang kritisch zu reflektieren.

Die vorliegende Arbeit hat für eine tiefergreifende Erforschung des sozialen Innenlebens der
nationalsozialistischen Konzentrationslager aus figurationssoziologischer sowie
gewaltsoziologischer Perspektive eine tragfähige Basis geschaffen, welche abschließend anhand
von drei wesentlichen Aspekten präzisiert werden soll. Erstens hat die kritische
Methodenreflexion das Potential der qualitativen Sekundäranalyse im Stil der Grounded Theory
sowohl für die Untersuchung naturalistischer Sekundärdaten als auch für die Analyse der
Beziehungsgeflechte innerhalb der Häftlingsgesellschaften zutage gefördert. Denn die
Forschungsstrategie einer kombinierten Supra-Analyse ermöglicht neben den Primärdaten
ergänzendes Archivmaterial heranzuziehen, um die Kontextualität und Reflexivität zu fördern.
Des Weiteren stellt diese Form der Sekundäranalyse eine Lösungsstrategie für die relevante
Problematik der KL-Forschung dar, denn aufgrund der zeitlichen Distanz wird alsbald der direkte
Dialog mit den Überlebenden als Primärquelle versiegen. Dahingehend rückt die Analyse von
Sekundärdaten aus den zahlreichen sowie gut dokumentierten Oral-History-Projekten in den
Fokus, um die Narrationen der Überlebenden für den kumulativen Forschungs- und
Erkenntnisprozess nutzbar zu machen. Darüber hinaus erwies sich der Stil der Grounded Theory
als überaus geeignet, um das umfassende Datenmaterial der Primärstudie kombiniert mit
weiterführenden Zeitdokumenten in ein prozesshaftes Analyse- und Synthesemodell zu
integrieren. Zweitens wurde mittels dieser Forschungsstrategie ein mehrdimensionales
transaktionales System von Beziehungsgeflechten innerhalb der nationalsozialistischen
Konzentrationslager sichtbar, welches aufgrund der komplexen gegenseitigen Abhängigkeiten
und wechselseitigen funktionalen Bindungen auf den aufgezeigten Ebenen der

436
Berthold Beitz, kaufmännischer Leiter der Karpaten-Öl AG vormals Beskiden-Öl AG in Borysław, wurde am 3.
Oktober 1973 von Yad Vashem als »Gerechter unter den Völkern« anerkannt. Siehe hierzu: Berthold und Else Beitz,
Yad Vashem, https://www.yadvashem.org/de/righteous/stories/beitz.html [letzter Zugriff: 25.03.2022].
437
Von einer namentlichen Nennung wird aufgrund des Schutzes der persönlichen Integrität Abstand genommen.
438 Siehe hierzu: Distel, Barbara: Frauen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern – Opfer und Täterinnen, 195-209.

113
Fazit: Synthese und Ausblick

Überlebenseinheiten in Form eines wachsenden Forschungs- und Erkenntnisprozesses eine


tiefergreifende und detailliertere Analyse ermöglicht. Drittens erwiesen sich die herangezogenen
theoretischen Konzepte als überaus tragfähig für die Untersuchung sozialer Beziehungen,
insbesondere an den Orten des Terrors. Neben dem figurations- und gewaltsoziologischen
Rahmen stellt vor allem die medizinsoziologische Annäherung an die Bewältigungsstrategien in
Verbindung mit funktionaler sozialer Unterstützung einen ausbaufähigen analytischen Faktor dar.
Darüber hinaus hält die figurationssoziologische Gewaltforschung von de Swaan439 als Konzept
für die Analyse der Täter*innenperspektive im Umkehrschluss ein erhebliches Potential für die
Opferforschung in Form des darin enthaltenen mentalen Abschottungsprozess als
Bewältigungsstrategie bereit.

Abschließend kann in Anlehnung an Elias rekapituliert werden, dass die vorliegende


Auseinandersetzung damit begonnen hat die, vielschichtigen Begegnungsräume an den Orten
des Terrors freizulegen und darin eine wandelbare Dynamik der Beziehungsgeflechte sichtbar
wurde. Innerhalb des betrachteten Phänomens und der damit verbundenen Bedingungen,
Handlungsstrategien und Konsequenzen zeichneten sich sowohl klare Schattierungen und
Konturen als auch weiße Flächen ab. Diese gilt es sich zu vergegenwärtigen und im Zuge einer
weiterführenden Forschungsarbeit genauer zu beleuchten, um den analytischen Faden
weiterzuspinnen sowie gewonnene Einsichten in diesen wachsenden Prozess zu integrieren.

439
Vgl.: Swaan, Abram de: The Killing Compartments. The Mentality of Mass Murder. New Haven: Yale University
Press 2015.

114
Anhang

Abbildung 7: Eigene Darstellung: Typologie der Gewalt [Galtung 1975:15]

115
Anhang

Ort des Terrors Lagerart ♂ ♀ Anzahl

Auschwitz I440 Stammlager 2 2 4

Auschwitz II Konzentrations- und Vernichtungslager 5 8 13


Auschwitz-Birkenau
Auschwitz III Außenlager sowie Teil des Lagerkomplexes 11 11
Buna bzw. Monowitz
Blechhammer Außenlager 2 2

Fürstengrube Außenlager 1 1

Gleiwitz III Außenlager 1 1

Golleschau Außenlager 1 1
(Goleszów)
Bergen-Belsen441 Stammlager 3 4 7
Austauschlager: Sternlager 4 4

Buchenwald442 Stammlager 13 13

Berga an der Elster Außenlager 1 1


Schwalbe V
Flößberg Außenlager 2 2

Schlieben Außenlager 1 1

Dachau443 Stammlager 11 1 12

Burgau Außenlager 1 1

Kaufering Außenlager 1 1 2
I | IV | VI
Landsberg Außenlager 1 1

Mühldorf Außenlager 3 3

München-Allach Außenlager 1 1 2

Esterwegen444 Stammlager 1 1
Hölle am Waldesrand
Flossenbürg445 Stammlager 8 8

Freiberg Außenlager 2 2

Ganacker Außenlager 1 1

440 Anm.: Konzentrationslager Auschwitz, in: Wolfgang Benz und Barbara Distel [Hg.]: Der Ort des Terrors. Geschichte der

nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 5: Hinzert, Auschwitz, Neuengamme. München: C.H. Beck 2007, 75-312.
441
Anm.: Rahe, Thomas: Bergen-Belsen – Stammlager, in: Wolfgang Benz und Barbara Distel [Hg.]: Der Ort des Terrors.
Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 7: Niederhagen/Wewelsburg, Lublin-Majdanek,
Arbeitsdorf, Herzogenbusch (Vught), Bergen-Belsen, Mittelbau-Dora. München: C.H. Beck 2008, 187-217.
442
Anm.: Konzentrationslager Buchenwald, in: Wolfgang Benz und Barbara Distel [Hg.]: Der Ort des Terrors. Geschichte der
nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 3: Sachsenhausen, Buchenwald. München: C.H. Beck 2006, 299-622.
443
Anm.: Konzentrationslager Dachau, in: Wolfgang Benz und Barbara Distel [Hg.]: Der Ort des Terrors. Geschichte der
nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 2: Frühe Lager, Dachau, Emslandlager. München: C.H. Beck 2006, 231-529.
444 Anm.: Knoch, Habbo: Das KZ Esterwegen 1933-1936, ebd., 540-542.
445 Anm.: Konzentrationslager Flossenbürg, in: Wolfgang Benz und Barbara Distel [Hg.]: Der Ort des Terrors.

Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 4: Flossenbürg, Mauthausen, Ravensbrück.


München: C.H. Beck 2006, 15-288.

116
Anhang

Leitmaritz Außenlager 1 1
(Litoměřice)
Venusberg Außenlager 2 2

Zschachwitz Außenlager 1 1

Mauthausen446 Stammlager 3 4 7

Mittelbau-Dora447 Stammlager 2 2

Blankenburg-Oesig Außenlager 1 0 1
Klosterwerke Arbeitskommando für jüdische »Mischlinge«
des angrenzenden Gestapo-Lagers Derenburg
Ellrich Außenlager 1 1
SS-Baubrigade IV
Günzerode Außenlager 1 1

Nordhausen Außenlager 3 3
Boelcke-Kaserne
Osterode-Petershütte Außenlager 2 2
Dachs IV
Płaszów448 Stammlager 2 2 4

Tschenstochau Sammellager 2 2
(Częstochowa)
Ravensbrück449 Stammlager 2 2 4

Malchow Außenlager 1 1

Rechlin-Retzow Außenlager 1 1

Riga-Kaiserwald450 Stammlager 1 2 3

Dondangen Außenlager 1 1
I | II
Jungfernhof SS-Gutshof 1 1 2
(Jumpravmuiza)
HKP Riga Außenlager 2 2
(Heereskraftfahrpark)
Riga-Strasdenhof Außenlager 1 1

Sachsenhausen451 Stammlager 10 10

446 Anm.: Freund, Florian/Perz, Bertrand: Mauthausen-Stammlager, ebd., 293-346.


447
Anm.: Konzentrationslager Mittelbau-Dora, in: Wolfgang Benz und Barbara Distel [Hg.]: Der Ort des Terrors. Geschichte
der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 7: Niederhagen/Wewelsburg, Lublin-Majdanek, Arbeitsdorf,
Herzogenbusch (Vught), Bergen-Belsen, Mittelbau-Dora. München: C.H. Beck 2008, 221-342.
448 Anm.: Konzentrationslager Płaszów, in: Benz, Wolfgang/Distel, Barbara [Hg.]: Der Ort des Terrors. Geschichte der

nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 8: Riga-Kaiserwald, Warschau, Vaivara, Kauen (Kaunas), Płaszów,


Kulmhof/Chełmno, Bełżec, Sobibór, Treblinka. München: C. H. Beck 2008, 233-298.
449
Anm.: Konzentrationslager Ravensbrück, in: Wolfgang Benz und Barbara Distel [Hg.]: Der Ort des Terrors.
Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 4: Flossenbürg, Mauthausen, Ravensbrück.
München: C.H. Beck 2006, 471-607.
450
Anm.: Konzentrationslager Riga-Kaiserwald, in: Benz, Wolfgang/Distel, Barbara [Hg.]: Der Ort des Terrors.
Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 8: Riga-Kaiserwald, Warschau, Vaivara, Kauen
(Kaunas), Płaszów, Kulmhof/Chełmno, Bełżec, Sobibór, Treblinka. München: C. H. Beck 2008, 15-88.
451 Anm.: Konzentrationslager Sachsenhausen, in: Wolfgang Benz und Barbara Distel [Hg.]: Der Ort des Terrors.

Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 3: Sachsenhausen, Buchenwald. München: C.H.


Beck 2006, 15-297.

117
Anhang

Oranienburg Außenlager 2 2
Henkel-Werke
Stutthof452 Stammlager 2 3 5

Danzig-Kokoschken SS-Außenlager Burggraben 1 1


(Gdańsk-Kokoszki)
Kroben (Krobia) Außenlager 1 1

Lauenburg (Lębork) Außenlager 1 1

Stoboi (Kamiennik koło Außenlager 1 1


Elbląga)
Strasburg (Brodnica) Baukommando Ostland 1 1

Warschau453 Stammlager 1 1

Groß-Rosen454
Brünnlitz (Brněnec) Außenlager Groß-Rosen (Oskar Schindler) 1 1

Christianstadt Außenlager Groß-Rosen 1 1


(Krzystkowice)
Zittau (Kratzau) Außenlager Groß-Rosen 1 1

Lublin-Majdanek455
Budzyń Außenlager Lublin-Majdanek 1 1

Radom Außenlager Lublin-Majdanek 1 1

Natzweiler456
Bisingen Außenlager Natzweiler 1 1

Geisenheim Außenlager Natzweiler 1 1

Geislingen an der Steige Außenlager Natzweiler 1 1

Hessental Außenlager Natzweiler 1 1

Leonberg Außenlager Natzweiler 2 2


Reiher
Neckargerach Außenlager Natzweiler 1 1

Offenburg Außenlager Natzweiler 1 1

Vaihingen an der Enz Außenlager Natzweiler 1 1


Wiesengrund

452 Anm.: Konzentrationslager Stutthof, in: Wolfgang Benz und Barbara Distel [Hg.]: Der Ort des Terrors. Geschichte der

nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 6: Natzweiler, Groß-Rosen, Stutthof. München: C.H. Beck 2007, 475-792.
453 Anm.: Mix, Andreas: Warschau – Stammlager, in: Benz, Wolfgang/Distel, Barbara [Hg.]: Der Ort des Terrors.

Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 8: Riga-Kaiserwald, Warschau, Vaivara, Kauen


(Kaunas), Płaszów, Kulmhof/Chełmno, Bełżec, Sobibór, Treblinka. München: C. H. Beck 2008, 91-126.
454 Anm.: Konzentrationslager Groß-Rosen, in: Wolfgang Benz und Barbara Distel [Hg.]: Der Ort des Terrors. Geschichte der

nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 6: Natzweiler, Groß-Rosen, Stutthof. München: C.H. Beck 2007, 191-473.
455
Anm.: Konzentrationslager Lublin-Majdanek, in: Wolfgang Benz und Barbara Distel [Hg.]: Der Ort des Terrors.
Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 7: Niederhagen/Wewelsburg, Lublin-Majdanek,
Arbeitsdorf, Herzogenbusch (Vught), Bergen-Belsen, Mittelbau-Dora. München: C.H. Beck 2008, 31-104.
456
Anm.: Konzentrationslager Natzweiler, in: Wolfgang Benz und Barbara Distel [Hg.]: Der Ort des Terrors. Geschichte der
nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 6: Natzweiler, Groß-Rosen, Stutthof. München: C.H. Beck 2007, 21-190.

118
Anhang

Zwangsarbeitslager457 Polen: Julag I Krakau, Bieżanó, Hindenburg- 7 1 8


Nordost, Hügelhausen, Johannisdorf,
Kochanowitz, Kolmar, Pionki, Posen-Malta,
Posen-Remow, Prokocim, Pustków, Skarzysko
Kamienna, Steineck; Ukraine: Borysław

Polizeihaftlager458 Niederlande: Westerbork 1 6 7

Internierungslager459 Frankreich: Drancy, Gurs, Le Fauga-Mazères, 1 1


St. Cyprien
460 8 9
Ghetto Belarus: Minsk; Lettland: Riga; Polen: Kraków, 17
Łódź, Tomaszów, Włocławek, Zbąszyń;
Tschechien: Terezin; Ukraine: Borysław;
Ungarn: Budapest
Gefängnis461 Deutschland: Berlin, Essen, Hamburg, 15 3 18
Hameln, Kassel; Niederland: Amsterdam;
Österreich: Wien; Polen: Białystok, Breslau,
Kraków, Tomaszów, Warschau; Tschechien:
Budweis, Prag
Tabelle 5: Aufenthaltsorte des Terrors der 52 Überlebenden

457 Anm.: Wenzel, Mario: Zwangsarbeitslager für Juden in den besetzten polnischen und sowjetischen Gebieten, in:
Benz, Wolfgang/Distel, Barbara [Hg.]: Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager,
Band 9: Arbeitserziehungslager, Ghettos, Jugendschutzlager, Polizeihaftlager, Sonderlager, Zigeunerlager,
Zwangsarbeitslager. München: C. H. Beck 2009, 125-154.
458
Anm.: Königseder, Angelika: Polizeihaftlager – Westerbork, in: ebd., 24-30.
459
Anm.: Distel, Barbara: Frankreich, in: ebd., 273-291.
460 Anm.: Pohl, Dieter: Ghettos, in: ebd., 161-191; sowie Benz, Wolfgang: Theresienstadt, in: ebd., 449-496.
461 Anm.: Frühe Lager, in: Wolfgang Benz und Barbara Distel [Hg.]: Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen

Konzentrationslager. Band 2: Frühe Lager, Dachau, Emslandlager. München: C.H. Beck 2006, 15-230; sowie Wachsmann,
Nikolaus: Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat. München: Siedler 2006.

119
Anhang

Abbildung 8: Kodierparadigma: »Ein Glied in den Ketten«

120
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Benz, Wolfgang/Distel, Barbara: Vorwort, in: Dies. [Hg.]: Der Ort des Terrors. Geschichte der
nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 9: Arbeitserziehungslager, Ghettos,
Jugendschutzlager, Polizeihaftlager, Sonderlager, Zigeunerlager, Zwangsarbeitslager.
München: C. H. Beck 2009, 7-15.

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Arolsen Archives

Effektenkarte David Rousset, 1.1.5.3/6962894/ ITS Digital Archive, Arolsen Archives.

Häftlings-Personal-Karte Bruno Bettelheim, 1.1.5.3/5531785/ ITS Digital Archive, Arolsen Archives.

Häftlings-Personal-Karte Ernst Federn, 1.1.5.3/5840154/ ITS Digital Archive, Arolsen Archives.

Häftlings-Personal-Karte Eugen Kogon, 1.1.5.3/6303825/ ITS Digital Archive, Arolsen Archives.

Brooklyn College Archives and Special Collection

Interviewprotokoll 4 »Eli«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005,


Sub-Group I, Series 1, Box 1.

Interviewprotokoll 5 »Ira«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005,


Sub-Group I, Series 1, Box 1.

Interviewprotokoll 6 »Edna«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005,


Sub-Group I, Series 1, Box 1.

Interviewprotokoll 8 »Ben«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005,


Sub-Group I, Series 1, Box 1.

Interviewprotokoll 10 »Edward«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-


005, Sub-Group I, Series 1, Box 1.

Interviewprotokoll 11 »Karl«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005,


Sub-Group I, Series 1, Box 1.

Interviewprotokoll 12 »Amy«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005,


Sub-Group I, Series 1, Box 1.

Interviewprotokoll 13 »Minna«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-


005, Sub-Group I, Series 1, Box 1.

Interviewprotokoll 15 »Jennie«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-


005, Sub-Group I, Series 1, Box 1.

Interviewprotokoll 16 »Selma«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005,


Sub-Group I, Series 1, Box 1.

Interviewprotokoll 18 »Greta«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005,


Sub-Group I, Series 1, Box 1.

Interviewprotokoll 19 »Philip«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005,


Sub-Group I, Series 1, Box 1.

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Archivalien

Interviewprotokoll 21 »Paula«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005,


Sub-Group I, Series 1, Box 1.

Interviewprotokoll 23 »Laura«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005,


Sub-Group I, Series 1, Box 1.

Interviewprotokoll 24 »Jacob«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005,


Sub-Group I, Series 1, Box 1.

Interviewprotokoll 25 »Jim«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005,


Sub-Group I, Series 1, Box 1.

Interviewprotokoll 28 »Julia«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005,


Sub-Group I, Series 1, Box 1.

Interviewprotokoll 29 »Herman«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-


005, Sub-Group I, Series 1, Box 1.

Interviewprotokoll 31-32 »Lottie & Elsie«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession
#2001-005, Sub-Group I, Series 1, Box 1.

Interviewprotokoll 35 »Felix«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005,


Sub-Group I, Series 1, Box 1.

Interviewprotokoll 36 »Steve«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005,


Sub-Group I, Series 1, Box 1.

Interviewprotokoll 37 »Boris«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-005,


Sub-Group I, Series 1, Box 1.

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Sub-Group I, Series 1, Box 1.

Interviewprotokoll 40 »Bennet«, BC Archives, Elmer G. Luchterhand Papers, Accession #2001-


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Sub-Group I, Series 1, Box 1.

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005, Sub-Group I, Series 1, Box 1.

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edu.uaccess.univie.ac.at/viewingPage?testimonyID=35256&segmentNumber=0#].

Wolf, Alice. Interview 785. Interview by Rosemarie Levin. Visual History Archive, USC Shoa
Foundation, February 09, 1995. Accessed 30.03.2021. [https://vha-usc-
edu.uaccess.univie.ac.at/viewingPage?testimonyID=52&segmentNumber=0#]

Yad Vashem Archives

Gedenkblatt Gusta Allerhand, eingereicht von Aleksander Allerhand, Yad Vashem Gedenkblätter
Sammlung, ID: 1744675

Gedenkblatt Gusta Allerhand, eingereicht von Leopold Allerhand, Yad Vashem Gedenkblätter
Sammlung, ID: 1829720

134
Internetquellen

A Notebook from Schindler’s Fatory, Yad Vashem, https://www.yadvashem.org/gathering-


fragments/stories/from-the-inferno/allerhand.html?utm_source=social&utm_medium=tw [letzter
Zugriff: 23.03.2021]

Berthold und Else Beitz, Yad Vashem, [letzter Zugriff: 25.03.2022]


https://www.yadvashem.org/de/righteous/stories/beitz.html.

Bock, Dennis: Rezension: Luchterhand, Elmer: Kranebitter, Andreas/Fleck, Christian [Hg.]:


Einsame Wölfe und stabile Paare. Verhalten und Sozialordnung in den Häftlingsgesellschaften
nationalsozialistischer Konzentrationslager. Wien 2018, in: H-Soz-Kult, 11.09.2019,
https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-27636 [letzter Zugriff: 21.01.2022]

Story of Rescue - The Kwiatek Family, POLIN Museum of the History of Polish Jews, Polish
Rigtheous, https://sprawiedliwi.org.pl/en/stories-of-rescue/story-rescue-kwiatek-family [letzter
Zugriff: 23.03.2021]

Story of Rescue - The Kowalczyk Family, POLIN Museum of the History of Polish Jews, Polish
Rigtheous, https://sprawiedliwi.org.pl/en/stories-of-rescue/story-rescue-kowalczyk-family-0
[letzter Zugriff: 23.03.2021]

Story of Rescue - The Przebindowski Family, POLIN Museum of the History of Polish Jews, Polish
Rigtheous, https://sprawiedliwi.org.pl/en/stories-of-rescue/story-rescue-przebindowski-family
[letzter Zugriff: 23.03.2021]

Wartime Rescue of Jews by the Polish Catholic Clergy. The Testimony of Survivors, Mark Paul
[Hg.], Polish Educational Foundation in North America 2016, 54-55, https://azkurs.org/wartime-
rescue-of-jews-by-the-polish-catholic-clergy.html [letzter Zugriff: 23.03.2021]

135
Darstellungsverzeichnis

Tabellen

Tabelle 1: Forschungsleitende Aspekt: »Ein Glied in den Ketten« 9


Tabelle 2: Eigene Darstellung: Typologie qualitativer Sekundäranalysen [Heaton 2004:38] 20
Tabelle 3: Analyse: 13 Beziehungsformen und deren Bedeutungsgehalt 71
Tabelle 4: Eigene Darstellung: Funktionen und Konsequenzen sozialer Unterstützung
[Wills/Shinar 2000:89] 105
Tabelle 5: Aufenthaltsorte des Terrors der 52 Überlebenden 119
Abbildungen

Abbildung 1: Eigene Darstellung: Kodierparadigma in Anlehnung an Strauss/Corbin 1996 23


Abbildung 2: Kodierparadigma: Detailansicht ursächliche Bedingungen 74
Abbildung 3: Kodierparadigma: Detailansicht intervenierende Bedingungen 81
Abbildung 4: Kodierparadigma: Detailansicht Kontext 93
Abbildung 5: Kodierparadigma: Detailansicht Strategie 98
Abbildung 6: Kodierparadigma: Detailansicht Konsequenzen 109
Abbildung 7: Eigene Darstellung: Typologie der Gewalt [Galtung 1975:15] 115
Abbildung 8: Kodierparadigma: »Ein Glied in den Ketten« 120

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