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Joachim Fischer

Philosophische Anthropologie

VERLAG KARL ALBER A


Zu diesem Buch:
Mit »Philosophischer Anthropologie« ist in dieser Studie nicht eine phi-
losophische Subdisziplin, sondern eine besondere Richtung in der
deutschsprachigen Philosophie des 20. Jahrhunderts fokussiert, die mit
den Namen Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen, aber auch
Erich Rothacker, Adolf Portmann u. v. a. verbunden ist. Der erste Teil
erzählt die verwickelte, teils abenteuerliche Entstehungs-, Aufstiegs-
und Entfaltungsgeschichte dieser Denkergruppe von 1919 bis 1975 – ein-
schließlich ihrer Wirkungsgeschichte in verschiedenen Forschungs-
feldern –, um damit einen roten Faden in der jüngeren Philosophie-
geschichte freizulegen. Im zweiten Teil wird der Identitätskern dieser
Philosophischen Anthropologie als Denkansatz präzisiert. Bei aller inter-
nen Differenz ging es den Autoren philosophiesystematisch um die Wie-
derherstellung der Intuition idealistischer Vernunftphilosophie im Me-
dium der Entdeckung lebensphilosophischer Vernunftkritik. In der
Bestimmung des Menschen als »exzentrische Positionalität« kommt die
Philosophische Anthropologie zu unikaten kategorialen Verschränkun-
gen zwischen den Bio-, Sozial- und Kulturwissenschaften, deren sachli-
chen Reichtum die Studie versammelt.
»Philosophical Anthropology«, as it is reconstructed here, does not deal
with anthropology as a philosophical subdiscipline but as a specific philo-
sophical approach within the German philosophy of the 20th century. It is
associated with thinkers as Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Geh-
len, but also Erich Rothacker, Adolf Portmann and many others. In order
to reveal a hidden thread in German philosophy of the 20th century, the
first part tells the complicated and at times adventurous history of this
group of thinkers between 1919 and 1975, including their effects on sev-
eral fields of research. The second part provides a more precise descrip-
tion of the core of Philosophical anthropology as a paradigm. In recon-
structing the human being as »excentric positionality« Philosophical
anthropology leads to unique categorical interlockings between the bio-
logical and social sciences as well as to the arts and humanities. The study
gathers these various linkages of Philosophical Anthropology.

Der Autor: Prof. Dr. Joachim Fischer, geb. 1951, Studium der Soziologie,
Philosophie, Politikwissenschaft, Germanistik in Hannover, Gießen,
Tübingen und Göttingen; 1999 Mitbegründer der Helmuth-Plessner-
Gesellschaft und deren Präsident 2011–2017. Seit 1999 an der TU Dres-
den, Institut für Soziologie; seit 2012 Honorarprofessor für Soziologie.
Joachim Fischer

Philosophische
Anthropologie
Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts

2., durchgesehene Auflage

Verlag Karl Alber Baden-Baden


2., durchgesehene Auflage

© VERLAG KARL ALBER –


ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2022

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen,


der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg


Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der
Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei)


Printed on acid-free paper

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ISBN 978-3-495-48578-1 (Print)


ISBN 978-3-495-99989-9 (ePDF)
Meinen Eltern
Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

1 Philosophische Anthropologie.
Zur Realgeschichte des Ansatzes . . . . . . . . . . . . 19
1.1 Genese (1919–1927) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
1.2 Durchbruch (1927/28) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
1.3 Interregnum (1928–1934) . . . . . . . . . . . . . . . . 94
1.4 Neueinsätze (1934–1944) . . . . . . . . . . . . . . . . 134
1.5 Turbulenzen (1945–1950) . . . . . . . . . . . . . . . . 208
1.6 Konsolidierung (1950–1955) . . . . . . . . . . . . . . . 235
1.7 Nachfolge (1955–1960) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292
1.8 Driften (1961–1969) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
1.9 Rückgang (1969–1975) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450

2 Philosophische Anthropologie.
Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes . . . . . . . . . 479
2.1 Philosophiegeschichtliche Lage . . . . . . . . . . . . . . 507
2.2 Denkungsart der Philosophischen Anthropologie . . . . 515
2.2.1 Identitätskern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519
2.2.2 Identitätskern trotz Differenz . . . . . . . . . . . 526
2.2.3 Differenz im Identitätskern . . . . . . . . . . . . 558
2.2.4 Differenz zu anderen Denkansätzen . . . . . . . . 576
2.3 Denkort der Philosophischen Anthropologie . . . . . . . 595

Philosophische Anthropologie A 7
Inhalt

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . 601
Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . 601
1. Unveröffentlichte Quellen . . . . . .. . . . . . . . . . 601
2. Schrifttum . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . 602
A. Texte der Philosophischen Anthropologie . . . . . . . 602
B. Texte zur Philosophischen Anthropologie . . . . . . . 625
C. Andere Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655
D. Literatur zu Disziplinen und anderen Denkrichtungen 661

Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673

8 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Vorwort

Diese Studie handelt von »Philosophischer Anthropologie«, einem


Denkansatz im 20. Jahrhundert, der von der »philosophischen An-
thropologie« als einer Sub-Disziplin der Philosophie zu unterschei-
den ist. Letztere erhielt zwar im gleichen Zeitraum ebenfalls maß-
gebliche Anstöße durch die Texte von Scheler, Plessner, Gehlen u. a.,
vereinigt aber themenzentriert unter der Frage nach dem Menschen
verschiedenste Denkrichtungen und die Vergegenwärtigung der Ge-
schichte anthropologischer Selbstreflexion.
Schwerpunkt dieser Arbeit aber ist der originale Denkansatz der
Philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert. Der Eröffnungs-
zug einer Denkrichtung entscheidet darüber, wohin das Denken der
Sache trägt. In diesem Sinn gilt Philosophische Anthropologie hier
als ein charakteristischer Denkansatz des 20. Jahrhunderts, gleich-
rangig neben Neukantianismus, Logischem Empirismus, Phänome-
nologie, Lebensphilosophie, Existenzphilosophie, Pragmatismus,
Evolutionstheorie, Philosophischer Hermeneutik, Kritischer Theorie,
Strukturalismus, Dekonstruktivismus, Systemtheorie. Die Theorie-
verwandtschaft zwischen den Werken Schelers, Plessners, Gehlens,
Rothackers, Portmanns und anderer aufzuklären, bedeutet, diese
Denker als tragende Figuren des Denkansatzes kenntlich werden zu
lassen, doch es meint nicht, dass sich ihr jeweiliges Werk in dieser
Zugehörigkeit erschöpft. Es bleibt immer möglich, der je denkeri-
schen Eigenart der Genannten nachzugehen, wenn auch ihre hier
betonte Teilhaberschaft an der Philosophischen Anthropologie einen
Schlüssel zum jeweiligen Werk bietet.
Das Buch versteht sich als Dienst, einen kategorialen Zugriff in
der Philosophie des 20. Jahrhunderts sichtbar werden zu lassen, der
für Kultur- und Sozialwissenschaftler, aber auch für Psychologen und
Biologen aufschlussreich und gerade für die Fühlungnahme zwischen
ersteren und letzteren wegbahnend bleiben könnte. Diese Dienstleis-
tung wurde nur möglich durch eine gewisse Renaissance der Philo-
sophischen Anthropologie bzw. ihrer Autoren seit den 1990er Jahren,
eine Wiederentdeckung, die in der Studie selbst allerdings nicht be-

Philosophische Anthropologie A 9
Vorwort

handelt wird. Bevor man sich in eine Philosophische Anthropologie


des 21. Jahrhunderts stürzt, kann es sinnvoll sein, sich der Philoso-
phischen Anthropologie im 20. Jahrhundert zu vergewissern.
Von der Anlage her lässt sich das Buch vom Beginn wie vom
Ende her lesen. Wer wissenschaftsbiographisch am Netzwerk der
Denkbewegung interessiert ist, liest von vorn, wessen Augenmerk
philosophiesystematisch auf ihre identifizierbare Denkungsart geht,
fängt mit dem 2. Teil an.

Die Studie wurde unter dem Titel ›Philosophische Anthropologie.


Zur Bildungsgeschichte eines Denkansatzes‹ von der Sozialwissen-
schaftlichen Fakultät der Universität Göttingen 1997 als Dissertation
angenommen und war als solche seit 2000 in Bibliotheken verfügbar.
Mein Dank geht vor allem an Konrad Thomas und Wolfgang Eßbach,
außerdem an Horst Turk. Die erste Fassung zog warnende und wei-
terführende Winke auch von Hans-Joachim Dahms, Jacques Dewitte,
Gregor Fitzi, Hans-Peter Krüger, Christoph Müller und Bernhard
Schmincke auf sich. In Gesprächen, Diskussionen und Debatten ge-
langten wichtige Punkte zur Klärung – mit Monika Plessner, Hein-
rich Popitz, Karl-Siegbert Rehberg, Thomas Rentsch, Wolfgang Lipp,
Michael Neumann, Andreas Kuhlmann, Siegfried Blasche, Volker
Gerhardt, Lolle Nauta, Wolfgang Bialas, Hans Gustav v. Campe, Jür-
gen Frese, Jan Beaufort, Alfred Schöpf, Cornelius Bickel, Michael
Makropoulos, Kersten Schüßler, Zdzislaw Krasnodebski, Thomas
Keller, Walter Seitter, Walter Sprondel, Lenny Moss, Mathias Gut-
mann, Michael Weingarten, Wolfhart Henckmann, Ernst Wolfgang
Orth, Bruno Accarino, Marco Russo, Hans-Ulrich Lessing, Salvatore
Giammusso, Gérard Raulet, Ada Neschke-Hentschke, Norbert
A. Richter, Hans Rainer Sepp, Carola Dietze, Gesa Lindemann, Oli-
via Mitscherlich, Volker Schürmann, Jos de Mul, Huib Ernste, Maar-
ten Coolen, Richard Schacht, Cao Weidong, Matthias Schloßberger,
Robert Seyfert, Hans Werner Ingensiep, Gerald Hartung, Ulrich
Bröckling, Christian Thies und Helmut Lethen. Marianne Kurda hat
den Übergang von der ersten zur zweiten Fassung aufmerksam be-
gleitet. Der Abschluss der vorliegenden Fassung ist Heike Delitz zu
verdanken. Der Dank für seine freundliche Beharrlichkeit geht auch
an Lukas Trabert, dem Leiter des Alber-Verlages.

10 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Einf!hrung

Die Geschichte der modernen Philosophischen Anthropologie be-


ginnt, könnte man sagen, 1919 an der neuen Universität Köln, wohin
der frisch berufene Max Scheler den jüngeren Helmuth Plessner mit
dem Zuruf lockt: »Kommen Sie nach Köln, […] das neue Alexan-
drien« 1 , und endet 1975, als Arnold Gehlen und Helmuth Plessner
kurz vor Gehlens Tod bzw. Plessners öffentlichem Verstummen in
einem Scheler gewidmeten Band Rückblicke auf ihre Bezugsfigur
bzw. seine Anthropologie hinterlassen. 2 Das gäbe den Zeitrahmen
für die Bildungsgeschichte einer Ideengemeinschaft der Philosophi-
schen Anthropologie, die sich in den klassisch gewordenen Werken
›Zur Stellung des Menschen im Kosmos‹ 3 (Scheler 1928) und den
›Stufen des Organischen und der Mensch‹ 4 (Plessner 1928) auskris-
tallisiert und sich in Gehlens Werk ›Der Mensch. Seine Natur und
seine Stellung in der Welt‹ (1940) 5 , in Erich Rothackers ›Kultur-
anthropologie‹ (1942) 6 und Adolf Portmanns ›Biologischen Frag-
menten einer Lehre vom Menschen‹ (1944) 7 verstetigt und durch
weitere Autoren und Beiträge anreichert.
Aber etwas ist der schönen Schulbildung von Beginn an dazwi-

1 So jedenfalls H. Plessner, Selbstdarstellung (1975), in: Ders., Gesammelte Schriften


(im Folgenden GS), Bd. I–X, hrsg. v. G. Dux, O. Marquard, E. Ströker, Frankfurt a. M.
1980–1985, GS X, S. 314.
2 H. Plessner, Erinnerungen an Max Scheler, in: P. Good (Hrsg.), Max Scheler im Ge-

genwartsgeschehen der Philosophie, Bern/München 1975, S. 19–28. – A. Gehlen, Rück-


blick auf die Anthropologie Max Schelers, ebd., S. 179–188.
3 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), in: Ders., Gesammelte

Werke (im Folgenden GW), Bd. 1–15, (bis zu ihrem Tod 1969) hrsg. v. M[aria] Scheler,
seither v. M. S. Frings, (zuerst) Bern/München, (ab 1986) Bonn 1954–1997, GW 9, S. 7–
71.
4 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philoso-

phische Anthropologie (1928), 2. Aufl. Berlin 1965. [Diese Schrift wird nach der ange-
gebenen Ausgabe zitiert].
5 A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940), 4. veränd.

Aufl. Bonn 1950. [Diese Schrift wird nach der angegebenen Ausgabe zitiert].
6 E. Rothacker, Probleme der Kulturanthropologie (1942), Bonn 1948.

7 A. Portmann, Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, Basel 1944.

Philosophische Anthropologie A 11
Einf!hrung

schen gekommen, sonst könnte Gehlen nicht Sätze über sich schrei-
ben, die auch für Plessners Selbstdarstellung charakteristisch sind: Er,
Gehlen, habe »in seinem langen Leben niemals einer wissenschaft-
lichen ›Schule‹ im Sinne einer inhaltlich ausgerichteten ›Gemein-
schaft‹ von Lehrern und Schülern angehört und auch selbst keine
begründet. Folglich hatte er seine Gedanken und Theorien allein
durchzusetzen, und dies mußte […] in den Hauptpunkten gegen die
jeweils wechselnden Zeitströmungen geschehen.« 8 Und – jede Schul-
bindung an Scheler bestreitend –, schreibt Plessner, der Verfasser der
›Stufen‹ : »Lebte der Autor nicht auch in Köln, und war er nicht sein
Schüler? Er war es nicht, bei aller Nähe.« 9
Die Philosophische Anthropologie ist von Beginn an ein heikles
Gebilde gewesen, strittig zwischen den Beteiligten und seitens der
interessierten Konkurrenten. Das hat damit zu tun, dass der Denk-
ansatz sich ideenbiographisch zwischen zu großer Nähe (Parallelent-
deckung) und äußerster Distanzierung (Absetzung, Abwertung) der
Beteiligten bildete, dass er in die politische Verwerfungslinie 1933
geriet (›Reich‹ /Exil), insofern eben wichtige Schriften in der Hoch-
zeit des Nationalsozialismus und zugleich außerhalb entstanden,
dass zwei Protagonisten um 1950 gleichzeitig einen Fachwechsel
vollzogen (von der Philosophie zur Soziologie), und dass der Ansatz
der scharfen Konkurrenz anderer Denkrichtungen ausgesetzt war, die
immer wieder bewusst die Diskrepanz zwischen Scheler oder Pless-
ner oder Gehlen betonten und teilweise den Keil zwischen die Auto-
ren trieben.

Die Folge ist, dass der Denkort Philosophische Anthropologie in der


denkgeschichtlichen Topographie des 20. Jahrhunderts nicht leicht zu
identifizieren ist. Wegen der Unstimmigkeiten ist es zu keiner eige-
nen Pflege des Denkansatzes, der philosophisch-anthropologischen
»Theorie« gekommen – wie sie vergleichsweise der Neukantianis-
mus 10, die Phänomenologie 11, der Pragmatismus 12, die Lebensphi-

8 A. Gehlen, Studien zur Anthropologie und Soziologie, Neuwied 1963, S. 9.


9 H. Plessner, Vorwort zur zweiten Auflage (1965), in: Ders., Die Stufen des Organi-
schen und der Mensch, a. a. O., S. XI.
10 K. Ch. Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Univer-

sitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt a. M. 1986. – H.-W.


Ollig, Der Neukantianismus, Stuttgart 1979.
11 H. Spiegelberg, The Phenomenological Movement. A Historical Introduction,

12 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Einf!hrung

losophie 13 , die Dilthey-Schule der Hermeneutik 14 , die Existenzphi-


losophie 15 , die Kritische Theorie 16 oder die sprachanalytische Rich-
tung des Wiener Kreises 17 um ihre Denkbestände entwickelt haben.
So liegt einerseits bisher keine realgeschichtliche »Erzählung« des
Denkansatzes vor: Es ist bis heute ungeklärt, wie und unter welchen
Umständen sich die Ideenbildung bei Scheler und Plessner in Köln
real zugetragen hat, über welche Filiationen es zur Fortbildung
gekommen ist und inwiefern der Ansatz überhaupt eine Wirkungs-
geschichte gezeitigt hat. Ähnlich ist die Lage auf der rein philoso-
phiegeschichtlichen Ebene. In den einschlägigen Überblicksdarstel-
lungen zur Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts oder zu den
›Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie‹ 18 taucht die Philoso-
phische Anthropologie als charakteristischer Denkansatz mit identi-
fizierbarem Prinzip selten auf. Zwar haben sich die genannten Auto-
ren auch in eigenen Überblicksartikeln mit der Philosophischen
Anthropologie identifiziert, aber immer in je eigener Begründung
und Abgrenzung. Die instruktivsten Überblicke über den Denkansatz
sind, bis auf eine Ausnahme 19 , bezeichnenderweise von außen, von

Dordrecht / Boston / London, Vol. I and II, 2. Aufl. 1971. – B. Waldenfels, Einführung in
die Phänomenologie. Kritische Information, München 1992.
12 E. Baumgarten, Der Pragmatismus. R. W. Emerson, W. James, J. Dewey. Die geisti-

gen Grundlagen des amerikanischen Gemeinwesens, Frankfurt a. M. 1938. – F. Geth-


mann, Vom Bewußtsein zum Handeln. Pragmatische Tendenzen in der Deutschen Phi-
losophie der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, in: H. Stachiowiak (Hrsg.),
Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens, Bd. II, Hamburg 1987, S. 202–232.
13 O. F. Bollnow, Die Lebensphilosophie, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1958. – F. Fell-

mann, Lebensphilosophie. Elemente einer Theorie der Selbsterfahrung, Hamburg 1993.


14 H.-G. Gadamer/G. Boehm (Hrsg.), Seminar: Philosophische Hermeneutik, Frankfurt

a. M. 1976. – O. Pöggeler, Schritte zu einer hermeneutischen Philosophie, Freiburg/


München 1994.
15 F. Heinemann, Existenzphilosophie – lebendig oder tot?, Stuttgart 1954.
16 M. Jay, Dialektische Philosophie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des In-

stituts für Sozialforschung 1923–1950, Frankfurt a. M. 1976. – R. Wiggershaus, Die


Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung, Mün-
chen/Wien 1986.
17 R. Haller, Neopositivismus. Eine historische Einführung in die Philosophie des Wie-

ner Kreises, Darmstadt 1993. – H. J. Dahms, Versuch einer Charakterisierung des Wie-
ner Kreises, in: Ders. (Hrsg.), Philosophie, Wissenschaft, Aufklärung. Beiträge zur Ge-
schichte und Wirkung des Wiener Kreises, Berlin/New York 1985, S. 1–29. – M. Geier,
Der Wiener Kreis, Reinbek b. Hamburg 1992.
18 W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Eine kritische Einfüh-

rung, 4. erw. Aufl. Stuttgart 1969.


19 K.-S. Rehberg, Philosophische Anthropologie und die »Soziologisierung« des Wis-

Philosophische Anthropologie A 13
https://doi.org/10.5771/9783495999899
Einf!hrung

kritischen Dritten im Gestus der Überwindung des Ansatzes zu-


gunsten anderer Denkrichtungen (z. B. Kritischer Theorie, Pragma-
tismus, Existenzphilosophie, Neukantianismus) verfasst worden. 20
Die je auf einen Autor bezogene Forschung hingegen, je auf einen
Denkweg und ein Gesamtwerk konzentriert, kontinuiert vor allem
die Differenzen zwischen Scheler, Plessner und Gehlen bzw. ihr Ein-
zelgängertum. Insgesamt ist Philosophische Anthropologie theorie-
geschichtlich als Denkansatz bisher nicht zureichend identifiziert. So
trägt das Phänomen der »Denk-›Schule‹« 21 Philosophische Anthro-
pologie sowohl realgeschichtlich wie philosophiegeschichtlich mit-
unter Züge eines Phantoms, einer unwirklichen Erscheinung.

Nachfolgende Studie unternimmt den Versuch, Philosophische An-


thropologie zureichend zu bestimmen, so dass ein klarer und deut-
licher Umgang mit ihr möglich wird, sei es als Kritik, im Theo-
rienvergleich, zu forschungspraktischem Gebrauch, in Absicht der
Mentalitätenhistorie oder wie auch immer. Um die Klärung zu er-
leichtern, unterscheidet die Untersuchung heuristisch scharf zwi-
schen der philosophischen Anthropologie als einer Disziplin und der
Philosophischen Anthropologie als einem Denkansatz. 22 Der Beob-

sens vom Menschen, in: R. M. Lepsius (Hrsg.), Soziologie in Deutschland und Öster-
reich, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sh. 23 (1981), S. 160–
197.
20 J. Habermas, Anthropologie, in: Fischer-Lexikon Philosophie, mit einer Einleitung v.

H. Plessner, hrsg. v. A. Diemer/I. Frenzel, Frankfurt a. M. 1958, S. 18–35. – W. Schulz,


Die Epoche der nichtspekulativen Anthropologie, in: Ders., Philosophie in der veränder-
ten Welt, Pfullingen 1972, S. 419–456. – A. Honneth/H. Joas, Soziales Handeln und
menschliche Natur. Anthropologische Grundlagen der Sozialwissenschaften, Frankfurt
a. M./New York 1980, S. 48–87. – H. Paetzold, Der Mensch, in: E. Martens/H. Schnä-
delbach (Hrsg.), Philosophie. Ein Grundkurs, Reinbek b. Hamburg 1985, S. 440–479. –
H. Holzhey, Philosophische Anthropologie, in: Ders./W. Röd, Die Philosophie des aus-
gehenden 19. und des 20. Jahrhunderts, Bd. 2 (Geschichte der Philosophie, hrsg. v.
W. Röd, Bd. XII), München 2004, S. 209–233.
21 K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers, in: A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur

und seine Stellung in der Welt. Textkritische Edition unter Einbeziehung des gesamten
Textes der 1. Auflage von 1940, 2. Teilbände, Arnold-Gehlen-Gesamtausgabe (im Fol-
genden GA), hrsg. v. K.-S. Rehberg, Frankfurt a. M. 1978 ff., Bd. 3.1 u. 3.2, hrsg. v. K.-S.
Rehberg, Frankfurt a. M. 1993, Bd. 3.2, S. 756.
22 Diese Unterscheidung wird im systematischen Teil 2 begründet. Im Text wird von

Beginn an typografisch Philosophische Anthropologie als Denkansatz von philosophi-


scher Anthropologie als einer philosophischen Disziplin, einem Fachgebiet unterschie-
den. Zur Einführung dieser Unterscheidung: J. Fischer, Philosophische Anthropologie.
Zur Rekonstruktion ihrer diagnostischen Kraft, in: J. Friedrich/B. Westermann (Hrsg.),

14 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Einf!hrung

achtungsfokus liegt auf der Philosophischen Anthropologie als


Denkansatz im 20. Jahrhundert. Zwei Beweisgänge sollen zeigen,
dass die Philosophische Anthropologie als Denkansatz kein Phantom,
sondern etwas Wirkliches mit Konturschärfe ist, ein theoriege-
schichtliches Phänomen sui generis. Erstens wird verfolgt, inwiefern
die Philosophische Anthropologie sich in einem – wenn auch ver-
trackten – Netzwerk von Denkern mit einem trotz aller Differenzen
gemeinsamen Bewusstsein eines theoretischen Ansatzes gebildet
und realgeschichtlich durch Differenzen, Rivalitäten und Absetz-
bewegungen hindurch somit eine Art ›Schul‹-Bildung mit stattli-
chem Textkorpus einschließlich einer veritablen Wirkungsgeschichte
in verschiedenen Disziplinen stattgefunden hat (Teil 1). Zweitens
wird demonstriert, dass Philosophische Anthropologie philosophie-
geschichtlich tatsächlich ein charakteristischer Denkansatz ist, inso-
fern er in einer philosophiegeschichtlich herausfordernden Lage ein
kategoriales Bildungsprinzip findet, das Erfahrungen in spezifischer
Weise übersetzt und organisiert (Teil 2). Der 1. Teil ist von einer ge-
wissen Sammlerleidenschaft diktiert – zusammentragen, wie es sich
zugetragen hat – und deshalb umfangreich, der 2. Teil von einem
denkökonomischen Interesse – in welcher Art der Kategorienbildung
der Ansatz identifizierbar ist – und deshalb vergleichsweise kurz.
Beide Beweisgänge sind aufeinander bezogen. Die Erzählbarkeit der
Realgeschichte der Philosophischen Anthropologie hängt an einem
impliziten Bildungsprinzip des Denkansatzes, das Zugehörigkeiten
entscheidbar macht. Umgekehrt macht die wissenschaftsbiographi-
sche Darbietung einer theoriegeschichtlichen Schicksalsgemeinschaft
nur Sinn, wenn sich ihr Denkmodell explizieren lässt, wenn sich zei-
gen lässt, inwiefern diese historische Denker-Gruppierung zu Recht
als ein Denkansatz gekennzeichnet werden kann. Plessners Schlüs-
selbegriff »exzentrische Positionalität« erweist sich als roter Faden,
um den Identitätskern des Ansatzes sichtbar werden zu lassen. 23

Damit ist auch zugleich gesagt, was diese Arbeit nicht behandelt. Es
ist erstens keine mentalitätsgeschichtliche, keine ideologiekritische
oder kultursoziologische Studie zur Philosophischen Anthropologie.

Unter offenem Horizont. Anthropologie nach Helmuth Plessner. Mit einem Geleitwort
v. D. Goldschmidt, Frankfurt a. M. 1995, S. 250.
23 J. Fischer, Exzentrische Positionalität. Plessners Grundkategorie der Philosophischen

Anthropologie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 48 (2000), S. 265–288.

Philosophische Anthropologie A 15
Einf!hrung

Man findet hier keine Diskussion oder eigene Interpretation, inwie-


fern diese Ideenbildung als ein Politikum, als ein kulturelles und po-
litisches Ausdrucksphänomen verstanden werden kann, das in be-
stimmten historischen Konstellationen des 20. Jahrhunderts seit den
zwanziger Jahren in Deutschland oder für die »Moderne« überhaupt
– positiv oder negativ – semantische Orientierungsfunktionen über-
nommen hat. Dazu gibt es eine unabgeschlossene Debatte, an der der
Verfasser andernorts teilhatte. 24 Ebenso enthält diese Arbeit zweitens
nicht den geringsten Versuch einer eigenen Kritik oder einer Fort-
entwicklung der Philosophischen Anthropologie und auch nicht den
eigenen Versuch einer sachaufschließenden Bewährung an psycho-
sozio-kulturellen Phänomenen. Zu den Möglichkeiten und Grenzen
der »diagnostischen Kraft« des Denkansatzes hat der Verfasser eben-

24 So z. B. P. Probst, Politik und Anthropologie. Untersuchungen zur Theorie und Ge-


nese der philosophischen Anthropologie der Gegenwart in Deutschland, Frankfurt a. M.
1974. – W. Rügemer, Philosophische Anthropologie und Epochenkrise. Studie über den
Zusammenhang von allgemeiner Krise des Kapitalismus und anthropologischer Grund-
legung der Philosophie am Beispiel Arnold Gehlens, Köln 1979. – K.-S. Rehberg, Phi-
losophische Anthropologie und die ›Soziologisierung‹ des Wissens vom Menschen
(1981), a. a. O., S. 160–197. – R. P. Fischer, Um Leib und Leben. Die anthropologische
Wende in der deutschen Philosophie der Zwischenkriegszeit (1920–1940), Diss. Mün-
chen 1982. – R. Kramme, Helmuth Plessner und Carl Schmitt. Eine historische Fallstu-
die zum Verhältnis von Anthropologie und Politik in der deutschen Philosophie der
zwanziger Jahre, Berlin 1989. – J. Fischer, Die exzentrische Nation, der entsicherte
Mensch und das Ende der deutschen Weltstunde. Über eine Korrespondenz zwischen
Helmuth Plessners philosophischer Anthropologie und seiner Deutschlandstudie, in:
Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 64
(1990), S. 395–426. – B. Accarino, Introduzione: Tra libertà e decisione: alle origini dell’
anthropologia filosofica, in: Ders. (Hrsg.), Ratio imaginis. Uomo e mondo nell’anthro-
pologia filosofica, Firenze 1991, S. 7–63. – O. Marquard, Der Mensch ›diesseits der Uto-
pie‹. Bemerkungen über Geschichte und Aktualität der philosophischen Anthropologie
(1991), in: Ders., Glück im Unglück. Philosophische Überlegungen, München 1995,
S. 142–156. – J. Fischer, Plessner und die politische Philosophie der zwanziger Jahre, in:
Politisches Denken. Jahrbuch (1992), hrsg. v. V. Gerhardt / H. Ottmann / M. P. Thomp-
son, Stuttgart 1993, S. 53–78. – H. Lethen, Verhaltenslehre der Kälte. Lebensversuche
zwischen den Kriegen, Frankfurt a. M. 1994. – S. Giammusso, Politische Kultur als Spiel
der Zivilisation. Eine Auslegung von Plessners frühem politisch-sozialphilosophischen
Ansatz, in: Reports on Philosophy, No. 15 (1995), S. 91–108. – H.-P. Krüger, Angst vor
der Selbstentsicherung. Zum gegenwärtigen Streit um Helmuth Plessners philosophi-
sche Anthropologie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 44 (1996), S. 271–300.
– H. Lethen, Auf der Grenze zwischen Politischem Existentialismus und Historismus.
Plessners Balanceakt in den zwanziger Jahren, in: Th. Keller/W. Eßbach (Hrsg.), Leben
und Geschichte. Anthropologische und ethnologische Diskurse der Zwischenkriegszeit,
München 2006, S. 264–290.

16 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Einf!hrung

falls andernorts Versuche beigetragen. 25 Es werden hier keine An-


schlussmöglichkeiten an aktuelle Debatten vorgeführt, nicht, weil
das nicht interessant wäre, sondern wegen der gewissen Askese der
Studie. Die jetzige Enthaltsamkeit bezüglich jeglicher ideenpoliti-
schen Zurechnung oder einer sachaufschließenden ›Funktionalisie-
rung‹ der Philosophischen Anthropologie dient dazu, durch Siche-
rung ihres Bestandes und Darstellung ihrer Funktionsweise die
Bedingung der Möglichkeit in beiderlei Hinsicht – historischer Rela-
tionierung und forschungspraktischer Erschließungskraft – zu garan-
tieren und eventuell zu steigern.

In dieser Beschränkung lässt sich das Vorhaben noch einmal kenn-


zeichnen. Die nachfolgende Untersuchung konzentriert sich allein
darauf, die Bildungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie
auf zwei Ebenen aufzurollen. Zunächst wird die Realgeschichte der
Philosophischen Anthropologie »erzählt«, d. h. die Geschichte von
Entstehung, Durchbruch, Krise, Fortsetzung, Konsolidierung, Wir-
kung und Dämmerung eines Denkansatzes (Teil 1). Dabei werden

25 Man könnte sagen, die »Renaissance anthropologischer Fragestellungen« und die


Rehabilitierung der Philosophischen Anthropologie seit den 1990er Jahren begann 1992
auf der von Andreas Kuhlmann konzipierten und von Siegfried Blasche organisierten
Bad Homburger Tagung »Anthropologie und Rationalitätskritik«. Beteiligt waren
V. Gerhardt, H. Schmitz, A. Honneth, K.-S. Rehberg, O. Höffe, H. Schnädelbach,
G. Böhme, E. List, W. Kuhlmann und der Verfasser. Vgl. den Tagungsbericht v. A. Kuhl-
mann, Anthropologie als philosophische Kritik. Eine Tagung in Bad Homburg, in: Zeit-
schrift für philosophische Forschung, Jg. 46 (1992), S. 612–615. Hier wurde vom Ver-
fasser – wie auch im gleichen Jahr auf der Berliner Helmuth-Plessner-Konferenz 1992 –
ein erster Rekonstruktionsversuch der Philosophischen Anthropologie als Denkansatz
zusammen mit dem erwähnten Versuch zur analytischen Bewährung vorgetragen: J. Fi-
scher, Philosophische Anthropologie. Zur Rekonstruktion ihrer diagnostischen Kraft, in:
J. Friedrich/B. Westermann (Hrsg.), Unter offenem Horizont. Anthropologie nach Hel-
muth Plessner, a. a. O., S. 249–280. – Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte für die
Tradierung der Philosophischen Anthropologie auch der in der Deutschen Gesellschaft
für Soziologie angesiedelte Arbeitskreis ›Philosophische Anthropologie und Soziologie‹,
einer von K. Thomas (einem dem Werk Plessners verbundenen Soziologen) und dem
Gehlen-Schüler K.-S. Rehberg 1981 gegründete Gruppe, innerhalb derer im Verlauf der
Zeit als Vortragende u. a. auch G. Dux, W. Eßbach, R. Hitzler, A. Honneth, H. Joas,
D. Kamper auftraten und die bis in die 1990er Jahre in der Soziologie und Sozialphi-
losophie eine wechselseitige Wahrnehmbarkeit der an der Denktradition Philosophische
Anthropologie Interessierten herstellte. – Aus einer Rundfunkreihe 1993 entstand der
von R. Weiland herausgegebene Band: Philosophische Anthropologie der Moderne,
Weinheim 1995, der ebenfalls dieses neue Interesse an der Philosophischen Anthropo-
logie bezeugt.

Philosophische Anthropologie A 17
Einf!hrung

hier bereits einschlägige Texte und ihre Kerngedanken mit einge-


führt. Hat man sich einmal entschieden, die Philosophische Anthro-
pologie als Denkrichtung zu beobachten, bemerkt man die Fülle von
Themen, die sie in ihrer spezifischen Art und Weise behandelt hat:
z. B. Technik und Arbeit, Sexualität, Familie, Bildlichkeit, Sprache,
Gefühle, Lachen und Weinen, Krankheit, Institutionen, Stadt, Sozi-
alregulationen, Macht und Herrschaft, Wissenschaft, Kunst, Reli-
gion. Davon abgehoben (Teil 2) wird die Philosophiegeschichte der
Philosophischen Anthropologie daraufhin untersucht, ob sich eine
Funktionsweise, eine systematische Transformation der Philosophie
zeigen lässt, um derentwillen die Philosophische Anthropologie ein
spezifischer Denkansatz genannt werden kann, ein Bildungsprinzip
der Gedanken, das sich durch die tatsächliche Verschiedenheit der
Autoren hindurch zeigen, von dem aus sich umgekehrt auch ihre
wesentliche Differenz untereinander explizieren lässt und das
schließlich die konturscharfe Identifizierung im kontrastiven Ver-
gleich mit anderen Denkansätzen erlaubt. 26

26 Beide Rekonstruktionen verdanken viel der bereits vorliegenden früheren und neue-
ren Forschung, wie sie im Literaturverzeichnis (2. Texte zur Philosophischen Anthro-
pologie) aufgeführt ist – auch wenn das im Einzelnen nicht immer vermerkt wird.

18 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


1 Philosophische Anthropologie.
Zur Realgeschichte des Ansatzes

Es gibt durchaus Darstellungen zur realen Bildungsgeschichte der


Philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert, die den wissen-
schaftsgeschichtlichen Zusammenhang zwischen einem einschlägi-
gen Denkerpersonal sichtbar werden lassen.1 Eine wichtige Darstel-
lung stammt aus der Gehlenschen Richtung. Der Gehlen-Schüler
K.-S. Rehberg hat 1981 die Einzelgänger-Abschottung von Arnold
Gehlen durchbrochen und in einem dicht gearbeiteten Aufsatz die
Philosophische Anthropologie als eine »philosophische Denktraditi-
on« vorgestellt, die zwischen 1920 und 1940 mit einer Fülle von Kon-
zeptionen und Systemen hervorgetreten sei. 2 Er hat dabei Scheler,
Plessner, Rothacker und Gehlen als die »wichtigsten Autoren der phi-
losophisch-anthropologischen ›Schule‹« 3 nebeneinander dargestellt,
ideengeschichtliche Bezüge verdeutlicht, den Ansatz als Beitrag zur
»Soziologisierung« des Wissens vom Menschen markiert und dann
die Bedeutung dieser Denkrichtung für die Soziologie diskutiert. Be-
zogen auf die Realgeschichte des Denkansatzes sprach er von dem
merkwürdigen Phänomen einer »scientific community ohne existie-
rendes Kommunikationsnetz«; denn die Hauptbeiträger hätten ihre
Konzeptionen »in auffälliger zeitlicher, thematischer und metho-
discher Parallelität und zugleich doch in bemerkenswerter Distanz
1 So z. B. A. Honneth / H. Joas, Vorbemerkung: Zur deutschen Tradition der ›Philoso-
phischen Anthropologie‹, in: Dies., Soziales Handeln und menschliche Natur. Anthro-
pologische Grundlagen der Sozialwissenschaften (1980), a. a. O., S. 48–52. – H. Joas,
Anthropologie, in: H. Kerber / A. Schmieder (Hrsg.), Handbuch Soziologie. Zur Theorie
und Praxis sozialer Beziehungen, Reinbek b. Hamburg 1984, S. 28–32.
2 K.-S. Rehberg, Philosophische Anthropologie und die ›Soziologisierung‹ des Wissens

vom Menschen (1981), a. a. O., S. 160–197. – Voraussetzung bildete neben der Gehlen-
Vertrautheit eine Kenntnis des Plessnerschen Werks: K.-S. Rehberg, Das Werk Helmuth
Plessners, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 36 (1984),
S. 799–811.
3 Rehberg behandelt auch Th. Litt und seine »Interaktions-Dialektik« in ›Individuum

und Gemeinschaft‹ (1919) in diesem Zusammenhang, räumt aber ein, dass dessen »die
soziale Vermittlung voraussetzende anthropologische Position« nicht »zur Philosophi-
schen Anthropologie im engeren Sinne zu rechnen« ist. K.-S. Rehberg, Philosophische
Anthropologie, a. a. O., S. 166.

Philosophische Anthropologie A 19
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

zueinander entwickelt.« 4 Rehberg hat in dem typographisch wohl-


überlegten Ausdruck »Denk-›Schule‹« 5 das Phänomen der Philoso-
phischen Anthropologie realgeschichtlich etwas in die Schwebe ge-
setzt, als könne man dem Phänomen nicht ganz trauen. Als
Hintergrund der These, es handele sich um eine »Denk-›Schule‹«
»ohne« existierendes Kommunikationsnetz« 6 , werden ungeklärte er-
hebliche »›Schul‹-Streitigkeiten« um die Begründung, Entstehung
und Weiterführung der Philosophischen Anthropologie erwähnt,
ohne dass ihnen im Einzelnen nachgegangen wird.
Ohne Aufklärung dieser »›Schul‹-Streitigkeiten« setzt sich
jedenfalls in der je autorenbezogenen Forschung das Spiel von Aus-
klammerungen und Herabsetzungen fort. Für die Scheler-For-
schung 7 ist Scheler der Gründer des Ansatzes, der sein Programm
nicht mehr vollständig hat durchführen können; angesichts der ge-
planten »mehrbändigen« »Philosophischen Anthropologie Max
Schelers«, von der »zahlreiche Manuskripte« im Nachlass lägen 8 ,
sind dann Plessner und Gehlen nicht erwähnenswerte Verkürzungen
dieses Programms. Für die Gehlen-Forschung ist Gehlen der »wich-
tigste Vertreter« oder »abschließende Autor« 9 dieser Denkrichtung,
weil er zum ersten Mal eigenständig eine durchgeführte Anthropo-
logie vorgelegt habe. Die Plessner-Forschung folgt weitgehend den
Einlassungen des späten Plessner, der sein grundlegendes Werk zwi-
schen der glänzenden Scheler-Skizze und dem Aufstieg der Existenz-
philosophie Heideggers verschattet und dann ab 1933 aus politischen
Gründen einer Diskussion entzogen sah; so gesehen, gelten dann für
die Plessner-Forschung Plessners ›Stufen‹ von 1928 im nachhinein
aus methodisch-systematischen »Gründen gegenüber Scheler und
aufgrund ihrer Vorläuferschaft gegenüber Gehlen (Der Mensch,
1940) allein als Gründungsschrift der philosophischen Anthropologie

4 Ebd., S. 166.
5 K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers, in: A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur
und seine Stellung in der Welt. Textkritische Edition unter Einbeziehung des gesamten
Textes der 1. Auflage von 1940, 2 Teilbände, GA 3.1 u. 3.2, hrsg. v. K.-S. Rehberg,
Frankfurt a. M. 1993, S. 756.
6 Ebd. S. 759.

7 M. S. Frings, Max Scheler: Drang und Geist, in: J. Speck (Hrsg.), Grundprobleme der

großen Philosophen. Philosophen der Gegenwart II: Scheler, Hönigswald, Cassirer,


Plessner, Merleau-Ponty, Gehlen, 2. erg. Aufl. Göttingen 1981, S. 9–43.
8 Ebd., S. 15.

9 K.-S. Rehberg, Philosophische Anthropologie oder die ›Soziologisierung‹ des Wissens

vom Menschen, a. a. O., S. 174.

20 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

des 20. Jahrhunderts.« 10 Entgegen dieser je autorenbezogenen For-


schung zur Philosophischen Anthropologie gibt es aus wissenschafts-
soziologischer Sicht zwei interessante Hinweise zu einem eventuell
doch existierendem »Kommunikationsnetz«: dass es in der »Früh-
geschichte der philosophischen Anthropologie« im Köln der 20er
Jahre zum Phänomen der »Mehrfachentdeckungen des gleichen
Sachverhaltes« gekommen sein könnte 11, und dass für die interne
Kommunikation des Ansatzes Dritte als »Katalysatoren« 12 eine Rolle
gespielt haben könnten, die selbst nicht dazugehören. Alle diese Hin-
weise lassen aber nicht deutlich werden, wie sich die Entstehungs-
geschichte der Philosophischen Anthropologie real zugetragen hat.
Zudem reichen alle bisherigen Darstellungen immer nur bis 1940,
obwohl zur realen Bildungsgeschichte der Philosophischen Anthro-
pologie ihre Fortschreibung in den 50er und 60er Jahren wesentlich
dazugehört, wie sie überhaupt als »Denk-›Schule‹« tatsächlich erst
später öffentlich ihre Konsolidierung und mit ihrer charakteristi-
schen Wendung der Philosophie zur Wirklichkeit eine spezifische
und alles in allem doch erhebliche Wirkung in der Biologie, Psycho-
logie, Medizin, Soziologie, Kulturwissenschaft, der Theologie und
auch in der Philosophie selbst erreichte.

Im folgenden Versuch, dem, was etwas schwebend »Denk-›Schule‹«


genannt worden ist, einen Sockel zu geben, soll also nicht nur die
reale Frühgeschichte der Philosophischen Anthropologie aufgeklärt,
sondern auch ihre Krisengeschichte, ihre Fortsetzung, neue Chancen,
die Konsolidierung, ihre relative Wirkungsgeschichte in verschiede-
nen Disziplinen und ihr schließliches Schwinden erzählt werden. 13
Die Hypothese ist, dass die Philosophische Anthropologie eine riva-
lisierende »Denk-›Schule‹« mit direkt und indirekt »existierendem

10 H. Fahrenbach, ›Lebensphilosophische‹ oder ›existenzphilosophische‹ Anthropolo-


gie? Plessners Auseinandersetzung mit Heidegger, in: Dilthey-Jahrbuch, Bd. 7 (1990–
91), S. 75.
11 H. v. Alemann, Helmuth Plessner, Max Scheler und die Entstehung der Philosophi-

schen Anthropologie in Köln: Eine Skizze, in: E. W. Orth/G. Pfafferott, Studien zur
Philosophie von Max Scheler. Internationales Max-Scheler-Colloquium ›Der Mensch
im Weltalter des Ausgleichs‹. Universität zu Köln 1993, Freiburg/München 1994, S. 12.
12 R. P. Fischer, Um Leib und Leben. Die anthropologische Wende in der deutschen

Philosophie der Zwischenkriegszeit (1920–1940), Diss. München 1982, S. 253.


13 Die gewisse Renaissance der Philosophischen Anthropologie seit Anfang der 1990er

Jahre wird hier nicht mehr ›erzählt‹, weil die Untersuchung, die selbst im Zuge dieser
leisen Wiederbelebung erfolgt, sich gerade für die ›Geschichte‹ davor interessiert.

Philosophische Anthropologie A 21
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Kommunikationsnetz« war. Schon die Rivalitäten v. a. zwischen


Scheler und Plessner, Plessner und Gehlen sind doch auch eine Art
Kommunikation gewesen sein.
Materiale Voraussetzungen, um diese Realgeschichte zu erzäh-
len, bilden neben den inzwischen erschienenen Werkausgaben von
Scheler, Plessner und Gehlen auch veröffentlichte Briefwechsel. 14
Außerdem wurde teilweise auf unveröffentlichte Quellen aus diver-
sen Nachlässen und Archiven zurückgegriffen, insofern sie für das
Phänomen der Philosophischen Anthropologie wissenschaftsbiogra-
phisch aufschlussreich sind. 15 Ansonsten wird eine kombinatorische
Auswertung der Winke in den vorhandenen Texten, in den Biogra-
phien der Beteiligten auf die konkrete Bildungsgeschichte des Denk-
ansatzes versucht. Hochschulinterne Vorgänge werden nur insoweit
aufgerufen, wie sie für die Bildungsgeschichte des Denkansatzes un-
mittelbar relevant sind. Man muss – und das ist die methodische
Voraussetzung – mit einer schwebenden, auf die verschiedenen Pro-
tagonisten gleich verteilten Aufmerksamkeit operieren – mindestens
auf Scheler, Plessner, Rothacker, Gehlen und Portmann –, um die Re-
algeschichte der Philosophischen Anthropologie sehen zu können.
Zweck ist, zu berichten, was sich wirklich zugetragen hat: Wie sich
der Denkansatz samt seinem ersten Textkorpus in Parallelaktion vor
Ort in Köln in den 1920er Jahren spannungsreich ausbildet, wie er
fast wieder verschwindet, in den 30er und 40er Jahren eine neue Blü-
te erlebt, nach Turbulenzen Ende der 40er in den 50er Jahren zur
Konsolidierung gelangt, trotz fortwirkender Spannungen eine Strö-
mung wird, um dann schließlich Ende der 60er/Anfang der 70er Jah-
re einen Rückgang zu erfahren.

14 H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/Helmuth Plessner. Briefwech-


sel 1923–1933. Mit einem Briefessay von Josef König über Helmuth Plessners »Die
Einheit der Sinne«, Freiburg/München 1994. – H. Struyker Boudier (Hrsg.), Filoso-
fische Wegwijzer. Correspondentie van F. J. J. Buytendijk met Helmuth Plessner, Ker-
ckebosch 1993.
15 Wichtig ist u. a. H. v. Alemann, Interview mit Helmuth Plessner am 7. April 1981,

Aufzeichnungen (23 S.), Nachlaß Plessner, auf die H. v. Alemann seine »Skizze«: Hel-
muth Plessner, Max Scheler und die Entstehung der Philosophischen Anthropologie in
Köln, a. a. O., stützt. Der Soziologe H. v. Alemann, nach eigener Aussage kein Kenner
der Werke der Philosophischen Anthropologie, hat aus ursprünglich anderem Anlaß mit
dem 89-jährigen Plessner zwei Gespräche geführt, in der bis dahin unbekannte Details
der Realgeschichte des Denkansatzes aus Plessners Sicht zur Sprache kamen.

22 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Genese (1919–1927)

1.1 Genese (1919–1927)

Tatsächlich ist es sinnvoll, den Anfang der Philosophischen Anthro-


pologie bis zum Jahr 1919 in Köln zurückzuverfolgen, als Scheler und
Plessner in der neugegründeten Universität zusammentreffen, weil
eben aus dieser Figuration acht Jahre später der Doppeldurchbruch
zum Denkansatz erfolgt. Der 45jährige Scheler, seit Beginn 1919 als
Professor für Philosophie und Soziologie, verbunden mit einer Mit-
direktorenschaft am ebenfalls neuen Institut für Sozialwissenschaf-
ten, tätig, hatte den 27jährigen Plessner, den er bei einem Ausflug am
Starnberger See kennenlernte, nach Köln gewunken. Plessner kam
aber zunächst gar nicht Schelers wegen, sondern ganz pragmatisch
wegen des ebenfalls dorthin berufenen Hans Driesch, dem berühm-
ten modernen philosophischen Biologen einer Eigengesetzlichkeit
des Organischen, seinem früheren Lehrer aus Heidelberg, unter des-
sen Ägide er sich nun zu habilitieren versprach. 1920 kam es dazu,
und wenig später – Driesch verließ Köln schon das Jahr darauf Rich-
tung Leipzig – wirkte Plessner als Privatdozent für Philosophie neben
dem Ordinarius Scheler an der Universität Köln.
Es bleiben also sieben Jahre bis zum öffentlichen Durchbruch
der Konzeption. Ungefähr in der Mitte der Berichtszeit, 1924, kün-
digt Scheler dem Publikum demonstrativ das Projekt seiner »Phi-
losophischen Anthropologie« und »Metaphysik« an. 1 Ebenfalls 1924
kündigt Plessner öffentlich ein Buch an »unter dem Titel: ›Pflanze,
Tier, Mensch – Elemente einer Kosmologie der lebendigen Form‹,
[…] in deren Zusammenhang die Darstellung der Prinzipien der An-
thropologie gehört.« 2 Will man verstehen, wie beide auf diese Idee
einer »Philosophischen Anthropologie« verfielen, muss man zu-
nächst verstehen, was beide Philosophen umtrieb.

Zunächst gilt es Schelers Weg zu sehen. Schelers Denkneigung war


von Beginn des Jahrhunderts an doppelseitig gewesen, zwischen
Idealismus und Psychologie, zwischen »Geist« und »Leben«. Schon

1 M. Scheler, Probleme einer Soziologie des Wissens, in: Ders. (Hrsg.), Versuche zu
einer Soziologie des Wissens, München / Leipzig 1924, S. 1–150, S. 7. Wiederabgedr.,
in: Ders., Die Wissensformen und die Gesellschaft (1926), GW 8, S. 15–190. Scheler
verweist bereits 1924 auf seine »seit Jahren vorgetragene, demnächst erscheinende An-
thropologie«, S. 15.
2 H. Plessner, Vorwort zu ›Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radika-

lismus‹ (1924), GS V, S. 12.

Philosophische Anthropologie A 23
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

in seiner Habilitation 3 war er zutiefst interessiert an der Unantast-


barkeit universeller Strukturen des »Geistes« (das Wahre, Schöne,
Gute), wie sie die philosophische Reflexion aufzuzeigen sucht, und
zugleich zog ihn die Neugierde zur empirischen Forschung, die me-
thodisch beobachtend Gesetze des Materials des »Lebens« (des Den-
kens, der Seele, des Sozialen) zutage förderte und die ideellen Struk-
turen aus dem Material heraus erklärt. Schelers Denken saß von
Beginn an in dieser Denklücke zwischen Idealismus und Naturalis-
mus (Psychologismus, Historismus, Soziologismus), willens, die uni-
versellen Strukturen gegen materialen Reduktionismus und Relati-
vismus zu verteidigen, aber von Beginn an mit der Intuition, sie nicht
jenseits des Materials (wie die neukantianischen Philosophien), son-
dern im Material selbst zu verteidigen.
Deshalb lebte sich Scheler außerordentlich rasch in die Phäno-
menologie E. Husserls ein, als er als Münchener Privatdozent mit ihr
in Kontakt kam. Er verstand, dass sie sich als eine neue philo-
sophische Vergewisserungsmethode zwischen Idealismus und Psy-
chologismus schieben wollte, indem sie – antipsychologisch, antihis-
torisch und antisoziologisch – rein beschreibend die dem natürlichen
Bewusstsein korrelativ gegebenen Phänomene wesensmäßig zu si-
chern suchte. Während Husserl aber diese Phänomenologie als Ver-
gewisserung intellektueller Akte betrieb, also die Korrelation zwi-
schen intellektuellem Apriori (Denken, Vorstellen, Wahrnehmen)
und phänomenal gegebenen Sachverhalten erforschte, wendete Sche-
ler die phänomenologische Vergewisserung den Wertverhalten zu,
die er als Korrelat von Fühlakten erforschte, denen Vorzugs- und
Nachsetzungsakte implizit waren. Er senkte sozusagen die phänome-
nologische Vergewisserung auf das »emotionale Apriori« herab, und
kam mit dieser die Philosophie inspirierenden Idee seinem Problem,
universelle Strukturen nicht jenseits von, sondern in dem von der
empirischen Forschung durchforsteten Material (des Denkens, der
Seele, des Sozialen) zu garantieren, erheblich nahe. Gerade die emo-
tionale Sphäre, die oft als psychologische Durchgangspassage dient,
wenn wissenschaftlich-empirische Erklärungen Strukturen des Geis-
tes auf ökonomische, erbbiologische oder politische Materialität
rückführen, verwandelte er – über die Kategorie des »intentionalen
Fühlens« – so in eine Konstitutionsbasis universeller Strukturen. Im

3 M. Scheler, Die transzendentale und die psychologische Methode. Eine grundsätzliche


Erörterung zur philosophischen Methodik (Habil. 1899), GW 1, S. 197–335.

24 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Genese (1919–1927)

Gegenzug zur materialistischen Reduktion arbeitete er mit einem


Stufenbau des Gefühlslebens, indem er rein sinnliche Gefühle (ange-
nehm/unangenehm) von »vitalen Gefühlen« (Frische/Mattigkeit,
Furcht/Hoffen) unterschied, von letzteren noch einmal »seelische
Gefühle« (Scham, Trauer, Freude) und von diesen rein »geistige Ge-
fühle« (Achtung, Seligkeit, Verzweiflung) abhob. In den jeweiligen
Stufen der Gefühlsakte beobachtete er eine zunehmende Intentiona-
litätsfähigkeit, die kognitive Funktion des »Wertnehmens« von
Wertqualitäten (so wie die Wahrnehmungsakte korrelativ Farbquali-
täten erfassen). So konnte er in seinem diesbezüglichen Hauptwerk
›Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik‹ 4 (1913)
eine »materiale Wertethik« zwischen die – an universellen Prinzipien
ausgerichtete – formale Ethik (Kants) und die von dieser philoso-
phisch abgewiesenen, weil an sinnliche Kriterien gebundene »Er-
folgsethik« schieben. Bereits hier führte er in einem entscheidenden
Zwischenkapitel die vom Biologen Jakob von Uexküll 1909 auf-
gedeckte Korrelativität zwischen Organismus und Umwelt als Figur
ein, um eine vitale Aufbaubasis für das emotionale Apriori zu gewin-
nen. 5 Scheler baute seinen Ansatz beim materialen Apriori der Ge-
fühle zeitgleich auch sozialtheoretisch aus in einer Studie zur ›Phä-
nomenologie und Theorie der Sympathiegefühle‹ (1916); auch hier
beschrieb er eine Fundierungsordnung: Die Sphäre der »Einsfüh-
lung« bzw. der »Gefühlsansteckung« bildet das soziale Leben, in
dem der Andere noch nicht als Anderer realisiert wird; das fundiert
die Möglichkeit, die Gefühle des Anderen »nachzufühlen«, zu ver-
stehen, was wiederum Voraussetzung des »Mitfühlens« ist, in dem
nun in der Teilnahme am Gefühl des Anderen (Mitfreude, Mitleid)
der Andere als personaler Anderer »intentional« gemeint ist. 6
Schelers Entdeckung der kognitiven Tragweite emotionaler Ak-
te, die charakteristische Apriorität des Emotionalen und der darin
liegenden Chance der »Liebe« als »Teilhabe« an der Welt, sich selbst
und dem Anderen, stand immer im Zusammenhang seines Interesses
an einer Metaphysik nach Kant. Nach Kants transzendentaler Wende
war es philosophisch nicht mehr möglich, direkt vom gegenständlich

4 M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913/1916),
GW 2.
5 Ebd., S. 157. – J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere (1909), 2. verm. u. verb.

Aufl. Berlin 1921.


6 M. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie (1913/1916), GW 7.

Philosophische Anthropologie A 25
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

gegebenen Sein in das Sein des Kosmos (das Absolute, Gott) vor-
zustoßen, weil Kant die Vermitteltheit all dieser Versuche durch
Strukturen der erkennenden Subjektivität aufgedeckt hatte. Alles ge-
genständliche Sein in Innen- und Außenwelt war zunächst auf das
Bewusstsein (des Menschen) zurückzubeziehen, das sich damit aber –
philosophisch – in einer in sich abgekammerten Sphäre vorfand. Die-
se Abkammerung des Bewusstseins war das Schelersche Problem. Er
suchte nach einer Rückführungsbasis der Subjektivität, die der trans-
zendentalen Vorgelagertheit des Subjekts genügen und zugleich zwi-
schen Subjekt und Objekt als Konstitutionsbasis einer neuen Meta-
physik fungieren sollte.
Deshalb waren für ihn – gleichsam unterhalb der erkenntnis-
theoretischen Bewusstseinsforschung – die »Versuche einer Philoso-
phie des Lebens« 7 bedeutsam, wie sie Nietzsche, v. a. aber Dilthey,
den er ausdrücklich würdigte, und schließlich Henri Bergson unter-
nommen hatten. Scheler versprach sich vom richtig gewendeten
Schub der Lebensphilosophie eine »Umbildung« der Philosophie:
»Sie wird sein wie der erste Tritt eines jahrelang in einem dunklen
Gefängnis Hausenden in einen blühenden Garten. Und dies Gefäng-
nis wird unser durch einen auf das bloß Mechanische und Mechani-
sierbare gerichteten Verstand umgrenztes Menschenmilieu mit sei-
ner ›Zivilisation‹ sein. Und jener Garten wird sein – die bunte Welt
Gottes, die wir – wenn auch noch in der Ferne – sich uns auftun und
hell uns grüßen sehen. Und jener Gefangene wird sein – der euro-
päische Mensch von heute und gestern, der seufzend und stöhnend
unter den Lasten seiner eigenen Mechanismen einherschreitet und,
nur die Erde im Blick und Schwere in den Gliedern, seines Gottes und
seiner Welt vergaß.« 8 Scheler behauptete, dass in Bergsons »neuer
Grundhaltung« die »gesamte philosophische Problematik« eine
»neuartige Anordnung und Verschlingung« gewinne und kennzeich-
nete das als die lebensphilosophische Drehung der Phänomenologie:
»Diese Philosophie hat zur der Welt die Geste der offenen, aufwei-
senden Hand, des frei und groß sich aufschlagenden Auges. Das ist
nicht der blinzelnde, kritische Blick, den Descartes – mit dem univer-
sellen Zweifel beginnend – auf die Dinge wirft; nicht Kants Auge, aus

7 M. Scheler, Versuche einer Philosophie des Lebens. Nietzsche – Dilthey – Bergson


(1915), GW 3, S. 311–339, S. 339.
8 Ebd., S. 339.

26 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Genese (1919–1927)

dem der Geistesstrahl so entfremdet wie aus einer ›anderen‹ Welt


und so herrschaftlich auf die Dinge fällt und sie durchbohrt.«9
Scheler war lebensphilosophisch inspiriert von Bergson, den er
für deutsche Verhältnisse sehr früh bereits in seiner ersten »Biologie-
vorlesung« (1908/09) 10 würdigte, eine Vorlesung, die wiederum
Schelers früh einsetzendes Reflexionsinteresse an einer philosophi-
schen Biologie anzeigt. Bergsons für Scheler vermutlich bedeutends-
ter Schritt war, dass er seine zunächst verfolgte philosophische Psy-
chologie, seine Theorie des Bewusstseinslebens (›Zeit und Freiheit‹,
›Materie und Gedächtnis‹), zu einer philosophischen Biologie, einer
Theorie des Organischen (›L’évolution créatice‹) umgestellt hatte,
gleichsam die Innenbeobachtung durch eine Außenbeobachtung
flankiert hatte. Hatte Bergson zunächst in Auseinandersetzung mit
dem mathematischen und physikalischen Zeitbegriff die Dimension
eines »inneren Zeitbewußtseins«, die »erlebte Zeit« im Unterschied
zur physikalischen Zeit als spezifisch menschlicher Bewusstseins-
form freigelegt, so konzipierte er nun gegen die darwinistisch-me-
chanistische Evolutionstheorie (fortschreitender Anpassung) eine
nichtevolutionistische Theorie des »elan vital« der je verschiedenen
Lebensformen von Pflanze, Tier und Mensch mit je erschlossenen
Welten; in dieser »L’évolution créatice« von 1907 11 (Scheler regte
bereits 1906 deutsche Übersetzungen von Bergsons Schriften an)
ging es ihm darum, entgegen einer Rekonstruktion des Vitalen nach
den Kriterien der Materie und der Kausalität als »Anpassung« eine
der Eigenphänomenalität des Lebendigen gerecht werdende Interpre-
tation zu etablieren, die auch eine Rekonstruktion der Besonderheit
des Menschen samt seiner eigentümlichen Innenerfahrung eines
»inneren Zeitbewußtseins« erlaubte. Diese Herstellung einer Ver-
bindung zwischen einer Philosophie des Bewusstseins, des unmittel-
baren Erlebens in der »Intuition« und einer Philosophie des Organi-
schen war nicht nur für Scheler attraktiv, aber gerade für ihn.

1915 bündelt er zum ersten Mal sein eigenes Anliegen, universelle


Strukturen des Geistes im Material zu zeigen, skizzenhaft zur »Ein-
heit des Menschen« angesichts dreier Problemlinien: dem Streit zwi-
9 Ebd., S. 325.
10 M. Scheler, Biologievorlesung (1908/09), GW 14, S. 257–361.
11 H. Bergson, Schöpferische Entwicklung (frz. 1907), Jena 1912, verstand sich auch als

philosophische Antwort auf: Ch. Darwin, Die Entstehung der Arten durch natürliche
Zuchtwahl (engl. 1859), Stuttgart 1983.

Philosophische Anthropologie A 27
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

schen Psychologismus vs. Transzendentalphilosophie, dem Streit


zwischen Naturgeschichte vs. Geschichte des Menschen und dem
Streit um den Menschen als Gegenstand der Naturwissenschaften
oder der Geisteswissenschaften. Wiewohl er hier zum ersten Mal
konkret an Monopolen des Menschen – der »Sprache« und dem
»Werkzeug« – gleichsam in einem ersten Vorgriff ›philosophisch-an-
thropologisch‹ argumentiert, ist seine »Idee des Menschen« 12 noch
religionsphilosophisch fundiert. Sie gründet sich in der Hypothese
vom Theomorphismus des Menschen als wahrem sachhaltigem Zu-
gang zur menschlichen Sphäre. Das ist ein wichtiger Zwischenschritt
zur späteren Möglichkeit einer Philosophischen Anthropologie, weil
durch diese Hypothese die Abbaubewegung im Denken gestoppt
wird: Der Anthropomorphismus der Gottesidee (d. i. der Abbau Got-
tes auf den Menschen, Religion ist nichts weiter als eine menschliche
Projektion) endet nämlich nach Scheler im Biomorphismus des Men-
schen (d. i. dem Abbau des Menschen auf die tierische Natur). Musste
man früher darauf bedacht sein, »den Menschen von Gott zu unter-
scheiden und von all den Zwischendingen, die man zwischen ihn und
die Götter gestellt hatte, z. B. von dem Engel […], musste sein Eigen-
dasein noch ›retten‹ und darauf sehen, dass er nicht automatisch in
irgend einen Himmel hineinfliege«, hat sich das Verhältnis umge-
kehrt: »Der Mensch scheint in die Tierheit, in die untere Natur zu
verfließen, und es gilt gerade noch einen Unterschied zu finden, der
ihn ›rettet‹, ganz in sie zu versinken.« 13 Scheler war sich also schon
früh des metaphysikkritischen Ursprungs der anthropologischen Re-
flexion (seit Kant und Feuerbach) und ihrer Konsequenzen bewusst.
»Theomorphismus« des Menschen heißt für ihn demnach nicht eine
Anthropologie aus theologischer Perspektive, sondern ein philoso-
phischer Gebrauch des Potentials sakraler Rede des Menschen gegen
den anthropologischen und naturalistischen Reduktionismus: »gera-
de die Undefinierbarkeit gehört zum Wesen des Menschen.« 14 Diese
religionsphilosophische Fundierung (die auch seine Berufung an die
neugegründete Universität im katholischen Zentrum Köln motivier-
te) wird er noch bis Anfang der 20er Jahre durchhalten15 , gleichsam
als Reserveidee, um die naturalistischen und relativistischen Tenden-

12 M. Scheler, Zur Idee des Menschen (1915), GW 3, S. 171–195.


13 Ebd., S. 175.
14 Ebd., S. 186.
15 M. Scheler, Vom Ewigen im Menschen (1921), GW 5.

28 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Genese (1919–1927)

zen in Schach zu halten. Die Auseinandersetzung mit der »naturalis-


tischen Philosophie« führte Scheler sehr früh auch bereits mit der
Schule Freuds, an der er hinsichtlich der Anthropologie die »prinzi-
pielle Spekulation ›à baisse‹« kritisierte. 16 Er machte das am Begriff
der »Sublimierung« fest: »Nach Freuds Darstellung hat es den An-
schein, als nähme er an, es entsprängen die Akte geistiger Betäti-
gung, wie sie in aller Erkenntnis und Kunsttätigkeit […] sich betäti-
gen, aus verdrängter Libido.« Gegen diesen Ansatz, das Hohe auf das
Niedrige, den Geltungsanspruch des Geistigen libidotheoretisch in
ein dynamisches Triebsystem aufzulösen, kann nach Scheler das
Wort »Sublimierung« in einem »vernünftigen Sinn […] nur besagen
wollen, es sei durch diesen Vorgang einer Zurückdrängung der libido
den dispositionell vorhandenen geistigen Befähigungen und Interes-
senrichtungen eine Energie zugeleitet worden, die ihnen sonst bei
schrankenloser Hingabe an die ›libido‹ versagt geblieben wäre.« 17
Erst jetzt, in Köln, kommt er zur Systematisierung dieser im-
manenten Aufbaupositionen. Bemerkbar werden sie in seinem gro-
ßen Projekt einer »Wissenssoziologie«, welche gegen die materialis-
tische Ideologienlehre und gegen den Idealismus die Verschränkung
von »objektivem Geist« und »realen Lebensverhältnissen«, von
»Geistesstruktur« und »Triebstruktur« so aufzuweisen sucht, dass
die Autonomie der »Wissensformen« und »Wertnahmen« unange-
tastet bleibt, wiewohl angewiesen auf die Kraft der realen Verhält-
nisse. 18 Dabei kommt Scheler sowohl zu einer charakteristischen Plu-
ralisierung der »Idealfaktoren«, also der dispositionell vorhandenen
geistigen Betätigungen wie zu einer charakteristischen Pluralisie-
rung der »Realfaktoren« der sozialen Basis. Er schließt in seiner ›Stu-
die über Wert und Grenzen des pragmatischen Motivs in der Er-
kenntnis der Welt‹ 19 zunächst zum amerikanischen Pragmatismus
auf, dem er – auch in der Nachfolge von Marx – die philosophische
Entdeckung des Verhältnisses von Arbeit und Erkenntnis zuschrieb.
Die »pragmatistische Philosophie« ist für Scheler bedeutend, weil sie
als die angemessene Interpretation des »Positivismus« den Stellen-

16 M. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, GW 7, S. 302.


17 Ebd., S. 303 f.
18 M. Scheler, Probleme einer Soziologie des Wissens (1924), in: Ders., Die Wissens-

formen und die Gesellschaft (1926), GW 8, S. 15–190.


19 M. Scheler, Erkenntnis und Arbeit. Eine Studie über Wert und Grenzen des pragma-

tischen Motivs in der Erkenntnis der Welt, in: Ders., Die Wissensformen und die Gesell-
schaft, GW 8, S. 191–382.

Philosophische Anthropologie A 29
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

wert des »Arbeits- und Leistungswissens«, damit der »Technik« für


die menschlichen Lebensverhältnisse aufweist. »Wir halten es für ein
sehr unrichtiges Vorgehen, die pragmatistische Philosophie als solche
nicht zu beachten« – sagt er gegen den Idealismus gewandt. Zugleich
will er aber den bloß »relativen Wahrheitskern« des Pragmatismus
aufdecken. Die »pragmatistische Philosophie« bedeutet »für uns
einen Versuch, alles Wissen bewusst und einseitig auf Arbeitswissen
zurückzuführen – in der möglichen Veränderung der Welt im Sinne
unserer Willenszwecke den einzigen Sinn und Wert des Wissens auf-
zuweisen.« 20 In seiner Theorie des Wissens hegt Scheler nun aller-
dings den Geltungsanspruch des Pragmatismus ein, indem er vom
positivistisch-pragmatistisch erschließbaren »Herrschaftswissen«
das – vom Staunen ausgelöste – »Bildungswissen« (oder »metaphy-
sische Wissen«) der Persönlichkeit und das – von einem Bergungs-
drang getragene – »Erlösungs- oder Heilswissen« als je originäre
Wissensformen abhebt. Indem Scheler damit Comtes diachrone Wis-
sensfolge von Religion, Metaphysik und positivem Wissen, in der
geschichtsphilosophisch das jeweils letzte Stadium die vorhergehen-
den überwindet und im Fortschreiten hinter sich lässt, in die Syn-
chronie von Leistungswissen, Bildungswissen und Bergungswissen
verwandelt, öffnete er den Blick für die plurale Komplexität des Wis-
sens (auch in der Moderne). Alle drei nicht aufeinander reduzier-
baren Wissensformen sind fundiert in der ontologischen Teilhabe
eines Seienden am Sosein eines anderen Seienden, dessen Sein da-
durch unverändert bleibt. Diese »Wissensformen« setzt er nun zu
den »triebhaft bedingten Lebensverhältnissen« in Beziehung, also
dem Kern der eigentlichen Wissenssoziologie. »Der Geist im subjek-
tivem und objektiven Sinn […] bestimmt für Kulturinhalte, die da
werden können, nur und ausschließlich ihre Soseinsbeschaffenheit.
Der Geist als solcher hat jedoch an sich ursprünglich und von Hause
aus keine Spur von ›Kraft‹ oder ›Wirksamkeit‹, diese seine Inhalte
auch ins Dasein zu setzen. Er ist wohl ein Determinationsfaktor, aber
kein ›Realisationsfaktor‹ des möglichen Kulturwerdens.« Es sind die
»realen, triebhaft bedingten Lebensverhältnisse« – und hier unter-
scheidet Scheler wiederum drei nicht aufeinander rückführbare
Triebkräfte: Sexualität und Fortpflanzungsverhältnisse, Macht und
Herrschaftsverhältnisse, Nahrungstrieb und Produktionsverhältnis-
se –, die die »Realisationsfaktoren oder realen Auslesefaktoren« da-

20 Ebd., S. 211.

30 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Genese (1919–1927)

für bilden, welche wissenschaftlich-technischen, metaphysischen


oder religiösen Ideen aus dem geistig möglichen Spielraum realisiert
werden. 21 Was Scheler innerhalb dieser so zu einer Theorie des Geis-
tes einschließlich der Wissenssoziologie geweiteten Erkenntnislehre
konzeptionell noch vermisst, ist die methodische Möglichkeit einer
umfassenden Aufbaulehre dieser komplexen menschlichen Sphäre,
die von einem Ansatzpunkt unterhalb der Bewusstseinssphäre auch
das phänomenologische Philosophieren selbst begründen soll und (in
einer »modernen Metaphysik«) schließlich auch die »Fenster ins Ab-
solute« im Material selbst aufzeigen soll. Scheler, 46 Jahre alt, Lehr-
stuhlinhaber an der neuen Universität Köln, eine öffentliche Figur,
auf der Erwartungen ruhten, kam es auf eine Vollendung, einen sys-
temhaften Abschluss seiner Ideenwelt an.

Der Blick auf Plessners Weg zeigt Parallelen und Differenzen. Als
Plessner 1920 neben Scheler in Köln zu lehren und zu forschen be-
gann, war er ein junger, aber akademisch fertiger Philosoph, also kei-
neswegs ein Schüler Schelers, fertig – aber für intellektuelle Aben-
teuer offen. Plessner brachte aus Heidelberg ein Biologiestudium mit
konkreter sinnesphysiologischer Forschung mit, die bereits von der
Idee einer »Philosophie des Organischen« umringt war 22, wie sie sein
erster philosophischer Lehrer, Hans Driesch, in dessen Haus er ver-
kehrte, der ihn einen seiner »begabtesten und rührigsten Schüler«
nannte und dem er sein erstes Buch gewidmet hatte, vertrat. 23 In
Heidelberg hatte Plessner 1913 auch bereits Kontakt zu dem dort als
Privatgelehrten forschenden Biologen J. v. Uexküll. Plessners parallel
– bei Windelband und Lask – begonnenes Philosophiestudium wurde
eigentliches Philosophieexerzitium aber erst – nach dem Abbruch der
zoologischen Dissertation – bei Husserl in Göttingen, mit der Ein-
übung in die Phänomenologie, und dann, noch einmal in schmerz-
hafter Absetzung von Husserl, mit einem Studium von Kants kriti-
scher Philosophie und dem Neukantianismus auf eigene Faust. In
Durcharbeitung von Kants kritischer Philosophie kam Plessner zur
Einhegung der Phänomenologie, nicht zu ihrer Verwerfung. Phäno-

21 M. Scheler, Probleme einer Soziologie des Wissens, GW 8, S. 21.


22 H. Driesch, Philosophie des Organischen. Gifford-Vorlesungen gehalten an der Uni-
versität Aberdeen in den Jahren 1907–1908 (1909), 2. Aufl. Leipzig 1921.
23 »Dr. Plessner ist mir persönlich seit 1911 bekannt; er war einer meiner begabtesten

und rührigsten Schüler«, so Driesch im Habilitationsgutachten, 8. Mai 1920. Personal-


akte Plessner, Universitätsarchiv Köln.

Philosophische Anthropologie A 31
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

menologie, diese philosophische Haltung, ohne Voreingenommen-


heit durch Theorie und Problemstellung sich des Gegebenen zu ver-
gewissern, diene der Wiederherstellung des Anschauungskontaktes
bei dogmatischen, spezialwissenschaftlichen Schnitten im Material.
Aber – anders als die Phänomenologie – müsse Philosophie, so Pless-
ner, um Wahrheit zu erlangen, ein Prinzip setzen, Begründung un-
ternehmen durch ein Prinzip, das sich dann an außerhalb des Sys-
tems liegenden Phänomenen zu bewähren habe.
Philosophie war also die Kunst, die ›Krisis der transzendentalen
Wahrheit im Anfang‹ 24 zu wagen und dann zu stabilisieren. Weiter-
dringend in der Rekonstruktion der Kantischen kritischen Philoso-
phie (1920) hieß das nach Plessner für die Philosophie, dieses Prinzip
nicht der theoretischen Vernunft (Domäne der Natur-Wissenschaft)
und nicht der praktischen Vernunft (Domäne der Sittlichkeit) anzu-
vertrauen, sondern in die Setzungskraft der Urteilskraft zu setzen
(Heautonomie). Die »philosophische Urteilskraft« sollte die Setzung
eines instabilen Punktes in der Mitte unternehmen, von dem aus
aber die Extreme der theoretischen Vernunft und der praktischen
Vernunft füreinander vermittelbar bleiben sollten. 25 Plessner er-
reichte hier, vor Köln und dem Antritt neben Scheler, nicht nur die
Theorie der Philosophie als »philosophische Urteilskraft«, welche die
Letztinstanz der Grenzziehungen und Vermittlungen bildet, sondern
mit der Kategorie der »Grenze« auch eine erste (anthropologisch re-
levante) Systematik von »verschiedenen Gebieten […], die gegen-
einander nur im Verhältnis der Grenze gedacht werden können: Leib
und Seele, Geist und Wille, Anschauung und Überlegung, ebenso die
Sinnesgebiete des Auges, des Ohres, des Tastens usw. gegeneinander,
Subjekt und Objekt, Ding an sich und Erscheinung, Sein, Gelten,
Übersein, Immanenz und Transzendenz, und innerhalb der verschie-
densten Aussagegebiete wieder die qualitativ möglichen Unterstufen
bis in die feinsten Differenzen hinein.« 26
Plessner begriff den Anfang in Köln nach Kriegsersatzdienst
und bayrischer Revolutionszeit als Aufbauwagnis einer philosophi-
schen Karriere. Plessners Neueinsatz in Köln begann mit Überlegun-

24 H. Plessner, Krisis der transzendentalen Wahrheit im Anfang (Diss. 1918), GS I,


S. 143–310.
25 H. Plessner, Untersuchungen zu einer Kritik der philosophischen Urteilskraft (Habil.

1920, unveröffentlicht), Erstveröffentlichung GS II (1981), S. 7–321.


26 Ebd., S. 136 f.

32 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Genese (1919–1927)

gen zur Problematik von Organismus und Person, welche seine bio-
logische und philosophische Schulung kombinierten. Sein origineller
philosophischer Beitrag lag 1923 vor mit der ݀sthesiologie des Geis-
tes‹. 27 Die (organischen) Sinne auf ihre Sinn-Kapazität hin zu unter-
suchen, entgegen der Kantischen Theorie, die die reinen Formen des
Verstandes von den Materiallieferungen der Sinnlichkeit trennte,
war ein durch Schelers im Feld der Ethik durchgeführte Kant-Kritik
am ›Formalismus‹ ermutigter Versuch. Plessner war beeindruckt von
Schelers in seinem Ethik-Buch formulierten, Uexküllsche Gedanken
philosophisch reformulierenden Programm, zur Abwehr des Natura-
lismus bei der »Zwischenzone der psychophysischen Indifferenz«
anzusetzen und die Einheit der Person als Einheit der Person mit
ihrer Umwelt zusammenzudenken (Leiblichkeit und Umweltlich-
keit). 28 So wie Scheler das materiale Apriori der Emotionen, so suchte
Plessner das materiale Apriori der Sinne aufzuweisen. Originell war
hier nicht nur die Nutzung seines wissenschaftlichen Zuganges zur
Sinnesphysiologie in philosophischer Absicht, sein Anschluss an
Bergsons Philosophie des Lebens mit ihrer These von der »Aktions-
relativität der Sinne«, sondern auch sein methodischer Bezug auf
W. Diltheys geisteswissenschaftlich interessierte ›Kritik der histori-
schen Vernunft‹. Plessner versuchte, die Leistungsfähigkeit der Sinne
»hermeneutisch« von geschichtlich erarbeiteten Kulturobjektiva-
tionen her phänomenologisch auszuwerten – der »Wissenschaft«,
speziell der »Geometrie«, der »Sprache« und der »Musik«. Sein ei-
genster Punkt aber war, konsequent entsprechend der Kategorie der
»Grenze«, das Verhältnis zwischen Auge und Gehör im mensch-
lichen Körperleib als Verhältnis der Extreme – von der Distanz des
Blickstrahls zur Resonanz eindringender Töne – zu rekonstruieren,
um in der Vermittlung die Sprache entspringen zu lassen. Dabei kam
er innerhalb seiner ›Ästhesiologie des Geistes‹ auch zu Konsequen-
zen hinsichtlich der Ästhetik, vor allem zu eingrenzenden Einschät-
zungen des Projekts eines »Musizierens in Farben« durch der moder-
nen bildenden Kunst (Kandinsky), und zugleich gab er auch eine
neue Wissenschaftstheorie der Differenz von Natur- und Kulturwis-
senschaften, indem er im Rückgang auf den Distanzsinn des Sehens
und den Resonanzsinn des Gehörs den Positivismus einerseits, die

27 H. Plessner, Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes
(1923), GS III, S. 7–315.
28 Ebd., S. 20.

Philosophische Anthropologie A 33
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Hermeneutik andererseits als Wissenschaftstypen zu begründen und


damit zugleich epistemologisch in ihrem relativen Recht einzuhegen
versuchte. In jedem Fall ist nach Plessner das menschliche Lebewesen
vor die Aufgabe gestellt, in der Heterogenität der Sinne und ihrer
jeweiligen geistigen Ausschöpfungen eine ›Einheit der Sinne‹ in
ihrer Pluralität zustande zu bringen. Erkennbar wurde hier eine »Pa-
rallelaktion« 29 mit Cassirers zeitgleichem Projekt einer ›Philosophie
der symbolischen Formen‹ (Wissenschaft, Sprache, Mythos), wobei
aber bei Plessner – anders als bei Cassirer – die Philosophie der Kul-
tur eine Philosophie der Natur, eben der Sensualität selber, impli-
zierte. Auffällig ist, wie Plessner, ähnlich wie Scheler in seiner Er-
kenntnislehre und Cassirer in seiner Kulturphilosophie, und doch
unabhängig von beiden, innerhalb seiner Theorie des Geistes oder
der Kultur drei irreduzible Modi des Geistes differenziert: Wissen-
schaft, Sprache und Musik. Kein Modus ist auf den anderen rück-
führbar, keiner durch den anderen aufhebbar, und doch kommt, wie
bei Scheler, dem mittleren Modus der Status einer Grenzzone
zwischen den Extremen zu, die gleichwohl als genuin menschliche
Möglichkeiten philosophisch mitberücksichtigt gehören. Gegenüber
Cassirers Ausstiegsversuch aus dem Neukantianismus (mit Einbezie-
hung der Sprache und des Mythos), der aber doch am Primat der
Wissenschaft festhielt, imponierte Plessner in seiner Konstruktion
durch die Einbeziehung einer »Philosophie der Musik« (und des Tan-
zes) in die Kulturphilosophie. Gerade im Phänomen des »Tanzes«
öffnete Plessner sein Philosophieren der Lebensphilosophie, für die
die tänzerische Expressivität, diese spezifische vom ganzen Körper
getragene Ausdrucksbewegung, das zentrale Referenzphänomen in
der Auseinandersetzung mit der Einseitigkeit der Schrift- und Buch-
kultur und der ihr verpflichteten Philosophie bildete.
Ein Jahr später verfolgte Plessner seinen Grenzverhältnis-An-
satz systematisch im sozialethischen Bereich, als er in ›Grenzen der
Gemeinschaft‹ (1924) 30 zwischen der Sachgemeinschaft und der Lie-
besgemeinschaft – den zwei extremen Möglichkeiten des Sozialver-
hältnisses als »Gemeinschaft« auf Basis entweder rein vernünftiger

29 Zur »Parallelaktion« der Kulturphilosophien Cassirers und Plessners: H. Delitz,


Spannweiten des Symbolischen. Helmuth Plessners ›Ästhesiologie des Geistes‹ und
Ernst Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹, in: Deutsche Zeitschrift für
Philosophie, Jg. 53 (2005), S. 917–936.
30 H. Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus

(1924), GS V, S. 7–133.

34 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Genese (1919–1927)

Kooperation oder rein seelisch-leiblicher Vertrautheit – die »Öffent-


lichkeit« oder »Gesellschaft« als Vermittlung entspringen lässt, in
der sich die unruhigen »Seelen« menschlicher Lebewesen ob ihres
»Ungrund«-Charakters, ihrer zweifachen Kontingenz, als »Masken«
öffnend-verhüllend begegnen können. In der sozialethischen Deduk-
tion einer »Logik der Diplomatie« und der »Hygiene des Takts«, in
der kategorialen Auszeichnung der »›Öffentlichkeit‹ als Realisie-
rungsmodus des Menschen« steckt thematisch die große Stadt als
menschlicher Lebensform, eine Urbanitätstheorie: »In sich weit-
maschig genug, um das Flukturieren des Lebens in allen Schattierun-
gen zu beherbergen und zugleich durch sich hindurch gehen zu las-
sen, ist Öffentlichkeit das offene System des Verkehrs zwischen
unverbundenen Menschen«. Die ›Grenzen der Gemeinschaft‹ vom
Erfordernis der Zivilisation, der Künstlichkeit her zu begründen, ver-
knüpfte bereits die »Heilkraft eines gesellschaftlichen Lebensstils,
der Distanz, Reserve, Beherrschung eines Zeremoniells ebenso for-
dert als Nachgiebigkeit, Gefühl für das Ganze, Liebe«, mit dem Phä-
nomen der »Technik« als einer genuin menschlichen Qualität. Gegen
die Vermutung, durch die »Apparate«, durch technisch ermöglichte
»Fernhörer, Fernseher« sei »der Mensch […] zu sehr von seiner we-
sentlichen Mitte aus religiöser Zentrierung abgetrieben«, erkannte
Plessner in seiner Besinnung auf »das Problem der Maschine« die
»Menschenwürdigkeit« der wörtlichen buchstäblichen »Utopie in
der Maschine« 31 : Da der Mensch strukturell im Fortschreiten seinen
Schwerpunkt nach vorne in das U-topische oder Nirgendwo wirft,
muss er darin eine schließlich »planetarische Technik« entfalten, die
»selbst vor der Ausbreitung in den Weltraum nicht Halt« macht.
Plessner suchte für seine Ästhesiologie, für seine Ausdrucks-
lehre, seine Sozialphilosophie und Technikreflexion nach einer kon-
stitutiven Aufbaulehre vom Organischen her. Hinsichtlich einer
philosophischen Biologie war ihm die Problemlage einer mechanisti-
schen oder vitalistischen Erschließung des Lebendigen direkt vor-
gegeben durch Bergsons ›Schöpferische Entwicklung‹ und durch
Driesch, dem international bedeutendsten Neovitalisten. Driesch,
der 1912, ein Jahr bevor Plessner nach Heidelberg kam, begonnen
hatte, Philosophie zu lehren, war ein bei Ernst Haeckel promovierter
Biologie, kam also ursprünglich aus der Darwin-Schule. Angeregt
durch seine eigene Arbeit als Experimentalbiologe, in der er bei ge-

31 H. Plessner, Die Utopie in der Maschine (1924), GS X, S. 31–40.

Philosophische Anthropologie A 35
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

teilten Seeigelkeimen sich regenerierende Zellen entdeckte, ging es


ihm in seiner ›Philosophie des Organischen‹ (1909) bei Anerkennung
des Kausalprinzips um die »Unreduzierbarkeit des Organischen ins
Anorganische« und damit um die »Autonomie der Lebensvorgänge«,
die ihm vor allem im spezifischen Formcharakter, im Stoffwechsel
und in der Eigenbewegung des Lebendigen unabweisbar in Erschei-
nung trat. In diesem Bemühen, die Biologie nicht als angewandte
Chemie oder Physik, sondern als unabhängige Grundwissenschaft
der Eigengesetzlichkeit des Organischen zu begründen, postulierte
er gegen die von ihm sogenannte »Maschinentheorie« einen nicht-
räumlichen teleologischen Naturfaktor (»Entelechie«). 32 Auch wenn
diese Annahme einer »Entelechie« umstritten war – auch für Pless-
ner 33 –, hielt Driesch neben Bergson mit seinen neovitalistischen
Argumenten die grundsätzliche Möglichkeit einer nichtmechanisti-
schen philosophischen Biologie sowohl für Scheler (der Drieschs Be-
rufung als Naturphilosoph nach Köln ausdrücklich befürwortet hat-
te) wie für Plessner offen. Ideengeschichtlich bedeutsam nun wird,
dass in Plessner diese von Driesch gesehene Möglichkeit einer Phi-
losophie des Organischen (der »Vitalkategorien« des Organischen)
mit Diltheys Philosophie des Erlebens (der »Lebenskategorien« des
hermeneutischen Zusammenhanges von bewussten menschlichen
Erleben, Ausdruck und Verstehen) zusammentraf, die damals im
Umkreis der Dilthey-Schule zur Diskussion gelangte. Er eignete sich
gleichsam aus den Händen von Georg Misch, einem Dilthey-Schüler,
den er durch seinen Freund Josef König persönlich kennenlernte, den
Auftrag zur Verknüpfung dieser beiden Varianten der Lebensphi-
losophie an (der Philosophie des Lebendigen und der Philosophie
des Erlebens) an. Misch interpretierte Anfang der 1920er Jahre in
wichtigen, die Herausgabe des Dilthey-Nachlasses begleitenden
Kommentaren 34 zur »Idee der Lebensphilosophie« 35 späte Schriften
32 H. Driesch, Philosophie des Organischen. Gifford-Vorlesungen gehalten an der Uni-
versität Aberdeen in den Jahren 1907–1908 (1909), 2. Aufl. Leipzig 1921.
33 H. Plessner, Vitalismus und ärztliches Denken (1922), GS IX, S. 7–28. – Ders., In

memoriam Hans Driesch, in: Tijdschrift voor Philosophie 3 (1941), S. 399–404.


34 G. Misch, Vorbericht des Herausgebers (1923), in: W. Dilthey, Die geistige Welt. Ein-

leitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der
Geisteswissenschaften, Gesammelte Schriften, Bd. 5, hrsg. v. G. Misch, 6. unveränd.
Aufl. Göttingen 1957, S. VII–CXVII.
35 G. Misch, Die Idee der Lebensphilosophie in der Theorie der Geisteswissenschaften

(1924), in: Ders., Vom Leben und Gedankenkreis Wilhelm Diltheys, Frankfurt a. M.
1947, S. 37–51.

36 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Genese (1919–1927)

Diltheys so, dass er darin ein implizites Drängen der geisteswissen-


schaftlichen Hermeneutik des Erlebens hin zur Natur, zu einem bio-
logischen Begriff des Lebens explizit machte. So gesehen gab es nicht
nur den Zusammenhang von Erleben und Ausdruck auf der »Bühne
des Lebens«, für deren geisteswissenschaftliche Erschließung die
»Rückwand der Kulissen« egal sein konnte, sondern die »Natur« in
ihrer Körperlichkeit ragte selbst in die Szene hinein, war als eine
szenenbildende Macht zu begreifen. Diesen von Dilthey bloß ange-
deuteten, von Misch bloß ausformulierten Hinweis, dass eine herme-
neutische »Philosophie des Lebens« auf eine fundierende Naturphi-
losophie angewiesen sein könnte, wurde für Plessner bedeutsam.
1923/24 ist die Rede von einem Buchplan »Pflanze, Tier, Mensch –
Elemente einer Kosmologie der lebendigen Form«. 36 Die determinie-
rende Tendenz in Plessners Denken war die Suche nach einer Fügung
seiner beiden ausgebildeten Begabungen, dem geschulten Anschau-
ungskontakt mit dem Organischen und der philosophische Reflexion.

Um den Durchbruch zur Konzeption einer Philosophischen Anthro-


pologie zu verstehen, muss man nicht nur die philosophisch selbst-
gewählten Aufträge Schelers und Plessners begreifen, die eine deter-
minierende Kraft auf ihr Denken ausübten, sondern auch die Arten
ihrer konzentriert-schweifenden Lösungssuche. Auffällig bei beiden
ist nicht nur die variantenreiche Themenvielfalt 37 , die sie in jenen
Jahren im Semesterrhythmus des normalen Seminarbetriebes durch-
ziehen, sondern bedeutender ist noch, dass sie Höfe von Fachwissen-
schaftlern um sich aufbauen, die – philosophisch interessiert – ihnen
den Kontakt zu den Materien halten. Sie organisieren – je für sich –
soziale Zonen, in denen ihnen Problemstellungen und Lösungsstücke
entgegendriften, und stiften damit zugleich auch den Erwartungs-
horizont von Spezialisten, für die ihre gesuchte Konzeption passend
sein könnte.

36 H. Plessner, Grenzen der Gemeinschaft, GS V, S. 12.


37 Plessner liest neben Erkenntnistheorie und Philosophiegeschichte über ›Philosophie
der Sprache‹ (WS 1920/21), ›Philosophie der Technik‹ (SS 1921), ›Politische Psycho-
logie‹ (SS 1921), ›Politik und Moral‹ (SS 1922), ›Theorie der menschlichen Ausdrucks-
bewegungen‹ (SS 1921), ›Die Tierseele‹ (SS 1923/24), ›Ästhetik‹ (WS 1923/24). Anga-
ben in den Vorlesungsverzeichnissen der Universität Köln SS 1920 bis WS 1933/34,
Universitätsarchiv Köln.

Philosophische Anthropologie A 37
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Schelers Begabung, kraft charismatischer Ideenfülle kreisbildend zu


wirken, kommt jetzt wie zuvor in Münchener und Göttinger Zeiten
in der Zeit des Kölner Ordinariats erneut und fruchtbar zum Tragen.
Zu dem Kreis, der sich um ihn von 1918 bis 1928 an der Kölner Uni-
versität versammelt, gehören z. B. der katholische Philosoph Peter
Wust, der 1920 mit einem Buch ›Die Auferstehung der Metaphysik‹
hervorgetreten war, der Psychologe Lindworsky, der die moderne Ge-
staltpsychologie vertrat, der für die Phänomenologie aufgeschlossene
Privatdozent der Psychiatrie Kurt Schneider, der 1921 bei Scheler
eine philosophische Dissertation zur Psychopathologie schrieb, der
Botaniker und Naturphilosoph Hans André, der ›Plessners Ästhesio-
logie des Geistes‹ als »neuen Zugang zur Philosophie der Natur« aus-
führlich besprach 38 , der phänomenologische Psychologe Willi Haas,
der Bildungs- und Wissenssoziologe Paul Honigsheim und eben auch
Plessner. Der erwähnte Peter Wust befreundete sich auch mit Pless-
ner, über dessen Werke er 1923 und 1924 zwei größere Besprechun-
gen in der Kölner Volkszeitung schrieb. 39 1926 habilitierte sich an der
staatswissenschaftlichen Fakultät mit einer Arbeit zur Konjunktur-
theorie der 25jährige Nationalökonom Alfred Müller (später: Mül-
ler-Armack), der philosophisch und kultursoziologisch aufmerksam
die Projekte Schelers und Plessners beobachtet. Unmittelbare Schüler
Schelers waren der junge P.-L. Landsberg, H. E. Hengstenberg und
der Kunstphilosoph und -historiker H. Lützeler, der schon als Gym-
nasiast das Abendkolleg Schelers besuchte und zu den regelmäßigen
Teilnehmern an dessen philosophischen Colloquien in dessen Woh-
nung gehörte. Lützeler hält die Atmosphäre dieser Kölner Jahre um
Scheler fest: »Die Luft war gleichsam geladen mit Philosophie. Man
philosophierte überall – in der Straßenbahn, in einem billigen Eßlo-
kal, mitten im turbulenten Karneval nach Mitternacht in einer stillen
Stunde. Scheler streunte in einem alten Lodenmantel mit einem ver-
schossenen grünen Hut durch die Straßen; er brauchte dieses Vibrie-
ren der Großstadt, und ›es‹ philosophierte weiter in ihm.« 40 1925
trifft der Anglist Herbert Schöffler in Köln ein, eine anregende, mit

38 H. André, Pleßners Ästhesiologie des Geistes. Ein neuer Zugang zur Philosophie der
Natur, in: Hochland 22 (1925), S. 605–609.
39 P. Wust, Helmuth Plessners ›Ästhesiologie des Geistes‹, in: Kölnische Volkszeitung,

Nr. 427, 14. 6. 1923. – Ders., Helmuth Plessners ›Grenzen der Gemeinschaft‹, in: Köl-
nische Volkszeitung, Nr. 901, 20. 11. 1924.
40 H. Lützeler, Ein Genie: Max Scheler (1874–1928), in: Ders., Persönlichkeiten, Frei-

burg i. Br. 1978, S. 83–128.

38 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Genese (1919–1927)

seinen an Weber und Troeltsch orientierten kultursoziologischen


Studien zum Protestantismus fächerübergreifende Figur, der sich
rasch mit Plessner befreundet. Ab 1925 bildet dann der von Scheler
als Nachfolger von Driesch nach Köln gezogene Philosoph Nicolai
Hartmann einen eigenen Schwerpunkt aus, »Meister der entwickeln-
den Problemanalyse in unvergeßlich abgerundeten Vorlesungen.« 41
Als Vorsitzender der Kölner Kantgesellschaft holt Scheler zu Vorträ-
gen v. a. den niederländischen Physiologen und Tierforscher F. J. J.
Buytendijk, aber auch den Mediziner Viktor von Weizsäcker aus
Heidelberg, schließlich zwei Mal Martin Heidegger.
Das alles ist verflochten mit dem Kölner Kulturleben (mit dem
Dirigenten Otto Klemperer, Otto Dix malte 1926 Schelers Portrait)
und verdichtet sich noch einmal im Salon der Luise Koppel, einer
reichen Kölner Jüdin, die Maler, Dichter, Philosophen und Musiker
zu ausgewählten Gesprächskreisen z. B. über die moderne Ästhetik
einlädt. 42 Es ist ein Ort der Begegnungen. 43 Scheler »sprach auf dem
Kongreß gleich hinreißend wie in abendlicher Gesellschaft«, erinner-
te sich später V. v. Weizsäcker. »Bereits waren seine Beziehungen zur
Kirche stark gelockert […]. Auch dies hing mit seinen ewig wech-
selnden ehelichen Verhältnissen zusammen […]. Als ich 1927 von
ihm zum Vortrag (›Über medizinische Anthropologie‹) in seine Köl-
ner Kant-Gesellschaft eingeladen und bei ihm zu Gaste war, hatte er
Maria Scheler geheiratet, aber jetzt stand sein Leben im Zeichen töd-
licher Krankheit. Wir soupierten nach dem Vortrag in der Bastei.
Außer den Damen waren Pleßner und Kurt Schneider dabei. Inner-
halb einer Stunde hatte er Sprudel, schwarzen Kaffee, Kognak, Bier,
Eier und ich weiß nicht was vereinnahmt, und sein Gespräch war
nicht tumultarisch, aber von fast physischer Hin- und Hergerissen-
heit.« 44 Aber das alles ist nicht nur anregende Geselligkeit, sondern
Scheler, der eben ein Glanz der Kölner Universität ist, versetzt diese
41 Ebd., S. 114.
42 W. Mader, Max Scheler in Selbstzeugnissen und Bildokumenten, Reinbek b. Ham-
burg 1980, S. 105.
43 Scheler lernte im Salon der Luise Koppel, den er als dessen Mittelpunkt zusammen

mit seiner zweiten Frau, Märit Furtwängler, besuchte, seine dritte Frau, die junge Maria
Scheu kennen, die seine Studentin wurde und die er 1924 heiratete. Vgl. J. R. Staude,
Max Scheler. An Intellectual Portrait, New York/London 1967, S. 139–152. – Plessner
kam in diesen Salon durch die Kunsthistorikerin W. v. Blanckenburg; vgl. H. Struyker
Boudier, Filosofische Wegwijzer, in: Ders. (Hrsg.), Filosofische Wegwijzer. Correspon-
dentie van F. J. J. Buytendijk met Helmuth Plessner, Kerckebosch 1993, S. 24.
44 V. v. Weizsäcker, Natur und Geist, Göttingen 3. Aufl. 1977, S. 22.

Philosophische Anthropologie A 39
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Kreise mit seiner steten Ankündigung eines philosophischen Durch-


bruches in Bann und zieht zugleich Stoff aus ihren Gedanken. 45 Sei-
ne Ausstrahlung reicht weit über Köln hinaus. In nächster Nähe gibt
es intensive Kontakte nach Bonn, zu dem Kunsttheoretiker W. Wor-
ringer, dem Romanisten E. R. Curtius und dem jungen Philosophen
Erich Rothacker, aber auch Kontakte nach Berlin zum Soziologen
W. Sombart und den Gestalttheoretikern W. Köhler und M. Wert-
heimer.

Plessner, »diese golden-schöne optimistische Goethenatur«, wie Pe-


ter Wust nach einer intensiven philosophischen Diskussion fest-
hält 46 , entfaltet seine kommunikative Begabung innerhalb der zeit-
genössischen Philosophie in ganz eigener Weise. Mitglied dieses
Schelerkreises in Köln, baut er sich aus ihm heraus weitgehend un-
abhängig von Scheler einen eigenen überlokalen Kreis auf in Form
einer philosophischen Zeitschrift mit dem Programm der »Zusam-
menarbeit der Philosophie mit den Einzelwissenschaften«. Der von
ihm herausgegebene »Philosophische Anzeiger«, der dieses Pro-
gramm als Untertitel trägt und der von 1925 bis 1930 47 , also in der
Formationsphase der Philosophischen Anthropologie erscheint, wird
zwar kein Organ der Philosophischen Anthropologie werden, son-
dern sogar im Zuge ihres Durchbruchs untergehen, bildet aber eine
wichtige Bedingung ihrer Entstehung. Plessner war durch Fritz Co-
hen, in dessen Bonner Verlag ›Friedrich Cohen‹ auch die Bücher von
Scheler und Plessner erschienen, 1923 mit der Herausgabe einer neu-
en philosophischen Zeitschrift – die in Bonn erscheinen sollte – be-
auftragt worden, und Plessner, der sich davon ganz pragmatisch eine
finanzielle Verstetigung seiner prekären Privatdozentur versprach,
übernahm diese Gründung mit großer Konsequenz. Entsprechend
seiner eigenen offenen philosophischen Suchbewegung prägte er
dem Projekt die offene Programmatik nach vorne auf. Es sollte keiner
bisherigen Schulrichtung dienen, kein betriebsförmiges Rezensions-
organ sein, nicht historisch ausgerichtet sein, sondern der »Philoso-
phie der Gegenwart dienen« und dabei entschieden die Linie der »Zu-

45 Zu Max Scheler in Köln vgl. H. Lützeler, Ein Genie: Max Scheler (1874–1928),
a. a. O., S. 83–128.
46 P. Wust an C. Muth vom 12. 11. 1923, zit. n. H.-U. Lessing, Hermeneutik der Sinne,

a. a. O., S. 337.
47 H. Plessner (Hrsg.), Philosophischer Anzeiger. Zeitschrift für die Zusammenarbeit

und Philosophie und Einzelwissenschaft, Jg. 1.–4., Bonn [Verlag F. Cohen] 1925–1930.

40 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Genese (1919–1927)

sammenarbeit von Philosophie und Einzelwissenschaften« ein-


schlagen, der »beständigen Auseinandersetzungen zwischen ›reiner‹
Philosophie und empirischer Forschung in Naturwissenschaft und
Geisteswissenschaft« Raum gebend. 48 Gerade in der Idee, »daß all-
zuängstliche Arbeitsbegrenzung der Philosophie gegen die ›empiri-
sche‹ Forschung vermieden« 49 werden sollte, steckte bei aller Nicht-
festgelegtheit ein Zug der Philosophie zum Objektiven, zur Welt.
Für diese »Zeitschrift für philosophische Forschung« 50 , wie
Plessner sie ursprünglich prägnant nennen wollte, baute er seit 1923
einen Mitherausgeberkreis 51 auf, den er durch briefliche Einladungen
und mit Rundreisen 1924/25 durch die deutsche Philosophie gewann.
Bedeutsam war für Plessner dabei vor allem die direkte Begegnung
mit Georg Misch und der sich formierenden Göttinger Dilthey-
Schule, zu der es durch die seit 1923 entstandene Freundschaft mit
dem Misch-Schüler Josef König eine direkte Verbindung gab. 52 Zu
diesem um das Ereignis der Veröffentlichung des Dilthey-Nachlasses
in den 20er Jahren gruppierten Ensemble einer hermeneutischen
Philosophie in Göttingen gehörten neben Misch die Dilthey-Schüler
H. Nohl und B. Groethuysen, der hermeneutische Phänomenologe
H. Lipps und die Misch-Schüler König und B. Snell.
In jeder Hinsicht ebenso bedeutsam war die Begegnung mit Ni-
colai Hartmann in Marburg 53 , der in Plessners Intentionen der ›Zu-

48 H. Plessner, Zur Einführung, in: Philosophischer Anzeiger, Jg. 1 (1925/1926), S. 1–2.


49 Plessner an Buytendijk 27. 2. 1923, in: H. Struyker Boudier (Hrsg.), Correspondentie
van F. J. J. Buytendijk met Helmuth Plessner, a. a. O., S. 65.
50 Plessner an König 24. 11. 1924, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef Kö-

nig/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 65. Eben dieser Titel »Zeit-
schrift für philosophische Forschung« auch im Brief Plessner an N. Hartmann vom
25. 11. 1924. Nachlaß Plessner. Er setzte aber diesen Titel gegenüber dem Verleger Co-
hen nicht durch. Erst eine neue philosophische Zeitschrift nach dem 2. Weltkrieg nahm
diesen Titel an. Sachlich aber deckte dieser Titel Plessners philosophisches Programm in
den 1920er Jahren.
51 H. Plessner, Herausgeber »in Verbindung mit A. Baumgarten – Basel, F. J. J. Buyten-

dijk – Groningen, E. R. Curtius – Heidelberg, A. Grünbaum – Amsterdam, N. Hart-


mann – Köln, J. Hashagen – Hamburg, M. Heidegger – Marburg, H. Heimsoeth – Kö-
nigsberg, G. Hübener – Basel, J. Kroll – Köln, G. Misch – Göttingen, G. Müller –
Freiburg (Schweiz), K. Reidemeister – Königsberg, K. Schneider – Köln, V. v. Weiz-
säcker – Heidelberg, W. Worringer – Bonn«.
52 Plessner an König 19. Juli 25, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef Kö-

nig/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., v. a. S. 86 f.


53 »Einen gewaltigen Eindruck erhielt ich von Hartmann. Die Stille dieses Menschen,

die Versunkenheit in sich, die absolute Lauterkeit zogen mich völlig in ihren Bann. […]

Philosophische Anthropologie A 41
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

sammenarbeit der Philosophie mit den Einzelwissenschaften‹ durch-


aus die Absicht seiner eigenen kritischen Ontologie erkannte und
deshalb an dem Projekt stark interessiert war. Am selben Tag wie
Hartmann lernte Plessner Martin Heidegger kennen, der sich nach
Zögern ebenfalls zur Mitherausgeberschaft entschloss. 54 Insgesamt
war Plessner von dem Zusammentreffen mit Hartmann und Heideg-
ger außerordentlich beeindruckt und spürte Wahlverwandtschaft mit
seiner eigenen Intention, statt philosophiehistorischer Arbeit »phi-
losophische Forschung« zu treiben: »Die ganze Luft dieses Abends
war angenehm geschichtslos. Hier gibt es wieder sachliche Proble-
me.« 55 Plessner gewann auch die Scheler-Vertrauten, den Romanis-
ten E. R. Curtius, den Kunsthistoriker Worringer und den Mediziner
V. v. Weizsäcker, aber Scheler selbst wurde von Plessner nicht in den
Herausgeberkreis aufgenommen. Nach intensiver Vorbereitung
konnte Plessner 1925 den ersten Teilband herausbringen.
Tatsächlich entwickelte die Zeitschrift eine Beitragsstruktur, die
den verschiedenen Spezialwissenschaften mit ihren philosophischen
Problemen ein Organ werden konnte, v. a. Sprachwissenschaft, Ma-
thematik, Geschichtswissenschaft, Psychiatrie, Naturwissenschaften,
Medizin, Biologie, ergänzt durch genuin philosophische Beiträge, die
sich wie die von Hartmann oder Scheler neuartig dem Realitätspro-
blem zuwendeten. Die Bedeutung dieser philosophischen Zeitschrift
als Umfeld der Philosophischen Anthropologie liegt nicht nur darin,
dass hier den Ansatz vorbereitende Aufsätze zu erst erschienen: Buy-
tendijk über die ›Phänomenologie des Organischen‹ 56 , Plessner und
Buytendijk über das ›Verstehen des mimischen Ausdrucks‹ 57 , Scheler

Wir verstanden uns […] ausgezeichnet. Ich hatte den ganzen Abend das Gefühl […],
einem antiken Philosophen, vielleicht einem Hegelschen Geiste, gegenüberzusitzen«,
Plessner an König 11. November 1924, ebd., S. 58.
54 »Vor dem Essen erschien Heidegger in Kniehosen und einem Art Alpenhüttenkos-

tüm. Es wurde wenig geredet, viel […] geraucht, und die Harmonie war vollkommen.
Auch von Heidegger hatte ich einen sehr angenehmen Eindruck. Ein kleiner schwarzer,
etwas impetuöser Mann, mit dem sicher nicht zu spaßen ist, von dem man aber sofort
den Eindruck gewinnt, daß er an sich die höchsten Anforderungen stellt.« Plessner an
König, ebd., S. 58.
55 Ebd., S. 59.
56 F. J. J. Buytendijk, Anschauliche Kennzeichen des Organischen, in: Philosophischer

Anzeiger, Jg. 2 (1928), S. 391–402.


57 F. J. J. Buytendijk u. H. Plessner, Die Deutung des mimischen Ausdrucks, in: Philoso-

phischer Anzeiger, Jg. 1 (1926), S. 72–126. Wiederabgedr. H. Plessner/F. J. J. Buytendijk,

42 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Genese (1919–1927)

über ›Idealismus-Realismus‹ 58 , Hartmann über ›Gesetze der katego-


rialen Abhängigkeit‹ 59 , Weizsäcker über ›medizinische Anthropo-
logie‹ 60 , K. Schneider über ›Die phänomenologische Richtung in der
Psychiatrie‹ 61 , der Husserl-Schüler Oskar Becker über eine Anthro-
pologie der Mathematik. 62 Wichtig war auch das öffentliche Auf-
treten einer Philosophie, die im Kontakt mit der natürlichen Welt-
ansicht phänomenologischer Schulung die Bezugnahme auf die
empirische Forschung verschiedener Fachdisziplinen suchte, ein phi-
losophisches Wissenschaftsethos, das der zukünftigen Philosophi-
schen Anthropologie zugrunde lag. Doch vermisste das Publikum,
und dann auch der Verlag, den Zusammenhalt der vielspältigen Bei-
träge. Umso wichtiger war diese seine Zeitschrift für Plessners Prä-
parierung. Nicht nur war ihm diese Zeitschrift überhaupt das Organ,
durch das er sich selbst in die zeitgenössische philosophisch-per-
sonelle Situation und deren neueste Tendenzen vernetzte. Auf Ver-
anlassung von Plessner schrieb z. B. der 25jährige österreichische
Physiologe und Naturphilosoph L. v. Bertalanffy 1926 für den
Philosophischen Anzeiger zum ersten Mal eine Zusammenfassung
seiner »theoretischen Biologie«; zwischen »dogmatischem Mecha-
nismus« und »metaphysischem Vitalismus« sah er den Mittelweg
eines »methodologischen Vitalismus«, der den Gedanken des »offe-
nen Systems« zur Charakterisierung des Organischen vorbereitete. 63
Auch wenn dieser Artikel nicht erschien, wuchs Plessner selbst aus
der täglichen Redaktionsarbeit an dieser Zeitschrift mit ihren aus
allen Gebieten hereinkommenden Beiträgen die Aufgabe eines phi-

Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des
anderen Ichs, GS VII, S. 67–130.
58 M. Scheler, Idealismus – Realismus, in: Philosophischer Anzeiger, Jg. 2 (1928),

S. 255–325.
59 N. Hartmann, Kategoriale Gesetze, in: Philosophischer Anzeiger, Jg. 1 (1926),

S. 201–266.
60 V. v. Weizsäcker, Über medizinische Anthropologie, in: Philosophischer Anzeiger,

Jg. 2 (1928), H. 2, S. 236–254.


61 K. Schneider, Die phänomenologische Richtung in der Psychiatrie, in: Philosophi-

scher Anzeiger, Jg. 1 (1926), S. 382–405.


62 O. Becker, Über den sogenannten ›Anthropologismus‹ in der Philosophie der Mathe-

matik, in: Philosophischer Anzeiger, Jg. 3 (1929), S. 369–387. – Ders., Die apriorische
Struktur des Anschauungsraumes, in: Philosophischer Anzeiger, Jg. 4 (1930), S. 129–
162.
63 L. v. Bertalanffy an H. Plessner, Briefe v. 16. 9. u. 6. 10. 1926, Nachlaß Plessner, Map-

pe 112.

Philosophische Anthropologie A 43
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

losophischen Modells zu, das zwischen ihnen der rote Faden sein
könnte.

Es gab also die je eigene Erwartungsspannung, in der Scheler und


Plessner standen, und die je eigenständig von ihnen organisierten
Umfelder, die sich teilweise überschnitten. Ausschlaggebend für die
Genese der Philosophischen Anthropologie in Köln war aber das
reich gespannte Verhältnis beider zueinander. Zu ihrem Verhältnis
gehört zunächst die genaue gegenseitige Kenntnis ihrer veröffent-
lichten Schriften und damit ihres Denkens. Das gilt nicht nur
selbstverständlich für Plessner, der die Schriften des bekannten
Philosophen Scheler studierte, sondern auch für Scheler, der die
Entwicklung von Plessner neben sich genau verfolgte und eine aus-
gezeichnete Kenntnis von dessen erstem Hauptwerk, der ݀sthesio-
logie des Geistes‹ besaß. 64 Scheler schätzte an Plessner nicht nur die
»naturwissenschaftliche Phase«, die »Bildung in biologischen Din-
gen« als einen fruchtbaren Grundstock von dessen philosophischen
Arbeiten. »Seine Arbeiten sind«, so bemerkte er, »(was bei den Jün-
geren heute selten ist) in Natur- und Geisteswissenschaften ziemlich
gleichgewichtig fundiert.« Überhaupt entsprach Schelers eigener Art
die außergewöhnlich »polyphone« Entwicklung Plessners. Für ihn
war Plessner eine ȟberragende intellektuelle Begabung, er besitzt
einen überaus beweglichen und schmiegsamen Verstand und ist von
seltener Eindrucksfähigkeit, Verständnis- und Einfühlungsfähigkeit
in philosophische Gedankenwelten und die Geistesart ihrer Ur-
heber.« 65
Hinter beider Neigung, sich gegenseitig im Auge zu behalten,
steckte eine durchaus gemeinsame philosophische Haltung. Da war
nicht nur als Basis der gemeinsame phänomenologische Zug – zu den
Sachen –, verbunden mit der Ablehnung von Husserls Rückkehr
zum transzendentalen Idealismus. Beide wollten als Philosophen in
der Wirklichkeit ankommen, standen im Sog der »großen Achsen-
drehung des Geistes vom Subjekt zum Objekt«, wie Peter Wust das
1920 genannt hatte. Sie waren beide im klassischen Sinn vom Idea-
lismus geprägte Philosophen, trugen also in sich das idealistische
Selbstvertrauen der Vernunft auf ihre Kraft der Selbstreflexion, und

64 Das geht aus dem Fakultätsgutachten hervor, das Scheler 1925 über Plessner verfass-
te: M. Scheler, »Gutachten Scheler«, Nachlaß Plessner, Mappe 14, S. 3–4.
65 Ebd., S. 2.

44 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Genese (1919–1927)

waren zugleich gebannt von der lebensphilosophisch rehabilitierten


Wirklichkeit mit ihrer herandrängenden, anarchischen Fülle. Des-
halb teilten beide auch das Interesse an Erfahrungsresultaten der
Wissenschaften. Noch deutlicher wird die gewisse tragende Gemein-
samkeit der Haltung im Ausschluss von möglichen Alternativen. Der
Zwiespalt zwischen dem idealistischen Selbstvertrauen der Vernunft,
dem Medium der Philosophie, und der sich natural, kulturell, sozial
oder geschichtlich aufdrängenden Wirklichkeit schlug bei beiden
nicht um in eine tragische Haltung (das notwendige Scheitern der
Idee an der Wirklichkeit) oder eine zynische Haltung (die Wirklich-
keit gegen die Idee ausspielen) oder heroische Haltung (tapfer die
Wirklichkeit aushalten) oder eine revolutionäre Haltung (die Wirk-
lichkeit in endgültigen Einklang mit der Idee bringen). Zentrales Mo-
tiv bei beiden war die Öffnung zur Welt in ihrer Fülle, um in ihr
Vernunft – und den Menschen als ihre Gestalt – zu situieren.
Beide standen, jedenfalls bis 1925, schon durch beider Neigung
zu mitteilsamem Denken, auch in regem Austausch, waren beide
große Gourmets und erzählten sich auch über ihre Liebesgeschich-
ten. 66 »Mit Scheler war ich dieses Semester ziemlich viel zusam-
men«, schreibt Plessner am Ende des WS 1924/25. 67 Schelers »un-
mittelbare Art, mit der er ohne Vorbehalt im Gespräch jedem
gegenüber über seine Gedanken und Pläne auszusprechen pflegte« 68 ,
kam gerade Plessner gegenüber zur Geltung, weil sie in ihren Such-
bewegungen ein breites Spektrum von Anknüpfungen fanden. Sie
teilten auch den zugleich neugierigen und distanzierten Bezug auf
gemeinsame Schlüsselautoren, wie Darwin oder Freud, aber v. a. le-
bensphilosophisch orientierte Autoren, moderne Forscher, v. a. J. von
Uexküll in der Biologie und Ludwig Klages in der Psychologie, die je
in ihren Schlüsseldisziplinen forschungsgestützt Denkmodelle gegen
den darwinistischen Naturalismus oder die freudianischen Reduktio-
nen boten. Uexkülls Korrelationstheorie von Organismus und Um-
welt ließ systematisch die Lebenstatbestände nicht als mechanische
›Anpassung‹ an ein- und dieselbe Umgebung, sondern als korrelative
»Einpassung« sehen, in der jeder Organismus durch seine artspezi-

66 Mündliche Auskunft Monika Plessner.


67 Plessner an Buytendijk 9. 3. 1925, in: H. Struyker Boudier (Hrsg.), Correspondentie
van F. J. J. Buytendijk met Helmuth Plessner, a. a. O., S. 78.
68 M[aria] Scheler, Bericht über die Arbeit am philosophischen Nachlaß Max Schelers,

in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Jg. 3 (1947), S. 599.

Philosophische Anthropologie A 45
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

fischen Sinnesleistungen und Reaktionsvermögen seine ihm ent-


sprechende ›Welt‹, seine Eigenwelt oder sein Milieu, kurz seine
»Umwelt«, selektiv formiert, die ihn umgibt. Uexkülls Lebensplan-
forschung war deshalb interessiert, die je spezifischen »Baupläne«
der Organismen zu rekonstruieren, durch die – über die Körpergren-
zen hinausreichend – Organismus und Umwelt verklammert sind.
Für Libellen gibt es nur Libellen-, für Zecken nur Zeckendinge. Da
die jeweiligen Umweltdinge dem Organismus doppelt gegeben sind,
als ausstrahlende Reizflächen für die rezeptiven Sinnes- oder Merk-
organe und als spezielle Angriffsflächen für die Wirkorgane, sind die
Umweltdinge (die Beute, die Geschlechtspartner, die Feinde) gleich-
sam als »Gegengefüge« in den »Bauplan« eines Tieres eingebaut, der
die Korrelation zwischen Organismus und Umwelt als »Funktions-
kreis« reguliert. 69 »Die Umwelt, wie sie sich in der Gegenwelt des
Tieres spiegelt, ist immer Teil des Tieres selbst, durch seine Organi-
sation aufgebaut und verarbeitet zu einem unauflöslichen Ganzen
mit dem Tier selbst.« 70 Da Uexkülls neue Biologie die cartesianische
Subjekt-Objekt-Spaltung auf der Ebene des Lebendigen unterlief,
enthielt sie sowohl für Scheler 71 wie für Plessner 72 systematisch zu
verwendende Einsichten bei ihrer Problemlösungssuche. Dasselbe
galt auch für den »scharfblickenden Klages« 73 und seine Korrela-
tionstheorie von Bildempfänglichkeit und Ausdruckshaftigkeit der
menschlichen Leibseele, welche innerhalb der Psychologie den Le-
benstatbestand als »psycho-physisch Indifferentes« in einem ande-
ren Licht als die Bewusstseinspsychologie erscheinen ließ.
Zugleich waren sie sich aber einig darin, dass der Biologe Uex-
küll und der Psychologe Klages bezüglich des Selbstverhältnisses des
Menschen in der Welt von ihren Einsichten und Modellen philo-
sophisch einen unzureichenden Gebrauch machten: Uexküll, indem
er die menschliche Sphäre als eine Umwelt unter anderen Tier-
umwelten einordnete, Klages, indem er die Geistigkeit des Menschen
als Störfaktor der Korrelation von Bild und Ausdruck kennzeichnete.

69 J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere (1909), 2. verm. u. verb. Aufl. Berlin
1921.
70 Ebd., S. 196.

71 M. Scheler, Schriften aus dem Nachlaß, Bd. III: Philosophische Anthropologie,

GW 12, S. 171.
72 H. Plessner/F. J. J. Buytendijk, Die Deutung des mimischen Ausdrucks, GS VII,

S. 100 f.
73 Ebd., S. 124.

46 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Genese (1919–1927)

Scheler und Plessner waren sich einig, dass eine Lösung für das
Eigenprinzip des Menschen, für seine »Sonderstellung«, dem Natura-
lismus genügen müsse, dem naturhistorischen Anspruch, wie ihn
z. B. der Anthropologe Klaatsch und der Paläoontologe Dacqué ver-
traten, auf die sie sich beide bezogen. Klaatsch hatte festgehalten:
»Alle Versuche, dem Menschen eine Sonderstellung im Sinne einer
von den übrigen Organismen unseres Planeten verschiedenen Her-
kunft oder ›Schöpfung‹ zuzuweisen, können vor dem Richterstuhl der
Wissenschaft nicht bestehen.« 74 Seine Überlegungen zum ›Werde-
gang der Menschheit und die Entstehung der Kultur‹ arbeiteten des-
halb daran, die scharfe Grenze zwischen Tier und Mensch mit vielen
morphologischen, physiologischen und ethologischen Belegen zu
unterlaufen zugunsten des Aufweises gradueller Übergänge, in de-
nen der Mensch als Produkt einer langen Evolution verständlich wur-
de. E. Dacqué hatte in Variation dazu behauptet, der Mensch könne –
noch vor Entstehung der Landtiere – naturgeschichtlich in psycho-
physisch verschiedenen »biologischen Baustilen« verschiedener Erd-
epochen existiert haben (amphibische Urmenschen, Eiszeitmen-
schen). Wichtig für Scheler und Plessner wurden Außenseiter, die in
der Auseinandersetzung mit dem naturalistischen Menschenbegriff
der Evolutionsbiologie, die den Menschen so wie das Tier als der Na-
tur angepassten Körper begriff, eine Differenz in der Natur, im Kör-
per des Menschen selber stark machten: Alfred Seidel konstatierte
einen »Triebüberschuss«, ein »hypertrophiertes Triebleben« als kon-
stitutionelles menschliches Artmerkmal; sowohl beim Sexualtrieb
wie beim Machttrieb gäbe es eine primäre Störung des vitalen
Gleichgewichts zwischen dem Organismus und den überschüssigen,
maßlosen Trieben, die den Evolutionsrahmen sprenge. 75 Einen ande-
ren Gedankengang in Auseinandersetzung mit dem naturalistischen
Konzept hatte Anfang der 20er Jahre der Mediziner Paul Alsberg als
philosophischer Außenseiter entfaltet. Gegenzügig zum Darwinis-
mus rekonstruierte er die Materialien der Naturgeschichte so, dass
im vergleichenden Unterschied zu den Tieren, die vom »Körper-
anpassungsprinzip« her zu erklären seien, die Lebensform des Men-
schen mit seinen Monopolen (Werkzeug, Sprache, Vernunft) na-

74 H. Klaatsch, Der Werdegang der Menschheit und die Entstehung der Kultur, Berlin
1920, S. 3.
75 A. Seidel, Bewußtsein als Verhängnis, aus dem Nachlass v. H. Prinzhorn, Bonn 1927,

S. 216.

Philosophische Anthropologie A 47
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

turgeschichtlich einem »Körperausschaltungsprinzip« folge. »Das


Entwicklungsprinzip des Tieres ist das Prinzip der Körperanpassung
(Körperfortbildung), das Entwicklungsprinzip des Menschen ist das
Prinzip der Körperausschaltung vermittels künstlicher Werkzeu-
ge.« 76 Jede Organspezialisierung in der Naturgeschichte vereindeu-
tige das Verhalten von Tieren und lege es auf spezifische Umwelt-
situationen fest, die Naturentwicklung beim Menschen hingegen
vervieldeutige das Verhalten und mache es körperlich in der Natur
von spezifischen Umweltsituationen unabhängig. »Der Hammer ver-
richtet ›an Stelle‹ der Faust die Arbeit, d. h. er schaltet die Faust im
eigentlichen Sinne aus. Die Hand (der Körper) ist hierbei zwar nicht
untätig, also in Bezug auf die Tätigkeit als solche nicht ausgeschaltet,
wohl aber in Bezug auf die Leistung, welche das Werkzeug allein
verrichtet.« 77 Alsbergs im biologischen Material gefundenes ›Körper-
ausschaltungsprinzip‹ präludierte der genuin philosophisch-anthro-
pologischen Figur einer Distanz zum Körper im Körper. 78 Aber alle
diese Theorien verlangten nach philosophischer Korrektur in einer
überbietenden Theorie, die zugleich der idealistischen Tradition ge-
nügte.

Noch bedeutsamer für die Genese des Denkansatzes sind nicht Dritte,
über die sie reden, sondern werden die intensiv indirekten Kom-
munikationen von Scheler und Plessner, vermittelt über gemeinsame
Dritte, die nicht selbst den Ansatz formulierten, aber durch ihre Re-
präsentanz von Forschungsideen vor Ort bei gleichzeitig intensiven
Kontakt zu beiden katalysatorisch wirken. Vor allem F. J. J. Buyten-
dijk einerseits, N. Hartmann andererseits, ein Spezialist und ein Ge-
neralist, wirken durch konkrete Präsenz in diesen Jahren als entschie-
dene Geburtshelfer des Ansatzes, weil sie – unabhängig voneinander
– den Blick beider auf das Lösungsfeld und die Lösungshaltung len-
ken.
Vor allem der niederländische Physiologe, Zoologe und Psycho-
loge F. J. J. Buytendijk zentrierte mit seinen Diskussionsbeiträgen
den Blick beider auf das Lösungsfeld: das Phänomen des Organi-

76 P. Alsberg, Das Menschheitsrätsel. Versuch einer prinzipiellen Lösung, Dresden


1922, S. 108.
77 Ebd., S. 111.

78 Scheler setzt sich ausdrücklich mit P. Alsberg auseinander: M. Scheler, Mensch und

Geschichte (1926), GW 9, S. 135; Ders. Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9,


S. 69 f.

48 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Genese (1919–1927)

schen. Buytendijk kam auf Schelers Einladung zwischen 1921 und


1925 mehrfach zu Vorträgen nach Köln, in denen er – von Scheler
inspiriert – die Ergebnisse seiner empirischen und experimentellen
Funktionsanalysen zu einer Phänomenologie des Organischen ver-
knüpfte. Diese Besuche bei Scheler und die Vorträge in Köln machten
ihn mit den Forschern im Umkreis Schelers bekannt und ermöglich-
ten ihm nähere Beziehungen zu ihnen. Scheler stellte Plessner Buy-
tendijk persönlich vor, und Buytendijk lud seinerseits Plessner, in
dem er den philosophierenden Fachkollegen der Biologie besonders
schätzen lernte, nach Amsterdam ein an sein Laboratorium zu einer
gemeinsamen Erforschung des »mimischen Ausdrucks« bei Tier und
Mensch. Buytendijks Groninger Antrittsrede zum Physiologieordi-
nariat 1925 ›Über das Verstehen der Lebenserscheinungen‹, die durch
Hans André, den Botaniker und Philosophen im Umkreis Schelers 79,
ins Deutsche übersetzt wurde, zeigte sich bereits durch die Zusam-
menarbeit mit Plessner beeindruckt. 80 Sie schrieben zusammen einen
großen intersubjektivitätstheoretischen Aufsatz über das Problem
der Gegebenheit des »anderen Ich«. In kritischer Auseinanderset-
zung mit Klages‹ Lehre von der Ausdrucksbewegung und Schelers
Theorem der »psychophysischen Indifferenz des Leibes« fanden sie
die Bedingung der Möglichkeit des Verstehens des Anderen in einer
Pragmatik des Lebens, in der »Umweltintentionalität des Leibes« 81 :
Sie operierten mit einem Herabsenken des Intentionalitätsbegriffs
vom Bewusstsein in das Verhalten (wie Heidegger zur gleichen Zeit
im Begriff der »Sorge«). Verstanden wird elementar nicht das andere
Ich, auch nicht sein physischer Körper, sondern der Richtungssinn
seines Verhaltens, Gebarens, Benehmens wie Suchen, Greifen, Flie-
hen; wie er im »Verhältnis des Leibes zur Umgebung und umgekehrt
der Umgebung zum Leib« bildhaft erscheint. Das Verhalten des Su-
chens bezieht sich auf eine absuchbare Umgebung, umgekehrt er-
79 H. André arbeitete an einer Polaritäts- und Gestalttheorie der Blütenpflanzen; er
veröffentlichte 1924 eine Studie unter dem Titel ›Der Wesensunterschied von Pflanze,
Tier und Mensch: Eine moderne Darstellung der Lebensstufen im Geiste Thomas von
Aquins (Bücher der neuen Biologie und Anthropologie, Bd. 1), Habelschwerdt 1924.
Ders., Urbild und Ursache in der Biologie, München/Berlin 1931.
80 Vgl. H. Struyker Boudier (Hrsg.), Correspondentie van F. J. J. Buytendijk met Hel-

muth Plessner, a. a. O., S. 76. Die holländische Antrittsrede wurde von H. André über-
setzt und in der Reihe »Bücher der neuen Biologie und Anthropologie« 1925 auch auf
deutsch veröffentlicht.
81 H. Plessner/F. J. J. Buytendijk, Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag

zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs (1925), GS VII, S. 67–129.

Philosophische Anthropologie A 49
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

möglicht die absuchbare Umgebung ein Gebaren des Suchens. Der


»Sinn« in dieser »Sphäre des Verhaltens« ist nun bei Tieren jeweils
fest, unmittelbar verständlich, während bei Menschen – speziell beim
»mimischen Ausdruck« – dem jeweiligen Ausdrucksbild eines dahin-
ter »in die Unendlichkeit einer ›Welt‹« aufgebrochenen »Ich« »meh-
rere Sinne konform sind«, deren Deutung nur mittels der begleiten-
den Sprache oder durch die konkrete Situation erfolgen kann.
Mit Buytendijk, der selbst auch Primatenforschung betrieb,
konnten Scheler wie Plessner auch die durch die tierpsychologische
Forschung auf breiter Front durchlöcherte »ältere Trennung zwi-
schen Mensch und Tier (z. B. Tier hat Instinkt, Mensch Intelligenz;
Tier hat keine Begriffe, keine Beziehungserfassung, keinen Altruis-
mus usw.)« 82 diskutieren, v. a. die Aufsehen erregenden Teneriffa-
experimente des deutschen Psychologen Wolfgang Köhler zum
intelligenten Werkzeugverhalten der Schimpansen, zu ihrem »ver-
ständigen Erfahrungsvermögen«. 83 Mit Blick auf diese von Buyten-
dijk konkret präsentierten Forschungen begriffen Scheler wie Pless-
ner als eine ihrer philosophischen Hauptaufgaben, den wesentlichen
und prinzipiellen Unterschied des geistigen Bewusstseins des Men-
schen zu dieser evolutionsbiologisch lancierten unheimlichen Nähe
der tierischen Intelligenz zu begründen, und zwar so, dass die Be-
gründung mit der empirischen Forschung zusammenstimmte: den
Menschen indirekt zu beschreiben, zugleich im Vergleich und im
Gegensatz zum Tier. Dass man für den Begriff des Menschen eine
eigene »Biophilosophie« braucht, die wiederum mit der empirischen
Forschung zusammenstimmte, verdeutlichte Buytendijk auch in sei-
nem Beitrag unter dem Titel ›Experimentelle Tätigkeit und Biophi-
losophie‹ zur Festschrift von H. Driesch. 84 Buytendijk machte die
Kölner Philosophen auch aufmerksam auf die Forschungsresultate

82 M. Scheler, ›Umschwung im Menschen. »Geist« des Menschen‹ (1922), in: Ders.,


Schriften aus dem Nachlaß, Bd. III: Philosophische Anthropologie, GW 12, S. 128.
83 W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Anthropoiden (1917), 2. Aufl. Berlin 1921. Der

Berliner Psychologe hatte in gründlichen Experimenten beobachtet, wie Schimpansen


Stöcke als Hebel oder Waffe einsetzen konnten; nach mehreren Versuchen steckten
einige von ihnen mehrere Rohre ineinander, um mit dem solcherart verlängerten In-
strument eine Banane durch das Gitter hereinzuholen. Oder sie stapelten, durch Erfah-
rung lernend, erst zwei, dann drei, schließlich vier Kisten aufeinander, um an das be-
gehrte Ziel zu gelangen.
84 F. J. J. Buytendijk, Experimentelle Tätigkeit und Biophilosophie, in: H. Schneider/

W. Schingnitz (Hrsg.), Festschrift Hans Driesch zum 60. Geburtstag, Bd. 1: Wissen
und Leben, Leipzig 1927, S. 79–88.

50 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Genese (1919–1927)

des holländischen Anatomen L. Bolk, der die stammesgeschichtliche


Sonderstellung des Menschen gegenüber den Tieren im Prinzip einer
»Retardation« der Ausreifung des menschlichen Lebewesens empi-
risch zu demonstrieren suchte: Die »Menschwerdung« des Menschen
schien anatomisch im Kontrast zu den Primaten durch eine Verzöge-
rung, ein Aufhalten der organisch gesteuerten körperlichen Ausrei-
fung bestimmt, durch »permanent gewordene fetale Zustände oder
Verhältnisse« im Menschen. Diese Retardation der Entwicklung –
ein Mangel – barg als »Retardationsprinzip der Menschwerdung«
originäre Lebenschancen und -risiken dieses Lebewesens. 85 Scheler
hatte bereits im Formalismusbuch hinsichtlich des Menschen eine
»mangelhafte Vital-Organisation« konstatiert und gewarnt, dessen
Fähigkeit zu künstlichen Werkzeugen evolutionstheoretisch (wie
H. Spencer) als eine »spezifische Anpassung«, als eine »Erweitung
der Organe« oder der »vitalen Macht« in der »lebendigen Evolution«
zu deuten; Werkzeug- und Verstandesausbildung seien vielmehr »die
Folge eines stagnierenden Lebens, die Folge eines vitalen Defizits.«
»Es ist also die Ohnmacht des Menschen im vitalen Sinne, seine ein-
zigartige Hilfsbedürftigkeit und der Stillstand des Differenzierungs-
prozesses der peripheren Organe, es ist vor allem die Fixierung seiner
Entwicklungsfähigkeit, […] welche zur Ausbildung seiner Befähi-
gung für die Zivilisation führte.« 86
Bezogen auf das Lebendige überhaupt, die Pflanze mit einbezie-
hend, deckte der »verstehende Physiologe« Buytendijk in einem Köl-
ner Vortrag über das ›Wesen des Organischen‹ den »demonstrativen
Seinswert« des Organischen auf: gegen die darwinistische Funktions-
betrachtung, die alles Organische nach dem Funktionswert der
Selbsterhaltung untersuchte, nach der Not des Lebens, unterschied
Buytendijk das Organ, das Funktionswert hat, vom Organismus, der
– fassbar an seiner scharfen »Begrenzung« einer »dynamischen
Oberfläche« vor ungeordneterem »Hintergrund« – auch »demons-
trativen Seinswert« besitze, damit Reichtum und Luxus, der sein We-
sen ausmache. 87 Das brachte Schelers wunderbare Erfahrung mit
einem im gleichen Zeitraum gesehenen technisch raffinierten

85 L. Bolk, Das Problem der Menschwerdung, Jena 1926, S. 11. Vgl. M. Scheler, Schrif-
ten aus dem Nachlaß, Bd. III: Philosophische Anthropologie, GW 12, S. 94.
86 M. Scheler, Der Formalismus und die materiale Wertethik, GW 2, S. 289–296.

87 Diesen Vortrag veröffentlichte Buytendijk in Plessners Philosophischem Anzeiger,

Jg. 2 (1928), S. 391–402, unter dem Titel ›Anschauliche Kennzeichen des Organischen‹.

Philosophische Anthropologie A 51
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

»Pflanzenfilm« auf den Begriff, »in dem je 24 St. Pflanzenleben auf


eine Sekunde zusammengezogen ist […]; man sieht die Pflanzen at-
men, wachsen u. sterben. Der natürl. Eindruck, die Pflanze sei unbe-
seelt, verschwindet vollständig. Man schaut die ganze Dramatik des
Lebens […].« 88 Für Plessners Lösungssuche war hier wiederum Buy-
tendijks »scharfe Begrenzung« als anschauliches Kennzeichen des
Organischen bedeutsam, der ihm einen philosophisch systemati-
schen Gebrauch seiner Kategorie »Grenze« in der Philosophie des
Organischen erlauben würde.

Ebenso bedeutend als Bedingung des werdenden Denkansatzes, wenn


nicht sogar von ausschlaggebender Bedeutung für sein späteres
Schicksal, ist die Ankunft des 43jährigen Philosophen Nicolai Hart-
mann auf dem zweiten Ordinariat in Köln 1925. Nicht nur wirkt
Hartmanns Dazwischentreten zwischen Scheler und Plessner mental
beschleunigend, sondern Hartmann wird in dem Bewusstsein, beim
Ursprung der Philosophischen Anthropologie katalysatorisch dabei-
gewesen zu sein, später äußerst folgenreich Verantwortung für sie
übernehmen, ohne je ein Autor dieser Richtung zu werden. Scheler
hatte seine Berufung nach Köln ermöglicht, und Plessner hatte ihn
erwartet. 89 Zunächst wird seine geistige Präsenz bestimmte Denk-
möglichkeiten vor Ort parat halten, an die sie sich zum Durchfinden
zu ihren Lösungen anlehnen. Hartmann stand in einem unmittel-
baren Arbeitszusammenhang mit Scheler. Er hatte dessen Idee einer
»materialen Wertethik« aufgegriffen und deren gegen die klassische
Analyse des sittlichen Bewusstseins einerseits, den ethischen Relati-
vismus andererseits geführte Wende zum objektiven Gehalt sitt-
licher Forderungen und Werte in seinem Ethik-Buch 90 , mit dem er
fertig nach Köln kam, stabilisiert.
Wirksam wurde aber für die Lösungsideen Schelers und Pless-

88 M. Scheler, Brief an Märit Furtwängler vom 3. März 1926, zit. b. W. Mader, Max
Scheler, a. a. O., S. 117.
89 Plessner setzte auf Hartmann schon Ende 1924: »In meinem Fach dauert es, wenn

man mit seinen Lehrern kein besonderes Glück gehabt hat, eben ziemlich lange, aber ich
erhoffe von der Berufung Nicolai Hartmanns nach Köln doch sehr viel für mich wis-
senschaftlich und persönlich. Ich besuchte ihn jetzt in Marburg und erhielt einen außer-
ordentlichen Eindruck von seiner schlichten, graden Persönlichkeit.« Plessner an
A. Baumgarten 22. 12. 1924, Nachlaß Plessner, Mappe 124.
90 N. Hartmann, Ethik, Berlin 1926.

52 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Genese (1919–1927)

ners seine ›Metaphysik der Erkenntnis‹ 91 , die sie natürlich kannten,


weil er mit ihr seit 1921 berühmt geworden war, deren Grundgedan-
ke ihnen aber in Diskussionen vor Ort unmittelbar präsent wurde.
Gegen den Neukantianismus der Marburger Schule, aus der Hart-
mann kam, hatte er deren Erkenntniskonstruktivismus, Erkennen
sei ein Erzeugen des Gegenstandes, preisgegeben. Hier der Phänome-
nologie folgend mit ihrer Entdeckung von Bewusstseinsintentionali-
tät und gegebenem Phänomen, behandelte er Erkennen vielmehr als
ein Erfassen von etwas, um im nächsten Schritt schon wieder aus der
Phänomenologie auszusteigen, indem er diese »intentionale« Be-
wusstseinsrelation einer philosophischen Betrachtung von der Seite
her für fähig hielt, eines flankierenden Blickes, der kritisch-realis-
tisch die Subjekt-Objekt-Relation beobachtet. Kritisch-realistisch ge-
sehen erwies sich Erkennen auch als Seinsrelation, als die Leistung
eines Bewusstseins, das in sich beschlossen ist, kraft dieser Vermittel-
theit aber auf anderes übergreift und es erfasst, ohne dass in diesem
Erfasstsein durch das erkennende Bewusstsein das erfasste Material
sich erschöpft; der erkannte Baum erschöpft sich nicht im Gegen-
standsein für das Subjekt. Die beiden Glieder der Relation – Subjekt-
Objekt – waren beide als real gesehen, mit der Konsequenz, dass das
Subjektproblem auch vom Objektpol her zugänglich wurde. Diese
Sichtweise einer von innen und außen zugleich betrachteten Er-
kenntnisrelation, in der sich die wissenschaftliche, aber auch die na-
türliche Einstellung wiederfinden konnte, wurde für Scheler und
Plessner vor allem in der philosophischen Methodik des flankieren-
den Blickes, der die Erkenntnis (die erste Beobachtung) als Seinsrela-
tion beobachtend begleitet, bedeutsam für die methodische Gestal-
tung des kontrastiven Tier/Mensch-Vergleiches. So sehr beide für
eine lebensphilosophische Partizipation an den Phänomenen offen
waren (Schelers »emotionales Apriori«, Plessners Ausdruckstheorie
der Musik), so fasziniert waren sie von Hartmanns ontologischem
Fernrohrblick, der das Ansetzen des Philosophierens beim Fernsten,
nicht beim Nächsten zu gestatten schien. 92

91 N. Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, Berlin 1921.


92 Plessner über Hartmann in Marburg: »Er wohnt in einem einsam stehenden, be-
scheidenen Häuschen an einen Abhang gelehnt, und von seinem Arbeitszimmer hat er
durch kleine Fenster einen Ausblick auf das Schloß. Das Zimmer ist fast dürftig möb-
liert, enthält nur wenige Bücher und wird fast völlig beherrscht von einem gewaltigen
weißen Fernrohr.« Plessner an König 11. 11. 1924, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher
(Hrsg.), Josef König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 58.

Philosophische Anthropologie A 53
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Aber nicht nur diese flankierende Beobachtung der Erkenntnis-


relation als einer Seinsrelation, auch Hartmanns Schichtentheorem
des Seins, das er in Köln systematisch93 in Plessners ›Philosophi-
schem Anzeiger‹ als Kernstück seiner späteren Ontologie vom »Auf-
bau der realen Welt« präsentiert, bildet einen Fond für Schelers und
Plessners Gedankenbildung. Bereits in seiner Erkenntnistheorie und
Ethik hatte Hartmann diesen Gedanken angedeutet. Wegweisend
war hier das Gesetz der »kategorialen Abhängigkeit«. Im Verhältnis
der Seinsschichten (anorganisch, organisch, seelisch, geistig) sind die
je höheren abhängig und getragen von den niederen, die die stärke-
ren, dauerhafteren, mächtigeren sind, aber die höheren überformen
die niederen zugleich durch ein kategoriales Novum, das ihnen die
Autonomie in der Abhängigkeit verleiht. Dieses Schichtengesetz war
eine bedeutsame Modifikation der philosophischen Tradition, in der
die höheren Schichten entweder zugleich als die stärkeren gegenüber
den niederen (Idealismus) oder umgekehrt die niederen als die stär-
keren und damit als die eigentlichen Schichten (Materialismus) auf-
gefasst wurden. Scheler konnte Hartmanns in Köln ausformuliertes
Schichtentheorem als einen philosophischen Systematisierungs- und
Differenzierungsversuch seiner eigenen Intuitionen verstehen, die er
schon in seiner Ethik (Stufung von vier nicht aufeinander rückführ-
baren Gefühlsebenen) und in seiner Erkenntnissoziologie vortrug,
die die Eigengesetzlichkeit der »Realfaktoren« mit der Autonomie
des Geistigen zu vereinen suchte; in gewisser Weise spiegelte Hart-
mann mit seiner Denkschärfe Scheler dessen eigene Intuition zurück
und gab Plessner zugleich ein Denkmittel an die Hand. Ebenso wich-
tig war aber Hartmanns Lehrstück, dass jede Seinsebene ihre spezi-
fischen Kategorien hat, so dass ein philosophischer Ansatz bei der
Betrachtung des Seins die Überdehnung von Kategorien – entweder
von der Materie auf die Seele, von dieser auf den Geist oder umge-
kehrt – systematisch vermeiden musste. Für Plessners Ideenbildung
außerordentlich folgenreich wird Hartmanns Hinweis, dass die Kate-
gorien jeder niederen Schicht in der höheren abgewandelt und um
ein spezifisches Novum verstärkt wiederkehren. 94

93 N. Hartmann, Kategoriale Gesetze. Ein Kapitel zur Grundlegung der allgemeinen


Kategorienlehre, in: Philosophischer Anzeiger, Jg. 1 (1926), S. 201–266.
94 H. Heimsoeth, der Philosophenfreund von Hartmann, hat später auf die ähnliche

Bestrebung in der französischen Philosophie bei E. Boutroux ›De la contingence des lois
de la nature‹ (1909) aufmerksam gemacht, gegen einen naturalistischen Monismus und
gegen den cartesianischen Dualismus mit einer Schichtentheorie der Realität zu arbei-

54 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer

https://doi.org/10.5771/9783495999899
Genese (1919–1927)

Da Hartmann schon 1912 selbst über Probleme der theoretischen


Biologie gearbeitet hatte 95, waren ihm die Suchbewegungen von
Scheler und Plessner nicht fremd. Als Ontologe aber war für ihn
Schelers und Plessners Vorstellung, im erfahrbaren Material des Sei-
enden selbst eine Konstitutionstheorie des Subjekts als Theorie des
Menschen zu erneuern, nicht sein Weg. Plessner und Scheler hatten
mit Hartmann auch je eigene Kontroversen: Plessner bestand gegen-
über Hartmann, der sich als dienender, schauender Problemdenker
verstand, auf dem Konstruktionscharakter jedes philosophischen Zu-
gangs; Scheler verteidigte gegenüber Hartmann die Möglichkeit ei-
nes philosophischen Gottesbegriffs. Das änderte aber nichts daran,
dass sich beide bei ihren Suchbewegungen durch die denkerische
Leistung Hartmanns, das Niveau seiner Bücher in die Pflicht genom-
men sahen. War für Scheler Hartmann der jüngere Philosoph, den er
in öffentlicher Auseinandersetzung als gleichrangig anerkannte, so
sah sich Plessner durch die Begegnung mit dem vergleichsweise älte-
ren Hartmann außerordentlich zum eigenen Entwurf ermutigt.
Hartmann traf im WS 1925/26 in Köln ein und übernahm das zweite
Ordinariat, als Scheler ein Freisemester hatte und Plessner – in des-
sen Auftrag – kommissarisch dessen Lehrveranstaltungen durchführ-
te – gleichsam neben Hartmann lehrte. 96

Und es gab noch eine Beschleunigungsbedingung für das Werden der


Philosophischen Anthropologie zwischen Scheler und Plessner: das
Ahnen um Martin Heidegger. Plessner, der ja auf seiner Werbereise
für die philosophische Zeitschrift in Marburg Hartmann und Hei-
degger gleichzeitig kennengelernt hatte, äußerte sich gegenüber
dem Verlag: »In Marburg ist etwas im Werden, das überhaupt größte
Aufmerksamkeit verdient.« 97 Anderen gegenüber bemerkte er:
»Auch der junge Heidegger, der vor zwei Jahren von Freiburg, wo er
Assistent Husserls war, nach Marburg […] kam, macht einen vor-
züglichen, ja bedeutenden Eindruck.« Plessner weiter im Dezember
1924, als Heidegger auf Einladung Schelers in Köln einen Vortrag
hielt, über seinen und Schelers Eindruck, wenn auch mit einer be-

ten: H. Heimsoeth, Zur Ontologie der Realitätsschichten in der französischen Philoso-


phie, in: Blätter für Deutsche Philosophie, Jg. 14 (1940), S. 251–276.
95 N. Hartmann, Die philosophischen Grundlagen der Biologie, Göttingen 1912.

96 Plessner an König, 23. XII. 25, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef Kö-

nig/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 108.


97 Plessner an F. Cohen 31. 10. 1924, Nachlaß Plessner, Mappe 112.

Philosophische Anthropologie A 55
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

zeichnenden Spitze gegen Scheler: Heidegger »hielt uns in der neu-


gegründeten Kantgesellschaft, deren Vorsitz Scheler übernommen
hat, um seine Wendung zum Protestantismus vor aller Welt zu be-
kunden und sich endlich Berlin-reif zu machen, einen Vortrag über
den Begriff des Wahrseins bei Aristoteles, der ein ganz ungewöhnli-
ches Niveau hatte.« 98 Mit seinem »interpretatorischen Vortrag über
Aristoteles«, den er als »Augendenker im Schoße seiner Hellenen,
der sich gegen das Gerede aufbäumt und Phänomenologie treibt«,
vorstellte, hinterließ er »sehr starken Eindruck«. 99 »In allem zeigen
sich sehr große Umrisse einer eigenen Philosophie des Zeitbewußt-
seins (Vorgegebenheit der Zukunft – Sorge, Besorgen).« 100 Heideg-
ger hatte zunächst Vorbehalte gegen Schelers Philosophie gehabt,
aber nun Mitte der 20er Jahre wurde für den Husserl-Schüler inner-
halb der phänomenologischen Bewegung Schelers Art der Phänome-
nologie des »materialen Apriori« wichtig, vor allem wie er in kriti-
scher Auseinandersetzung mit dem Psychologismus den psychischen
Erscheinungen einschließlich der Gefühle und Stimmungen konsti-
tutiven Status, kognitive Erschließungskraft, nachwies. Nicht nur
Schelers philosophische Auszeichnung der Emotionen (im Anschluss
an Augustin und Pascal), sondern auch dessen dezidiertes Interesse
an einer neuen Metaphysik (in Wiederaufnahme von Spinoza und
Schelling) war in dieser Formationsphase des Heideggerschen Den-

98 Plessner an A. Baumgarten 22. 12. 1924, Nachlaß Plessner, Mappe 124.


99 Über diesen Vortrag Heidegger in Köln erzählt der Scheler-Schüler H. Lützeler fol-
gende Anekdote: »In der sehr bescheidenen Wohnung Schelers auf der Marienburg
traten immer wieder Nachkriegsschäden auf. Einmal funktionierten zwei Lichtkontakte
nicht, und Maria Scheu (Schelers dritte Frau) erwartete ungeduldig den Elektriker.
Gleichzeitig wartete Scheler auf Martin Heidegger […], der an diesem Abend in der
Philosophischen Gesellschaft einen Vortrag halten sollte. Da klingelte es, ein unschein-
barer junger Mann trat ein, Maria führte ihn impulsiv, wie sie war, gleich ins Bade-
zimmer mit der Bemerkung: ›Gut, daß Sie da sind! Nun fangen Sie mal gleich an!‹ Der
Schüchterne sagte bescheiden: ›Entschuldigen Sie: Mein Name ist Heidegger, und ich
soll heute abend einen Vortrag halten.‹ […] Heidegger entwickelte dann in seiner Vor-
lesung den Begriff der ›aletheia‹ (Wahrheit), leitete ihn ab von ›lethe‹ (Verbergung) und
übersetzte ihn mit ›Unverborgenheit‹. Inmitten des Seienden im Ganzen west eine of-
fene Stelle. ›Nur diese Lichtung schenkt und verbürgt uns Menschen einen Durchgang
zum Seienden, das wir selbst nicht sind, und den Zugang zu dem Seienden, das wir selbst
sind […]‹. Der Terminus ›Lichtung‹ tat es Maria Scheu an, und sie flüsterte ihrer Nach-
barin ins Ohr: ›Also doch Elektriker.‹« H. Lützeler, Ein Genie: Max Scheler, a. a. O.,
S. 116 f.
100 Plessner an König 31. XII. 1924, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef

König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 73.

56 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Genese (1919–1927)

kens von ausschlaggebender Bedeutung. 101 Es kam zu einer persönli-


chen Bekanntschaft zwischen Scheler und Heidegger, zu intensiven
philosophischen Gesprächen. Seitdem wissen Scheler und Plessner in
Köln, dass Heidegger in Marburg auf einen ganz eigenen Durchbruch
zur Wirklichkeit zusteuert, eine ganz eigene Sprengung des Subjekt-
Objekt-Verhältnisses in der Linie »Hermeneutik, also Dilthey-Hus-
serl-Tradition«. 102 Nicht nur Scheler weiß Bescheid, vor allem Pless-
ner ist laufend ausgezeichnet unterrichtet über Heideggers Projekt
durch die erst skeptischen, dann faszinierten Berichte seines Philoso-
phenfreundes König aus Marburg 1926.

Die ganze problembiographische philosophische Suchbewegung von


Scheler und Plessner, das Organisieren von befördernden Erwar-
tungshorizonten und das Auswerten von präsent gehaltenen Ideen
vollzieht sich schließlich in einer spezifischen institutionellen Struk-
tur der Rivalität, durch die das Verhältnis von Scheler und Plessner
bestimmt ist und die in ihrem Fall noch eine spezifische Färbung
gewinnt: das Verhältnis von Ordinariat und Privatdozentur an der
deutschen Universität. 103 Plessner selbst hatte diese Struktur präg-

101 O. Pöggeler, Ausgleich und anderer Anfang. Scheler und Heidegger, in: Phänome-

nologische Forschungen Bd. 28/29 (1994), S. 166–203, S. 171 f.


102 Plessner an König, Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 74.

103 Erwähnt werden soll, dass es im Hintergrund offensichtlich auch eine persönliche

Unstimmigkeit zwischen Scheler und Plessner gab. Plessner wird 1928 in einem Brief an
König bemerken, dass das Verhältnis Schelers zu ihm mit bestimmt sei durch »eine
persönliche Animosität gegen mich, die in Frauengeschichten ihren Ursprung hat.«
Plessner an König, 22. 2. 1928, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef Kö-
nig/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 173. Die Angelegenheit ist
unklar und wird es auch bleiben, spiegelt aber eine Facette im reich gespannten Verhält-
nis zwischen beiden. Vermutlich ging es um Märit Furtwängler, Schelers zweite Frau.
J. Staude, der amerikanische Scheler-Biograph, dessen Schilderung der Kölner Jahre
Schelers auf Interviews mit Schelers zweiter und dritter Frau sowie neben vielen ande-
ren Zeugen auch mit Plessner beruht, gibt einen unbelegten Hinweis, dass Scheler bei
der dramatischen Trennung von seiner Frau Märit Furtwängler zugunsten der jungen
Maria Scheu einen Mann für seine zweite Frau suchte; dieser Mann sei aber abgesprun-
gen, als er sein Verhältnis zu Märit Furtwängler als eingefädeltes Manöver erkannte.
(J. R. Staude, Max Scheler. An Intellectual Portrait, a. a. O., S. 139–152). Der Niederlän-
der H. Struyker Boudier behauptet ohne Beleg, dass es sich dabei um Plessner gehandelt
habe; darin habe eine Irritation zwischen Scheler und Plessner gelegen (H. Struyker
Boudier, Filosofische Wegwijzer, a. a. O., S. 24). Eine andere Version bei J. H. Nota,
Max Scheler. Der Mensch und seine Philosophie (1979), Fridingen a. D. 1995, S. 153 f.
Wie dem auch sei (es kann sich um ein Gerücht handeln), Plessner spricht brieflich an
König, wenn er von Schelers zweite Frau spricht, von »Märit«, ist also vertraut mit ihr;

Philosophische Anthropologie A 57
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

nant herausgearbeitet in einem Aufsatz von 1924 über die ›Soziolo-


gie der modernen Forschung‹, der in dem von Scheler herausgegebe-
nen Band zur Wissenssoziologie erschien. 104 Neben der Kennzeich-
nung der allgemeinen Struktur der modernen Forschung – ihre
Kontinuität wahrende permanente Überbietungsstruktur – kam es
ihm vor allem auf die »forschungsdienlichen Eigenschaften der deut-
schen Universität« an. Über die eigenartige Kulturbedeutung der
Forschung für das ganze Geistesleben hinaus – »in Deutschland kann
eine wissenschaftliche Theorie […] fast religiöse Weihe erhalten« –
sah er besonders die »soziale Form des innerakademischen Wett-
bewerbs« als kennzeichnend für den deutschen Universitätstyp an.
Das auf Dauer gestellte, respektable Ordinariat, in dem Lehrver-
pflichtungen mit innersten Neigungen frei verknüpft waren, auf der
einen Seite, die unversorgte Privatdozentur mit widerrufbaren Lehr-
aufträgen als Bewährungsform des akademischen Nachwuchses auf
der anderen. Plessner betrachtete den »eminenten Wagnischarakter
der akademischen Laufbahn« im Kampf um das Ordinariat als »dem
modernen Forschungstyp förderlich«. Dabei unterschied er zwei Va-
rianten: Der um die »Anerkennung durch die Anerkannten« ringen-
de Privatdozent konnte sich einem Ordinariat innerlich anschließen
– »in Schülerstellung als Geselle eines Meisters, als Glied einer Schu-
le« – oder »eine neue Wissenschaft mit eigenem Gebiet und eigener
Methode zu begründen« suchen. Im ersten Fall diente er als »treuer
Bewahrer« der Kontinuität der Forschung, der Fortentwicklung eines
Faches, im anderen – als »kühner Neuerer« – der fortschreitenden

und sein alter Freund O. Hoever schreibt noch 20 Jahre später an Plessner über »das
›Märchen‹, die erste Frau [die 2.] von Scheler, geb. Adolf Furtwängler, geb. 1891, mit
der Du ja auch eine enge Verbindung hattest.« O. Hoever an Plessner, 8. 1. 1948, Nach-
laß Plessner, Mappe 142. – In jedem Fall gab es von Plessner her wegen der dramatischen
Frauengeschichten Schelers (die sich auch im Salon der Luise Koppel abspielten) eine
gewisse respektlose Einstellung ihm gegenüber, die sich u. a. in Briefen an Buytendijk
1924 ausdrückte: Scheler »steht dermaßen unter dem Einfluß seiner Frauen […], daß
nicht viel mit ihm anzufangen ist. Er schwankt, mit welcher Frau er nach Japan geht
[…]. Ich habe den Eindruck, daß er im Übrigen stark äußerlich geworden ist – und
unzuverlässiger denn je […]. Er bleibt eben der Fliegende Holländer auf dem Meere
des Seins.« Plessner an Buytendijk, 30. 8. 1924, in: H. Struyker Boudier (Hrsg.), Corres-
pondentie van F. J. J. Buytendijk met Helmuth Plessner, a. a. O., S. 72 f.
104 H. Plessner, Zur Soziologie der modernen Forschung und ihrer Organisation in der

deutschen Universität, in: M. Scheler (Hrsg.), Versuche zu einer Soziologie des Wissens,
München/Leipzig 1924, S. 407–425. Zit. nach dem Abdruck in: H. Plessner, GS X, S. 7–
30.

58 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Genese (1919–1927)

Überbietung der Forschung. »Wo Irrationalitäten mitentscheiden,


kann auch Irrationales und damit das Neue, noch nicht Dagewesene
schöpferisch durchbrechen.«105

Nun war das nicht nur eine universitäre Struktur, wie sie eben auch
zwischen Scheler und Plessner vorlag, sondern Scheler war sich auch
auf Grund dieses Aufsatzes von Plessner in dem von ihm heraus-
gegebenen Sammelband, der selbst ein neues Gebiet – Wissenssozio-
logie – gründete, nicht sicher, in welchem Typus der Privatdozent
Plessner ihm gegenüber figurierte: als »treuer Bewahrer« oder als
»kühner Neuerer«. Nun kommt hinzu, dass Scheler sich als Ordina-
rius 1925 – als es um die Verleihung des Professorentitels an Plessner
(Extraordinariat) ging 106 – über Plessner begutachtend äußern muss-
te, neben N. Hartmann und G. Misch. In der Beurteilung von Pless-
ners »wissenschaftlicher Persönlichkeit« hob Scheler – wie bereits
erwähnt – dessen überragende intellektuelle Begabung, den überaus
beweglichen und schmiegsamen Verstand, seine Verständnis- und
Einfühlungsfähigkeit, seine Denkschulung und Denkschärfe, seine
vielseitige Gelehrsamkeit hervor, aber er vermisste in seinen wissen-
schaftlichen Arbeiten »die Stärke des zentralen Einsatzes seines ei-
genen Selbst und seines Eigendenkens« 107 – das also, was den »küh-
nen Neuerer« der Forschung in Plessners Typologie auszeichnete. Er
ließ offen, ob Plessner eine ursprüngliche Zielrichtung noch nicht
gefunden oder sie eben von Natur aus nicht habe. Nach Plessners
Regel der deutschen Universität vorenthielt der Ordinarius Scheler
also vorläufig diesem freien Privatdozenten die letzte »Anerkennung
durch die Anerkannten«. Jetzt kommt noch hinzu, dass Plessner die-
ses – vertrauliche – Urteil von Scheler kannte. 108 Er hatte eine von
ihm geahnte, über ihn kursierende Einschätzung, auch seitens der
Schelerfreunde Curtius und Worringer – »verflucht begabter Kerl,

105 Ebd., S. 24 f.
106 Ab 1926 war Plessner a. o. Professor an der Universität Köln.
107 M. Scheler, »Gutachten Scheler«, Nachlaß Plessner, Mappe 14, S. 3.

108 Plessner war – aus finanziellen Gründen – neben seinem Lehrauftrag in der Philoso-

phie seit 1924/25 auch Sekretär der Fakultät unter dem Dekan Josef Kroll und hatte
deshalb Einblick in dienstliche Vorgänge. Plessner schickte Kopien der Gutachten sei-
nem Freund König, der Schelers Produkt »meisterhaft« fand. König an Plessner
11. 1. 1926, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/Helmuth Plessner.
Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 113 f.

Philosophische Anthropologie A 59
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

höchste Intelligenz – aber keine Spur von Genialität, […] Tiefe« 109 –
als Institutionenurteil in den Händen, das ihn herausfordern musste.
Gleichzeitig hielt er, im ausdrücklichen offiziellen Auftrag Schelers
für dessen Freisemester im WS 25/26 dessen angekündigte Vor-
lesungen und Übungen ab – schon im Vorbesitz des a. o. Professoren-
titels, den er aufgrund der Gutachten bekam. Er wusste also, dass es
innerhalb der institutionellen Struktur der deutschen Universität mit
seiner Ende 1924 begonnenen Arbeit zur »Kosmologie des Lebens«
um den »zentralen Einsatz« ging.
Blendet man von dieser brisanten innerakademischen Struktur
noch einmal zur gesamten Konstellation zwischen Scheler und Pless-
ner zurück, so lässt sich sagen: Max Scheler, der damals als produk-
tivste Potenz der deutschen Philosophie galt, spielte im Köln der 20er
Jahre das Spiel einer bedeutenden »Neuschöpfung der Philoso-
phie« 110 , einer Revolution der Denkungsart, das große Spiel der deut-
schen Philosophie um einen dem Deutschen Idealismus vergleich-
baren Entwurf, und Plessner, durch Schelers genialen Anspruch,
aber auch im Wissen um Hartmanns und Heideggers philosophi-
schen Potentiale überhaupt in Schwung versetzt, spielte dieses große
Spiel mit hohem Einsatz mit.

109Plessner an König 19. 10. 1925, ebd., S. 99.


110»Neuschöpfung der Philosophie«, die »von Neuem bis zu den letzten Elementen
vordringen, sie ergreifen und umgestalten muß«, das ist ein Ausdruck von H. Plessner,
Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 30, für sein eigenes Denkprojekt
einer »philosophischen Anthropologie«; damit ist insgesamt der Kölner Anspruch ge-
kennzeichnet.

60 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Durchbruch (1927/28)

1.2 Durchbruch (1927/28)

1927/1928 erscheinen die beiden Texte von Scheler und Plessner, in


denen ein konzeptioneller Durchbruch zu dem vorliegt, was seit-
dem als moderne Philosophische Anthropologie identifizierbar ist.
Der doppelte Durchbruch wird von einer gewissen Dramatik unter-
laufen, die folgenreich für das weitere Schicksal des Denkansatzes
wird. Der Bericht geht zunächst je auf Scheler und Plessner ein:
wann sie was als ihr Konzept einer Philosophischen Anthropologie
vortragen.
März 1925 kündigt Scheler Plessner gegenüber an, dass er sich
zum WS 25/26 beurlauben lasse, »um seine Anthropologie und den
ersten Band seiner Metaphysik zu schreiben.« 1 Um der Werkkonzen-
tration willen hatte Scheler kurz zuvor den Plan von 1924 aufgege-
ben, auf einer zweijährigen Weltreise Einladungen zu Vorträgen und
Gastprofessuren aus Amerika, Moskau und vor allem Japan zu kom-
binieren. 2 Im Sommersemester 1925 las er in Köln über Philosophi-
sche Anthropologie, Ende 1925 nahm er eine Vortragseinladung des
Lebensphilosophen H. Graf Keyserling zu einer Tagung an, die unter
dem Titel »Mensch und Erde« stehen soll. 1926 veröffentlicht er den
Aufsatz ›Mensch und Geschichte‹ 3 , der vorbereitend fünf Ideen des
Menschen von sich selbst in der Geschichte typologisch heraushebt.
Ende April 1927 spricht Scheler in der Darmstädter »Schule der
Weisheit« des Grafen Keyserling – im Milieu der Lebensphilosophie
– auf der stark besuchten Tagung ›Mensch und Erde‹ 4 etwa vier Stun-
den lang. 5 »Mein Vortrag – fast frei – machte einen sehr starken

1 Plessner an Buytendijk 9. 3. 1925, in: H. Struyker Boudier (Hrsg.), Correspondentie


van F. J. J. Buytendijk met Helmuth Plessner, a. a. O., S. 78.
2 M. S. Frings, Nachwort des Herausgebers, in: M. Scheler, Späte Schriften, GW 9,

Bern/München 1976, S. 344 f.


3 M. Scheler, Mensch und Geschichte (1926), GW 9, S. 120–144.

4 O. Frh. v. Taube, Mensch und Erde. Bericht über die Tagung der Schule der Weisheit

zu Darmstadt vom 24.–30. April 1927, in: Der Weg zur Vollendung. Mitteilungen der
Gesellschaft für freie Philosophie. Schule der Weisheit Darmstadt, hrsg. v. Graf H. Key-
serling, H. 14, Darmstadt 1927, S. 18–62. Unter den Rednern waren auch C. G. Jung,
der Ethnologe Leo Frobenius, der Sinologe Richard Wilhelm, der Psychologe Hans
Prinzhorn und Keyserling selbst.
5 Im Scheler-Nachlaß gibt es ein 99-seitiges, von Scheler verfaßtes Manuskript unter

dem Titel »Monopole des Menschen im Ganzen der Lebewelt« (B I, 17), das zumindest
eine durchgearbeitete Vorlage für den Darmstädter Vortrag gewesen sein kann. Es ist
über weite Strecken in Gliederung und Wortlaut mit der später veröffentlichten Fassung

Philosophische Anthropologie A 61
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Eindruck und ich gab auch meine Seele hinein.« 6 Diesen Vortrag un-
ter dem Titel ›Die Sonderstellung des Menschen‹ lässt er abgewan-
delt schon 1927 in dem Tagungsband 7 und diese Fassung dann sepa-
rat im April 1928 unter dem neuen Titel ›Die Stellung des Menschen
im Kosmos‹ in einer Sonderveröffentlichung 8 erscheinen. Er bittet
den Grafen Keyserling, in der Vorbemerkung zum Tagungsband zu
erwähnen, dass sein – Schelers – »gedruckter Tagungsvortrag […] die
Quintessenz seines Hauptwerkes ›Das Wesen des Menschen, neuer
Versuch einer philosophischen Anthropologie‹ […] enthält«, »wel-
ches 1928 erscheinen soll.« 9 Und im Vorwort zum Separatdruck
vom Frühjahr 1928 verweist Scheler selbst darauf, der knapp 100sei-
tige Text enthalte sehr gedrängt einige Hauptpunkte seiner »›Phi-
losophischen Anthropologie‹, die ich seit Jahren unter der Feder habe
und die zu Anfang des Jahres 1929 erscheinen wird.« 10

Scheler eröffnet seine Darlegungen im Text von 1927 zur ›Sonder-


stellung des Menschen‹ (bzw. zur ›Stellung des Menschen im Kos-
mos‹ (1928)) mit einer die Ideen über den Menschen betreffenden
Turbulenz im Kopf des »gebildeten Europäers« (StK 11). 11 Drei tra-
dierte Ideenkreise kreisten unvereint nebeneinander: jüdisch-christ-
lich der Mensch als Geschöpf Gottes, griechisch-antik das Selbst-
bewusstsein einer Sonderstellung kraft Logosbesitzes, modern die
naturwissenschaftlich-psychologische Vorstellung, der Mensch sei
Evolutionsprodukt der untermenschlichen Natur. Seinen »neuen
Versuch einer Philosophischen Anthropologie« versteht er als Probe
darauf, ob doch eine »Einheit« des Begriffes des Menschen möglich
sei. Sie muss der »tückischen Zweideutigkeit« (StK 11) im Begriff des
›Menschen‹ gerecht werden, dass Menschen darin die Erfahrung un-

deckungsgleich, hat aber in Formulierungen und Durchstreichungen den Gestus einer


ersten Niederschrift.
6 M. Scheler an Märit Furtwängler 2. Mai 1927, zit. n. W. Mader, Max Scheler, a. a. O.,

S. 115. – S. Kracauer berichtete von der Tagung und Schelers Vortrag in der Frankfurter
Zeitung vom 7. 5. 1927, Nr. 335.
7 M. Scheler, Die Sonderstellung des Menschen, in: Mensch und Erde, hrsg. v. Graf

H. Keyserling (Der Leuchter, Bd. VIII), Darmstadt 1927, S. 161–254.


8 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), GW 9, S. 7–71..

9 H. Graf Keyserling, Vorbemerkung des Herausgebers, in: Mensch und Erde, hrsg. v.

Graf H. Keyserling (Der Leuchter, Bd. VIII), Darmstadt 1927, S. 1.


10 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 9.

11 Die nachfolgende Inhaltsangabe zitiert den Text M. Scheler, Die Stellung des Men-

schen im Kosmos, (1928), GW 9, S. 7-71, fortlaufend mit Kürzel StK und Seitenangabe.

62 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Durchbruch (1927/28)

terbringen, eine »kleine Ecke des Tierreiches« innerhalb der Erd-


geschichte einzunehmen, und zugleich – kulturenweit – in diesem
Wort den Eindruck ausdrücken, dem Tierreich »aufs schärfste ent-
gegengesetzt« (StK 12) zu sein.
Schelers erster Schritt zu einem philosophisch-anthropologi-
schen Begriff des Menschen ist die Darbietung einer weltimmanen-
ten »Stufenfolge« des Lebendigen, von einem »Aufbau der biopsy-
chischen Welt« (StK 12). Bei dieser Schichtung ist Scheler skrupulös
darin, der jeweiligen Lebensstufe nichts vorzuenthalten, aber auch
nicht zuviel zuzuschreiben. Schon die Pflanze hat ein »Fürsich- und
Innesein«, aber in einem spezifischen Sinn: als Körper »drängt« sie
»ekstatisch« nach außen über ihre Grenze hinaus, zum Licht hin,
milieubildend, ausgreifend wachsend, fortpflanzend. Insofern ist sie
ein Novum im Vergleich zu den Kraftzentren »anorganischer Kör-
per«, sie erscheint »beseelt«, ist aber dabei rein »ekstatisch«, d. h.
wachsend und in der Reproduktion ›sich‹ über sich hinaus fortset-
zend, bar jeder rückmeldenden Empfindung, jeder Vorstellung, jeden
Bewusstseins. Dieser in der Pflanze verkörperte Es-Charakter, den
Scheler »Gefühlsdrang« nennt, trägt als Prinzip alle Stufen des Le-
bendigen: etwas ist »lebendig«, weil »es« durch einen »Drang« über
es hinaus gedrängt wird und dabei in seinem »Medium« in Fühlung
mit Anderem gerät, in ein »Hinzu« und ein »Vonweg«. Der »Ge-
fühlsdrang« strukturiert das für lebendige Körper typische Antreffen
von möglichen »Widerständen und Wirklichkeiten« vor (StK 13).
Bereits die Pflanze ist so im Kosmos gestellt, dass durch dieses leben-
dige Etwas – eingefügt im Kosmos – erstmals etwas im Kosmos am
Kosmos selbst erschlossen wird – etwas von dessen Sachqualitäten,
Wertqualitäten. Umgekehrt erscheint das »Urphänomen des Lebens«
als Phänomen im Kosmos, in dessen Lichtfeld, mit einem gegenüber
den anorganischen Körpern neuartigen Erscheinungscharakter. Es
»findet sich bereits im pflanzlichen Dasein das »Urphänomen des
Ausdrucks«, eine gewisse Physiognomik ihrer Innenzustände, der
Zuständlichkeiten des Gefühlsdranges als des Inneseins ihres Lebens,
wie matt, kraftvoll, üppig, arm.« (StK 15) Mit dem »Leben« tauchen
Ausdrucksqualitäten im Kosmos auf – »der Ausdruck ist eben ein
Urphänomen des Lebens.« (StK 15) Im Tier wird dieser »Drang« als
Empfindung reflektiert i. S. spezifischer »Rückmeldung« eines au-
genblicklichen Organ- und Bewegungszustandes des in seine Um-
welt drängenden Lebewesens an ein Zentrum seines Inneseins, was
Voraussetzung für die Beweglichkeit des Organismus ist. Mit dem

Philosophische Anthropologie A 63
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Tier verwandelt sich das »Medium«, in das das Leben sich hinein-
erstreckt, in eine arttypisch gegliederte »Umgebung«, auf die der
empfindend-bewegliche Organismus strikt bezogen ist. Das »Urphä-
nomen des Ausdrucks« wiederum, das allem Leben eignet, verwan-
delt sich auf dieser biopsychischen Stufe in »Kundgabefunktionen,
[…] die allen Verkehr der Tiere miteinander bestimmen«. (StK 15)
Der »Instinkt« als das nach dem Gefühlsdrang zweite Lebensprinzip
ist die feste Passung zwischen einer spezifischen Triebausstattung,
den triebbezogenen Widerständen einer in Reizen bemerkbaren
»Umwelt« und dem auf sie gerichteten artspezifischen »Verhalten«.
(StK 18) Angeboren und erblich, leitet der Instinkt in Rhythmen, die
nicht der Erfahrung entspringen, die Lebewesen. Mit dem dritten
Lebensprinzip, dem auf einer Lockerung des Instinkts beruhenden
»assoziativen Gedächtnis«, kommt es zu Probierbewegungen, deren
Erfolg – reproduziert – zu Verhaltensgewohnheiten, zu Traditionen
führt. Die »praktische Intelligenz« ist eine vierte, nochmalige Stu-
fung des Lebensprinzips, weil hier – ohne Lernversuche, bei triebge-
ladener Gespanntheit – Phänomene der Umwelt (Kisten, Seile, Stö-
cke) in echter »Umstrukturierung« von Wahrnehmungsfeldern
einen »dynamischen Bezugscharakter ›Ding zum Fruchtholen‹« er-
langen können und diese situative Einsicht das Verhalten steuert.
Scheler interpretiert hier die Experimente von W. Köhler mit Men-
schenaffen, denen nicht nur feldbezogene Aufgabenlösungen gelin-
gen, sondern deren plötzliches verhaltensmäßiges Gelingen auch an
ihrer Körperfläche im Kosmos erscheint – »im Aufleuchten des Au-
ges des Tieres, was Wolfgang Köhler sehr plastisch als Ausdruck
eines ›Aha‹-Erlebnisses deutet.« (StK 28).
Alle diese psychophysischen Funktionen, alle Stufen des Urphä-
nomens des Lebens vom »Gefühlsdrang« an treten auch im mensch-
lichen Lebewesen auf. Was es aber zum Menschen macht, ist ein allen
diesen Lebensfunktionen entgegengesetztes Prinzip: der »Geist«
(StK 46). Schelers zweiter Schritt zum Begriff des Menschen sucht
der Erfahrung der Ausnahme im Verhältnis zu aller Natur gerecht zu
werden. Scheler bevorzugt dabei gegenüber dem Begriff »Vernunft«
(der die Selbsterfahrung des Ideenhabens, der Rationalität kenn-
zeichnet) den umfassenderen Begriff »Geist«, weil dieser auch die
»volitiven und emotionalen Akte« der menschlichen Selbsterfahrung
umfasst wie »Güte, Liebe, Reue, Ehrfurcht, geistige Verwunderung,
Seligkeit und Verzweiflung, die freie Entscheidung« (StK 32). Um in
diesen zwei methodischen Schritten – dem biopsychischen Aufbau

64 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Durchbruch (1927/28)

entlang wissenschaftlich-objektivierender Erkenntnisse und der


Selbsteinschätzung des Menschen als dem Tierreich »entgegenge-
setzt« – die Einheit des Begriffes vom Menschen zu wahren, versucht
Scheler zunächst das entgegengesetzte Prinzip »Geist« vor der Folie
des biopsychischen Aufbaues zu entfalten. »Person« nennt er dieses
Prinzip des »Geistes« innerhalb endlicher Seinssphären, also inner-
halb der biopsychischen Funktionen in der raumzeitlichen Welt (StK
32). Zu einem Lebewesen, das »Geist« hat, gehört die Fernstellung
vom Banne der affekt- und triebumgrenzten Umwelt, vom Druck der
Abhängigkeit vom Organischen, von allem, was zum Leben gehört,
auch von der eigenen Intelligenz. Der Mensch ist das Lebewesen, das
sich konstitutionell über das Leben »emporzuschwingen und von
einem Zentrum gleichsam jenseits der raumzeitlichen Welt aus alles,
darunter auch sich selbst, zum Gegenstande seiner Erkenntnis zu
machen« (StK 38) vermag. Der Geist als Aktzentrum ist der in der
Welt der Welt entzogene Punkt, ist »gegenstandsunfähig« – zum
Geist oder »zum Sein unserer Person können wir uns nur sammeln,
zu ihm hin uns konzentrieren – nicht aber es objektivieren«. (StK 39)
Dieses durch Geist bestimmte Wesen kennzeichnet Scheler als »As-
keten des Lebens«, »Neinsagenkönner« (StK 44). Einem solchen We-
sen verwandelt sich die getastete und gesehene Umwelt in »Welt«, in
einen »Weltraum«, der unabhängig von den eigenen Bewegungen als
stabiler Hintergrund der einzelnen Dinge und ihrer Wahrnehmung
verharrt. (StK 36 f.) Diese Verwandlung strukturiert sich aber nur
vor dem bleibenden Untergrund des biopsychischen »Gefühls-
drangs«: »Der Gefühlsdrang ist auch im Menschen das Subjekt jenes
primären Widerstandserlebnisses, das die Wurzel alles ›Habens‹ von
›Realität‹, von ›Wirklichkeit‹ ist.« (StK 17). Die dem »Neinsagenkön-
ner« in seiner biopsychischen Konstitution bleibend gegebenen da-
seienden Widerstands- und Reaktionszentren seiner Umwelt ver-
wandeln sich in »Gegenständliches«, dessen »Sosein« es erfasst. Ein
derart geistdurchsetztes Lebewesen verwandelt sich zudem in ein sol-
ches, »dessen Triebunbefriedigung stets überschüssig ist über seine
Befriedigung« (StK 37), in die »Leere unseres Herzens« (StK 37), in
ein Lebewesen, das von einer hedonistischen Sucht bis zur metaphy-
sischen Sehnsucht gepackt werden kann, über sich hinauszuverlan-
gen und hinauszugelangen. Ein solches Lebewesen kann sein Verhal-
ten vom Sosein der Gegenstände bestimmen lassen, ist insofern
»weltoffen« und kann sich von ihr, der Welt, von den in ihr entdeck-
ten Sach- und Wertqualitäten bestimmen lassen und sein Leben von

Philosophische Anthropologie A 65
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

ihnen her führen. Einem solchen Lebewesen verwandelt sich schließ-


lich das »Urphänomen des Ausdrucks«, das ihm vom biopychischen
Aufbau her mitgegeben ist, in die Möglichkeit der »Darstellungs-
und Nennfunktion der Zeichen«, der Sprache (StK 15). »Der Mensch
ist das X, das sich in unbegrenztem Maße ›weltoffen‹ verhalten
kann« (SK 33). Die »Person« des menschlichen Lebewesens ist dem
Gegensatz von Organismus und Umwelt überlegen.
Die Einheit in seinem philosophisch-anthropologischen Begriff
des Menschen vertieft Scheler nun dadurch, dass er das Prinzip Geist
nicht nur der Natur entgegengesetzt, sondern von sich aus als macht-
los denkt. Schichtentheoretisch korrigiert er damit die idealistische
Tradition, die dem »Geist« nicht nur Sachlichkeit und Selbstbewusst-
sein, sondern auch Macht zugeschrieben und damit – nach Scheler –
diese Sphäre kategorial überbestimmt hat. Der Mensch ist bei Sche-
ler bestimmt durch ein der Natur entgegengesetztes Prinzip, das ihn
von seiner Natur absetzt, das ihn aber nur kraft dieser Natur aus ihr
heraushebt, weil die Kraft, die Entgegen-Setzung zu setzen, nur
durch Anverwandlung der Kraft der Natur geleistet werden kann.
Wegen des Geistprinzips kann der Mensch die Dinge »ideieren«, d. h.
nicht nur unter diesem oder jenem lebensdienlichem Aspekt, son-
dern nach ihrem Wesen erfassen, aber erfassen, begreifen kann er
sie ideierend nur kraft des Widerstandserlebnisses, das im Lebens-
prinzip des Dranges ruht. Wird der »Drang« durch die Bilder (der
»Phantasie«) aufgelockert, so ist der Vollzug des »Geistes« nur mög-
lich kraft »Sublimierung«, in der er sich die Kraft des »Lebens« an-
verwandelt. Diese philosophisch-anthropologische Verschränkung
von »Geist« und »Leben« kommt zu der Theorie einer »durch die
Vorstellungsregulation vermittelten, vom Geist ausgehenden Trieb-
regulation«, der »Lenkung« und »Leitung«, der Hemmung und Ent-
hemmung durch den Geist. »Diesen Grundvorgang nennen wir ›Len-
kung‹, die in einem ›Hemmen‹ (non fiat) und ›Enthemmen‹ (non non
fiat) von Triebimpulsen durch den geistigen Willen besteht; und ›Lei-
tung‹ die Vorhaltung – gleichsam – der Idee und des Wertes selbst,
die dann je erst durch die Triebbewegungen sich verwirklichen.« (StK
49) Diese Theorie bestreitet ebenso die »klassische Theorie« der »ur-
sprünglichen Selbstmacht« des Geistes (Platon, Fichte, Hegel) wie die
sogenannte »›negative Theorie‹ des Geistes« (Freud), wenn diese ihn
als Resultat der Triebsublimierungen erklärt, also letztlich auf Natur
zurückführt. Die Theorie gibt der klassischen Philosophie ihr partiel-
les Recht, insofern sie an der Autonomie des Geistes festhält, und sie

66 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Durchbruch (1927/28)

gibt der Triebpsychologie z. B. Freuds Recht, insofern sie Kraftver-


wiesenheit des Geistes auf den Drang konstatiert; zugleich ist sie eine
Kritik der Lebensphilosophie von L. Klages, für die der »Geist« aus
eigener Macht die Einheit von Leben und Seele zerstört.
Der Mensch ist nach Scheler das Lebewesen, das »kraft seines
Geistes sich zu seinem Leben, das es heftig durchschauert, prinzipiell
asketisch – die eigenen Triebimpulse unterdrückend und verdrän-
gend, d. h. ihnen Nahrung durch Wahrnehmungsbilder und Vorstel-
lungen versagend – verhalten kann. Mit dem Tiere verglichen, das
immer ›Ja‹ zum Wirklichsein sagt – auch da noch, wo es verabscheut
und flieht –, ist der Mensch der ›Neinsagenkönner‹, der ›Asket des
Lebens‹, der ewige Protestant gegen alle bloße Wirklichkeit.« (StK
44) Von dieser »Grundstruktur des Menschseins« (StK 67) her ver-
spricht Scheler als »Aufgabe der Philosophischen Anthropologie, alle
spezifischen Monopole, Leistungen und Werke des Menschen« –
»Sprache, Gewissen, Werkzeug, Waffe, Ideen von Recht und Un-
recht, Staat, Führung, die darstellenden Funktionen der Künste, My-
thos, Religion, Wissenschaft, Geschichtlichkeit und Gesellschaftlich-
keit« (StK 67) – in ihrer Gleichursprünglichkeit darzulegen.
Sein Text allerdings bringt die Konsequenz der Grundstruktur
nur für den spezifischen menschlichen Ursprung der Metaphysik
und der Religion zur Sprache. In einem dritten Schritt will er in sei-
nem Begriff des Menschen der dritten tradierten Idee des Menschen,
der religiösen Idee seiner Gottesvermitteltheit gerecht werden. Hat
sich der Mensch – so Scheler – in der Natur »aus der Natur heraus-
gestellt und sie zu seinem Gegenstande gemacht, so muss er sich
gleichsam erschauernd umwenden und fragen: ›Wo stehe ich denn
selbst? Was ist denn mein Standort?« (StK 68) Da er als Lebewesen
nicht nur Teil der Welt sei, sondern zugleich außerhalb ihrer stehe,
schaue er gleichsam ins »Nichts«, entdecke die »Weltkontingenz«
samt der Frage: »Warum ist überhaupt Welt, warum und wieso bin
ich überhaupt?« Die »Stellung des Menschen im Kosmos« erzwinge
also ebenso wie Weltbewusstsein und Selbstbewusstsein die »for-
malste Idee eines überweltlichen unendlichen und absoluten Seins«,
in dem »der Mensch auch sein Zentrum irgendwie außerhalb und
jenseits der Welt verankern« kann. Zu dem Phänomen »seines nun
weltexzentrisch gewordenen Seinskernes« verhält sich das mensch-
liche Lebewesen in zweifacher Hinsicht: Die »Verwunderung« über
die »Weltkontingenz« führe den Menschen zur »Metaphysik«, hin-
gegen der »Drang nach Bergung […] auf Grund und mit Hilfe des

Philosophische Anthropologie A 67
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

ungeheueren Phantasieüberschusses« zur »Religion«. »Welt-, Selbst-


und Gottesbewußtsein bilden eine unzerreißbare Einheit« (StK 68).
Die weltimmanente Rekonstruktion der »Stellung des Menschen im
Kosmos« als einer offenen Immanenz weist also die Möglichkeit und
Unhintergehbarkeit (der Fragen) von Metaphysik und Religion als
menschlichen Monopolen auf, Philosophische Anthropologie geht
in Schelers Darlegung insofern jeder bestimmten Metaphysik des
Menschen und jeder spezifischen Theologie des Menschen voraus.
»Was ist der Mensch, und was ist seine Stellung im Sein?« (StK 9)
Die Konstitution des Menschen bildet die Konstitutionsbasis jeder
Metaphysik. Erst unter dieser philosophisch-anthropologischen Re-
flexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Metaphysik und
Religion kann der Mensch – mit Scheler – seine »Stellung im Kos-
mos« als vom »Weltgrund« selbst vermittelt her vorstellen: »Für uns
[sagt Scheler] liegt das Grundverhältnis des Menschen zum Welt-
grund darin, daß dieser Grund […] sich im Menschen selbst unmit-
telbar erfasst und verwirklicht.« (StK 70). Ekstatisch (als Lebewesen)
in die Welt geöffnet, ist das menschliche Lebewesen ein lebendiger
Resonanzkörper des Seins, der Welt als Kosmos, in intentionaler
Fühlung mit einem überschießenden »Weltgrund«. In der Vorstel-
lung eines nicht gegenstandsfähigen »Weltgrundes« (StK 70), der
mit seinen zwei Attributen (Drang und Geist) im Menschen mit sich
ringt, vermag der Mensch »seine Stellung im Kosmos«, die »Leere
seines Herzens« als Vollzugsort menschlicher Miterzeugung des aus
dem Weltgrund, aus dem Abgrund »werdenden ›Gottes‹« (StK 71)
vorzustellen. Das ist, über den philosophisch-anthropologischen Be-
weis hinaus, Schelers metaphysischer Beweis für die Einheit des
Menschen.

Soweit Schelers gedrängte Exposition seiner Philosophischen An-


thropologie, wie er sie im gedruckten Text darbietet. Der Gastgeber
und Herausgeber Keyserling hat in seiner Einleitung zum Tagungs-
band 1927 vermerkt, dass Schelers »gedruckter Tagungsvortrag« mit
»dem seinerzeit gehaltenen nicht durchaus identisch« sei. 12 Anderer-
seits referiert ein Tagungsbericht von 1927 13 Schelers gesprochenes

12 H. Graf Keyserling, Vorbemerkung des Herausgebers, in: Der Leuchter VIII (Mensch
und Erde), Darmstadt 1927 S. 1.
13 O. Frh. v. Taube, Mensch und Erde. Bericht über die Tagung der Schule der Weisheit

zu Darmstadt vom 24.–30. April 1927, a. a. O., S. 28–31.

68 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Durchbruch (1927/28)

Wort durchaus entlang der Logik der Argumentation, wie sie in den
gedruckten Texten und auch in einem Nachlassmanuskript zu finden
ist. Vermutlich hält man also mit dem 99-seitigen, von Scheler hand-
schriftlich verfassten nachgelassenen Manuskript unter dem Titel
›Monopole des Menschen im Ganzen der Lebewelt‹ 14 die Matrize
des Darmstädter Vortragsmanuskripts in der Hand (eventuell für
den Vortrag um weitere Blätter erweitert). Es ist über weite Strecken
in Gliederung und Wortlaut mit der veröffentlichten Fassung dek-
kungsgleich. Dafür, dass es sich in großen Teilen um die ›Urfassung‹
handelt, spricht auch, dass Scheler offensichtlich den Manuskripttitel
für den Vortrag und die Veröffentlichungen schrittweise modifiziert
hat: von den »Monopolen des Menschen im Ganzen der Lebewelt«
(im Manuskript) zur »Sonderstellung des Menschen« im Keyserling-
band (1927), wo Sonderstellung den semantischen Konnex mit den
Monopolen behält, und dann zur »Stellung des Menschen im Kos-
mos« (1928), wo ›Stellung‹ beibehalten, aber nun der Fokus zur me-
taphysischen Fragerichtung verschoben ist. Interessant ist der Ver-
gleich mit dem Nachlassmanuskript, weil »Lebewelt« oder »das
Ganze der Lebewelt«, womit begrifflich also die Dimension des
pflanzlichen und tierischen Lebens, mithin das gesamte organische
Leben als Voraussetzung der Reflexion über die menschliche »Lebe-
welt« einbezogen wird, offensichtlich konzeptionell deutlich unter-
schieden ist von dem seit Anfang der 1920er Jahre von Husserl phä-
nomenologisch ausgezeichneten Begriff der »Lebenswelt«, in der
immer strikt der Horizont der sinnhaft bereits erschlossenen
›menschlichen‹ Lebenswelt angesprochen ist. Was die phänomeno-
logische Philosophie gleichsam von innen her erschließt (als »Lebens-
welt«), wird bei Scheler zugleich von außen beobachtet und rekons-
truiert (als »Lebewelt«). Noch deutlicher als im Titel des publizierten

14 Scheler Nachlaß, B I, 17. Der Scheler-Herausgeber M. S. Frings (Nachwort des He-


rausgebers, in: GW 9, S. 345 f.) hat den Darmstädter Vortrag von 1927 zunächst nicht
auf dieses Manuskript zurückverfolgt, dann aber im Nachwort zu GW 12 das »Vortrags-
manuskript« erwähnt; in diesem Band sind auch Einzelstücke aus diesem Manuskript
veröffentlicht: M. Scheler, Schriften aus dem Nachlass Bd. 3: Philosophische Anthro-
pologie, hrsg. v. M. S. Frings, Bonn 1987, z. B. S. 192–195. Zu diesem sog. »Vortrags-
manuskript« auch O. Pöggeler, Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos
(1928), in: Interpretationen. Hauptwerke der Philosophie im 20. Jahrhundert, Stuttgart
1992, S. 144, und W. Henckmann, Zur Metaphysik des Menschen in Schelers Schrift
›Die Stellung des Menschen im Kosmos‹, in: G. Raulet (Hrsg.), Max Scheler. L’anthro-
pologie philosophique en Allemagne dans l’entre-deux-guerres. Philosophische Anthro-
pologie der Zwischenkriegszeit, Paris 2002, S. 62 f.

Philosophische Anthropologie A 69
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Textes zeigt sich hier bei Scheler die Ansatzdifferenz zwischen einer
phänomenologischen Philosophie und der projektierten Philosophi-
schen Anthropologie. Zusätzlich interessant ist nun aber im Ver-
gleich von Manuskript und Veröffentlichungen, dass Scheler in der
100seitigen handschriftlichen Fassung die Philosophische Anthro-
pologie auf einen anderen »Schluß« zulaufen lässt als in der gedruck-
ten Fassung. Er vollführt im Manuskript nämlich eine Demonstra-
tion seiner philosophisch-anthropologischen Exposition nicht an den
Monopolen der »Metaphysik« oder der »Religion« – am »metaphy-
sischen Verhältnis des Menschen zum Grund der Dinge« 15 –, son-
dern an der »Sprache«. 16
Stellvertretend für die anderen »allgemein angenommenen Mo-
nopole des Menschen« (»das geformte Werkzeug«, »die künstleri-
sche Darstellungsfunktion«, »die Werte an denen der Mensch sich
ethisch mißt«, »alle menschl. Wissenskultur«) will Scheler an der
Sprache demonstrieren, dass diese Monopole »auf dem ›Geist‹ beru-
hen, also selbst aus Intelligenz nicht herzuleiten sind, wie quantitativ
gesteigert wir sie auch denken [,] und dass ferner der Geist an seinen
Werken selbst autonom, d. h. streng unabhängig von biolog. Organi-
sationsveränderungen des Menschen zu walten vermag – unabhän-
gig nicht in seiner Wirksamkeit, wohl aber in seiner subj. kateg.
Struktur.« Diese das Vortragsmanuskript abschließende Passage über
die »Sprache« schließt insofern an die Aufbaulogik der gesamten
Ausführung (also auch des veröffentlichten Textes ›Stellung des
Menschen im Kosmos‹) an, als sie systematisch das dort eingeführte
»Urphänomen des Ausdrucks« als ein »Urphänomen des Lebens« be-
reits der Pflanze (verwandelt zu »Kundgabefunktionen« der Tiere)
fortführt (StK 15). Denn ohne die Unterlage eines »psychovitalen«
»Ausdrucks- und Kundgabeautomatismus« in der Tierwelt, durch
den Lebewesen eigene Affekt- oder Trieblagen oder wichtige Ge-
samtsituationen der Gruppe (Gefahr, Beute) kundgeben, »könnte die
Menschensprache gar nicht gedacht werden. Aber ebensowenig kann
sie […] gedacht werden als eine nur quantitative Fortentwicklung,
Spezialisierung und noch so große Differenzierung dieses psycho-
vitalen Automatismus.« Sprache kann überhaupt nur eintreten bei

15 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 105–113.


16 M. Scheler, Monopole des Menschen, a. a. O., S. 85–90. Dieser Teil ist identisch mit
der Passage ›Sprache (1927), abgedr. in M. Scheler, Schriften aus dem Nachlaß, Bd. III:
Philosophische Anthropologie, hrsg. v. M. S. Frings, Bonn 1987, S. 192–195.

70 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Durchbruch (1927/28)

einem Lebewesen, das »Gegenstände hat«, dazu die Reflexionsstufe


des gleichursprünglichen Selbstbewusstseins und aus dieser »Sonder-
stellung« »den ganzen Ausdrucksautomatismus von Affekt-Laut-
motorischem Ausdruck-Wahrnehmungsinhalt sich selbst wieder ge-
genständlich machen und dann die Ideen und Urphänomene jedes
dieser Glieder samt Verbindungen dieser Glieder erfassen und immer
wieder identisch vorkommend in neuen Glieder erkennen kann. Nur
dann kann das Wort ›Baum‹ z. B. den Gegenstand ›Baum‹ – wie wir
sagen – nennen; also nicht nur einen Gefühlszustand oder Vorstel-
lungsablauf ausdrücken, die von Baum erwirkt wurden oder ange-
sichts seiner abliefen, sondern hinausweisen auf diesen Gegenstand
in der Welt, für ihn stehen, ganz gleichgültig, wie sich diese Funktion
des ›Nennens‹ verwirklicht, ob durch Laut, ein Zeichen im Sand, ob
durch hinweisende Geste.« So ist in dieser »symbolischen Funktion«
der Menschensprache auf diese Weise »der ganze Automatismus der
Ausdrucksäußerung und Kundgabe in der menschlichen Sprache
überbaut von Ideierung beider Punkte (Zeichen und Bezeichnetes),
von einer Losreißung ihrer Idee vom Jetzthier des Sprechenden und
des Gesprochenen«. Auf der Gegenstandsseite steht dann nicht nur
ein tatsächlicher Wahrnehmungs- und Vorstellungsinhalt des Ge-
genstandes, sondern »immer eine Konstante seines vom Dasein los-
gelösten So-seins, das in vielen Fällen wiederkehren kann; beim Wort
›Baum‹ das Baumhafte usw.« Auf der Zeichenseite der symbolischen
Funktion ist »das Wort auch als Zeichen etwas Konstantes, Identi-
sches in aller Auswechslung des Materials, in denen es sich materia-
lisiert.« »Mit der Sprache tritt der Mensch in eine ganz andere Sphä-
re ein, als diejenige ist, die das Tier allein kennt: Er objektiviert und
ideiert den tierischen Ausdrucksmechanismus.«
So demonstriert Scheler seinen philosophisch-anthropologi-
schen Ansatz an einem konkreten Phänomen: Nicht die »Intelligenz«
als eine differenzierte Spezialisierung des psychovitalen Ausdrucks
schuf die Sprache. Aber es gilt auch: »Nicht die Sprache schuf die
Vernunft« (so sehr sich der diskursive Gedanke erst mit der inneren
Wortform artikuliert). Sondern »die ›Vernunft‹ schuf die Sprache«,
aber das nun wieder nicht unabhängig vom bereits darunterliegen-
den körperleibgebundenen sinnlichen Äußerungssubstrat. Es bleibt –
auch für die prinzipielle Einschätzung der Schelerschen Philosophi-
schen Anthropologie – interessant, dass sein in Darmstadt gehaltener
Vortrag am Schluss, also im Anwendungsteil, thematisch eine Alter-
nativvariante am Ende des 100seitigen Manuskripts entfaltet (statt

Philosophische Anthropologie A 71
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

über die »Sprache« über die »Religion« und »Metaphysik« als »Mo-
nopole« des Menschen). Was immer der Grund für diese Abwei-
chung gewesen ist, in jedem Fall lässt sich erkennen, dass Scheler
bei der Bewährung seiner Philosophischen Anthropologie an Phäno-
menen neben der »Metaphysik« und der »Religion«, die er im Darm-
städter Vortragsschluss und in den Publikationen akzentuiert, von
Beginn an auch andere »Monopole der menschlichen Lebewelt«
nicht nur im Blick hatte, sondern auch erprobte – eben z. B. eine phi-
losophisch-anthropologische Theorie der Sprache.

Über die Weihnachtsferien 1924 beginnt Plessner mit seinem Projekt


unter dem Titel »›Kosmologie des Lebens‹«. »Ich halte im Augen-
blick auf Blatt 15, einem Blatt wie diesem hier, nur enger beschrie-
ben, also etwa auf Druckseite 20«, schreibt er Silvester 1924 an
König. Programmatisch lautet der Titel des I. Teils: »Von der Ästhe-
siologie des Geistes zur Kosmologie des Lebens«. Projektiert ist eine
Theorie der »dialektischen Grenzlamellen [?] der lebendigen Form.«
Plessner steht, wie er im gleichen Brief berichtet, unter dem Eindruck
des Heidegger-Vortrages zu Aristoteles in Köln Anfang Dezember,
der sich gleich zu Beginn gegen die »Fehlerhaftigkeit des Subjekt-
Objektansatzes« wandte. 17 Oktober 1925 sitzt er an der genauen Dis-
position der »›Kosmologie des Lebens‹«, »der ich jetzt den Untertitel
gebe: ›Untersuchungen über die Stellung des Menschen in der Na-
tur‹.« 18 April 1926 hat er 40 Seiten der »Kosmologie des Leibes« ge-
schrieben, wie er König in einem Brief berichtet, in dem er sich kri-
tisch beeindruckt zeigt durch Königs Schilderungen von Heideggers
Philosophieren in Marburg. 19 Im Oktober 1926 berichtet er Buyten-
dijk über seine Arbeit an »einem größeren Buch, betitelt ›Die Kate-
gorien des Lebens‹«. 20 Ostern 1927 liegt das Manuskript beim Ver-
lag. 21 Seit Juli 1927 erhält König von Plessner die Druckfahnen und
äußert Kommentare. 22 Januar 1928 erscheint das Buch unter dem
17 Plessner an König 31. XII. 1924, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef
König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 71 ff.
18 Plessner an König 19. X. 1925, ebd., S. 100.

19 Plessner an König 8. 4. 1926, ebd., S. 129 f.

20 Plessner an Buytendijk 29. 10. 1926, in: H. Struyker Boudier (Hrsg.), Corresponden-

tie van F. J. J. Buytendijk met Helmuth Plessner, a. a. O., S. 90.


21 Plessner an Misch 14. 5. 1927, Nachlaß Plessner, Mappe 142.

22 Plessner an König 2. 7. 1927, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef Kö-

nig/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 150. – König an Plessner


6. 7. 1927, ebd., S. 151 ff.

72 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Durchbruch (1927/28)

Titel: ›Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die
philosophische Anthropologie‹. 23
Plessners Buch zielt, wie er sagt, auf die »Sache der philosophi-
schen Biologie und Anthropologie«. Nach einer kurzen Rekapitulati-
on der eigenen Vorgeschichte des Projekts konzediert er dabei Max
Scheler die Initiative beim Versuch, unter Zusammenfassung frühe-
rer »biophilosophischer Analysen« eine »Grundlegung der philoso-
phischen Anthropologie auszubauen.« (SO IV). Unterscheiden will
er sich beim eigenen Versuch der »philosophischen Biologie und An-
thropologie« in der Art der Grundlegung (die nicht wie bei Scheler
rein phänomenologisch erfolgen soll) und in der Vermeidung »jener
geschichtlich belasteten Begriffe wie Gefühle, Drang, Trieb und
Geist« (SO 19). Beider Vorgehen eines »naturphilosophischen An-
satzes« der indirekten Erschließung des menschlichen Seins vertei-
digt Plessner Heidegger gegenüber (dessen Buch ihm »erst während
der Drucklegung bekannt« geworden sei), indem er bestreitet, »dass
der Untersuchung außermenschlichen Seins eine Existentialanalytik
des Menschen notwendig vorhergehen müsse; das sei die »alte Tradi-
tion […] des Subjektivismus, […] wonach der philosophisch Fragen-
de sich selbst existentiell der Nächste und darum der sich im Blick auf
das Erfragte Liegende ist« (SO V).
Plessners Buch zur »philosophischen Biologie und Anthropolo-
gie« hat sieben Kapitel; erst im 7. und letzten Kapitel spricht er über
die »Sphäre des Menschen«. Was entwickelt er in den sechs vorher-
gehenden Kapiteln? Zunächst ein rascher Durchgang. Zu Beginn des
ersten Kapitels nennt Plessner das Problem, auf das er seine Grund-
legung bezieht: die Erfahrung des Menschen mit sich als »Doppel-
natur«: sich einerseits als physisches Ding unter Dingen zu sehen,
andererseits sich als freies Konstitutionssubjekt einer Welt zu begrei-
fen. Kapitel 1 und 2 diskutieren dann Denkansätze: einerseits die
Modelle, die diese Dualitätserfahrung unterlaufen wollen, anderer-
seits das Modell, das die Dualität ideengeschichtlich verantwortet
hat. Kapitel 3, »die These«, führt seinen eigenen Vorschlag ein, eine
Theorie des Lebendigen. Kapitel 4–6 arbeiten diese Theorie des Le-
bendigen aus, und erst Kapitel 7 enthält das Modell des Menschen, in
dem von der Kategorie »exzentrische Positionalität« aus charakteris-

23H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philoso-
phische Anthropologie (1928), 2. Aufl. Berlin 1965; im Folgenden zitiert mit Kürzel SO
und Seitenangabe.

Philosophische Anthropologie A 73
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

tische Momente des Menschen wie Kultur, Sprache, Erkenntnis, Ge-


schichte, Gesellschaft, Religion angesprochen werden.
Nach diesem Überblick ein zweiter Durchgang durch Plessners
»Grundlegung einer Philosophie des Menschen«. Zu Beginn des Ka-
pitels 1 nennt Plessner die Problemstellung: Der Mensch erfährt sich
in einem radikalen, d. h. unvereinbar scheinenden »Doppel-Aspekt«:
Entweder er erfährt sich unter dem einen Aspekt, d. h. unter der Be-
trachtungsweise, die die Naturwissenschaft, die Abstammungstheo-
rie und der Empirismus als Philosophie nahelegen, mit allen seinen
Eigenschaften einschließlich der geistigen als letztes Glied der orga-
nischen Entwicklung auf der Erde. Dann ist sein Bewusstsein, sein
Gewissen, sein Intellekt, das Formensystem seines Geistes ein-
schließlich seiner Kultur ein Naturprodukt. Allerdings bleibt unter
diesem Aspekt, unter dieser Betrachtungsweise, rätselhaft, wie aus
körperlichen Tatsachen geistige Dimensionen werden. Oder er er-
fährt sich – diametral entgegengesetzt – unter dem anderen Aspekt,
d. h. unter dem Gesichtspunkt, den die Selbstvergewisserung des Be-
wusstseins – vor allem in den idealistischen Systemen der Philoso-
phie nahelegt – als Konstitutionszentrum der Welt. Dann ist auch
seine eigene Naturgeschichte samt der Evolution des Organischen
wie die ganze Natur, so wie sie gewusst wird, eine Konstruktion des
Menschen nach Maßgabe der apriorischen Grundformen seines
Geistes. Allerdings bleibt unter diesem Aspekt rätselhaft, wie der
konstruktive Geist zu dieser Abhängigkeit von physischen Eigen-
schaften in der konkreten Existenz dieses Menschen kommt. Vom
einem Gesichtspunkt zum anderen Blickpunkt scheint keine Brücke
zu führen, obwohl sich der Mensch in der alltäglichen Selbstgege-
benheit als Einheit vorkommt: einerseits Ding unter Dingen, ande-
rerseits Reflexionssubjekt; dieser unvermittelte Gegensatz verletzt
die »Würde« des Menschen.
In Kapitel 1 und 2 diskutiert Plessner nun die Denkansätze, die
um das Problem der Doppelnatur des Menschen kreisen. Kapitel 1
vergegenwärtigt die Ansätze, die die Einheit systematisch aus dem
Begriff des Lebens als tragender Zwischenschicht zwischen Körper
und Geist gewinnen wollen (Evolutionismus von der Lebensanpas-
sung her (Spencer), Lebensmetaphysik vom unergründlichen Le-
bensstrom her (Bergson, Spengler), hermeneutische Lebensphiloso-
phie vom Kreislauf zwischen Erleben, Ausdruck und Verstehen
(Dilthey/Misch)). In diesen lebensphilosophischen Suchbewegungen
sucht Plessner den Anknüpfungspunkt für die Lösung. Der adäquate

74 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Durchbruch (1927/28)

Begriff des Lebens muss das Spektrum zwischen Natur und Ge-
schichte umfassen. Im Gegenzug aber zur »Bezauberung«, die der
Begriff des Lebens mit seinen Mitbedeutungen (»das dämonisch
Spielende, unbewußt Schöpferische«) auf das lebensphilosophische
Denken ausübt, muss der Begriff ernüchtert, entzaubert werden, da-
mit er den neuzeitlichen Errungenschaften der Erkenntnis standhält.
Kapitel 2 rekapituliert nun den neuzeitlichen Denkansatz, der die
Radikalität der Doppelnatur in der Erfahrung des Menschen verant-
wortet, den sog. Cartesianismus; samt dem Zerfall des »Alternativ-
prinzips« von Geist und Körper in die Ansätze des Idealismus einer-
seits, des Empirismus andererseits. Der Cartesianismus wirkt – nach
Plessner – als Idealismus freiheits- und als Empirismus wissen-
schaftsbegründend. Insofern er diese zwei Grundvermögen des Men-
schen zeigt, hat der Cartesianismus Recht gegen jede spekulative,
irrationale Lebensmetaphysik, aber mit seiner strikten Unterschei-
dung zwischen der ausgedehnten, mechanischen Materie einerseits
und der denkenden Substanz andererseits vermag er keinen Zugang
zum Phänomen des Organischen (in seiner Eigendynamik) und zum
Phänomen der geschichtlichen Welt (in ihrer Vielfältigkeit und Viel-
deutigkeit) zu bahnen.
Aus dieser Rekapitulation der Denkansätze stellt sich Plessner
die Aufgabe, eine Betrachtungsweise, einen »Grundaspekt« zu fin-
den, der »bei voller Wahrung der Radikalität des Doppelaspekts Kör-
per-Geist selbst die Vermittlung vom einen zum anderen Aspekt«
bildet. Der Mensch darf nicht entweder naturalistisch oder vom Geist
her betrachtet werden. Es geht um die »Herstellung des einen
Grundaspekts« (SO 6), der es als Blickwinkel erlaubt, die Subjektivi-
tät oder Innerlichkeit des Menschen aus derselben Richtung zu be-
trachten wie seine naturgeschichtliche Objektivität oder Äußerlich-
keit. Plessners Entscheidung ist, das Problem der Philosophie des
Menschen, nämlich das Problem der Überwindung der Doppelnatur,
nicht in der Philosophie des Menschen (seiner Lebenswelt) zu lösen,
sondern anderswo, in einer Philosophie des Lebens, und d. h. in einer
Schicht unterhalb der Ebene des Menschen. Plessner ordnet die Be-
gründungserfordernisse so: Vorausgesetzt wird die menschliche Welt
als »geschichtliche Welt« der Objektivationen menschlichen »Erle-
bens«, wie sie die Geisteswissenschaften verstehend erschließen; die
Theorie dieser Geisteswissenschaften rekurriert auf eine »Lebensphi-
losophie« der Hermeneutik des Erlebens und Ausdrucks, aber diese
Hermeneutik (bei Dilthey/Misch) kann sich als »Lebensphilosophie«

Philosophische Anthropologie A 75
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

selbst nicht begründen; sie ist verwiesen auf eine »philosophische


Anthropologie« als »Konstituierung« der Hermeneutik, und die
»Durchführung der Anthropologie« ist wiederum nur möglich »auf
Grund einer Philosophie des lebendigen Daseins«, also der Naturphi-
losophie. (SO 30) Indem Plessner der philosophischen Anthropologie
intern eine philosophische Biologie vorordnet, wählt er also ein indi-
rektes Verfahren für die Grundlegung der philosophischen Anthro-
pologie und damit der Theorie der Geisteswissenschaften. Der philo-
sophisch Fragende befragt sich über den Umweg des ferngestellten
Blickes auf das Lebendige.
Zugleich dient die philosophische Biologie einer ›Entzauberung‹
des Wortes »Leben« mit seiner strömenden Suggestivität, indem sie
bei der Dinghaftigkeit des Organischen ansetzt, dem belebten
»Ding«. Plessner trifft hier – in der philosophischen Biologie – auf
den Streit um die Autonomie des Organischen als eigenständigem
Phänomen der Natur. Nach der mechanistischen Auffassung sind
die kategorialen Mittel der positivistischen Naturforschung zurei-
chend für die Bestimmung des Organischen in seiner »physischen
Gestalt« (Köhler); der Neovitalismus von Driesch hält hingegen die
Annahme eines »ganzmachenden Naturfaktors« (»Entelechie«) für
notwendig, um die empirisch spezifischen Eigenschaften der organi-
schen Körper (z. B. Regulation, Regeneration, Restitution) als nicht-
mechanische »Ganzheit« des Organischen beschreiben zu können.
Plessners »philosophische Biologie«, die die »philosophische Anthro-
pologie« tragen soll, will die Schicht des Lebendigen kategorial nicht
unterbestimmen (wie der Mechanismus), sondern an die neovitalis-
tische Aufmerksamkeit für die Autonomie des Organischen an-
knüpfen, ohne aber wie der Vitalismus das Lebendige – mit der »En-
telechie« – kategorial überzubestimmen. Um dem Phänomen des
Lebendigen in diesem Streit gerecht zu werden, baut Plessner folgen-
de Argumentation auf: Demnach erscheint bereits das unbelebte
»Wahrnehmungsding« (also jedes einer Wahrnehmung gegebene
Ding) kraft eines inkongruenten »Doppelaspektes«, in der für die
Wahrnehmung das Körperding mit seinem Außen (erster Aspekt)
auf ein verdecktes Inneres, einen unerreichbaren Wesenskern (zwei-
ter Aspekt) verweist. Als den »Grundaspekt«, der den »Doppel-
aspekt« von Körper und Geist auf der Ebene des Menschen vermit-
teln soll, setzt Plessner innerhalb der philosophischen Biologie nun
von unten her für die Schicht des Lebendigen – statt wie Driesch
»Ganzheit« oder Köhler »Gestalt« – den Begriff »Grenze« (SO 100):

76 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Durchbruch (1927/28)

der »Doppelaspekt« erscheint in der »Grenze« selbst als eine Eigen-


schaft des Dinges (und nicht mehr nur für die Wahrnehmung). Die
Hypothese der »philosophischen Biologie« ist, dass lebendige Körper
nicht nur einen »Rand« haben, an dem sie aufhören, sondern ihren
Rand als Grenze haben, über die er – der Körper – nach außen hin-
ausgeht und über die er nach innen zurückkommt. Beim belebten
Körper »gehört die Grenze reell zum Körper« (SO 103). Lebende
Körper erscheinen insofern von sich her – im Unterschied zu unbe-
lebten Dingen – im doppelten Aspekt von sichtbarem Außen und
verdecktem Innen. Erscheinung an der Grenze; Regulation der Er-
scheinung eines verborgenen Innen im sichtbaren Außen gehört
selbst zur Phänomenalität des Lebens. Unbelebte Dinge (wie ein
Stein) füllen den Rand einfach aus, an dem sie aufhören, lebendige
Körper stehen in einem »Grenzverhältnis« zu ihm, dem Körper, und
bilden insofern eine je spezifische Organismus-Umwelt-Korrelation.
In Korrektur des Cartesianismus hat Plessner damit die Eigensphäre
des Organischen bestimmt, ohne der empirischen Naturforschung zu
widersprechen.
Im 4. Kapitel expliziert Plessner diesen lebendigen Körper als
»Positionalität« – als »Gesetztheit« – im Positionsfeld, wie er sagt.
Lebendige Dinge sind zur Raum- und Zeitbehauptung in Raum und
Zeit »gesetzt«, ausgesetzt. Die Einheit dieses lebendigen Dinges als
»Ganzheit« und »Gestalt« ist über das »System« seiner »Organe«
vermittelt, insofern diese ihn zum Positionsfeld öffnen: »In seinen
Organen geht der lebendige Körper aus ihm heraus und zu ihm zu-
rück, sofern die Organen offen sind und einen Funktionskreis mit
dem bilden, dem sie sich öffnen« (SO 191). »Als Ganzer ist der
Organismus nur die Hälfte seines Lebens« (SO 194). Dieses Prinzip
des »Lebenskreises«, des Grenzverhältnisses oder der Positionalität
versucht Plessner in einer Deduktion der Vitalkategorien, einer
»apriorischen Theorie der lebendigen Wesensmerkmale« zu bewäh-
ren, d. h. alle der Erfahrung gegebenen verschiedenen Merkmale des
Lebendigen – Dynamik, Entwicklungscharakter, Selbstregulierbar-
keit, Systemcharakter, Assimilation und Dissimilation – müssen sich
als »Daseinsweisen der Lebendigkeit« (SO 123), als empirische »Rea-
lisierungsmodi« des Grenzverhältnisses zwischen Innen und Außen
nachweisen lassen.
Diese Theorie des Lebendigen als »grenzrealisierendem Körper-
ding« entfaltet Plessner in den Kapiteln 4 und 5 und beginnt dann im
Kapitel 5 »Stufen des Organischen« oder Stufen der Grenzrealisie-

Philosophische Anthropologie A 77
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

rung des »lebendigen Dinges« zu charakterisieren. Die Pflanze wird


als »offene Positionalität« charakterisiert, sie ist in das Positionsfeld
eingegliedert, zu ihm (im Blattwerk, in der Fortpflanzung durch
Bestäubung) geöffnet. Ohne Zentrum der Positionalität wird diese
Lebensform dargelebt, hingelebt. Das Tier ist hingegen als »geschlos-
sene Positionalität« bestimmt, es ist über ein Zentrum der Positiona-
lität vermittelt. Hier differenziert sich durch das Zentrum ein Le-
bensträger vom Körper, der von jenem in Bewegung gesetzt wird.
Die geschlossene Form der Positionalität »bedingt eine Hebung des
Existenzniveaus des organisierten Körpers, eine Abhebung von ihm
in ihm, so dass er über sich (in ihm) zu stehen kommt.« (SO 243). Es
ist die Abhebung des einsetzbaren Körpers vom situierten Leib, ver-
mittelt über das Zentrum, aber zugleich in dieser zentrierten Vermit-
teltheit aufgehend. Diese geschlossene, reflexiv gewordene Form
nennt Plessner auch »zentrische Positionalität«, die gleichzeitig
durch »Frontalität« des lebendigen Dinges in seinem Positionsfeld
ausgezeichnet ist: Dieses Lebewesen kann durch seine Grenze hin-
durch wahrnehmen und wird umgekehrt über die Grenzfläche seines
Körpers aus dem Positionsfeld heraus (von anderen Lebewesen)
wahrgenommen. Kapitel 6 erschließt die »Sphäre des Tieres« mit
den Wahrnehmungs- und Bewegungs-, Bewusstseins- und Lernleis-
tungen bis hin zu den Primaten.
Im Kapitel 7 bestimmt Plessner dann die Sphäre des Menschen
als »exzentrische Positionalität«. Das Lebendige ist hier endgültig
reflexiv geworden, ohne die Basis, die Positionalität, verlassen zu
können. »Ist das Leben des Tieres zentrisch, so ist das Leben des
Menschen, ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich
aus ihr heraus, exzentrisch.« (SO 292). Die »besondere Grenzgesetzt-
heit des Mensch genannten Dinges« heißt, dass er »in seine Grenze
gesetzt [ist] und deshalb über sie hinaus, die ihn, das lebendige Ding,
begrenzt.« Er steht »exzentrisch« außerhalb, als Zuschauer, Beobach-
ter im »raumzeithaften Nirgendwo-Nirgendwann« und bleibt zu-
gleich im Zentrum seiner psychovitalen Positionalität gebunden. 24

24 Über den Zusammenhang zwischen Exzentrizität und Körpergestalt des Menschen


bemerkt Plessner 1928 ähnlich wie Scheler in Anlehnung an E. Dacqué: »Wenn der
Charakter des Außersichseins das Tier zum Menschen macht, so ist es, da mit Exzen-
trizität keine neue Organisationsform ermöglicht wird, klar, dass er körperlich Tier
bleiben muß. Physische Merkmale der menschlichen Natur haben daher nur einen em-
pirischen Wert. Mensch sein ist an keine bestimmte Gestalt gebunden und könnte daher
auch (einer geistreichen Mutmaßung des Paläontologen Dacqué zu gedenken) unter

78 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Durchbruch (1927/28)

»Exzentrische Positionalität« ist »das Stehen des ›Ich‹ im ›Es‹«. 25


Exzentrik der Positionalität impliziert eine dreifache Durchöffnung
zur »Welt«, eine Aufgebrochenheit der Korrelationsverhältnisse
zwischen Organismus und Umwelt in Korrelationen zur »Außen-
welt«, zur »Innenwelt« und zur »Mitwelt«. Das exzentrisch positio-
nierte Lebewesen erfährt als Lebewesen an der eigenen Position die
dreifache Doppelaspektivität, d. h. die nicht überführbaren Betrach-
tungsweisen von äußerer Körperlichkeit und innerer Leiblichkeit
(Durchbruch zur »Außenwelt«), von konkretem Erlebnis und un-
ergründlich unbewusster Innenraumtiefe (Durchbruch zur »Innen-
welt«) und von absoluter Austauschbarkeit im Wirbegriff des Men-
schen und seiner gleichzeitigen Unvertretbarkeit als Individuum
(Durchbruch zur »Mitwelt«).
Wegen seiner Lebensgebundenheit ist das exzentrisch-positio-
nierte Lebewesen gezwungen, diese inkongruenten Doppelaspekte
durchzuführen, im Leben zu »führen«. Diese »anthropologischen
Grundgesetze« der Lebensdurchführung nennt Plessner »vermittelte
Unmittelbarkeit« (SO 321), »natürliche Künstlichkeit« (SO 309) und
»utopischer Standort« (SO 341), und sie dienen ihm als Strukturfor-
meln, um die bekannten menschlichen Monopole: Technik, Norma-
tivität, Sprache, Erkenntnis, Geschichte, Gesellschaft und Religion
aus der Verschränkung von Körper und Geist als gleichnotwendige
und sinncharakteristische Phänomene der menschlichen Sphäre zu
rekonstruieren. Damit bietet er für die Theorie der menschlichen
Welt eine Korrektur des Cartesianismus an, ohne der spekulativen
Lebensphilosophie nachzugeben. Durch die Exzentrizität seiner Posi-
tionalität ist das menschliche Lebewesen erstens nicht im Gleichge-
wicht, nicht festgestellt, also muss es sich »künstlich« durch Kultur
und Gesellschaft fest-stellen; alle Objektivationen des Menschen
fungieren insofern als »Ergänzung« seines Lebenskreises, und sie ge-
winnen diese stabilisierende, vital haltgebende Funktion durch ihr
Eigengewicht, durch die von der Hervorbringung losgelöste Geltung
(»natürliche Künstlichkeit«). Wegen der Exzentrizität seiner Positio-
nalität ist das menschliche Lebewesen zweitens unruhig hinsichtlich

mancherlei Gestalt stattfinden, die mit der uns bekannten nicht übereinstimmt.« (SO
293).
25 Diese Formel aus Plessners vorkritischer Erstschrift, die eine ontotheologische Pro-

zesslogik der Wissenschaft entwirft, enthält in nuce die Bewegungsfigur »exzentrische


Positionalität«, die Plessner allerdings erst nach dem Durchgang durch den Kritizismus
konstruieren kann. H. Plessner, Die wissenschaftliche Idee, GS I, S. 140.

Philosophische Anthropologie A 79
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

der Erreichbarkeit des unmittelbaren Seins, sowohl der Welt wie des
eigenen Wesens; es begegnet der Welt und sich selbst immer nur
»vermittelt« im »Ausdruck‹« – insofern gibt es den »Wesenszusam-
menhang zwischen der exzentrischer Positionsform und Ausdrück-
lichkeit als Lebensmodus des Menschen« (SO 323). Da die »Un-
mittelbarkeit« des Intendierten im »Ausdruck« nur »vermittelt«
erreicht wird, muss der Mensch immer erneut anderen »Ausdruck«
suchen und riskieren, weshalb seine Lebensform eine immer erneut
ansetzende, überraschende Geschichte ausbildet (»vermittelte Un-
mittelbarkeit«). Exzentrische Positionalität impliziert schließlich
drittens das Prinzip des »utopischen Standorts« eines solchen Lebe-
wesens: an seinem »natürlichen Ort« (SO 180) ist es zugleich außer
sich, kann sich versetzen an jeden anderen Ort und den Ort von je-
dem »Anderen«. Dieses Versetzungsvermögen ist die Bedingung der
spezifisch menschlichen »sozialen Organisation« (in der es sich in der
Phantasie in seiner prinzipiellen »Vertretenheit und Ersetztheit« er-
fährt) und es ist die Bedingung von Religion (in der es sich korrelativ
zur Nichtigkeit der Welt in einen »Weltgrund« versetzt): »Exzentri-
sche Positionsform und Gott als das absolute, notwendige welt-
begründende Sein stehen in Wesenskorrelation.« (SO 345). Exzen-
trische Positionalität bedeutet aber zugleich notwendig Distanz zu
jedem Absolutem, eben »Exzentrizität« als die Ausgliederung aus
dieser Relation des vollkommenen Gleichgewichts. Der Weltkreis
wird immer neu zerstört und der »Geist« tut die »selige Fremde« auf.
(SO 346)

1927 bzw. 1928 liegen Schelers und Plessners Ideen öffentlich vor.
Dieses »annus mirabilis« der Philosophischen Anthropologie 26 ist
noch vor den Veröffentlichungen durchzogen von einem schweren
Prioritätenkonflikt um die Begründung des Denkansatzes. »Die Ge-
schichte wird wohl nicht ganz ohne Lärm und Gestank ablaufen.
Scheler ist furchtbar aufgeregt, nachdem er gesehen hat, was die Ar-
beit bringt. Ich las ihm vor kurzem das letzte Kapitel über den Men-
schen vor«, schreibt Plessner am 2. Juli 1927 an König. 27 Scheler be-

26 E. Ströker, Homo absconditus. Gedenkrede auf Helmuth Plessner, in: In memoriam


Helmuth Plessner. Gedenkfeier am 7. Februar 1986 in der Aula der Georg-August-Uni-
versität. Göttinger Universitätsreden 79, Göttingen 1989, S. 32.
27 Plessner an König 2. Juli 1927, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef Kö-

nig/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 150.

80 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Durchbruch (1927/28)

richtet einen Tag später an seine geschiedene Frau, Märit Furtwäng-


ler, das angekündigte Erscheinen von Plessners Werk sei »eine Kata-
strophe, die ich schon lange vorausgesehen habe, da Plessner alles –
bis auf die Zitate – von mir hat und es sich daher mit einem Teil
meiner Anthropologie deckt«. 28 Max Scheler, der Ordinarius, ver-
dächtigte Plessner des Ideendiebstahls. Bedeutsam im Konflikt wurde
nun die Vermittlung Nicolai Hartmanns, des anderen Ordinarius, der
den Respekt Schelers und das Vertrauen Plessners besaß. Hartmann
kannte nämlich – laut Plessner – das Plessnersche Manuskript, weil
ihm Plessner daraus vorgetragen hatte, und war insofern verstrickt in
die Affäre, als er Plessners Manuskript an seinen Verlag de Gruyter
empfohlen hatte. Hartmann betonte Scheler gegenüber die Eigen-
ständigkeit von Plessners Konzept. Scheler lud daraufhin Plessner
Mitte 1927 in ein Kölner Kaffeehaus ein, mit ihm über das Buch zu
reden. Plessner erläuterte das Buchprojekt und las einiges vor, und
bei »Erdbeereis« 29 erklärte sich Scheler zufrieden, wenn Plessner ihn
als den »Inaugurator der philosophischen Anthropologie hinstelle.« 30
Plessner akzeptierte aber nur Schelers Bedingung, das Buch statt
»Grundlegung der philosophischen Anthropologie« »Einleitung in
die philosophische Anthropologie« zu nennen. 31
Es kam keine wirkliche Verständigung zustande. Die Vorworte
zu beiden Veröffentlichungen, Plessners im Januar 1928 und Schelers
im April 1928, sind beide bereits auf den schwelenden Konflikt hin
geschrieben. Plessner legt in seinem Vorwort den Akzent darauf, die
»entscheidenden Anregungen zu diesem Buch« in seinen Heidelber-
ger Zoologenjahren 1913 empfangen zu haben. Zugleich räumt er
ein, dass Scheler – der »geniale Forscher« – bis heute allein auf dem
Gebiet »philosophischer Biologie und Anthropologie« gearbeitet ha-
be. Allerdings unterscheide sich sein, Plessners, Ansatz, von Schelers
Interesse an Metaphysik, und durch die konstruktivistische Haltung
auch von dessen phänomenologischer Grundeinstellung. 32 Seitdem
Plessner die ersten Exemplare Ende Dezember 1927 in der Hand hat-

28 Scheler an Märit Furtwängler 3. 7. 1927, zitiert in: W. Mader, Max Scheler. Die Geis-
teshaltung einer Philosophie und eines Philosophen, Innsbruck 1968, S. 154.
29 H. v. Alemann, Interview mit Helmuth Plessner am 7. April 1981, Aufzeichnungen

(23 S.), Nachlaß Plessner, S. 21.


30 Plessner an König 2. Juli 1927, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef Kö-

nig/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 150.


31 H. Plessner, Selbstdarstellung (1975), GS X, S. 329.

32 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. IV u. V.

Philosophische Anthropologie A 81
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

te und verschickte, verschärfte sich der Konflikt. Plessner sandte


Scheler das Buch zu Weihnachten zu, wartete aber vergebens auf
ein Zeichen. »Das Buch hat ihn tief getroffen, seit seinem Erscheinen
habe ich Scheler nicht mehr gesprochen. Eine Reihe von Bekannten,
die mit ihm gesprochen haben (darunter Worringer, Hartmann), be-
richten übereinstimmend, dass er einen ›tragisch affizierten‹ Ein-
druck gemacht habe, wie er denn wochenlang von nichts anderem
sprach; […] die entscheidenden Grundideen seien von ihm […] Sche-
ler ist nun einmal tief überzeugt, daß ich ebenso klug wie unoriginell
bin. Er ist bereit, auf Grund meiner Geschicklichkeit und raffinierten
Intelligenz für mich einzutreten, wie er ebenso meiner großen Ein-
fühlungsfähigkeit jedes Lob zollt. Nur – das Entscheidende streitet er
mir ab.« 33
Scheler wird im April 1928 im Vorwort zur Veröffentlichung
seines großen Darmstädter Vortrages demonstrativ betonen, dass
ihn die Fragen »Was ist der Mensch, und was ist seine Stellung im
Sein?« seit seinem philosophischen Beginn zentral beschäftigt haben,
und dass er »seit dem Jahre 1922 in der Ausarbeitung eines größeren
dieser Frage gewidmeten Werkes« konzentriert sei. Ausdrücklich
macht er nicht nur auf die Entwicklung seiner Ansichten zur philoso-
phischen Anthropologie seit 1918 aufmerksam, sondern auch auf die
»an der Universität Köln zwischen 1922 – 1928 gehaltenen Vorlesun-
gen über die ›Grundlagen der Biologie‹, über ›Philosophische An-
thropologie‹ […]«. Die vorgelegte Arbeit, lässt Scheler das Publikum
wissen, legt »eine kurze, sehr gedrängte Zusammenfassung meiner
Anschauungen über einige Hauptpunkte der ›Philosophischen An-
thropologie‹ dar, die ich seit Jahren unter der Feder habe und die zu
Anfang des Jahres 1929 erscheinen wird.« 34 »Die Anthropologie ist
wieder sehr wesentlich gewachsen«, hatte er im Juli 1927 an Märit
Scheler geschrieben, »sie wird – das darf ich sagen – ein gewaltiges
Werk.« 35 Im WS 1927/28 hielt er in Köln wieder eine Vorlesung zur
»Philosophischen Anthropologie«, verschiedene zur Publikation vor-
bereitete Aufsätze 36 sind durchsetzt mit Thesen seiner »Philosophi-

33 Plessner an König 22. II. 28, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/
Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 173.
34 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 9.
35 M. Scheler, Brief an Märit Furtwängler vom 3. Juli 1927, zit. n. W. Mader, Max Sche-

ler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, a. a. O., S. 123.


36 Vor allem der für eine Druckfassung verwandelte Vortrag ›Die Formen des Wissens

und die Bildung‹ (1925) enthält einen – mit Fußnoten gespickten – ganzen Abschnitt

82 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Durchbruch (1927/28)

schen Anthropologie« und vielfachen Vorausverweisen auf sie; im


April 1928 hat Scheler schon Köln verlassen, den länger vorbereite-
ten Ruf nach Frankfurt angenommen, nicht allein wegen dieses Kon-
fliktes, aber doch nicht unbeeindruckt davon. »Ich begrüße diesen
Weggang sehr«, schrieb Plessner an J. König, »denn nach dem Er-
scheinen der ›Stufen‹ ist das Verhältnis zur Scheler, speziell durch
die eifersüchtig den Ruhm bewachende Frau, unerfreulich gewor-
den.« 37 Zu einem persönlichen Abschied Schelers von Plessner
scheint es nicht mehr gekommen zu sein. 38
»Sehr komisch und doch für beide Teile schmerzlich« nannte
Plessner die Konstellation. 39 Wie es sich mit dem Prioritätenkonflikt
wirklich verhalten hat, ist nicht leicht zu beurteilen. Schon für die
Zeitgenossen, soweit es sie interessierte, war die Angelegenheit
schwer einzuschätzen, weil sie sich vor Ort (in Köln) vollzog und es
sich zugleich um ein Novum – um einen neuen Denkansatz – han-
delte, den man verstanden haben musste, um zu urteilen. Sie hielten
entweder loyal zu Scheler, was natürlich die Mehrheit war, weil er
berühmter war und mehr Leute kannte, oder zu Plessner. Die Urteils-
lage ist viel später nicht leichter geworden, weil sie nun durch Pless-
ner, der ein biblisches Alter erreichte, und seine öffentlichen Erinne-
rungen, die pro domo sprachen, dominiert wurde.
In jedem Fall ist im Hintergrund des Konflikts Schelers ver-
änderte persönliche Lage Mitte der 20er Jahre zu sehen. Konstitutio-
nell der Typ des überströmenden Geistes, dem bei jeder Gelegenheit
neue Ideen zufielen, war Scheler in diesen Jahren nun von dem Ge-
danken beeindruckt, seine Ideen nicht mehr abschließend sichern zu

seiner dicht gedrängten philosophisch-anthropologischen Theorie (S. 97 bis 103). Der


Aufsatz erschien allerdings erst nach Schelers Tod 1929 in der Sammlung: ›Philosophi-
sche Weltanschauung‹; GW 9, S. 85-119.
37 Plessner an König 22. II. 28, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/

Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 173.


38 Vgl. Plessners Briefentwurf an Scheler 28. II. 28, Nachlaß Plessner, Mappe 143:

»Hochverehrter lieber Herr Scheler! Das Semester geht zu Ende und der Zeitpunkt
Ihrer Abreise von Köln rückt heran, ohne dass ich bisher einmal Gelegenheit gehabt
hätte, Sie noch einmal zu sprechen und mich von Ihnen und Ihrer Gattin zu verabschie-
den. Vielleicht bin auch ich daran schuld gewesen, als ich auf ein Zeichen von Ihnen
wartete, nachdem ich Ihnen zu Weihnachten mein Buch geschickt habe. So hörte ich
von Ihnen nur indirekt. […] Ich wäre glücklich, wenn ich Ihnen noch einmal, bevor die
gemeinsame Zeit zu Ende geht, die Hand drücken könnte. […] Ihr stets treu ergebe-
ner P.«
39 Plessner an König, 22. 1. 1928, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef Kö-

nig/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 173.

Philosophische Anthropologie A 83
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

können. Indem Scheler »jeder neue Tag zu neuen Ufern lockte, ihn,
der mit grenzenloser Dankbarkeit die unermeßliche Weite der geis-
tigen Reiche erspürte, versäumte er die Ausführung und Sicherung
des gewonnenen Gutes, unendlich sorglos seinen Manuskripten ge-
genüber, die er verlor und verlegte, die er auf der Rückseite einer
Speisekarte begann und dann vielleicht auf den leeren Schlußblättern
eines Buches fortsetzte.« 40 In dieser Großzügigkeit der Ideen war
immer auch ein sorgloses Verschenken an andere impliziert gewesen.
In den Kölner Jahren war Scheler aber getrieben von der Angst, sein
Lebenswerk nicht mehr vollenden zu können. 41 Das verband sich mit
einem wachen Blick auf die jüngere Generation, die ihn eines Tages
ablösen würde, auf Hartmann, Heidegger, aber auch auf Plessner.
»Baumeister Solneßgefühle gegen die kommende Generation spielen
natürlich dabei eine erhebliche Rolle (das gestand er Hartmann)«. 42
Plessner hingegen, Mitte 30, derweil ›a. o. Professor‹, sah sich im ris-
kanten Aufschwung: »Wie es mir geht? Nun, außerordentlich und
nicht etatmäßig. […] Hier in Köln ist starkes philosophisches Leben
und Bewegung«, hatte er 1926 geschrieben. 43 Vor diesem Hinter-
grund bekommt die Schelersche Vorstellung, Plessner sei ein Nach-
ahmer seiner Ideen, einen etwas anderen Akzent, ohne damit erledigt
zu sein. Scheler war nämlich durch Plessners Vorstöße seit 1924 un-
ter Druck gesetzt, seine Philosophische Anthropologie nun auch
wirklich geben zu müssen. In Kenntnis von Plessners Buchplan seit
1924: »Pflanze, Tier, Mensch – Elemente einer Kosmologie der leben-
digen Form« und seiner laufenden, dazu einschlägigen Lehrver-
anstaltungen war Scheler auch ein von Plessner Getriebener, seine
Ideen zu sammeln, zu verdichten, zu veröffentlichen.

Aber mit diesem Hintergrund ist Schelers massiver, für die Geschich-
te der Philosophischen Anthropologie folgenreicher Vorwurf gegen-
über Plessner nicht aufgeklärt. Es ist unwahrscheinlich, dass Scheler
einen derart akademisch folgenreichen Vorwurf ohne jeden Anhalts-
punkt geäußert hätte. Man muss auch sehen, dass Plessner indirekt
eine gewisse Berechtigung zugesteht, wenn er beim erstmaligen Be-

40 H. Lützeler, Der Philosoph Max Scheler. Eine Einführung, Bonn 1947, S. 11.
41 W. Mader, Max Scheler, a. a. O., S. 104.
42 Plessner an König 22. II. 1928, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef Kö-

nig/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 173.


43 Plessner an J. Locher, 14. 7. 1926, Nachlaß Plessner, Mappe 142.

84 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Durchbruch (1927/28)

richt an König über Schelers Empörung schreibt: »Er sieht sich natür-
lich, wie ich auch gefürchtet hatte, als der eigentliche Autor dieser
Dinge«. 44 In jedem Fall ist es so, dass Scheler der Erfinder des Pro-
jekt-Titels einer »Philosophischen Anthropologie« ist, den Plessner
von ihm übernommen hat. Denn in allen Plessnerschen Arbeitstiteln
und Vorlesungsankündigungen taucht dieser Begriff nicht auf. Pless-
ner wird erst in diesen Jahren neben Scheler erkannt haben, dass der
Schelersche Titel genau die öffentlichen Erwartungen auf das weckte,
was er selber im Übergang »Von der Ästhesiologie des Geistes zur
Kosmologie des Lebens« – wie er sein Projekt zuerst nennt – vorhat-
te. Für diese Schelersche Projekt-Titel-Idee spricht auch, dass Pless-
ner hinsichtlich der Titeländerung seines Buches Scheler nachgab.
Dennoch beharrte er darauf, dass Scheler »an dem Buch völlig un-
schuldig« sei. 45
Vielleicht muss man, um zu verstehen, was sich hier abgespielt
hat, auf Schelers Charakteristik von Plessners Denkungsart zurück-
kommen. Scheler hatte im Gutachten zu Plessner diesem nicht nur
»überragende intellektuelle Begabung« konzediert, sondern vor al-
lem hervorgehoben, dass Plessner mit seinem ȟberaus beweglichen
und schmiegsamen Verstand« »von seltener Eindrucksfähigkeit, Ver-
ständnis- und Einfühlungsfähigkeit in philosophische Gedankenwel-
ten und in die Geistesart ihrer Urheber« sei. »Anregsam und anre-
gend zugleich verbindet er gewandt und geschickt Gedanken, die er
aus verschiedensten Zonen in sich aufnahm.« 46 Plessner hatte dem-
zufolge ein mimisches Talent für Ideen, und er nahm die Ideen woher
er nur konnte, wobei er im identifikatorischen Übereinanderlegen
und Verschmelzen von Ideen vergaß, woher er sie hatte. Schelers
Charakteristik von Plessner deckt sich mit einer gewissen Verwun-
derung späterer Generationen bei der Beobachtung über die Vielzahl
verdeckter Einflussquellen auf Plessners Gedankenbildung. 47 Pless-

44 Plessner an König 2. Juli 1927, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef Kö-
nig/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 150.
45 Plessner an König, ebd., S. 150.

46 M. Scheler, »Gutachten Scheler« (1925), Nachlaß Plessner, Mappe 14, S. 2.

47 Vor allem die umfangreiche Studie von St. Pietrowicz, Helmuth Plessner. Genese und

System seines philosophisch-anthropologischen Denkens, Freiburg/München 1992,


deckt eine Vielzahl von Einflussquellen auf, die Plessner nicht gekennzeichnet hat, im-
mer begleitet von einer gewissen Verwunderung über die Arbeitsweise des Ausbeutens
und Ausdeutens fremder Gedanken. Auf den Schelerschen Plagiatsvorwurf an Plessner
geht Pietrowicz in diesem Zusammenhang nicht ein.

Philosophische Anthropologie A 85
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

ner verwandelte sich also Ideen von Scheler an, – aber nicht nur von
ihm. Er eignete sich alles Mögliche an – nach dem »Prinzip kluger
›Verwebung‹«. 48 König gibt Schelers Vorwurf noch während Pless-
ners Schreiben indirekt ein gewisses Recht, als er – die Fahnen des
Buches lesend – Plessner vorsichtig darauf aufmerksam macht, dass
er passagenweise mit Dilthey-Gedanken von Georg Misch spazieren-
gehe, »ohne ihn soz. irgendwie zu nennen« 49 , und Plessner prompt –
zustimmend und korrigierend – antwortet: »Durch die Identifizie-
rung mit seinem Programm war mir sozusagen das Spezifische seiner
Leistung unsichtbar geworden.« 50
Dieser Grundzug lässt sich durch die ganze Kategorienbildung
Plessners nachzeichnen, auch für die philosophische Biologie, deren
Anschauungsfundament ihm wegen seiner Ausbildung sicher schien
und die ja mit 4 von 7 Kapiteln den eigentlichen Kern von Plessners
Buch ausmachte: Deren Leitkategorie der »Grenze« war ganz nach
dem »Prinzip kluger ›Verwebung‹« gebaut, in der nicht nur – unge-
nannt – dialektische Bestimmungen der »Grenze« aus Hegels ›Lo-
gik‹ 51 , Simmels lebensphilosophische Charakterisierung der »Gren-
ze« 52 , Cohens philosophische Bestimmung des Differentialbegriffs
als eines Grenzbegriffs 53 und Ludwig von Bertalanffys »methodo-
logischer Vitalismus« 54 einer System-Umwelt-Theorie unerwähnt

48 M. Scheler, »Gutachten Scheler« (1925), Nachlaß Plessner, Mappe 14, S. 5.


49 König an Plessner 6. Juli 1927, H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/
Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 153.
50 Plessner an König 20. Juli 1927, a. a. O., S. 156.

51 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik I, Erster Teil. Die objektive Logik, Erstes

Buch, in: Ders., Werke Bd. 5, hrsg. v. E. Moldenhauer u. K. M. Michel, Frankfurt a. M.


1969, S. 135–139. »Grenze« ist für Hegel primär die innere Bestimmtheit, die Etwas mit
seinem Anderen (seinem Medium) sowohl zusammenschließt als es davon abscheidet.
52 G. Simmel, Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, München/Leipzig 1918,

S. 13. Simmel charakterisierte das Leben vom erlebenden Lebenssubjekt her: sobald eine
»nach einem Zentrum hin gravitierende Einheit existiert, so ist das Hinausfluten des
Geschehens von diesseits ihrer Grenzen zu jenseits ihrer Grenzen nicht mehr eine sub-
jektlose Bewegtheit, sondern es bleibt mit dem Zentrum irgendwie verbunden, so daß
auch die Bewegung jenseits ihrer Grenze ihm zugehört […]«.
53 Vgl. St. Pietrowicz, Helmuth Plessner, a. a. O., S. 166 f.

54 L. v. Bertalanffy, der spätere Begründer der Systemtheorie, theoretischer Biologe aus

Wien, hatte auf Plessners Anfrage hin diesem für den ›Philosophischen Anzeiger‹ sei-
nen Stand der theoretischen Biologie zukommen lassen; Plessner drängte ihn aber zu
einem resümierenden Beitrag über die Köhler-Driesch-Debatte. In jedem Fall kannte
Plessner also Bertalanffys Ideen. Vgl. L. v. Bertalanffy an Plessner 16. 9. 1926 u.
6. 10. 1926, Nachlaß Plessner, Mappe 134.

86 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Durchbruch (1927/28)

eingingen, sondern auch noch – allerdings erwähnt – Buytendijks


Bestimmung der »scharfen Begrenzung« als Anschauungscharakte-
ristikum des Organischen steckte. Diese Grenzbestimmung des Or-
ganischen verwob Plessner wiederum mit dem Begriff der »Stellung«
des Organischen in der Welt, in dem er sich den Schelerschen Begriff
der »Sonderstellung« und »Stellung des Menschen im Kosmos«
aneignete und ihn – den Begriff der Position – in »Positionalität«
verschob, in den er explizit den Fichteschen Begriff der »Setzung«
implizit mit der Schellingschen Kehre des Idealismus zur naturphi-
losophischen »Gesetztheit« verknüpfte. Der Begriff des »Setzens«
war ihm als zentraler Begriff auch aus der ›Ordnungslehre‹ von
Driesch her vertraut. Seine Druckfahnenkorrektur 1927, begleitet
von der Lektüre von Heideggers ›Sein und Zeit‹, wird auch die Paral-
lelität von »Gesetztheit – Setzung« mit dessen Existenzial-Begriffen
»Geworfenheit – Entwurf« bemerkt haben, wobei »Geworfenheit«
aber als eine existentialanalytisch gewonnene Bestimmung, »Ge-
setztheit« als eine Vitalkategorie der philosophischen Biologie kon-
zipiert war. Das oft als Bestätigung des Schelervorwurfs angeführte
Indiz, der Plessnersche Begriff der »Exzentrizität« stecke bereits in
Schelers Begriff des »weltexzentrisch gewordenen Seinskerns«, führt
deshalb nicht weiter, weil beide den Begriff von Klages hatten, ohne
ihn zu nennen, denn der hatte bereits 1921 vom Geist als der »Exzen-
trizität der Seele« geschrieben. 55 Klages verwendete zur Unterschei-
dung bewusstseinsfähiger Lebensträger von nicht bewusstseinsfähi-
gen das Bild von einer »Verschiebung des Lebensmittelpunktes«,
»welcher gemäß die Seele als der Mittelpunkt eines Lebensspielrau-
mes – nunmehr exzentrisch geworden – um ein neues Zentrum zu
kreisen habe.« 56 Zu der kategorialen Herausdrehung »exzentrischer
Positionalität« aus der »zentrischen Positionalität« sah sich Plessner
vermutlich auch motiviert durch G. Simmels »Achsendrehung des
Lebens« 57 , wahrscheinlich auch durch R. Guardinis polarem Gegen-
satz von »Innewohnen« und »Darüberstehen«58 , den er ebenfalls

55 L. Klages, Vom Wesen des Bewußtseins. Aus einer lebenswissenschaftlichen Vor-


lesung, Leipzig 1921, S. 289.
56 L. Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, 2. Bd., 2. Aufl. Leipzig 1939, S. 746.

57 G. Simmel, Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, a. a. O.


58 R. Guardini, Der Gegensatz. Versuche zu einer Philosophie des Lebendig-Konkreten,

Mainz 1925. – F. J. J. Buytendijk spielt darauf an, als er in seinem Dankbrief an Plessner
für die Zusendung des Buches nach anerkennenden Worten schreibt: »Nur! Warum
hast du nicht die Gegensatz-idee (Guardini) aufgegriffen? Das ist doch eine sehr richtige

Philosophische Anthropologie A 87
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

nicht erwähnte; Plessner verwob diesen Begriff weiterhin mit einer


anderen Idee, die er geradezu aus der Luft griff, als er am Konzipieren
war, aus der frischen Dissertation seines Freundes König von 1925,
der dort definiert hatte, dass Anschauung »überhaupt der ›Blick‹ aus
dem Nichts des Bewußtseins« 59 sei, und Plessner schrieb prompt zu-
rück: »was mich besonders entzückt hat, die Unterscheidung der zwei
Momente an der intellektuellen Anschauung: Totum des Geistes und
Blick auf es.« 60 Zwar kehren in Plessners Leitbegriffen »Ding«, »Po-
sitionalität« und »Exzentrizität« die von Scheler 1926 so benannten
»drei Arten dynamischer Zentren« wieder – »Kraftzentren, Vitalzen-
tren und Personzentren« 61 –, aber Plessner hatte eben durch Ver-
webung einen ingeniösen Verschachtelungsbegriff für diese drei
Kraftzentren gefunden: »exzentrische Positionalität«. Wie Scheler
kam er im Hinblick auf den Menschen zu einem unterbrochenen
Ganzheitsbegriff, zu einer gesprengten Gestaltvorstellung (»Welt-
offenheit«, »Exzentrizität«). Im Grunde war Plessners ganzes Buch
durch Nachahmen von Ideen gebaut, aber er baute die Ideen sorgfäl-
tig ineinander, verschachtelte sie im Sog der philosophischen Auf-
gabe zu einer konsequent eigenen Kategorienlehre des Lebens und
der menschlichen Sphäre, so dass er guten Glaubens sein konnte, an
diesem Buch sei niemand schuld außer er selber.
Scheler wird genau das erkannt haben, diese Plessnersche An-
verwandlung der Ideen in Potenz. Scheler erkannte, dass Plessner ihn
und seine Ideen nachahmte, indem er in deren Durchdringung wei-
tere Ideen nachahmte und damit zu einer nicht leicht überbietbaren
originell systematisch strengen Explikation dessen gelangte, was
auch er – Scheler – unter »Philosophischer Anthropologie« projek-
tierte und »unter der Feder hatte«. Dass die Philosophische Anthro-
pologie durch eine solche rigide, aber oft auch spröde wirkende Kate-
gorienlehre bei Plessners Anschauungsverluste erlitt, die in Schelers
Durchführung desselben Projekts einfach wegen seiner phänomeno-
logischen Naturbegabung und plastischen Darstellungsart nicht auf-
getreten wären, wird ihm gleichfalls nicht verborgen geblieben sein.

und tiefe Einsicht im Konkret-Lebendigen!« Buytendijk an Plessner 5. 2. 1928, Nachlaß


Plessner, Mappe 34.
59 J. König, Der Begriff der Intuition, Halle 1926, S. 417.
60 Plessner an König 8. 4. 1926, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef Kö-

nig/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 131.


61 M. Scheler, Erkenntnis und Arbeit, in: Ders., Die Wissensformen und die Gesell-

schaft, GW 8, S. 359.

88 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Durchbruch (1927/28)

In jedem Fall ist festzuhalten, dass in Schelers Getroffensein durch


Plessners Buch und der Heftigkeit des Plagiatvorwurfes eine echte
Anerkennung des Ranges von Plessners Werk steckt: denn hätte es
sich um ein grundschlechtes Buch oder auch nur um eine mäßige
Reproduktion seiner Ideen gehandelt, hätte er niemals dieses Ge-
schrei erhoben. Übrigens spricht auch Schelers Handexemplar von
Plessners Buch 62 für seine schmerzliche Anerkennung von Plessners
Leistung, wenn unter den vielen Randbemerkungen neben dem
mahnenden »Zitat!« oder »S(iehe) meine Überlegungen« doch auch
»gut!« oder »wichtig« gerade an Plessners biophilosophischen
Schlüsselpassagen zum Begriff der »Grenze« vermerkt sind. Scheler
wird auch verstanden haben, dass N. Hartmann, der Inbegriff phi-
losophischer Gediegenheit war, Plessners Buch nicht gegen den Ver-
dacht, es seien reine Ausführungen Schelerscher Gedanken, vertei-
digt hätte, wenn er sich seiner Sache nicht zuletzt deshalb sicher
gewesen wäre, weil er seine – Hartmanns Anteile – an dem Buch,
besonders das Interesse an schichten-durchlaufenden und zugleich
-abwandelnden Kategorien, erkannt hatte.

In jedem Fall hat Scheler Plessner als echte Gefahr erkannt und auf
seine Weise zu bannen versucht. Offensichtlich unter Kenntnis der
Konzeption von Plessners Buch zur »philosophischen Anthropolo-
gie« seit 1927 legte Scheler in allen zeitgleich publizierten Vorträgen
und Aufsätzen gut sichtbare Fährten, die aus den 10er und 20er Jah-
ren alle zu seinem »neuen Versuch einer philosophischen Anthro-
pologie« führten und setzte sich zeitlich unter Druck: »Das umfas-
sende Werk wird in Jahresfrist erscheinen« – so im Frühjahr 1928. 63
Legt man das Nachlassmanuskript ›Menschliche Monopole im Gan-
zen der Lebewelt‹ als Vortragstext vom Frühjahr 1927 zugrunde,
dann setzt Scheler selbst in der Druckfassung 1927/1928 bereits in-
direkt plessnerreaktive Akzente. Im 1927 publizierten Textschluss
spricht er jetzt neu vom Lebewesen als dem »X, das sich selbst be-
grenzt« 64 , eine Formulierung, die an der Parallelstelle des Vortrags-

62 Schelers Exemplar von Plessners ›Stufen des Organischen‹, mit der Widmung »Mit
herzlichen Weihnachtswünschen v. Verf. 19. XII. 1927« versehen, im Bestand der zum
Scheler-Nachlass gehörenden Bibliothek Ana 315 G II.
63 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 14.

64 M. Scheler, Die Sonderstellung des Menschen, in: Graf H. Keyserling (Hrsg.),

Mensch und Erde, a. a. O., S. 198.

Philosophische Anthropologie A 89
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

manuskriptes nicht auftaucht 65 und sich vielleicht der Kenntnis der


Plessnerschen biophilosophischen Theorie der »Grenze« verdankt.
Und er spricht nun vom Menschen und »seines nun weltexzentrisch
gewordenen Seinskernes« 66 , eine Formulierung, die er im Vortrags-
text nicht verwendet hatte und die später oft als Indiz verwendet
werden wird, Scheler habe den Kernbegriff Plessners bereits vorweg-
genommen.
Die Berechtigung des Schelerschen Vorwurfes aus der Anfangs-
geschichte der Philosophischen Anthropologie wird sich nicht ganz
aufklären lassen und zieht eigentlich auch nur begrenztes Interesse
in der Gesamtgeschichte des Denkansatzes auf sich. Wie auch immer
es sich damit verhalten hat, für die weitere Entwicklung des Denk-
ansatzes in einer Gruppe der Einzelgänger war der Tatbestand, dass
der Durchbruch in diesem konfligierenden Kommunikationsnetz
sich ereignete, allerdings von fortwirkender Bedeutung. Erstens be-
stätigte der Konflikt schlicht, dass es einen neuen charakteristischen
Ansatz gab – in zwei verschiedenen Köpfen und Texten. Zweitens
setzte der tatsächlich getroffene Max Scheler 67 über den Denkansatz
zwei folgenreiche Gerüchte in die Welt: Der Plessnersche Text sei
eine Kopie des Schelerschen Originals, und er selbst – Scheler – habe
seine »große Anthropologie« in petto, fast fertig. Drittens war so-
wohl Scheler wie Plessner klar, dass die Frage der Durchsetzung des
Denkansatzes v. a. eine Frage des Verhältnisses zu Heidegger war, der
1927 in ›Sein und Zeit‹ ausdrücklich eine »Abgrenzung der Daseins-
analytik von der Anthropologie« vollzogen hatte. Wo Heidegger
Schelers emotive Akte der intentionalen Innerlichkeit als »Ge-
stimmtheit« zum Schlüssel der Metaphysik radikalisierte – exis-
tentialisierte –, war Scheler – je nach dem – einen Schritt weiter oder
zurück, wenn er die seinsaufschließende Leistung der Leidenschaft
des Herzens, des »ordo amoris«, schon wieder aus der philosophisch-
biologischen Distanz des Tier/Mensch-Vergleichs zu erschließen
bzw. von außen konstruktiv zu beobachten suchte. »Viel neues fand
und entdeckte ich über Heideggers sehr bedeutendes, aber seltsames
Werk: ›Sein und Zeit‹«, schrieb Scheler im Juli 1927 im Zusammen-

65 M. Scheler, Monopole des Menschen, a. a. O., S. 34.


66 Ebd., S. 104.
67 Jedenfalls wird Maria Scheler Jahre später an Buytendijk schreiben: »Mein Mann hat

sehr an Plessners Verhalten gelitten.« Maria Scheler an Buytendijk 29. 12. 1933, zit. b.
H. Struyker Boudier, Filosofische Wegwijzer, in: Ders. (Hrsg.), Filosofische Wegwijzer.
Correspondentie van F. J. J. Buytendijk met Helmuth Plessner, Kerckebosch 1993, S. 24.

90 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Durchbruch (1927/28)

hang seiner Arbeit an der ›Philosophischen Anthropologie‹. 68 In


Notizen hielt er auch seine Kritik am daseinsanalytischen Ansatz
fest, der – im Gefolge des Cartesianismus – philosophisch beim »ei-
genen Ich« statt beim »Allerfernsten« anfängt: »Was ich […] ableh-
ne, das ist Heideggers Daseinssolipsismus, von dem er ausgeht. Er ist
pure Umkehr des cartesianischen cogito ergo sum in ein sum ergo
cogito.« 69 Nach dem zweiten Vortrag Heideggers im Dezember 1927
in Köln stand Scheler bereits in intensiver Diskussion mit Heidegger,
die möglicherweise im ›Philosophischen Anzeiger‹ veröffentlicht
werden sollte. 70 Und Plessner, der ja im Vorwort zu den ›Stufen‹ den
naturphilosophischen Ansatz deutlich gegen Heideggers Ansatz bei
der Innerlichkeit der eigenen Existenz abgegrenzt hatte, schrieb an
Misch: »Ich bin nach der Unterhaltung mit ihm doppelt gespannt,
wie er sich zu meinem Buch stellen wird.« 71 Viertens war nun aber
nichts so folgenreich für die Geschichte des Denkansatzes, wie dass
Scheler, schon in Frankfurt, noch vor jeder weiteren Ausarbeitung
und Repräsentation des neuen Denkansatzes, vor jeder Austragung
des Konflikts mit Plessner, am 19. Mai 1928, also Wochen nach bei-
der Veröffentlichungen, eine Woche nach einem schweren Herz-
anfall starb.

Wie Scheler zu Lebzeiten ein philosophisches Ereignis gewesen war,


so auch sein Tod. »Mitten aus der Arbeit an seinen großen Entwürfen
zur Anthropologie und Metaphysik hat ihn der Tod gerissen, ihm
selbst so unerwartet wie seinen zahlreichen Freunden und Schülern«
– so N. Hartmann in seiner Totenrede. Scheler sei mitten in einem
substantiellen Projekt gestanden, ein »wohldurchdachtes, langsam
gereiftes, vielfach bis ins einzelne durchgeformtes gedankliches Gut,
die Frucht positivsten Schaffens seiner besten Jahre. Die großen Vor-
lesungszyklen seiner neunjährigen Kölner Lehrtätigkeit […] legen
genugsam Zeugnis davon ab.« Hartmann begriff »Schelers Stärke«
in der »Kraft stetigen Umlernens«; »auch von den Großen der Ge-
schichte haben nur wenige sie besessen. Mit ihr steht Scheler in einer

68 M. Scheler an Märit Furtwängler vom 3. Juli 1927, zit. n. W. Mader, Max Scheler in
Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, a. a. O., S. 123.
69 M. Scheler, Das emotionale Realitätsproblem (zu ›Idealismus – Realismus‹), GW 9,

S. 260.
70 Vgl. Schelers Auseinandersetzung mit Heidegger in dem Nachlaßtext: M. Scheler,

Das emotionale Realitätsproblem, GW 9, S. 254–294.


71 Plessner an Misch 7. 12. 1927, Nachlaß Plessner, Mappe 143.

Philosophische Anthropologie A 91
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Linie mit Denkern wie Fichte, Schelling, Nietzsche, ja wohl auch Pla-
ton.« Er erinnerte an die Wende Schelers von der (Religions-)Phäno-
menologie zur Wirklichkeit, die ihn zur Anthropologie und Sozio-
logie führte: »Die Schwere des Realitätsproblems, die ihn von Jahr
von Jahr mehr erfasste, zwang ihn zur Umorientierung. Das Problem
der Ontologie, das in diesen Jahren gleichzeitig in mehreren Köpfen
aufzuleben begann, hatte auch ihn erfasst. […] Das Gewicht der nie-
deren, ungeistigen Seinsmächte verlangte nach Anerkennung.« Bei
allem Umlernen war es ein »einziges zentrales Problem, das ihn auf
allen seinen verschlungenen Wegen zeitlebens geleitet hat: das Pro-
blem des Menschen. Psychologie und Metaphysik, Erkenntnistheorie
und Soziologie, Ethik und Ontologie – sie alle konvergierten ihm in
dem einen großen Gegenstande, dem Fernsten und dem zugleich
Nächsten. Von dieser groß angelegten Konvergenz Rechenschaft zu
geben, war der Plan der Anthropologie.« Und Hartmann schloss:
»Die Frucht zu ernten, blieb ihm versagt. Wie es im kleineren war
zu seinen Lebzeiten, dass andere Früchte ernten konnten, die er auf-
gezogen, so scheint es nun bei seinem Tode auch dem eigentlich Zen-
tralen seiner Lebensarbeit werden zu wollen. Ein Überreichtum ge-
danklichen Gutes ist das Erbe Schelers, das der Nachwelt zufällt. An
ihr wird es sein, das Erbe anzutreten.« 72 »Max Scheler war« – so
M. Heidegger wiederum in seinem Nachruf zu Beginn des Sommer-
semesters 1928 – »die stärkste philosophische Kraft im heutigen
Deutschland, nein, im heutigen Europa – sogar in der gegenwärtigen
Philosophie überhaupt. […] Max Scheler ist tot. Wir beugen uns vor
seinem Schicksal. Abermals fällt die Philosophie ins Dunkel zu-
rück.« 73 Das waren nur zwei der vielen öffentlichen Stimmen zu
Schelers Tod. Plessner äußerte sich privat, in einem Brief an König:
»Daß es mit Scheler so rasch zu Ende gehen würde, ahnte niemand
[…]. Es hat mich doch sehr getroffen. Auch die Beisetzung selbst […]
war tief traurig. So sehr ich überzeugt war und bin, daß er über-
schätzt worden ist und natürlich jetzt erst recht, so sicher bleibt, daß
er eine rätselvolle Gabe des Wirkens besaß, eine Art objektiven
Charme, eine Gabe der Bezauberung in der Schicht zwischen Wis-

72 N. Hartmann, Max Scheler (1928), in: Ders., Kleinere Schriften, Bd. III, Berlin 1958,
S. 350-357.
73 M. Heidegger, Andenken an Max Scheler (Worte aus dem Nachruf zu Beginn einer

Marburger Vorlesungsstunde (Sommersemester 1928 am 21. Mai)), in: P. Good (Hrsg.),


Max Scheler im Gegenwartsgeschehen der Philosophie, Bern/München 1975, S. 9.

92 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Durchbruch (1927/28)

senschaft und Literatur. Mir sehr vertraut, allzu verständlich, sehr


suspekt. Und doch musste ich den Mann irgendwo lieb haben, ohne
ihn ganz bewundern zu können.« Und Plessner fügt an, als hoffte er
leise auf eine nachträgliche Versöhnung des schweren Konflikts um
den Ursprung der neuen Philosophischen Anthropologie: »Von mir
soll er noch sehr nett gesprochen haben, erkundigte sich bei Bekann-
ten nach mir und hatte seinem Seminar ein Referat über die ›Stufen‹
aufgegeben.« 74

74 Plessner an König 29. 5. 1928, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef Kö-
nig/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 191.

Philosophische Anthropologie A 93
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

1.3 Interregnum (1928–1934)

In der Zeit unmittelbar nach Auftauchen der Philosophischen An-


thropologie kommt es zu einer Merkwürdigkeit. Tatsächlich ereignet
sich mit dem Erscheinen von Schelers und Plessners Schriften unter
dem programmatischen Titel »Philosophische Anthropologie« eine
Umorientierung in der Philosophie – eine »anthropologische Wen-
de« 1 . In Frankfurt liest bereits 1928/29 Fritz Heinemann zu »Einem
Grundriß der Geschichte der philosophischen Anthropologie als Ein-
führung in die Probleme der philosophischen Anthropologie« 2 ; Erich
Rothacker hält in Bonn im Sommer 1929 eine »Übung zur Geschich-
te und Theorie der philosophischen Anthropologie«, der Freyer-
Schüler Gunther Ipsen in Leipzig, Adolf Vierkandt in Berlin lehren
1929 und 1930 zur »Philosophischen Anthropologie«, in Marburg
doziert Karl Löwith über »Anthropologische Grundbegriffe der Psy-
choanalyse« (1929), über »Nietzsches philosophische Anthropolo-
gie« (1931) und zum Thema »Der deutsche Idealismus in der Epoche
der Aufklärung und die Verwandlung in die Lehre vom Menschen
und von der Gesellschaft‹ (1931/32); der Scheler-Schüler Paul Lands-
berg in Bonn 1930/31, der Rechtsphilosoph Carl Emge 1931/32 in
Jena, Alfred Bäumler in Dresden 1932 bieten Lehrveranstaltungen
unter dem Titel »Philosophische Anthropologie« an, der Cassirer-
Schüler Joachim Ritter behandelt 1932 in Hamburg »Grundfragen
der Lehre vom Menschen«. 3 Aber in dem Feld, das sich damit neu
anordnet, führt in dem fraglichen Zeitraum – 1928 bis etwa Mitte/
Ende der 30er Jahre – nicht der Denkansatz Philosophische Anthro-
pologie, sondern es dominieren andere Denkrichtungen: die Exis-
tenzphilosophie, zunächst im Gefolge von Heidegger, dann auch von
Jaspers, und die sog. »irrationalistische« Lebensphilosophie, u. a.
durch das Werk von Ludwig Klages, aber auch die hermeneutische
Lebensphilosophie der Dilthey-Schule, für die B. Groethuysen 1931

1 Kennzeichnung von F. Seifert, Zum Verständnis der anthropologischen Wende in der


Philosophie, in: Blätter für Deutsche Philosophie, Jg. VIII (1935), S. 393–411.
2 Heinemann versammelte auch bereits 1929 in einer von Erich Rothacker organisier-

ten Reihe Schriften von W. v. Humboldt zu dem Band »Wilhelm von Humboldts Phi-
losophische Anthropologie und Theorie der Menschenkenntnis«, hrsg. u. eingeleitet v.
F. Heinemann (Philosophie und Geisteswissenschaften, hrsg. v. E. Rothacker, Bd. 7),
Halle 1929.
3 Die Angaben nach Ch. Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer

Republik und im Dritten Reich. Teil 1 und 2, Berlin 2002, S. 1201–1225.

94 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Interregnum (1928–1934)

unter dem disziplinären Titel »philosophische Anthropologie« reprä-


sentativ einen ideengeschichtlichen Abriss der Selbstthematisierung
des Menschen vorlegt. 4 Vorgreifend kann man sagen, dass diese Re-
tardation des Denkansatzes kurz nach seinem Auftauchen eine wich-
tige Bedingung der Möglichkeit von bedeutenden Neueinsätzen der
Philosophischen Anthropologie in der 30er Jahren sein wird. Erst
einmal kam es aber zu einer Krise der Philosophischen Anthropolo-
gie – noch in den fünf Jahren vor 1933 –, die also nicht unmittelbar
mit den politischen Gründen nach 1933 zu tun hatte. Beschränkt man
sich, wie es hier geschieht, ganz konsequent darauf, allein die Realge-
schichte des Ansatzes zu erzählen, lassen sich für die ausbleibende
Verstetigung und Repräsentanz des Ansatzes zwei Hintergründe zei-
gen. Zum einen ist das Publikum eher ansprechbar für die durch die
Scheler-Plessnersche Arbeit überhaupt ausgelöste »anthropologische
Wende«, die ein breites Spektrum von Strömungen sichtbar werden
lässt, als für einen spezifischen Denkansatz Philosophische Anthro-
pologie. Zum anderen verhindern interne Blockaden und konkrete
Kabalen die Verstetigung des Ansatzes, z. B. in Form von Lehrstuhl-
besetzungen oder von Arbeitsbündnissen. Paradigmatisch dafür ist
die unterbliebene Konjunktion von Cassirer und Plessner.

Zunächst kam es durch den temperamentvollen Anschub von Scheler


und Plessner tatsächlich zu einer »Anthropologisierung« der Phi-
losophie, d. h. genauer gesagt, ihr Doppelauftritt lieferte dem interes-
sierten Publikum ein Stichwort, das ihm ermöglichte, zu begreifen,
was sich insgesamt, also über Scheler und Plessner hinaus, in der
Philosophie tat. 5 Dabei war übrigens hinsichtlich der beiden – jeden-
falls soweit man den veröffentlichten Reaktionen entnehmen kann –
von vornherein immer von Schelers letzten Arbeiten und der ihm
nahe stehenden Denker die Rede, wodurch Plessner eher als Anony-
mus schattiert wurde, dem Unternehmen des jäh verstorbenen Sche-

4 B. Groethuysen, Philosophische Anthropologie (1928), unveränd. Nachdruck Darm-


stadt 1969.
5 G. Meyer, Auf dem Wege zu einem neuen Bild des Menschen. Der heutige Stand der

philosophischen Anthropologie, in: Hamburger Fremdenblatt, 7. 4. 1928 (Beil. zu


Nr. 98). – A. Buchenau, Zur Grundlegung der modernen philosophischen Anthropolo-
gie, in: Geisteskultur (Berlin/Leipzig), 38 (1929), S. 142–147. – Th. Haering, Die phi-
losophische Bedeutung der Anthropologie, in: Blätter für Deutsche Philosophie Jg. 3
(1929/30), S. 1–32.

Philosophische Anthropologie A 95
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

ler damit aber doch einen ereignishaften Ausstrahlungshof bei-


gebend.

Außerdem aber ereignete sich im philosophischen Feld seit 1927 die


überwältigende Resonanz auf Heideggers ›Sein und Zeit‹ 6 , das, ohne
sich philosophische Anthropologie nennen zu wollen, die Aufmerk-
samkeit des Publikums als eine solche gegenüber der explizit auftre-
tenden Philosophischen Anthropologie auf sich zog. Heideggers
»existentielle Analytik« sprach das philosophierende Subjekt aus
nächster Nähe an, indem es nicht den Verstand, nicht die Wissen-
schaft, nicht das organische Leben, sondern das individuelle, existen-
tielle Erleben – aus seiner Durchschnittlichkeit in die je eigene Aus-
nahme gerufen – als den Ermöglichungsort der Seinsfrage und damit
philosophischer Wahrheit präparierte. Untrügliches Indiz für die
echte Resonanz des Heideggerschen Philosophierens beim philoso-
phierenden Publikum ist Plessners Freund Josef König, der Anfang
1928 Heideggers Buch und Plessners Buch parallel las. Bei aller An-
erkennung von Plessners Ansatz – »Ihr herrliches Buch« – bleibt er
doch distanziert gegenüber der künstlichen Fernstellung von Pless-
ners philosophischem Blick auf das »lebendige Ding« – und kann sich
seiner philosophischen Begeisterung für Heideggers Denkungsart
(»finde Heidegger überraschend gut! Das habe ich doch nicht erwar-
tet.«) in den Briefen an Plessner kaum enthalten 7 . Wichtig für die
»anthropologische Wende« wurde nun, dass Heideggers Analytik
des »Daseins« mit seiner Grundbefindlichkeit der Angst, die seiner
Absicht nach fundamentalontologisch das Tor zur neu gestellten
Seinsfrage – der eigentlichen philosophischen Aufgabe – sein sollte,
entgegen seiner eigenen Absicht als philosophische Anthropologie
verstanden wurde. Schon in der Vermeidung des Ausdrucks ›Mensch‹
übte Heidegger grundsätzliche Kritik an der Möglichkeit einer »phi-
losophischen Anthropologie«, insofern hier vom (menschlichen)
»Dasein« »als Fall und Exempel einer Gattung von Seiendem als Vor-
handenem« 8 die Rede sein müsse. Durch den Ansatzpunkt des phi-

6 M. Heidegger, Sein und Zeit. Erste Hälfte, Halle 1927.


7 König an Plessner 26. 1. 1928 u. 20. 2. 1928, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher
(Hrsg.), Josef König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 165–172.
8 M. Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 42. – Vgl. M. Grossheim, Heidegger und die

Philosophische Anthropologie (Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen), in:


D. Thomä (Hrsg.), Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar
2003, S. 333–337.

96 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Interregnum (1928–1934)

losophisch Fragenden bei der eigenen Nähe hingegen, der »Existenz«


des Menschen, vermied Heidegger jeden entfremdenden Objektivis-
mus und schien damit der Scheler-/Plessnerschen Anthropologie, die
im Beobachtungsansatz beim organischen Leben zur Dinglichkeit
oder zur »Vorhandenheit« neigte, überlegen. »Philosophische An-
thropologie« war ein Fehlansatz, insofern sie mit objektivierender
Einstellung einer Biologie oder Psychologie auf das »Dasein« zugriff;
demgegenüber räumte Heidegger allein die Möglichkeit einer »exis-
tentialen Anthropologie« 9 ein. Schon 1929 war für die Zeitgenossen
»Existenzphilosophie« als eine prägnante Position kenntlich einge-
führt und in der fortschreitenden Reihenbildung »Geist-Leben-Exis-
tenz« als die überlegene Position einer »Philosophie der Gegenwart«
markiert. 10 Dieser ihr Anspruch wird 1932 verstetigt werden, wenn
K. Jaspers, der sich ja seit Beginn der 20er Jahre mit Heidegger in
einer »Kampfgemeinschaft« 11 gegen die dominante Philosophie v. a.
des Neukantianismus sah, seine ›Philosophie‹ vorlegt. 12 Auch für Jas-
pers überschritt Philosophie ihre bis dahin geltende Ausrichtung an
Wissenschaften und deren Weltorientierung durch den Ansatz bei
der »Existenz«, wobei die »Existenzerhellung«, die zum Verhalten
des Selbst zu seinem eigenen Selbstseinkönnen führt, v. a. durch die
Erfahrung von »Grenzsituationen« (Tod, Leiden, Kampf, Schuld) er-
möglicht gedacht wurde. Ein Schwerpunkt bei Jaspers lag auf der
»existentiellen Kommunikation«, dem direkten Verhältnis des Men-
schen zum Anderen. Das Publikum nahm Heidegger und Jaspers als
zwei eigenständige Ausarbeitungen einer neuartigen Denkrichtung
wahr, die sich respektierten und dadurch verstärkten, auch wenn es
nicht zu einer wirklichen Zusammenarbeit kam.
Allerdings lässt sich die Bedeutung des Schelerschen und Pless-
nerschen Anschubs einer »philosophischen Anthropologie« selbst im
Umkreis Heideggers auch darin erkennen, dass Karl Löwith, ein
Lieblingsschüler Heideggers, seine 1927 geschriebene Habilitation
über ›Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen‹ bei der Ver-

9 M. Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 183, 301.


10 F. Heinemann, Neue Wege der Philosophie. Geist – Leben – Existenz. Eine Einfüh-
rung in die Philosophie der Gegenwart, Leipzig 1929.
11 W. Biemel/H. Saner (Hrsg.), Martin Heidegger/Karl Jaspers. Briefwechsel 1920–

1963, Frankfurt a. M. 1990, Heidegger an Jaspers 21. 4. 1920, S. 15; Jaspers an Heidegger
6. 9. 1922, S. 32.
12 K. Jaspers, Philosophie. Philosophische Weltorientierung – Existenzerhellung – Me-

taphysik, Berlin 1932.

Philosophische Anthropologie A 97
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

öffentlichung 1928, also nach der »anthropologischen Wende«, auf


Heideggers eigenes Anraten mit einem anthropologischen Untertitel
versieht und in der Vorbemerkung ausdrücklich als »Grundstück
einer philosophischen Anthropologie« kennzeichnet. 13 Löwith, der
wie Plessner studierter Biologe und Philosoph war, entwickelte in
seiner Studie die These, dass der Mensch von seiner Natur her das
eigene Verhältnis zu sich als Individuum nur im Verhältnis zum An-
deren, und zwar nur im verselbständigten, rollenhaften Verhältnis
zum Anderen – als Vater, als Schüler etc. –, also immer notwendig
in der Verdeckung gewinne. Lag in dieser Anerkennung der indirek-
ten Vermitteltheit des Selbstverhältnisses schon eine gewisse Distanz
zur Existenzphilosophie, so war potentiell die Nähe zur Philosophi-
schen Anthropologie Schelerscher-Plessnerscher Provenienz noch
deutlicher in Löwiths entschiedenem Anschluss an die Philosophie
Feuerbachs mit seinen Prinzipien des Sensualismus und Altruismus,
womit er der Philosophischen Anthropologie potentiell eine Traditi-
onslinie gab, die sie im Ringen um einen neu einsetzenden Denk-
ansatz unbeachtet gelassen hatte. 14 Der Impuls von Scheler und
Plessner lässt sich in der Variante einer Naturalisierung der Existenz-
philosophie auch beim jungen Günter Stern (seit 1930: Anders) er-
kennen, der – Schüler von Husserl und Heidegger – von Plessner
bereits 1926 mit einem Aufsatz in den ›Philosophischen Anzeiger‹
geholt wurde. 15 Auch seine ›Phänomenologie des Zuhörens‹ (1927) 16
zeigt Nähe zu Plessners ›Ästhesiologie des Geistes‹ von 1923, die
durch die »Ästhesiologie des Gehörs« dem nichtsprachlichen Medi-
um der Musik systematische Geltung in einer »Theorie des Geistes«,
in einer Kulturphilosophie zu verschaffen suchte. Ende der 20er Jahre

13 K. Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. Ein Beitrag zur anthro-
pologischen Grundlegung der ethischen Probleme, München 1928, zit. nach K. Löwith,
Sämtliche Schriften, hrsg. v. K. Stichweh/M. B. de Launay, Bd. 1: Mensch und Men-
schenwelt. Beiträge zur Anthropologie, Stuttgart 1981, S. 11.
14 Die Zeit des Interregnums ist auch die Zeit der Seitenwechsel: Während der Heideg-

ger-Schüler Löwith zur Scheler-Plessnerschen Anthropologie tendiert, wird der Scheler-


Schüler P. L. Landsberg, der seit 1928 in Bonn als Privatdozent auch über philosophische
Anthropologie liest, v. a. unter dem Eindruck von K. Jaspers zur Existenzphilosophie
übergehen: P.-L. Landsberg, Einführung in die philosophische Anthropologie, Frankfurt
a. M. 1934.
15 G. Stern, Über Gegenstandstypen, in: Philosophischer Anzeiger, Jg. 1 (1925/26),

S. 359–381.
16 G. Stern, Zur Phänomenologie des Zuhörens, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft,

Jg. 9 (1927), S. 610–619.

98 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Interregnum (1928–1934)

mit philosophischer Anthropologie und Kunsttheorie beschäftigt,


legt Stern seine angestrebte Verbindung von Naturphilosophie und
philosophischer Anthropologie 1929/30 vor der Kantgesellschaft in
Hamburg und Frankfurt in zwei Vorträgen über ›Die Weltfremdheit
des Menschen‹ vor, die allerdings erst Mitte der 30er Jahre in franzö-
sischer Fassung erscheinen werden. 17 In unverkennbarer Kenntnis
von Plessners Buch, ohne es allerdings zu erwähnen, kontrastiert
Stern die menschliche Grundsituation mit dem pflanzlichen und tie-
rischen In-der-Welt-Sein. Er kennzeichnet sie als »distanzierte Inhä-
renz« 18 im Vergleich zum apriorischen In-der-Welt-Sein des Tieres,
das allerdings bereits einen geringeren ›Integrations-Koeffizienten‹
bzw. höheren Bewegungsspielraum als die in der Umgebung verwur-
zelte Pflanze aufweist. Als Naturwesen vom natürlichen Grund ab-
gerissen, findet sich das menschliche Lebewesen nicht in der Welt,
sondern »fremd« in der Welt – »weltfremd« – vor, unfestgelegt und
deshalb ›zur Freiheit verurteilt‹. Freiheit gründet in der Sonderstel-
lung des Menschen in der Natur, in der »distanzierten Inhärenz«,
durch die er – z. B. bereits in der visuellen Wahrnehmung – von der
Natur ›gehabt‹ in der Distanz zu ihr sie erst als Natur ›haben‹ kann:
»L’être détache de la nature, l’homme, qui n’est pas que nature, ren-
contre une nature.« 19 Durch Produktion einer »künstlichen Natur«
muss der Mensch etwas aus sich selbst machen, ein Etwas machen,
sich »definieren«. 20 Ebenso wie bei Hans Jonas und Hannah Arendt,
mit denen G. Stern durch sein Studium bei Heidegger vertraut war,
wird bei ihm das Scheler-Plessnersche Projekt der Philosophischen
Anthropologie erst viel später wirklich produktiv werden.

Neben der Rezeption der Existenzphilosophie vermochte das Publi-


kum weiterhin nun unter dem Leitbegriff der »anthropologischen
Wende« die seit 1929 äußerst konsequent vorgetragene Lebensphi-
losophie im Werk von Ludwig Klages zu verstehen. Während Heideg-
ger die »Existenz« – die Einzigkeit jedes Menschen – gegen die

17 G. Stern, Une interprétation de l’a posteriori, in: Recherches Philosophiques, IV


(1934/35), S. 65–80. Ders., Pathologie de la Liberté. Essai sur la non-identification, in:
Recherches Philosophiques, VI (1936/37), S. 22–54. – M. Lohmann, Philosophieren in
der Endzeit. Zur Gegenwartsanalyse von Günther Anders, München 1996, S. 140–171.
18 Der Ausdruck »inhérence distancée« bei G. Stern, Une interprétation de l’a posterio-

ri, a. a. O., S. 69.


19 Ebd., S. 73.

20 M. Lohmann, Philosophieren in der Endzeit, a. a. O., S. 142.

Philosophische Anthropologie A 99
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Abstraktheit des Begriffs wendete, führte Klages in seiner die spät-


romantischen Impulse für den deutschsprachigen Raum ausformulie-
renden Philosophie die Vitalgrundlagen i. S. des unbewusst »erleben-
den Lebens« des Menschen gegen den Logos ins Feld. Klages’ Ansehen
stützte sich auf seine Grundlegung ausdruckspsychologischer For-
schung 21 , die er methodisch um die Formel aufbaute: »Der Leib ist
die Erscheinung der Seele, die Seele ist der Sinn des Leibes.« Damit
nun ein Bewusstsein entstehe, »muß zur raumzeitlichen Vitalität des
individuellen Lebensträgers eine außerraumzeitliche Macht hinzu-
getreten sein, die mittelst zeitlich unausgedehnter Taten eine Gruppe
von Lebensvorgängen spaltet […]. Die deswegen anzunehmende
Verschiedenheit des bewußtseinsfähigen Lebensträgers vom nicht-
bewußtseinsfähigen Lebensträger haben wir anderswo mit dem
Gleichnis ›einer Verschiebung des Lebensmittelpunktes‹ beschrieben,
welcher gemäß die Seele als der Mittelpunkt eines Lebensspielraumes
– nunmehr exzentrisch geworden – um ein neues Zentrum zu kreisen
habe.« 22 Anders als Scheler und Plessner spitzt er im seit 1929 erschei-
nenden philosophischen Hauptwerk unter dem prägnanten Titel ›Der
Geist als Widersacher der Seele‹ – »Widersacher« auch mit einer dia-
bolisch-destruktiven Mitbedeutung – seine schon länger kursierende
These zu, »daß Leib und Seele untrennbar zusammengehörige Pole
der Lebenseinheit sind, in die von außen her der Geist, einem Keil
vergleichbar, sich einschiebt, mit dem Bestreben, sie untereinander
zu entzweien, also den Leib zu entseelen, die Seele zu entleiben und
dergestalt endlich alles ihm irgend erreichbare Leben zu ertöten.« 23
Klages’ Grundgedanke eines prälogischen Raumes der »Bilder«, in
deren Wirklichkeit das erlebende Leben der menschlichen Leibseele
vor allen gegenstandsgerichteten Begriffen des Geistes fundiert sei,
war verknüpft mit der kulturkritischen These zum Fortschritt des abs-
trahierenden Begriffs als »siegreich fortschreitendem Kampf des
Geistes gegen das Leben mit dem logisch absehbaren Ende der Ver-
nichtung desselben«. 24 Das konnte nun vom Publikum als eine an-

21 L. Klages, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, 2. Aufl. Leipzig 1921.


22 L. Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, Bd. II: Leben und Denkvermögen,
Leipzig 1929, S. 746. Klages verweist hier auf seine Schrift ›Wesen des Bewußtseins‹,
a. a. O., S. 41–42.
23 L. Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, Bd. I, Leipzig 1929, S. VII.

24 Ebd., 68 f.

100 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Interregnum (1928–1934)

thropologische Restitution der Philosophie verstanden werden. 25


Scheler hatte bereits in der ›Stellung des Menschen im Kosmos‹ mit
Bezug auf Klages die Differenzlinie zwischen Lebensphilosophie und
Philosophischer Anthropologie klar gezogen: »Geist und Leben sind
aufeinander hingeordnet – es ist ein Grundirrtum, sie in eine ur-
sprüngliche Feindschaft, einen ursprünglichen Kampfzustand zu brin-
gen.« 26 Plessner zog die Auseinandersetzung um Klages auch in sei-
nen ›Philosophischen Anzeiger‹, indem er 1928/29 eine vergleichende
Studie zu Husserl und Klages zur Veröffentlichung brachte. 27

Spannend wurde nun in dieser Situation, in der die durch das Scheler-
Plessnersche Vorgehen ausgelöste »anthropologische Wende« von
»Existenzphilosophie« und »Lebensphilosophie« dominiert zu wer-
den schien, der Eintritt von Ernst Cassirer in die anthropologische
Konstellation. Ob die Philosophische Anthropologie unmittelbar
nach Schelers Tod ein wirkungsvoller, fruchtbarer Denkansatz wer-
den, Repräsentanz gewinnen konnte, hing – so könnte man im nach-
hinein sagen – an Cassirers Votum. Allerdings wird die Bedeutung
seiner Rolle auch nur im Nachhinein durchsichtig, weil sich Cassirers
erhebliche Einschaltung in den neuen Denkansatz nur teilweise co-
ram publico vollzog und erst Jahrzehnte später aus seinem Nachlass
deutlich wird.
Der vom Neukantianismus geprägte Cassirer war 1919 auf
Grund seines Ansehens, das ihm seine philosophiehistorischen und
systematischen Werke eingetragen hatten, an die neu gegründete
Hamburger Universität berufen worden. Dort hatte er seitdem kon-
sequent sein Projekt, die Verwandlung der Kantischen Vernunftkri-
tik des wissenschaftlichen Erkennens in eine breiter fundierte Kultur-
kritik des schöpferischen menschlichen Geistes, systematisch als
›Philosophie der symbolischen Formen‹ in Teilbänden ausgearbeitet
und vorgelegt (›Die Sprache‹ 1923; ›Das mythische Denken‹ 1925). 28
Im Zusammenhang mit dem Abschluss des dritten Bandes ›Phäno-
menologie der Erkenntnis‹ (1927 abgeschlossen, 1929 veröffentlicht)

25 Ph. Lersch, Lebensphilosophie der Gegenwart (Philosophische Forschungsberichte


H. 14), Berlin 1932.
26 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 67.
27 G. Walther, Ludwig Klages und sein Kampf gegen den ›Geist‹, in: Philosophischer

Anzeiger Jg. 3 (1928/29), S. 48–90.


28 E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 1923–1929. Nachdr. Darm-

stadt 1956–1958.

Philosophische Anthropologie A 101


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

war es nun Cassirers zentrales Motiv, den Grundgedanken seines


Hauptwerkes zu verdichten und zur Gesamtheit der Philosophie der
Gegenwart ins Verhältnis zu setzen. Nachdem er in den drei Bänden
der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ der nicht aufeinander
rückführbaren Mannigfaltigkeit »symbolischer Formen« (v. a. Spra-
che, Mythos, Wissenschaft) nachgegangen war, in denen der Mensch
mit der Welt in Beziehung tritt oder vielmehr in einem symbolischen
Universum seine Welt und sich selbst erst schafft, kam er auf das
Problem der Einheit der symbolischen Formen zurück.
In einem diesbezüglichen Typoskript zur ›Metaphysik der sym-
bolischen Formen‹ von Anfang 1928 sucht er diesen Einheitspunkt
zunächst im Begriff des »Lebens«, um von hier aus allerdings eine
ausführliche Kritik an den lebensphilosophischen Geistkonzeptionen
von Simmel und vor allem von Klages durchzuführen. In einem zwei-
ten Schritt – unter dem Titel ›Das Symbolproblem als Grundproblem
der philosophischen Anthropologie‹ – fasst er nun seine »Philosophie
der symbolischen Formen« dezidiert als ein Projekt der »philosophi-
schen Anthropologie«, die insbesondere durch die »letzten Arbeiten
Schelers und der ihm nahe stehenden Denker« gegen die naturalis-
tisch-evolutionistische Einseitigkeit der Anthropologie wieder an
den Anspruch der »philosophischen Anthropologie« der Kantischen
Denkungsart herangeführt worden sei. Die »›philosophische Anthro-
pologie‹« – Cassirer zitiert hier ausführlich Plessner – »soll sich jetzt
in einer doppelten Richtung entfalten und gewissermaßen in eine
zweifache Dimension erstrecken, indem sie den Menschen nicht nur
als Subjekt-Objekt der Natur, sondern zugleich als Subjekt-Objekt der
Kultur begreift«, eine Erkenntnis, »die den Doppelaspekt seines Da-
seins nicht etwa aufhebt oder vermittelt, sondern aus einer Grund-
position begreift.« Und Cassirer fährt fort: »Wird die Aufgabe der
philosophischen Anthropologie in diesem Sinne verstanden, so er-
scheint damit der Kreis der Fragen, der sie umspannt, unserem eige-
nen Problem unmittelbar nahe gerückt.« 29 Gerade in dem Punkt der
Wendung zur Gegenständlichkeit als der eigentlichen Grenzscheide
zwischen der Welt des Menschen und der aller anderen organischen
Wesenheiten »lassen sich nun die Ergebnisse einer kritisch gesinnten
und kritisch fundierten Naturphilosophie unmittelbar an die Ergeb-

29E. Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hrsg. v. J. M. Krois, in: Ders.,
Nachgelassene Manuskripte und Texte, hrsg. v. J. M. Krois u. O. Schwemmer, Bd. 1,
Hamburg 1995, S. 35 f.

102 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Interregnum (1928–1934)

nisse der Philosophie der symbolischen Formen anknüpfen und als


mittelbare Bestätigung für deren Grundthese gebrauchen.« Und Cas-
sirer weiter: »Dieser Zusammenhang tritt jetzt vor allem in Plessners
Darstellung der ›philosophischen Anthropologie‹ hervor, deren Resul-
tat sich mit dem unsrigen aufs nächste berührt, wenngleich es auf
einem durchaus anderen Wege gewonnen ist. […] Auch mit Schelers
Grundanschauung glaube ich mich hier, so weit ich sie mir aus der
bisher allein vorliegenden kurzen Skizze seiner Anthropologie ver-
deutlichen konnte, in prinzipieller Übereinstimmung zu befinden.« 30
In der Absicht, seine »Philosophie der symbolischen Formen« in der
Gesamtarbeit der Gegenwartsphilosophie kritisch zur Geltung zu
bringen (Cassirer kritisiert noch die Versuche von Darwin, Uexküll
und Bergson als unangemessen bezüglich des spezifisch menschlichen
Verhältnisses von Leben und Geist), gelangt Cassirer zu einer dezi-
diert philosophisch-anthropologischen Bündelung der Ergebnisse sei-
ner Philosophie der symbolischen Formen, und zwar unter dem un-
mittelbaren Eindruck des Scheler-Plessnerschen Durchbruchs, der es
ihm ermöglicht, seine »Philosophie der symbolischen Formen« als
eine eigene Grundlegung der philosophischen Anthropologie ein-
zubringen. Er schließt dieses Typoskript (mit seinem entschiedenen
Anschluss an einen philosophisch-anthropologischen Denkansatz),
das er als »Schlußabschnitt« des 3. Bandes der ›Philosophie der sym-
bolischen Formen‹ vorsieht, am 16. April 1928 ab. V. a. aus Gründen
des Gesamtumfangs dieses dritten Bandes verzichtet er dann bei des-
sen Publikation 1929 allerdings auf diesen Teil, kündigt aber in der
Vorrede dazu dessen baldige Veröffentlichung unter dem Titel »›Le-
ben‹ und ›Geist‹ – zur Kritik der Philosophie der Gegenwart« 31 an.

Als es nun im März/April 1929, ein Jahr nach der Publikation von
Schelers und Plessners Grundschriften und nach Schelers Tod, in Da-
vos bei den Internationalen Hochschulwochen innerhalb einer »Ar-
beitsgemeinschaft« zu den spektakulären Debatten zwischen Heideg-
ger und Cassirer kommt 32 , steht zwar die Frage nach dem Menschen

30 Ebd., S. 60.
31 E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der
Erkenntnis (1929), Darmstadt 1954, S. IX. Vgl. J. M. Werle, Ernst Cassirers nachgelas-
sene Aufzeichnungen über ›»Leben« und »Geist« – Zur Kritik der Philosophie der Ge-
genwart‹, in: H.-J. Braun/ H. Holzhey/ E. W. Orth (Hrsg.), Über Ernst Cassirers Phi-
losophie der symbolischen Formen, Frankfurt a. M. 1988, S. 274–289.
32 Vgl. K. Gründer, Cassirer und Heidegger in Davos 1929, in: H.-J. Braun/H. Holzhey/

Philosophische Anthropologie A 103


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

thematisch im Zentrum: »Anthropologie ist heute denn auch längst


nicht mehr der Titel für eine Disziplin, sondern das Wort bezeichnet
eine Grundtendenz der heutigen Stellung des Menschen zu sich
selbst und im Ganzen des Seienden. Gemäß dieser Grundstellung ist
etwas nur erkannt und verstanden, wenn es eine anthropologische
Erklärung gefunden hat. Anthropologie sucht nicht nur die Wahrheit
über den Menschen, sondern beansprucht jetzt die Entscheidung da-
rüber, was Wahrheit überhaupt bedeuten kann« – so Heidegger unter
dem Eindruck des Vorstoßes von Scheler und Plessner in seinem im
gleichen Jahr erscheinenden Kant-Buch. 33 Die Davos-Disputation ist
also sichtbarster Ausdruck der sogenannten »anthropologischen
Wende« –, aber die inspirierende Idee der Philosophischen Anthro-
pologie verflüchtigt sich in dieser Konstellation. Scheler ist tot, und
Plessner nicht geladen. Neben vielen aufmerksamen jüngeren Köp-
fen (E. Fink, E. Levinas, O. F. Bollnow, J. Ritter) ist unter den Zu-
hörern (und Diskutant mit Heidegger und Cassirer) auch das Mit-
glied des positivistischen Wiener Kreises, der junge Rudolf Carnap,
präsent. 34 Im Vordergrund der zwischen Cassirer und Heidegger kol-
legial und mit gegenseitigem Respekt geführten Debatte steht die
Kantinterpretation, das Verhältnis des Verstandes zur Sinnlichkeit,
also die Stellung des neuen Philosophierens zum Neukantianismus
und damit auch die Frage der Konkretisierung der Transzendental-
philosophie. Heidegger trägt – im Gewande einer Kantinterpretation
– entschieden seine Existenzanalytik als »Grundlegung einer Meta-
physik« vor. Sie lässt den Menschen sich in seiner Endlichkeit, als das
durch Angst und das »Todesproblem« ins Nichts hineingehaltene
»Dasein« verstehen, um durch diese Öffnung des Bodens der Alltäg-
lichkeit in den Abgrund die philosophische Frage nach dem Sein neu
ermöglichen zu können. Diesen Grundgedanken verknüpft er mit
einer scharfen Kritik an der kursierenden Idee der ›philosophischen
Anthropologie‹ : Wenn der Mensch sich als empirisch gegebenes Ob-
jekt – in Verarbeitung wissenschaftlicher Erkenntnisse – in seinem
Wesen fassen will, wiegt er sich in falscher Sicherheit, statt sich aus
der zentralen Problematik der Philosophie – der Frage nach dem Sein

E. W. Orth (Hrsg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, a. a. O.,
S. 290–302.
33 M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik (1929), Frankfurt a. M. 1951,

S. 189.
34 M. Friedmann, Carnap, Cassirer, Heidegger. Geteilte Wege, Frankfurt a. M. 2004.

104 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Interregnum (1928–1934)

– ins Ganze des Seienden zu wagen. Cassirer antwortet zwar in sei-


nem Vortragszyklus zu »Grundproblemen der philosophischen An-
thropologie« im Namen einer ›philosophischen Anthropologie‹, aber
in Abwehr der radikalen Position Heideggers, den Menschen um der
Seinsbegegnung willen als »Platzhalter des Nichts« aus dem sym-
bolischen Universum freizusprengen, trägt er unter dem Mantel der
›philosophischen Anthropologie‹ doch einen rein kulturphilosophi-
schen Ansatz vor, eine konsequent neukantianische Argumentation
des vernunftbegründeten Kulturidealismus: Durch die Kultur bzw.
die symbolischen Formen, durch dieses selbstgebaute Haus des Men-
schen, zeigt sich der Mensch in seiner objektivitätsfähigen, all-
gemeingültigen Leistung, welche ihm Freiheit ermöglicht. Ganz
deutlich schließlich wird Cassirers inzwischen gebildete Distanz
zum Projekt einer Philosophischen Anthropologie, deren naturphi-
losophische Inspiration ihn noch ein Jahr zuvor so touchiert hatte,
in seinem ebenfalls in Davos gehaltenen Vortrag zum ›Gegensatz
von Geist und Leben in Schelers Philosophie‹. Er kritisiert nun einen
zu stark lebensphilosophisch geprägten Schelerschen Begriff des
Geistes, dessen Neinsagenkönnen sich nur mit Bezug auf das Vitale
konstituiere, zugunsten eines Begriffes des Geistes, der in sich selbst
negationsfähig sei und in seiner symbolsetzenden Macht die Welt-
offenheit aus sich heraus stifte.

Nach Davos lässt sich die Lage so kennzeichnen: Die »anthropologi-


sche Wende« ist bestätigt, aber die Kritik gegen die Möglichkeit der
Philosophischen Anthropologie als einem spezifisch naturphiloso-
phischen Denkansatz, wie er parallel bei Scheler und Plessner for-
muliert war, zieht sich zusammen. Heidegger wird in seinem Kant-
buch, das in Erinnerung an ein letztes Gespräch, in dem er die
»gelöste Kraft dieses Geistes« spüren durfte, »dem Gedächtnis Max
Schelers gewidmet« ist, massiv seine – von da an für die Existenz-
philosophie verbindliche – »Kritik der Idee der philosophischen An-
thropologie« vortragen, wobei er sich vor allem auf Plessners An-
spruch bezieht, ohne ihn allerdings zu erwähnen. 35 Philosophische
Anthropologie »birgt die ständige Gefahr in sich, daß die Notwen-
digkeit verdeckt bleibt, die Frage nach dem Menschen in Absicht auf
eine Grundlegung der Metaphysik allererst als Frage auszubil-

35 M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik (1929), Frankfurt a. M. 1951,
S. 193.

Philosophische Anthropologie A 105


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

den.« 36 Andererseits ist Heidegger doch dermaßen beeindruckt durch


das Scheler-Plessnersche Vorgehen, dass er – halböffentlich – in sei-
ner Vorlesung 1929/30 in Freiburg einen naturphilosophischen Pro-
belauf des Vergleichs von »Stein«, »Tier« und »Mensch« unter-
nimmt, indem er unter Bezug auf Driesch, Uexküll und Buytendijk
Scheler und Plessner nachahmt, ohne sich mit ihnen direkt auseinan-
derzusetzen. 37 Später wird ein Rothacker-Schüler über diese Heideg-
ger-Vorlesung von 1929/30 urteilen: »Aus der existentialen Analytik
wird eine Anthropologie der exzentrischen Positionalität im Sinne
Plessners auf der Grundlage einer realistischen Weltauffassung.« 38
Cassirer wird seinen kritischen Davos-Vortrag zu Scheler, sorgfältig
ausgearbeitet, ebenfalls ohne Erwähnung der Plessnerschen ›Stufen‹,
als Aufsatz in der ›Neuen Rundschau‹ 1930 veröffentlichen. 39 Das
wird in diesem Zeitraum das einzige öffentliche Dokument seiner
›Geschichte‹ mit der Philosophischen Anthropologie bleiben. Aus
kontingenten Gründen kommt es nicht zur Veröffentlichung der
großen diesbezüglich ausgearbeiteten Texte, so dass Cassirer in den
Jahren vor 1933 mit seinem Hauptwerk nicht prägnant im Umfeld
einer Philosophischen Anthropologie in Erscheinung treten wird 40 ,

36 Ebd., S. 197.
37 M. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit
(WS 1929/30), in: Martin-Heidegger-Gesamtausgabe. II. Abteilung: Vorlesungen 1923–
1944, Bd. 29/30, hrsg. v. F.-W. v. Herrmann, Frankfurt a. M. 1983. Im 2. Teil der Vor-
lesung entwickelt er den Begriff der »Welt« und »Weltbildung« aus dem naturphiloso-
phischen Vergleich: Der Stein ist »weltlos«, das Tier ist »weltarm«, der Mensch ist
»weltbildend« (345). Entscheidend ist die mittlere These zum »Leben«, das Tier sei
»weltarm«: die Umwelt seines Körpers ist ein »Umring«, ein »Enthemmungsring«,
durch den Strebungen im Körper »entriegelt« werden; damit ist das Tier auf etwas
bezogen, aber es wird ihm nicht als etwas offenbar. Erst im Menschen hat das Leben
einen Spielraum, in dem die Umwelt auf Anderssein und Nichtsein durchsichtig wird.
Der Mensch ist inmitten des naturhaft verschlossenen Seins eine »offene Stelle« (529),
in der Welt sichtbar wird. – Heidegger wird diese naturphilosophischen Überlegungen
zum Organischen nicht veröffentlichen, aber in ihnen ist eine Kehre von der Daseins-
analytik zum Seinsdenken angedeutet, die allerdings nicht naturphilosophisch ausgear-
beitet werden wird.
38 H. Schmitz, Husserl und Heidegger, Bonn 1996, S. 389.

39 E. Cassirer, ›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart, in: Die Neue Rund-

schau, Jg. 41 (1930), S. 244–264.


40 1929/1930 war Cassirer als Rektor der Hamburger Universität in Anspruch genom-

men; im darauffolgenden Freisemester arbeitete er in der Pariser Nationalbibliothek an


der 1932 veröffentlichten ›Philosophie der Aufklärung‹. Erst im amerikanischen Exil –
mehr als 15 Jahre später – veröffentlicht Cassirer seinen auf seine Typoskripte von 1928
gestützten ›Essay on Man‹ (1944) als Versuch einer Zusammenfassung seiner Philoso-

106 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer

https://doi.org/10.5771/9783495999899
Interregnum (1928–1934)

sondern der neukantianisch gesonnene Repräsentant eines modifi-


zierten kritischen Kulturidealismus bleibt. 41 Mit der unterbliebenen
Veröffentlichung von Cassirers Sympathie für den Ansatz der Phi-
losophischen Anthropologie unterblieb auch eine andere Entdeckung
innerhalb der Autorengruppe: Wäre durch Cassirer der Moment der
Sammlung eingetreten, wäre sehr rasch die bereits erwähnte innere
Wahlverwandtschaft der Theorien des Geistes bei Scheler, Cassirer
und Plessner nun manifest und vielleicht folgenreich geworden;
Schelers Theorie der »Wissensformen« von 1925 mit der Unterschei-
dung von »Leistungswissen«, »Bildungswissen« und »Erlösungswis-
sen«, Cassirers »Philosophie der symbolischen Formen« von 1923
mit der Unterscheidung von Wissenschaft, Sprache, Mythos und
Plessners im gleichen Jahr konzipierte Unterscheidung von Formen
der ästhesiologisch verankerten »Sinngebungsweisen« (Geometrie,
Sprache, Musik) hatten jeweils eine systematische Pluralität von
nicht aufeinander rückführbaren Formen des Geistes rekonstruiert
und sich damit je auf ihre Weise von geschichtsphilosophischen Fort-
schrittstheorien des Geistes oder kulturkritischen Verfallstheorien
abgesetzt.

Die Merkwürdigkeit, dass der Scheler-Plessnersche Auftritt zwar


thematisch zu einer »anthropologischen Wende« in der Philosophie
und in einzelnen Wissenschaften führte, sich aber nicht als charakte-
ristischer Denkansatz unter dem Titel »Philosophische Anthropolo-
gie« gegenüber den anderen Strömungen Geltung verschaffen konn-
te, resultiert noch aus einem anderen, pragmatischen Hintergrund.
Die Krise der Philosophischen Anthropologie lag in der Art des kon-

phie der symbolischen Formen, wobei in dieser ›Introduction to a Philosophy of Human


Culture‹ aber die damaligen Bezugnahmen zur deutschen Philosophischen Anthropolo-
gie wegfallen. Zudem wird sein ›Essay on Man‹ erst 1960 zum ersten Mal ins Deutsche
übersetzt. Vgl. E. Cassirer, Was ist der Mensch? Versuch einer Philosophie der mensch-
lichen Kultur, Stuttgart 1960; in neuer Übersetzung E. Cassirer, Versuche über den
Menschen, Frankfurt a. M. 1990. Das hier herangezogene, auf die Philosophische An-
thropologie verweisende Typoskript wird erst 1995 aus dem Nachlaß veröffentlicht
(E. Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen). Vgl. zu Cassirers Ansatz einer
›philosophischen Anthropologie‹ G. Hartung, Das Maß des Menschen. Aporien der phi-
losophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassi-
rers, Weilerswist 2003.
41 Dem folgte auch die Kritik an der philosophischen Anthropologie durch den Cassirer-

Schüler J. Ritter, Über den Sinn und die Grenze der Lehre vom Menschen (1933), in:
Ders., Subjektivität, Frankfurt a. M. 1974, S. 36–61.

Philosophische Anthropologie A 107


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

fligierenden Durchbruches, die eine Durchsetzung des Ansatzes ver-


hinderte. Einerseits fehlte ihr mit Schelers Tod schlicht die charisma-
tische Verkörperung, die Leitfigur, das Zugpferd. Gleichzeitig hatte
die Öffentlichkeit von Scheler nur die zwar suggestive, aber doch
schmale, skizzenhafte, philosophisch nicht ausgearbeitete Schrift,
die wie ein Stellvertreter für die angekündigte große, nahezu aus-
geführte, aber noch nicht veröffentlichte Anthropologie aus dem
Nachlass stand. Andererseits war Plessners Durchbruch durch Sche-
lers öffentlichen Vorwurf in erheblichen Maße blockiert; das Gerücht
über das Plagiat war für die gesamte Geschichte der Philosophischen
Anthropologie äußerst folgenreich. Es gewann durch Schelers Tod
sogar noch ein gewisses Gewicht und wurde in seinem lawinenarti-
gen Zuschnitt von Plessner auch erst spät erkannt. In einem Brief von
Josef König an Plessner von August 1929 – also zu einem Zeitpunkt,
als die Rezeption der Philosophischen Anthropologie ihren ersten
Höhepunkt hätte erreichen können – liegt der Komplex offen zutage:
»Ich möchte heute Ihnen noch ganz im Vertrauen einiges berichten.
Klostermann, der junge, war neulich hier bei Misch; ich war zufällig
auch da. Dabei kam durch ihn die Rede auf Ihre Scheler-Stufen-Dif-
ferenzen. Ich sage Ihnen nichts Neues – leider – wenn ich andeute das
Alberne und An sich Dumme, daß sich anscheinend in Köln und
Bonn mit leichten Filiationen anderswohin das Gerede redet, Sie hät-
ten bei Scheler doch allerhand Anleihen gemacht, die nicht schön
wären. Ich schreibe Ihnen das, weil ich vermute, daß Sie darunter,
wie nur zu verständlich wäre, leiden. Und da will ich Ihnen nur sagen,
daß Sie bedenken müssen, daß es auch noch Leute gibt, die – nicht
aus einfachem blindem Vertrauen [,] sondern aus Erkenntnis Ihrer
spezifischen Haltung dies Geschwätz für das halten, was es ist, für
ebenso dummes wie teils leichtfertiges teils böswilliges Gerede. Und
dazu gehört Misch durchaus.« 42

Man muss, um das brisante Gemisch zu erkennen, den Komplex et-


was aufschlüsseln. Der 28jährige Vittorio Klostermann, der »junge«
Klostermann, war der Sohn von Eckard Klostermann, der seit 1924
der Cheflektor des Cohen-Verlages Bonn war, also des Verlages, der
Plessners erste Bücher und seine philosophische Zeitschrift publizier-
te. Nach dem Tod des Verlegers Fritz Cohen im April 1927, mit dem

42König an Plessner 1. August 1929, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef
König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 205.

108 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Interregnum (1928–1934)

Plessner die Zeitschrift zusammen ausgedacht hatte, wurde Vittorio


Klostermann im Frühjahr 1928 die Leitung des Verlages in Bonn
übertragen. 43 Es war nun Scheler gewesen (er selbst hatte 1923 die
2. Auflage des ›Sympathie‹-Buches im Cohen-Verlag veröffentlicht),
der – anlässlich Heideggers Vortrag in Köln im WS 1927/28 und den
(letzten) intensiven Gesprächen mit ihm – den jungen Klostermann
auf Heideggers bevorstehendes Kant-Buch aufmerksam gemacht
hatte. Klostermann betreute von da an Heideggers Kant-Buch und
seine Freiburger Antrittsvorlesung ›Was ist Metaphysik?‹ und brach-
te sie 1929 bei Cohen heraus.
»In tage- und nächtelangen Auseinandersetzungen und Kämp-
fen mit ihm« hatte Heidegger noch einmal Schelers »Besessenheit
durch die Philosophie« erfahren. 44 Diese intensiven Gespräche zwi-
schen den beiden in Köln Anfang Dezember 1927 werden dieselben
gewesen sein, in denen Scheler – geladen über Plessners unmittelbar
bevorstehendes Buch – Heidegger von dem Vorwurf des Plagiats, der
Treulosigkeit Plessners, überzeugt haben muss. Denn Heidegger –
von dem Plessner nach dessen Vortrag im Dezember 1927 an Misch
erwartungsvoll schreibt: »Vergangene Woche war Heidegger hier
und hielt in der Kantgesellschaft einen Vortrag über Kants Schema-
tismus und den Sinn des Seins. Persönlich hatte ich diesmal einen
viel positiveren Eindruck als vor 3 Jahren. Ich bin doppelt gespannt,
wie er sich zu meinem Buch stellen wird« 45 – Heidegger also wird
Plessner nicht auf die ›Stufen des Organischen und der Mensch‹, das
dieser ihm Weihnachten 1927 schickt, antworten, und Plessner nie-
mals in einer Veröffentlichung erwähnen.
Plessner verkannte, dass Heidegger zeitgleich in der philosophi-
schen Szene indirekt gegen ihn vorging. In einem Brief im März
1928 an Georg Misch verdoppelt Heidegger gleichsam das Gerücht
über Plessner. Misch dankend, dass »Sie meinem Buch soviel Auf-
merksamkeit schenkten«, fährt er fort: »Die Bemerkung, mit der
mich Plessner in seinem Vorwort abfertigt, ist sehr dumm. Anderer-
seits kann er dadurch nicht verdecken, daß er mein Buch doch schon
recht vielfach in seiner oberflächlichen Art ausgeschrieben hat. Es ist
eine ekelhaft verlogene Sphäre, in der man sich heute bewegen

43 E. Klostermann, Vittorio Klostermann und sein Verlag, in: Vittorio Klostermann,


Verlagskatalog 1930–1980, Frankfurt a. M. 1980, S. VII–XX.
44 M. Heidegger, Andenken an Max Scheler, a. a. O., S. 9.

45 Plessner an Misch 7. Dezember 1927, Nachlaß Misch, Nr. 216.

Philosophische Anthropologie A 109


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

muß.« 46 In seiner Verärgerung darüber, dass Plessner – trotz anders-


lautender Mitteilung im Vorwort zu den ›Stufen‹ – unter Kenntnis
von Heideggers ›Sein und Zeit‹ seinen Text 1927 teilweise bis in die
Sprache hinein redigierte (»Daseinsweisen der Lebendigkeit« etc.),
übersah Heidegger offensichtlich die grundlegende konzeptionelle
Differenz zwischen »Existentialität« und »exzentrischer Positionali-
tät«, die auch Misch nicht entgangen sein konnte. Plessner drückte
diese Ansatzdifferenz in einem Brief an König so aus: Bei Heidegger
»erscheinen freilich die Strukturen […] in Einer [!] Schicht, während
ich darin weiter zu sein glaube, indem sich die Strukturen auf ver-
schiedene Schichten verteilen und der Mensch (Dasein) die Schichten
in sich enthält – was Heidegger verborgen bleiben muß.« 47 Doch un-
abhängig von der sachlichen Differenz schafft Heideggers Verdopp-
lung des Plagiat-Gerüchts über den Konkurrenten Plessner Fakten.
Heidegger und der Cohen-Verlagsleiter Klostermann sind sich einig
über Plessner. Die entscheidende Folge für Plessner, und eine Folge
für den Denkansatz der Philosophischen Anthropologie, ist, dass
Plessner nach erbitterten Kämpfen seine Zeitschrift verliert – die
langfristig auch ein Forum der nun ans Licht getretenen Philosophi-
schen Anthropologie hätte werden können. Hinter der Schließung
der Zeitschrift stecken auch wirtschaftliche Sorgen des Verlages, aber
die treibende Kraft der zügigen Abwicklung dieser Zeitschrift ist
Vittorio Klostermann. Seit Anfang 1928 gibt es einen Plessner per-
sönlich verletzenden Konflikt mit Klostermann – vielleicht das Sche-
lersche Gerücht betreffend, sicher ist das nicht. In jedem Fall recher-
chiert der Verlag 1929 in Gestalt von Vittorio Klostermann hinter
dem Rücken des Herausgebers Plessner, »auf welche Persönlichkei-
ten der Philosophische Anzeiger rechnen kann. Der Verlag hat bei
dieser Gelegenheit wieder erkannt […], dass das Organ das Vertrau-
en bedeutender philosophischer Persönlichkeiten nicht besitzt«. Bei
dieser Rundreise Klostermanns, auf die sich Königs Warnung an
Plessner bezieht, kommt heraus, dass ›Der Anzeiger‹ sich nur auf
Hartmann, Misch, Heimsoeth berufen könne, dass es aber ein Organ
sei, »bei dem die tätige Mitwirkung von Persönlichkeiten wie Cas-

46 Heidegger an Misch, Todtnauberg, 7. März 1928, Cod. Ms. G. Misch 146, Hand-
schriftenabteilung Universität Göttingen.
47 Plessner an König, 22. 2. 1928, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef Kö-

nig/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 181.

110 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Interregnum (1928–1934)

sirer, Geiger, Heidegger, Jaspers u. a. fehle.« 48 Heidegger, einer der


Mitherausgeber, war an dieser Zeitschrift nicht mehr interessiert,
seitdem die Frontlinie Existenzphilosophie/Philosophische Anthro-
pologie deutlich war. Vittorio Klostermann reiste also zu den Mit-
herausgebern und anderen Philosophen und kolportierte systema-
tisch das »Geschwätz« (J. König) über Plessners Anleihen bei
Scheler. Zum April 1930, mit Ausgabe des IV. Jahrganges, wurde die
Zeitschrift eingestellt.
Eine ganz andere Folge dieses Gerüchts in Köln, Bonn und an-
derswo, an dem sich offensichtlich beide Witwen Schelers erheblich
beteiligten 49 , war, dass die Philosophische Anthropologie in diesen
Jahren nach dem Durchbruch über keinen Lehrstuhl verfügte. Pless-
ner kam, obwohl stark bemüht 50 und teilweise unterstützt von Hart-
mann und Misch, auch von E. Rothacker in Bonn, an kein Ordinariat
heran. Es konnte also kein Schülerkreis, keine Forschungslinie auf-
gebaut werden.

Noch gravierender aber waren die unterbundenen Bündnisse, durch


die die Philosophische Anthropologie hätte blühen können. Plessner
hatte Cassirer sofort Ende 1927 – ebenso wie Heidegger – sein Buch
geschickt, und Cassirer reagierte im Frühjahr 1928 – wie geschildert
– prompt durch die erwähnte Einarbeitung von Plessners kritisch ge-
sonnener naturphilosophischer Philosophischen Anthropologie in
die eigene Suchbewegung seiner »Philosophie der symbolischen For-
men«. Gerade Cassirers neukantianische Kennerschaft hatte Pless-
ners Leistung einer »kritischen Naturphilosophie« anerkannt. Ein
Jahr später, in Davos 1929, und noch ein Jahr später, in seiner ver-
öffentlichten Scheler-Kritik 1930, ist Plessners Beitrag verschwun-
den. Schelers, Klostermanns und Heideggers Gerede hatte seine Wir-
kung getan. Auf Grund der Klostermannschen Kabale übte sich
Cassirer (und vielleicht auch der vorsichtige Georg Misch in seinen
Aufsätzen im ›Plessnerschen Anzeiger‹) in Zurückhaltung, und
Plessner wird nie von Cassirers spontaner Zustimmung auf sein Buch

48 Cohen-Verlag an Plessner 10. 10. 1929, Nachlaß Plessner, Mappe 134.


49 Plessner an H. Conrad-Martius 6. Dez. 1948, Nachlaß Conrad-Martius. Plessner äu-
ßert dort, nach 1945, an Hedwig Conrad-Martius den Verdacht: »Erst nahm ich an, Sie
seien auch durch die von beiden Witwen Schelers ausgestreuten Gerüchte beeinflusst
worden: ich hätte Schelersche Ideen publiziert.«
50 Plessner an König 10. 3. 1931, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef Kö-

nig/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 209 f.

Philosophische Anthropologie A 111


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

erfahren: von dieser Anerkennung durch einen Anerkannten. Man


kann nur vermuten, dass es in Davos nebenbei zwischen Cassirer
und Heidegger auch zu einer internen Einschätzung der Scheler/
Plessner-Differenzen gekommen ist.

Ab 1929/30 ist der Denkansatz der Philosophischen Anthropologie in


der Krise, pragmatisch mitbedingt durch die dramatischen Umstände
des Auftretens, Schelers Tod und Plessners Kaltstellung. Beide hatten
im Spiel um die »Neuschöpfung der Philosophie« mit hohen Einsät-
zen gespielt, und zumindest Plessner – als der Überlebende – musste
nun spüren, dass er das Spiel zunächst verloren hatte, als er auf dem-
selben Feld wie Scheler antrat. Zugleich vollzieht sich der Aufstieg
einflussreicher, überzeugend konkurrierender Denkströmungen, in
denen sich auch sachlich erste vielfältige Kritik an der Philosophi-
schen Anthropologie zusammenzieht.
Die von Husserl seit 1929 im Namen der strengen Phänomeno-
logie geforderte »prinzipielle Entscheidung zwischen Anthropologis-
mus und Transzendentalismus« zugunsten der letzteren Haltung 51
trifft Existenzphilosophie wie die Philosophische Anthropologie. Im
Ausgang von der ›Marxistischen Arbeitswoche‹ 1923 formiert sich
seit M. Horkheimers Übernahme des Instituts für Sozialforschung
in Frankfurt zwischen 1928 und 1930 eine psychoanalytisch ange-
reicherte historisch-materialistische kritische »Theorie der Gesell-
schaft«. Horkheimer hatte zu Beginn des Sommersemesters 1928 in
Frankfurt eine Rede zum Gedächtnis Max Schelers (den er noch per-
sönlich kennengelernt hatte) gehalten, sein Werk bis hin zur in den
letzten Jahren konzipierten »philosophischen Anthropologie« reka-
pitulierend. »Die Grundverschiedenheit der philosophischen Theo-
rien, die ich anerkenne, von den Gedanken Schelers« – so Hork-
heimer – »darf nicht verhindern, daß wir vor dieser gewaltigen
intellektuellen Anstrengung, vor dieser ganz großen philosophischen
Leistung die Ehrfurcht haben, die sie verdient.« 52 Auch unter dem
Eindruck der Schelerschen Verknüpfung von Philosophie und Sozio-
logie, seiner von einer philosophischen Konstruktion aus interdiszip-

51 E. Husserl, Phänomenologie und Anthropologie, Vortrag in Berlin 10. Juni 1931, in:
Philosophy and phenomenological Research, Vol. II (1941), No. 1, S. 1–14.
52 M. Horkheimer, Max Scheler (1874–1928), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 11,

Nachgelassene Schriften 1914–1931, hrsg. v. G. Schmid Noerr, Frankfurt a. M. 1987,


S. 145–157, hier 146.

112 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Interregnum (1928–1934)

linär durchdachten Empirie, organisiert Horkheimer – ohne sich nun


allerdings mehr mit der Präsenz dieses nach Frankfurt berufenen
Philosophen- und Soziologen-Kollegen auseinandersetzen zu müs-
sen – seit 1930 von seinem Lehrstuhl für Sozialphilosophie aus sei-
nen interdisziplinären Forscherkreis mit der ›Zeitschrift für Sozial-
forschung‹ als Organ. Horkheimers Kritische Theorie entwickelt sehr
früh die geschichtsphilosophische Kritik der »modernen philosophi-
schen Anthropologie«, deren »Versuch, den Menschen als feste oder
werdende Einheit zu begreifen«, angesichts der Erfahrung, dass »die
menschlichen Eigenschaften in den Gang der Geschichte verschlun-
gen« sind, »eitel« ist, und die mit ihrer »undialektischen Methode«
»das Bestehende verklärt.« 53 Damit erhält die schon früher durch
G. Lukács von Marx her bezogen auf Feuerbach ausgesprochene ge-
nerelle Warnung vor »der großen Gefahr eines jeden […] anthro-
pologischen Standpunktes« kanonischen Rang: »die Verwandlung
der Philosophie in eine Anthropologie hat den Menschen zu fixer
Gegenständlichkeit erstarren lassen und damit die Dialektik und die
Geschichte beiseite geschoben.« 54
Konkurrierend zum Projekt einer neomarxistischen Ideologie-
kritik, in deren interdisziplinärem Zentrum die Soziologie stand, ent-
faltete seit 1928 das Projekt der Wissenssoziologie von K. Mannheim
eine starke Wirkung, das die Soziologie als eine Beobachtungswis-
senschaft der Geistesgeschichte und Geistesgegenwart zu etablieren
suchte. In der »Relationierung« von verschiedenen, sich widerspre-
chenden und bekämpfenden, Wahrheit beanspruchenden Ideen auf
ihre »soziale Standortgebundenheit« sollte der jeweilige »relative«
Wahrheitskern hervortreten und im Medium einer »sozial relativ
freischwebenden Intelligenz« zur zeitadäquaten »Synthese« gelan-
gen können. 55 Mannheims ›Ideologie und Utopie‹ erschien 1929 in
der von Scheler begründeten Reihe ›Schriften über Philosophie und
Soziologie‹, nachdem der Friedrich-Cohen-Verlag nach Schelers Tod

53 M. Horkheimer, Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie (1935), in: Ders.,


Gesammelte Schriften, Bd. 3: Schriften 1931–1936, hrsg. v. A. Schmidt, Frankfurt a. M.
1988, S. 249–276. – Zum ersten Mal ist diese Kritik an der philosophischen Anthro-
pologie angedeutet in der erwähnten Vorlesung, die Horkheimer im SS 1928 als Nach-
ruf auf den gerade verstorbenen – Frankfurter Kollegen – Scheler hielt. M. Horkheimer,
Max Scheler (1874–1928), a. a. O., S. 157.
54 G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik

(1923), Neuwied 1970, S. 322 f.


55 K. Mannheim, Ideologie und Utopie, Bonn 1929.

Philosophische Anthropologie A 113


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Mannheim zum Herausgeber-Nachfolger gemacht hatte. Plessner


beteiligte sich an der intensiven Debatte um die neue »Wissenssozio-
logie«. 56 Schelers Frankfurter Wirken nach seiner Berufung 1929,
und damit die Entfaltung der jungen Philosophischen Anthropologie
im unmittelbaren Umfeld des Horkheimerkreises um das Institut für
Sozialforschung und der Wissenssoziologie Mannheims (der dorthin
1930 berufen wurde) bleibt durch seinen plötzlichen Tod eine Poten-
tialgeschichte. Zeitgleich tritt in der deutschsprachigen Philosophie
der Logische Positivismus um R. Carnap und O. Neurath mit seiner
spektakulären Programmschrift ›Wissenschaftliche Weltauffassung/
Der Wiener Kreis‹ 57 hervor. Dieses philosophische Projekt, das Car-
nap nach der Erfahrung von Davos als ein dezidiert antimetaphysi-
sches präzisiert, kennt nur Philosophie am Maßstab der Idee der (Na-
tur-)Wissenschaft, der Mathematik und Physik. Für dieses Projekt
einer analytischen Philosophie, wie es in Carnaps 1928 ›Der logische
Aufbau der Welt‹ dargelegt ist, für diese aus der Kernerfahrung der
mathematisierten Naturwissenschaft (Carnap ist Physiker und Phi-
losoph) gedeckte, mit dem Sozialismus verbundene erneute Ver-
knüpfung von Empirismus und »Rationalismus« im Anschluss an
Kant, ist der Irrweg »Von Husserl zu Heidegger« – der über Scheler
führt – in jedem Fall ein »Angriff gegen den erhabenen Geist der
Aufklärung« – und philosophische Anthropologie ist ein Teil des »ir-
rationalen und arationalen Spuks der Gegenwart«. 58 In diesem Zu-
sammenhang ist nun auch zu sehen, wie sich nach 1928 bis in die
Philosophie hinein eine weitere Denkströmung formiert, die das Le-
ben auf das Prinzip von »Blut« und »Rasse« als Prinzip der Wirklich-
keit konzentrierte und mit dem Konzept des »völkischen Denkens«
die naturalistische Besonderheit lebender Kollektive erkenntnispoli-
tisch freizusetzen intendierte. Was im Werk von A. Rosenberg 1930
als Weltanschauung formuliert wurde 59, fand in der Philosophie z. B.
bei A. Bäumler seit Ende der 20er Jahre begrifflichen Rückhalt im
Rückgriff auf das mythologische Denken der Romantik (Bachofen)

56 H. Plessner, Abwandlungen des Ideologiegedankens (1931), GS X, S. 41–70.


57 In: O. Neurath, Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, hrsg. v.
R. Haller/H. Rutte, Wien 1981, Bd. 1, S. 299-336.
58 J. Kraft, Von Husserl zu Heidegger. Kritik der phänomenologischen Philosophie

(1932), Frankfurt a. M. 1957, S. 13 (Vorwort der 1. Auflage).


59 A. Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geisti-

gen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, München 1930.

114 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Interregnum (1928–1934)

und den ›heroischen Realismus‹ Nietzsches. 60 Da der individuelle


Körper hier vom ›Gesamtleib‹ des Volkes her vermittelt vorgestellt
wurde, war der menschliche Körper für den völkisch-politischen An-
satz ein Politikum, und für eine solche Perspektive bedeutete eine
Richtung wie die Philosophische Anthropologie mit ihrem Denkein-
satz beim individuellen Lebewesen die Verkennung einer ausschlag-
gebenden Dimension.

Wie verhielt sich nun Plessner angesichts der persönlichen, aber auch
ideellen Herausforderung? Der Blick des Geschichtsschreibers dieses
Denkansatzes wird sich in dieser brisanten Konstellation auf Plessner
richten, was nicht deckungsgleich mit dem damaligen Erwartungs-
blick des Publikums ist. Plessner stand im diskursiven Feld merkwür-
dig verdunkelt im Schatten des toten Scheler, nicht ganz so unbeach-
tet, wie er später erzählte, aber doch ohne große Resonanz auf sein
Buch. Es gab im Verlauf der Jahre durchaus Bezugnahmen in diver-
sen Wissenschaften, die explizit mit seiner philosophisch-anthro-
pologischen Figur der »exzentrischen Positionalität« arbeiteten. 61
Aber sein Buch galt als schwer. Die fehlende Resonanz des Publikums
auf sein Buch war für seine weitere Produktion nicht günstig. Im
Hinblick auf die Verstetigung des Denkansatzes kam es aber in jedem
Fall auf Plessners nächsten diskursiven Schritt an, und Plessner war
sich dessen auch voll bewusst und saß schon im Februar 1928, also
kurz nach Erscheinen der ›Stufen‹, an einem neuen Buch »unter dem
Titel ›Philosophische Anthropologie‹«. 62 Auch sein Diskussionsbei-
trag in der großen Debatte in Halle 1931 über »Die Wendung der
Philosophie der Gegenwart zur Ontologie und zum Realismus« (aus
Anlass der Generalversammlung der Kant-Gesellschaft) zeugt von
dem Fortsetzungsimpuls. 23 Philosophen diskutierten N. Hartmanns
Leitvortrag »Zum Problem der Realitätsgegebenheit« 63 , in dem die-
60 A. Bäumler, Bachofen und Nietzsche, Zürich 1929.
61 Zum Beispiel in der Biologie: H. André, Urbild und Ursache in der Biologie, Mün-
chen/Berlin 1931. – In der Medizinischen Anthropologie: O. Schwarz, Medizinische
Anthropologie. Eine wissenschaftstheoretische Grundlegung der Medizin, Leipzig 1929.
– In der Philosophie: N. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen
zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften, Berlin
1933.
62 Plessner an König 22. II. 1928, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef Kö-

nig/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 182.


63 N. Hartmann, Zum Problem der Realitätsgegebenheit, Philosophische Vorträge

Nr. 32, veröffentlicht von der Kant-Gesellschaft [I. Vortrag, II. Diskussion, III. Schluss-

Philosophische Anthropologie A 115


https://doi.org/10.5771/9783495999899
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

ser gerade in den »emotionalen Akten« des Subjekts dessen »Reali-


tätsverbundenheit«, den Weltkontakt des Bewusstseins behauptete.
Plessner sah grundsätzlich das »Positive an der These«, die er als
»anthropologische Wendung« auffasste: »Das steckt in dem Versuch,
die traditionelle Basierung der Erkenntnis auf ein primäres und abs-
traktes Subjekt, ein pures Zentrum transzendentalen Bewußtseins zu
überwinden und statt dessen die konkrete Person in den Ansatz auch
der Erkenntnisproblematik zu bringen. Mit dieser anthropologischen
Wendung wird das Subjekt des Bewußtseins zum Derivat und seine
Einbettung in durchgreifenden Seinsbeziehungen von Person zu Per-
son und Welt sichtbar.« Hartmann – so rief Plessner die »anthropolo-
gische Wendung« in Erinnerung – »hat sie schon in seiner Metaphy-
sik der Erkenntnis vollzogen. Schelers Verdienst beruht hier in dem
Hinweis auf den Erkenntnissinn der emotionalen Funktionen, ihr
seinsaufschließendes, seinsentdeckendes Wesen.« Und Plessner for-
mulierte seine Vorbehalte innerhalb dieser Wendung: »Ist aber ein-
mal an die Stelle des Subjekts und Bewußtseins die konkrete Person
(mit Haut und Haaren, nicht nur als Existenz im Sinne Heideggers)
Ausgangs- und Blickpunkt der philosophischen Fragestellung gewor-
den«, dann dürfe man zwei Sachen nicht außer acht lassen: Die für
Akte typische »Intentionalität«, das »meinende Gerichtetsein auf et-
was«, die »eigenartige Abgehobenheit vom Etwas, in der das Meinen
spielt, fehlt gerade den emotionalen Betroffenheiten. Ihre unver-
gleichliche Durchlässigkeit für die realen Gewalten spricht gegen
ihre Aktnatur.« Zugleich müsse man gerade auch für die »emotiona-
len Funktionen« (wie bei den vorstellenden, wahrnehmenden, den-
kenden Akten) die »beständige Möglichkeit der Selbstverfangenheit«
sehen; Plessner sprach hier indirekt im Blick auf Heideggers Philoso-
phie der »Existenz« von der Möglichkeit der »Binnenverfangenheit«
bzw. »des Realitätsverlustes«. 64 Diese »Binnenverfangenheit« sei nur
durch einen Blick von außen (auf den Menschen in seiner Körperlich-
keit – »mit Haut und Haaren«) und damit einem gleichsam öffent-
lichen Blick auszugleichen. Es lässt sich auch in dieser Debatte erken-
nen, dass Plessner äußerst okkupiert war von der Heideggerschen
Philosophie und von dem damit verbundenen, durch König vorgetra-

wort des Referenten N. Hartmann], hrsg. P. Menzer u. A. Liebert, Berlin 1931, S. 7–33.
Zu den Diskutanten gehörten u. a. M. Dessoir, M. Geiger, H. Heimsoeth, Th. Litt,
J. Stenzel, A. Liebert, J. Kraft, L. Polak, F. J. v. Rintelen, K. Huber, A. Wenzl, H. Kuhn.
64 H. Plessner, Diskussionsbeitrag, in: N. Hartmann, Zum Problem der Realitätsgege-

benheit, a. a. O. S. 49–51.

116 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Interregnum (1928–1934)

genen Zweifel an der Legitimität seines eigenen naturphilosophi-


schen Ansatzes, der die Sphäre des menschlichen Lebens und damit
der philosophischen Fragemöglichkeit von der vor- und unter-
menschlichen Lebensbasis her aufrollte.

In dieser Krisensituation seiner Produktion lehnte sich Plessner vor


allem an Georg Misch in Göttingen an, von dem er – neben Hart-
mann – persönlich die stärkste Anerkennung für sein Buch als phi-
losophische Leistung erfahren hatte. Plessner hoffte, von dem Göt-
tinger Dilthey-Kreis um Misch verstanden zu werden. Misch vertrat
allerdings die hermeneutische Lebensphilosophie Diltheys, die das
Leben nicht von unten, von der Natur her, sondern vom sich Aus-
sprechen des ›Lebens‹ in seinen (sprachlichen) Objektivationen nach
dem »Prinzip der Unergründlichkeit« aufrollte. Als Misch aus dieser
Dilthey-Richtung eine Kritik an Heidegger ankündigte, der sich
selber – wie jener – in die Dilthey-Tradition gestellt hatte, verhalf
Plessner dessen heideggerkritischer Studie in seiner Zeitschrift ›Phi-
losophischer Anzeiger‹ zur Publizität, in dem er sie – unter Hint-
anstellung anderer Autoren – in vier großen Aufsätzen veröffent-
lichte. 65 Misch vertrat in diesen intensiv-vorsichtigen Reflexionen
vor allem seine eigene Konzeption einer »hermeneutischen Logik«
und rekurrierte kaum auf Plessners ›Stufen des Organischen‹, was
dieser sicherlich erhofft hatte, weil er doch seine naturphilosophisch
aufgebaute philosophische Anthropologie gerade auch als Einlösung
eines Diltheyschen Desiderats verstanden wissen wollte, auf das
Misch im Aufsatz zur ›Idee der Lebensphilosophie‹ von 1924 zuerst
aufmerksam gemacht hatte.

In dieser Situation, immer noch unter dem gesteigerten Druck, eine


passende Antwort auf Heidegger zu finden, sehr wahrscheinlich über
die Debatte in Davos nicht nur aus Presseberichten, sondern auch von

65 G. Misch, Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung mit


Heidegger, in: Philosophischer Anzeiger. Zeitschrift für die Zusammenarbeit von Phi-
losophie und Einzelwissenschaft, Jg. 3 (1928), H. 3, S. 267–368; Lebensphilosophie und
Phänomenologie (Fortsetzung: Die Lebenskategorien und der Begriff der Bedeutung),
in: Philosophischer Anzeiger, Jg. 3 (1928), H. 4, S. 405–475; Lebensphilosophie und
Phänomenologie (Schluß), in: Philosophischer Anzeiger, Jg. 4 (1929/1930), H. 3 u. 4,
S. 182–330. – Als Buch erschienen unter dem Titel Lebensphilosophie und Phänomeno-
logie. Eine Auseinandersetzung der Diltheyschen Richtung mit Heidegger und Husserl,
Bonn 1930, 2. Aufl. Leipzig/Berlin 1931, 3. Aufl. Stuttgart 1967.

Philosophische Anthropologie A 117


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

O. F. Bollnow, einem Schüler Mischs, informiert 66 , ergriff Plessner


die von ganz anderer Seite kommende Aufforderung, innerhalb einer
Reihe einen Band zur »Politischen Anthropologie« zu schreiben, als
Gelegenheit. 67 Unter wechselnden Arbeitstiteln wie »Der politische
Begriff des Menschen« oder »Mensch und Politik«, schließlich unter
dem Titel ›Politische Anthropologie‹ verfasste Plessner ein 100seiti-
ges Manuskript, das dann – aus Verlagserwägungen – 1931 schließ-
lich unter dem Titel ›Macht und menschliche Natur‹ erschien. 68 Er
versuche »die ›Ableitung‹ der exzentrischen Positionalität als einer
das Politische (›Historische‹) eröffnenden Struktur«, schrieb Plessner
an Misch. 69 Plessner versuchte den Spieß gewissermaßen umzudre-
hen: Er buchstabierte hier das Leben nicht naturphilosophisch von
unten nach, sondern nahm wie Heidegger und Misch den Ausgang
von der Diltheyschen geschichtlichen Lebenserfahrung des Men-
schen, entnahm ihr mit Misch/Dilthey das »Prinzip der Unergründ-
lichkeit« 70 (der Mensch erfährt in der Geschichte, durch die Epochen
und Kulturen, dass er immer auch anders könnte), interpretierte da-
durch den Menschen als »Macht«, als »offene Frage« und zog daraus
jetzt Konsequenzen. Weil »offene Frage«, müsse der Mensch not-
wendig zur »Positionalität« kommen, zur »Vertrautheitszone«, zur
künstlichen Abschließung in Kulturen, um die er notwendig »im
Kampf […], in dem Gegensatz von Vertrautheit und Fremdheit«
stehe. 71 Eine Anthropologie im Horizont der Geschichtlichkeit des
Menschen sei damit notwendig »politische Anthropologie«. 72 Nimmt
man das »Prinzip der Unergründlichkeit« oder der »offenen Frage«
verbindlich, so gibt es immer mehrere Möglichkeiten, gibt es Kultur

66 O. F. Bollnow, damals einer der jungen Leute der Dilthey-Schule in Göttingen, war –
neben Joachim Ritter – einer der Protokollanten der Davoser Arbeitsgemeinschaft zwi-
schen Heidegger und Cassirer. Vgl. K. Gründer, Cassirer und Heidegger in Davos 1929,
a. a. O., S. 293.
67 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der ge-

schichtlichen Weltansicht, erschien zuerst in der Reihe: Fachschriften zur Politik und
staatsbürgerlichen Erziehung, Nr. 3, Berlin 1931. Abgedr. in GS V, S. 135–234.
68 Vgl. die Korrespondenz Plessners mit dem Herausgeber E. v. Hippel 1929–1930;

Nachlaß Plessner, Korrespondenz 1924–1950.


69 Plessner an Misch 7. 9. 30, Nachlaß Misch, Briefwechsel Plessner.

70 Plessner, Macht und menschliche Natur, a. a. O., S. 175.


71 Ebd., S. 191.

72 Plessner bezieht sich neben Carl Schmitt auch auf H. Freyer, Soziologie als Wirk-

lickeitswissenschaft. Logische Grundlegung des Systems der Soziologie (1930), Darm-


stadt 1964.

118 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Interregnum (1928–1934)

nur in Kulturen, gibt es Philosophie nur in Philosophien, d. i. in je


ansetzenden »Systemen«, und der Mensch kommt notwendig nur in
künstlichen Horizontbildungen, also in »Völkern« vor. Das Volk ist
der Horizont der individuellen Existenz. »Unergründlichkeit« bedeu-
tet die Notwendigkeit der »künstlichen Horizontverengung«, der
Festlegung (damit eine Freund-Feind-Unterscheidung (C. Schmitt),
die es nur unter menschlichen Lebewesen geben kann) und zugleich
bedeutet das »Prinzip der Unergründlichkeit« eine Relativierung des
unbedingten Geltungsanspruchs der jeweiligen Festlegung: Vor dem
Hintergrund der »offenen Frage« ist jede Kultur als je spezifische
Antwort ebenso auf die Möglichkeiten anderer Beantwortungen der
»offenen Frage« Mensch, auf die Andersheit von Antworten durch
den Menschen verwiesen. Einen Schritt weiter stößt die »Anthro-
pologie der geschichtlichen Weltansicht« in der Durchgegebenheit
des Lebens durch die »Bodenlosigkeit« des ›Menschen‹ auf die Natur.
»In seiner Macht scheint der Mensch also auf seine Ohnmacht oder
seine Dinglichkeit durch. Er ist eigentlich auch Körper. […] Geburt,
Abstammung, Tod haben über ihn Gewalt und stellen sich mit dem
gleichen Anspruch auf Essentialität und Universalität, wie ihn der
dem Menschen einheimische Bezirk des sich selbst aussprechenden
Lebens erhebt, seiner Macht entgegen.« 73 Gerade unter dem Ge-
sichtspunkt hermeneutischer Lebensphilosophie kommt also das An-
dere der Verständlichkeit in den Blick. »Jede Lehre, die das erforschen
will, was den Menschen zum Menschen macht, sei sie ontologisch
oder hermeneutisch-logisch, und die methodisch oder im Ergebnis
an der Naturseite menschlicher Existenz vorbeisieht oder sie unter
Zubilligung ihrer Auch-Wichtigkeit als das Nicht-Eigentliche baga-
tellisiert, für die Philosophie oder für das Leben als das mindestens
Sekundäre behandelt, ist falsch, weil im Fundament zu schwach, in
der Anlage zu einseitig […].« Insofern ist auch ein naturphilosophi-
scher Ansatz eine »notwendige Möglichkeit«. Das übernimmt nach
Plessner nun die Philosophische Anthropologie, die »das Wesen des
Menschen am Leitfaden einer regionalen Ontologie des Organischen
als einer Kategorienlehre der Biologie und ihrer Phänomene« 74 auf-
rollt und dieses »Andere« der Verständlichkeit als die Bedingung der
Möglichkeit der Verständlichkeit begreift.
Mit seiner »Politischen Anthropologie« aus dem »Prinzip der

73 H. Plessner, Macht und menschliche Natur, GS V, S. 226 f.


74 Ebd., S. 227.

Philosophische Anthropologie A 119


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Unergründlichkeit« zog Plessner, wie E. Voegelin in seiner Bespre-


chung hervorhob, gegen jede marxistische Geschichtsphilosophie
einer endgültigen dialektischen Aufhebung von Kämpfen zu Felde.
Implizit war durch die »Gebundenheit an ein Volk« auch die Mann-
heimsche wissenssoziologische Position getroffen, deren Relationis-
mus in der Möglichkeit der Synthese durch die sozial relativ frei-
schwebende Intelligenz gipfelte. Entscheidend waren für Plessner
aber in diesem Gedankenzug die Argumente, die er gegen Heideg-
gers Existentialphilosophie und gegen die hermeneutische Lebens-
philosophie, aber auch gegen Carl Schmitts politischen Existentialis-
mus zu gewinnen glaubte. Heideggers existentielle Begriffe seien
historisch indifferent, reflektierten nicht auf ihre Geschichtlichkeit;
Heideggers Existentialphilosophie sei apolitisch, weil sie nicht die
Vermitteltheit jeder Existenz mit einer politisch verstandenen Kultur
oder einem »Volk« berücksichtige. Gleichzeitig argumentiert Pless-
ner gegen die falsche »Verabsolutierung des hermeneutischen Prin-
zips«, nach dem der Mensch als das sich aussprechende Leben »sich
selbst als Nächstes erscheint«, und übt stattdessen die Fernstellung
des Blicks auf den Menschen als natürliches Objekt. Indem er die
Philosophische Anthropologie durch die hermeneutische Anthro-
pologie (der Mensch als kündendes und deutendes Wesen), durch
die existenzphilosophische Anthropologie (der einzelne Mensch,
dem es um sein eigenes Sein geht) und die »politische Anthropolo-
gie« C. Schmitts (Mensch als kollektives Freund-Feind-Verhältnis)
hindurcharbeitete, gelangte er jeweils zu Limitierungen der Gel-
tungsansprüche dieser Richtungen. Die Grenze der Existenzphiloso-
phie und der Hermeneutik lagen in der Natur des Körpers und in der
»Gebundenheit an ein Volk«, die statt allein Selbstentwurf und statt
bloßem Verstehen politisches Verhalten entlang einer Vertraut-
heits-/Fremdheitszone erforderten, und die Grenze der »politischen
Philosophie« lag wiederum in der prinzipiellen »Durchgegebenheit«
des Menschen in die Offenheit und Unergründlichkeit angesichts der
im »Feind« gegebenen anderen Lebensmöglichkeit. Mit »exzentri-
scher Positionalität« bot Plessner im Rahmen der Geschichts- und
Kulturtheorie einen Begriff an, der den Menschen vom Tier unter-
scheiden konnte, ohne ihn gegenüber der Gesamtkonzeption der Na-
tur isolieren zu müssen: die geschichtliche Welt konnte vielmehr im
Zusammenhang mit der Natur zur Darstellung kommen; und er bot
mit »exzentrischer Positionalität« einen enteuropäisierten Begriff
des Menschen an, der die christlich-griechischen Traditionslinien

120 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Interregnum (1928–1934)

(auch der Existenzphilosophie) durchbrach und sich den verschie-


densten Kulturen öffnete.
Was immer es mit diesem Buch auf sich hat: Als Replik in einer
diskursiv krisenhaften Konstellation führte es nicht zur Verstetigung
des Ansatzes der Philosophischen Anthropologie. Das Publikum
spürte im Vergleich zu der Klarheit der zwar schwierigen, aber gedie-
genen kritisch-ontologischen Analysen der ›Stufen des Organischen‹
eine bis in die – an die hermeneutische Lebensphilosophie und Hei-
deggers Daseinsanalytik angelehnte – Sprache hineinreichende deut-
liche Verunsicherung Plessners. Der Schweizer H. Kunz, der Pless-
ners Publikation genau beobachtete, bemerkte »eine eigentümliche
Wandlung« bis in die Sprache hinein: »Sie erweist sich ganz eindeu-
tig als durch die Daseinsanalytik Heideggers bedingt, von welcher
Plessner offensichtlich überwältigt worden ist und sich jetzt wieder-
um loszuringen versucht. Und wenn sich dieses Losringen auch in
unfreier, mehr verdeckter und gelegentlich bloß abwertender Weise
vollzieht, so ist es zumal für den, der mit Heideggers Philosophie
vertraut ist, ungemein spannend.« 75 Interessant ist, dass gerade die
hier von Plessner entwickelten Formeln des »Prinzips der Uner-
gründlichkeit (des Menschen)« oder der »offenen Frage« z. B. O. F.
Bollnow erlaubten, sich durch die Ausgestaltung einer hermeneu-
tisch verstandenen philosophischen Anthropologie aus dem Umkreis
von Heidegger zu lösen. 76 Plessner schmiegte sich vorübergehend in
die ganz andere Traditionslinie der Dilthey-Schule, die er mit seiner
naturphilosophisch fundierten philosophischen Anthropologie hatte
sichern wollen, und lockerte für einen Moment den Zusammenhang
mit der philosophischen Biologie, ohne ihn preiszugeben. Er gewann
der Philosophischen Anthropologie – neben der primären naturphi-
losophischen Begründung, an der er festhielt 77 – eine kulturanthro-

75 H. Kunz, Besprechung: H. Plessner, Macht und menschliche Natur (1931), in: Zen-
tralblatt für Psychotherapie, Jg. 4 (1931), S. 451 f.
76 O. F. Bollnow, Politische Wissenschaft und politische Universität. Ein Bericht über die

Lage, in: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung, Jg. 9 (1933) H. 6,
S. 486–494. O. F. Bollnow, Das Wesen der Stimmungen (1941), Frankfurt a. M. 1956,
S. 18 f.
77 Für die grundsätzliche Kontinuität Plessners in den Jahren nach 1928 spricht auch die

aus dem Nachlass von H.-U. Lessing veröffentlichte Vorlesungsmitschrift des Winter-
semesters 1931/32, gemäß der er – bei teilweise anderer Akzentsetzung – die zentrale
naturphilosophische Argumentationslinie der ›Stufen des Organischen und der
Mensch‹ erneut vorträgt (Elemente der Metaphysik. Eine Vorlesung aus dem Winter-
semester 1931/32, hrsg. v. H.-U. Lessing, Berlin 2002).

Philosophische Anthropologie A 121


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

pologische Perspektive, verstieg sich aber in ein Bündel von Fra-


gestellungen, die nicht durchgearbeitet waren, war okkupiert von
der Polemik und blieb im Programmatischen stecken. Es gelang ihm
nicht, die Verklammerung der Aspekte am Phänomen durchzufüh-
ren. Auf diese Weise vermochte er nicht, den Denkansatz der Phi-
losophischen Anthropologie in der geistigen Landschaft dieser Jahre
zu stabilisieren.

Immerhin verschob Plessner mit dieser »politischen Anthropologie«


von 1931 den thematischen Schwerpunkt der Philosophischen An-
thropologie von der Frage nach Teilhabe am Sein – wie er noch Sche-
lers Interesse an einer modernen Metaphysik dominiert hatte – zur
Frage nach der Teilnahme im öffentlichen Raum. Diese Öffnung zur
öffentlichen Sphäre haben die politisch und sozialwissenschaftlich
interessierten Zeitgenossen deutlich wahrgenommen, nicht nur die
bereits erwähnten Hans Barth und Carl Schmitt 78 , sondern auch Al-
fred Müller-Armack und Erich Voegelin. 79 Müller-Armack und Voe-
gelin nahmen im Rückgriff auf die Philosophische Anthropologie
brisante Themen in Angriff. In seinem groß angelegten Hauptwerk
›Entwicklungsgesetze des Kapitalismus‹ 80 von 1932 unternahm es der
Nationalökonom und Konjunkturtheoretiker Müller-Armack, zur
marxistischen Theorie des Kapitalismus eine alternative »dyna-
mische Theorie des Kapitalismus« zu konstruieren, welche der »Of-
fenheit« der menschlichen Geschichte gerecht werden sollte. Diesen
»Dienst kann die philosophische Anthropologie der Sozialwissen-
schaft in ihrer gegenwärtigen Situation leisten«, speziell Plessners
Lehre von der »exzentrischen Position des Menschen«. 81 1930/31
hatte Plessner zusammen mit dem Privatdozenten der Nationalöko-
nomie A. Müller-Armack (und E. v. Beckenrath) ›Übungen über
Marxismus‹ veranstaltet, an dem auch der junge Dr. Hans Mayer
von der Sozialistischen Studentengruppe aktiv teilnahm und ein Re-

78 H. Barth, Politische Anthropologie, in: Neue Zürcher Zeitung (1932), Nr. 1539, 1560,
1691. – C. Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und
drei Corollarien, Berlin 1963, S. 60.
79 E. Voegelin, Besprechung: H. Plessner, Macht und menschliche Natur, in: Kölner

Vierteljahrshefte für Soziologie, Jg. 10 (1931/32), S. 255–257.


80 A. Müller-Armack, Entwicklungsgesetze des Kapitalismus. Ökonomische, ge-

schichtstheoretische und soziologische Studien der modernen Wirtschaftsverfassung,


Berlin 1932.
81 Ebd., S. 17.

122 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Interregnum (1928–1934)

ferat über Lukács hielt. 82 Für Müller-Armack ist die Marxistische


Theorie eine echte dynamische Theorie der kapitalistischen Wirt-
schaft. Allerdings bleibt in dieser Geschichtstheorie mit ihrer Kom-
bination von dialektischer und evolutionistischer Auffassung die Dy-
namik an die Modelle von Kausalität und Finalität gebunden. Alle
kapitalistischen Momente werden durch ökonomische Bewegungs-
gesetze entweder kausaler Ursachen (Stoß) oder zielhafter Ursachen
(Zug) erklärt. In dieser Kombination von naturalistischer Evolution
und Geschichtseschatologie erscheint die kapitalistische Form als
notwendiges, aber bloßes Durchgangsstadium eines Geschichtsstro-
mes. Die Alternative ist, die ökonomischen Bewegungserscheinun-
gen des Kapitalismus als »Selbstrealisierungsvorgänge« aufzufassen.
»Selbstrealisierung heißt: Abhängigkeit des geschichtlichen Ablaufes
von Faktoren, die selbst geschichtlich sind«. »Es gibt keinen über-
geschichtlich zu denkenden geistigen Kosmos, der die Entwicklung
zu sich hinzieht, ebensowenig wie die Geschichte auf eine natürliche
Ebene der Triebe, Interessen usw. reduziert werden kann, die bean-
spruchen könnte, der Geschichte gegenüber als unabhängige Variable
betrachtet zu werden. Der Geschichte fehlt jede solche unabhängige
Basis, durch die sie in ihrem Ablauf festgelegt werden könnte. Sie
wird nicht realisiert von Faktoren, die ihr selbst entzogen oder über-
legen sind, sie realisiert sich vielmehr durch Faktoren, die – Trieb
oder Geist – selbst in sie einbezogen sind. Sie realisiert sich selbst.« 83
Diese Geschichtstheorie gründet sich auf die philosophische Anthro-
pologie der »exzentrische Position« des Menschen: Die »Entzogen-
heit seines Lebenszentrums zwingt ihn zu geschichtlicher Exis-
tenz«. 84 Diese exzentrische Form seiner geistigen Position (Zweifel)
wie die exzentrische Form seiner Triebgestalt (Triebüberschuss,
Triebnegation), die ihm die eigentliche Wesensmitte verdecken, ma-
chen es erst möglich, dass Geist und Trieb in ihm aufeinander wirken.
»Damit wird im Gegensatz zu den Alternativen von Idealismus und
Naturalismus das Verhältnis von Geist und Trieb als ein nach beiden
Seiten offenes bestimmt« und die Geschichtstheorie aus »der Verstrik-
kung in die falschen Alternativen Trieb-Geist, kausal-final usw.«

82 H. Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen I, Frankfurt a. M. 1982, S. 129–


131.
83 A. Müller-Armack, Entwicklungsgesetze des Kapitalismus, a. a. O., S. 168 f.

84 Ebd., S. 146.

Philosophische Anthropologie A 123


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

gelöst. 85 In der »Selbstrealisierung« bleibt der Mensch aber an die


konkrete geschichtliche Situation gebunden. Ideen kann er nur inso-
weit realisieren und in der sozialen Organisation zum Ausdruck
bringen, als es gelingt, gleichzeitig entsprechende Trieb- und Interes-
senenergien in die neue Richtung zu lenken. »Aber die Bindung an
eine derart historisch variable Triebbasis ist eine andere als die an
eine ungeschichtliche Naturform. Diese letztere würde seine Fähig-
keit, überhaupt etwas in der Geschichte zu erreichen, völlig zunichte
machen. Selbstrealisierung ist so die Fähigkeit der Geschichte zu ech-
ter Spontaneität.« 86 Kapitalismus ist der Fall, wo diese Strukturform
der Geschichtlichkeit in das Wirtschaftssystem selbst hineingenom-
men wird. Indem der Kapitalismus dem beliebigen Unternehmer die
Steuerung des dynamischen Prozesses dadurch überlässt, dass er ihn
über einen formalen Kreditapparat hin frei auslaufen lässt, bleibt das
Bewegungsziel des dynamischen Prozesses des Kapitalismus »offen«.

Der Wiener Philosoph E. Voegelin zieht hingegen zwischen 1930 und


1933 die philosophisch-anthropologische Grundlegung Schelers zur
Durcharbeitung eines ganz anderen brisanten Themas der öffent-
lichen Sphäre heran. Sein Buch ›Rasse und Staat‹ 87 , das 1933 er-
scheint, zieht nicht nur die Aufmerksamkeit Plessners in einer aus-
führlichen Besprechung88 auf sich, sondern auch der junge Arnold
Gehlen meldet sich hier im Umkreis des Ansatzes zum ersten Mal
zu Wort. 89 Plessner würdigt, dass Voegelin »gegen den liberalen Ras-
senindifferentismus« und damit den Neukantianismus, der im Zei-
chen der Toleranz und Humanität ein Rassenproblem bagatellisiert,
die »Rassendiskussion auf ein Niveau« zu bringen sucht, nicht um
den Liberalismus und die Idee der Humanität zu treffen, sondern um
»jedem kritischen Bedenken gewachsen« zu sein. Der Neukantianis-
mus habe »alles Interesse daran, die Kluft zwischen der Wertsphäre
und der Seinssphäre so zu vertiefen, daß die Einwirkung der letzteren
auf die erstere zu einer theoretischen Unmöglichkeit wird. […] Er-
kennbar ist nur das Verhältnis der Formung, welche die souveräne

85 Ebd., S. 151.
86 Ebd., S. 169.
87 E. Voegelin, Rasse und Staat, Tübingen 1933.
88 H. Plessner, Besprechung: E. Voegelin, Rasse und Staat, in: Zeitschrift für Öffentli-

ches Recht, Bd. XIV (1934), S. 407–414.


89 A. Gehlen, Besprechung: E. Voegelin, Rasse und Staat, in: Die Erziehung, 9 (1933),

S. 201–204.

124 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Interregnum (1928–1934)

Vernunft auf die sinnliche Grundmasse ausübt. Bluthafte Differen-


zen zwischen den Menschen haben infolgedessen keine Bedeutung
für das Reich der Freiheit, dem diese als gleichberechtigte Bürger
angehören. […] Es ist klar, auf dieser Basis läßt sich ein geistiges,
ein politisches Rassenproblem ernsthaft nicht stellen. Und das hat
sich als reelle Gefahr erwiesen. Denn so blieb es den Fanatikern über-
lassen, die seine Lösung nach ihrem Wertsystem mitbrachten.« Um
sich dem Rassenthema zu stellen, rekurriert Voegelin laut Plessner
nun auf die »moderne philosophische Anthropologie« – in der Ver-
sion von Scheler. Diese »neue Lehre vom Menschen […] will nicht
mehr den Menschen von einem ihm fremden, äußerlichen oder
transzendenten Aspekt aus bestimmten. Sie will einen Begriff von
ihm bilden, welcher der Mehrschichtigkeit seiner Existenz als körper-
lichen, vitalen, psychischen und geistigen Wesen gleichursprünglich
gerecht wird, ohne die eine Schicht zum Maßstab und zur Erklä-
rungsbasis der anderen zu machen. Wenn ihr das gelingt, so ist der
Boden geschaffen, auf dem sich eine Nachprüfung der rassentheore-
tischen Behauptungen erreichen lassen müßte.« Plessner wie auch
Gehlen heben in ihren Besprechungen den doppelten Gebrauch
hervor, den Voegelin aus dieser philosophisch-anthropologischen
Grundansicht macht. Voegelin unterscheidet die »Rassenwissen-
schaft« vom »Rassenmythos«. Die Bedeutung von Voegelins Projekt
liegt zunächst in der Einhegung des Geltungsanspruches der »Ras-
senwissenschaft« durch »Kritik des Rassenmaterialismus« (Gehlen),
d. i. des »methodischen Fehlers […], von einem Seinsbereich aus (et-
wa dem Biologischen) das Ganze des Menschen zu betrachten.« Es
kommt dann so, dass »die biologischen Rassentheorien immer ihre
Grenzen überschreiten, wenn sie sich dem Gesamtwesen Mensch
vom Biologischen her nähern.« (Gehlen) Der weitere Schritt Voege-
lins bezieht sich auf eine Einordnung des »Rassenmythos«. Von einer
philosophisch-anthropologischen Sicht kommt er zu der Überzeu-
gung, dass menschliche Gemeinschaften in je spezifischen »Leib-
ideen« gründen. Dann ist der »Rassemythos« eine – historische auf-
klärbare Leibidee – unter anderen »Leibideen«. Die konstitutive
gleichursprüngliche Mehrschichtigkeit des Menschen begründet die
»Unvermeidlichkeit der Ideen über den Zusammenhang von Geist
und Leib: Keine Gesellschafts- und Staatsform ist möglich ohne eine
ihr typisch zugehörige Idee von den Leibgrundlagen ihrer Existenz.
Denn der Mensch als Schöpfer des Staates lebt nicht in der geistigen
Schicht allein, sondern muß, um mit seiner Existenz fertig zu wer-

Philosophische Anthropologie A 125


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

den, in und mit allen Schichten sich auseinandersetzen.« (Plessner)


Voegelins Grundthese ist, »daß Leibideen, sofern sie an der geistigen
Realität der Gemeinschaft mitbauen, sich niemals als wissenschaftli-
che Urteile auf Tatbestände der biologischen Sphäre beziehen, son-
dern daß die Idee der Leibgemeinschaft immer eine mythische Idee
ist, daß sie immer ein corpus mysticum aufbaut.« Voegelin zeigt am
antiken Stammesstaat mit den genealogischen Herkünften und am
Beispiel der urchristlichen Gemeindebildung unter der Idee des »So-
ma Christi«, die bis in die sakrale Idee der Kaiserreiche fortwirkt, die
reale gemeinschaftsbildende Wirkung von verschiedenen Leibideen.
Auf diese Weise gewinnt er die Möglichkeit, den »Rassenmythos« als
die mentalitätspolitische »Leibidee« einer entchristlichten und zu-
gleich wissenschaftsgläubigen bürgerlichen Gesellschaft zu histori-
sieren und aufzuklären.

Müller-Armack und Voegelin stehen für ein zeitgenössisches Operie-


ren mit philosophisch-anthropologischen Grundannahmen Schelers
und Plessners. Doch insgesamt lässt sich festhalten, dass die »lebens-
philosophischen Bestrebungen«, die mit den Namen Bergson, Dil-
they, Spengler, Simmel und Klages verbunden, nicht erschöpft waren,
vielmehr ihre Gegenwart dominierten. In dem luziden Überblick
über die »Lebensphilosophie der Gegenwart« durch den jungen Phi-
losophen und Psychologen Ph. Lersch 1932 wurde betont, dass
»Scheler nicht eigentlich der lebensphilosophischen Richtung zuzu-
ordnen« sei, »wenngleich er zweifellos […] den Strom der Lebens-
philosophie in sich aufgenommen« habe. Vielmehr werde er in seiner
Anthropologie gerade »zum Gegenspieler der Lebensphilosophie« 90 ,
indem er den »Geist«, die »Person« bei aller psychovitalen Abhän-
gigkeit nicht selbst als Derivat oder Ausdruck des Lebens begreife.
Allerdings lag davon nur die Skizze vor. Unter dem Gesichtspunkt
der Geschichte des Denkansatzes der Philosophischen Anthropologie
erzählt, ergibt sich für die Jahre 1928 bis 1935 ein Interregnum. Die
Ursachen liegen in der Überzeugungskraft konkurrierender Denk-
strömungen und im internen Geschick und Ungeschick der Philoso-
phischen Anthropologie selbst. Plessner war in mehrfacher Hinsicht
durch den Schelerschen Vorwurf gelähmt. Auch lastete auf seinem
eigenen neuen Anlauf zur Ausarbeitung der Philosophischen An-

90Ph. Lersch, Lebensphilosophie der Gegenwart (Philosophische Forschungsberichte


14), Berlin 1932, S. 76, 80.

126 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Interregnum (1928–1934)

thropologie die von den Nachlassverwaltern Schelers, zu denen er


selbstverständlich nicht gehörte, geschürte Erwartung der fertigen
Schelerschen Anthropologie im Nachlass. Es war dem Denkansatz in
diesen Jahren nicht förderlich, dass dieses Hauptwerk nicht rasch er-
schien.
Scheler blieb nach seinem Tod über die Initialschrift hinaus zu-
nächst mit dem 1929 erschienen Band ›Philosophische Weltanschau-
ung‹ präsent, der seine Mitte der zwanziger Jahre entstandenen Texte
bündelte. Wichtig waren hier die Durchblicke in Schelers Projekt
einer »modernen Metaphysik« einerseits, in das Projekt der Moder-
nediagnostik eines »Weltalter des Ausgleichs« andererseits – beide
aus dem Denkhintergrund seiner Philosophischen Anthropologie
entwickelt. Im titelgebenden Aufsatz präzisierte Scheler seine »phi-
losophische Weltanschauung« als Variante des ›Kantianismus‹, in-
sofern er die »philosophische Anthropologe« im transzendentalen
Verhältnis zu der von ihm angestrebten »modernen Metaphysik«
begriff: »Die gesamte vorkantische Metaphysik hatte versucht, ins
absolut seiende Sein vom Sein des Kosmos her, auf alle Fälle vom
Gegenstand-Sein her vorzustoßen. Das ist es, was Kant in seiner Ver-
nunftkritik […] als ein unmögliches Unternehmen erwies. Mit Recht
lehrt er: Alles gegenständliches Sein der Innen- und Außenwelt ist
zunächst auf den Menschen zu beziehen. Alle Seinsformen sind vom
Sein des Menschen abhängig. Alle gegenständliche Welt und ihre
Seinsweisen sind nicht ein ›Sein an sich‹, sondern nur ein der gesam-
ten geistigen und leiblichen Organisation des Menschen angemesse-
ner Gegenwurf und ›Ausschnitt‹ aus diesem Sein an sich. Erst vom
Wesensbilde des Menschen aus, das die ›philosophische Anthropolo-
gie‹ erforscht, ist – als Rückverlängerung seiner urtümlich aus dem
Zentrum des Menschen quellenden Akte des Geistes – ein Schluß zu
ziehen auf die wahren Attribute des obersten Grundes aller Dinge.«
Und er resümierte, sich von traditionell-substantialistischen Meta-
physik bewusst abhebend: »So ist moderne Metaphysik nicht mehr
Kosmologie und Gegenstandsmetaphysik, sondern Metanthropolo-
gie und Aktmetaphysik.« 91
Und komplementär zum philosophisch-anthropologischen Aus-
blick auf eine »moderne Metaphysik« skizziert Scheler im – nun
1929 veröffentlichten – Vortrag von 1927 ›Der Mensch im Weltalter
des Ausgleichs‹ seine philosophisch-anthropologische Theorie der

91 M. Scheler, Philosophische Weltanschauung (1928), GW 9, S. 75–85, S. 82 f.

Philosophische Anthropologie A 127


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Moderne. Er beobachtet das »im Anzug begriffene Weltzeitalter«


nicht entlang der Kategorie des ›Übermenschen‹, sondern der des
»Allmenschen«, nicht in der Kategorie des ›Fortschritts‹, sondern in
der des »Ausgleichs«. Scheler diagnostizierte eine »Tendenz zum
Ausgleich« und darin »gleichzeitig – eine mächtige Steigerung der
geistigen, individuellen […] Differenzen«: als Geschichtszeichen ver-
weist er auf den »Ausgleich der Rassenspannungen«, die »Blut-
mischung«, den »Ausgleich der Mentalitäten, der Selbst-, Welt- und
Gottesauffassungen der großen Kulturkreise«, z. B. »der längst ein-
geleitete Ausgleich zwischen Europa und den drei großen asiatischen
Zentren Indien, China und Japan, vermittelt durch die Welt des Is-
lam«; der »Ausgleich der Spezifitäten der männlichen und weibli-
chen Geistesart in ihrer Herrschaft über die menschliche Gesell-
schaft«, verbunden mit der »deutlichen Tendenz zu einer neuen
Wert- und Herrschaftssteigerung des Weibes«. 92 Im Hintergrund
dieses »kosmopolitischen Ausgleichs« sieht Scheler den »Ausgleich
[…] zwischen dem ›apollinischen‹ und ›dionysischen‹ Menschen – als
Typen, als Ideen genommen«, die »als ›Rationalismus‹ und ›Irratio-
nalismus‹, ›Ideen- und Lebensphilosophie‹ […] als Gegensatz auch
das philosophische Denken« scheiden. Dieser »Prozess der Re-sub-
limierung«, »systematischer Re-sublimierung« gegen »ein so einsei-
tiges geistzentriertes menschliches Selbstbewußtsein und ein so
maßlos dualistisches Lebensgefühl« wird ein Schritt zum »Allmen-
schen hin, d. h. zum Menschen größter Spannung zwischen Geist
und Trieb, Idee und Sinnlichkeit, gleichzeitig geordneter, harmo-
nischer Verschmelzung beider in eine Daseinsform und eine Aktion
zugleich.« Man könnte sagen, in dieser Schelerschen Modernediag-
nostik blitzt die Vermutung auf, dass die Philosophische Anthropolo-
gie die adäquate Theorie einer sich anbahnenden Weltgesellschaft
sei, dass wissenssoziologisch gesehen das Faktum der Weltgesell-
schaft – »der Ausgleich [ist] selbst unentrinnbares Schicksal« – sich
für Scheler in der Philosophischen Anthropologie reflektiert. Aber es
gilt: »die Weltalter des Ausgleichs sind für die Menschheit die ge-
fährlichsten, die todes- und tränentrunkensten. Jeder Vorgang, den
wir Katastrophe in Natur und Geschichte nennen, ist ein vom Geist
und Willen nicht sinnvoll geleiteter oder leitbarer Ausgleichsvor-
gang.« 93

92 M. Scheler, Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs (1927), GW 9, S. 151–158.


93 Ebd., S. 153.

128 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Interregnum (1928–1934)

Man kann auf Grund dieser unmittelbar im konzeptionellen


Umkreis der Philosophischen Anthropologie entwickelten und pu-
blizierten Thesen die zeitgenössische Erwartung an die große
Schelersche Anthropologie sich ausmalen. Im Grunde hatte Scheler
seinen gesamten früheren phänomenologischen Arbeiten die Kon-
stitutionslehre der Philosophischen Anthropologie untergeschoben,
und insofern war die ›Stellung des Menschen im Kosmos‹ für Sche-
ler selbst eine Schlüsselschrift, weil sie auf den Wendepunkt seiner
Philosophie von der Phänomenologie zum Realismus verwies. Aber
damit war die Durcharbeitung früherer und auch neuer Themen
noch nicht geleistet. Als nun der erste Nachlassband 94 unter dem
Titel ›Zur Ethik und Erkenntnislehre‹ verspätet – 1933 –, auch unter
intensiver Beratung von M. Heidegger und F. J. J. Buytendijk 95 ,
erschien, umfasste er eine Zusammenstellung äußerst aufschluss-
reicher früherer Schriften Schelers wie ›Über Scham und Scham-
gefühl‹, ›Vorbilder und Führer‹ und ›Ordo amoris‹. Die Eröffnungs-
studie ›Tod und Fortleben‹ (bereits 1914 konzipiert) erläuterte im
Begriff des »Fort- und Hinausschwingens« über die körperleibliche
Position das Phänomen des Sterbens und Todes der menschlichen
Position – und gleichsam den Bildgehalt der Kategorie ›exzentrische
Positionalität‹. Scheler geht von der Grunderfahrung aus, »daß die
geistige Person in jedem ihrer Akte, in Wahrnehmen, Erinnern, Er-
warten, Wollen, Können, Fühlen, über das hinausgeht, was ihr als
irgendwelche ›Grenze‹ des ihr gleichzeitig immer im Erleben mit-
gegebenen Leibes ›gegeben‹ ist«. 96 »Gehört es zum Wesen des per-
sönlichen Geistes, – man gestatte das Bild – in seinen Akten hinaus-
zuschießen über die Grenze des Leibes und seiner Zustände, so kann
ich fragen: Was gehört zum Wesen der Person, wenn im Sterbens-
akt der Leib aufhört zu sein – zur Person als der selbst noch aktuel-
len, konkreten Einheit aller Akte […]? Ich antworte: Es gehört dann
zum Wesen der Person genau das nämliche, was zu ihrem Wesen
gehörte, als der Mensch lebte – nichts Neues also –: daß so, wie sich

94 M. Scheler, Schriften aus dem Nachlaß, Bd. 1, hrsg. v. M[aria] Scheler, Berlin 1933,
enthalten: Tod und Fortleben, Über Scham und Schamgefühl, Vorbilder und Führer,
Ordo amoris, Phänomenologie und Erkenntnistheorie, Lehre von den drei Tatsachen.
95 M[aria] Scheler, Bericht über die Arbeit am philosophischen Nachlaß Max Schelers,

in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Jg. 3 (1947), S. 600 f.


96 M. Scheler, Tod und Fortleben, in: Ders., Schriften aus dem Nachlaß, Bd. 1: Ethik und

Erkenntnislehre, 2. durchges. u. erw. Aufl. hrsg. v. M[aria] Scheler, Bern 1957, GW 10,
S. 9–64.

Philosophische Anthropologie A 129


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

während des Lebens ihre Akte ›hinausschwangen‹ über die Leib-


zustände, sich nun sie selbst auch hinausschwinge über ihres Leibes
Zerfall. Und nur dieses Schwingen, dieses Fort- und Hinausschwin-
gen, dieser dynamische Actus, der zu ihrem Wesen gehört – er al-
lein wird und muß im Sterben das volle Erleben und Sein der Per-
son sein. Das heißt nicht, sie habe dann nur die Intention oder gar
die Erwartung eines Fortlebens. […] Es heißt: die Person erlebe sich
hier selbst noch fortlebend.« 97 »Wie weit […] das Fortleben der Per-
son reichen kann? Ich sage: So weit dieser Überschuß reicht – der
Überschuß des Geistes über das Leben. Mehr weiß ich nicht.« 98

So erhellend die Ausführungen in diesem Schelerschen Nachlass-


band an Einzelphänomenen sind, die durchgeführte systematische
Philosophische Anthropologie war damit noch nicht erschienen.
Ausschlaggebend aber für das Interregnum ist, dass es nach Schelers
Tod zu keiner Verstetigung des Denkansatzes durch motivierte
Bündnisse kommt. Es kam zu keiner Verbindung mit den medizi-
nischen Anthropologen V. v. Weizsäcker oder E. Straus. An die aus-
gebliebene Konjunktion Plessner-Löwith 99 hat Plessner später eine
wehmütige Reminiszenz 100 verlorener Möglichkeiten, von der mög-
lichen Konjunktion Plessner-Cassirer wusste er nichts. Dabei wäre
gerade die Konjunktion Cassirer-Plessner mit ihrer Ansteuerung
und Abstimmbarkeit kulturphilosophischer und naturphilosophi-
scher Argumente für die Fortbildung einer Philosophischen Anthro-
pologie erheblich gewesen 101 , denkt man an Cassirers Hamburger
Konnektionen zur kulturgeschichtlichen Warburg-Schule, die den
Gegensatz von Dämonie und durch innere Distanz gewonnene Klar-
heit und geistige Freiheit in den Mittelpunkt ihrer breiten kultur-
geschichtlichen Renaissance-Forschungen gestellt hatte. Außerdem

97 Ebd., S. 46 f.
98 Ebd., S. 48.
99 Zum zeitgenössischen Interesse Löwiths an der Philosophischen Anthropologie vgl.

auch seine ausführliche Besprechung der Schelerschen Schriften Mitte der 1930er Jahre:
K. Löwith, Max Scheler und das Problem einer philosophischen Anthropologie (1935),
in: Ders., Sämtliche Schriften, Bd. 1: Mensch und Menschenwelt. Beiträge zur Anthro-
pologie, hrsg. v. K. Stichweh, Stuttgart 1981, S. 219–242.
100 H. Plessner, Vorwort zur zweiten Auflage (1965), in: Ders., Die Stufen des Organi-

schen und der Mensch, a. a. O., S. XII–XIII.


101 Vgl. dazu E. W. Orth, Philosophische Anthropologie als Erste Philosophie. Ein Ver-

gleich zwischen Ernst Cassirer und Helmuth Plessner, in: Dilthey-Jahrbuch, Bd. 7/
(1990–91), S. 250–274.

130 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Interregnum (1928–1934)

unterhielt Cassirer Kontakt zum in Hamburg forschenden J. v. Uex-


küll. Auch die von Plessner gesuchte Verbindung zu Karl Mannheim
und seiner Wissenssoziologie (1929 bot er ihm die redaktionelle Be-
treuung eines Heftes des ›Philosophischen Anzeigers‹ zur Wissens-
soziologie an, was dieser mit großem Interesse annahm 102 ), zerschlug
sich in der Einstellung dieses Organs der »philosophischen For-
schung«. Vermutlich hat Plessner die noch unausgeschöpfte Paralle-
lität zwischen der philosophisch-anthropologischen Relationierung
von »Exzentrizität« und »Positionalität« und der wissenssoziologi-
schen Entsprechung zwischen »Denkstilen« und »sozialen Stand-
orten« gesehen. Erst viel später wird auch die früh ansetzende und
anhaltende Verflechtung zwischen dem sozialphänomenologischen
Ansatz von Alfred Schütz und der Schelerschen Philosophischen An-
thropologie publik werden. 103 In Ablösung von der transzendentalen
Perspektive Husserls interessiert Schütz sich für die Prozesse der
Sinnkonstitution der mundanen Sozialität oder »Lebenswelt«. Vor-
studien (›Lebensform und Sinnstruktur‹) zu seinem Werk ›Der sinn-
hafte Aufbau der sozialen Welt‹ von 1932 zeigen ihn in den 20er
Jahren in intensiver Auseinandersetzung mit Schelers Denkmotiven
der Stellung des Menschen in der Welt, v. a. mit der These vom Pri-
mat des Wir-Bewusstseins und des auch aus der biologischen Um-
weltlehre gestützten ›pragmatischen‹ Weltzugangs. 104 »Lebenswelt«,
von der nun auch Husserl in Abhebung zur Wissenschaft und ihrem
Weltbegriff spricht, steht hier kurz davor, einen kategorialen Knoten
mit dem »Ganzen der Lebewelt« zu bilden, die Scheler als Bios zu-
nächst im Blick hat und die Plessner als »Metaphysik des Lebens«
noch 1931/32 behandelt. 105 Die kategoriale Klärung der »Lebens-
welt« als das intersubjektiv vermittelte und in vortheoretischer Ein-
stellung subjektiv gegebene Objektive hätte zurückgreifen können
auf die philosophisch-anthropologisch erhellten organischen Struk-
turen der »Lebewelt«, in und von der das Subjekt via Körperlichkeit
»gesetzt«, getragen ist. Doch – ähnlich wie Cassirer – kommt es auch
zu keinem Arbeitsbündnis zwischen Plessner und Schütz und damit
zunächst nicht zur philosophisch-anthropologischen Ausarbeitung

102 Mannheim an Plessner, 31. 3. 1929 Nachlaß Plessner.


103 I. Srubar, Kosmion. Die Genese der pragmatischen Lebenswelttheorie von Alfred
Schütz und ihr anthropologischer Hintergrund, Frankfurt a. M. 1988, S. 271–282.
104 Ebd., S. 272.

105 H. Plessner, Elemente der Metaphysik. Eine Vorlesung aus dem Wintersemester

1931/32, a. a. O., S. 85.

Philosophische Anthropologie A 131


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

des Phänomens ›Leben‹ im gegenseitigen Bezug von biologischer


Konstitutionsanalyse und einer Rekonstruktion der Selbstgenese
der sinnhaften »Lebenswelt«. Noch im Februar 1933 plant Plessner
– wie er an Buytendijk ankündigt – ein großes Buch, »eine Kosmolo-
gie des Menschen, in der die Ergebnisse der Einheit der Sinne aus
dem Prinzip der Positionalität – wie es die Stufen des Organischen
entwickelt haben – verständlich gemacht werden sollen.« 106 Doch zur
Ausführung dieses Plans kommt es nicht mehr.
Wenn F. Seifert 1935 die »anthropologische Wende« in der
deutschen Philosophie resümiert – in den »Blättern für Deutsche
Philosophie«, die zeitlich gesehen den »Philosophischen Anzeiger«
ablösen und das in Deutschland dominierende Philosophieorgan der
30er Jahre werden –, dann erwähnt er zwar noch Schelers Versuch,
aber die großen Gruppen dieser »anthropologischen Wende« bilden
die Existenzphilosophie (Heidegger/Jaspers) und die irrationalisti-
sche Lebensphilosophie (Klages/Jung). Heideggers »Kampfgemein-
schaft« mit Jaspers seit Beginn der frühen 20er Jahre hatte sich
durchgesetzt. Aber zum Zeitpunkt dieses Resümees 1935 war – nun
wegen der politischen Ereignisse 1933/34 – das potentielle Figuren-
personal einer Philosophischen Anthropologie schon zerstreut:
Cassirer verließ Deutschland 1933; Misch musste seine Lehrberech-
tigung aufgeben, Plessner wurde seine a. o. Professur in Köln ent-
zogen 107 , Löwith verließ Deutschland, E. Straus ging Mitte der 30er

106 H. Plessner an F. J. J. Buytendijk am 19. 2. 1933, zit. n. H.-U. Lessing, Eine herme-

neutische Philosophie der Wirklichkeit. Zum systematischen Zusammenhang der ›Ein-


heit der Sinne‹ und der ›Stufen des Organischen und der Mensch‹, in: J. Friedrich./
B. Westermann (Hrsg.), Unter offenem Horizont. Anthropologie nach Helmuth Pless-
ner. Mit einem Geleitwort v. D. Goldschmidt, Frankfurt a. M. 1995, S. 103–116, hier
S. 155.
107 »Der Preußische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volkbildung« entzog am

»2. September 1933« »dem nichtbeamteten außerordentlichen Professor Herrn Dr. Hel-
muth Plessner« »die Lehrbefugnis an der Universität Köln« – »auf Grund von § 3 des
Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933.« Personal-
akte Plessner, Blatt 28, Universitätsarchiv Köln. Plessner drückte den Sachverhalt in
einem Brief an F. J. J. Buytendijk am 1. 12. 1933 so aus: »Ich habe meine Stellung auf
Grund des Arierparagraphen verloren, da mein Vater als Jude geboren ist. Von mütter-
licher Seite bin ich Arier. Mein Vater ließ sich als junger Arzt taufen, bevor er heirate-
te.« (zit. n. W. J. M. Dekkers u. a., Helmuth Plessner und F. J. J. Buytendijk, a. a. O.,
S. 151). Mit einer auf die Verhältnisse seit 1933 zugeschnitten Liste von Punkten war
am 18. 5. 1933 – mit Unterstützung des befreundeten Anglisten H. Schöffler – ein Ver-
such unternommen worden, über den Rektor beim Ministerium eine Ausnahme für
Plessner zu erwirken. Diese Liste enthält u. a. folgende Angaben: »Politische Betätigung:

132 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Interregnum (1928–1934)

Jahre in die USA ebenso wie E. Voegelin, und die weitere Veröffent-
lichung des Scheler-Nachlasses galt als inopportun. Plessner, im Gro-
ninger Exil durch die rettende Einladung von Buytendijk, hielt Vor-
lesungen über die »gegenwärtige herrschende Strömung einer
antirationalen Philosophie der menschlichen Existenz« in Deutsch-
land: »Heidegger, Jaspers, Klages«. 108

Prof. Plessner hat nie einer Partei angehört und in den letzten Jahren deutschnational
gewählt. Offizielle Unterschrift für den Deutschen Ausschuß (Präsident v. Papen) gege-
ben. Politisch-wissenschaftliche Stellungnahmen: […] 1931 das Buch ›Macht und
menschliche Natur‹ entwickelt eine Philosophie der Politik, auf die sich dann Prof. Carl
Schmitt in seiner Schrift ›Der Begriff des Politischen‹ ausdrücklich bezieht. – Der Auf-
satz ›Abwandlungen des Ideologiegedankens‹ hat den Marxschen Ideologiebegriff be-
kämpft. Auf diesen Arbeiten baut auf die Widerlegung des Marxismus, die der Kölner
Privatdozent Dr. A. Müller in seinem Buch ›Die Entwicklungsgesetze des Kapitalismus‹
gegeben hat.« Erwähnt wird auch ein »Kursus über Machiavelli« von Plessner im Köl-
ner »Petrarca-Haus«; und schließlich werden Referenzen angegeben: »Auskunft über
politische und wissenschaftliche Stellung könnten geben die Professoren Carl Schmitt,
v. Beckerath, Prof. Hans Freyer (Leipzig) und Prof. Rothacker«. Alle diese Angaben sind
eine dem Jahr 1933 geschuldete selektive Lesart von Plessners intellektueller Biogra-
phie. Vgl. auch Ch. Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Re-
publik und im Dritten Reich, a. a. O. S. 168.
108 Ankündigung der Vorlesungen Plessners in Groningen WS 1934/35, Nachlaß Pless-

ner, Mappe 62. – Diese Vorlesungen bilden die Vorlage von H. Plessner, Das Schicksal
deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche, Zürich/Leipzig 1935, unter
dem Titel Die verspätete Nation (1959), GS VI, S. 7–224. – Plessners Verbitterung über
sein Verbleiben im Schatten Schelers und über das akademische Schicksal der Philoso-
phischen Anthropologie (noch vor dem Exil) in der Konkurrenz zu den von ihm genann-
ten Ansätzen der Existenzphilosophie, Phänomenologie, des Marxismus und einer Phi-
losophie der Rassenbiologie kommt in einer langen Anmerkung zum Ausdruck, die sich
auf die philosophische Konstellation vor 1933 bezieht: »Über die Ansätze zu einer phi-
losophischen Biologie und Anthropologie ging man rasch hinweg. Da gab es die Acht-
zigseitenschrift von Scheler über die Stellung des Menschen im Kosmos. Man zollte ihr
als einer interessanten Anregung den dem berühmten Namen schuldigen Tribut und das
Übrige zum Thema wurde auf dem Ehrenfriedhof der zu Tode Geschwiegenen bei-
gesetzt.« Diese Anmerkung steht nur in der Ausgabe von 1935, S. 189, und wurde von
ihm bei der Neuausgabe 1959 fortgelassen.

Philosophische Anthropologie A 133


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

1.4 Neueins"tze (1934–1944)

Das Jahrzehnt von 1934 bis 1944 ist das entscheidende Jahrzehnt der
Philosophischen Anthropologie. Hier fällt die Entscheidung über die
Tragfähigkeit des Denkansatzes. Der Grund dafür ist, dass drei Auto-
ren – Erich Rothacker, Arnold Gehlen und Adolf Portmann – unab-
hängig voneinander drei Neueinsätze zur Philosophischen Anthro-
pologie vorlegen, und einer ihrer Pioniere, Plessner, vom Rande aus
einen neuen Einsatz wagt. Dieser neue Auftakt – Rothackers »Kul-
turanthropologie« 1 , Gehlens »elementare Anthropologie« 2 und
Portmanns »Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen«3
– wird auf Grund der Doppelbedingung von bereits vorhandener Pio-
nierleistung und gleichzeitiger Leerstelle möglich. Rothacker, Gehlen
und Portmann unternehmen ihre Neueinsätze durchaus in genauer
Kenntnis der bahnbrechenden Leistungen von Scheler und Plessner
in den 20er Jahren – sie wissen, wie weit man damit kommen kann –,
und sie sind zugleich motiviert durch die Abwesenheit beider: Sche-
ler war tot und Plessner war nunmehr doppelt abwesend, über die
Existenz eines im philosophischen Feld »zu Tode Geschwiegenen« 4
hinaus im Exil. 5 Aber nicht nur die Wahrnehmung der personellen
Leerstelle des Denkansatzes, sondern auch deutliches Bemerken
einer inhaltlichen Leerstelle schafft eine motivierende Atmosphäre.
Ohne die Idee, dass wesentliche »anthropologische Kapitel« 6 des
Denkansatzes noch nicht veröffentlicht oder geschrieben seien, wä-
ren die Neueinsätze substantiell nicht möglich gewesen. So sind sie
durchweg von einer direkten oder indirekten Kritik an einer gewissen
Abstraktheit der Scheler/Plessnerschen Philosophischen Anthro-

1 E. Rothacker, Geschichtsphilosophie, in: Handbuch der Philosophie, hrsg. v. A. Bäum-


ler/M. Schröter, Abt. IV, München/Berlin 1934, S. 3–150. – E. Rothacker, Die Schichten
der Persönlichkeit, Leipzig 1938. – E. Rothacker, Probleme der Kulturanthropologie, in:
N. Hartmann (Hrsg.), Systematische Philosophie, Berlin 1942, S. 59–198.
2 A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940), 4. veränd.

Aufl. Bonn 1950.


3 A. Portmann, Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, Basel 1944.

4 H. Plessner, Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche,

a. a. O., S. 189.
5 Zu Plessners Exil insgesamt erhellend: C. Dietze, Der eigenen Wissenschaft treu blei-

ben. Helmuth Plessner im niederländischen Exil, in: Nationalsozialismus in den Kultur-


wissenschaften, Bd. 2, hrsg. v. H. Lehmann/O. G. Oexle, Göttingen 2004, S. 417–449.
6 Ausdruck von Rothacker: »die fehlenden anthropologischen Kapitel«, E. Rothacker,

Schelers Durchbruch in die Wirklichkeit, Bonn 1949, S. 13.

134 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

pologie grundiert. Indem sie in dieser Konstellation auf Bewährung


der Grundidee drängen, werden die Beiträge Rothackers, Gehlens,
Portmanns weder einfach Fortsetzungen des Denkansatzes sein, noch
neue Ansätze, sondern eben Neueinsätze in derselben Denkrichtung.
Selbst Plessner kommt mit ›Lachen und Weinen‹ 7 als »Urphänomen«
einer »Theorie der menschlichen Natur« erst zehn Jahre nach seiner
Pionierleistung neueinsetzend zur Bewährung seiner philosophisch-
anthropologischen Konstruktion.
Diskursiv ringen alle diese Neuanfänge einer Philosophischen
Anthropologie um eine Position im etablierten Feld von Idealismus,
Existenzphilosophie, Lebensphilosophie und Naturalismus. Diese
unabhängig von einander unternommenen Arbeiten, deren jeweilige
Bezugnahme auf Schelers und Plessners Pionierleistungen eher ver-
deckt ist – um selber als neue Einsätze sichtbar zu werden –, werden
dennoch kompetent und für das Publikum deutlich als Beitrag zu
dieser Philosophischen Anthropologie wahrgenommen, womit der
Ansatz an Geltung gewinnen wird. Das verdankt sich nicht zuletzt
der kontinuierlichen Präsenz zweier Hintergrundautoren, die schon
in den 20er Jahren als Paten der Philosophischen Anthropologie in
Übereckfigurationen dabei waren: Buytendijk, der als Biologe in die-
sen Jahren mit zunehmender Berühmtheit in seinen Schriften im
deutschsprachigen Raum phänomenologisch die Sache des Tier/
Mensch-Vergleichs vertritt, und N. Hartmann, der seine philosophi-
sche Autorität, die auf Grund des Ausbaus seiner Neuen Ontologie in
den 30er Jahren ständig steigt, in einem entscheidenden Augenblick
auf bemerkenswerte Weise zur Verfügung stellen wird. Die Neuein-
sätze zur Philosophischen Anthropologie lassen sich räumlich und
zeitlich staffeln: zwei ereignen sich im ›Reich‹, im nationalsozialisti-
schen Deutschland – Rothacker (1934/38/42), Gehlen (1935/1940) –,
zwei kommen aus der Peripherie, von Plessner aus dem niederlän-
dischen Exil (1941) und von dem Schweizer Zoologen Adolf Port-
mann (1944).

Erich Rothacker kommt zu seinem spezifischen Denkansatz der Phi-


losophischen Anthropologie als Philosoph der Geisteswissenschaften.
Als Randbedingungen müssen mit eingeführt werden, dass er auch
einige Semester Medizin studiert hatte und deutsch-süditalienischer

7H. Plessner, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen menschlichen
Verhaltens (1941), GS VII, S. 201–387.

Philosophische Anthropologie A 135


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Herkunft war, also doppelkulturgebunden war. Zunächst lag Roth-


ackers Schwerpunkt auf einer wissenschaftstheoretischen Systemati-
sierung der Geisteswissenschaften. Mit seiner ›Logik und Systematik
der Geisteswissenschaften‹ 8 wollte er philosophisch Ordnung stiften
in diesem machtvollen Wissenschaftsphänomen, das im Paradigma
der Historischen Schule zwischen 1770 und 1850 in Form verschie-
denster Einzelwissenschaften aufgeblüht war. 9 Geisteswissenschaften
waren für Rothacker »Wissenschaften von der selbstgeschaffenen
Welt des Menschen«, deren genuiner Gegenstand die geschichtlich-
gesellschaftliche Welt ist, wie sie in den Ordnungen (Staat, Recht,
Sitte, Erziehung, Wirtschaft) und Deutungen (Sprache, Kunst, Reli-
gion, Philosophie) des Lebens vorliegt. Rothacker unterschied vier
methodische Arbeitsrichtungen in jeder Geisteswissenschaft: histo-
risch-positivistisch, philosophisch-systematisch, theoretisch-sachlich
und dogmatisch-sinndeutend. Eine erste Fundierung dieser geistes-
wissenschaftlichen Arbeitsrichtungen suchte er in den drei maß-
geblichen Typen der »Weltanschauung«, die Dilthey unterschieden
hatte. Rothacker ordnete diese Typen so: Der Idealismus des Subjek-
tiven, der durch den Primat des Bewusstseins, des Sollens, des Den-
kens bestimmt ist; demgegenüber der Naturalismus, der durch die
Absolutsetzung des Sinnlichen, Gegebenen, der Erfahrung gekenn-
zeichnet ist; dazwischen der Idealismus des Objektiven, der zwischen
den Absolutismen des Subjekts und des Objekts vermittelt. Roth-
acker, so wird man sagen können, suchte über seine methodologische
Schrift von 1925 hinaus eine Fundierung der Geisteswissenschaften
in der von ihnen erforschten Wirklichkeit, um durch die Begründung
dieser Wirklichkeit – die schon Dilthey seit 1883 versucht hatte – das
Selbstbewusstsein der Geisteswissenschaften zu stärken, anders ge-
sagt, er suchte für die durch die Geisteswissenschaften entdeckte kul-
turelle Welt eine eigene Dignität im ›Kosmos‹. Diese gesuchte Lö-
sung einer Fundierung des Geistes musste anders aussehen als die
idealistischen Systeme der Philosophie, die Ideen und Werte syste-
matisch zu hoch angesetzt hatten und ihre spekulativen Ideen gerade
in Abgrenzung gegen die konkret forschenden Geisteswissenschaften
gewonnen hatten; sie musste anders aussehen als die Lebensphiloso-
phie (Bergson, Spengler u. a.), die zu direkt den Kontakt der Seele mit

8 E. Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften (1928), Bonn 1948.


9 Zu Rothacker vgl. W. Perpeet, Erich Rothacker. Philosophie des Geistes aus dem Geist
der deutschen historischen Schule, Bonn 1968.

136 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

der Lebenswirklichkeit im Prinzip der »Intuition« kurzschloss; die


gesuchte Lösung musste ebenfalls anders aussehen als die positivisti-
schen oder organischen Lehren der Kultur, welche Gesetzmäßigkei-
ten nach dem Modus der Naturwissenschaft feststellen wollten, und
in jedem Fall anders als die Lösung der materialistischen Theorie, für
die Kultur Epiphänomen eines ökonomischen Unterbaues war.
Rothacker bereitet die Lösung des von ihm exponierten Problems
in unmittelbarer Nähe der Kölner Philosophischen Anthropologie
vor. Seit 1928 hat er, 40jährig, das Ordinariat für Philosophie in Bonn,
das – durch Fügung – zugleich mit einem Institut für Psychologie ver-
bunden ist. 10 Er verfolgt gebannt das Schelersche Spätwerk in Köln:
die wissenssoziologischen Schriften und den anthropologischen Ent-
wurf. Bereits während seiner Studienzeit in München 1909/1910 und
1912/13 war es zu einer weichenstellenden Begegnung mit dem dort
lehrenden Scheler und dessen Ideen gekommen. Später wird er sa-
gen: »In manchen Hinsichten habe ich mich dauernd als Schelerschü-
ler gefühlt. Er war damals noch in seiner vorkatholischen Phase und
übte über biologische Probleme. […] Auch verdanke ich ihm die für
meine spätere Entwicklung epochemachende Bekanntschaft mit den
Schriften Jakob von Uexkülls. Welch ein origineller Kopf war Scheler,
welche Ideenfülle und Intuitionskraft!« 11 Mit Plessner war er seit
1925 bekannt; beide standen als Zeitschriftengründer 12 in sportlicher
Konkurrenz. Plessner brachte im ›Philosophischen Anzeiger‹ eine
ausführliche Darlegung von Rothackers ›Logik und System der Geis-
teswissenschaften‹. 13 In diesen Jahren war, durch die Nähe von Bonn
und Köln nahegelegt, ein intensiver Austausch zwischen beiden
möglich, weil Plessner, durch seinen Kontakt zur Göttinger Dilthey-
Misch-Richtung, der er selbst nicht angehörte, für Rothackers Pro-
blem der Fundierung der Geisteswissenschaften äußerst aufgeschlos-
sen war. Rothacker kam nicht aus dieser Dilthey-Schule, hielt aber in
sich Diltheys Impulse höchst lebendig. Gerade dieses Motiviertsein
durch die Herausforderung Diltheys, bei gleichzeitiger Distanz zur
unmittelbaren Dilthey-Schule, also ihre Außenstellung zur Herme-

10 E. Rothacker, Heitere Erinnerungen, Bonn 1963, S. 93–103.


11 Ebd., S. 28.
12 Rothacker war zusammen mit Paul Kluckhohn seit 1923 Herausgeber der ›Deutschen

Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte‹.


13 W. H. Luschka, Zur Logik und Systematik der Geisteswissenschaften. Eine Aus-

einandersetzung mit E. Rothackers gleichnamigen Buch, in: Philosophischer Anzeiger,


Jg. 3 (1929), S. 91–127.

Philosophische Anthropologie A 137


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

neutik, machte beider Produktivität in dieser Richtung aus. Hierin


lag vielleicht zugleich ein echter Konkurrenzkeim zwischen ihnen.
Das Verhältnis zwischen Scheler und Plessner bei der Ausarbeitung
der Philosophischen Anthropologie betreffend war sich Rothacker
über den eigenen Einsatz Plessners sicher, gerade wegen seiner
Kenntnis von Scheler und wegen Plessners geisteswissenschaftlicher
Motivierung und biologischer Schulung. Jahrzehnte später wird er in
einem vertraulichen Gutachten über Plessner einmal verlauten las-
sen: »Noch vor Max Scheler könnte man ihn den ersten Anreger der
heute so viel bearbeiteten ›Philosophischen Anthropologie‹ nen-
nen.« 14 Darin steckt vielleicht der Hinweis, dass gerade Rothackers
allmählich reifendes Projekt, eine Begründung der Geisteswissen-
schaften von der Philosophischen Anthropologie aus zu versuchen,
direkt von dem Vorbild Plessners angeregt wurde.
In jedem Fall war Rothacker gebannt von der philosophisch-an-
thropologischen Idee der beiden Philosophen in Köln, naturphiloso-
phisch die Mensch-Welt-Korrelation im kontrastiven Vergleich zur
Tier-Umwelt-Korrelation in der Verhaltensdimension herauszudre-
hen: Der Mensch ist das Lebewesen, das sich zu sich selbst verhalten
muss, sublimieren und handeln muss, wie es kein Tier tut; er muss
sein Leben korrelativ zu einer ihm offenen Welt führen. Rothacker
war sich auch sicher, dass gerade Scheler nach der anthropologischen
Grundlegung bei seiner intimen Vertrautheit mit dem »emotionalen
Apriori« die Strukturen des geschichtlichen Menschen als Ver-
schränkungen von Geist und Leibseele hätte aufweisen können. Aber
Schelers Interesse lag woanders, bei der Metaphysik, und Rothacker
registrierte hellwach die Lücke in der Philosophischen Anthropolo-
gie, die durch Schelers Tod offenblieb. In einer späteren Darstellung
von Schelers Anthropologieschrift ›Die Stellung des Menschen im
Kosmos‹ bemerkt man ganz deutlich Rothackers halb enttäuschte,
halb freudige Entdeckung einer Lücke, die er Anfang der 30er Jahre
sah, wenn er zum Schluss seiner Wiedergabe des Schelerschen Ge-
dankenganges kommt: »Aber anstatt nun mit Konsequenz bei der
anthropologischen Stange zu bleiben, wie es einer Einleitung in die
Anthropologie ziemen würde […], verzichtet die kleine Schrift jetzt
darauf, durch Anreihung der längst fertigen anthropologischen Ka-
pitel über die Struktur des geschichtlichen Menschen zu zeigen, wie

14E. Rothacker, Antrag, Akademie der Wissenschaften und Literatur, 3. 10. 61, Nachlaß
Rothacker, Briefwechsel Rothacker- Plessner, Beilage.

138 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

sich in der Wirklichkeit die Beziehungen von Geist und Drang fak-
tisch gestalten, sondern springt abrupt in ein rein metaphysisches
Kapitel über«. Auch wenn für Rothacker Scheler in seinen wissens-
soziologischen Schriften diese »anthropologischen Kapitel« über die
»konkreten Übergangsformen und Verschmelzungsprodukte von
Geist und Seele« 15 vorgearbeitet hatte, – die Verbindung zwischen
anthropologischer Grundlegung und geschichtlicher Welt war von
Scheler in seinen Publikationen nicht geleistet worden. Und ob – jetzt
nach seinem Tod 1928 – diese »anthropologischen Kapitel« im Nach-
lass wirklich vorlagen, konnte man bis zu dessen Veröffentlichung
nicht wissen.
Blieb Plessner. Rothacker konnte in Plessners ›Stufen des Orga-
nischen und der Mensch‹, das ihm dieser 1928 sofort zugeschickt
hatte, erkennen, dass Plessner dezidiert eine philosophisch-anthro-
pologische Grundlegung der geschichtlichen Welt und damit der
Geisteswissenschaften angesteuert hatte – »Ohne Philosophie des
Menschen keine Theorie der menschlichen Lebenserfahrung in den
Geisteswissenschaften. Ohne Philosophie der Natur keine Philoso-
phie des Menschen.« 16 Im 7. Kapitel der ›Stufen‹ hatte Plessner –
allerdings nur programmatisch – ein Konstitutionstheorem der ge-
nuinen Geschichtlichkeit des Menschen aus dem Expressivitätscha-
rakter der exzentrischen Positionalität gegeben. Plessner stellte seine
Philosophische Anthropologie dezidiert in den Zusammenhang der
Dilthey-Schule, indem er sich auf Mischs Auftrag berief; Rothacker
erwähnte er nicht, was innerhalb des Kommunikationsnetzes viel-
leicht ein Fehler war. Jedenfalls wird Rothacker Plessners Schwäche
erkannt haben, das Desiderat der Philosophischen Anthropologie –
die Struktur des geschichtlichen Menschen – für die Anschauung, in
der geisteswissenschaftlichen Forschung aus seinem naturphiloso-
phischen Ansatz heraus adäquat erfüllen zu können. Wahrscheinlich
wird er – über die Scheler-Plessner-Querelen unterrichtet – über-
haupt eine Schwäche Plessners in diesen Jahren nach 1928 wahr-
genommen haben.
Jedenfalls versucht Rothacker nun, in eigener Initiative, das Pro-
gramm einer philosophisch-anthropologischen Grundlegung der ge-
schichtlichen Welt einzulösen. Damit verknüpft er öffentlich von Be-
ginn an das Projekt der Gründung eines »Forschungsinstituts«,

15 E. Rothacker, Schelers Durchbruch in die Wirklichkeit, Bonn 1949, S. 13.


16 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 26.

Philosophische Anthropologie A 139


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

einem »Institut für psychische, historische und philosophische An-


thropologie«. Unter dem Eindruck der »theoretisch wohl überragend
bedeutendsten neueren Leistung der philosophischen Soziologie:
Schelers ›Die Wissensformen und die Gesellschaft‹«, ist es die »prak-
tische Aufgabe, »eine Wissenschaft vom Menschen zu schaffen, die
›anthropologische‹ und ›soziologische‹ Diskussion auf ein neues Ni-
veau zu bringen.« »Irgendwann und irgendwo könnte und müßte
eine gut zusammengesetzte Arbeitsgemeinschaft von philosophisch
und soziologisch geschulten Vertretern historischer Einzeldiszipli-
nen« sich gründen, »die sich zusammenfände, um in ununterbroche-
nem Kontakt und intensivster Arbeit an Hand des besten Materials«
alle »die Korrelationen« in der geistig-geschichtlichen Welt zu unter-
suchen. »Welche Wissenschaft lehrt uns aber, so intrikate Fragen wie
etwa die für Ideengeschichte und Zustandsgeschichte gleich brennen-
de nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis exakt zu beantwor-
ten? Theorie und Praxis, konkret aufgelöst in Fragen nach dem Ver-
hältnis ästhetischer Theorie und praktischer Kunstübung, religiöser
Dogmatik und lebendiger Frömmigkeit, Rechtsdogmatik und Rechts-
leben, Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, philosophischer
Systeme und lebendiger Weltanschauung. Wer beantwortet Fragen
nach den Beziehungen von Sprachstil und Kunststil, Kunststil und
philosophischer Haltung, philosophischer Haltung und sittlicher
Rückwirkung der beiden Seiten u. a. m.? Oder nach der Einbettung
unserer wissenschaftlichen, mythischen, religiösen, künstlerischen
Deutung der Welt in die Differenziertheit und Wandelbarkeit des
politischen, sozialen, sittengeschichtlichen, wirtschaftlichen Rah-
mens und Unterbaus?« Ein solches Forschungsinstitut muss syste-
matisch in einer »Lehre vom Menschen« und methodisch in der »so-
genannten Kultursoziologie« die geistesgeschichtliche Perspektive
mit der »soziologischen« und der »anthropologischen« verknüpfen.
Zum ersten Mal bringt Rothacker in diesem Kontext auch die – erst
viel später zum Zuge kommende – Idee eines ersten Teilprojektes auf,
die »Schaffung eines enzyklopädischen Wörterbuchs der gesamten
kulturphilosophischen, geschichtsphilosophischen, soziologischen,
philosophisch-anthropologischen Terminologie.« 17
17 E. Rothacker, Geisteswissenschaftliche Forschungsinstitute, in: L. Brauer/A. Mendel-
sohn Bartholdy/A. Meyer (Hrsg.), Forschungsinstitute. Ihre Geschichte, Organisation
und Ziele, Bd. 1, Hamburg 1930, S. 93–103. – Zu diesen Forschungsvorhaben Roth-
ackers vgl. auch Ch. Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer
Republik und im Dritten Reich, a. a. O., S. 26–265.

140 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

Bereits im Sommersemester 1929 arbeitet er in einer Vor-


lesung ›Zur Geschichte und Theorie der philosophischen Anthro-
pologie‹ 18 systematisch die biologischen und anthropologischen An-
sätze zu einer »Lehre vom Menschen« auf. 19 1932 hat er seine Idee,
die er in Auseinandersetzung mit der neomarxistischen Interpreta-
tion menschlicher Verhältnisse als Basis-Überbau bzw. Praxis-Theo-
rie gewinnt, aber noch nicht unter dem Titel Anthropologie vorträgt:
»Alles menschliche Verhalten erfolgt als Antwort auf erlebte Situa-
tionen« 20 , auf die je nicht nur richtig oder falsch geantwortet wird.
Sondern in je einer in bestimmter Hinsicht gedeuteten Situation ant-
wortet der Mensch mit einer Handlung, und ein solches auf Dauer
gestelltes Gesamtverhalten nennt Rothacker »Lebensstil«. Diese, die
äußeren und inneren Lagen durchprägenden »Lebensstile« bilden die
Korrelativitäts-Struktur gesellschaftlich-geschichtlicher Welt. In der
Umstellung des Basis-Überbau-Schemas in die situationsgebundene
Korrelativität von Lebenssubjekt und Objektssphäre greift Rothacker
auf Uexkülls Organismus-Umwelt-Objekt-Schema zurück, wie es
Scheler in die Mensch-Milieu-Welt-Formel verwandelt hatte. Uex-
külls biologische Bestimmung – »die Umwelt, wie sie sich in der Ge-
genwelt des Tieres spiegelt, ist immer Teil des Tieres selbst, durch
seine Organisation aufgebaut und verarbeitet zu einem unauflösli-
chen Ganzen mit dem Tiere selbst« 21 – hatte Scheler anthropologisch
transformiert in den relationalen Begriff des »Milieus«, das wie ein
»Zwischenreich« zwischen den Wahrnehmungsinhalten des Subjekts
und den objektiv gedachten Gegenständen sich bildet. Das Milieu ist
die »praktisch als wirksam erlebte Wertwelt« (das Nützliche, Ange-
nehme, Edle, Schöne, Gerechte etc.). Menschliche Individuen und
Gruppen tragen die jeweilige »Struktur des Milieus« mit sich he-
rum. 22 Rothackers Bemühen, die geisteswissenschaftliche Perspekti-
ve anthropologisch und soziologisch zu fundieren, das Verstehen von
Objektivationen zurückzubinden an eine Situationslogik des schöp-
ferischen Verhaltens, ist auch an Freyers Verwandlung der Soziologie

18 Vorlesungsverzeichnis Universität Bonn, Sommersemester 1929.


19 E. Rothacker, Zur Lehre vom Menschen. Ein Sammelreferat, in: Deutsche Viertel-
jahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 10 (1932), S. 173–184.
20 E. Rothacker, Überbau und Unterbau, Theorie und Praxis. Ein Vortrag, in: Schmollers

Jahrbuch, Jg. 56 (1932), S. 161–176.


21 J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere (1909), 2. verm. u. verb. Aufl. Berlin

1921, S. 196.
22 M. Scheler, Der Formalismus und die materiale Wertethik, GW 2, S. 156.

Philosophische Anthropologie A 141


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

aus einer »Logoswissenschaft« in eine »Wirklichkeitswissenschaft«


orientiert, 23 die schon Plessner gewürdigt hatte. Als Rothacker seine
Arbeiten 1932 an Plessner schickt, antwortet dieser in einem Brief
(den Rothacker gründlich liest und mit Annotationen versieht) kri-
tisch-zustimmend aus der Sicht seiner »Anthropologie der geschicht-
lichen Weltansicht« von 1931. 24 Dort hatte er entwickelt, dass der
Mensch wegen der Unbestimmtheitsrelation zu sich selbst, zugleich
Kennzeichen seiner Mächtigkeit, ständig eine Horizontlinie der Ver-
trautheit um sich ziehen müsse und könne, abgegrenzt gegen Frem-
des, Nichtdazugehöriges. Als »Macht« stehe er notwendig auch im
Kampf um sie; insofern impliziere philosophische Anthropologie als
›Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht‹ immer auch eine
»politische Anthropologie«. 25 Plessner betont die Parallelität zwi-
schen seinem Ansatz und den Bemühungen von Rothacker (die er
mit denen von Misch vergleicht) um eine »philosophische Anthro-
pologie«: denn wenn – anders als im Materialismus – bereits »die
Unterbauten das ideelle Moment enthalten […], dann kann auch
dem Überbau und Bewußtsein sein nur epiphänomenaler Wert wie-
der genommen werden.« Allerdings sieht er »weniger die quasi-äs-
thetische Kategorie des Stils als zentral« für die »exzentrische Posi-
tionalität« an als vielmehr die Kategorie der »Macht«, die eben
offensichtlich das Moment des Politischen und der Entscheidung im-
pliziert. Wo Rothacker einen Leitbegriff aus der Kunstsphäre bevor-
zugt, zieht Plessner einen aus der politischen Sphäre heran. Eine wei-
tere Differenz erkennt er darin, dass Rothacker im Begriff des
»Lebensstils« die jeweils künstliche Schließung der Weltoffenheit –
analog zu Uexkülls Umwelt – akzentuiere, während er, Plessner, im
immer erneuten Ausdruck der Weltoffenheit, der Unergründlichkeit
das spezifisch Menschliche erkennt: »Im Tier hat das Leben eine re-
lativ dauernde Antwort gefunden. Die Weltlichkeit des Menschen
erlaubt keine solchen Antworten. Jeder seiner Abkammerungsver-
suche gegen das Grenzenlose um ihn und in ihm ist eine Zwischen-
lösung.« 26 Wenig später arbeitet Rothacker schon an seiner »Ge-

23 H. Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft-Logische Grundlegung des Sys-


tems der Soziologie, Leipzig/Berlin 1930.
24 Plessner an Rothacker 17. 5. 1932, Nachlaß Rothacker, Briefwechsel Rothacker-Pless-

ner.
25 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der ge-

schichtlichen Weltansicht (1931), GS V, S. 140.


26 Plessner an Rothacker 17. 5. 1932, a. a. O., S. 2.

142 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

schichtsphilosophie«, die 1934 erscheinen wird, und seine anthro-


pologische Begründung der geschichtlichen Weltansicht enthalten
wird. Zu diesem Zeitpunkt ist Plessner schon fort. Rothacker wird in
seinem großen Entwurf weder die ›Stufen des Organischen‹ von 1928
mit ihrem Anspruch, die Theorie der Geisteswissenschaften zu be-
gründen, noch Plessners Versuch einer Konkretisierung in der ›An-
thropologie der geschichtlichen Weltansicht‹ von 1931 erwähnen.

1933/34 ist Rothacker mit seinem Neueinsatz der Philosophischen


Anthropologie da, und zwar in Gestalt einer Anthropologie der ge-
schichtlichen Welt: warum menschliches Leben und nur mensch-
liches Leben kulturell ist. Er hat damit eine Lösung für sein Problem
der Begründung der Geisteswissenschaften gefunden. Die Urzelle der
Kultur – und damit des Gegenstandes der Geisteswissenschaften – ist
die Verhaltensantwort des Menschen auf bestimmte Lagen, die er in
bestimmter Hinsicht deutet und zu denen er einen schöpferischen
Einfall hat. Kultur bildet sich nicht durch eine Handlung, sondern
durch auf Dauer gestellte Handlungen: durch »Haltungen«. Haltung
heißt: »Das einfallsreiche Leben antwortet auf Dauersituationen mit
Dauerreaktionen«. Und diese als Haltung auf Dauer gestellten Hand-
lungen sind kulturbildend als »öffentliche Haltungen« 27 , als das
»Man« (»man« macht das so, man denkt das so), als »öffentlich ge-
bräuchliche und öffentlich sanktionierte Verhaltensweisen« 28 – eben
»Kulturen als Lebensstile«. 29 »Und wie existieren solche Lebenssti-
le?« Als Kreisprozesse von Gemeinschaften und Gruppen im Ver-
hältnis zur Wirklichkeit. »Sie existieren in einer sich kumulierenden
Folge von Reaktionen lebender Menschen, die jeweils schon durch
ihren Stil geformt sind, auf ihre jeweils relativ neue Lebenslage. Kul-
turen leben also in einer pulsierenden Folge jeweils eingenommener
Haltungen und Haltungen implizierender Handlungen; welche Hal-
tungen und Handlungen antworten auf eine Lage, zu welcher die bis
dahin eingenommene Haltung ebenso gehört wie das außen jeweils
Begegnende.« 30
Diese These der »Kulturen als Lebensstile«, aufgebaut in Kreis-
prozessen, gewinnt Rothacker als spezifische Mensch-Welt-Korrela-

27 E. Rothacker, Geschichtsphilosophie, a. a. O., S. 70.


28 Ebd., S. 40.
29 Ebd., S. 37.
30 E. Rothacker, Überbau und Unterbau, a. a. O., S. 12 f.

Philosophische Anthropologie A 143


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

tion aus dem Hintergrundvergleich mit der Tier-Umwelt-Korrelation.


Das gilt es hier noch einmal zu betonen, um den philosophisch-
anthropologischen Konstruktionskern von Rothackers Kulturtheorie
sichtbar werden zu lassen. Tiere leben ihr Leben in »gelebten Wel-
ten«, Menschen führen und verantworten ihres in »erkämpften Wel-
ten«. Das Tier hängt abhängig, aber bezogen auf seine Lebensform
kraft der Interessiertheit seiner Triebe geborgen in seiner Umwelt –
der Lebenssphäre des »Funktionskreises«. Dem Menschen öffnet sich
prinzipiell die Umwelt zur Welt. Scheler, so Rothacker, erkennt hier
richtig »die für den Menschen konstitutive Fähigkeit, Distanz zu den
Dingen zu halten und damit die Welt des Umgangs, die uns, wie dem
Tier, dicht auf dem Leib sitzt, zu vergegenständlichen, in gegliederten
Gestalten und ausgedehnten Horizonten zu überschauen«; beides
gründet in der »Korrelation von Triebhemmung auf der Seite des
Subjekts und Distanz und Überschaubarkeit der Dinge auf der Ob-
jektseite«. Für Rothacker verhält es sich nun aber so, dass, wenn der
Mensch zwar »seiner spezifischen Konstitution nach die Dinge tat-
sächlich in relativer Distanz hält« – jetzt folgt sein Neueinsatz – »so
doch keinesfalls in absoluter.« 31 Denn »wenn man ein Tier definieren
könnte als den Inbegriff der seine Umwelt seligierenden Triebe, so
den Menschen, streng analog, als die Totalität dessen, was er liebt.« 32
Hier sitzt Rothackers Neueinsatz, der zugleich die Komplementie-
rung einer Lücke in der Schelerschen Anthropologie impliziert. We-
gen des Neinsagenkönnens muss der Mensch als Lebewesen zu sich
selbst in einer Lage Stellung nehmen, aber in einem »Bild«, einer
Deutungsformel. Diese Stellungnahme motiviert sich – das nennt
Rothacker den »Satz der Bedeutsamkeit« – als »Auswahl, Interesse,
Relevanz«. 33 »Denn nicht anders als wie die Aufgeschlossenheit eines
tierischen Bauplanes für bestimmte Sinnesgebiete die sinnliche Welt
dieser Organismen konstituiert, so konstituiert die emotionale Auf-
geschlossenheit für bestimmte Sinngebiete die Welten« 34 , die als par-

31 E. Rothacker, Geschichtsphilosophie, a. a. O., S. 97 f.


32 Ebd., S. 101.
33 Rothacker war auch beeindruckt durch die Anschauungsfülle von J. v. Uexkülls neuem

Buch: J. v. Uexküll/G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Men-
schen. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten, Berlin 1936. – Wiederabgedr. in: Dies.,
Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Ein Bilderbuch unsichtbarer
Welten. – Bedeutungslehre, mit e. Vorwort von A. Portmann u. e. Einleitung v. Th. v.
Uexküll, Frankfurt a. M. 1970.
34 E. Rothacker, Geschichtsphilosophie, a. a. O., S. 94.

144 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

tielle Welthorizonte die Kulturen darstellen. »Das klassische Beispiel


für diese Verhältnisse dürfte in dem Satze liegen, daß ein und dersel-
be Wald dem Bauer Gehölz sei, dem Förster Forst, dem Jäger Jagd-
gehege, dem Wanderer kühler Waldesschatten, dem Verfolgten Un-
terschlupf, dem Dichter Waldesweben usw. In diesem Sinne erleben
verschiedene Menschen denselben Weltstoff in ganz verschiedenen
Aspekten, Ansichten, Anschauungsseiten […]«. 35
Rothacker schließt seine ›Geschichtsphilosophie‹ von 1933/34
mit dem Kapitel »Im dritten Reich«, in dem er die »nationale Revo-
lution« des ›deutschen Volkes‹ zustimmend interpretiert. Er versteht
dabei den Rassegedanken als »nationalpolitische Erziehung« zu
einem Phänotypus und bekräftigt dieses Ziel bewusster »kulturpoli-
tischer Zucht« durch Zitate von A. Rosenberg und anderen Vorden-
kern des Nationalsozialismus. 36 »Wie ich aus […] dem letzten Ab-
schnitt ersehe«, quittierte der neben Rothacker in Bonn lehrende
Schelerfreund und Romanist E. R. Curtius dessen »freundliche Zu-
sendung«, »ist Ihr Buch in erster Linie politisches Bekenntnis, wo-
durch es sich freilich der philosophischen Dimension entzieht. Das
ich in einer solchen Wendung der Dinge nur eine Selbstaufgabe der
Philosophie sehen kann, wird Sie nicht überraschen.« 37 Der Scheler-
schüler und Bonner Rothacker-Kollege H. Lützeler kommentierte
später das frühe NS-Engagement Rothackers dahingehend, dass die-
ser sich eine Zeitlang auf den Nationalsozialismus eingelassen habe,
um hochschulpolitische Ziele, v. a. die von ihm bereits seit 1930 ver-
folgte Gründung eines Instituts für Geisteswissenschaft durchzuset-
zen. 38 Mit seiner Parteimitgliedschaft blieb Rothacker aber ein unsi-
cherer Kandidat, nicht nur für Lützeler, der durch seine katholische
Bindung schließlich die Lehrerlaubnis an der Universität verlor, son-
dern auch für den nationalsozialistischen Dozentenbund, der 1939
festhält: »Rothacker vertritt auch heute noch […] eine nationallibe-
rale Haltung, die ihn in den letzten Jahren immer wieder zu Mecke-
reien und teils bissigen, teils überlegen spöttischen Ablehnungen
oder Kritiken gegenüber nationalsozialistischen Maßnahmen und
Grundsätzen verleitet hat«, und »gefährdet dadurch die mit vieler

35 E. Rothacker, Selbstdarstellung (1940), in: Philosophenlexikon, hrsg. v. W. Ziegenfuß


u. G. Jung, Bd. 2, Berlin 1950, S. 380.
36 E. Rothacker, Geschichtsphilosophie, a. a. O., S. 146 f.

37 E. R. Curtius an E. Rothacker, 22. 3. 1934, Nachlaß Rothacker.

38 H. Lützeler, Erich Rothacker, in: Ders., Persönlichkeiten, a. a. O., S. 50 ff.

Philosophische Anthropologie A 145


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Mühe begonnene einheitliche Neuausrichtung der deutschen Wis-


senschaft.« 39 Obwohl Rothacker dann auch wieder Anpassungen leis-
tet, bleibt ein gravierender Punkt der Differenz: »Einem Gutachten
der SS zufolge ›verwirrt‹ R. den Rassegedanken und ›betont zwar,
daß der Anteil der Rasse an den historischen Erscheinungen offen-
sichtlich sei, legt aber den Akzent auf den Begriff der Zucht und
behaupte, daß Rasse letzten Endes ein Ergebnis des Willens und der
geistigen Zielsetzung sei‹ (ca. 1936).« 40 H. Marcuse, der für Hork-
heimers ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ Rothackers ›Geschichtsphi-
losophie‹ nicht nur wegen dieser politischen Option, sondern aus der
Perspektive einer marxistischen Geschichtsdialektik sehr kritisch be-
spricht, erkennt aber doch den systematischen Ansatz, nämlich das
»Programm einer universalen existenziell-anthropologischen Re-
duktion […], das R. entwirft: alle geschichtlichen Phänomene ›in
den Menschen und seine Uraktionen‹ zurückzuleiten.« 41

Diese Korrelationstheorie der »Lebensstile und Welten«, die Roth-


acker für den öffentlichen, geschichtlichen Menschen in Abhebung
zur Organismus-Umwelt-Korrelation gibt, hat er dann parallel in
einer Anthropologie der Persönlichkeitsschichtung zu stützen ge-
sucht. Rothacker expliziert also seine Philosophische Anthropologie
als Kulturanthropologie und als psychologische Anthropologie.
Letztere muss man parallel zu den elementaren Anthropologien an-

39 Schreiben des Dozentenbundführers an der Universität Bonn an den Rektor vom


11. 5. 1939, Personalakte Rothacker. In seiner Verwendung des Rasse-Begriffs bezog sich
Rothacker auf die Studie des Husserlschülers und Ethnologen L. F. Clauß, Rasse und
Seele, München 1926. Zu diesem Buch vgl. die kritische Würdigung durch K. Löwith,
Besprechung des Buches ›Rasse und Seele‹ (1926), abgedr. in: Ders., Sämtliche Schriften,
Bd. 1: Mensch und Menschenwelt. Beiträge zur Anthropologie, hrsg. v. K. Stichweh,
Stuttgart 1981, S. 198–208. – J. v. Kempski wird 1947 Plessner, der um Auskunft über
diesbezügliches Engagement von Kollegen bittet, Rothacker betreffend vermerken:
»Dann Rothacker, der wohl seit 1934 nur noch geschimpft hat.« J. v. Kempski an Pless-
ner, 1947, Nachlaß Plessner, Mappe 142.
40 Quelle Berlin Document Center, zit. n. G. Leaman, Heidegger im Kontext. Gesamt-

überblick zum NS-Engagement der Universitätsphilosophen, Hamburg/Berlin 1993,


S. 73. – Zu Rothackers Theoriebildung mit Bezug auf das »nationalsozialistische Para-
digma« auch V. Böhnigk, Kulturanthropologie als Rassenlehre. Nationalsozialistische
Kulturphilosophie aus der Sicht des Philosophen Erich Rothacker, Würzburg 2002. –
Ch. Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im
Dritten Reich, a. a. O., S. 262–265.
41 H. Marcuse, Besprechung: E. Rothacker, Geschichtsphilosophie (u. a. Autoren), in:

Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. III (1934), S. 263-265, hier S. 264.

146 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

derer Autoren lesen. Er verarbeitet darin die lebensphilosophische


Bewusstseinspsychologie von Palágyi und Klages, die Tiefenpsycho-
logie von Freud, Jung und McDougall, v. a. aber auch Scheler, dabei
nicht unberührt von Hartmanns sich philosophisch durchsetzender
Ontologie der Schichtung. Seine ›Schichten der Persönlichkeit‹ von
1938 42 wollen entgegen einer entwicklungstheoretischen Sicht, nach
der höhere Funktionen (die Ich-Funktion) die früheren Funktionen
(das Es) ersetzen, und entgegen einer zu strikten Entgegensetzung
der obersten Funktion gegen die niederen Funktionen bei Scheler,
also gegen die »Proportion Mensch:Tier = Distanz:Drang« 43 die Ver-
klammerung der Schichten in der Person aufzeigen. 44 Rothacker un-
terscheidet eine Vitalschicht (»das Tier in uns«), welche die seelische
Schicht unterbaut (»das Kind in uns«), und eine Personschicht, in
welcher die »Ich-Funktion« (»Ich ›nehme‹ mich in die Hand«) die
anderen Schichten überbaut, von denen sie zugleich getragen wird.
Entscheidend für Rothacker ist nun, das Spezifikum des Menschen
in der Korrelation Mensch-Welt bereits auf der Korrelationsebene
»Tiefenperson und Umwelt« anzusetzen. »Es handelt sich um die
typische Beeindruckbarkeit unserer Tiefenperson durch ›Bilder‹ oder
bildhafte Erlebnisse«. 45 »Die anschaulichen, stark gefühlsdurchwirk-
ten, für unseren jeweiligen Lebenszustand bedeutsamen Aspekte
bestimmter Wirklichkeitsbestandteile nennen wir Bilder.« 46 Gegen-
über diesen gefühlsgefärbten, immer schon anschematisierten Bil-
dern mit ihrer Es-Nähe erreicht die Ich-Funktion als Wille, kon-
trollierte Tat, Selbststeuerung und Integration der Ganzheit der
Persönlichkeit partielle Distanz, aber die Person als ganze kann aus
der spezifischen menschlichen Bilderschicht nicht aussteigen. In die-
ser Tiefenperson, sozusagen der von der Vital- wie von der Ich-
Schicht abgesetzten, aber mit beiden verklammerten Zwischen-
schicht, ereignet sich in handlungsmäßig zu bewältigenden Lagen
je neu die »grundsätzliche Konstitution unserer praktisch erlebten
und gelebten Umwelt.« 47

42 E. Rothacker, Die Schichten der Persönlichkeit, a. a. O.


43 Ebd., S. 36.
44 Vgl. H. Thomae, Herkunft und Bedeutung des psychologischen Werkes Erich Roth-

ackers, in: G. Martin/H. Thomae/W. Perpeet, In memoriam Prof. Erich Rothacker, Bonn
1967, S. 13–26.
45 E. Rothacker, Die Schichten der Persönlichkeit, a. a. O., S. 30.

46 Ebd., S. 32.

47 Ebd., S. 30.

Philosophische Anthropologie A 147


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Mit diesem Buch gewinnt der philosophisch-anthropologische An-


satz innerhalb der Psychologie prägnante Gestalt. Zeitgleich mit
Rothackers ›Schichten der Persönlichkeit‹ erscheint Ph. Lerschs ›Auf-
bau des Charakters‹. Der von den Münchener Phänomenologen aus-
gebildete, von Klages’ Ausdruckspsychologie beeindruckte philo-
sophische Psychologe hatte sich unter dem Eindruck von Schelers
Anthropologie von dem lebensphilosophischen Sog der Philosophie
Klages’ gelöst, um nun eine Personpsychologie vorzulegen, in der das
Spannungsverhältnis zwischen Leben und Geist im ›Aufbau der Per-
son‹ nachvollzogen wird. Beide Werke – das von Rothacker und das
von Lersch – mit ihren Umarbeitungen und zahlreichen Neuauflagen
bildeten einen Fokus philosophischer Anthropologie innerhalb der
Psychologie. Adorno, im New Yorker Exil, bespricht übrigens Roth-
ackers Buch als ein »Kompendium der gesamten antimechanistischen
Psychologie der Gegenwart« mit verhaltenem Respekt: Zwar ver-
arbeite Rothacker die »irrationalistischen Theorien vom Schlage
Palágyis, Klages’ und Jungs. Doch wird versucht, die extreme These
der Bewußtseinsfeindschaft durch Unterscheidungen wie die von
›echtem Bewußtsein im Sinne von verstärkter Wachheit‹ und ›Selbst-
bewußtsein als Reflexion‹ konziliant abzumildern. Psychoanaly-
tische Termini wie Verdrängung und Zensur sind übernommen;
gegenüber dem modischen Ganzheitsbegriff werden Vorbehalte ge-
macht. […] Auffallend die politische Zurückhaltung. Die übliche
Nutzanwendung der organisch geschichteten Persönlichkeit unter-
bleibt. Das Kapitel über Völkerpsychologie kann wegen seiner Be-
tonung historischer Momente gegenüber den Invarianten als ver-
steckte Polemik wider die Rassedoktrin gelten.« 48

Konsequent verfolgt Rothacker in den 30er Jahren das Programm


seiner Philosophischen Anthropologie unter Einschluss der psycho-
logischen Anthropologie bis hin zur ›Kulturanthropologie‹ von 1942.
Nicht nur ist diese Zwischenschicht des Persongefüges als Ort der
Bilder der schöpferische Ort jeweiliger Weltbild-Stiftung, der Spra-
che, der Anschauung, der Metaphern, der Symbole, der Mythen, der
Kunst, der Dichtung, der Sympathie, also der Konstitutionsort der
Kultur, sondern zugleich der Ort, an dem die Lebensgefühle der Per-
sonen durch die jeweilige Kultur am tiefsten geprägt werden. Kraft

48Th. W. Adorno, Besprechung: E. Rothacker, Die Schichten der Persönlichkeit, in:


Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. VII (1938), S. 423.

148 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

dieser verhaltensbezogenen Bilder verwandelt sich Welt in einen In-


begriff von »Bedeutsamkeiten« und »Indifferenzen«: »Sie liegt um
uns als ein mehr oder weniger vertiefter Welthorizont (Grade der
Einsenkung des Blicks in die Bedeutsamkeitsschichten der wirklichen
Dinge).« 49 Zugleich existieren Menschen in diesen begrenzten Welt-
horizonten ihrer Kulturen: sie sind schlechterdings angewiesen auf
»jahrtausendelange Prägungs-, Stilisierungs-, Artikulierungs- und
Differenzierungsarbeiten ihrer Kulturen.« 50 Rothackers Lieblings-
beispiel eines kulturellen »Lebensstils« ist Diltheys Kennzeichnung
der antiken Kultur der Römer. »Dort seien es die Herrschaftsverhält-
nisse in Familie, Besitz, Magistratur und politischem Einfluss für die
regierende Klasse gewesen, welche den Spielraum ihrer Tätigkeit
dargestellt hätten. Diese Werte hätten die Schätzung der Güter des
Lebens bestimmt. Ein Volk ohne Göttergeschichten, ohne Epos, ohne
wirkliche Philosophie, die ganze Kraft seines Denkens gesammelt in
der Kunst und den Regeln der Lebensbeherrschung. Überall hätten
die Römer an deren Gestaltung gearbeitet, überall gestrebt, hierfür
die Regeln zu entwerfen […]. Der Gedanke der Herrschaft sei das
Prisma gewesen, durch welches das ältere römische Recht als größte
Schöpfung des römischen Geistes sämtliche Verhältnisse des Lebens
betrachtet habe. […] Vom Rechte aus werden für den römischen
Geist Willensherrschaft, Zweckmäßigkeit, Utilität und Regel zu Or-
ganen für das Gewahren und Begreifen schlechthin. ›Eine Welt neu-
er Begriffe tritt so mit dem Römervolk über den Horizont des […]
Bewußtseins. Es ist, als ob ein neuer Erdteil aus dem Meere aufstei-
ge.‹« 51 »Lebensstil und Welt-Bild« sind dabei zwei Aspekte desselben
Kulturstiles. Eine schöpferische Antwort, die auf eine druckausüben-
de Lage auf Dauer gestellt (»Lebensstil«) wird, ist die Quelle be-
stimmter Anteilnahmen an bestimmten Seiten der Gesamtwirklich-
keit (»Weltbild«).
Für Rothacker sollte sein Einsatz der Philosophischen Anthro-
pologie als »Kulturanthropologie« zeigen, dass die Kulturhaftigkeit
des Menschen zwar durch seine Distanzfähigkeit ermöglicht, das Le-
ben aber in bildhaft vermittelten Welthorizonten durch Distanzleis-
tungen nicht überwindbar ist, auch wenn sich in bestimmten Kul-
49 E. Rothacker, Schichten der Persönlichkeit, a. a. O., S. 31.
50 E. Rothacker, Probleme der Kulturanthropologie, a. a. O., S. 174.
51 Ebd., S. 170. (Zu Rothackers Bezugsquelle vgl. W. Dilthey, Weltanschauung und

Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, hrsg. v. G. Misch, in: W. Dilt-
hey, Gesammelte Schriften, Bd. II, 9. Aufl. Göttingen 1969, S. 9 f.).

Philosophische Anthropologie A 149


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

turen Distanzleistungen gegenüber der natürlichen Weltansicht – in


Spätformen der Wissenschaft – verselbständigen. »Die Wissenschaft
hat die menschliche Lebenspraxis und das dieser korrelate Weltbild
keineswegs verdrängt. Wir alle leben noch in einer Welt der Bilder
und denken nicht im Mindesten daran, dieselbe in unseren prakti-
schen Lebensentscheidungen zu verlassen. Noch nie hat es jemanden,
den es nach einem selten gewordenen Leckerbissen verlangte, ge-
reizt, ein Elektronenbündel zu schlucken. […] Die ganze Welt aber,
in der wir praktisch leben und wirken, einschließlich natürlich der
politischen, wirtschaftlichen, religiösen, künstlerischen Lebensbetä-
tigungen bewegt sich in ›Lebenskategorien‹, deren Inbegriff als ›vor-
wissenschaftliches Weltbild‹ […] eines der zahlreichen, kaum ange-
schnittenen Themen der ›philosophischen Anthropologie‹ darstellt.«
Dabei ist die »Tatsache, daß alle unsere großen Lebensentscheidun-
gen in einer ›naiv-realistischen Welt‹ fallen, daß die ganze Welt-
geschichte und auch das Thema aller historischen Wissenschaften
und Philologien in dieser naiv-realistischen Welt sich abspielt, ein
Argument von größtem Gewicht auch für die Behandlung erkennt-
nistheoretischer Fragen«. 52 U. a. deshalb, weil die »eigentliche Fund-
grube« für eine erkenntnisanthropologische Untersuchung des
Mensch-Welt-Verhältnisses die »Analyse von Bildern und Meta-
phern« sei. 53
Rothacker hat seine These der Philosophischen Anthropologie,
dass der Mensch in seiner Distanzfähigkeit zugleich umweltgebun-
den in einer Zone der Bilder sein Leben führen müsse, noch dreifach
gestützt. Zum einen durch eine »Dialektik des bildhaften Erlebens«.
Für das menschliche Lebewesen kommt es nicht auf die Blickdistanz
überhaupt an, sondern auf »ein richtiges Abstandnehmen des Blicks
zwischen zu nahe und zu weit.« 54 An dieser Dialektik des Blickes
zwischen Ferne und Nähe erkannte Rothacker zweitens zugleich ein
Polaritätsgesetz der menschlichen Sphäre, das ihm die anthropologi-
sche Begründung der von Dilthey am philosophiegeschichtlichen
Material eruierten drei Typen von Weltanschauungen erlaubte.
Dem menschlichen Lebewesen ist die Tendenz zum Abstandnehmen
als Wille zum Unendlichen möglich; dem entspricht, was Dilthey den
»Idealismus der Freiheit« genannt hatte: die Urtendenz zur dualisti-

52 E. Rothacker, Probleme der Kulturanthropologie, a. a. O., S. 165 f.


53 E. Rothacker, Geschichtsphilosophie, a. a. O., S. 124.
54 Ebd., S. 136.

150 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

schen Errichtung eines Ideals, eines ›Du sollst‹, eines Eigentlichen,


eines Übersinnlichen, eines Unbedingten, Göttlichen, Absoluten –
gegenüber dem sinnlich weltlichen Leben. Auf dem anderen Pol ist
dem menschlichen Lebewesen der Wille zum Endlichen möglich, die
naturalistische Wirklichkeitsbejahung, die Entscheidung für das
Sinnliche als energischer Widerstand des Irdischen gegenüber dem
radikalen Zug ins Absolute. Drittens ist dem menschlichen Lebewe-
sen die Tendenz zum Gleichgewicht, zur Proportion möglich, was
Dilthey »objektiven Idealismus« genannt hatte: die Urtendenz zu
einem Ausgleich von Sinn und Sinnlichem, die Tendenz, Sinnhaftes
in dieser endlichen Wirklichkeit zu entdecken und einzustücken –
wofür neben der sakramentalen Religion die ästhetische Haltung
exemplarisch steht. 1943 pointierte Rothacker – im Namen der Phi-
losophischen Anthropologie – diese Linie, indem er dem Gleichnis
eines reinen Philosophen – Platons Höhlengleichnis, das den Auf-
stieg des Menschen von der Befangenheit der Schattenwelt des Sei-
enden zur reinen Lichtquelle, dem Sein, beschreibt – das Gleichnis
eines Dichters entgegen setzte, den Goetheschen Gedanken: »Am far-
bigen Abglanz haben wir das Leben«. Der Mensch, so interpretierte
Rothacker, ist disponiert, farbig Erleuchtetes zu sehen, nicht das Licht
schlechthin. Als endliches Lebewesen, das Abstand zu sich hat, lebt
der Mensch – »nicht unmittelbar, sondern mittelbar, gebrochen im
sinnlichen Mittel, im irdischen Medium, im Abglanz, Symbol,
Gleichnis, in sinnlichen Entsprechungen, Analogien« – das absolute
Sein. 55 Rothackers Neueinsatz in Richtung einer Kulturanthropolo-
gie – seit 1933/34 vorgetragen – hält in den 30er Jahren, unter ver-
änderten diskursiven Umständen, das Erwartungsfeld Philosophische
Anthropologie offen. Ein gewisses Milieu dafür bildet die ›Deutsche
Philosophische Gesellschaft‹, deren Organ – die ›Blätter für Deutsche
Philosophie‹ – in diesen Jahren die wichtigste Philosophiezeitschrift
wird. Schon 1929/30 war hier das von V. v. Weizsäcker veranstaltete
Themenheft zur »philosophischen Anthropologie« erschienen, 1935
dann der Aufsatz von F. Seifert zur »anthropologischen Wende in der
Philosophie«. Ab 1935 verdichtet sich die anthropologische Thematik
auf Tagungen und bei Vorträgen in Ortsgruppen der Philosophischen
Gesellschaft. Auf einer Tagung September 1936 zu »Geist und Seele«

55 E. Rothacker, Vier Dichterworte zum Wesen des Menschen (1943), in: Ders., Mensch
und Geschichte. Studien zur Anthropologie und Wissenschaftsgeschichte, Bonn 1950,
S. 198.

Philosophische Anthropologie A 151


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

spricht neben Spranger und Heimsoeth auch E. Rothacker; zu den


Diskutanten zählen neben anderen N. Hartmann und Arnold
Gehlen. 56

Der 32jährige Gehlen steht zu diesem Zeitpunkt an einer Wende sei-


ner philosophischen Entwicklung, die er mit einem spezifischen Neu-
einsatz der Philosophischen Anthropologie abschließt – das Resultat
wird 1940 mit dem Buch ›Der Mensch. Seine Natur und seine Stel-
lung in der Welt‹ vorliegen. Um Gehlens Durchbruch zu verstehen,
muss man auf seine philosophische Problembiographie und seine Re-
zeption der Pionierleistungen von Scheler und Plessner sehen.
Gehlen hatte seit 1924 in Leipzig v. a. bei Hans Driesch studiert,
der, von Köln kommend, seit 1921 dort lehrte. Der mit seiner ›Phi-
losophie des Organischen‹ berühmt gewordene Driesch wurde für
Gehlen der wichtigste Lehrer für den Zwischenbereich zwischen Phi-
losophie und Biologie, ganz ähnlich wie für Plessner elf Jahre zuvor
in Heidelberg. Gehlen – der aus Leipzig stammte – wird seine Studi-
enjahre und ersten Dozentenjahre bis 1933 ausschließlich in Leipzig
verbringen. Nur für ein Semester geht er fort – WS 1925/26 – nach
Köln, »um Nicolai Hartmann und Max Scheler zu hören« 57 , wie er
später berichtet. Das ist nun aber genau das Urlaubssemester von
Scheler, in dem dieser – um in Ascona seine »Anthropologie zu
schreiben« – in seinen Vorlesungen und Übungen sich offiziell durch
Plessner vertreten lässt 58 , der ebenfalls an seinem Buch sitzt. Gehlen
hatte also die Absicht, bei Scheler zu hören, kann ihm aber nicht
begegnet sein (und hat genau genommen später auch nie behauptet,
ihn tatsächlich gehört zu haben), da dieser abwesend war; vermutlich
hat er aber bei Plessner gehört (der Scheler vertritt). Inwieweit es
hier zu einer ersten – befremdenden – Begegnung kam, ist unklar.
In jedem Fall rührte aus diesem Kölner Semester Gehlens Bekannt-
schaft mit Nicolai Hartmann.

56 Vgl. R. P. Fischer, Um Leib und Leben. Die anthropologische Wende in der deutschen
Philosophie der Zwischenkriegszeit (1920–1940), a. a. O., S. 333.
57 L. Samson, Nachwort, in: A. Gehlen, Philosophische Schriften I (1925–1933), hrsg. v.

L. Samson, GA 1, S. 417.
58 Schreiben an den »Herrn Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung« vom

»30. Mai 1925«: »Dem Herrn Minister unterbreite ich namens der Fakultät die Bitte,
den Privatdozenten für Philosophie Dr. Helmuth Plessner mit der Vertretung des im
Winter-Semester 1925/26 beurlaubten ordentlichen Professors Dr. Max Scheler zu be-
auftragen.« Personalakte Plessner Universitätsarchiv Köln.

152 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

Zentrales innerphilosophisches Motiv Gehlens ist von Beginn


an ein »Mißtrauen in den Geist« 59 als reiner Reflexionssubjektivität,
demgegenüber eine Orientierung zum Objektiven hin. Seine Disser-
tation schreibt er – begutachtet von Driesch und Th. Litt – ›Zur Theo-
rie der Setzung und des setzungshaften Wissens‹ bei Driesch. Für
Driesch ist »Setzung« die Leistung, in der das Subjekt durch Ausson-
dern, Festhalten und Benennen überhaupt Erlebtes als »Gegenstand«
hat; Gehlen fragt, ob es demgegenüber für das Subjekt auch eine
andersartige Erfahrungsinstanz, eine »Sphäre des setzungsfrei Gege-
benen« – also gleichsam von der Setzung unabhängige Gesetztheit –
gibt. Die konkreten Zweifel gegen das subjektiv setzende und reflek-
tierende Bewusstsein – verbunden mit einer tiefen Affinität zu Scho-
penhauers Philosophie – führen aber nicht etwa zur Preisgabe der
Philosophie, sondern durch ihr Medium zur Suche nach der Wirk-
lichkeit – nach dem »wirklichen Geist«. 60 Seine Habilitation ›Wirk-
licher und unwirklicher Geist‹ 61 entwickelt eine existenzdialektische
»Logik von Situationen« des Geistes bzw. des Menschen. Die erste
Stufe (des Kindes) – »der andere sein wollen« – führt durch Nach-
ahmung und Wiederholung der Anderen zum Selbst, das sich da-
durch selbst – wegen der Nachahmung – zugleich das Fremdeste,
nicht Eigene ist. Im Gegenzug führt die zweite Stufe (frühe Jugend)
– »Man selbst sein wollen« – zur »Verschlossenheit und Phantastik«:
Das Selbst entdeckt sich zwar selbst, aber in der prekären Brüchigkeit
seiner Potentialität: »Die Handlung, zu der ich mich aufraffe, fährt
fremd und peripher aus mir heraus, halb gewollt, halb erlitten; ich
bin nicht in ihr« 62 . Die Gefahr ist, dass der Geist sich durch Reflexion
im Inneren verfängt mit der Folge des Realitätsverlustes. Nur durch
»Handlung«, die bestimmte Möglichkeiten der Welt realisiert, indem
sie sich durch diese bestimmten Sachgegebenheiten und Personen –

59 A. Gehlen, Zur Theorie der Setzung und des setzungshaften Wissens bei Driesch
(1927), GA 1, S. 27.
60 Zu Gehlens philosophischer Entwicklung: L. Samson, Naturteleologie und Freiheit

bei Arnold Gehlen. Systematisch-historische Untersuchungen, Freiburg/München


1976. – K.-S. Rehberg, Existentielle Motive im Werk Arnold Gehlens. ›Persönlichkeit‹
als Schlüsselkategorie der Gehlenschen Anthropologie und Sozialtheorie, in: H. Klages/
H. Quaritsch (Hrsg.), Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Arnold Gehlens. Vor-
träge und Diskussionsbeiträge des Sonderseminars 1989 der Hochschule für Verwal-
tungswissenschaften Speyer, Berlin 1994, S. 491–530.
61 A. Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist. Eine philosophische Untersuchung in

der Methode absoluter Phänomenologie (1931), GA 1, S. 127.


62 Ebd., S. 185.

Philosophische Anthropologie A 153


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

»Erfahrung des Anderen« 63 – bestimmen lässt und damit bedrohliche


und fremde Wirklichkeit in sich hineinnimmt, bildet sich »wirklicher
Geist«. Gehlen hat hier 1931 schon die Grundidee des »Seins durch
Andere« gefunden. Kurz darauf aber verwirft er diese an Kierkegaard
orientierte existenzphilosophische Durchführung als zu subjektivis-
tisch. Gehlen wird nicht zur Existenzphilosophie Heideggers und Jas-
pers’ übergehen. 64

Die Suchbewegung beibehaltend, arbeitet er sich in den Idealismus


ein, und im intensiven Einleben in die Bewegungsfiguren von Hegel,
Schelling, v. a. Fichte, gelingt ihm 1932/33 für sein Denken die Frei-
legung der »Tatsache des indirekten Verhältnisses des Seins zu sich
selbst«, durchgespielt in einer ›Theorie der Willensfreiheit‹ : die »In-
direktheit des Seins zu sich« zeigt sich im Fall der Freiheit des Wil-
lens als »freiwillige Aufgabe der Freiheit«. 65 Freiheit ist nur indirekt,
nur bezogen auf die Natur, in der sie sich als Handlung realisiert, sie
selbst, und umgekehrt, nur als Naturseite eines freien Individuums
erreicht die Natur ihre eigene Wirklichkeit als Natur. »Der erfüllte
Freiheitsbegriff, als Bejahen der Natur und als Angepaßtheit der Na-
tur an Freiheit (›der Leib ist so eingerichtet, daß durch ihn mit Frei-
heit gewirkt werden könne‹) und gegenseitiges Sich-voraussetzen
findet seine Realisierung in jeder Handlung!« 66 Gehlen spricht in
diesem Zusammenhang vom rituellen Formenschatz der Kirche als
Grundlage der Religion. Schon in seinem Festschrift-Beitrag für
H. Driesch – ›Reflexionen über die Gewohnheit‹ – war Gehlen vom
Geistcharakter der eingeschliffenen Handlung fasziniert: »Auf diese
Weise entstehen die erstaunlichen Leistungen der Jongleure und
Akrobaten, die so ihren Verstand gewissermaßen in ihre Glieder ein-
üben.« 67

63 Ebd., S. 295.
64 Gehlen äußert 1963 über das Buch: »Es erschien 4 Jahre nach Heidegger und 1 Jahr
vor Jaspers’ Wendung zum Existentialismus (›Philosophie‹). Man würde mir heute nicht
glauben, daß ich ›Sein und Zeit‹ nicht gelesen hatte, deshalb habe ich das nie gesagt, aber
ich kannte eben auch Kierkegaard. Am eigenen Werk erkannte ich sogleich die Beliebig-
keit existentialistischer Beschwörungen und hier liegt ein Bruch: ich schwenkte sofort
zu Fichte ab, und schrieb die Broschüre ›Idealismus und Existenzphilosophie‹, die zur
Entfremdung mit Jaspers führte, der Kontakt gesucht hatte.« Gehlen an F. Jonas
4. 11. 1963, zit. n. K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers, GA 3.2, S. 889 f.
65 A. Gehlen, Theorie der Willensfreiheit (1935), GA 2, S. 165 f.

66 Ebd., S. 164.

67 A. Gehlen, Reflexionen über Gewohnheit (1927), GA 1, S. 100.

154 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

1933 ist Gehlen Assistent von H. Freyer am Soziologischen In-


stitut der Universität Leipzig. Er erfährt wichtige disziplinäre, the-
matische und intellektuelle Prägungen in dem wissenschaftlichen
Kreis um Freyer, der seit 1925 den ersten deutschen, allein der So-
ziologie gewidmeten Lehrstuhl in Leipzig innehatte. 68 In der Tradi-
tion von Wundt und neben Driesch verkörperte Freyer für Gehlen,
aber auch z. B. für den jungen Psychiater Bürger-Prinz die ein-
heitswissenschaftliche Lehr- und Forschungstradition der Leipziger
Universität. Gegen die zweckrationale Fokussierung des Handlungs-
begriffes verfolgte Freyer eine gründungs- und tatbezogene Hand-
lungstheorie, wie sie auch Plessner – für den Freyer die zwanziger
Jahre hindurch ein Referenzautor war 69 – in ›Macht und mensch-
liche Natur‹ ausgezeichnet hatte. Neben diesem genuinen Interesse
an der politischen Anthropologie teilte der Leipziger Kreis um Frey-
er und Gehlen, zu dem Anfang der 30er Jahre auch der junge Hel-
mut Schelsky als Student stieß, die originäre Aufgeschlossenheit für
das Thema der kapitalistischen Ökonomie, vor allem für Technik
und Industriearbeit als kategorialem Zentrum einer modernen Ge-
sellschaft.
In den Jahren seit 1933, in denen er fasziniert ist von der Diszi-
plinierungsdynamik des Nationalsozialismus, macht Gehlen nun äu-
ßerst rasch Karriere als Philosoph, indem er politisch geräumte,
durch Exilierung (zunächst den von Tillich in Frankfurt 1933) oder
frühzeitige Pensionierung freigewordene Lehrstühle besetzt und zu-
gleich durch Lehrerfolge überzeugt. Im Sommersemester 1934 wird
er erst Vertreter, dann im Wintersemester 1934/35 Nachfolger seines
1933 entlassenen Lehrers Driesch. Sein Aufstieg in Leipzig findet

68 K.-S. Rehberg, Hans Freyer (1887–1969), Arnold Gehlen (1904–1976), Helmut


Schelsky (1912–1984), in: D. Kaesler (Hrsg.), Klassiker der Soziologie, Bd. 2, Von Tal-
cott Parsons bis Pierre Bourdieu, München 1999, S. 72–104.
69 Bereits im Vorwort zu ›Grenzen der Gemeinschaft‹ 1924 hatte Plessner wegen des

»Objektivismus Hans Freyers« diesen zu den »produktivsten Männern« gerechnet, die


in der Philosophie den »Mut zur Wirklichkeit« aufbrächten (H. Plessner, Grenzen der
Gemeinschaft, GS V, S. 13); diese Anerkennung setzt sich fort 1928 in seiner ausführ-
lichen Besprechung der 2. Aufl. von Freyers ›Theorie des objektiven Geistes‹ : H. Pless-
ner, Besprechung von: ›Hans Freyer, Theorie des objektiven Geistes. Eine Einleitung in
die Kulturphilosophie‹, in: Deutsche Literaturzeitung, Jg. 49 (1928), Sp. 2543–2550.
H. Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, a. a. O., S. 240, hatte zustimmend
Plessners Kritik der »Gemeinschaft als Idol« erwähnt, um dann allerdings »Gemein-
schaft« als einen prägnanten, auf die Gegenwartsentwicklung bezogenen Struktur-
begriff zu entwickeln.

Philosophische Anthropologie A 155


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

parallel zu dem aus politischen Gründen erfolgenden Rückzug von


Th. Litt statt. 70 Er gilt als einer der begabtesten, vielversprechenden
deutschen Philosophen. Er ist aktiv in der Deutschen Philosophischen
Gesellschaft um die ›Blätter für Deutsche Philosophie‹.
In diesem Erwartungshorizont, um 1935 herum, versucht er,
seine Grundidee – »Indirektheit des Seins zu sich selbst« – als »phi-
losophische Anthropologie« zu konkretisieren, also eine noch stärke-
re Nähe zur Sache zu gewinnen. Im Aufsatz ›Idealismus und die
Lehre vom menschlichen Handeln‹ (1935) ist sein Ausgangspunkt
dabei die Analyse der »Situation, d. h. eine jede konkrete Befindlich-
keit des ganzen Menschen« als »Situation des Denkenden«, in der ich
mich »geschichtlich« vorfinde. »Geschichtlich« ist diese »konkrete
Befindlichkeit des ganzen Menschen«, »indem die vorgefundenen
Lebensbedingungen jeweils ohne mein Zutun schon gewachsen sind;
indem ich meine Existenz abhängig und bezogen finde von zahllosen
geschichtlichen Bedingungen, deren Inbegriff Kultur heißt.« Von
dieser Situationsanalyse lassen sich im Hinblick auf die Frage nach
dem Wesen des Menschen Bestimmungen wie Geselligkeit, Umar-
beitung der Natur, und zum Wesen gehörende Tatsachen wie Familie,
Staat, Tradition, Arbeit, Technik ermitteln, ein »Grundbestand der
philosophischen Anthropologie«, dabei aber die »objektive Seite der-
selben (Rassen- und Völkerlehre des homo sapiens, Frage des We-
sensunterschiedes vom Tierreich, ›Stellung des Menschen im Kos-
mos‹ usw.) beiseite lassend.« 71
Damit hat Gehlen zwar den Titel der »philosophischen Anthro-
pologie« erreicht, aber noch nicht seinen Neueinsatz des Denk-
ansatzes der »Philosophischen Anthropologie«. Der wird für seine
Denkbiographie unmittelbar mit einer letzten Steigerung der »In-
direktheit des Seins zu sich selbst« verknüpft sein. Ausschlaggebend
für seinen spezifischen Durchbruch zur objektiven, »indirekt« ver-
fahrenden Philosophischen Anthropologie wurde seine jetzt einset-
zende Auseinandersetzung mit deren Pionierleistungen. Erhellend
dafür ist die überlieferte Mitschrift einer Vorlesung Gehlens zum
»Problem des Menschen. Resultate in der philosophischen Anthro-
pologie« am Ende des WS 1935/36, die erst knapp 60 Jahre später

70 Zu den Berufungen von A. Gehlen vgl. Ch. Tilitzki, Die deutsche Universitätsphi-
losophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, a. a. O., S. 633 ff.
71 A. Gehlen, Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln (1935), GA 2,

S. 341.

156 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

veröffentlicht werden wird. 72 Gehlen beendete seine Vorlesung über


›Die neueste Philosophie seit 1850‹ mit einer dreistündigen Einfüh-
rung in die »philosophische Anthropologie«, in der er Grundgedan-
ken von Scheler und Plessner rekapitulierte, ohne deren Namen oder
Werke zu nennen. 73 In diesen Überlegungen vollzieht sich Gehlens
Wende zur objektiven Anthropologie, verknüpft mit der Intuition,
wo er den Neueinsatz wagen könne. Der erste Teil der Darlegungen
Gehlens gibt drei von Scheler typisierte Theorien zum Menschen
(antik, christlich, naturalistisch), dann das an Scheler angelehnte
Stufenschema von Instinkt, Gewohnheit, praktischer Intelligenz
und schließlich Gegenstands- und Selbstbewusstsein des Menschen
mit Gehlenschen Zusätzen und Reduktionen. 74 Der zweite Teil von
Gehlens Darlegungen reproduziert Plessnersche Überlegungen über
»Indirektheit« und Umweghaftigkeit der menschlichen Natur aus
dem 7. Kapitel der ›Stufen des Organischen und der Mensch‹ : »Der
Mensch ist das stellungnehmende Wesen […] Der Mensch muß sich
eine zweite Natur schaffen: die Kultur. Er ist organisch mittellos,
muß künstlich, werkzeughaft leben […] Der Mensch kann sich über-
all eine zweite Natur bauen […] Ferner ist der Mensch wesentlich ein
gesellschaftliches Wesen. […] Eine soziale Gruppe ist dem Menschen
nicht nur Um-, sondern auch Mitwelt […] Das Wir ist dem mensch-
lichen Bewußtsein eine frühere Kategorie als das Ich« – diese Darle-
gungen (laut Mitschrift) geben die Plessnerschen Kategorien der
»Künstlichkeit«, der »zweiten Natur«, der »Mitwelt« wieder. Zu-
gleich entwickelt Gehlen im 2. Teil eigene Perspektiven. Deutlich re-
kurriert er in diesem zweiten Teil auf die spezifische Körperausstat-

72 L. Samson, Gehlen und Scheler: Gehlens Anthropologie-Vorlesung von 1936, in:


H. Klages/H. Quaritsch (Hrsg.), Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung von Arnold
Gehlen, a. a. O., S. 569–603.
73 Gehlen spricht später davon, dass sein Interesse an der Philosophischen Anthropolo-

gie »ein Jahr nach meiner Promotion (1927) an der im Jahre 1928 erscheinenden Schrift
von Max Scheler: die Stellung des Menschen im Kosmos« erwacht sei. Gehlen an Marc
De Mey 23. 3. 1964, zit. n. K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers, GA 3.2, S. 890.
Deshalb kannte er vermutlich seit diesem erwachten Interesse auch Plessners Buch, weil
es dem Ruf zufolge als Ausarbeitung Schelerscher Ideen galt und weil er ja selbst durch
sein Kölner Studium von 1925/26 auf diesen aufmerksam geworden war.
74 Vorlesungsmitschrift von Ludolf Müller: Arnold Gehlen, Das Problem des Men-

schen. Resultate der philosophischen Anthropologie, 13., 17. und 18. Februar 1936, in:
L. Samson, Gehlen und Scheler: Gehlens Anthropologie-Vorlesung von 1936, a. a. O.,
S. 594–596. L. Samson, der Herausgeber dieser Vorlesungsmitschrift, erkennt die Sche-
ler-Bezüge in Gehlens Vorlesung.

Philosophische Anthropologie A 157


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

tung des Menschen, die bei Plessner so nicht verhandelt wird: »beim
Menschen Rückbildungen […], aber auch Unspezialisiertheiten, […]
Triebhypertrophie«. Wegführend bleibt für ihn aber ein Gedanke:
»Der Mensch darf nicht naturalistisch betrachtet werden und auch
nicht vom Geiste her« 75 – das ist das Plessnersche Postulat, den Men-
schen aus einem Grundaspekt begreifen zu können. 76
Seit 1935 bewegt sich Gehlens Denken also im Ansatzfeld der
Philosophischen Anthropologie, deren Weg über den objektivieren-
den Blick auf das Lebewesen Mensch ihm die höchst mögliche Erfül-
lung der »Indirektheit des Selbstbewußtseins« verspricht. Gehlens
Denkweg hat also die Wende von der existential-phänomenologi-
schen Einstellung, die vom Subjekt aus das Phänomen expliziert,
zur objektiv-idealistischen Einstellung, die vom Allgemeinen her
auf das Subjekt zurückblickt, zum objektiv-anthropologischen Blick
vollzogen, der erfahrungswissenschaftlich angereichert auf den
Menschen als Objekt blickt, um dort dessen Selbstbewusstsein als
Subjekt einzuholen. 77
Diese Wendung zum Objekt gewinnt methodisch Kontur, wenn
er im gleichen Jahr 1935 in einer Besprechung von Erich Rothackers
›Geschichtsphilosophie‹ (1933) als »wesentliche Eigenart dieses Bu-
ches« hervorhebt, gegenüber aller bisherigen geschichtsmetaphysi-
schen Deutung differenziertere und plastischere »Kategorien« sach-
nah an der Konkretion des geschichtlichen Daseins zu gewinnen. In
Gehlens äußerst sorgfältiger Pointierung von Rothackers »reichem
und anregendem Gedankengang« bildet sich sein eigener Neueinsatz
der Philosophischen Anthropologie in nuce heraus: »Die Handlung

75 Ebd., S. 596–597.
76 Ein Indiz, dass Gehlen hier 1936 im 2. Teil der Vorlesung die Resultate der Philoso-
phischen Anthropologie in Anlehnung an Plessners ›Stufen des Organischen und der
Mensch‹ vorstellt, gibt er Jahrzehnte später, wenn er in einem Lexikonartikel von 1971
notgedrungen auch auf Plessner zu sprechen kommt: Plessners Buch, im gleichen Jahr
wie Schelers grundlegende Schrift erschienen, enthielt – so sagt er – Unterscheidungen
wie bei Scheler, »ging aber in zwei wichtigen Punkten weiter. Die Einführung der ›Mit-
welt‹ oder der Wir-Form des eigenen Ich ergab eine andere Definition des Geistes im
Sinne einer von vornherein sozial gedachten Sphäre.« Und: »Die zwar falsche Behaup-
tung, das Menschsein sei an keine bestimmte Gestalt gebunden und könne auch in
biologisch ganz anders verfaßten Wesen als realisiert gedacht werden, streifte die Frage
nach der morphologischen Beschaffenheit des Menschen, zu der bald von anderer Seite
her bedeutende Beiträge erfolgten.« A. Gehlen, Philosophische Anthropologie (1971),
GA 4, S. 258.
77 K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers, GA 3.2, S. 756 f.

158 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

als Antwort auf bestimmte Lagen oder Situationen ist sozusagen die
Urzelle der Kultur. Wird die Antwort eine dauernde, d. h. eine Hal-
tung, einer Dauerlage gegenüber, so ist schon der Übergang zu einer
anderen höchst bedeutsamen Kategorie des ›Lebensstils‹ gefunden.
Dieser Begriffszusammenhang bildet das einfache Modell, das dann
nach allen Seiten ausgebaut wird: ›Lage‹ z. B. ist nicht nur ›Milieu‹,
äußere Lage, sondern umgreift auch den ›erlebten Druck der inneren
Umstände‹, die ganze offene Tiefe der ›Anlagen‹, aus denen sich wie-
der die Antwortrichtungen auf die stets vieldeutigen ›Lagen‹ ver-
stehen lassen«. 78
So sich selbst auf die Fährte setzend, was er mit seiner existenz-
phänomenologisch und idealistisch bereits eingeübten Kategorie
›Handlung‹ (Akt der Setzung im Denken) im konkreten anthropolo-
gischen Feld anstellen könnte, findet Gehlen 1936 in dem Aufsatz
›Vom Wesen der Erfahrung‹ zu seinem Grundgedanken der »Entlas-
tung« durch Handeln. Der konkrete Mensch, dem offenen Druck der
äußeren und inneren Lage ausgesetzt, erfährt Wirklichkeit nur, in-
dem er sich handelnd in der sinnlichen Wahrnehmung mit ihr aus-
einandersetzt; dabei zieht er ein System von »Gewohnheiten« des
vitalen Verhaltens in sich groß im Sinne »entlastender Formen der
Wahrnehmung und überhaupt des vitalen Könnens«, die es ihm er-
möglichen, über diese »Erfahrungssymbole« des erledigten und ver-
fügten Sachumgangs in einer so beherrschten Welt zu leben. 79

Entlang dieses Modells, das er 1936 in den ›Blättern für Deutsche


Philosophie‹ veröffentlicht, arbeitet sich Gehlen in diesen Jahren
intensiv in die empirischen anthropologischen Forschungen ein –
Psychologie, Humanbiologie, Sprachwissenschaft, Verhaltenstheo-
rie. Sein anthropologisches Interesse entfaltet und signalisiert er öf-
fentlich bei Tagungen und Vorträgen im Rahmen der Deutschen
Philosophischen Gesellschaft. 1937 spricht er in Berlin, wo Hart-
mann lehrt, ›Über den Wesensunterschied von Tier und Mensch‹ ;
1938 in Frankfurt über ›Mensch und Sprache‹. 80 Im gleichen Jahr
wird er nach Königsberg berufen. Er ahnt, dass das interessierte

78 A. Gehlen, Besprechung: E. Rothacker, Geschichtsphilosophie (1934), in: Zeitschrift


für die gesamte Staatswissenschaft, Jg. 95 (1935), S. 353–356.
79 A. Gehlen, Vom Wesen der Erfahrung (1936), GA 4, S. 14 ff.

80 Vgl. die Mitteilungen der Deutschen Philosophischen Gesellschaft in: Blätter für

Deutsche Philosophie, Jg. XI (1937/38), S. 114. Diesen und weitere Hinweise bei R. P.
Fischer, Um Leib und Leben, a. a. O., S. 251.

Philosophische Anthropologie A 159


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Publikum 81 von ihm eine philosophische Anthropologie erwartet.


Zugleich sättigt er seinen existentialistisch-idealistischen Begriff
der »Handlung« – seine Reserveidee – an der indirekten Rezeption
des amerikanischen Pragmatismus, vermittelt durch M. Scheler und
den zeitgenössischen deutschsprachigen Kenner der amerikanischen
Philosophie E. Baumgarten 82 , der auch Deweys ›Experience and
nature‹ 1928 ins Deutsche übertragen hatte. Gleichzeitig mit dieser
nach vorne gerichteten Durcharbeitung des Materials gelingt es
ihm, zentrale Entdeckungen der philosophischen Anthropologie
nach rückwärts in die Philosophiegeschichte zurückzuverlegen. Be-
deutsam bei dieser philosophiegeschichtlichen Rückversicherung des
eigenen philosophisch-anthropologischen Neueinsatzes werden ihm
die beiden großen idealistischen Wendefiguren des 19. Jahrhunderts,
Schelling und Schopenhauer. Zentral ist ihm zunächst Schellings
Entdeckung gegenüber Descartes. Gegenüber dessen Formel der Set-
zung des Selbstbewusstseins »Ich denke« besteht Schelling darauf,
dass jeder Setzung ein Gesetztsein vorausliegt, jedem ›Ich denke‹
ein: ›es denkt in mir‹. 83 Weiter arbeitet Gehlen heraus, dass in Scho-
penhauers Metaphysik »seine echten Resultate durchweg auf an-
thropologischem Gebiet« liegen. 84 Indem dieser die »Handlung des
Leibes« ins Zentrum der Philosophie stelle, wird deren menschliche
Spezifik sichtbar vor der Folie der Einpassung der Tiere in ihre Um-
welt (Schopenhauer als Vorläufer Uexkülls), vermag er den Intellekt
systematisch auf vitale Prozesse der Wahrnehmungen und Antriebe
zu beziehen und im Handlungsbegriff zugleich eine systematische
Verklammerung von Seele und Körper einzuführen: »die größte Re-
volution der Anthropologie seit den Griechen.«

81 W. Sombart legte in Berlin einen großen Literaturbericht zur Geschichte der »wis-
senschaftlichen Anthropologie« vor, der mit der aktuellen Ungewißheit schloß, wie die
Erneuerung der »geistbestimmten Anthropologie – der einzig statthaften« – mit der
»universellen Anthropologie auf naturalistischer, insonderheit biologistischer Grund-
lage« zu vereinbaren sei. W. Sombart, Beiträge zur Geschichte der wissenschaftlichen
Anthropologie, in: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften.
Philosophisch-historische Klasse, Jg. 1938, S. 96–130, insb. S. 130.
82 M. Scheler, Erkenntnis und Arbeit, in: Ders., Die Wissensformen und die Gesell-

schaft, GW 8, S. 191–382. – E. Baumgarten, Der Pragmatismus. R. W. Emerson,


W. James, J. Dewey. Die geistigen Grundlagen des amerikanischen Gemeinwesens,
Bd. II, Frankfurt a. M. 1938.
83 A. Gehlen, Descartes im Urteil Schellings (1937), GA 2, S. 377–384.

84 A. Gehlen, Die Resultate Schopenhauers (1938), GA 4, S. 25–49.

160 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

Innerhalb des so von ihm neu durchgearbeiteten, abgesteckten Fel-


des, das den Neueinsatz vorbereitet, werden nun für Gehlen zwei
Arbeiten von F. J. J. Buytendijk, dem mit Scheler und Plessner seit
Anfang der 20er Jahre befreundeten und kooperierenden niederlän-
dischen Physiologen, folgenreich, der den Ball der Philosophischen
Anthropologie aus den 20er Jahren dicht an der Phänomenerschlie-
ßung weiterspielt. Es ist Buytendijks 1933 in Deutschland erschei-
nendes Buch »Das Spiel von Mensch und Tier« 85 , zu dem auch Pless-
ner 1934 eine Rezension schreibt, und der Aufsatz »Mensch und
Tier« von 1938, der unter Buytendijks Namen in Deutschland er-
scheint. »Gegen die Vorurteile des Darwinismus« – so kennzeichnet
Plessner die Intention von Buytendijks Lebenstheorie des »Spielens«
– »sollen neben den bislang ausschließlich gesehenen Leistungs-
eigenschaften« (Zweckdienlichkeit für das Überleben, Ersatzfunktion
für verwehrtes Leben) im Phänomen des Spielens »die ursprüng-
lichen Seins- und Darstellungseigenschaften des Lebens« zur Gel-
tung kommen. 86 Buytendijk erkennt im Spielphänomen vor allem
der aufs Greifen angelegten Lebewesen (Jagdtiere, Affen, Menschen)
und hier vor allem in deren Jugendzeit eine »vorbegriffliche Kom-
munikation« 87 mit den Spielgegenständen – »Spielen ist immer
Spielen mit etwas« (Dinge, Kameraden) – wobei das wiederkehrende,
zuckende Hin und Her des Spielverlaufs charakteristisch ist. Ent-
scheidend ist, »daß die dem Spielgegenstand mitgeteilte Bewegung
den Erfolg hat, zum Spieler zurückzukehren« 88 Entsprechend der wi-
derstrebenden »Lebenstriebe« nach Selbstständigkeit einerseits, nach
Bindung andererseits taucht im Spielphänomen des Lebens neben
dem Moment des »Greifens« (des »Gnostischen«), dem Fassen des
Gegenstandes gleichzeitig das Moment des »Ergriffenwerdens« (des
»Pathischen«) durch den Spielgegenstand auf, wie Buytendijk hier in
Anlehnung an die Unterscheidung von E. Straus formuliert. Buyten-
dijk erläutert diese »vorbegriffliche Kommunikation« des Spielens
mit Plessners Theorie der Musik aus der ›Ästhesiologie des Geistes‹ :
Musik machen ist nicht ein Spiel mit dem Instrument, sondern mit

85 So der Titel auf dem Buchrücken: F. J. J. Buytendijk, Wesen und Sinn des Spiels. Das
Spielen der Menschen und der Tiere als Erscheinungsformen der Lebenstriebe, Berlin
1933.
86 H. Plessner, Das Geheimnis des Spielens, in: Geistige Arbeit. Zeitung aus der wissen-

schaftlichen Welt, 5. September 1934, Nr. 17, S. 8.


87 F. J. J. Buytendijk, Wesen und Sinn des Spiels, a. a. O., S. 31.

88 Ebd., S. 117.

Philosophische Anthropologie A 161


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

der erlebten akustischen Materie (Akkorde, Klänge, Töne). »Der Ton,


welchen man dem Instrument entlockt, welchen das Instrument her-
gibt, ist ein Etwas, das nicht gnostisch als ›Was‹, sondern pathisch als
›Wie‹ in unsere Gegenwart kommt. Aber dieser Ton hat Möglichkei-
ten in sich, und – auch das wurde von Pleßner angedeutet – immer
neue Überraschungen. Nicht nur wir spielen mit der akustischen Ma-
terie […], sondern sie spielt auch mit uns.« 89 »Spielen ist also nicht
nur, dass einer mit etwas spielt, sondern auch, dass etwas mit dem
Spieler spielt«. 90 Dieses überschießende Lebenspotential, den Mög-
lichkeitsüberschuss des Spielgegenstandes von spielenden Lebewesen
nennt Buytendijk mit Bezug auf die dominant im Auge-Hand-Feld
agierenden, greifenden Lebewesen auch die »Bildhaftigkeit« des
Spielgegenstandes: »Gespielt wird nur mit Bildern.« 91 Für den jun-
gen Hund, aber auch für das spielende Kind ist der Ball oder Kamerad
nicht ein bekanntes Etwas (wie Mutter, Futter, Feind), auch nicht das
gleichgültig lassende Unbekannte, sondern ein »Bild«, das mit seinen
mitgegebenen Möglichkeiten die »vitale Phantasie« erregt. Buyten-
dijks Lebenstheorie des »Spiels« als »vorbegrifflicher Kommunika-
tion« im Medium der vitalen Einbildungskraft wird Gehlens Neuein-
satz der Philosophischen Anthropologie und vor allem die darin
entwickelte Theorie der Sprache und des Antriebsüberschusses ent-
scheidend mit ermöglichen.
Zusätzlich stößt er noch auf den Aufsatz ›Tier und Mensch‹ 92 ,
der 1938 unter dem Namen Buytendijks im nationalsozialistischen
Deutschland erscheint und der den Stand einer phänomenbezogenen
Philosophischen Anthropologie zusammenfasst. In einer umsichti-
gen Argumentation gegen die klassisch idealistische Vernunft-
anthropologie, den Darwinschen Naturalismus und die Lebensphi-
losophie versucht Buytendijk dort die »Wesensgrenze zwischen Tier
und Mensch«, um die es ihm geht, nicht unter Umgehung der
menschlichen Körperlichkeit, sondern gerade mit Bezug auf den
»Sinn der menschlichen Körperform« zu gewinnen. Neben einem
erstmaligen Gebrauch von Alsbergs ›Körperausschaltungsprinzips‹
und neben der Berufung auf die gewisse bleibende Fötalität des

89 Ebd., S. 129.
90 Ebd., S. 117.
91 Ebd., S. 132.

92 F. J. J. Buytendijk, Tier und Mensch, in: Die Neue Rundschau, Jg. 49 (1938), S. 313–

337.

162 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

menschlichen Körperbaus (Bolk) kommt es Buytendijk vor allem auf


die charakteristische »Triebüberschüssigkeit« an – schon in den an-
thropoiden Körpern –, die beim Menschen eine dynamische Voraus-
setzung dafür bilde, dass im »Spiel« mit seinen Als-ob-Bindungen
und Lösungen während der verlängerten Jugendphase Umwelt-
gebundenheit in Weltoffenheit überführt werde. Der »Sinn der
menschlichen Körperform«, eine – gegen die ansonsten für die ge-
samte organische Entwicklung kennzeichnende Anpassungsrichtung
– schon bei den Anthropoiden einsetzende Umkehr von der Speziali-
sierung zur Entdifferenzierung lässt sich also für die »Wesensgrenze
zwischen Mensch und Tier« explizieren, die sich am Gegensatz von
umweltgebundenem und weltoffenem Dasein, von Intelligenz und
Geist manifestiert. Buytendijk erwähnt am Schluss ausdrücklich,
dass »in seiner Analyse der exzentrischen Seinsform am umfassends-
ten wohl zuerst Pleßner gezeigt« habe, wie »eine damit grundsätzlich
andere Daseinslage […] Sprache, Kunst, Wissenschaft, Religion,
Recht, Lachen und Weinen, die Leidenschaften und die Liebe aus sich
hervorgehen« lässt. 93 Gehlen wird sich in seinem Buch 1940 aus-
drücklich auf diesen Aufsatz beziehen, und zwar dezidiert in einer
Anmerkung, die zunächst peinlich genau seine eigenen sämtlichen
Vorarbeiten zur hier vorgetragenen Anthropologie seit 1936 auf-
führt. Dann fährt er fort: »Neuerdings […] veröffentlicht zu meiner
Freude der hervorragende holländische Physiologe F. J. J. Buytendijk
eine Theorie von Tier und Mensch, die der hier vorgelegten in ent-
scheidenden Punkten nahesteht. Auf eine Auseinandersetzung habe
ich verzichtet, weil die Übereinstimmung in unabhängig voneinan-
der ausgesagten Grundeinsichten wichtiger ist.« 94 1939/40 ver-
öffentlichte Gehlen in den ›Blättern für Deutsche Philosophie‹ übri-
gens noch eine äußerst zustimmende Rezension zu Buytendijks
ebenfalls im nationalsozialistischen Deutschland erschienenem Buch
›Wege zum Verständnis der Tiere‹ (1938), das »Helmuth Plessner in
Freundschaft zugeeignet« war, und in dem Buytendijk neben der
Denkfigur der »vitalen Phantasie« von M. Palágyi einen ausführ-
lichen Gebrauch von Plessners Kategorie »exzentrische Positionali-
tät« machte. 95

93 F. J. J. Buytendijk, Tier und Mensch, a. a. O., S. 337.


94 A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, a. a. O., S. 514.
95 A. Gehlen, Besprechung: F. J. J. Buytendijk, Wege zum Verständnis der Tiere, Zürich/

Leipzig 1938, in: Blätter für Deutsche Philosophie, Jg. 13 (1939/40), S. 443 f.

Philosophische Anthropologie A 163


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Wichtig ist, zum Abschluss von Gehlens Vorbereitung seines


Neueinsatzes und im Zusammenhang der realen Bildungsgeschichte
der Philosophischen Anthropologie, zu klären, warum er vermutlich
glaubte, bei seinem Neueinsatz zur Philosophischen Anthropologie,
die den Menschen nicht aus Natur oder Geist, sondern aus einem
Grundaspekt verstehen wollte, Plessner, der genau das im Begriff
der »exzentrischen Positionalität« versucht hatte, nicht als Vorgän-
ger zu erwähnen nötig zu haben. Und das, obwohl er durch Buyten-
dijks Beiträge ausdrücklich noch einmal auf Plessner gestoßen wur-
de, dessen Buch er selbst gut kannte. Es sind vermutlich zwei – ganz
unpolitische – Gründe 96, die Gehlen das Verschweigen eines – wegen
jüdischer Herkunft des Vaters inopportun erscheinenden – Autors
aus politischer Opportunität erleichtern. Einmal hatte er, in Kenntnis
des Schelerschen Vorwurfs an Plessner, schon 1933 zwei Mal bei
einer Erwähnung von Plessner öffentlich darauf aufmerksam ge-
macht, dass die Plessnersche Kennzeichnung des Geistes als »Exzen-
trizität« 97 , auf die sich auch N. Hartmann stütze, von Klages stamme:
»Daß aber Begeistetheit Exzentrizität der Seele sei, hatte Klages
schon 1921 ausgesprochen.« Gehlen hatte also den Schelerschen Pla-
giatsvorwurf verschoben und ihn zugleich präzisieren können, indem
er tatsächlich eine Unterlassung Plessners entdeckt hatte, was die
Herkunft von dessen Grundbegriff anging. Der zweite Grund für
Gehlens Entschluss, Plessner nicht zu erwähnen, war der, dass er in
dem Buytendijk-Aufsatz eine schwerwiegende sachliche Kritik Buy-
tendijks an Plessners Philosophischer Anthropologie erkannte, die er
teilte. Plessner hatte nämlich 1928 behauptet, dass mit der Exzentri-
zität keinerlei neue Organisationsform des Körpers verbunden sei:
»Mensch sein ist an keine bestimmte Gestalt gebunden und könnte
daher auch […] unter mancherlei Gestalt stattfinden, die mit der uns
bekannten nicht übereinstimmt.« 98 Plessner hatte also in seiner Phi-

96 K.-S. Rehberg hält allerdings hinsichtlich Gehlens »Verschweigens des Werkes von
Helmuth Plessner« für »wahrscheinlich, daß Gehlen das Werk des ins niederländische
Exil gezwungenen Plessner in den Ausgaben vor 1945 aus politischem Opportunismus
verschwiegen hat.« Wichtig ist für Rehberg: »Unrichtig scheint es mir, in Gehlens Werk
in irgendeiner Weise eine versteckte Übernahme der Plessnerschen Grundgedanken zu
sehen.« K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers, GA 3.2, S. 759.
97 A. Gehlen, Wirklichkeitsbegriff des Idealismus (1933), GA 2, S. 183. – Dieser Hin-

weis auch in A. Gehlen, Besprechung: N. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins
(1933), in: Blätter für Deutsche Philosophie, Jg. 7 (1933/34), S. 430–434.
98 H. Plessner, Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 293.

164 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

losophischen Anthropologie von 1928 den »Sinn der menschlichen


Körperform« für den Menschen, für »seine Natur und seine Stellung
in der Welt«, Buytendijk, aber auch Gehlen zufolge vernachlässigt.
Gegenüber jemandem, der in einer naturphilosophisch ansetzenden
Philosophischen Anthropologie den Sinn der menschlichen Körper-
form einschließlich ihrer spezifischen Antriebsproblematik nicht
systematisch aufklärte, konnte Gehlen guten Glaubens sein, noch
einmal ganz neu einsetzen zu können.

1940 veröffentlicht Gehlen ›Der Mensch. Seine Natur und seine


Stellung in der Welt‹. Skeptisch gegen den »Namen ›philosophische
Anthropologie‹« stellt er sich einer Aufgabe, »die unter diesem Titel
doch zuerst zu verstehen wäre: einer wissenschaftlichen Lehre vom
Menschen, und zwar in der Gesamtheit seiner tatsächlichen Eigen-
schaften, Merkmale usw., im Hinblick auf die wirkliche Besonderheit
des Menschlichen.« (M 487) 99 Die Sonderstellung des Menschen
wäre objektiv zu entwickeln aus dem kontrastiven Tier/Mensch-
Vergleich. Diese »Anthropo-Biologie« läge vor jeder ›Rassewissen-
schaft‹, die deshalb nicht eigens behandelt würde. Gehlen will aus-
drücklich das Stufenschema für den Menschen vermeiden, weil es
nur die zwei Möglichkeiten kenne: entweder die Graduierung der
praktischen Intelligenz von den Tieren bis in die menschliche Sphä-
re, oder die Hinzufügung einer neuen Eigenschaft – »Geist« – auf
der höchsten Stufe, die dann aber allen vorhergehenden entgegen-
gesetzt sei. Gehlen weist jede Verbindung seines Versuchs zu Sche-
lers »bekanntem Buch« mit dessen Stufen- und Dualismus-Schema
zurück. (M 17 f.) Das Stufenschema verpasse die zentrale Möglich-
keit, »daß der Unterschied vom Tiere beim Menschen in einem
durchlaufenden Strukturgesetz bestehen könnte«. (M 14) Für den
richtigen Ansatz dieses Vergleichs nimmt er vielmehr »Herder als
Vorgänger« in Anspruch (M 79). Dieser habe nicht nur das Tier rich-
tig gesehen – mit seinen Empfindungen und Instinkten in eine
»Sphäre des Tieres« je eingepasst (Vorwegnahme der Tier-Umwelt-
Relation Uexkülls) –, sondern deshalb, vergleichend unter Tiere ge-
stellt, den Menschen zutreffend kennzeichnen können als das »ver-
waisteste Kind der Natur. Nackt und bloß, schwach und dürftig,
schüchtern und unbewaffnet […] aller Leiterinnen des Lebens be-

99 A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940. Im
folgenden Text zit. nach dieser Erstausgabe mit Kürzel ›M‹ und Seitenangabe.

Philosophische Anthropologie A 165


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

raubt« (M 91). 100 Dass Herder aus der Mitte dieser »Lücken und
Mängel« der Natur erst die Eigenart des Menschen (Sprache, Beson-
nenheit, Vernunft) begreift, sei die Erfindung der philosophischen
Anthropologie. Die Natur schlägt im Menschen eine ganz neue
Richtung ein, und es ist Aufgabe der »philosophischen Anthropo-
logie«, die Intelligenz des Menschen im Zusammenhang mit dieser
Natur, also den Wahrnehmungen, Trieben und Bewegungen zu be-
stimmen. »Die philosophische Anthropologie hat seit Herder keinen
Schritt vorwärts getan« – »sie braucht auch keinen zu tun, denn dies
ist die Wahrheit« –, und Gehlen will dieses Schema mit den Mitteln
der modernen Wissenschaft entwickeln (M 93).

Gehlen entfaltet seine Anthropologie in drei Zügen. Er setzt unter


skrupulöser Auswertung anthropobiologischer Forschung mit dem
Objektiv-Blick auf den konstrastiven Tier/Mensch-Vergleich ein,
schwenkt – von diesem Hintergrund in der Sache erzwungen – den
Blick in eine sensible Führung durch den menschlichen Selbstaufbau
in der Welt, um – nach einer Öffnung für die antriebsdynamischen
Bedingungen und Brisanzen des menschlichen Lebewesens – in der
Konsequenz mit Festlegungen zu schließen, die, klassisch gespro-
chen, einerseits den subjektiven Geist – »Charakter« –, andererseits
den objektiven Geist – »oberste Führungssysteme« – betreffen.
Unhintergehbarer Anfang der Gehlenschen Anthropologie ist
das Nachbuchstabieren des empirisch ausgetüftelten Blicks auf die
menschliche Körperform in ihrer Umweltrelation im Vergleich zur
Tiergestalt in deren Umwelt. Gehlen verfolgt eine systematische
Auswertung der Lehre des holländischen Anatomen Bolk, dass die
seit langem beobachteten relativen »Organprimitivismen« der
menschlichen Morphologie im Vergleich v. a. mit den Anthropoiden
naturgeschichtlich nur als »permanent gewordene fötale Zustände
oder Verhältnisse« zu erklären seien. 101 Die merkwürdige Körper-
form des Menschen – u. a. die relative Unbehaartheit der Haut, der
relativ flexible Bau der Hände, Beckenform, Krümmung des embryo-
nalen Körpers, hohes Hirngewicht – sind Fixierungen von Zuständen,
welche bei Föten der übrigen Primaten vorübergehend sind; ins-

100 Gehlen bezieht sich auf J. G. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache

(1772), in: Ders., Sprachphilosophie. Ausgewählte Schriften, hrsg. v. E. Heintel, Ham-


burg 1960, S. 3–87.
101 L. Bolk, Das Problem der Menschwerdung, Jena 1926.

166 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

gesamt ist die Lebensentwicklung des Menschen durch »Retardation«


charakterisiert. Anders gesagt liegt hinsichtlich der Bewegungs-
stabilität, der Wahrnehmungsschärfe, der Abwehrleistungen beim
menschlichen Lebewesen eine relative Ent-formung der Einpassung
in eine Umwelt vor, ein Formloswerden der passenden Antworten.
Vor diesem Hintergrund entfaltet Gehlen seine anthropologi-
sche Schlüsselidee. Das Wesen des Menschen erschließt sich als Ant-
wort auf diese seine Naturlage. »Seine Stellung in der Welt« ist die
erzwungene, aber selbsttätige Antwort auf »seine Natur« – im Feld
der Natur. »Aus eigenen Mitteln und eigentätig muß der Mensch
sich entlasten, d. h. die Mängelbedingungen seiner Existenz eigen-
tätig in Chancen seiner Lebensfristung umarbeiten.« (M 35) Der
Schlüssel dieser Menschwerdung ist die »Handlung«. Im Grunde
ruht Gehlens konzentrierte Beschreibung auf einem plastischen An-
schauungskern von Hand-lung: Die relativ entspezifizierte, in ihren
Bewegungsformen und -funktionen variable Hand nimmt Kontakt
mit den Dingen, und in dieser Verwicklung der Sachen in die hohle
Hand verstetigt und stabilisiert sich diese zur führenden Umgangs-
form der Versachlichung. Der ganze menschliche Selbstaufbau ist
fundiert in diesen »elementaren Kreisprozessen im Umgang«
(M 149) mit den Sachen. Menschwerdung vollzieht sich elementar
»kommunikativ«, in einer »Art sensomotorischer ›Unterhaltung‹
mit den Dingen« (M 191).
Alle Beschreibungen Gehlens entfalten sich im Rahmen der vir-
tuellen Szene des einzelnen handelnden Menschen. Sie gewinnen
ihre Erschließungskraft aus der konzentriert teilnehmenden Beob-
achtung, wie der »kleine Mensch, so gut wie hilflos« (M 189), sich
selbst erst bewegen und seine Wahrnehmungen und Glieder in den
Griff bekommen lernt. Ein Lebewesen mit einer von Natur aus rela-
tiv entformten Sinneswahrnehmung ist gezwungen, die vagabundie-
renden Aspekte der reizströmenden Wirklichkeit durch Handlungen,
in der Zusammenführung von Blickmusterung und Tastkontakten,
zu »Dingen« zu staffeln, die für bestimmte Fälle zur Verfügung ste-
hen. In dieser Durcharbeitung von Wahrnehmungsaspekten aber ob-
jektiviert sich rückwirkend die Handlung, die nun ihre Einsatzstellen
kennt. Gleichzeitig ist ein Lebewesen – negativ markiert – mit natur-
gegeben relativ dekoordinierter Bewegung, oder – positiv gesehen –
mit »Bewegungsplastizität«, gezwungen, seine Motorik in Aus-
einandersetzung mit den Sachen eigentätig aufzubauen, und dabei
die Sachen so in diese sich koordinierenden, selbstempfundenen Be-

Philosophische Anthropologie A 167


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

wegungen zu verwickeln, dass ihm – wenn die ›Sache‹ läuft –, derart


»entlastet« die Höherlegung von Funktionen durch Handlung mög-
lich wird. Gehlen spricht hier von der »eigentätig aufgebauten und
verdichteten Symbolik der Dinge« (M 201), in der sich dem mensch-
lichen Lebewesen noch vor aller höheren Intelligenz und Sprache die
Umgebung in Verweisungen gliedert. Entscheidend ist für Gehlen
hier die »Theorie des Spiels«, die innere Verknüpfung von »Spielcha-
rakter« und »Bewegungsphantasie«: Beim Menschen bedeutet »Spiel
[…] den Aufbau, das Aufbrechen und lustvolle Erleben von Phanta-
sieinteressen, also Prozesse der Kommunikationsphantasie«, eine
»Kommunikation mit sich selbst«. »Das Spiel ist die Form, wie sich
ein weltoffenes, noch – wegen der langen Entwicklung – aufgabenlo-
ses und überschüssiges Antriebsleben zur Welt hin erschließt, und in
kommunikativer Lebendigkeit erlebt, wie in ihm selbst eine Fülle
teilnehmender und wechselnder Bedürfnisse erwachen.« (M 214 f.)
Entsprechend sind die »Bewegungen kommunikativer, selbstemp-
fundener Art« je eskortiert von »einem ›Hof‹ von Bewegungs- und
Umgangsphantasmen«, der Spielraum öffnet. Durch »Entlastung«
können Umgangspotenzen an höhere Funktionen des Weltkontaktes
abgegeben werden, wobei Gehlen jede Höherlegung von Funktionen
mit der Erinnerung begleitet, dass schon die bis jetzt behandelte
Struktur des Wahrnehmungs- und Bewegungslebens – sozusagen
auf der vitalen Ebene – rein menschliche Leistung sei.

»Es ist grundfalsch, den Wesensunterschied von Mensch und Tier erst
an der ›Intelligenz‹ aufzuzeigen; er ist anatomisch, sensomotorisch
[…] schon da« (M 179). Diese Grundidee von einem »strukturellen
Sondergesetz […], welches in allen menschlichen Eigentümlichkeiten
dasselbe ist, und welches von dem Naturentwurf eines handelnden
Wesens aus verstanden werden muß« (M 111), leitet auch Gehlens
Theorie der Sprache. Mit der Lehre von den fünf »Sprachwurzeln«,
die sich durch alle Kapitel des II. Teils »Wahrnehmung, Bewegung,
Sprache« durchzieht, bildet die Theorie der Sprache das Zentrum von
Gehlens Werk. Er begreift Sprache nicht als den Beginn der Mensch-
werdung, d. h. er setzt seine Theorie des Menschen nicht von der Spra-
che aus an, es ist keine sprachphilosophische Theorie des Menschen;
auch lässt er Sprache nicht aus ihrer »intellektuellen« Darstellungs-
funktion oder aus ihrer sozialen Mitteilungsfunktion entspringen.
Sprache taucht vielmehr für ihn im schon behandelten »System Au-
ge-Hand« auf, im Senso-Motorischen, das selbst schon dem struktu-

168 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

rellen Sondergesetz des menschlichen Lebewesen folgt; sie ist mit ver-
schiedenen, nicht aufeinander rückführbaren »Sprachwurzeln« in die
elementaren sensomotorischen »Kreisprozesse im Umgang« einge-
flochten, die sie zugleich »höherlegt« und potenziert: (1) mit dem
rückempfundenen Laut, (2) mit der Lautantwort auf sachlich Gesehe-
nes, (3) mit dem wiedererkennenden, sich über das Wiedergesehene
beruhigenden Laut, (4) mit dem im Ruf sich artikulierenden Bedürf-
nis, (5) mit der stellvertretenden Handlungskoordination durch Laut-
gesten oder »Worte« (M 279 f.).
Vom biophilosophischen Ansatz aus sieht Gehlen den ersten
Zusammenhang von Handlung und Sprache im Motorischen, im
Akt als Aktion des Sprechens, im leibgebundenen Klang und Rhyth-
mus der Artikulation: »Eine Lautbewegung hat in Analogie zur Tast-
bewegung die außerordentliche Eigenschaft, zugleich Bewegung und
zurückempfunden zu sein.« (M 48) Das ist ein »rein kommunikati-
ver Vorgang in selbstempfundener Tätigkeit«, der sich – zweite
Sprachwurzel – zum Gesehenen hin »öffnet«, bei jedem lebhaften
Kind »in dem ›Anplappern‹ auffallender Eindrücke« (M 202). Im Zu-
sammenhang der »Arbeit von Auge und Hand« versachlicht sich so
die rückempfundene Lautbewegung: »Eine Bewegung ergreift sich an
ihrer empfundenen Rückwirkung: sie wird gehemmt, gestoßen, ge-
rade darin erfährt sie sich in ihrer Eigentümlichkeit, eine Sache ist in
sie eingegangen, nicht die abstrakte Rückempfindung treibt sie wei-
ter, sondern die Kommunikation mit einem äußeren, in sie hinein-
genommen Ding« (M 136). Im »Wiedererkennen« durch die Lautbe-
wegung (3. Sprachwurzel), verbunden mit dem Greifen, v. a. aber
dem Zeigen, daß das Wiedererkannte in einem Wartezustand belässt,
werden die unruhigen Seheindrücke als »erledigt« begriffen und in
distanzierter Sachlichkeit dahingestellt, wodurch »Entlastung« sich
einstellt. Im »Ruf« des Namens (des Anderen), in dem sich gegen-
über der schreienden Unruhe der Unlust die »Intention auf Abhilfe
im Laut durchsetzt« (M 218), beginnt sich das unruhige Antriebs-
leben des Kindes zu ordnen (4. Sprachwurzel). Die »Lautgeste« des
selbsterfundenen Wortes, das die Aktionsgestalten gliedernd mit-
begleitet und »mitpräzisiert« (5. Sprachwurzel), bahnt sich die struk-
turelle Möglichkeit der Stellvertretung der Handlung durch das
Wort. Insgesamt wird deutlich, dass Gehlen die Sprache systematisch
einbettet in die spezifisch menschliche Vitalität, in den »kommuni-
kativen Umgang« (M 202) der menschlichen Körperbewegung,
durch deren Höherlegung in der Sprache eine beispiellose Plastizität

Philosophische Anthropologie A 169


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

der Verfügbarkeit sich bildet. »Kommunikation« ist dabei Gehlens


Grundbegriff für das spezifisch menschliche Feld, das das Selbstver-
hältnis, die Weltbegegnung und das Soziale umfasst und innerhalb
dessen sich für Gehlen der Leistungsaufbau der Sprache vollzieht,
wie umgekehrt nun dieses Medium der Sprache alle Zonen der Wahr-
nehmung, Vorstellung, des Verhaltens durchdringt und damit die
»Sprachmäßigkeit« der gesamten menschlichen Lebensform voll-
zieht. Diesen so rekonstruierten »Handlungskreis (Hand, Auge,
Sprache)« (M 379) zeigt Gehlen als »höhere Bewegungserfahrung«
(M 259), als »geplante Handlungen« (M 272), als Bildung der »Vor-
stellung« (M 294), als »lautloses Denken« (M 308), als »Erkenntnis
und Wahrheit« (M 341) – je als das spezifisch menschliche »kom-
munikative Verhalten« zu den Sachen: »Alles kommunikative Ver-
halten ist nur, indem es über sich hinaus ist und auf ein anderes geht,
indem es sich von daher bestimmt.« (M 278)
Folgerichtig schließt Gehlen diesen Durchgang durch den eigen-
tätigen menschlichen Aufbau mit der »Phantasie«, die – in der »kom-
munikativen« Senso-Motorik fundiert – diese zugleich potenziert.
Die Einbildungskraft ist »eine vitale Fähigkeit, mit der das Lebendige
sich aus dem Orts- und Zeitpunkt, den es gerade innehat, weg- und
außer sich versetzt, ohne tatsächlich von der Stelle zu weichen. Es ist
ein Wunder ohnegleichen«, sagt Gehlen mit Melchior Palágyi, »daß
das Leben, ohne sich von der Stelle zu rücken, wo es sich befindet,
sich trotzdem so verhalten kann, als ob es an eine andere Stelle des
Raumes oder an eine andere Stelle der Zeit entwichen wäre. ›Dieses
Entrücktwerden des Lebensprozesses von dem räumlich-zeitlichen
Standort, wo es in Wirklichkeit verharrt, nennt man Phantasie‹.«
(M 374) Der ungarische Philosoph Palágyi, dessen Schriften L. Kla-
ges Mitte der 1920er Jahre zugänglich gemacht hatte, faszinierte ne-
ben Buytendijk eben auch Gehlen, weil er die Leistung und Bedeu-
tung der Phantasie, die »motorische Phantasie«, die »virtuelle
Bewegungsphantasie«, die die reelle Körperbewegung des Gebarens
und Verhaltens vorwegnimmt, als Charakteristikum des Lebenspro-
zesses bestimmt hatte. 102 Damit hatte er nicht etwa die Phantasie
biologisiert, sondern umgekehrt die Autonomie des Organischen

102 Gehlen bezieht sich hier auf M. Palágyi, Theorie der Phantasie, in: Ders., Wahrneh-

mungslehre. Mit einer Einleitung v. L. Klages, (Ausgewählte Werke, Bd. 2), Leipzig
1925, S. 69–105.

170 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

von einem ausgezeichneten Modus her zu charakterisieren versucht.


Für ein Lebewesen mit »Lücken und Mängeln«, für das »noch nicht
festgestellte Tier« (M 4), ist diese »frühe Fähigkeit des gesamtmoto-
rischen Sichversetzens«, die »Umgangsphantasie« oder »Bewe-
gungsphantasie«, wie Gehlen sie nennt, als Bedingung der Möglich-
keit, sich von woanders her festzustellen, konstitutiv. »In der Tat
wäre der Mensch als Phantasiewesen so richtig bezeichnet wie als
Vernunftwesen.« (M 375)
Den dritten und letzten Durchgang seiner Anthropologie eröff-
net Gehlen mit einer Wiederaufnahme des auf das Diskontinuum
abhebenden Tier/Mensch-Vergleichs. Der Mensch hat nicht nur eine
»morphologische Sonderstellung« hinsichtlich seiner Gestalt im
Umfeld, sondern auch eine energetische Sonderstellung hinsichtlich
seiner »Antriebe«, seiner dynamischen Gerichtetheit im Umfeld. Das
Antriebsleben ist von Natur aus ebenfalls entspezifiziert, relativ ent-
formt, »instinktreduziert«, so dass der Mensch im Prinzip bestimmte
Handlungen – in einem »Hiatus« (M 381) – abhängen kann von be-
stimmten Antrieben; andererseits können so Antriebe auf höher ge-
legte Handlungen verschoben werden. In seiner an Buytendijk ange-
lehnten »Theorie des Spiels« verknüpft Gehlen das Spiel mit dem
Entrückungspotential der Phantasie und zeigt so das Spiel als spezi-
fisch menschliches Medium »des Sicherfahrens der Grundeigen-
schaften der menschlichen Antriebsstruktur, die überschüssig, plas-
tisch, weltoffen und kommunikativ ist« (M 217). Beim Menschen
bedeutet Spiel etwas anderes als beim Tier: »den Aufbau, das Auf-
brechen und lustvolle Erleben von Phantasieinteressen, also Prozesse
der Kommunikationsphantasie, und vor allem: das Bewusstwerden
solcher Interessen, die wesentlich instabil und wechselnd sind.«
(M 213) Diese energetische Sonderstellung des »konstitutionellen
Antriebsüberschusses« (M 60 ff.) ist also die – in der Theorieerzäh-
lung nachgereichte – Bedingung für den zuvor geschilderten, im
Sachkontakt eigentätigen, über »Entlastungen« an Niveau gewinnen-
den Selbstaufbau. »Nur ein Wesen, das […] einen über jede augen-
blickliche Erfüllungssituation hinausgehenden Antriebsüberschuß
hat, kann seine Weltoffenheit damit ins Produktive wenden.«
(M 385 ff.) Zugleich ist dieses relativ vagabundierende Antriebsleben
– der entsicherte Antrieb – eine ständige Gefährdung des Selbstauf-
baues. Durch die konstitutionelle Entbundenheit bestimmter Antrie-
be an bestimmte Wirklichkeitsaspekte gerät ein so gelagertes Lebe-
wesen zwischen die Möglichkeiten der Antriebsschwäche oder des

Philosophische Anthropologie A 171


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Antriebsüberschusses. Ohne geführte Anbindung der Antriebe unter-


bleibt der Weltkontakt, und im unterbliebenen Sachkontakt verfehlt
sich das Lebewesen; andererseits kommt es ohne geführte Unterbin-
dung der Antriebe – ohne »Zucht« – im Lebewesen zur ungesteuerten
Abfuhr, in der der bestimmte Weltaspekt verfehlt wird. (M 217)
Jetzt erst kann Gehlen die Konsequenzen aus der menschlichen
Lage für die menschliche Sphäre ziehen. Die »Sonderstellung« des
Menschen von Natur aus, die im biologischen Sinne relative Unan-
gepasstheit und Unspezialisiertheit seiner Senso-Motorik, v. a. aber
seine entsicherte Motivik zwingt ihn, Stellung nehmen zu müssen,
sich festzulegen: »Die Gewohnheit, Gewohnheiten anzunehmen und
einzuverleiben, also eine Haltung aufzubauen, ist physisch erzwun-
gen.« (M 433)
Gehlen behandelt hier die Notwendigkeit, dass das einzelne in
»Sonderstellung« lebende Lebewesen in Form des »Charakters« Stel-
lung zu sich nimmt: In der systematischen, selektiven Durcharbei-
tung der Antriebe in Weltkontakte stabilisiert sich das einzelne Le-
bewesen in einem Haltungsgefüge. Andererseits ergibt sich aus der
menschlichen Sonderstellung die Notwendigkeit für die in »Sonder-
stellung« lebenden Menschengruppen, zu sich Stellung zu nehmen
in Form von »obersten Führungssystemen«. »Führungssysteme«,
»Zuchtbilder«, wie sie Gehlen 1940 in Anlehnung an Kant, aber auch
A. Rosenberg nennt, sind kulturelle Deutungssysteme, die, indem sie
dem nicht-festgestellten Tier entgegentreten, drei Führungsfunktio-
nen erfüllen: sie »führen« ihn wahrnehmungsmäßig abschließend
durch die Welt (»abschließende Weltorientierung«), sie führen seine
Handlungen, indem sie seine Antriebe ausrichten (»Handlungsfor-
mierung«) und sie führen das nicht-festgestellte Tier mit seinen »In-
teressen der Ohnmacht« aus den Grenzen seines Schicksals heraus,
aus den Antriebskatastrophen (»die Überwindung der Ohnmacht-
grenzen« M 461). Es sind diese weltanschaulichen »Führungssyste-
me«, in denen »eine Gemeinschaft sich feststellt und im Dasein
hält«. (M 717)
Gehlen durchsetzte das Schlusskapitel mit Anbindungen an den
Nationalsozialismus. Der Begriff »Zuchtbild« konnte ›züchterisch‹
gelesen werden, insofern »der biologische Prozess im Menschen be-
ginnt, zu sich selbst in ein Verhältnis zu treten« (M 372), es konnte
mit »Zuchtbild« aber gleichzeitig die pädagogische Haltungsnorm ge-
meint sein, deren ein Lebewesen mit der einzigartig langen Aufzucht-
periode bedarf. Gehlen sah im Schlusskapitel nun gerade in letzterer

172 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

Hinsicht im Buch eine Nähe zwischen dem Begriff der »Zuchtbilder«


von A. Rosenberg und seinen, Gehlens, »obersten Führungssyste-
men«, womit jene höchsten und abschließenden Systeme gemeint
waren, in denen dem Menschen die Probleme seiner Existenz kultu-
rell geformt entgegentreten und zugleich durch kollektive, früher re-
ligiöse und jetzt ›weltanschauliche‹ Deutungsentwürfe bewältigbar
werden. Die Transformationsleistung menschlicher Ohnmacht in so-
zial verankerte und garantierte Ordnungsgefüge bezog Gehlen un-
mittelbar auf das »Volk« als Kollektivsubjekt, für das, »wie die Ge-
schichte zeigt, seine Existenz durchzuhalten der allererste Sinn seines
Daseins« sei. (M 717) Darauf einzugehen, meinte Gehlen allerdings,
würde die »Anlage einer elementaren Anthropologie weit über-
schreiten.«

Kurz vor dem Erscheinen des Buches war Gehlen von Königsberg
auf den Philosophie-Lehrstuhl in Wien berufen worden. Sein Buch
zog kurz nach Erscheinen Aufmerksamkeit auf sich 103 seitens der
Psychologen, Tierforscher, politischen Philosophen. 104 Bei aller
durchgehenden Anerkennung für die intellektuelle Leistung fehlte
es nicht an Kritik. Das galt auch für den Schweizer Hans Kunz, der
die Entwicklung der Philosophischen Anthropologie seit Ende der
20er Jahre verfolgte und sich in zwei Besprechungen mit dem Buch
auseinandersetzte. Vor allem bezüglich Gehlens Betonung der
»Neuartigkeit seiner Lehren« hielt er fest, »daß die Originalitäts-
ansprüche einer Kritik nicht standhalten würden«. Vor allem »fällt
es auf, daß der Autor Scheler wohl zum Zwecke der Polemik er-
wähnt, aber nicht sagt, daß in dessen Anthropologie die beiden für
Gehlen zentralen Thesen der »Weltoffenheit« und des »Triebüber-
schusses« für das gegenwärtige Bewußtsein lebendig gemacht wor-

103 Der Rezeptionserfolg von Gehlens Anthropologie des »Handlungskreises« wurde

verstärkt durch das gleichzeitige Erscheinen von V. v. Weizsäcker, Der Gestaltkreis.


Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen (1940), 4. Aufl. Stuttgart 1950.
Weizsäcker arbeitete am Prinzip des »Gestaltkreises«, das er erstmals in Plessners ›Phi-
losophischen Anzeiger‹ 1927 eingeführt hatte, anschaulich heraus, wie Subjekt und Ob-
jekt untrennbar in einem Kreisprozeß ohne Anfang und Ende aufeinander bezogen sind:
Sehen und Bewegen sind ein Akt, denn beim Gehen im unebenen Gelände wird der
Gang ständig durch die Unebenheiten des Weges korrigiert, während der Erfolg einer
Bewegung die Voraussicht der nächsten bestimmt.
104 Zum Beispiel H. Thomae, Über philosophische und psychologische Anthropologie.

Bemerkungen zu dem Buch von Arnold Gehlen ›Der Mensch‹, in: Zeitschrift für an-
gewandte Psychologie und Charakterkunde, Jg. 61 (1941), S. 274–300.

Philosophische Anthropologie A 173


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

den sind.« 105 Desgleichen bemerkte Kunz die Brisanz im »Ausdruck


›Zuchtwesen‹, der die fatale Zweideutigkeit offen lässt, derzufolge
sich der Mensch ›in Zucht nehmen‹ und Objekt einer ›Züchtung‹
werden kann.« 106 Entschiedene Kritik erfuhr Gehlens Buch vor allem
aus dem Kreis der biologischen Anthropologie, der sich um den in-
spirierenden ›vergleichenden Verhaltensforscher‹ Konrad Lorenz in
Königsberg gruppierte. Aus ihrer Perspektive, die auf die Beobach-
tung eines evolutionären Kontinuums instinktiver Verhaltensmus-
ter bei Tier und Mensch abstellte, hatte Gehlen den Menschen mit
den Begriffen »Mängelwesen« und »Instinktentbundenheit« unzu-
lässig aus der Lebensevolution herausgerückt. Die Kritik der sich
bildenden Lorenz-Schule an Gehlen, mit dem sie in Königsberg dis-
kutierte, war bei allem Respekt in der Tendenz eindeutig: »Doch
erstaunt es uns, zu sehen, wie Gehlens Ziel, eben die Sonderstellung
des Menschen herauszuarbeiten, ihn anscheinend blind für unser
allerdings genau entgegengesetzt gerichtetes Arbeitsziel macht: das
Gemeinsame im tierischen und menschlichen Handeln aufzufin-
den.« 107 Diesen Nachweis eines inneren Zusammenhanges der
höchsten Lebensäußerungen des Menschen, seiner Verstandesformen
mit ihren stammesgeschichtlichen Vorformen – das Projekt einer
›evolutionären Erkenntnistheorie‹ – unternahm Lorenz dann auf
dem Kant-Lehrstuhl nach Gehlens Weggang. 108 Unübersehbar war
auch die Kritik an Gehlens Werk aus einer wiederum anders gelager-
ten Denkrichtung jener Jahre, Gehlens Anthropologie setze univer-
salistisch an statt bei einem völkisch-rassischen Realismus. Der Phi-
losoph und Pädagoge E. Krieck, der selbst eine »völkisch-politische
Anthropologie« vorgelegt hatte, kritisierte an Gehlen, »ein all-
gemeines Bild von dem Menschen, absehend von der Rasse«, be-

105 H. Kunz, Besprechung: A. Gehlen, Der Mensch, in: Der Nervenarzt Jg. 14 (1941),

S. 128 f.
106 H. Kunz, Das Wesen des Menschen (Besprechung, A. Gehlen, Der Mensch), in:

Neue Zürcher Zeitung, 10. 10. u. 11. 10. 1940.


107 O. Koehler, Besprechung: A. Gehlen, Der Mensch, in: Zeitschrift für Tierpsycho-

logie, Jg. 4 (1940/41), S. 402–410.


108 K. Lorenz, Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie, in:

Blätter für Deutsche Philosophie, Jg. 15 (1941/42), S. 94–125. Ders., Die angeborenen
Formen möglicher Erfahrung, in: Zeitschrift für Tierpsychologie, Bd. 5 (1943), S. 235–
409. – Über den Königsberger Zusammenhang zwischen Gehlen, E. Baumgarten und
K. Lorenz vgl. Ch. Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Re-
publik und im Dritten Reich, a. a. O., S. 792–805.

174 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

gründet zu haben. 109 Indem Gehlen einen Begriff des Menschen


überhaupt zu rekonstruieren versuchte, hielt er am universalisti-
schen Ansatz und damit auch am Begriff der Philosophie in der phi-
losophischen Anthropologie fest, statt aus der nationalsozialisti-
schen Weltanschauung heraus eine »politische Philosophie«, d. h.
eine weltanschaulich rassisch-völkisch gebundene und parteiliche
Anthropologie und Kosmologie begrifflich zu entfalten. Mindestens
ebenso gravierend war nicht nur in den Augen von Krieck, dass Geh-
lens »elementare Anthropologie« die Struktur der Handlung als
Selbstaufbau des einzelnen Lebenssubjektes, also jeder gemein-
schaftlichen oder völkischen Vermitteltheit vorausgehend, expliziert
hatte. Insofern war seine »Elementar-Anthropologie individualis-
tisch und wesentlich unpolitisch« 110 , und wurde damit – zusammen
mit ihrem immanenten Universalismus – aus der Perspektive der
›völkischen Anthropologie‹ oder eines »nationalsozialistischen Para-
digmas« 111 kenntlich: als zu »bürgerlich« (Krieck).
Ausschlaggebend für die Durchsetzung von Gehlens Buch und
damit für die Stabilisierung der Philosophischen Anthropologie als
Paradigma wurde in dieser Situation 1941 Nicolai Hartmanns denk-
würdige Besprechung in den ›Blättern für Deutsche Philosophie‹. 112
Gleich zu Beginn resümiert er die produktive Erwartungsspannung

109 E. Krieck, Die neue Anthropologie, in: Volk im Werden Jg. 8 (1940), S. 183–188. –

Vgl. auch K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers, GA 3.2, S. 752–755.


110 G. Lehmann, Die deutsche Philosophie der Gegenwart, Stuttgart 1943, S. 507. In

seiner zeitgenössischen Übersicht über die philosophischen Richtungen behandelte Leh-


mann Gehlens ›Der Mensch‹ im Schlusskapitel »Politische Philosophie«, um gerade dort
dessen »philosophischer Anthropologie« die Zugehörigkeit zur Richtung einer »politi-
schen Anthropologie«, die im philosophischen Denken von der »völkischen Existenz«
aus ansetze, zu bestreiten (S. 505). Den Vorwurf kann man auch so ausdrücken: Gehlen
hatte innerhalb seiner Anthropologie der »obersten Führungssysteme« den Nationalso-
zialismus als eine geschichtliche Variante eines solchen »obersten Führungssystems«
rekonstruiert, aber er hatte seine Anthropologie nicht aus dem Nationalsozialismus
bzw. einer dementsprechenden »politischen Philosophie« heraus konstruiert.
111 Zur Kontur eines »nationalsozialistischen Paradigmas« vgl. V. Böhnigk, Kultur-

anthropologie als Rassenlehre. Nationalsozialistische Kulturphilosophie aus der Sicht


des Philosophen Erich Rothacker, a. a. O., S. 11–13: »(1) die rassisch-biologische Fun-
damentaltheorie (2) das Recht der Gemeinschaft im Gegensatz zur Rechtlosigkeit des
Individuums (3) die rassen- und erbbiologische Bestandsdrohung des eigenen Volkes (4)
die Rassen- und Volkswertlehre«.
112 N. Hartmann, Neue Anthropologie in Deutschland. Betrachtungen zu Arnold Geh-

lens Werk ›Der Mensch‹, in: Blätter für Deutsche Philosophie, Jg. 15 (1941/42), S. 159–
177.

Philosophische Anthropologie A 175


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

der 30er Jahre: »Auf nichts, soweit ich mich zurückerinnern kann, hat
man in Fachkreisen der deutschen Philosophie so sehnlich gewartet
wie auf einen neuen, grundlegenden Ansatz der philosophischen An-
thropologie.« Das habe nicht nur mit der »Sturzflut« der Probleme
aus den Wissenschaften zu tun, sondern auch mit »den brennenden
Fragen« der »Gesamtsituation des neuen Deutschlands«. »Denn so
ist es nun mal: alle Differenzierung menschlich-völkischer Artung
setzt irgendeine Grundvorstellung vom Wesen des Menschen voraus,
und ohne diese schwebt alle Besonderheit und Arteigenheit in der
Luft.« Eine solche Grundvorstellung biete Gehlens Werk. »Ein Jahr
lang habe ich mit diesem Buche zugebracht […]. Nicht als wäre es
schwer geschrieben […], aber der Gegenstand ist abgründig, die Pro-
bleme haben es in sich – man geht ihnen nach, man verfolgt sie ein
Stück weit an Hand einer meisterlichen Führung und verliert sich in
ihre Tiefen.« Denn Gehlens Werk »führt bei aller Eleganz denkeri-
scher Beherrschung und aller glückhaften Kraft, das an sich Schwie-
rige leicht und übersehbar zu machen, doch nie über die Abgründe
hinweg […], sondern streng, treulich und unbeirrbar mitten in sie
hinein.« 113

Hartmann rückt Gehlen ganz selbstverständlich – gegen dessen


Sträuben – in die neue ›philosophische Anthropologie‹ ein, bei deren
modernem Doppeldurchbruch er ja Eideshelfer war. Das, sowie Sche-
ler und Plessner, erwähnt Hartmann nicht, allerdings auch nicht
Gehlens demonstrativen Versuch, sich mit der Setzung von »Herder
als Vorgänger« jüngster Vorgänger zu entledigen. Hartmann ver-
merkt nur lakonisch: Gehlens »Ansatz übernimmt […] eine Menge
fruchtbarer Motive von älteren und neueren Vorgängern.« 114 Eine
Vergegenwärtigung der von Hartmann hier gemeinten, bei Gehlen
verdeckt eingearbeiteten »Menge fruchtbarer Motive« v. a. der neue-
ren Vorgänger ergibt: Das von Alsberg vorgeschlagene Strukturprin-
zip der Menschwerdung, die »Körperausschaltung« 115 im Unter-
schied zur Körperanpassung der Tiere, d. h. die sukzessive Befreiung
vom Körper im Körper, nimmt Gehlen als Prinzip der »Entlastung«.
In Schelers Pragmatismusrezeption und im Pragmatismus selbst
fand er den Begriff der »Handlung«. Die Idee des »Kreisprozesses«

113 Ebd., S. 159 f.


114 Ebd., S. 162.
115 P. Alsberg, Das Menschheitsrätsel. Versuch einer prinzipiellen Lösung, a. a. O., S. 97.

176 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

fand er ebenso schon bei Scheler, der den Menschen als »schlechthin
›offenes‹ System« 116 begriff, dessen Struktur der »Rückmeldung« er
biopsychisch systematisch eingeführt hatte. 117 In Rothackers ›Ge-
schichtsphilosophie‹ von 1934 fand Gehlen die »Haltung« als kreis-
prozesshafte Dauerantwort auf Lagen und schon gegebene Ant-
worten. Von Plessner hatte er die Kategorie des »Hiatus« 118 als
systematische Unterbrochenheit von Lebens- bzw. Funktionskreisen,
– die Bedingung der Möglichkeit für indirekte Überbrückungen.
»Vitales Defizit« war bei Scheler 119, »Halbheit, Gleichgewichtslosig-
keit, Nacktheit« (SO 320) waren bei Plessner Kennzeichnungen für
das gewesen, was bei Gehlen als »Mängelwesen« bestimmt wurde,
und wegen dieser »Hälftenhaftigkeit der eigenen Lebensform« hatte
Plessner dieses Lebewesen als auf »Ergänzungsbedürftigkeit«, »Kom-
pensation« durch »Künstlichkeit« angewiesen gesehen: es muss »auf
Umwegen über künstliche Dinge leben«. Weiter nahm Gehlen von
Plessner im Zusammenhang der Anthropologie die Formel: »Der
Mensch lebt nur, indem er sein Leben führt« 120 , Kultur als von Natur
aus kompensierendes »künstliches« Führungssystem, die Figur der
»Indirektheit«, der »vermittelten Unmittelbarkeit«. Vor allem er-
kannte er dadurch, dass Plessner »exzentrische Positionalität« als
Grundkategorie des Menschen eingeführt hatte, die konstitutive
Funktion der »Bewegungsphantasie« Palágyis für die Menschwer-
dung, auf die ihn Buytendijks Buch 1938 aufmerksam werden ließ:
dieses Wunder, dass im Fall des Menschen das Leben, ohne von der
Stelle zu rücken, wo es sich positioniert befindet, sich trotzdem so
verhalten kann, als ob es an eine andere Stelle des Raumes oder der
Zeit entwichen wäre: ex-zentrisch.
Hartmann, ganz an der Sache interessiert, erwähnt diese Bezug-
nahmen nicht. Sein lakonischer Satz lautet vollständig: Gehlens
»Ansatz übernimmt zwar eine Menge fruchtbarer Motive von älte-
ren und neueren Vorgängern, ist aber als Ganzes etwas durchaus
Neues.« 121 Wenn einer das beurteilen konnte, dann er, weil er einer
der wenigen war, der sowohl Schelers wie Plessners Beiträge genau

116 M. Scheler, Das emotionale Realitätsproblem (zu ›Idealismus – Realismus‹), GW 9,

S. 276.
117 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 14 f.
118 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 249.

119 M. Scheler, Der Formalismus und die materiale Wertethik, GW 2, S. 289–296.

120 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 310.

121 N. Hartmann, Neue Anthropologie, a. a. O., S. 162.

Philosophische Anthropologie A 177


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

kannte. Hartmann erkannte, dass Gehlen zu einer ganz unvorherseh-


baren Durchführung der Scheler-Plessnerschen Idee, des Menschen
Sonderstellung im konstrastierenden Vergleich zum Tier zu bestim-
men, gelangt war. Indem Gehlen den Blick auf ein Säugetier fallen
ließ, das von Natur aus relativ schutzlos, bedürftig, nicht genau in ein
Umweltverhältnis eingepasst war, und nun unter der Leitfrage der
Lebenserhaltung nachvollzog, wie dieses »nicht-festgestellte Tier«
in eigentätigen, rückempfundenen Bewegungen einen Selbstaufbau
mit einer ganzen »Stufenordnung von Funktionen« vorantrieb, ver-
mochte er den Zusammenhang der Besonderheit des Menschen –
»Geist« – mit der Spezies des Säugetieres, das er ist, tatsächlich sicht-
bar werden zu lassen. Gehlen vermochte – das war für Hartmann der
Punkt – im Ausgang von den körpernahen senso-motorischen Aus-
griffen und Rückempfindungen, im allmählichen Höherlegen der
Funktionen nach dem Prinzip der »Entlastung«, über das Spiel und
das Könnensbewusstsein sachlich-objektiven Verhaltens bis hin zur
hochkomplizierten Leistung der Sprache, durch dieses Ineinander-
greifen von Leistungen und Funktionen, sichtbar zu machen, dass
der Mensch ein »Wesen aus einem Guß« 122 ist, oder andersherum
gesagt, dass die höchsten Funktionen des Menschen – Sprache, Phan-
tasie, Objektivität – »sich nicht in einem beliebig gearteten Organis-
mus einstellen« 123 konnten (dies wohl indirekt von Hartmann gegen
Plessner gesprochen). Hartmann erkannte auch, dass der von Palágyi
entdeckte Begriff der »Bewegungsphantasie« »bei Gehlen die Zen-
tralstellung in der Entwicklung menschlicher Aktivität« gewann.
Diese Bewegung der phantastischen Entrückung des Lebensprozesses
von dem räumlich-zeitlichen Standort, an dem das Leben postiert ist,
als Bedingung der Möglichkeit zu sehen, die tatsächlichen Bewegun-
gen des Körpers zu führen, wird Hartmann als eine fruchtbare Pro-
zessualisierung »exzentrischer Positionalität« verstanden haben.
Denkwürdig für die Realgeschichte der Philosophischen An-
thropologie war Hartmanns Besprechung nun nicht nur wegen der
Auszeichnung des Gehlenschen Neueinsatzes – die aus Kenntnis der
Pionierleistungen erfolgte –, sondern auf Grund zweier weiterer
Schritte. Einmal verteidigte er umsichtig Gehlens Gedankenbildung
– und damit indirekt die Philosophische Anthropologie – gegen mög-
liche Einwände, die ihm aus vorliegenden Rezensionen schon be-

122 Ebd., S. 160.


123 Ebd., S. 176.

178 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

kannt waren. Zum anderen rief er Gehlen – sozusagen im Namen der


Philosophischen Anthropologie – kritisch zur Ordnung, seinen An-
satz in bestimmten Hinsichten nicht selbst mißzuverstehen.
In der ersten Hinsicht war wichtig, dass er den Begriff »Mängel-
wesen« mit seiner von anderer Seite mehrfach angemerkten phyloge-
netischen Problematik – wie sollte evolutionsgeschichtlich ein solches
unfertiges Lebewesen überlebensfähig gewesen sein? – aus der evolu-
tionstheoretischen Schusslinie zunächst einmal herausnahm, indem
er auf den genuin ontogenetischen Einschlag der Kategorie aufmerk-
sam machte: »Mängelwesen« ist zunächst das »biologische Ausgangs-
gebilde, von dem auch heute noch in jedem Individuum der Prozeß der
Menschwerdung ausgeht […]; dieses hilflose Etwas haben wir empi-
risch aufweisbar und beobachtbar im frühkindlichen Alter vor Au-
gen.« In der zweiten Hinsicht, gewissermaßen an Gehlen selbst ge-
wandt, machte Hartmann diesen darauf aufmerksam, dass, entgegen
Gehlens Auffassung, im leibnahen Handlungsbegriff sei der Leib-
Seele-Gegensatz als bloßes Vorurteil ein für allemal überwunden, am
Gegensatz Leib-Seele im Menschen sachlich etwas sein könnte. Wei-
ter, und noch wichtiger, gab Hartmann Gehlen den Wink, dass er sich
in seiner dezidierten Ablehnung des Stufen- oder Schichtungssche-
mas bei gleichzeitig behaupteter Einheit des Menschen in die Gefahr
begebe, mit den materialistischen oder biologistischen Theorien ver-
wechselt zu werden, »die auch die geistig-geschichtliche Welt – die der
Technik, der Kunst, der Moral, des Rechts, des Wissens und des politi-
schen Lebens – als bloßen Teil des organischen Lebens verstehen wol-
len.« 124 Es könne gleichsam sein, dass Gehlen selbst glaube, was seine
idealistischen »Gegner am meisten fürchten«: dass er die »Eigenart
und Selbständigkeit des Geistes« aus körperlichen Vorgängen ent-
springen lasse. Allerdings – so Hartmann, der hier versucht, den Autor
besser zu verstehen als dieser sich selbst –, folge in der Sache Gehlen
durchaus dem »Schichtungsgedanken«, insofern er höhere und niede-
re Leistungen gegeneinander abhebe, wobei die höheren die niederen
voraussetzten, aber in ihrem Höhersein eben durch das Aufkommen
gegenständlichen Bewusstseins bedingt seien und insofern ein kate-
goriales Novum enthielten. Gehlens Interessenpunkt sei nicht, Phan-
tasie, Gedanke, Führung, Selbstzucht aus körperlichen Funktionen
entstehen zu lassen, sondern sie – in ihrer schichtenmäßigen Eigenart
– als Bedingungen zu untersuchen, unter denen ein exponiertes We-

124 Ebd., S. 173.

Philosophische Anthropologie A 179


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

sen wie der Mensch wirklich lebensfähig werde. Dieser Grundgedanke


aber widerstreite nicht der »Würde des Menschengeistes«. Und Hart-
mann vollendet seinen Kunstgriff, den Autor vielleicht besser zu ver-
stehen als dieser sich selbst: »Was Gehlen immer wieder unterstreicht,
ist das Umgekehrte: dass die höheren Leistungen, die man gewöhnt
ist, dem Geiste vorzubehalten, sich bis tief in die primitiven Anfänge
des Menschseins hinab erstrecken. […] Weit entfernt also, alles ›Geis-
tige‹ biologisch zu deuten, sucht diese Anthropologie eher das, was
man der geistigen Leistung vorbehielt, bis in die Vitalfunktionen
hinab geltend zu machen.« 125
Denkwürdig für die reale Bildungsgeschichte der Philosophi-
schen Anthropologie ist, dass Hartmann, der im ›Dritten Reich‹ mit
dem distanzierten Gestus zeitloser Philosophie eine ungewöhnliche
Stellung einnahm, hier für einen Ansatz, dem er selbst nicht zugehör-
te, ein Patronat übernahm, und zwar nicht im Namen der Personen,
sondern der sachlichen Möglichkeiten des Denkansatzes. Indem er
Gehlen als neuen Autor in die »Philosophische Anthropologie« ini-
tiierte und ihm dabei zugleich eine Grundlektion erteilte, verschaffte
er dem Denkansatz in der geistigen Welt endgültig das Patent.

Gehlen verstand und anerkannte Hartmanns Art der Initiation.


Brieflich dankt er ihm: »Sie haben Ihre große Autorität voll und öf-
fentlich eingesetzt und haben in einer in Deutschland völlig unge-
wöhnlichen Weise meine Philosophie erst recht da zur Geltung kom-
men lassen, wo Sie Einwendungen hatten. Ich habe das noch nicht
erlebt, und fühle mich dadurch nicht nur in wissenschaftlicher,
sondern ebenso auch persönlicher Beziehung gefördert und ermu-
tigt.« 126 1942 wurde die »Neue Anthropologie« – am Werk Gehlens
– auf einer Fachsitzung der ›Gesellschaft für Deutsche Philosophie‹ in
Bonn unter Leitung von Rothacker zur Diskussion gestellt. 127 Zwi-
schen Rothacker und Gehlen gab es Spannungen, auch wegen der
Priorität in der »Neuen Anthropologie«. Gehlen hatte ja auch Roth-
acker in ›Der Mensch‹ nur nebenbei erwähnt, obwohl sein Neu-
einsatz gerade auch dem »reichen und anregenden Gedankengang«

125 Ebd., S. 176.


126 Gehlen an Hartmann 29. 5. 1941, zit. in: K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers,
GA 3.2, S. 898.
127 Mitteilungen der Deutschen Philosophischen Gesellschaft, in: Blätter für Deutsche

Philosophie, Jg. XVI (1942/43), S. 134.

180 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

von Rothackers Philosophischer Anthropologie der Kultur in seiner


›Geschichtsphilosophie‹ verpflichtet war. 128 Das war verbunden mit
einer sachlichen Kontroverse: Gehlen akzentuierte die »Weltoffen-
heit« des Menschen gegenüber der »Umweltgebundenheit« des Tie-
res, Rothacker hingegen betonte eine menschlich-spezifische bildhaf-
te Umweltgebundenheit des Menschen. Bedeutsam aber für die
»Neue Anthropologie«, deren Grundfragestellung – im kontrastiven
Tier/Mensch-Vergleich – durchaus biologisch war, war ein Konsens:
»der Mensch ist ein Kulturwesen. […] In diesem Punkte stimme ich
mit Gehlen […] voll überein.« 129 Mit dieser Distinktion gegenüber
einer »biologischen Anthropologie« (Rothacker) einerseits, wie sie
sich zeitgleich durch bedeutende Beiträge von K. Lorenz im Feld ver-
gleichender Tier/Menschforschung 130 in Königsberg neu konstituier-
te, und gegenüber einer »rassisch-völkisch-politischen Anthropo-
logie« andererseits, wie sie jetzt als avanciertes Denken einer
»Deutschen Philosophie der Gegenwart« um die »Politische Philo-
sophie« Carl Schmitts und um Rosenberg, Krieck, Bäumler und
Heyse kenntlich gemacht wurde 131, standen Rothacker und Gehlen
im selben Lager. 132 1942 eröffnete Hartmann den von ihm – inner-

128 A. Gehlen, Besprechung: E. Rothacker, Geschichtsphilosophie (1934), a. a. O., S. 356.


129 E. Rothacker, Probleme der Kulturanthropologie, a. a. O., S. 161.
130 K. Lorenz, Die angeborenen Formen menschlicher Erfahrung, in: Zeitschrift für

Tierpsychologie, Jg. 5 (1942); ders., Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwär-
tiger Philosophie, in: Blätter für Deutsche Philosophie, Jg. 15 (1941), S. 94–125. –.
O. Koehler, Besprechung: A. Gehlen. Der Mensch, in: Zeitschrift für Tierpsychologie,
a. a. O., S. 408.
131 G. Lehmann, Die deutsche Philosophie der Gegenwart, Stuttgart 1943, S. 510–548,

S. 525.
132 Vgl. die Differenzierung bei K.-S. Rehberg: »Die Philosophische Anthropologie war

also nicht rassistisch begründet – auch nicht bei Arnold Gehlen oder Erich Rothacker, die
mit dem NS-System sich sehr wohl eingelassen haben –, jedoch enthielten alle rassisti-
schen ›Lehren‹ eine Anthropologie. So gab es für die anthropologische Debatte im ›Drit-
ten Reich‹ widersprüchliche Rahmenbedingungen: zum einen konnte man das Rassen-
thema umgehen oder – wie z. B. Gehlen – in den Mythos abschieben, zum anderen stand
man den damals faszinierenden und politisch leicht instrumentalisierbaren Versuchen
nicht allzu fern, Menschen »wissenschaftlich« (also z. B. biologisch, medizinisch, psy-
chologisch und schließlich auch soziologisch) zu erfassen, zu klassifizieren und zu ›be-
werten‹ ; das begründete eine Empirie, die der Offiziersauslese ebenso dienlich sein
konnte wie den Entscheidungen über ›Auslese‹ oder Vernichtung von Menschengrup-
pen in kriegerisch unterworfenen Gebieten. An all dem hatten die die grundlegenden
Konzeptionen der Philosophischen Anthropologie wohl keinen unmittelbaren Anteil,
verdankten aber ihre Bedeutung (wohl auch nur ihre Duldung) dennoch diesem wissen-
schaftspolitischen ›Klima‹.« K.-S. Rehberg, Arnold Gehlens Beitrag zur ›Philosophi-

Philosophische Anthropologie A 181


https://doi.org/10.5771/9783495999899
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

halb des Gesamtprojektes der ›Kriegswichtigkeit der Geisteswissen-


schaften‹ – herausgegebenen Band ›Systematische Philosophie‹ mit
Gehlens ›Systematik der Anthropologie‹ und Rothackers ›Probleme
der Kulturanthropologie‹. 133 Hartmann, der in Briefen an Rothacker
seine Skepsis gegenüber diesem editorischen Gesamtprojekt aus-
drückte, war an der gediegenen Komposition seines eigenen Bandes
sehr gelegen und legte Wert auf Beiträger, deren Beiträge unabhän-
gig von der konkreten historischen Lage und einer kriegspolitischen
Anforderung an die Philosophie Geltung beanspruchen konnten.
Rothacker, der ihm zögernd eine Skizze seines Programms einer
»Kulturanthropologie« zuschickte, antwortete er, dass »es ergänzend
zu Gehlens […] Beitrag sehr zweckmäßig angelegt« sei, und er warb
ihn mit den Worten: »Sie werden also, wenn ich recht sehe, genau
dort einsetzen, wo Scheler, Gehlen und manche andere aufhören.« 134
Damit hatte sich innerhalb eines disziplinären Feldes, das »philo-
sophische Anthropologie« genannt werden konnte, zugleich auch
ein bestimmter Denkansatz unter dem Titel »Philosophische An-
thropologie« durchgesetzt, der mit seiner realistischen Umwandlung
bestimmter Denkmotive des Idealismus bei Fichte und Hegel (und
schließlich bei Marx) – »Arbeit«, »Tat«, »Tätigkeit« – eine gewisse
Nähe zum amerikanischen Pragmatismus bekundete 135 und der von
idealistischen, lebensphilosophischen, existenzphilosophischen, her-
meneutischen, biologisch-naturalistischen und völkisch-politischen
Richtungen deutlich unterschieden war.

Wie verhält sich Plessner? Man könnte sagen, darauf kam es in den
30er Jahren nicht mehr an. Plessner geriet aufgrund der Zeitumstände
in eine Randlage des philosophischen Diskurses. Dennoch wird ihm –
einem der Pioniere des Denkansatzes – über Umwege ein neuer Ein-
satz der Philosophischen Anthropologie gelingen. Zunächst muss
man Plessners Problemlage sehen. 1933 wurde ihm auf Grund des

schen Anthropologie‹. Einleitung in die Studienausgabe seiner Hauptwerke, in: A. Geh-


len, Der Mensch, 13. Aufl. Wiesbaden 1986, S. I–XVII, S. XV.
133 A. Gehlen, Zur Systematik der Anthropologie, in: N. Hartmann (Hrsg.), Systemati-

sche Philosophie, Stuttgart/Berlin 1942, S. 1–54. – E. Rothacker, Probleme der Kultur-


anthropologie, ebd., S. 55–198. – Neben seinem eigenen Beitrag zog er noch Beiträge
von H. Wein, H. Heimsoeth und O. F. Bollnow hinzu.
134 N. Hartmann an E. Rothacker, 17. 11. 1940, Nachlass Rothacker.

135 H. Schelsky, Der Pragmatismus: Besprechung v. E. Baumgarten, Der Pragmatismus,

in: Die Tatwelt. Zeitschrift für Erneuerung des Geisteslebens, Jg. 16 (1940), S. 27–30.

182 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

›Arierparagraphen‹ des Berufsbeamtengesetzes 136 die Lehrerlaubnis


an der Universität Köln und damit an deutschen Universitäten entzo-
gen. F. J. J. Buytendijk bot dem auf Existenzsicherung angewiesenen
Plessner Ende 1933 aus eigener Initiative an der Universität Gronin-
gen Schutz. Plessner kam einstweilen als Gast an Buytendijks Physio-
logischem Institut in Groningen unter. Soweit funktionierte die Infra-
struktur der Philosophischen Anthropologie – das Kölner Netzwerk
der 20er Jahre. Andererseits lief Schelers Schatten mit, denn schon
Ende Dezember ermahnte Schelers Witwe, der das zu Ohren gekom-
men war, Buytendijk, der in die Herausgabe der Schelerschen großen
›Anthropologie‹ aus dem Nachlass involviert war, Plessner über den
Zustand des Nachlasses keine Auskunft zu erteilen. 137
Bei aller Marginalisierung ist für Plessner während der 30er
Jahre in jedem Fall kennzeichnend, dass er den Fuß im deutschen
philosophischen Diskurs zu halten versucht. Nicht er war ausgewan-
dert, man versuchte, ihn auszugrenzen. Zunächst unternahm er es,
sich von außen in die geistigen Kämpfe in Deutschland 1933/34 ein-
zumischen, was auf eine Abrechnung mit der deutschen Philosophie
hinauslief. Hervorgegangen aus Vorlesungen in Groningen 1934/35
über »Die Philosophie der Existenz. Heidegger, Jaspers, Klages« 138
kleidete er seine Kritik dieser Philosophie in eine Kultursoziologie
des ›Schicksals deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen
Epoche‹, die er noch 1935 über einen Schweizer Verlag in den
deutschsprachigen Raum lancierte. 139 Die These war, kurz gesagt,
dass die deutsche Mentalität schon im Anfang der bürgerlichen Neu-
zeit aus kontingenten historischen Umständen durch die lutherische
»Weltfrömmigkeit«, die nicht in die soziale – protodemokratische –
Selbstorganisation der »Gemeinden« mündete, einen solchen un-
politischen Drall bei gleichzeitiger Übererwartung an die Geisteskul-
tur erhalten habe, dass es nicht Wunder nähme, dass in den Ernüch-
terungsprozessen der modernen Gesellschaft die absolute Hoffnung

136 Vgl. Ende von Kap. 1.3, Anm. 107.


137 Maria Scheler an Buytendijk 29. 12. 1933, zit. in: H. Struyker Boudier, Filosofische
Wegwijzer, in: Ders., Filosofische Wegwijzer. Correspondentie van F. J. J. Buytendijk
met Helmuth Plessner, a. a. O., S. 24.
138 H. Plessner, Einführung in die Philosophie der Existenz. Heidegger, Jaspers, Klages.

Ankündigung in: Der Clercke Cronike, Jg. 15/16, Nov. 1934/Feb. 1935, Nachlaß Pless-
ner, Mappe 62.
139 H. Plessner, Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epo-

che, Zürich und Leipzig 1935. Vgl. H. Plessner, Die verspätete Nation, GS VI, S. 7–224.

Philosophische Anthropologie A 183


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

auf die Philosophie umkippe in die absolute Verzweiflung an der phi-


losophischen Orientiertheit bzw. der Vernunft. In der existenz-
philosophischen Radikalität einerseits, in der Radikalisierung der
Lebensphilosophie andererseits, kapituliere die Philosophie durch
Sprung in die blinde Aktion vor der Politik und rechtfertige – »im
Ausgang«, d. h. am Ende ihrer bürgerlichen Epoche – dem Staat die
Ausbürgerung seiner eigenen Bürger. Die Resonanz auf Plessners
Buch, teilweise im ›Dritten Reich‹, teilweise im Exil, war unter-
schiedlich. Während in ›Rasse‹, der ›Monatsschrift der Nordischen
Bewegung‹, Plessner entschieden »Verdrehungen des rassischen
Denkens« nachgewiesen wurden, weil er, statt Geschichte aus dem
rassischen Prinzip zu rekonstruieren, durch geistesgeschichtliche
und kultursoziologische Relationierung »unsere Anschauungen von
Volk, Rasse und lebenskundlicher Betrachtung zu verwirren und lä-
cherlich zu machen« suche 140 , erkannte Marcuse für die ›Zeitschrift
für Sozialforschung‹ über Plessners Buch: »Die Standpunktlosigkeit
der ›geistesgeschichtlichen‹ Phrase schwankt zwischen Verteidigung
und Anklage des autoritären Staates.« Aus der Sicht der Kritischen
Theorie monierte Marcuse, dass von Plessners Rekonstruktion aus
»drei ›Radikalismen‹ der versinkenden bürgerlichen Welt« »gleich-
geordnet erscheinen«: »der ›weltrevolutionäre ökonomische Sozialis-
mus‹, die ›Radikalisierung der Theologie‹ und der ›Fascismus‹«.
Horkheimer gegenüber beharrte aber K. Löwith, der mit Plessner
die Diagnose eines »politischen Dezisionismus« teilte, darauf, dass
er Marcuses »Besprechung von […] H. Plessner einigermaßen unge-
recht« fände. »Ich habe wiederholt bemerkt, daß P[lessner]s Buch
gerade den Ausländern sehr aufschlußreich über die deutsche Men-
talität war u. sein Thema scheint mir auf jeden Fall wichtig.« 141
Plessner bezog die »Aufgabe der philosophischen Anthropo-
logie« 142 auf die »deutsche Ideologie der Gegenwart«, und als er 1936
als Privatdozent für philosophische Anthropologie in Groningen tätig
werden konnte, bestimmte er die geistige Situation mit an Schelers
›Zur Idee des Menschen‹ (1915) indirekt angelehnten Worten: »Ein

140 A. Tille, Rasse und Geschichte, in: Rasse. Monatsschrift der Nordischen Bewegung,

Jg. 3 (1936), S. 490–491.


141 K. Löwith an M. Horkheimer 28. Juni 1937, in: M. Horkheimer, Gesammelte Schrif-

ten, hrsg. v. A. Schmidt/G. Schmid Noerr, Bd. 16: Briefwechsel 1937–1940, Frankfurt
a. M. 1995, S. 183.
142 H. Plessner, Die Aufgabe der philosophischen Anthropologie (1937), GS VIII, S. 33–

51.

184 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

neuer sozialer Zustand drängt ans Licht. In der Auflösung einer von
Christentum und Antike bestimmten Welt stellt sich der Mensch, nun
völlig von Gott verlassen, gegen die Drohung, in der Tierheit zu ver-
sinken, erneut die Frage nach Wesen und Ziel des Menschen.« 143 Sche-
lers Formulierung 1915, avant la lettre einer Philosophischen Anthro-
pologie, hatte gelautet: »Der Mensch scheint in der Tierheit, in die
untere Natur zu zerfließen, und es gilt gerade noch einen Unterschied
zu finden, der ihn ›rettet‹, ganz in sie zu versinken.« 144 Plessner be-
stimmte in seiner Antrittsvorlesung als »Aufgabe der philosophischen
Anthropologie« ihre Korrektivfunktion: alle verdeckenden Auslegun-
gen des Menschen in eine Schwebe zu bringen und ihm damit Freiheit
zu sichern. Doch das war ein abstraktes Programm. Plessner befand
sich nicht nur real in einer Situation der Marginalisierung 145 , sondern
er musste erkennen, dass in seinen Beiträgen auch die Philosophische
Anthropologie als Denkansatz in eine marginale, reaktive Position
geriet. Das Postulat, das er 1931 in der großen Hallenser Diskussion
im Anschluss an den Hartmann-Vortrag aufgestellt hatte, dass »an die
Stelle des Subjekts und Bewußtseins die konkrete Person (mit Haut
und Haaren, nicht nur als Existenz im Sinne Heideggers) als Aus-
gangs- und Blickpunkt der philosophischen Fragestellung« 146 zu tre-
ten habe, hatte er im Verhältnis zur Existenz- und Lebensphilosophie
selbst nicht eingelöst. Weder gegenüber der Lebensphilosophie von
Klages, noch gegenüber der Existenzphilosophie, die ihm erneut, jetzt
aber in ihrer moderateren Form durch die von Karl Jaspers 1935 an der
Universität Groningen gehaltenen Vorträge über ›Vernunft und Exis-
tenz‹ 147 begegnete, hatte er die Erschließungskraft einer am Tier/
Mensch-Vergleich arbeitenden Philosophischen Anthropologie am
Phänomen bewähren können. Aber das Postulat von 1931 hielt er noch
1935 im niederländischen Exil aufrecht, nämlich dass »Naturphiloso-

143 Ebd. S. 35.


144 M. Scheler, Die Idee des Menschen, GW 3, S. 175.
145 Ende der 30er Jahre waren alle Plessnerschen Bücher im deutschen Buchhandel nicht

zugänglich. Er war ein vergessener Autor. Seit 1938/39 hatte Plessner eine – karg do-
tierte – Stiftungsprofessur für Soziologie in Groningen, die ihm das akademische Über-
leben ermöglichte.
146 H. Plessner, Diskussionsbeitrag, in: N. Hartmann, Zum Problem der Realitätsgege-

benheit, Philosophische Vorträge Nr. 32, veröffentlicht von der Kant-Gesellschaft,


a. a. O., S. 49–51.
147 K. Jaspers, Vernunft und Existenz (1935), München 1960. Diese Vorlesungen hielt

Jaspers vom 25. bis 29. März 1935 auf Einladung der Universität Groningen (Holland)
als Aula-Voordrachten.

Philosophische Anthropologie A 185


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

phie nötig ist und dass der Gedanke der Erkenntnis des Menschen
unter dem Gesichtspunkt des Menschen einen bisher nicht von der
Philosophie gewagten neuen Einsatz fordert, der von vornherein das
leibliche Dasein mitumspannt«; weiter, dass »das leiblich-sinnliche
Dasein in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen und es zum Leitfa-
den einer Erkenntnis des Menschen auf dem Hintergrunde der leben-
digen Natur zu machen« sei, dass »gerade diese Region methodisch
vor anderen Seinsregionen auszuzeichnen« sei. 148

Es sind vor allem zwei Bedingungen, die Plessner bei seiner erneuten
Suchbewegung auf die Sprünge helfen. Da ist zum einen die erneute
Begegnung mit Buytendijk, die zwar durch äußere Umstände er-
zwungene, aber äußerst intensive Zusammenarbeit mit dem phäno-
menologischen Tierforscher. Über Jahre standen ihre Schreibtische
über Eck in Buytendijks Arbeitszimmer in seinem Physiologischen
Institut. 149 Buytendijk war seit 1925 zu einem der bekanntesten eu-
ropäischen Tierpsychologen geworden, der in seinem Forschungs-
institut experimentell kontrollierte Beobachtungen mit phänomeno-
logischer Erschließung verknüpfte. Sein 1933 erschienenes Buch
›Wesen und Sinn des Spiels‹ 150 , eine Studie zum spielerischen Ver-
halten junger Tiere und von Menschen jeden Alters, hatte auch in
Deutschland Aufsehen erregt – und war dort auch von Plessner zu-
stimmend besprochen worden. Wie schon 1924 bei ihrer ersten Zu-
sammenarbeit, 10 Jahre zuvor, zwang Buytendijks Präsenz Plessners
konstruktive Neigung zur Anschauung. Die erste Frucht ihrer jetzi-
gen Zusammenarbeit – eine Kritik der modernen reflexphysiologi-
schen Erklärung des Verhaltens durch den russischen Psychologen
Pawlow 151 – lag auf der Linie ihrer damaligen ›Deutungen zum
mimischen Ausdruck‹. Pawlows gegen die introspektive Psychologie
gerichtetes Paradigma einer objektiven Psychologie glaubte, das gan-
ze leibseelische Leben des Menschen sei auf die »bedingten Reflexe«

148 H. Plessner, Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche

a. a. O. unter dem Titel ›Die verspätete Nation‹, GS VI, S. 189.


149 H. Plessner, Unsere Begegnung, in: Rencontre/Encounter/Begegnung. Contributi-

ons à une psychologie humaine dédiées au F. J. J. Buytendijk, Utrecht/Antwerpen 1957,


S. 331–338.
150 F. J. J. Buytendijk, Wesen und Sinn des Spiels. Das Spielen der Menschen und der

Tiere als Erscheinungsform der Lebenstriebe, Berlin 1933.


151 F. J. J. Buytendijk/H. Plessner, Die physiologische Erklärung des Verhaltens. Eine

Kritik der Theorie Pawlows (1935), GS VIII, S. 7–32.

186 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

zurückführbar, die wiederum in der Physiologie des Nervensystems


fundiert seien. Gegen diese naturalistische Verabsolutierung kausal-
analytischer Erklärung von Verhalten auf physiologischer Ebene –
Verhalten als Reiz-Reflex-Ketten – setzten Buytendijk/Plessner
1935 als Korrektiv die ethologische Beschreibung von situations-
bezogenem Verhalten – »Verhalten heißt antworten«. »Eine derarti-
ge Beschreibung stützt sich auf die jedem Verhalten als solchem in-
newohnende Verständlichkeit, die mit der Grundbeziehung eines
Organismus gegeben ist […], und man findet die Antworten ver-
ständlich, wenn man das Tier von der Situation aus betrachtet, die
ihm ihre Fragen aufzwingt.« 152 Plessner nahm auch – wenn auch
etwas unwillig – Verhaltensbeobachtungen an auskriechenden Hüh-
nern im Hinblick auf ihre primären Bewegungen vor. Zudem wurde
er durch seine deutsche Übersetzung von Buytendijks zusammenge-
fassten tierpsychologischen Studien intensiv mit den Phänomenen
der Verhaltens- und Ausdrucksgestalt des Organischen konfron-
tiert. 153 Buytendijk hielt dem – aus der direkten philosophischen De-
batte unfreiwillig etwas herausgenommenen – Plessner gewisserma-
ßen das Substrat einer am Tier/Mensch-Vergleich orientierten
Philosophischen Anthropologie hin: die tierische und menschliche
Körperform samt Verhaltensgestalt.
War das funktionierende Bündnis Buytendijk-Plessner und dem
darin durch Buytendijk – wie in den zwanziger Jahren zu Schelers
Zeiten – präsent gehaltenen Anschauungshintergrund des philoso-
phisch-anthropologischen Denkansatzes die eine Bedingung für
Plessners neuen Einsatz, so war die zweite seine Reserveidee aus
den zwanziger Jahren: etwas »über den Witz« zu schreiben. Bereits
1926 hatte er W. Stern für einen Hamburger Vortrag neben natur-
philosophischen und ontologischen Themen das Thema »Das Wesen
des Witzes« angeboten mit der Bemerkung, dass es ihm besonders
nahe liege. 154 Im WS 1931/32 hielt er ein Seminar über den Witz 155 ,
an dem auch der befreundete Anglist H. Schöffler teilnahm, und am
26. 1. 1933, also noch vor der ganzen Umstellung des Plessnerschen

152 Ebd., S. 31.


153 F. J. J. Buytendijk, Wege zum Verständnis der Tiere, Zürich/Leipzig 1938.
154 Plessner an W. Stern 28. 10. 1926, Nachlaß Plessner, Mappe 143.
155 H. Plessner, Nachwort zu H. Schöffler, Kleine Geographie des deutschen Witzes,

hrsg. v. H. Plessner, Göttingen 1955. An dem Seminar nahm der Kölner Anglist Herbert
Schöffler teil, mit dem Plessner sich befreundet hatte. Beide zusammen unternahmen
1934 eine Spanienreise.

Philosophische Anthropologie A 187


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Lebens, fragt ein Brief Buytendijks nach Fortschritten bei dem »Buch
über den Witz«. 156 Offensichtlich interessierte sich Plessner damals
elementar für die Logik des Witzes, die unauflösbar-oszillierende
Spannung, weil hier eine Analogie zur »exzentrischen Positionalität«
vorlag, deren Struktur – mit ihrer unausgleichbaren Verschränkung
– etwas von einem Witzverhalt hatte. Aber erst jetzt, Mitte der 30er
Jahre 157, verschob er den Schwerpunkt vom Witz auf das »Lachen« –
als ein spezifisches Verhältnis des Menschen zu seinem Körper –,
und er fügte zu Witz und Lachen, das ihn während der 20er Jahre
beherrscht hatte, das Weinen – der 30er Jahre – hinzu. So kam er
dazu, die Leistungskraft der philosophisch-anthropologischen Kate-
gorie »exzentrische Positionalität« an den Grenzphänomenen des
Lachens und Weinens durchzuführen.

Im deutsch besetzten Holland veröffentlicht Plessner 1941 das Buch


›Lachen und Weinen‹ 158 , das er 1939 fertig geschrieben hatte. 159
Plessner zielt auf »Lachen und Weinen« als Ausdrucksphänomene.
»Unsere Untersuchung weicht der Frage nach der körperlichen Aus-
drucksform von Lachen und Weinen nicht, wie üblich, mit einer phi-
losophischen Verbeugung vor der Physiologie aus […], sondern
macht sie zur Kardinalfrage, deren Lösung alles untergeordnet ist«,
und »setzt damit die Linie früherer Arbeiten fort«: nämlich der ›Ein-
heit der Sinne‹ von 1923 und der ›Stufen des Organischen und der
Mensch‹ von 1928, auf die beide sich Plessner hier dezidiert bezieht.
(LW 21) Ausdruckshaftigkeit teilt der Mensch mit den Tieren, aber
Lachen und Weinen sind nur dem Menschen eigene Ausdrucksphä-
nomene, also Monopole des Menschen. Anders als seine zentralen
Monopole – Einsicht, Sprache, planvolles Handeln – sind sie jedoch

156 Buytendijk an Plessner 26. 1. 1933, in: H. Struyker Boudier (Hrsg.), Correspondentie

van F. J. J. Buytendijk met Helmuth Plessner, a. a. O., S. 97.


157 Plessner erinnert sich 40 Jahre später anders: »Am 8. Januar 1934 fuhr ich nach Hol-

land. In diese Zeit muß der Abschluß meines Buches »Lachen und Weinen« fallen, das
freilich erst 1940 in einem holländischen Verlag erscheinen sollte« (H. Plessner, Selbst-
darstellung, GS X, S. 332). Aber ein »Buch über den Witz«, von dem Buytendijk 1933
weiß, ist etwas anderes als eines über »Lachen und Weinen«, das Plessner 1939 fertig-
stellt.
158 H. Plessner, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen des menschlichen

Verhaltens (1941), GS VII, S. 201–387. Im Text zit. mit Kürzel ›LW‹ und Seitenanga-
ben.
159 H. Schöffler an Plessner 8. 9. 1939: »Daß Sie mit Ihrem ›Weinen & Lachen‹ zum

Ziele gekommen sind, ist herrlich.« Nachlaß Plessner, Mappe 143.

188 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

merkwürdig verselbständigte, unartikulierte Ausdrucksphänomene


des Körpers. Plessners These ist, dass nur eine »Theorie der mensch-
lichen Natur« (LW 213) aufdecken kann, dass Lachen und Weinen
»Krisenreaktionen« des Körpers (LW 378) auf Krisen des Geistes
sind, also »Grenzreaktionen« auf Grenzlagen, die nur dem Menschen
möglich sind.
Als Körper ist der Mensch genötigt, sich – wie das Tier zu seiner
Umwelt – passend zu verhalten. Das Spezifische des Menschen aber
ist als »das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper« zu explizie-
ren. Das menschliche Lebewesen findet sich in einer »exzentrischen
Position« (LW 243) vor: es muss den Körper, den es hat, und den Leib,
der es ist, in je situationsspezifischen Verhaltensantworten zum Aus-
gleich bringen. In diesem Spielraum zwischen Körper als gegebenem
Objekt und Leib als empfundenem Eigensein setzt er den Körper ent-
weder als Instrument ein – im Handeln, im gestisch geformten Aus-
druck –, oder er gibt ihn als Resonanzboden frei – in der Ausdrucks-
gebärde des Gefühls. Dazwischen steht die Sprache als sinnhafte
»Artikulation«. In diese drei großen Gruppen des Verhaltensreper-
toires eines exzentrisch positionierten Lebewesens – instrumentell
kontrolliert oder sprachlich artikuliert oder expressiv sinndurchsich-
tig – fügen sich Lachen und Weinen nicht ein; denn es sind verselb-
ständigte (nicht kontrollierte), unartikulierte (eine Art Flennen oder
Grunzen), undurchsichtige Körperreaktionen; aber doch sinnhaft –
nicht wie Erbrechen reflexhaft – aufgefasste Körperreaktionen.
Worauf antworten Lachen und Weinen als Verhalten? Plessner
expliziert eine zweite Prämisse der exzentrischen Position. Exzen-
trisch positioniertes Leben ist der Fall von Leben, wo das Selbst
zwischen sich und dem Gegenüber – der Welt – sozusagen zwischen-
geschaltet ist: Der Weltbezug dieses Organismus ist durch Sinn-
zusammenhänge vermittelt, die seiner Verhaltensführung Anhalts-
punkte geben. Im normalen Dasein kann sich der Mensch
orientieren, er lebt in einer vertrauten Welt. Alles in ihr hat im wei-
testen Sinn »Bewandtnis« (LW 364). Das exzentrisch positionierte
Leben rechnet mit einem gewissen System geordneter Verweisun-
gen, Orientierungen, an die es sich halten kann. Es braucht »Halte-
punkte, Stützpunkte, Angriffsflächen, Ruhepausen, Sicherheiten«.
Es rechnet mit einem Minimum an Sinnhaftigkeit. Vor diesem Hin-
tergrund des Normalfalles »vermittelter Unmittelbarkeit« des ex-
zentrisch positionierten Weltverhältnisses geht Plessner systema-
tisch die »Anlässe« durch, auf die je Lachen oder Weinen antworten.

Philosophische Anthropologie A 189


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Die auslösenden Momente sind nicht etwa entweder Freudiges


oder Trauriges, also reine Gefühlszustände der »Seele«, sondern
Sinnunterbrechungen, Unterbrechungen des Bewandtniszusammen-
hanges, also geistige »Krisen«, die seelisch erlebt werden. Die aus-
lösenden Anlässe des Lachens erschließt Plessner vor dem Hinter-
grund einer Theorie des Spielens, die auslösenden Anlässe des
Weinens vor dem Hintergrund einer Theorie der »Resonanz des Ge-
fühls«. Dass die Situation des Spielens – »wie etwa kriegen spielen,
sich balgen, mit rollenden, dehnbaren, wippenden, also irgendwie
eigenwillig sich gebenden Dingen abgeben« –, dass das elementare
Spielen Lachen auslöst, hat für Plessner etwas mit der grundlegenden
»Ambivalenz, Doppelwertigkeit« dieser Lagen zu tun: »Wir sind in
Einem frei und nicht frei, wir binden und sind gebunden. Zwischen
uns und dem Objekt (dem Ding, dem Kameraden) herrscht eine am-
bivalente Beziehung, der wir Herr und doch nicht Herr sind. […]
Spielen ist immer ein Spielen mit etwas, das auch mit dem Spieler
spielt«, zitiert Plessner Buytendijks Buch, »der besten Analyse des
Spiels, die wir haben.« (LW 85). Auf diese »Lust an etwas Mehrdeu-
tigem, das sich dem eindeutigen Entweder-Oder der Wirklichkeit
nicht fügt«, reagiert der Mensch mit Lachen, es ist die »Reaktion
auf eine Grenzlage gegen die eindeutigen Beziehungen, mit denen
er sonst im Leben zu rechnen hat.« Von diesem Grundphänomen
der situativen Ambivalenz im Spielen geht Plessner nun die hetero-
genen Anlässe des Lachens durch: Kitzel oder Freude, Komik, Witz,
aber auch Verlegenheit und Verzweiflung, kommen darin überein,
dass das sich orientierende Verhalten dabei auf eine »unausgleich-
bare Mehrsinnigkeit der Anknüpfungspunkte« (LW 378) stößt, und
zwar im vitalen Sinne stößt. Die Situation kann – vom Gesichtspunkt
der sinnvollen Beantwortung aus – nicht ernst genommen werden.
Die Anlässe des Weinens erschließt Plessner aus dem Hinter-
grund einer von ihm hier erstmals dargelegten Theorie des Gefühls
als »durchstimmender Angesprochenheit« des Menschen im Ganzen.
»Gefühl ist wesensmäßig Bindung meines selbst an etwas, Bindung,
die mir eine weit geringere Selbständigkeit gegenüber Dingen, Men-
schen, Werten, Gedanken, Ereignissen läßt als Anschauung, Wahr-
nehmung und jede sonstige motivierte Stellungnahme zu Objekten.
Gefühle wie Trauer, Freude, Empörung, Begeisterung, Verachtung,
Bewunderung, Zorn, Rührung, Haß, Liebe sind […] durchstimmen-
de Angesprochenheiten« der Person, in denen eine »Sachqualität«
mittels des Gefühls eindringt und »Resonanz« auslöst. (LW 138)

190 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

Den phänomenologischen Gedanken der »Intentionalität des Ge-


fühls« aufnehmend, wie er bei Scheler und anderen entwickelt wur-
de, gibt Plessner hier eine philosophisch-anthropologische Theorie
des Gefühls. Der Distanzstellung der »exzentrischen Position« ent-
spricht ihre Resonanzergriffenheit: »Distanzlose Sachverhaftung
mittels eines Gefühls kann sich […] nur bei einem Wesen ent-
wickeln, das überhaupt Sinn für Sachen hat. Obwohl das Gefühl un-
sachlich, d. h. nicht an die Maßstäbe der theoretischen oder praktisch-
ethischen Stellungnahme gebunden ist, braucht seine Subjektivität
die Distanz zu einer objektiven Sphäre, um sich, über sie hinweg-
setzend, ihren unmittelbar erreichbaren Qualitäten zu verbinden.
Nur wo ein Verstand ist, kann auch ein Herz sein.« Und er fährt fort:
»Tiere empfinden Lust und Schmerz, sie sind an vertraute Personen
und Umstände oft eng gebunden und insofern anhänglich. Aber
Treue, Freundschaft, Feindschaft, Eifersucht, Liebe und Haß fühlen
sie nicht. Das Gefühl ist wesentlich menschlich.« (LW 140). Dieses
spezifisch menschliche Phänomen einer »durchstimmenden Ange-
sprochenheit« in »distanzloser Sachverhaftung« ist die Vorausset-
zung, dass Weinen ausgelöst wird; aber nicht alle Gefühle lösen Wei-
nen aus, »sondern nur solche, in denen der Mensch einer Übermacht
inne wird, gegen die er nichts vermag. Dieses Gewahrwerden der
eigenen Ohnmacht muss gefühlsmäßig geschehen, es muß uns tref-
fen und ergreifen, um den Akt der inneren Preisgabe auszulösen,
welcher das Weinen bedingt.« (LW 143). Von diesem menschlichen
Faktum »des Gewahrwerdens und Angesprochenseins einer mich be-
drängenden Gewalt« aus geht Plessner die heterogenen Anlässe des
Weinens durch: Schmerz, Trauer, aber auch Reue, überraschende
Freude, Bekehrung, stimmen darin überein, dass das orientierende
Verhalten dabei einer »Aufhebung der Verhältnismäßigkeit des Da-
seins« (LW 378) ausgesetzt ist: Ihm widerfährt eine Übermacht, die
sich sinnhafter Vermittlung nicht mehr fügt. Prägnant fasst Plessner
die Ohnmacht des Ausgeliefertseins als Auslöser des Weinens im
körperlichen Schmerz: »Schmerz ist wehrloses Zurückgeworfensein
auf den eigenen Körper, so zwar, dass kein Verhältnis zu ihm mehr
gefunden wird. […] Brennend, bohrend, schneidend, stechend, klop-
fend, ziehend, wühlend, flimmernd wirkt der Schmerz als Einbruch,
Zerstörung, Desorientierung, als eine in bodenlose Tiefe einstrudeln-
de Gewalt«. (LW 143). Aber auch im seelischen Schmerz, »vor allem
über unersetzlichen Verlust und Kränkung«, begegnet »distanzlose
Sachqualität« als Übermacht, und schließlich ebenso »das Ergreifen-

Philosophische Anthropologie A 191


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

de, Rührende, Geliebte, Heilige und Hohe begegnet als das absolut
Eindeutige und zugleich Entrückte, als das reine Ende für unser auf
Verhältnismäßigkeiten, Relationen und Relativitäten, auf Druck und
Gegendruck abgestimmtes Verhalten.« (LW 144).
Die Anlässe von Lachen und Weinen sind also Situationen, zu
denen der Mensch verhaltensmäßig kein eindeutiges Verhältnis fin-
det. Nicht beantwortbare Situationen sind desorientierend, desorga-
nisierend. Sind Situationen, die für eine exzentrische Position sinn-
voll nicht beantwortbar sind, bedrohlich, erzeugen sie, so Plessner,
Schwindel, sind sie nicht bedrohlich, Lachen und Weinen. Im
Schwindel kommt es zur Kapitulation der Person, die Einheit wird
ihr entzogen; wenn sie lacht oder weint, überlässt sie ihren Körper
sich selbst, verzichtet somit auf die Einheit mit ihm, die Herrschaft
über ihn und bezeugt so noch in der Preisgabe ihre Souveränität. Im
Lachen oder Weinen lässt der Mensch sich gehen oder fallen. In der
außer Verhältnis geratenen exzentrischen Positionalität übernimmt
der verselbständigte Körper für den Menschen die Antwort, nicht als
Instrument oder Resonanzboden, sondern als undurchsichtige Aus-
drucksweise, passend zu einer unbeantwortbaren Grenzlage, die auf
diese Weise überbrückt wird. »Wie es das Vorrecht des Menschen ist,
in derart unmögliche Lagen zu geraten – unmöglich für ihn als Per-
son, aber unvermeidlich für ihn als Geist, d. h. seine Exzentrizität –,
so ist es auch sein Vorrecht, den Körper an seiner Stelle antworten zu
lassen.« (LW 366)
Lachen und Weinen sind aber zwei verschiedene Antworten auf
zwei verschiedene Grenzlagen. Ist die Verhaltensfortsetzung durch
unausgleichbare Mehrsinnigkeit der Anhaltspunkte unterbrochen –
ist der Mensch irritiert, überrascht, verblüfft, fasziniert –, dann ant-
wortet der lachende Körper – in welcher Intensität auch immer – mit
einer explosiven Loslösung, mit einer Herausschleuderung der Ex-
zentrik aus der Situation. Ist die Verhältnismäßigkeit des Daseins
überhaupt aufgehoben – begegnet »Losgelöstes«, d. i. Ab-solutes –,
dann antwortet der ins Weinen gleitende Körper mit einer die Person
selbst allmählich in die Kapitulation hineinziehenden Binnenzentrie-
rung der leiblichen Positionalität.
Lachen und Weinen als körperlich-sinnhafte »Grenzreaktio-
nen« der menschlichen Natur sind Indizien dafür, dass sich der
Mensch, weil er durch die exzentrische Vitalposition zu vernünftigen
und willensmäßigen Zusammenhängen fähig ist, notwendig »auf der
Grenze zwischen Sinn und Nicht-Sinn« bewegt (LW 383), auf nicht

192 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

mehr verschiebbare Grenzen des Nicht-Sinnes stößt und dabei als


vitales Wesen »über das ihm Mögliche hinausgerät«. (LW 383) Aus
diesem Grund kommt es zu den vitalen Antworten von Weinen und
Lachen, in deren Grenzüberbrückungen sich Verhältnismäßigkeit
wieder einstellt. »Der Mensch ist nun einmal immer mehr oder we-
niger als seine wahre Bestimmung, mit Herders Wort ein Invalide
seiner höheren Kräfte. Selbst so körpergebundene Äußerungen wie
Lachen und Weinen lassen sich nur aus diesem ehrenvollen Mißver-
hältnis in ihm verstehen.« (LW 384)

Sieht man das neue Plessnersche Buch nur in seinem Stellenwert für
die reale Bildungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie,
dann ist es bedeutend, dass einer ihrer Pioniere hier eine bedeutsame
Selbstkorrektur vollzieht, ohne den Ansatz preiszugeben. Erst da-
durch vermag er im Diskurs sich als führende Figur zu behaupten.
Hatte er in den ›Stufen des Organischen und der Mensch‹ – parallel
zu Scheler – noch erklärt, dass »mit Exzentrizität keine neue Orga-
nisationsform« des Körpers ermöglicht wird, dass der Mensch »kör-
perlich Tier bleiben muss. Physische Merkmale der menschlichen
Natur haben daher nur einen empirischen Wert. Mensch sein ist an
keine bestimmte Gestalt gebunden und könnte daher […] unter
mancherlei Gestalt stattfinden« 160 –, so zeigte er jetzt spezifische kör-
perlich-physiologische, bio-anthropologische Verhaltensprozesse der
Positionalität – wie Weinen und Lachen – in ihrer Exzentrizitätsver-
mittlung. Erst jetzt war der Mensch »mit Haut und Haaren« 161 in
philosophischer Hinsicht an die Stelle des »transzendentalen Sub-
jekts«, des »Daseins« oder des »Lebens« gerückt.

Plessners Buch führte die Spezifik der Philosophischen Anthropologie


im Verhältnis zum Idealismus, zum Naturalismus, zur Existenzphi-
losophie und zur Lebensphilosophie vor, indem er die Grundbegriff-
lichkeit dieser anderen Ansätze, die er in seine Theoriesprache mit
hineinzog, auf ein Phänomen anwendete – Lachen und Weinen – und
darin vom philosophisch-anthropologisch zentralen »Verhältnis des
Menschen zu seinem Körper« her umbog. So konnte er dem Idealis-

160 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 293.
161 H. Plessner, Diskussionsbeitrag, in: N. Hartmann, Zum Problem der Realitätsgege-
benheit, Philosophische Vorträge Nr. 32, veröffentlicht von der Kant-Gesellschaft,
a. a. O., S. 51.

Philosophische Anthropologie A 193


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

mus gegenüber zeigen, dass »Geist« und die anderen Monopole des
Menschen nicht jenseits seiner Körperlichkeit, sondern über diese ver-
mittelt gegeben sind. Plessners ostentative Rede vom »Körper« nahm
hingegen die naturalistische Rede auf, um zu zeigen, dass der Mensch
bis in vital verselbständigte Prozesse nur durch das »Verhältnis zum
Körper« erklärbar ist. Gegenüber Klages’ Lebensphilosophie, mit ih-
rer Formel: »der Leib ist die Erscheinung der Seele, die Seele der Sinn
des Leibes« und der Geist der »Widersacher« dieser Leibseele-Einheit,
konnte er wiederum zeigen, dass die menschliche Leibseele von der
Art ihrer Lebendigkeit her ungeformte Ausdrucksweisen ohne sym-
bolhafte Ausdruckstransparenz kennen muss, weil sie auf Grund der
genuinen Exzentrizität der Leibseele nötig sind. Gegenüber der Exis-
tenzphilosophie mit ihrer Emphase des »Hineingehaltenwerdens ins
Nichts« (Heidegger) bzw. den »Grenzsituationen« (Jaspers) als den
eigentlich menschlichen Situationen bewies er hingeben, dass, wenn
man die menschliche Lage von ihrer Natur oder Körperhaftigkeit her
mitbedenkt, das »Nichts« dieser »Grenzsituationen« schon der Nor-
malsituation der »Bewandtnis« (ein Heidegger-Terminus aus ›Sein
und Zeit‹) notwendig innewohnt, weshalb schon von der körperlichen
Ausstattung her ›normale‹ Überbrückungsmodi dieser Grenzsituatio-
nen vorgesehen sind: Lachen und Weinen.

Spannend war nun für die interne Bildungsgeschichte der Philo-


sophischen Anthropologie, dass Plessners neuer Einsatz auch als ein
indirekter Kommentar zu Arnold Gehlens Neueinsatz fungierte, ein
indirekter, wohlgemerkt, da beide Beiträge seit Mitte der 30er Jahre
tatsächlich parallel vorbereitet wurden, und Plessners Buch schon
stand, bevor Gehlens 1940 erschien. Zwei, drei Anmerkungen, die
Plessner noch vor Drucklegung (1941) einschieben konnte, sind aber
doch schon auf Gehlens ausdrücklich erwähntes Buch bezogen, das
dieser, noch in Königsberg, 1939 öffentlich in seiner Rezension von
Buytendijks ›Wege zum Verständnis der Tiere‹ als »in Druck befind-
lich« angekündigt hatte, und zwar samt seiner zentralen These, dass
die »Sonderstellung des Menschen und seine Unterscheidung vom
Tier […] verstehbar sind von einer Theorie her, welche die Handlung
oder den konstitutionellen Zwang zur gesteuerten Veränderung der
Welt als das zentrale Wesensmerkmal des Menschen faßt.« 162 1940

162 A. Gehlen (Königsberg), Besprechung: F. J. J. Buytendijk, Wege zum Verständnis der

Tiere, in: Blätter für Deutsche Philosophie, Jg. 13 (1939/40), S. 444.

194 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

schickte Gehlen das Buch an Buytendijk, und so konnte Plessner


schon 1941 gegen Gehlens Anspruch, das Leib-Seele Problem durch
den Handlungsbegriff erledigt zu haben, in einer Fußnote Einspruch
einlegen durch Beharren auf dem Ausdrucksproblem der Leib-Seele
(LW 234). In einer weiteren Anmerkung ergänzte er (LW 251): Und
»was Gesicht und Stimme im Verhältnis zur Expressivität bedeuten,
bedeutet die Hand im Verhältnis zur Instrumentalität: das führende
und vertretende Organ, Mittel und Feld«; das war kritisch-korrektiv
gegen Gehlens einseitige Wesensbestimmung des Menschen über die
Handlung als Instrument »gesteuerter Veränderung der Welt« ge-
wendet, um mit dem Ausruf »Herdersche Probleme!« Gehlens Re-
kurrieren auf »Herder als Vorgänger« durch Hinweis auf sein –
Plessners – Buch ›Die Einheit der Sinne‹ zu konterkarieren. Sehr
wahrscheinlich ist die letzte Seite von ›Lachen und Weinen‹ auf Geh-
lens ›Der Mensch‹ hin geschrieben, wenn Plessner, ohne Namen und
These zu nennen, auf Gehlens von »Herder als Vorgänger« über-
nommene Idee anspielte, der Mensch müsse seine Lücken und Män-
gel durch den Selbstaufbau höherer Kräfte kompensieren und sich in
Form bringen, um dann mit dem Herder-Wort zu schließen: der
Mensch sei auch »ein Invalide seiner höheren Kräfte« (LW 384): die
körpergebundenen Äußerungen wie Lachen und Weinen lassen
nämlich erkennen, dass das In-Form-Bringen des Menschen durch
willensmäßigen Selbstaufbau in der Positionalität des Menschen
selbst konstitutionelle Schranken findet.

Das ist ein nicht unbedeutender Punkt in der Verdichtung der Phi-
losophischen Anthropologie durch die Neueinsätze der 30er Jahre: In
demselben Augenblick, wo Gehlen das Höherlegen der Dingerfas-
sung und -beherrschung über die Kreisprozesse von Tast- und
Sehleistung zur symbolischen Repräsentation des Sachumganges
aufweist, und dabei achtgibt auf die Bewegungsphantasie, die zu-
nehmende innere Plastizität der Bewegungen, durch welche Mög-
lichkeitsspielräume koordinierbar, beherrschbar und erweiterbar
werden, studiert Plessner das Phänomen der Unterbrechung der
höhergelegten Kreisprozesse und hält fest, wie für diese höhergeleg-
ten Formen des Sinn- und Bewandtnisumganges im Fall der Unter-
brochenheit tiefliegende, aber tiefmenschliche körperliche Über-
brückungsprozesse – Lachen und Weinen – einspringen und die
Krisen der hochgelegten Formen überbrücken.
Gehlens ›Der Mensch‹ (1940) im nationalsozialistischen

Philosophische Anthropologie A 195


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Deutschland, die Untersuchung der durch »Handlung« aufgebauten


»Stellung des Menschen in der Welt«, und Plessners ›Lachen und
Weinen‹ (1941) aus dem Exil, die Untersuchung der »Grenzen des
menschlichen Verhaltens«, sind – im Unterschied zu Schelers und
Plessners konzeptionellen Durchbrüchen 1927/28 – nun durch-
geführte Philosophische Anthropologie 163, den Ansatz – unter Ein-
beziehung der spezifisch menschlichen Körpergestalt – einerseits be-
während an Zentralphänomenen (Handlung, Sprache), andererseits
an aufschlussreichen Grenzphänomenen (Lachen, Weinen). Man
kann darin eine Polarität der Thematik erkennen: Während Gehlen
die Struktur der »Weltoffenheit« am Pol der Aktion, des Pragmas
rekonstruiert, verfolgt Plessner v. a. mit der Theorie der »Resonanz
des Gefühls« und des »Weinens« den Pol der Pathik der »Weltoffen-
heit«. Bereits erste Kommentare hatten in Gehlens ›Der Mensch‹ die
»Aufarbeitung der Resultate und Gesichtspunkte des angloame-
rikanischen Pragmatismus« 164 hervorgehoben; der junge Helmut
Schelsky, der Schüler und Freund von Gehlen, machte 1943 in seiner
Besprechung von Baumgartens Studie zum amerikanischen »Prag-
matismus« vor allem auf Deweys »Lehre vom Menschen« aufmerk-
sam, deren »Voraussetzungen […] der Leugnung des Primats des
Bewußtseins, der Annahme der Gewohnheit und der menschlichen
Handlung als Erklärungsgrundlage für die Tätigkeit der Triebe, des
Geistes und des Willens […] jede gegenwärtige Anthropologie zur
Auseinandersetzung zwingen.« 165 Umgekehrt wurde der pathische
Pol in Plessners Durchführung an Phänomenen wie Lachen und Wei-
nen durch Buytendijks 1943 auf niederländisch erscheinende Studie
»Über den Schmerz« verstärkt, die das spezifische »Verletzt-Werden
und Verletzt-Sein« des exzentrisch positionierten Lebewesens unter-
suchte: »Der Mensch, der Schmerz leidet, ›hat‹ einen anderen Körper

163 Man kann die Unterscheidung von Grundlegung und Durchführung der Philosophi-

schen Anthropologie so ordnen: Bei Scheler liegt 1927/28 eine Grundlegung vor, aber
die Durchführung des Theorieprogramms blieb insgesamt offen (abgesehen von der
Fundierung der metaphysischen und religiösen Disposition des Menschen); bei Plessner
liegt 1928 ebenfalls eine Grundlegung vor, der zwölf Jahre später eine erste Durchfüh-
rung folgte; in Gehlens ›Der Mensch‹ liegen Grundlegung und Durchführung in einem
Zug vor (wobei die Grundlegung gegenüber der von Scheler und Plessner abgekürzt ist).
164 G. Lehmannn, Die deutsche Philosophie der Gegenwart (1943), a. a. O., S. 505.
165 H. Schelsky, Der Pragmatismus (Besprechung von: Eduard Baumgarten, Der Prag-

matismus. R. W. Emerson, W. James, J. Dewey. Die geistigen Grundlagen des ame-


rikanischen Gemeinwesens, Bd. II, Frankfurt a. M. 1938, in: Die Tatwelt. Zeitschrift für
Erneuerung des Geisteslebens, Jg. 16 (1940), S. 27-30.

196 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

und ›ist‹ ein anderer Mensch«. 166 Dieses Buch wird Plessner aus dem
Holländischen ins Deutsche übersetzen. Diese unabgesprochene,
echte Komplementarität der gleichzeitig gearbeiteten Gehlenschen
und Plessnerschen Neueinsätze zwischen Pragma und Pathik wird
zwar nicht die beiden Autoren zueinanderführen, aber dem Denk-
ansatz durch das weite Spektrum der konkreten Phänomenerschlie-
ßung, der paradigmatischen Bewährung am Paradigma – am Beispiel
–, in der Folge eine gewisse Überzeugungskraft verleihen.
Sieht man die Neueinsätze der Philosophischen Anthropologie
während der 30er und Anfang der 40er Jahre rein räumlich, so kom-
men zwei von ihnen – Rothackers und Gehlens – aus dem ›Dritten
Reich‹ und gewinnen in Hartmanns Band ›Systematische Philo-
sophie‹ zentrale Repräsentanz. Vom Rande her, aus dem Exil, kommt
Plessners neues Buch. Ebenfalls vom Rande her kommt, über-
raschend, nur leicht zeitversetzt, noch ein folgenreicher Neueinsatz.
Der Baseler Zoologe Adolf Portmann entwickelte genau in diesem
Zeitraum, Ende der 1930er, Anfang der 40er Jahre seine »basale An-
thropologie«, die er 1944 als ›Biologische Fragmente zu einer Lehre
vom Menschen‹ 167 in der Schweiz veröffentlichte und die wenige Jah-
re später nicht nur für die soziologische Öffnung der Philosophischen
Anthropologie bedeutsam werden wird.

Adolf Portmanns Neueinsatz resultierte einerseits aus zwei ganz ei-


genen Motiven, andererseits aus einer kritischen Bewusstheit um die
Pionierleistungen von Scheler und Plessner. 36jährig übernimmt
Portmann 1933 den Lehrstuhl für Zoologie in Basel. Er ist Meeres-
biologe und Ornithologe, seine Spezialgebiete sind Morphologie und
Embryologie der Wirbeltiere, besonders der Vögel, verbunden mit
Forschungen zur Zerebralisation. Bei ihm verbinden sich Beobach-
tungsgabe mit zeichnerischem Talent zu einem Sinn für die Morphe,
den Gestaltcharakter des Lebendigen. 168 Es sind zwei Motive, die
Portmann umtreiben und ihn in eine Schrägstellung zu den herr-
schenden Tendenzen der Biologie geraten lassen.
Da ist als erstes Problem die Ausdruckskraft der lebendigen Ge-
stalten, die sich nach Portmanns Eindruck nicht in das Prinzip der
166 F. J. J. Buytendijk, Über den Schmerz. Aus dem Holländischen übersetzt von

H. Plessner, Bern 1948 (niederl. Over de pyn 1943).


167 A. Portmann, Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, Basel 1944.

168 Vgl. zu Portmann J. Illies, Adolf Portmann. Ein Biologe vor dem Geheimnis des

Lebendigen, Freiburg/Basel/Wien 1981, S. 33–76.

Philosophische Anthropologie A 197


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Selbsterhaltung und nicht in physikalisch-chemische Erklärungen


des Organischen auflösen lässt. Evolution als zusammenhängende
Entwicklungsgeschichte der Organismen ist eine Tatsache, aber we-
der die funktionalistische Erklärung der Abstammungslehre, die die
Organismen allein durch Selbst- und Arterhaltung erklärt, noch die
kausale Deutung des Organischen durch die Entwicklungsphysiolo-
gie, die das Lebendige auf die Schicht physikalisch-chemischer Pro-
zesse zurückführt, erreichen den merkwürdigen Erscheinungscha-
rakter des Organischen, wie er sich – z. B. als Musterung der
Vogelfeder – der sinnlichen Sachlichkeit des Tierforschers aufdrängt.
Portmann ist also im Hinblick auf diesen Erscheinungscharakter des
Organischen auf der Suche nach einer adäquaten Rekonstruktion, die
– ohne metaphysische Prämissen – zoologisch haltbar ist. Er ist inte-
ressiert an Kategorien einer Biologie der Sichtbarkeit, als Gegen-
gewicht zur dominierenden Biologie des Unsichtbaren, für die die
Gestalten des Organischen entweder nur Epiphänomene eigentlicher
mechanisch-stofflicher Prozesse oder bloße Durchgangspunkte eines
Naturgesetzes des Kampfes ums Dasein sind.
Das andere Problem des Zoologen Portmann ist der menschliche
Organismus. Als er 1937 im Rahmen seiner Baseler Lehrtätigkeit
gedenkt, Studien über Reptilien, Vögel und Säuger durch eine Vor-
lesung über menschliche Entwicklung zu ergänzen, stößt er auf das
Problem, als Zoologe adäquat über die Sonderstellung des Menschen
in der Naturgeschichte zu sprechen. Portmanns Motivbildung in die-
ser Hinsicht steht, Ende der 30er Jahre, durchaus unter dem kriti-
schen Eindruck einer die Mentalität beherrschenden Richtung der
Biologie und Medizin, die den Menschen zu ausschließlich vom Tier
her durchmustert, die nur auf die Gemeinsamkeit von Anthropoiden
und Menschen und nicht auf die Differenz achtet – mit dem Resultat
einer schließlich in folgenreichen Übergriffen »politisierenden Bio-
logie«. 169 Die Zoologie arbeitete aufgrund des darwinistischen Bli-
ckes, der von dem ausschließlichen Selbst- und Arterhaltungsprinzip
der Naturgeschichte der Organismen auf den Menschen fällt und
dessen geistiges Leben in der Folge als Fortsetzung dieser elementa-
ren Lebensprinzipien erscheinen lässt, auch mit an einer »Entwer-
tung der Person«. 170 Portmann sucht – als Zoologe – nach einer über-

169 Dieses Motiv streicht Portmann jedenfalls 1944 in seinem Buch ›Biologische Frag-

mente zu einer Lehre vom Menschen‹, a. a. O., deutlich hervor, vgl. S. 123.
170 Ebd., S. 117.

198 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

zeugenden Verschiebung des Akzents im Tier/Mensch-Vergleich, al-


so nach einem Weg, »die menschliche Sonderart durch die Mittel der
biologischen Arbeit herauszuheben«. 171

Woher hatte Portmann die Voraussetzungen für seine Lösungen die-


ser beiden Probleme? Geht man zunächst seinem Versuch einer zoo-
logisch adäquaten Rekonstruktion der Erscheinung des Lebendigen
nach, so war Portmann hinsichtlich der lebendigen Gestalt sicher an-
geregt durch die romantische Naturphilosophie des frühen 19. Jahr-
hunderts, aber er als Zoologe wollte jede Metaphysik, die die Natur
als sichtbaren Geist, den Geist als unsichtbare Natur spekulativ deu-
tete, vermeiden. Er suchte eine immanente Lösung. Insofern hatte er
seit Ende der 20er Jahre alle phänomenologisch arbeitenden Bota-
niker und Physiologen mit »allergischem« Interesse verfolgt. 172 Das
waren u. a. vor allem der im Kölner Scheler-Kreis agierende Bota-
niker Hans André und der Tierforscher F. J. J. Buytendijk.
Mit Hans André, dem Botaniker und Philosophen, verband
Portmann eine lebenslange Brieffreundschaft. 173 Er kannte vor allem
dessen Buch ›Urbild und Ursache in der Biologie‹ (1931) 174 , in dem
dieser eine »bildbedingte« Naturphänomenologie von der mathema-
tisierenden-mechanischen Kausalanalyse abheben und mit ihr zu-
sammen bestehen lassen wollte. Konkret ging es ihm um Polarität
und gestaltliche Entfaltungsprozesse von Blütenpflanzen als typolo-
gischen Ereignissen im »Verwirklichungsfeld« der Organismen.
Durch André nun wurde Portmann neugierig auf Plessner, denn in
seinen methodologischen Überlegungen über den Zugang zur bild-
bedingten Natur hatte sich André 1931 vor allem auf Plessners ›Kri-
tik der Sinne‹ von 1923 berufen, der hier eine neue, nicht-metaphy-
sische Möglichkeit der Naturphilosophie gezeigt habe, welche – ohne
die naturwissenschaftliche Kausalanalyse zu bestreiten – dem An-
schauungscharakter der Natur gerecht werden wollte.
Hans André hatte Mitte der zwanziger Jahre die naturphiloso-
phische Konsequenz von Plessners »Kritik« der Sinne kongenial be-
griffen. 175 In seiner »Kritik«, d. h. Prüfung der Stoffquellen der Er-

171 Ebd., S. 121.


172 J. Illies, Adolf Portmann, a. a. O., S. 166.
173 Ebd., S. 166.

174 H. André, Urbild und Ursache in der Biologie, München 1931.

175 H. André, Pleßners Ästhesiologie des Geistes. Ein neuer Zugang zur Philosophie der

Natur, a. a. O.. Zum Verhältnis von André und Plessner: H.-U. Lessing, Hermeneutik der

Philosophische Anthropologie A 199


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

fahrung, also der Sinne, habe Plessner die sinnlichen Qualitäten –


Farben, Formen, Töne, Tastqualitäten – als ein typisches Grenzpro-
blem erkannt und behandelt: die sinnlichen Qualitäten seien weder
Vorhänge vor an sich unfassbaren Dingen noch bloß subjektiv be-
dingte Ansichten auf eine Realität, die in ihrer Wirklichkeit nur in-
dizienhaft physikalisch in mechanischen und elektromagnetischen
Symbolen zugänglich sei. Plessner könne zeigen, dass die Dinge in
den Sinnesqualitäten – korrelativ zur leiblich-geistigen Person des
Menschen – in einer Oberflächenschicht erschienen, also nicht an
sich, sondern in einer bestimmten Modalität, in einer bestimmten
Art der Entgegenstellung zum Subjekt – einer »vermittelten Unmit-
telbarkeit«. Die Welt der Erscheinung sei also korrelativ zum leib-
lich-geistigen Subjekt, dem die Welt in diesen sinnlichen Erschei-
nungen objektiv-real entgegenstehe. 176
Konnte Portmann schon darin eine Begründung für sein Anlie-
gen sehen, Natur überhaupt in ihrem Erscheinungscharakter ernst zu
nehmen, so war er für sein spezielles Problem – den Erscheinungs-
charakter des Lebendigen zu begreifen – durch André auf die Fährte
von Buytendijks Phänomenologie des spezifischen Erscheinungscha-
rakters des Organischen, also der besonderen Sinnesqualität des Le-
bendigen, gesetzt. Buytendijk, dessen Aufsatz ›Das Verstehen der
Lebenserscheinungen‹ André 1925 ins Deutsche übertragen hatte,
hatte bei den ›Anschaulichen Kennzeichen des Organischen‹ vor al-
lem die dynamische, scharfe »Begrenzung« betont, die sich als »dy-
namische Oberfläche« vor einem »Hintergrund« abhebe, durch die
das Organische sachlich den Charakter des »demonstrativen Seins-
wertes« erhalte. 177 Und Plessner hatte in den ›Stufen des Organi-
schen‹ die »Grenze« über Buytendijks Phänomenologie hinaus zur
konstruktiven Schlüsselkategorie des Organischen überhaupt erho-
ben: anders als bei den Dingen, die an ihrem Rand aufhören und
anfangen, gehört der Rand beim Lebendigen zu ihm selbst – wird
»Grenze«, durch die es über sein Innen hinausgreift und durch die
es in ein ›Binnen‹ zurückkehrt. Von dieser Grenzkategorie her sollten

Sinne. Eine Untersuchung zu Helmuth Plessners Projekt einer ݀sthesiologie des Geis-
tes‹ nebst einem Plessner-Ineditum, Freiburg/München 1998.
176 Der Abschnitt über Plessners ›Einheit der Sinne‹ bei H. André, Urbild und Ursache

in der Biologie, a. a. O., S. 177–187. Er beruht auf H. André, Pleßners Ästhesiologie des
Geistes. Ein neuer Zugang zur Philosophie der Natur, a. a. O., S. 605–609.
177 F. J. J. Buytendijk, Anschauliche Kennzeichen des Organischen (1928), in: Ders., Das

Menschliche. Wege zu seinem Verständnis, Stuttgart 1958, S. 10 f.

200 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

alle anderen Vitalkategorien aufweisbar sein. Allerdings hatte Pless-


ner den spezifischen Erscheinungscharakter des Lebendigen nun
gerade nicht systematisch von dieser Kategorie aus verfolgt. Aber
dieser Grenz-Kategorie als Konstitutiv des Organischen konnte Port-
mann die Gewissheit entnehmen, den Erscheinungscharakter des Le-
bendigen als ein Wesensmerkmal neben der Selbsterhaltung aufzei-
gen zu können. »Früh schon gingen […] von Plessners ›Stufen des
Organischen und der Mensch‹ wesentliche Anregungen aus.« 178

Seit 1943 tritt Portmann in ›Studien zur tierischen Erscheinung‹ und


›Tiergestalt‹ 179 mit seiner Lösung hervor, die er dann fünf Jahre spä-
ter bündeln wird. 180 Lebendiges bildet sich demnach im Lichtfeld
durch eine »opake Grenze« zwischen dem zu verhüllenden Inneren
(den asymmetrisch gelagerten Organen) und dem allein noch sicht-
baren Außen, dessen symmetrisch gegliederte Erscheinungsfläche
zugleich Ausdruckscharakter annimmt. Portmann unterscheidet da-
bei uneigentliche Erscheinung – z. B. der Niere, der Leber, die als
Organe wie alle Naturgebilde auch einen Erscheinungscharakter ha-
ben – von der »eigentlichen Erscheinung« des Organismus als Gan-
zem. Durch die opake Hülle, die durch ihr Erscheinen im Licht zu
einer Fläche der Darstellung, der Kundgabe wird, sind Organismen
grundsätzlich, noch vor aller »adressierten Erscheinung«, ungerich-
tete Manifestation im Lichtraum – einfach aufgrund der opaken
Grenzfläche. Insofern, und nur insofern kann Portmann sagen, dass
alles Lebendige eine »Weltbeziehung« sei, in der eine durch eine
Grenzfläche verdeckte »Innerlichkeit« durch eben diese Grenzfläche
genuin mit »Selbstdarstellung« in der Welt verbunden sei.
Die Grenzfläche, vom Licht bestrahlt, wird der Ort von Farben-
und Formgebilden, die in großer Variabilität der Gestaltung Aus-
druck je besonderer Lebensformen sind. »Selbstdarstellung« des Or-
ganismus ist deshalb ebenso elementar wie Selbsterhaltung und Art-
erhaltung; diese drei Charakteristika des Lebendigen sind nicht
aufeinander rückführbar. Dieser grundsätzliche Selbstdarstellungs-
charakter des Organischen in seiner opaken Grenze, deren Farben,

178 A. Portmann, Zoologie und das neue Bild des Menschen. Biologische Fragmente zu

einer Lehre vom Menschen, Hamburg 1956, S. 11.


179 A. Portmann, Die Tiergestalt, in: Schweizer Lehrerzeitung, Jg. 88 (1943), S. 833–

836, u. Jg. 89 (1944), S. 153–156.


180 A. Portmann, Die Tiergestalt. Studien über die Bedeutung der tierischen Erschei-

nung, Basel 1948.

Philosophische Anthropologie A 201


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Formen und Muster auch schon Seinsgeltung in einer Welt ohne


anschauende Augen haben, enthält schon alle Potenzen, welche bei
höherer Organisation dann auch die gerichtete, adressierte Kundgabe
verwirklichen. Mit steigender Organisationshöhe entsteht eine im-
mer ausgeprägtere undurchsichtige Oberfläche, die zugleich das Feld
von neuen Strukturen der Färbung und Musterung, aber auch vieler
anderer Hautstrukturen wird. Umgetrieben von einer zoologisch
adäquaten Rekonstruktion des Erscheinungscharakters, kommt Port-
mann somit – angeregt durch die theoretische Biologie aus der Köl-
ner Schule (Buytendijks Phänomenologie des Organischen und
Plessners Theorie der Grenze 181 ) – zu einer originären Morphologie
der »Erscheinung der lebendigen Gestalten im Lichtfelde«, die das
bekannte Novum des Lebens – Selbsterhaltung – durch das unbe-
kannte Novum – Selbstdarstellung – komplementiert; es gibt einen
Drang des Lebens zum Einfügen in die Welt der Erscheinungen, die
zugleich jeweils ein Innenfeld verdecken. 182

Neben dem Motiv, als Biologe angemessen über das Organische über-
haupt sprechen zu können, war es Portmanns zweites Motiv, zoo-
logisch adäquat über die Besonderheit des menschlichen Lebewesens
zu sprechen. Die verbreitete darwinistische Anthropologie legte den
Akzent auf die abstammungsgeschichtlichen Gemeinsamkeiten zwi-
schen Mensch und Menschenaffen und identifizierte, dem biogeneti-
schen Grundgesetz von E. Haeckel folgend, in der embryonalen Ent-
wicklung des Menschen eine rasche Abfolge von Halbaffen- und
Affenstadien, die bei der Geburt abgeschlossen ist. Portmann suchte
dagegen nach der zoologisch explizierbaren Eigenart des Menschen.
Er kannte die wichtigen Hinweise des holländischen Anatomen
L. Bolk Mitte der 20er Jahre, dass sich im Vergleich der tierischen
und menschlichen Entwicklungsverläufe Eigenarten des Menschen
gegenüber vergleichbaren Tieren als bleibend embryonal kenn-
zeichnen ließen; insofern sei als Sondergesetz des Menschen eine
»Fötalisation« und »Retardation« von entwicklungsmechanischen
Prozessen zu konstatieren. Auch gewann Portmann »wesentliche

181 1957 in einem Beitrag zur Plessner-Festschrift spricht Portmann diese Bezugnahme

direkt aus: A. Portmann, Die Erscheinung der lebendigen Gestalten im Lichtfelde, in:
K. Ziegler (Hrsg.), Wesen und Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für Helmuth
Plessner, Göttingen 1957, S. 29–41, bes. S. 39.
182 Portmanns Lehre von der »Erscheinung« später ausgeführt v. a. in: A. Portmann,

Neue Wege der Biologie, München 1960, S. 102–193.

202 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

Anregungen« aus den Pionierleistungen der sogenannten Philo-


sophischen Anthropologie, d. h. der Versuche in Köln aus einer aller-
dings versunkenen Phase, im Tier/Mensch-Vergleich die Sonderstel-
lung des Menschen zu bestimmen: die »Weltoffenheit« von Scheler
in ›Stellung des Menschen im Kosmos‹ und Plessners »exzentrische
Positionalität«. 183 Später wird sich Portmann erinnern: »Scheler hat-
te, gerade als ich mein Lehramt antrat, die berühmt gewordene kleine
Schrift über ›Die Stellung des Menschen im Kosmos‹ veröffentlicht.
[…] Ebenso eindringlich wirkte auch ein Werk von Helmuth Plessner
auf mich, das im gleichen Jahr wie Schelers erschienen ist: ›Die Stu-
fen des Organischen und der Mensch‹, das Werk, in dem von einem
Kenner der biologischen Sachverhalte die Eigenart der menschlichen
Geschichtlichkeit und Daseinsform herausgestellt wurde.« 184 Spätes-
tens 1940/1941 war er durch die Rezensionen von H. Kunz in der
Neuen Zürcher Zeitung informiert über Gehlens ›Der Mensch‹ 185 ,
aber auch über Plessners ›Lachen und Weinen‹. 186
Doch Portmann stand auch kritisch zu dieser Philosophischen
Anthropologie: Scheler war ihm in seiner Gegenüberstellung von
Leben und Geist als Macht und Ohnmacht zu kontrastiv, Gehlen ak-
zentuierte zu sehr die Mittellosigkeit des menschlichen Lebewesens,
und Plessner beachtete zuwenig die soziale Gerichtetheit von
menschlichen Ausdruckserscheinungen. Im Grunde suchte Port-
mann nach einer zoologischen adäquaten Rückübersetzung der für
die Sonderart der menschlichen Sphäre an sich richtig ansetzenden
Kategorien der Philosophischen Anthropologie. Dabei halfen ihm
seine eigenen Studien zur postembryonalen Ontogenese speziell bei
Vögeln und Säugetieren, die ihn zur kategorialen Unterscheidung
von unfertigen »Nesthockern« und relativ entwickelten »Nestflüch-
tern« führte. Innerhalb dieser ontogenetischen Frage trieb er Studien
zur Zerebralisation voran, genauer gesagt zum Verhältnis von Ge-

183 A. Portmann, Vorwort, in: Ders., Zoologie und das neue Bild vom Menschen, a. a. O.,

S. 11.
184 A. Portmann, An den Grenzen des Wissens. Vom Beitrag der Biologie zu einem

neuen Weltbild, Frankfurt a. M. 1976, S. 130.


185 H. Kunz, Das Wesen des Menschen. Teil I und Teil II (Besprechung von Gehlen, Der

Mensch), in: Neue Zürcher Zeitung, 10. X. und 11. X. 1940.


186 H. Kunz, Lachen und Weinen (Besprechung von Plessner, Lachen und Weinen), in:

Neue Zürcher Zeitung, 28. XII. 1941. In dem Buch von 1944 führt Portmann in den
Anmerkungen Gehlen und Plessner kurz an.

Philosophische Anthropologie A 203


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

hirn und Körpermasse bei der Geburt und zur »Kephalisation«, d. h.


zum Verhältnis von Althirn und Neuhirn.
Seine Lösung legt Portmann 1941 mit dem Vortrag ›Die biologi-
sche Bedeutung des ersten Lebensjahres des Menschen‹ 187 vor. Diese
Lösung bündelt er dann 1944 unter dem vorsichtigen Titel: ›Biologi-
sche Fragmente zu einer Lehre vom Menschen‹ 188 , wobei die Lösung
des Menschenproblems bis in die Veröffentlichungen hinein durch-
aus parallel zur Lösung des Erscheinungsproblems des Lebendigen
überhaupt verläuft. Portmanns Anschauungskraft ist nämlich fokus-
siert auf die Frage: Wie und wann erscheint der Mensch im Lichtfeld –
und zwar jeder einzelne Mensch? Portmanns Antwort: Das mensch-
liche Lebewesen erscheint – ontogenetisch gesehen – zu früh. Das
erste Lebensjahr des Menschen wird – allen Gesetzen des höheren
Säugetierlebens und der Anthropoiden zum Trotz – nicht mehr im
schützenden Mutterleib verbracht. Das menschliche Lebewesen ist
eine »physiologische Frühgeburt« – und zwar konstitutionell. Diese
»extra-uterine Frühzeit« ist der Portmannschen Anthropologie zu-
folge die Bedingung der Möglichkeit für die »Weltoffenheit«, für die
Aufrichtung in die vertikale Achse, für die Sprache. In dieser »extra-
embryonalen Frühzeit« kommt es zu einem Ausreifen biogener
Strukturen – statt im relativ gleichmäßigen, reizarmen mütterlichen
Medium in einer von Reizen reichen, wechselvollen Welt. Indem
Portmann – ohne das so zu explizieren – Plessners »exzentrische Po-
sitionalität« zoologisch rückübersetzt, ontogenetisiert er diese Posi-
tionalität. Aus der Positionalität = dem Uterus zu früh herausgesetzt
(ex-zentriert) zu sein, ist die Bedingung der Möglichkeit, Exzentrizi-
tät = Distanz zu erwerben. Zugleich soziologisiert die Kategorie der
»extra-uterinen Frühzeit« die exzentrische Positionalität, denn die
Extra-Uterinität erzwingt – vom Leben her – Überbrückung durch
spezifisch zugewendete Sozialität. Die außerhalb des Uterus er-
folgende Entwicklung erzwingt die enge Bindung an die nunmehr
außerhalb erreichbare Mutter: die Ausformung der ererbten Anlage
erfolgt in unmittelbaren Kontakt mit anderen Artgenossen, mit an-
deren Lebewesen und damit in letzter Hinsicht in Kontakt mit dem
Traditionsgeschehen der Gruppe. Das extra-uterine Frühjahr des
menschlichen Lebewesens korreliert nämlich mit der ungewöhn-

187 A. Portmann, Die biologische Bedeutung des ersten Lebensjahres des Menschen, in:

Schweizerische Medizinische Wochenschrift, Jg. 71 (1941), H. 32, S. 921–924.


188 A. Portmann, Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, a. a. O.

204 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

lichen Alterungsphase des menschlichen Lebewesens: »Unser Dasein


ist durch eine etwa doppelte Lebensdauer vor dem der Menschenaffen
ausgezeichnet.« 189 In der Phylogenese der Ontogeneseformen ist der
Mensch von Natur aus in doppelter Hinsicht eine andere Lebensform:
in Bezug auf das extra-uterine Frühjahr des Neuankömmlings, und in
Bezug auf die lange Altersphase, in der sich im Bewusstsein der eige-
nen Sterblichkeit das Potential einer differenzierten Urteilskraft bil-
dete, die Tradierbarkeit einer langjährig erworbenen Erfahrung.
Portmann fand also seine zoologisch adäquate Sprechweise über
den Menschen, in dem er durch Schelers und Plessners philosophi-
sche Kategorien der »Weltoffenheit« und der »exzentrischen Posi-
tionalität« hindurch morphologisch deren Anschauungshintergrund
sehen konnte – bis in die Begriffsparallelität von ex-zentrischer Po-
sitionalität und extra-uteriner Frühzeit. Er erkannte durch die einge-
kleideten philosophischen Begriffe hindurch die Gestalt. Biologie
und Anthropologie bei Portmann hängen unmittelbar zusammen: er
markierte, wie alle echten Philosophischen Anthropologen, eine
Bruchstelle im Tier/Mensch-Vergleich – nicht als Wunde wie bei
Klages, nicht als zur Degeneration führende Selbstdomestikation
wie bei K. Lorenz –, sondern als Eröffnung und künstliche Überbrük-
kung, aber als Tierforscher bezog er in seine vom Tier vergleichend
abhebende Anthropologie auch das Tier selbst in den Bereich der
Aufmerksamkeit mit ein, hier wiederum der Lorenzschule ver-
gleichbar, aber im Unterschied zu ihr mit dem konstitutionellen
Bruch zwischen Menschenwelt und Tiersphäre vor Augen. Wie
Scheler (»Weltoffenheit«), wie Plessner (»exzentrische Positionali-
tät«) findet Portmann einen philosophisch-anthropologischen Be-
griff der aufgebrochenen Ganzheit des menschlichen Lebewesens
(»Extrauterinität«).

Im Rückblick sind die 1930er/40er Jahre realgeschichtlich die Frucht-


jahre der Philosophischen Anthropologie. In diesem Zeitraum ist im
deutschsprachigen Raum die eigentliche Durcharbeitung dieses
Denkansatzes geleistet worden – im ›Reich‹ und vom Rande her. In
diesen Jahren, in denen die Natur des Menschen nicht nur theo-
retisch ein brennendes wissenschaftliches Thema war, sondern in
den öffentlichen Konsequenzen politisch aufdringlich wurde, ist die
eigentliche Arbeit der Philosophischen Anthropologie geleistet wor-

189 Ebd., S. 115.

Philosophische Anthropologie A 205


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

den. Sie hat den Menschen systematisch vom Feld der Natur aus als
Kulturwesen bestimmt – und dabei – im Medium seiner Kultur –
tatsächlich Sachaufschlüsse über seine Natur erreicht. Rothacker als
Kulturwissenschaftler erkannte in seinem Neueinsatz die unhinter-
gehbare mittlere Reichweite der auf Bilder angewiesenen mensch-
lichen Natur, Gehlen den ontogenetischen Selbstaufbau eines von
Natur gelockerten, riskierten Lebewesens, Plessner den in diese Na-
tur eingebauten Krisenmechanismus des Lachens und Weinens, Port-
mann als Zoologe die von Natur aus sozio-kulturelle ›Uterinität‹ die-
ses Lebewesens.
Von der Infrastruktur her handelt es sich selbst in diesem Jahr-
zehnt der abwesenden Pioniere um eine »Denk-›Schule‹« mit funk-
tionierendem Kommunikationsnetz. Philosophische Anthropologie
bleibt eine Gesellschaft konkurrierender Einzelgänger, von einander
wissend und vermittelt über Hinweise zusteckende, motivierende,
wachsame Dritte, die die Filiationen weitergeben. Buytendijks tier-/
menschenpsychologische Präsenz hielt die Anschauungsbasis der ge-
samten Richtung präsent, und Hartmann, Zeuge der Pionierleistun-
gen der 20er Jahre, initiierte Rothacker und Gehlen. Plessner, der den
Kontakt nie aufgab, schickte Hartmann und Rothacker aus Gronin-
gen 1941 sein neues Buch ›Lachen und Weinen‹, und nach Zögern,
reagieren sie noch 1942 190 , Rothacker ein Jahr später, 1943 191 , mit
Anerkennung. »Einmal«, schreibt Hartmann an Plessner, »werden
wir noch von Ihnen die lang erwartete Anthropologie zu lesen be-
kommen.« 192 Gleichzeitig verschlechterte sich Plessners Lebenslage
in den Niederlanden im Zuge der deutschen Besatzung dramatisch.
Zum Schutz von Freiheit und Leben musste er unter Annahme eines
falschen Namens und mit Hilfe eines falschen Passes untertauchen,
in einer Zeit, in der die Beschaffung der nötigsten Lebensmittel schon
für einen nicht diskriminierten Bürger äußerst schwierig war. Nur
durch niederländische Hilfe und durch Glück entging er der Depor-
tation und Vernichtung. Gleichzeitig setzte Gehlen seine staunens-
werte Karriere fort durch Berufung nach Wien und wurde in inter-
nen Gutachten der SS zu den Schlüsselphilosophen gezählt. Er
erhielt innerhalb des offiziellen Projekts »Studienführer« den Auf-
trag, den Studienführer Philosophie zu verfassen. Sein Manuskript

190 Hartmann an Plessner 15. 10. 1942, in: Nachlaß Plessner, Mappe 142.
191 Rothacker an Plessner 14. 10. 1943, in: Nachlaß Plessner, Mappe 143.
192 Hartmann an Plessner 15. 10. 1942, a. a. O.

206 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Neueins"tze (1934–1944)

allerdings wurde April 1944 abgelehnt. Gehlen schrieb darüber an


Hartmann: »Ihnen vertraulich mitgeteilt: Denken Sie, der fertige
Studienführer ›Philosophie‹ in der großen Studienführer-Reihe […]
hat vom ›Amt Wissenschaft‹ keine Druckerlaubnis erhalten, wie ich
unter der Hand erfuhr, ebenso die Begründung: es sei keine Ein-
führung in die Philos., sondern in Hartmann und Gehlen. Das ist
insofern falsch, als auch die Existenzphilos. und die mathem. Logik
behandelt werden und insofern richtig, als kein bloßer Historiker
erwähnt wurde […] Allerdings hätten auch Bäumler und Krieck ihre
Namen vergeblich gesucht.« 193
Hartmann verließ Berlin und nahm einen Ruf nach Göttingen
an. Inhaltlich nahm er indirekt die Plessnersche Frage der Verbin-
dung von Philosophischer Anthropologie und Naturphilosophie wie-
der auf. 194 Für die Konsolidierung des Denkansatzes nach dem Krieg
wird es von Bedeutung sein, dass Plessner nicht nur verständliche
Verletzungsgefühle, sondern etwas Substantielles als Gabe mit-
bringt, eben sein Buch ›Lachen und Weinen‹. Zugleich gibt es Geh-
lens harte Nichterwähnung Plessners in seinem Neueinsatz, die Sen-
dung seines Buches an Buytendijk und eine offensichtlich deutliche
Art, in der der Niederländer Buytendijk, unter Beistand von Pless-
ner 195, Gehlens Buch über den »Menschen« aus dem ›Dritten Reich‹
quittiert. Die Spannung im Denkansatz setzt sich fort.

193 Gehlen an Hartmann 31. 8. 1944, zit. n. K.-S. Rehberg, Anmerkungen des Heraus-

gebers, GA 3.2, S. 881 f.


194 N. Hartmann, Naturphilosophie und Anthropologie, in: Blätter für Deutsche Phi-

losophie, Jg. 18 (1944), wiederabgedr. in: Ders., Kleinere Schriften, Bd. I, Berlin 1955,
S. 215–244.
195 Vgl. H. Plessner, Unsere Begegnung, a. a. O., S. 336.

Philosophische Anthropologie A 207


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

1.5 Turbulenzen (1945–1950)

Von ferne gesehen erscheint der Zeitraum nach 1945 für die Bil-
dungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie als Epoche der
Verstetigung und Entfaltung. Der Denkansatz konsolidiert sich, es
kommt zu weiteren Auskristallisationen, und vor allem beginnt eine
Wirkungsgeschichte in verschiedenen Disziplinen. Dennoch ereignet
sich diese Etablierung, die alles in allem gelingt, voller Spannungen,
Chancen und Risiken. Die Potenz des Denkansatzes war in der Zeit
nach 1945 allerdings unübersehbar. Mit der Rückkehr Plessners, der
akademischen Wiederbelebung Schelers, mit der Präsenz von Roth-
ackers und Gehlens Neueinsätzen, mit Portmanns Hinzutritt, war
für die Beteiligten, für Außenstehende wie für Ideengegner offen-
sichtlich, dass hier ein Ensemble da war, ein Textkorpus mit eigener,
entwicklungsfähiger Denkgestalt. Zugleich schossen um diesen
Denkansatz herum – auch in Antwort auf ihn – existenzphilosophi-
sche, idealistische, kritisch-dialektische und religiöse »Anthropo-
logien« wie Pilze aus dem Boden. Allerdings war diese Denkgestalt
der Philosophischen Anthropologie intern extrem gefährdet. Obwohl
realgeschichtlich eine Denk-›Schule‹ vorliegt, kommt es auch jetzt
nicht zu einer sichernden Schulbildung. Das hat zu tun mit der Span-
nung zwischen den Protagonisten Gehlen und Plessner, die den seit
Beginn 1928 bestehenden Konflikt nun überlagert und fortsetzt. Zu-
dem erfolgt – freiwillig-unfreiwillig – beider früher Übergang von
der Philosophie zur Soziologie, was – im Anschluss an die Scheler-
sche Fächerkombination in Köln – dem Denkansatz Chancen er-
schließt, weil er sich einem neuen Erfahrungsfeld öffnet, und Risiken
aussetzt, weil sich durch die Preisgabe der philosophischen Lehre und
Forschung seine philosophische Präsenz schwächt. Da der Denk-
ansatz aufgrund der eingebauten Spannung seine eigene kontinuier-
liche Repräsentation nicht hervorbringt, ist er wie eh und je auf Drit-
te angewiesen, die nicht dazu gehören, sich aber um ihn kümmern.
Anders als zu Beginn hat der Denkansatz mit den neuen Generatio-
nen von Dritten kein Glück. Dennoch, trotz der Disparatheit und
ausbleibender Schulbildung kommt es zu einer Wirkungsgeschichte
– der Denkansatz springt auf andere Köpfe über, nicht nur in der
Soziologie, sondern auch in der Psychologie, der Biologie, der Phi-
losophie. Wenn sich allerdings Gehlen und Plessner 1975, kurz vor
dem Ende, an Scheler und seine Philosophische Anthropologie rück-
erinnern, wird der Denkansatz schon, bereits zersetzt durch Kritik

208 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Turbulenzen (1945–1950)

und in Folge der Verschiebung von Fragestellungen, in den Schatten


der Ideengeschichte geraten sein.

Die Zeit von 1945 bis 1950 ist für die Philosophische Anthropologie
die Zeit voller Turbulenzen – zwischen Emigranten und im national-
sozialistischen Deutschland Tätigen, zwischen den Disziplinen. Es ist
die Zeit der Möglichkeiten und Weichenstellungen.
Bedeutsam für die Philosophische Anthropologie bis 1950 wird,
dass Göttingen nicht das Zentrum der Philosophischen Anthropolo-
gie wurde, das es hätte werden können. Obwohl schon greifbar nahe,
wurde Helmuth Plessner nicht der Nachfolger Nicolai Hartmanns
auf dessen philosophischem Lehrstuhl in Göttingen, von dem aus er
die Philosophische Anthropologie hätte entfalten können. Die reale
Möglichkeit dafür bestand, als Herbert Schöffler, Plessners Freund
aus Kölner Tagen, 1944/1945 Dekan der Philosophischen Fakultät in
Göttingen war. Schöffler betrieb mit äußerster Energie und Findig-
keit den Plan, er – international bekannter Anglist – könne in der
britischen Zone im unzerstörten Göttingen in der Philosophischen
Fakultät den Geist neu verorten. Dank seiner Regiekünste war Hart-
mann, den er ebenfalls aus dem Köln der 1920er Jahre kannte, schon
Sommer 1945 von Berlin nach Göttingen gewechselt. Schöffler ver-
suchte auch G. Misch, O. F. Bollnow, H. Freyer zu holen. Schöffler
war der einzige aus der Kölner Zeit, der Plessner durch die bitteren
Jahre beständig die Treue gehalten hatte. In einem langen Brief vom
14. 11. 1945 stützt er seine Aufforderung an Plessner, aus dem Exil
sofort nach Göttingen zu kommen, mit einer Vision: »Ich will, daß
Sie einmal der Nachfolger Nicolai Hartmanns sind. […] Sie sollen in
4 Jahren seinen Lehrstuhl haben« – also nach dessen Emeritierung.
Für die Zwischenzeit bietet er ihm ein Ordinariat für Soziologie an.
In jedem Fall: »In wenigen Jahren die Nachfolge Hartmanns, der Sie
will. […] Damit haben Sie das nach dem Ausscheiden Heideggers
(vor 3 Wochen) bedeutsamste Ordinariat aller vier Zonen Deutsch-
lands.« 1 Noch im selben Brief – den er einige Tage liegen lässt –
kritzelt er am 17. 11. korrigierend zum soziologischen Ordinariat
hinzu: »Es muß an Freyer fallen. Freyer heute hier eingetroffen«. 2
Der 53jährige Plessner zögert – bei aller Dankbarkeit für die Vision:
»Wenn ich nicht mit beiden Händen zugreife, hat das […] seinen

1 Schöffler an Plessner 14. 11. 1945, Nachlaß Plessner, Mappe 143.


2 Ebd.

Philosophische Anthropologie A 209


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Grund in der begründeten Aussicht auf einen Lehrstuhl« in Gronin-


gen oder Utrecht. Er hat zum ersten Mal in seiner Laufbahn in einer
günstigen Konstellation direkte Aussicht auf ein philosophisches Or-
dinariat – in den Niederlanden, was selbst für einen emigrierten
Deutschen in der Nachkriegszeit eine unwahrscheinliche Gelegen-
heit war. »Leider muß ich«, antwortet er Schöffler Anfang 1946, »in
meinen Jahren sorgfältig abwägen und darf mich nicht mehr in erster
Linie durch Gefühle bestimmen lassen.« 3 Plessner entscheidet sich
für den Lehrstuhl in Groningen – mit einer fünfjährigen moralischen
Bleibeverpflichtung gegenüber seinem Gönner Gerald van der
Leeuw 4, dem Groninger Religionsphilosophen und damaligen nieder-
ländischen Kultusminister. An Schöffler schreibt er: »Ich hoffe damit
nicht meine Heimkehr, ev. als Nachfolger Hartmanns, unmöglich zu
machen.« 5 Ende April 1946 setzt Schöffler seinem Leben ein Ende –
die Belastung des Dekanats angesichts des Studenten- und Dozenten-
stroms im Nachkriegs-Göttingen trifft mit seiner manisch-depressi-
ven Disposition zusammen. 6

3 Plessner an Schöffler 2. Jan. 1946 (!), Nachlaß Plessner, Mappe 143.


4 Ebd.
5 Ebd.

6 Plessner wird 1955 Schöfflers in »Das Reich«, einer von J: Goebbels initiierten Wo-

chenzeitung im ›Dritten Reich‹, veröffentlichten Beiträge zum »Witz der deutschen


Stämme« als Buch herausgeben und mit einem Nachwort versehen. Dieser posthume
Freundschaftsdienst, die Geste des Exilanten, die während des Nationalsozialismus an
prominenter Stelle veröffentlichten und vom Publikum sehr geschätzten kleinen Essays
über die Regionalität des »deutschen Witzes« als Herausgeber unter seinem Namen
zugänglich zu machen, erhellt in einem Detail Plessners gesamte Linie bei der endgül-
tigen Rückkehr nach Deutschland: Er verknüpft einen Sinn für Qualität, eine Kenntnis
der Umstände und Haltungen mit einer scharfen Distanzierung von den Gesamtverhält-
nissen: »Die Mehrzahl der Kapitel dieses Büchleins sind während des Jahres 1941 […]
im ›Reich‹ erschienen, einer für damalige Verhältnisse ungewöhnlichen Zeitung, die,
um die Gebildeten zu gewinnen, auf Niveau bedacht war und sich gelegentlich Eskapa-
den leisten sollte. […] Man riß sich damals das Blatt aus den Händen, wenn ein neuer
Schöffler erschien. Denn in Deutschland gab es nichts mehr zu lachen. Unter dem stän-
dig wachsenden Druck eines ebenso perfiden wie humorlosen Regimes unbelehrbarer
Fanatiker, dem es gelungen war, das Land in einen aussichtslosen Krieg hineinzumanö-
vrieren, empfanden Tausende diese liebenswürdigen Begegnungen mit den Schwächen
und Stärken der eigenen Art als wahrhaft befreiende Korrektur an den verlogenen My-
thifizierungen befohlenden Ariertums. […] Mag Goebbels, ein Teil von jener Kraft, mit
Schöfflers Serie auch das Böse gewollt haben: einmal an’s Licht gekommen, war das
Gute geschaffen.« H. Plessner, Nachwort, in: H. Schöffler, Kleine Geographie des deut-
schen Witzes, mit einem Nachwort hrsg. von H. Plessner, Göttingen 1955, S. 95 f.

210 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Turbulenzen (1945–1950)

Doch die einmal lancierten Perspektiven und Pläne arbeiten in Pless-


ner weiter. 1946 tritt er zum ersten Mal wieder in Deutschland auf.
Es drängt ihn zurück. Einer Einladung nach Hamburg, vermittelt
über J. König und B. Snell (beide dortige Ordinarien), dem früheren
Dilthey-Netzwerk um Georg Misch herum, folgend beansprucht
Plessner in seinem ersten Vortrag in Deutschland seit 1933 über
›Mensch und Tier‹ 7 die Repräsentanz der »Philosophischen Anthro-
pologie«. Im Gegensatz zum naturalistischen Paradigma der moder-
nen Biologie, den Menschen vom Tier her als lebendigen Körper be-
greifbar zu machen, allerdings damit den Geist zu reduzieren, und
andererseits zum lebensphilosophischen Abbau dieses Entwicklungs-
schemas durch Bergson und Uexküll, zeigt er das Bravourstück der
»Philosophischen Anthropologie«, den Geistcharakter des Menschen
von der »menschlichen Körperform« her, also der empirischen For-
derung der Biologie genügend, einsichtig machen zu können.
Plessner bezieht sich in dieser Ausarbeitung der Philosophi-
schen Anthropologie entlang der »menschlichen Körperform« nun
zum ersten Mal ausdrücklich auf Bolk, Herder und Alsberg. Er erhebt
dabei den Mitautorenanspruch auf einen Aufsatz von 1938, den Geh-
len in ›Der Mensch‹ 1940 ausführlich zitiert hatte. Sein Vortrag folge
»in Vielem dem Gedankengang und den Formulierungen« eines 1938
in »der ›Neuen Rundschau‹ veröffentlichten Aufsatzes, der als Ver-
fasser nur den Namen meines Mitarbeiters Buytendijk trägt. Mein
Name durfte aus politischen Gründen nicht genannt werden.« 8 Er
spricht, nebenbei, aber doch markant, von dem »Buch A. Gehlens
›Der Mensch‹ […], das in allem, was es sagt und wen es verschweigt,
ein typisches Produkt der Machtverhältnisse ist, unter denen es ent-
stand.« 9 Plessner erwähnt Scheler mit keinem Wort. Er erwähnt auch
nicht, dass er in Bezug auf sein eigenes Buch ›Die Stufen des Orga-
nischen und der Mensch‹ – auf das er sich ausdrücklich bezieht, inso-
fern es in der »exzentrischen Position« eine vom Tier verschiedene
Daseinslage entwickelt habe – eine Revision vollzogen hat, wenn er
jetzt von der Philosophischen Anthropologie sagt: »Der Weg ist ihr
vorgezeichnet. Sie muß sich orientieren an der menschlichen Körper-
form: Welchen biologischen Sinn hat sie?« 10

7 H. Plessner, Mensch und Tier (1946), GS VIII, S. 52–65.


8 Ebd., S. 65.
9 Ebd., S. 60.

10 Ebd., S. 59.

Philosophische Anthropologie A 211


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

In jedem Fall drängt es Plessner in die deutsche Philosophiesze-


ne zurück, verbunden mit einer Herausforderung Gehlens. Er erwägt
gegenüber niederländischen Berufungsmöglichkeiten (Utrecht) auch
Rückkehrangebote der Hamburger und der Kölner Universität, und
immer wieder lockt die Göttinger Option. Er versucht das Terrain zu
schaffen mit – unter den Nachkriegsumständen organisatorisch
schwierigen – Vortragsreisen durch die Besatzungszonen und durch
ausdrücklich als »Anthropologie« gekennzeichnete Aufsätze: ›Zur
Anthropologie der Nachahmung‹ (1948) 11 und ›Zur Anthropologie
des Schauspielers‹ (1948) 12 Er verfolgt – wie schon nach 1928 – noch
einmal den »Plan, die Anthropologie als Ganzes systematisch vor-
zulegen.« 13

Arnold Gehlen befand sich in einer anderen Lage. 1945 hatte er wie
alle ›reichsdeutschen‹ Professoren in Österreich den philosophischen
Lehrstuhl verloren. Belastet durch seine Vergangenheit, konnte Geh-
len nicht mehr auf einen der großen philosophischen Lehrstühle in
den Besatzungszonen gerufen werden. Von den von Gehlen besorg-
ten Enlastungsgutachten im Entnazifizierungsverfahren hatte ver-
mutlich das von N. Hartmann Gewicht, der urteilte: »Das anthro-
pologische Hauptwerk […] enthält nicht nur keine Bestätigung der
Vorrangstellung irgendeiner Rasse, sondern geht überhaupt auf das
damals beliebte Rassenproblem gar nicht ein; es entwickelt auf brei-
ter biologischer Basis nichts als den allgemeinen Begriff des Men-
schen.« 14 Schon 1946/47 ergriff Gehlen die Gelegenheit, an der von
der französischen Militärregierung – nach dem Vorbild der ›écoles‹,
der französischen ›hohen Schulen‹ – gegründeten Hochschule für
Verwaltungswissenschaften in Speyer den Lehrstuhl für Soziologie
(und Psychologie) zu übernehmen. Diese Option Gehlens war bereits
vorgebildet durch die Assistenz in Hans Freyers Leipziger Institut für
Soziologie Anfang der 30er Jahre und durch seine konsequente Ent-
wicklung von der Subjektivität zur Blickdistanz auf das Objekt, ver-
bunden mit der in seiner Anthropologie sichtbaren Aufgeschlossen-
heit für die Resultate empirischer Forschung. Als ordentlicher

11 H. Plessner, Zur Anthropologie der Nachahmung (1948), GS VII, S. 389–398.


12 H. Plessner, Zur Anthropologie des Schauspielers (1948), GS VII, S. 399–418.
13 H. Plessner an G. Misch, 26. 1. 1946, Nachlaß Plessner, Mappe 142.

14 Wiederherstellung der Demokratie. Deutsche Philosophen über Arnold Gehlen, in:

Topos, Jg. 1 (1993), S. 131–140, hier S. 140.

212 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Turbulenzen (1945–1950)

Soziologieprofessor in Speyer gehörte er zu den ersten im Nach-


kriegsdeutschland für dieses Fach berufenen Hochschullehrern. In
jedem Fall bedeutete dieser Übergang Gehlens von der Philosophie
zur Soziologie eine bedeutsame Weichenstellung für die Philosophi-
sche Anthropologie.
Dieser Wechsel war eng gebunden an seinen acht Jahre jüngeren
akademischen Freund Helmut Schelsky, der seit 1931, 19jährig, bei
Freyer und Gehlen in Leipzig studiert und 1939 in Königsberg, unter
der Ägide von Gehlen, sich für Philosophie und Soziologie habilitiert
hatte. Nach Kriegs- und Nachkriegserfahrungen gab es bei Schelsky
ein starkes Interesse an der Soziologie als Instrument der ›Suche
nach Wirklichkeit‹. Bevor er 1948 an die neu gegründete, von den
Gewerkschaften mitgetragene Akademie für Gemeinwirtschaft in
Hamburg berufen wird, arbeitet er sich in intensiver Kooperation
mit Gehlen nicht nur in das ganze anthropo-biologische Feld ein 15 .
Beide vertiefen vielmehr zusammen ihre in den 30er Jahren begon-
nene Pragmatismus-Rezeption und studieren gemeinsam nicht nur
die amerikanische pragmatische Philosophie (James, Peirce, Mead),
sondern – entschlossen zu einer empirischen Wende – Hauptautoren
der französischen und amerikanischen Kulturanthropologie (Boas,
Lévi-Strauss, Parsons, Malinowski, Ogburn, R. Benedict u. a.); im
Zusammenhang dieser gemeinsamen Studien kam es zur Gehlen-/
Schelskyschen Theorie der »Institution«. Schelsky ist einer der ers-
ten unter den jüngeren philosophisch-soziologischen Köpfen, die die
Philosophische Anthropologie durch die Differenzen hindurch als ein
Paradigma erkennen und verwenden, also als eine Denkrichtung, in
der die Texte so verschiedener Autoren wie Scheler und Alsberg,
Buytendijk und Bolk, Plessner und Gehlen zusammenwirken. 1949,
in seinem ersten großen Aufsatz zur Theorie der »Institution«, kon-
turiert Schelsky das Dispositiv der »modernen anthropologischen
Verhaltenslehre«, von dem aus er in der Folge in der Soziologie ope-
rieren wird: er nennt im Kern die »deutsche philosophische Anthro-
pologie« mit den Werken von Scheler, Plessner und Gehlen; dieser
gruppiert er die »pragmatische Philosophie in den USA zu […], die in
den Werken von John Dewey und George Herbert Mead (Mind, Self
and Society, 1934) die Grundzüge einer menschlichen Verhaltensleh-

15Der Aufsatz von H. Schelsky, Zum Begriff der tierischen Subjektivität, in: Studium
Generale, Jg. 3 (1950), S. 102–116, dokumentiert seine explizite Kenntnis der Philoso-
phischen Anthropologie.

Philosophische Anthropologie A 213


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

re, insbesondere auch in Rücksicht auf die sozialen Verhaltensweisen


entwickelt hat«; außerdem fügt er hinzu »gewisse Entwicklungen
innerhalb der fachwissenschaftlichen Biologie selbst, die, z. T. unter
Anlehnung an die philosophischen Anthropologie, aus der Analyse
der biologischen Unterschiede von Tier und Mensch zu wesentlichen
Aussagen über die biologischen Grundlagen des menschlichen Ver-
haltens gekommen sind«; hier nennt er A. Portmann und O. Storch
sowie K. Lorenz. Auf der anderen Seite bindet er noch die »ethno-
soziologischen Forschungen« der sog. »funktionalistischen Schule
unter der Führung von Bronislav Malinowski« ein, die aus speziellen
Untersuchungen primitiver Kulturen eine allgemeine Kulturtheorie
entwickelt habe. Von diesem Wissensverbund erwartete sich Schels-
ky, »den die Grenzen fachwissenschaftlicher Beschränkung über-
schreitenden Problemen der modernen Sozialwissenschaften, wie sie
z. B. in der Frage nach der Dauerhaftigkeit der sozialen Institutionen
auftauchen, erfolgreicher als bisher nachzugehen.« 16

Für die Philosophische Anthropologie eröffneten sich mit diesen in-


ternationalen und interdisziplinären Anschlüssen neue Entfaltungs-
möglichkeiten, aber noch lastete der ungeklärte Konflikt zwischen
Plessner und Gehlen auf ihr. Im gleichen Zeitraum, in dem er Gehlen
entlastet, versäumt N. Hartmann deshalb nicht, ihn brieflich auf die-
se Angelegenheit aufmerksam zu machen und ihn zur Klärung auf-
zufordern. Im April 1947 dankt Gehlen für diese Aufforderung und
berichtet, dass er Plessner nun in einem Brief seine Gründe dargelegt
habe, aus denen er sich ›damals‹ entschlossen habe, ihn nicht zu zi-
tieren. Diese Gründe seien sehr spezieller, aber nicht politischer Art
gewesen. Von Plessners Antwort werde sein weiteres Verhalten ab-
hängen. 17 N. Hartmann, inzwischen 65, appelliert 1947 unabhängig
davon in einem Brief an Plessner, nach Deutschland in die Philo-
sophie zurückzukehren. 18 Er erinnert ihn an die Kölner Zeiten, den
›Philosophischen Anzeiger‹, spricht von der Notwendigkeit einer
neuen philosophischen Zeitschrift. Sicher verspricht sich Hartmann
vom unbelasteten Remigranten Plessner Hilfestellung bei der Neu-

16 H. Schelsky, Über die Stabilität von Institutionen, besonders Verfassungen. Kultur-


anthropologische Gedanken zu einem rechtssoziologischem Thema (1949/1952), in:
Ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf/Köln 1965,
S. 33–58.
17 A. Gehlen an N. Hartmann, Brief 5. 4. 1947, Nachlaß Gehlen.

18 N. Hartmann an Plessner 10. 3. 1947, Nachlaß Plessner, Mappe 142.

214 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Turbulenzen (1945–1950)

ordnung der philosophischen Landschaft. Umgekehrt belebt Hart-


manns Aufforderung bei Plessner die Aussicht, doch noch mit seiner
Leistung in der deutschen Philosophie Anerkennung zu finden.
1948 spricht Plessner beim Mainzer Philosophenkongress über
›Anthropologie der Erkenntnis‹. Dabei stellt er seine ›Anthropologie‹
ausdrücklich in die Denktradition seiner bereits 1923 veröffentlich-
ten ›Ästhesiologie des Geistes‹. Es ist derselbe Kongress, auf dem
Erich Rothacker, von Maria Scheler nach einigem Zögern zu einem
Zeichen zum 20. Todestag Schelers aufgefordert, einen großen Vor-
trag über Scheler hält. »Immerhin«, so Rothacker im Vorfeld an die
Schelerwitwe, »bin ich von Schelers sämtlichen Schülern – und ich
habe mich gerade im Dritten Reich demonstrativ und öffentlich zu
ihm bekannt – der, der den epochalen Durchbruch Schelers in die
Wirklichkeit, d. h. die neue Öffnung der Philosophie zu der Sache
der Biologie, Psychologie, Soziologie usw. usw. mitgemacht hat.« 19
Rothacker erklärt in diesem Vortrag, dass sich Schelers ›Durchbruch
zur Wirklichkeit‹ 20 , also zur Philosophischen Anthropologie, aus sei-
ner metaphysischen Problemstellung ereignet habe, dass Scheler
aber in seiner »Skizze« einer philosophischen Anthropologie die ei-
gentlichen »anthropologischen Kapitel« gar nicht geschrieben habe.
Selbstbewusst rückt Rothacker seine Kulturanthropologie in die
Leerstelle dieser ungeschriebenen »anthropologischen Kapitel«, un-
bekümmert um die ›große Anthropologie‹ im Schelerschen Nachlass.
Mit Rothackers spektakulärer Erinnerung an Scheler wird auch die
Erwartung an dessen unveröffentlichten Nachlass wieder öffentlich
geweckt.
Plessner konnte sich in gewisser Weise damit einrichten, dass
sich Rothacker in der Nachfolge Schelers verstand. Entscheidend für
sein Selbstverständnis war, dass er, Plessner, nicht als Nachfolger
Schelers gesehen wurde. Deshalb entfaltete er seine »Anthropologie
der Erkenntnis« 21 auf dem Mainzer Kongress auch ausdrücklich aus
der Position bereits der ›Einheit der Sinne‹ von 1923. Es kam ihm
inhaltlich darauf an, zu zeigen, dass der Mensch wie das Tier in
einem senso-motorischen Zirkel eingeschlossen ist, der ihn tatsäch-

19 Rothacker an Maria Scheler, Brief 7. 8. 1947


20 E. Rothacker, Max Schelers Durchbruch in die Wirklichkeit, in: Philosophische Vor-
träge und Diskussionen. Bericht über den Philosophen-Kongreß, Mainz 1948, hrsg. v.
G. Schischkoff, Wurzach 1948, S. 102–105.
21 H. Plessner, Anthropologie der Erkenntnis, ebd., S. 27–31.

Philosophische Anthropologie A 215


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

lich in der Welt situiert. Weil sich der Mensch aber, kraft seiner ihm
eigenen Motorik, sich zu sich selbst bewegen und verhalten könne –
»er tritt sozusagen hinter sich« – durchbreche er den Sinneszirkel,
insofern er die sinnlichen Qualitäten als Modi der Begegnung zwi-
schen ihm und der Welt gestalte. Der Mensch müsse dabei die Ver-
schiedenartigkeit der Sinnesqualitäten – vor allem des Sehens und
des Hörens – in der Verschiedenartigkeit der Bewegungsformen ent-
decken, die sie ermöglichen – das Handeln entlang des distanzierten,
punktgenauen Sehens einerseits, das mitschwingende, tanzende Mit-
gehen im Hören andererseits. In der Differenz und Einheit der Sinne
erreiche der Mensch erst ein volles »Verstehen« der in die Sinnes-
qualitäten durchscheinenden objektiven Welt. Wichtig für Plessner
war, dass er hier mit seiner Idee einer Philosophischen Anthropologie
eine dialogisch-kritische Resonanz vor Ort erfuhr, was in einem Be-
richt über den Kongress ausdrücklich vermerkt wurde. Vor allem aus
der »Göttinger Schule Nicolai Hartmanns« sei eine regelrechte
Gruppe jüngerer Philosophen zwischen dreißig und vierzig aufgetre-
ten – u. a. Hermann Wein, Bruno Liebrucks, Ingetrud Pape –, »die
sich in der auf hohem Niveau geführten Diskussion über den er-
kenntnistheoretischen Vortrag des 1933 nach Groningen emigrierten
Philosophen Plessner so ausgezeichnet schlugen, dass Plessner selbst
sich höchst überrascht bekannte«. »In sehr subtilen Analysen, die
Plessner z. T. im Gespräch mit seinen Interpellanten entwickelte«,
kam heraus, dass Wahrnehmung immer mehr als bloßes Sinnesma-
terial, nämlich ein »Situationsverständnis« enthalte. Dadurch bewe-
ge sich eine »Anthropologie der Erkenntnis« gerade zwischen der
»intentio recta und der intentio obliqua«, also der Alternative zwi-
schen realistischem Kontakt und nominalistischer Konstruktion der
Erkenntnis 22, zwischen Positionalität und Exzentrizität.
Wichtig für das weitere Schicksal der Philosophischen Anthro-
pologie konnte nun werden, dass Plessner hier mit seinen Vorstößen
zwischen Existenzphilosophie und Ontologie bei jüngeren Philoso-
phen Resonanz fand. Aus den produktiven 20er Jahren kommend,
vertrat er, unbelastet, etwas Neues, Interessantes. Der 37jährige
H. Wein zum Beispiel, Hartmann-Schüler noch aus Berlin, schließt
sich dicht an Plessner an. Wein, der über das Problem des Relativis-

22k. k., Eine Hoffnung gewinnen. Vorträge und Diskussionen des Mainzer Philoso-
phen-Kongresses, in: Allgemeine Zeitung, 4. 8. 1948.

216 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Turbulenzen (1945–1950)

mus 23 gearbeitet hatte, fand in Plessners Handhabung der Philo-


sophischen Anthropologie 24 einen Pfad für seine eigene Ideenent-
wicklung. 25 Sicher suchte Wein auch einen Übergang von dem älter
werdenden Hartmann zu Plessner. Plessner, der in Wein einen poten-
tiellen jüngeren Mitarbeiter erkannte, kämpfte, so bestätigt, aber
auch um die direkte Wiederherstellung seines Rufes. Das betraf nicht
nur, aber in erster Linie die dezidierte Nichterwähnung in Gehlens
einschlägigem Werk zur Anthropologie. 26 Mit Rothackers Selbstdeu-
tung, sich in die Nachfolge Schelers zu stellen, konnte Plessner leben,
weil Rothacker komplementär dazu die salvatorische Formel erfand,
Plessner habe »schon vor Scheler in den ›Stufen des Organischen‹
eine sehr bemerkenswerte Anthropologie entwickelt«. 27 Überhaupt
wussten Rothacker und Plessner einander zu nehmen. 28
Zwischen Gehlen und Plessner hingegen kam es zu keinem Aus-
gleich. Offensichtlich um 1948 herum hat Plessner schriftlich ver-

23 H. Wein, Das Problem des Relativismus, in: N. Hartmann (Hrsg.), Systematische


Philosophie, Stuttgart/Berlin 1942, S. 431–559.
24 Wein hatte auch Gehlens Buch zustimmend rezensiert: H. Wein, Die deutsche Phi-

losophie der letzten Jahre, in: Forschungen und Fortschritte, Jg. 20 (1944), S. 63–68. Zu
Weins akademischer Stellung im Nationalsozialismus vgl. Ch. Tilitzki, Die deutsche
Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich a. a. O.,
S. 863–867.
25 H. Wein, Tierpsychologie und philosophische Anthropologie, in: Philosophia Natu-

ralis, Jg. 1 (1950), S. 299–305.


26 Typisch scheint die Art, wie Plessner Ende 1948 die Münchener Phänomenologin und

Naturphilosophin H. Conrad Martius brieflich zur Rede stellt: »In der Tat […] hat mich
die beharrliche Verschweigung meines Namens in Ihren Arbeiten nach 1928/29 (es
handelt sich ja nicht um Ihr letztes Buch allein) gewundert und peinlich berührt.
Schließlich war meine Kategorienanalyse des Organischen, entworfen auf Ontologie
der Positionalität, der Anfang, wobei ich mir der Vorläufer nicht nur bewußt war, son-
dern sie auch allemal ehrlich genannt habe. Erst nahm ich an, Sie seien durch die von
beiden Witwen Schelers ausgestreuten Gerüchte beeinflusst gewesen: ich hätte Scheler-
sche Ideen publiziert. Aber da die wissenschaftliche Welt den Gerüchten keinen Glauben
schenkte, konnte ich mir nach 1933 Ihr Verhalten nur aus ›politischen‹ Rücksichten
erklären. So haben sich ja sehr viele deutsche Gelehrte benommen: mein Werk wurde,
z. B. bei Woltereck, Feyerabend, später bei Gehlen u. a. totgeschwiegen.« H. Plessner an
H. Conrad-Martius, 6. 12. 1948, Nachlass Conrad-Martius.
27 So jedenfalls E. Rothacker, Philosophische Anthropologie (Vorlesung WS 53/54),

Bonn 1964, S. 113.


28 Rothacker schrieb z. B. 1952 eine kleine, feine Besprechung der 2. Auflage von Pless-

ners ›Lachen und Weinen‹. E. Rothacker, Exzentrische Position des Menschen, Bespre-
chung: H. Plessner, Lachen und Weinen, 2. Aufl. 1950, in: Deutsche Universitätszei-
tung, Jg. 7 (1952), S. 18–19. Anfang der 50er Jahre machten sie zusammen mit ihren
Ehefrauen eine Sizilienreise (Auskunft Monika Plessner).

Philosophische Anthropologie A 217


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

sucht, Gehlen zur Rede zu stellen und gefragt, warum er ihn im


›Menschen‹ nicht erwähnt, geschweige denn sich mit seiner Konzep-
tion auseinandergesetzt habe. Beim Mainzer Kongress 1948 ist es zu
einer offenen Szene gekommen. In jedem Fall – schriftlich oder
mündlich: »Die Antwort Gehlens an Plessner war daraufhin, dass er,
Gehlen, in der damaligen Situation davon habe absehen wollen, den
Emigranten Plessner nicht als Plagiator Schelers zu diffamieren. Da-
raufhin habe Plessner zu Gehlen gesagt […]: ›Herr Gehlen, Sie sind
ein Lump.‹ Darauf habe Gehlen repliziert, ›wenn die Verhältnisse
andere wären, würde ich Sie verklagen.‹« 29 Indem Gehlen für seinen
Versuch, die Nichterwähnung der Plessnerschen Einflüsse auf sein
Denken zu rechtfertigen, den Schelerschen Vorwurf illegitimer Ge-
dankenaneignung durch Plessner aufrief 30 , verdoppelte er sozusagen
Plessners Verwundung: die Isolierung (innerhalb der philosophi-
schen Szene) während der 30er/40er Jahre mit der Missachtung nach
der unglücklichen Durchbruchssituation 1928. Diese persönliche
Feindseligkeit zwischen Gehlen und Plessner hängt über der weiteren
Geschichte der Philosophischen Anthropologie. Plessner wird Gehlen
unter Kollegen und auch öffentlich immer erneut als ›biologistisch‹
und ›autoritär‹ (wegen der Nähe zum Nationalsozialismus) markie-
ren und eine scharfe Grenze zu ziehen versuchen, aber das waren
alles in allem Verdeckungsformeln für Plessners Kernvorbehalt ge-
genüber Gehlen. Denn Rothacker gegenüber, der sich akademisch-
politisch mindestens ebenso dem Nationalsozialismus geöffnet hatte
wie Gehlen und der in der Anlehnung an die Uexküllsche Umwelt-
biologie mindestens so »biologistisch« wie Gehlen (und wie vielleicht
Plessner selber) argumentierte, verwendete Plessner diese Markie-
rungen nämlich nicht. Der springende Punkt war für Plessner das
Verhältnis zur Schöpfung der Philosophischen Anthropologie, seiner
denkerischen Herzensangelegenheit, um die er in den 20er Jahren
einen so hohen Einsatz gewagt hatte und an der sein Philosophen-
Schicksal hing. Rothacker erkannte Plessners Pionierleistung vor-
behaltlos an, Gehlen nicht oder nur unter Vorbehalten und in immer
zugleich zurücksetzenden Formulierungen. Deshalb blieb der erstere
von inkriminierenden Markierungen verschont, der letztere nicht.
Dennoch konnten Plessner und Gehlen nicht voneinander los, weil

29 H. v. Alemann, Interview mit Helmuth Plessner am 7. April 1981, Aufzeichnungen


(23 S.), Nachlaß Plessner, S. 18.
30 Dazu auch K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers, GA 3.2, S. 759.

218 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Turbulenzen (1945–1950)

Gehlen damit fertig werden musste, dass mit Plessner einer der Pio-
niere der Philosophischen Anthropologen von 1928 zurückgekehrt
war, und Plessner einsehen musste, dass Gehlen inzwischen ein in
seiner Qualität anerkanntes, weit verbreitetes Buch geschrieben hat-
te, das eben dieser Traditionslinie wie kein anderes zur Resonanz ver-
half – gerade auch indem es zentrale Theoreme von ihm – Plessner –
in verwandelter Form aufgenommen hatte: Die »Gleichgewichts-
losigkeit« der exzentrischen Position und »Hälftenhaftigkeit« dieser
Lebensform« im Begriff des »Mängelwesen«, das Gesetz der »natür-
lichen Künstlichkeit« im Begriff der sachbezogen »Zucht« und stabi-
lisierenden Disziplinierung des instinktunsicheren Lebewesens.

Seit 1948 ist Plessner ernsthaft interessiert an einem Lehrstuhl für


Soziologie in Göttingen, der ihm den Übergang zur Philosophie of-
fenhält (gleichzeitig scheint er mit Schelsky um einen Lehrstuhl an
der Hamburger Universität konkurriert zu haben). 31 . »Seit Anfang
Mai lese ich in Göttingen (für die Dauer eines Sommersemesters)
Soziologie« – auf Einladung der Göttinger Universität – »und genies-
se die Vielseitigkeit und Intensität deutschen geistigen Lebens«,
schreibt er an Rothacker 1949. 32 Plessner hat Erfolg bei den aus dem
Krieg heimgekehrten, meist schon etwas älteren Studenten. Er bringt
»in die Provinzialität des Universitätslebens im immer noch verkap-
selten Nachkriegsdeutschland einen Hauch von großer Welt, von in-
ternationaler Wissenschaft.« 33 In Vorträgen, Zeitschriftenaufsätzen
und Rundfunkbeiträgen ist er aufgeschlossen für neueste Entwick-
lungen der Technik und Politik. 1949 reflektiert er für den RIAS über
die »Weltraum-Rakete«. 34 In Fortführung des Impulses der ›Utopie
der Maschine‹ nimmt er gleichsam die exzentrische Positionalität des
menschlichen Lebens wörtlich, wenn er rekonstruiert, wie der
Mensch sich anschickt, den »Bereich der Anziehungskraft der Erde
zu überschreiten und in den interplanetarischen Raum vorzustos-
sen.« Plessner erörtert ästhesiologische Konsequenzen – die »Ent-
heiligung des Anschauungsraumes« als praktische Konsequenz der

31 K.-S. Rehberg, Hans Freyer (1887-1969), a. a. O., S. 86.


32 Plessner an Rothacker 4. 6. 1949, Nachlaß Rothacker, Briefwechsel Rothacker-Pless-
ner.
33 H. P. Bahrdt, Belehrungen durch Helmuth Plessner, in: Kölner Zeitschrift für Sozio-

logie und Sozialpsychologie, Jg. 34 (1982), S. 533.


34 H. Plessner, Gedanken zur Zeit: Gedanken eines Philosophen zur Weltraum-Rakete,

13. Okt. 1949, 22.45–23.00, Typoskript, Nachlaß Plessner.

Philosophische Anthropologie A 219


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

fortgesetzten kopernikanischen Wende – wie solche der politischen


Soziologie. Zur politischen Soziologie gehen auch seine Aufsätze zur
Konstellation des Kalten Krieges. 35 Als Remigrant 36 sucht Plessner
nicht die Abrechnung, die Konfrontation, sondern vertraut auf die
wandelnde Kraft seiner intellektuellen Präsenz. Zugleich steht er
hinsichtlich dieses Soziologie-Lehrstuhls in Göttingen in Konkur-
renz mit dem Gehlen-Mentor, dem gleichfalls belasteten H. Freyer,
der vor allem – nicht zuletzt wegen seiner gerade erschienenen
›Weltgeschichte Europas‹ – von den Historikern bevorzugt wird 37 ,
aber als Fakultätsvorschlag von dem Hannoveraner Kultusminister
A. Grimme nicht akzeptiert wird.

1949, das ist das gleiche Jahr, in dem Gehlen – jetzt seit zwei Jahren
eingearbeitet in die Soziologie – seinen ersten soziologischen Auftritt
mit der aus dem Hintergrund seiner Anthropologie gearbeiteten Di-
agnostik der modernen Industriegesellschaft hat. 38 Zugleich bereitet
Gehlen die entscheidende Umarbeitung der neuen, 4. Auflage seiner
Anthropologie vor. Im Zeitraum seit 1945 verdichtet sich ein euro-
päischer Diskurs anthropologischen Philosophierens. Aus Frankreich
kommen die beiden bereits Anfang der 1940er Jahre erschienenen
Werke von J. P. Sartre und M. Merleau-Ponty, die ihre differenzier-
ten Existential-Analysen zur menschlichen Situation leibphäno-
menologisch in einer Lehre des »corps propre«, der leiblichen Be-
findlichkeit in der Welt fundieren. 39 In seinem Brief ݆ber den

35 H. Plessner, Der kalte Krieg, in: Göttinger Universitätszeitung, Jg. 4, Nr. 17, 1949,
S. 1–3. Ders., Die Friedenschance. Hemmende Kräfte im Kalten Krieg, a. a. O., Nr. 18,
1949, S. 5–6.
36 Zu Plessners akademischer Existenz als Remigrant vgl. C. Dietze, Kein Gestus des

Neubeginns. Helmuth Plessner als remigrierter Soziologe in der Wissenschaftskultur


der Nachkriegszeit, in: Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissen-
schaftskultur der Nachkriegszeit, hrsg. v. B. Weisbrod, Göttingen 2002, S. 75–96.
37 H. v. Alemann, Interview mit Helmuth Plessner am 7. April 1981. Aufzeichnungen

(23 S.), Nachlaß Plessner, S. 3 f.


38 A. Gehlen, Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Tübin-

gen 1949.
39 J. P. Sartre, Das Sein und das Nichts, Hamburg-Reinbek 1962 (L’étre et le néant

1943). – M. Merleau-Ponty, Die Struktur des Verhaltens, Berlin-New York 1976 (La
structure du comportement 1942). – Beide verdankten vermutlich Scheler und Plessner
indirekt einige Anregungen, vermittelt über G. Sterns (Anders) Aufsatz zur ›Pathologie
der Freiheit‹, der zentrale Theoreme der Philosophischen Anthropologie reformulierte
und 1936 im selben Heft der Recherches Philosophiques erschien wie Sartres früher
Aufsatz ›La transcendance de l’Ego‹. M. Lohmann, Philosophieren in der Endzeit,

220 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Turbulenzen (1945–1950)

Humanismus‹ von 1948 präzisiert Heidegger bereits seine Philoso-


phie der »Ek-sistenz«, die die Frage des Menschen nur im Lichte der
Frage nach dem Sein aufrolle, gegen den neuen »Existentialismus«,
der den Menschen als Existenz, die der Essenz vorgeordnet sei, zur
Erfindung seiner selbst verurteilt sehe, und gegen die Philosophische
Anthropologie. »Das Stehen in der Lichtung des Seins nenne ich die
Ek-sistenz des Menschen.« 40 »Der Mensch ist […] vom Sein selbst in
die Wahrheit des Seins ›geworfen‹, dass er, dergestalt ek-sistierend,
die Wahrheit des Seins hüte, damit im Lichte des Seins das Seiende
als das Seiende, das es ist, erscheint.« 41 So gesehen sei es ein Fehl-
ansatz der Philosophischen Anthropologie, »den Menschen als ein
Lebewesen unter anderen gegen Pflanze, Tier und Gott abzugren-
zen«, denn in solcher Weise den Menschen innerhalb des Seienden
als ein Seiendes unter anderen ansetzen« bedeute, »daß der Mensch
endgültig in den Wesenbereich der animalitas verstoßen bleibt, auch
wenn man ihn nicht dem Tier gleichsetzt, sondern ihm eine spezi-
fische Differenz zuspricht.« Solches Denken entkomme nicht grund-
sätzlich der »Verirrung des Biologismus«. 42 Im gleichen Zeitraum –
1947 – veröffentlichen M. Horkheimer und Th. W. Adorno ihre
»dialektische Anthropologie«, die in einer ›Dialektik der Aufklärung‹
den geschichtlich-gesellschaftlichen Umschlag von einer Herrschaft
über die Natur in eine entfesselte Herrschaft des Menschen über die
Menschen im Banne der Natur nachzuzeichnen sucht.43 Von diesem
Ansatz aus unterliegt jeder Blick auf den Menschen von seiner Na-
turseite her der Kritik. Seit 1948 liegt von Th. Litt, also seitens des
objektiven Idealismus Hegelscher Herkunft, eine ausformulierte Kri-
tik an der Preisgabe des Geist-Begriffes in Gehlens »biologischer An-
thropologie« vor. 44 Litt, dessen aus politischen Gründen verlorenen

a. a. O., S. 151. Das entspricht Plessners 1965 geäußerter eigener Vermutung: »Bei Sar-
tre […] und Merleau-Ponty finden sich manchmal überraschende Übereinstimmungen
mit meinen Formulierungen, so daß nicht nur ich mich gefragt habe, ob sie nicht viel-
leicht doch die ›Stufen‹ kannten.« H. Plessner, Vorwort zur 2. Auflage, Die Stufen des
Organischen und der Mensch, a. a. O., S. XXIII.
40 M. Heidegger, Über den Humanismus, Frankfurt a. M. 1949, S. 13.

41 Ebd., S. 19.

42 Ebd., S. 13 f.

43 M. Horkheimer/Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmen-

te (1947), Frankfurt a. M. 1969, S. 6.


44 Th. Litt, Mensch und Welt. Grundlinien einer Philosophie des Geistes, München

1948. – Ders., Die Sonderstellung des Menschen im Reiche des Lebendigen, Wiesbaden
1948.

Philosophische Anthropologie A 221


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Lehrstuhl in Leipzig Gehlen ja 1938 übernommen hatte, stützt sich


mit auf eine bei ihm bereits 1945 geschriebene, 1948 angenommene
Dissertation mit dem die Kritik an Gehlen bezeichnenden Titel: ›Das
Menschenbild im Spiegel des Biologismus‹. 45

Plessners Idee einer Vernetzung der Forscher aller Disziplinen durch


die Philosophische Anthropologie 46, die Assistenz des jungen
H. Wein und N. Hartmanns Machtwort in der philosophischen Szene
führen gegen Widerstände dazu, dass Helmuth Plessner, Philosoph in
Groningen, den Auftrag zur Ausrichtung des 3. Deutschen Philoso-
phen-Kongresses in Bremen erhält. 47 Im Zuge der Vorbereitungen
nimmt Plessner nach langen Verhandlungen April 1950 zugleich
den Lehrstuhl für Soziologie in Göttingen an. Für die bundesdeut-
sche Soziologie schien es wegweisend, dass hier gegenüber Freyer,
dem jugendbewegten Theoretiker und 1925 ersten Inhaber eines rein
soziologischen Lehrstuhls in Deutschland (Leipzig), dessen Schriften
eher die ›Grenzen der Gesellschaft‹ (z. B. ›Revolution von rechts‹
1931) markiert hatten, mit Plessner umgekehrt der Theoretiker der
›Grenzen der Gemeinschaft‹ zum Zuge kam. Entscheidend bei den
Verhandlungen um den Soziologie-Lehrstuhl war für Plessner aber
die damit verknüpfte Lehrberechtigung in Philosophie, womit ihm –
der alten Schöfflerschen Idee folgend – vor Ort im Fall des Falles der
Übergang zur Philosophie ermöglicht sein sollte.
Plessners Idee eines Philosophiekongresses – »Symphiloso-
phein« – war im Grunde eine Anknüpfung an die Projektidee des
›Philosophischen Anzeigers‹ als Forum der ›Zusammenarbeit der
Philosophie mit den Einzelwissenschaften‹, wie er sie in den 20er
Jahren konzipiert und realisiert hatte. Statt eines reinen Kongresses
von Philosophen sollte es zu einer Begegnung der Philosophen mit
philosophisch interessierten Fachgelehrten kommen, und zwar statt
im Schema von Vorträgen mit anschließender Diskussion in der
Form des Symposions über einen vorher festgelegten Gegenstand
an erstmals »runden Tischen« im dialogischen Gegenüber und im
schöpferischen Rundgespräch. Sowohl in der Idee des Kontaktes Phi-

45 A. Mahn, Das Menschenbild im Spiegelbild des Biologismus. Darstellung und Kritik


der Anthropologie von Arnold Gehlen, Diss. Tübingen 1948.
46 N. Hartmann an Plessner 10. 3. 1947, Nachlaß Plessner, Mappe 142. »Ihre Pläne zur

Überbrückung der Forscher durch die Anthropologen ist eine schöne Idee.«
47 H. Wein an Plessner 28. 11. 1949, Nachlaß Plessner, Mappe 143.

222 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Turbulenzen (1945–1950)

losophie-Wissenschaften wie in der Idee einer dialektisch-dialogi-


schen Situation setzte Plessner von der Philosophischen Anthropolo-
gie her einen gewissen Gegenakzent zum dominanten existenzphi-
losophischen Paradigma. Heidegger, den Plessner ebenfalls einlud,
sagte ab, trotz Anerkennung für Plessners Plan, »weil mir diese Zu-
sammenkünfte immer weniger liegen.« 48 Hartmann fiel wegen
Krankheit aus. Unter großer öffentlicher Anteilnahme für sein Expe-
riment 49 brachte Plessner mehrere Symposien zustande, auf denen es
zur Zusammenarbeit der Philosophie mit der theoretischen Physik
(»Naturphilosophie«), der Biologie und Zoologie (»Das Umweltpro-
blem«), der Mathematik (»Probleme der Logistik«), der Geschichts-
und Gesellschaftswissenschaften (»Gestaltungskräfte der Geschich-
te«; »Macht und Recht«), der Linguistik und Poetik (»Sprache und
Dichtung«; »Problem der Mythologie«) kam. 50 Im Zentrum standen
Probleme der Anthropologie, sozusagen Fragen der Zwischenzone:
zwischen der naturphilosophischen Debatte über Determinismus an-
gesichts der mikrophysikalischen Forschung einerseits und dem von
Mensch und Natur losgelösten Denken in der Methodik mathemati-
scher Logik anderseits. Deutlich traten Schlüsselthemen der kom-
menden Jahre heraus. Hinsichtlich des existenzphilosophisch akzen-
tuierten Themas »Situation und Entscheidung« wurde eine neue
Verschränkung von Situationsethik und Wertethik sowie das proble-
matische Verhältnis von individueller und sozialer Verantwortung
deutlich. Gegen das wiedererinnerte, aber abstrakte Naturrecht wur-
de zum ersten Mal systematisch im Rückgriff auf den frühen Marx
eine »geschichtliche Anthropologie« ins Feld geführt, die die Proble-
matik der »Entfremdung« zum Urteilskriterium der Rechtlichkeit
menschlicher Verhältnisse erhob. Zugleich deutete sich, unter dem

48 »Überdies fällt der Kongreß in die Zeit, die für mich seit Jahren auf unserer Hütte die
beste u. stillste ist.« M. Heidegger an Plessner 15. 4. 1950, Nachlaß Plessner, Mappe 123.
49 J. Stallmach, Gegenwärtiges Philosophieren, in: Deutsche Universitätszeitung, Jg. 5

(1950), Nr. 20, S. 3–5. – J. Taubes, Besprechung: Symphilosophein, edited by Helmuth


Plessner, in: Philosophy and phenomenological Research, Vol. XIV (1953/54), S. 284–
285. – W. Brüning, Philosophische Begegnungen in Deutschland nach dem Kriege –
Encuentros Filosoficos en Alemania despues de la guerra, Universidad de Cordoba (Ar-
gentinia) 1956, S. 3–45.
50 H. Plessner (Hrsg.), Symphilosophein. Bericht über den Dritten Deutschen Kongreß

für Philosophie. Bremen 1950. Im Einvernehmen mit der Allgemeinen Gesellschaft für
Philosophie in Deutschland bearbeitet v. I. Pape u. W. Stache, München 1952.

Philosophische Anthropologie A 223


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Druck der Hermeneutiker, die philosophische Verschiebung zum


Leitthema Sprache als »Sichtbarmachung der Struktur menschlicher
Selbstbegegnung« (Liebrucks, Bollnow) an. Hinsichtlich des Verhält-
nisses von Mythologie und Aufklärung beharrten Rothacker und
Liebrucks gegenüber der These von der Mythenauflösung durch
Aufklärung auf der Unhintergehbarkeit mythopoetischen Selbst-
und Weltverständnisses.

In dem von Plessner selbst geleiteten Symposion »Das Umweltpro-


blem« über die spezifische Weltoffenheit oder tiergleiche Umwelt-
gebundenheit des Menschen kam es neben der Präsenz der Uexküll-
Schule zum ersten philosophischen Auftritt von Konrad Lorenz, der
eindrucksvoll die phylogenetisch vergleichende Verhaltensforschung
und die phylogenetisch evolutionäre Erkenntnistheorie ins Feld
führte. Gegenüber der Uexküll-Schule (F. Brock), die ihre Arbeits-
hypothese der multiplen, nebeneinander existierenden, nicht auf-
einander rückführbaren Tier-Umwelt-Funktionskreise vorstellte, be-
stand Lorenz »in Kenntnis der Tatsache der Evolution« darauf, dass
alle Verhaltensweisen und Rezeptionsleistungen – einschließlich der
des Menschen – »Ergebnis einer im Laufe der Stammesgeschichte
errungenen Anpassung« seien. Insofern gäbe es zwischen Tier und
Mensch einen zwar großen, aber doch nur »graduellen Unter-
schied«. Lorenz griff – »erhellend durch Argumentation und Bei-
spiel« – Arnold Gehlens Mängelwesen-These an, die einen Wesens-
unterschied des Menschen im Vergleich zum Tier herausarbeiten
wolle, indem er – wahrscheinlich zur Erheiterung des Publikums –
Kolkraben ebenfalls als typisch weltoffene Mängelwesen – Spezialis-
ten auf das Nichtspezialisiertsein – beschrieb, bei deren Neugierver-
halten es im probierenden Umgang mit den Dingen zu dem komme,
was Gehlen für den Menschen gezeigt habe: zu einer ›erledigenden
Bekanntschaft‹ mit den Dingen. Gehlen griff – laut Protokoll – in die
Diskussion ein und verteidigte den »Wesensunterschied zwischen
Mensch und Tier«, indem er den Schelerschen Begriff der Welt-
offenheit verhaltensmäßig interpretierte: die Neugier des Tieres sei
appetenzgebundenes Verhalten, während schon das Kind sich auf das
Eigenverhalten der Dinge einstellen könne. Unterstützt wurde Geh-
len von dem Wiener Zoologen Otto Storch, der auf dem Symposion
die Evolutionsgeschichte stufenmäßig gliederte, indem er eine reine
Erbmotorik und -rezeptorik von einer Erwerbsrezeptorik bei starrer
Erbmotorik und schließlich eine relativ freie Erwerbsmotorik beim

224 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Turbulenzen (1945–1950)

Menschen unterschied.51 Vom Protokoll der Diskussion her, das


Plessner als Herausgeber vermutlich redigierte, scheint es aber so,
als sei Gehlen insgesamt etwas in eine Zwickmühle geraten, insofern
er – dessen Ansatz als »biologisch orientierte Anthropologie« apo-
strophiert wird – einerseits von den Biologen kritisiert wurde und
anderseits von den Philosophen »gegen die Biologen des Tierischen
und Menschlichen wie Gehlen« eine Kategorienlehre der genuinen
philosophischen Anthropologie als Voraussetzung des Mensch-Tier-
Vergleichs eingefordert wurde (S. Moser). 52 Rothacker, »als Vertre-
ter der herausgeforderten philosophischen Anthropologie«, unter-
streicht energisch den Strukturunterschied zwischen Mensch und
Tier – »das Tier transzendiert nicht, es kann nicht denkend negieren;
es hat keinen Sachbegriff und keinen Substanzbegriff« –, um dann
seine These zu entwickeln: »Auch der Mensch lebt in geschlossenen
Welten, die eine durch seine Anteilnahme bedingte Auswahl aus der
unerschöpflichen Wirklichkeit sind. Das Können allerdings, d. h. das
Weltoffen-werden-können, ist ein spezifisch menschliches Privi-
leg.« 53 Plessner versuchte abschließend – bei Bindung an den kon-
trastiven Tier-Mensch-Vergleich – eine Synthese zwischen dem
Schelerschen Theorem der »Weltoffenheit« und dem Rothacker-
schen der umwelthaften Deutung jeder »Kultur«. »Es liegt beim
Menschen eine spezifische, nicht zum Ausgleich zu bringende, ge-
genseitige Verschränkung umweltgebundener und weltoffener Le-
bensform vor.« 54 Diese merkwürdige Verschränkung zeige sich u. a.
im Phänomen des Doppelsinnes und der Sinnwidrigkeit, außerdem
in der Gebrochenheit jedes menschlichen Ausdrucks, die es beim
Tier nicht gäbe. Der Mensch sei angewiesen auf eine künstlich ver-
anstaltete Begrenzung gegen die offene Welt, doch allein durch diese
geschichtlich einseitige Kultur hindurch, die gleichsam Umweltcha-
rakter habe, gewinne er vermittelt zugleich ein Verhältnis zur offe-
nen Welt. Die Kulturen seien abgeschirmt und zugleich sei Überset-
zung möglich, ein Verstehen fremder Sprachen und Einrichtungen
über die eigene Kultur hinaus.
Nicht nur die Idee des Philosophie-Kongresses selbst – der in

51 O. Storch, Die Sonderstellung des Menschen in Lebensabspiel und Vererbung, Wien


1948. – Ders., Erbmotorik und Erwerbsmotorik, in: Anzeiger der Österreichischen Aka-
demie der Wissenschaften, Jg. 86 (1949), S. 16–40.
52 Vgl. H. Plessner (Hrsg.), Symphilosophein, a. a. O., S. 342 ff.

53 Ebd., S. 346.

54 Ebd., S. 352.

Philosophische Anthropologie A 225


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

dieser Form einzig blieb – ist ein Dokument der philosophisch-an-


thropologischen Bewegung, auch das Protokoll des letzten Symposi-
ons gehört zum Textkorpus der Philosophischen Anthropologie. Zum
ersten und fast zum letzten Mal trafen die Protagonisten des Denk-
ansatzes in öffentlicher Debatte, zugleich bezogen auf Vertreter der
konkurrierenden evolutionsbiologischen und existenzphilosophi-
schen Anthropologien, zusammen.

Vier Tage nach dem Kongress, den er ermöglicht hatte, ohne mehr
an ihm teilnehmen zu können, starb Nicolai Hartmann, 68-jährig. 55
Es war genau das Jahr, das Schöfflers Vision 1945 für Plessners Über-
nahme des Hartmann-Lehrstuhls vorgesehen hatte. Aber für Pless-
ner kam jetzt der Tod Hartmanns zu rasch. Plessner war, obwohl er
den Soziologie-Lehrstuhl in Göttingen angenommen hatte, noch
nicht vor Ort, sondern saß noch in Groningen. Über die Nachfolge
Hartmanns wurde innerhalb eines Monats entschieden. Plessner
plante – in Absprache mit Josef König 56 eine Intervention, vermittelt
über Misch. 57 Beide – König und Plessner – sollten Lehrstühle an der
philosophischen Fakultät haben, zusammen Direktoren des Göttin-
ger philosophischen Seminars sein; König mit philosophischem,
Plessner mit soziologischem Schwerpunkt. Möglicherweise schwebte
Plessner eine Lösung wie Horkheimer/Adorno in Frankfurt vor.
Aber Plessners Freundesplan klappte nicht. Die Dilthey-Schule 58,
v. a. in Gestalt des einflussreichen Pädagogen Hermann Nohl, ver-
handelte die Plessner-Idee gar nicht, sondern setzte Misch-Schüler
auf die Liste, neben Josef König auch O. F. Bollnow, außerdem noch

55 W. Trillhaas, Nicolai Hartmann. Rede des Göttinger Rektors bei der Beisetzung am
12. Oktober 1950, in: Deutsche Universitätszeitung, Jg. 5 (1950), S. 5–6.
56 Vgl. Brief König an Plessner, Hamburg undatiert, nach 1950, Nachlaß Misch. (!) »Ich

hatte Dir ja schon vor anderthalb Jahren, als die Frage in weiter Ferne schwebte und ich
ernstlich gar nicht mit dem Rufe rechnete, auf Deine Anfrage hin geschrieben, daß ich
nichts gegen Deine Mitdirektorenschaft einzuwenden hätte. Dies habe ich dann noch
einmal wiederholt, als Du vor Monaten hier warst.«
57 G. Misch an Plessner 16. 12. 1950, Nachlaß Misch. »Auf den von uns gemeinsam

entworfenen Brief habe ich keine Antwort bekommen, überhaupt nichts von den Mit-
gliedern der Kommission gehört.«
58 Die Göttinger Dilthey-Schule war im Kern eine teilweise durch Schülerschaft, teil-

weise durch die Herausgabe der Dilthey-Schriften verbundene Denkergruppe, zu der


u. a. auch E. Spranger gehörte. W. Dilthey, Gesammelte Schriften, hrsg. v. O. F. Bollnow,
B. Groethuysen, G. Misch, H. Nohl, P. Ritter, E. Weniger, Bd. I – XII, Leipzig/Berlin
1914–1958.

226 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Turbulenzen (1945–1950)

J. Ritter. 59 Das Kölner Kommunikationsgeflecht der Philosophischen


Anthropologie aus den 20er Jahren war verschwunden: Schöffler und
Hartmann waren tot. Die Dilthey-Schule überging nicht nur Pless-
ner in der Berufung, sondern beging durch J. König einen Rückzieher
unter Freunden. Als Plessner König an dessen feste Zusage zum Plan
an die beiderseitige Mitdirektorenschaft des Philosophischen Semi-
nars erinnert, kündigt der, nachdem er die Berufung auf den Hart-
mann-Lehrstuhl erhalten hat, das Versprechen. 60 Er wünschte zwar
das Zusammenwirken mit Plessner in Göttingen, aber mit strikter
Kompetenztrennung: König für die Philosophie, Plessner für Sozio-
logie ohne Mitsprache in der Philosophie. Faktisch hat das – vom
Gesichtspunkt der Philosophischen Anthropologie aus erzählt – für
die kommenden Jahre zur Folge, dass Plessner, nachdem er den Lehr-
stuhl für Soziologie mit philosophischer Lehrberechtigung ange-
treten hat, zwar die soziologisch Interessierten aus der Philosophie
hinüberziehen wird, aber keine Chance hat, einen einzigen Philo-
sophen in der Nachfolge Philosophischer Anthropologie auszubilden.
Plessner erkannte die Konsequenzen sofort. Er hatte zwar das Recht
zu Promotionen, konnte aber dem philosophischen Nachwuchs nicht
zu Habilitationen verhelfen. Jeder, der als Philosoph etwas werden
will, wird sich also immer an König halten müssen. 61 König aber wird
das Göttinger Philosophische Seminar – aus seiner Entwicklung kon-
sequent – zu einem Zentrum sprachhermeneutischer, schließlich
sprachanalytischer Philosophie ausbauen. Der Schöfflersche Plan,
den Lehrstuhl N. Hartmanns zu einer Wirkungsstätte Plessners wer-
den zu lassen, war damit zunichte. Mit dieser neuen Konstellation –
Plessner auf einem Lehrstuhl für Soziologie, ohne einen eigenen
Göttinger Kreis von Philosophiestudenten – tut sich auch ein erneu-
tes Hindernis für seinen Plan auf, noch einmal die ›große Anthro-
pologie‹ zu schreiben, – diesen Plan, den er bereits Anfang der 30er

59 H. Wein an Plessner 17. 11. 1950, Nachlaß Plessner, Mappe 143. »Lieber Herr Pless-
ner! Gestern die Neubesetzung [des Hartmann-Lehrstuhls] vor dem Plenum! Ihm wur-
de folgendes vorgeschlagen: der Hamburger [J. König,], der Mainzer [O. F. Bollnow.
J. F.] und der Rittersche Münsteraner [J. Ritter] – ohne Rangordnung. (›uns alle drei
gleich lieb […], die Besten, die wir finden können‹ Nohl) […] In der Kommission hat
man von Ihnen nicht mehr gesprochen.«
60 König an Plessner, Hamburg undatiert, nach 1950, Nachlaß Misch.

61 J. König an Plessner, ebd.: »Du darfst mir glauben, daß ich sehr wohl einsehe […], wie

misslich es für Dich ist, nicht auf einem philosophischen Lehrstuhl zu sitzen, und ich
begreife vollkommen Deinen Wunsch, das zu ändern.«

Philosophische Anthropologie A 227


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Jahre gefasst hatte und dessen Wiederaufnahme er – nach den


Schicksalsschlägen bis in die 40er Jahre hinein – spätestens seit Geh-
lens Buch noch einmal neu verfolgte und gegenüber Misch und Hart-
mann angekündigt hatte.

1950 bringt Arnold Gehlen – von seinem soziologischen Lehrstuhl


aus – die 4., umgearbeitete Auflage seines Buches ›Der Mensch‹ he-
raus 62, mit erheblichen Veränderungen bei unangetastetem Argu-
mentationskern. Alle Verknüpfungen mit NS-Ideengut vor allem
im Schlussteil entfallen. Gehlen führt jetzt eine intensive Auseinan-
dersetzung mit Lorenz, in dem er gegenüber der evolutionsbiologisch
vergleichenden Verhaltensforschung die »Sonderstellung des Men-
schen« und damit spezifisch anthropologische Kategorien verteidigt.
Besonders wird der Lorenz-These widersprochen, dass die Retarda-
tion (als Spezifikum des Menschen) auf »Domestikation« zurück-
zuführen sei (die es beim Tier wie beim Menschen gibt). Man kann
»gerade in der Vermischung von Retardation und Domestikation ei-
nen Fehler sehen, der die Theorien dieses ausgezeichneten Forschers
verdirbt«. Die »konstitutionelle Verjugendlichung der species ho-
mo«, wie sie laut Gehlen Bolk beschreibt und nun auch Portmann
präzisiert hatte, »mit Lorenz als Domestikationsfigur aufzufassen,
ist ein Irrtum.« 63 Gehlen erwähnt jetzt auch Plessner. »Der unter
dem Namen Buytendijks erschienene Aufsatz ›Tier und Mensch‹ (die
Neue Rundschau, Okt. 1938), von dem ich in früheren Auflagen sag-
te, dass er der hier vorgelegten Theorie in entscheidenden Punkten
nahesteht, und dass diese Übereinstimmung in unabhängig von-
einander ausgesagten Grundthesen wichtig ist, stammt, wie H. Pless-
ner inzwischen mitteilt, aus der Zusammenarbeit mit ihm.« 64 In
sachlicher Hinsicht integriert Gehlen Portmanns Entdeckung des
»extra-uterinen Frühjahrs« im Mensch-Tier-Vergleich. Gehlen ist al-
so der erste, der Portmanns These zur ontogenetischen Sonderstel-
lung des Menschen nicht nur zur Stützung seiner eigenen Anschau-
ung, sondern auch zur korrigierenden Erweiterung seines Ansatzes
zur Sozialität hin systematisch berücksichtigt. Insgesamt legt er Ge-
wicht darauf, seinen Gedankengang sozial- und kulturanthropolo-

62 A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 4. Aufl. Bonn
1950.
63 Ebd., S. 128.

64 Ebd., S. 90.

228 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Turbulenzen (1945–1950)

gisch aufzuschließen. Wichtig wird ihm dabei die Theorie des ame-
rikanischen Sozialpsychologen G. H. Mead, dessen kommunikati-
onsphilosophisches Theorem – »to take the role of the other« – er
ausdrücklich übernimmt. 65 Meads Sozialtheorie wird damit erstmals
in die deutschsprachige Philosophie mit einbezogen. Allerdings geht
Gehlen nicht so weit, nun die »kommunikative Erfahrung«, die er
schon 1940 in den Tasterfahrungen zwischen Kind und Dingen be-
schrieben hatte, aus der Sozialerfahrung, aus dem Faktum der Sozia-
lität abzuleiten. Umgekehrt formuliert er im Anschluss an die schon
in der ersten Fassung eingebauten Beobachtungen zu »frühkind-
lichen Gesamtversetzungen und Nachahmungsspielen« die These,
»dass die Phantasie ganz eigentlich das elementare Sozialorgan
ist.« 66
Im Zusammenhang mit der Sprache als Vermittlung zwischen
Innenwelt und Außenwelt fügt Gehlen das Referat von Plessners
›Stufen‹ ein. »H. Plessner hat in dem Buch ›Die Stufen des Organi-
schen und der Mensch‹, 1928, eine philosophische Untersuchung
über das Wesen der Pflanze, des Tieres und des Menschen vor-
gelegt.« 67 Gehlen referiert auf zwei Seiten sehr präzis, auf die phi-
losophische Begrifflichkeit Plessners wertlegend, die Verschiedenheit
von »zentrischer« und »exzentrischer Positionalität«. Aus dieser
Stellung des Menschen lasse Plessner die dreifache Charakteristik
dieser Position als Körper, Seele und Ich einerseits, und im Welt-
verhältnis als Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt andererseits her-
vorgehen. »So wie der exzentrische Organismus nichtraumhaft,
nichtzeithaft, nirgends gestellt, auf Nichts gestellt ist, so steht das
Außending in der ›Leere‹ relativer Örter und Zeiten.« Ein bisschen
verwandelt Gehlens Darstellung Plessners Ansatz in den ›unwirk-
lichen Geist‹, den er selbst einst in seiner Entwicklung überwunden
hatte. Ausdrücklich erwähnt er, dass im Werk von 1928 das Mensch-
sein für Plessner an »keine bestimmte Gestalt gebunden« sei; »phy-
sische Merkmale der menschlichen Natur haben daher nur einen em-
pirischen Wert«. Nachdem er abschließend vorgeführt hat, wie
Plessner die Sphäre des Geistes als Sphäre der »Mitwelt« dialektisch

65 Ebd., S. 181. – G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozial-
behaviorismus, Frankfurt a. M. 1973. (Gehlen bezieht sich auf G. H. Mead, Mind, Self
and Society, 6. Aufl. 1947.)
66 A. Gehlen, Der Mensch, a. a. O., S. 345.

67 Ebd., S. 280.

Philosophische Anthropologie A 229


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

rekonstruiert, konfrontiert er diesen Plessner-Exkurs kommentarlos


mit einer Zusammenfassung der Meadschen Aufschließung der
Sphäre des Geistes aus konkreten kommunikativen Handlungen.
Vor diesem Hintergrund erscheint dann der Plessnersche anthro-
pologische Ansatz als eine bloß dialektische Konstruktion, nicht im
Material durchgeführt.
In der bedeutsamsten Veränderung seines Buches, der Ände-
rung der Schlusskapitel mit dem neuen Titel »Exposition einiger Pro-
bleme des Geistes« 68 rückt Gehlen an die Stelle der Deutungssyste-
me, die er 1940 funktionalistisch als »oberste Führungssysteme« mit
abschließendem Sicherungscharakter des »Mängelwesens« Mensch
eingeführt hatte, nun die aus einem rituellen Darstellungsverhalten
entspringende »Institution« mit erst rückwirkend stabilisierender
Leistung. Die Deutungssysteme verschwinden nicht, sondern werden
verankert vorgestellt in den »Institutionen« 69 , die – darauf kommt es
an – aus nicht-instrumentellem Verhalten stammen. Gehlen erläu-
tert das am »sozialen Tierkult« oder Totemismus als Ursprung ar-
chaischer Sozio-Kulturen. Durch das Sichhineinversetzen in das To-
temtier, das nicht etwa nur verstehend gedeutet, sondern in einer
rituellen »Verkörperung« dargestellt wird, erlangt das menschliche
Lebewesen, und zwar gruppenbezogen – alle versetzen sich in dieses
Dritte außerhalb ihrer –, ein »indirektes Selbstbewußtsein«. Aus
dem mit der Verkörperung verbundenen Verbot, das Totemtier zu
töten und zu essen, kommt es zu folgenreichen rückwirkenden Dis-
ziplinierungen, die Gehlen für die Gruppenbefriedung, die Ehe, die
Tierzucht, den Ackerbau verfolgt.

Entscheidend für die Philosophische Anthropologie wird sein, dass


Gehlen in der Neuauflage seines Buches die drastischen NS-Anspie-
lungen von 1940 weglassen kann, ohne den Argumentationskern
preisgeben zu müssen, dass er Plessners Forderung formal, bloß
formal erfüllt, und dass er seinem 1940 am einzelnen handelnden
Menschen entwickelten Modell die sozialpsychologischen und sozi-

68 Ebd., S. 412–438.
69 Gehlen bezieht sich auf den französischen Rechtstheoretiker M. Hauriou, La Theorie
de l’Institution et de la Fondation, Paris 1925. Deutsch: Ders., Die Theorie der Institu-
tion und der Gründung (Essay über den sozialen Vitalismus), in: Die Theorie der Insti-
tution und zwei andere Aufsätze von Maurice Haurion, hrsg. v. R. Schnur, Darmstadt
1965, S. 27-66..

230 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Turbulenzen (1945–1950)

alanthropologischen Öffnungen einfügt, die ein philosophisch-an-


thropologisch orientiertes Arbeiten in der Soziologie ermöglichen.
Sofort nach Erscheinen der Neuauflage von Gehlens Buch kam
es zu einer breiten philosophischen Kritik an Gehlens Anthropologie,
die als avancierteste Form »moderner Anthropologie« ernst genom-
men wurde. Die in der ›Zeitschrift für philosophische Forschung‹
1951/52 von Th. Ballauf, Th. Haering und der Th. Litt–Schülerin
A. Mahn vorgetragene Kritik bezog sich dabei gar nicht auf die
Neuerungen des Buches, sondern bündelte die in zehn Jahren auf-
gestaute Kritik der idealistischen Philosophie gegen den Ansatz von
Gehlen überhaupt. 70 Der Haupteinwand, der aus der Richtung des
Hegelianers Th. Litts kam, war, dass Gehlen, wenn er die geistigen
Leistungen als Abhilfen organischer Mängel funktionalisiere, die tat-
sächliche Abhilfe durch den Geist nicht erklären könne, weil er vom
Ansatz einer »biologisch orientierten Anthropologie« aus die »Sou-
veränität des Geistes« nicht erreichen könne. Der Geist könne aber
seine Leistung, die weit über die Funktionalität für vitale Bezüge
hinausgehe, nur erbringen, weil sein Strukturprinzip »doppelter Re-
flexion« gerade von vitalen Bezügen frei sei. Bei aller Feinanalyse im
Einzelnen sei Gehlens Anthropologie philosophisch gesehen »Biolo-
gismus«.
In einer im selben Heft erschienenen Erwiderung verteidigte
sich Gehlen methodisch mit der Idee einer »empirischen Philoso-
phie«, der der begrenzte Aufweis neuer Phänomene gelungen sei –
und zwar durch eine gewisse Enthaltsamkeit an Metaphysik, ohne
Metaphysik grundsätzlich zu bestreiten. »Ich habe mich daher von
Nic. Hartmann (Neue Anthropologie in Deutschland 1941/42 […])
richtig verstanden gefühlt, als er sagte: ›Nicht das verlangt die neue
Theorie des Menschen, dass Phantasie, Gedanke, Führung, Selbst-
zucht usw. aus physiologischen Vorgängen resultiere oder aus bloßer
Differenzierung körperlicher Funktionen stamme, sondern durchaus
nur, daß sie mit zu den Bedingungen gehören, unter denen ein so
exponiertes Wesen wie der Mensch erst wirklich lebensfähig wird.‹«
In der Sache formulierte Gehlen den Grundgedanken Philosophi-

70 Th. Ballauf, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Zu dem gleich-
namigen Werk von Arnold Gehlen, (4. Aufl. Bonn: Athenäum-Verlag 1950), in: Zeit-
schrift für philosophische Forschung, Jg. 6 (1951/52), S. 566–593 (mit ausführlicher
Dokumentation der Auseinandersetzung um Gehlens Anthropologie seit 1940). – Th.
Haering, Zu Gehlens Anthropologie, ebd., S. 593–598. – A. Mahn, Über die philosophi-
sche Anthropologie von A. Gehlen, ebd., S. 71–93.

Philosophische Anthropologie A 231


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

scher Anthropologie so: »Ich habe im wesentlichen den Nachweis


geführt, daß die Natur in uns sehr viel geistreicher verfährt, als man
so ohne weiteres denkt.« Seine Arbeit stehe im Zusammenhang mit
»parallelen Forschungen […] z. B. denen von Portmann, Storch, Bolk
usw.«, deren Bemühen um den Nachweis gehe, dass die »Sonderstel-
lung des Menschen […] nicht allein darin besteht, daß er Sprache,
Geist, Selbstbewußtsein hat, sondern daß sie auch unter dem biolo-
gischen Aspekt erscheint.« 71 »Selbstverständlich«, schreibt Gehlen
1950 parallel in einem Brief an Rothacker, »habe ich nicht die – ge-
dankenlose – Absicht, das Geistige aus dem Biologischen ›abzulei-
ten‹, sondern ich suche die biopsychologischen ›Strukturen‹, die das
Geistige sozusagen in einem Organismus ›möglich‹ machen, das man
im Übrigen mit Aristoteles zur Türe herein kommen lassen muß.« 72

Parallel bringt Plessner 1950 die 2. Auflage von ›Lachen und Weinen‹
heraus, das die interessierte Kritik von G. v. d. Leeuw, L. Binswanger,
H. Kunz und A. Portmann gefunden hatte. In seinem Vorwort betont
er denselben Punkt wie Gehlen. Gegen idealistische Einwände hält er
an seinem Begriff der ›exzentrischen Positionalität‹ fest, »da er auch
die körperliche Daseinsweise des Menschen mit zur Anschauung
bringen will, für welche die Möglichkeit, von ihr Abstand zu nehmen
– und damit den Weg der Organbeherrschung bis ans Ziel der totalen
Selbsthabe einzuschlagen –, als konstitutiv auch in ihren scheinbar
rein somatischen Äußerungen nachgewiesen werden soll.« Aus An-
lass einer methodischen Kritik L. Binswangers grenzt er Philosophi-
sche Anthropologie zugleich gegenüber der Leibphänomenologie ab:
»Binswanger hat völlig recht: die rein phänomenologische Da-
seinsanalyse muss Begriffe wie ›das Verhalten zum Körper‹ als der
Selbstdeutung des Menschen nicht entnommene ›Konstruktionen‹
ablehnen.« Diese phänomenologische Daseinsanalyse oder Existenz-
phänomenologie als »im Horizont des Daseins selbst sich haltende,
zum vollen Daseinssinn sich aufschließende Beschreibung des Da-
seins« erreicht – so Plessner – bloß die »Explikation des Selbstver-
ständlichen. Auch bei Sartre und Merleau-Ponty sind ähnliche Ten-
denzen sichtbar. Ein Phänomen begreifen, heißt in dieser Dimension,
es in seinen ursprünglichen Sinnverband zurücknehmen.« Dem-

71 A. Gehlen, Stellungnahme zu den Hauptsachen (1951/52), in: Ders., Studien zur An-
thropologie und Soziologie, Neuwied 1963, S. 140–148.
72 Gehlen an Rothacker 6. 9. 1950, Nachlass Rothacker.

232 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Turbulenzen (1945–1950)

gegenüber setze Philosophische Anthropologie indirekt beim Ver-


hältnis, beim Verhalten des Menschen zu seinem Körper an. Dieses
»Verhältnis des Menschen zu seinem Körper« sei von dem des tieri-
schen Körperverhältnisses prinzipiell unterschieden, was sich bis in
die Erscheinungsweise dieser Körperlichkeit bemerkbar mache.
Einer Anregung von H. Kunz folgend, entwickelt Plessner im
Zusammenhang seiner Theorie menschlicher Ausdrucksphänomene
auch eine Theorie des »Lächelns«. 73 Charakteristisch im Vergleich zu
allem anderen Ausdruck scheint an ihm, dass es bereits als »natür-
liche Gebärde« »im Ausdruck zum Ausdruck Abstand wahrt«. »Die
leichte Auflockerung des Gesichts, in der sich offenbar alle Erregun-
gen mit schwacher, unausgesprochener Antriebsform spiegeln, inso-
fern sie dem Erregten das Gefühl der Lockerung vermitteln, bietet
sich ihm selbst als Spielfeld dar. Sagten wir, daß Lächeln im Ausdruck
zum Ausdruck Abstand wahrt, d. h. den Eindruck einer gewissen Dis-
tanz hervorruft, so erlebt das der Lächelnde selbst als ›ein Verhältnis
zu‹ seinem Ausdruck, zu seinem Gesicht.« »Weil Lächeln eine Locke-
rung verrät, deren das Tier durch seinen Mangel an Distanz zum
eigenen Leib und dem ihm entsprechenden Umfeld nicht teilhaftig
werden kann, hat es für den Lächelnden jenen spielerischen Zug,
der zum Spiel mit ihm, zum Mienenspiel verlockt; wird es zum Be-
deutungsträger par excellence.« Indem es nun »von der natürlichen
Gebärde in andeutende Geste, verhüllende Maske übergeht«, ge-
winnt das Lächeln Bedeutung als Mittel und Ausdruck der Kom-
munikation. Man gibt sich lächelnd zu verstehen: gemeinsames
Wissen um etwas, Gemeinsamkeit überhaupt, auch in der Form des
Getrenntseins wie Triumph und Niederlage, Überlegenheit, Ver-
legenheit, Demut. Nicht erst als sozial eingesetzte Geste verkörpert
mithin Lächeln die Besonderheit des Menschen, und nicht erst geis-
tige soziale Sinngehalte konstituieren Lächeln als vitale Reaktion.
»Umgekehrt: weil Lächeln als natürliche Gebärde bereits im Aus-
druck zum Ausdruck Abstand wahrt, drückt es die Distanziertheit
des Menschen zu sich und seiner Umwelt aus, die wir seine Geistig-
keit nennen«, »kommt in ihm jene spezifische Distanz zum Vor-
schein, welche allen menschlichen Monopolen, nicht zuletzt der
Sprache, zugrundeliegt.« Insofern ist das Lächeln »Mimik der
menschlichen Position« 74 , also der »exzentrischen Positionalität«:

73 H. Plessner, Das Lächeln (1950), GS VII, S. 419–434.


74 Ebd., S. 431.

Philosophische Anthropologie A 233


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

»Abstand im Ausdruck zum Ausdruck« ist nun Plessners Überset-


zungsformel für diese Schlüsselkategorie der menschlichen Natur.

234 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

1.6 Konsolidierung (1950–1955)

Zieht man für die Philosophische Anthropologie Anfang der 50er


Jahre ein Zwischenfazit, so war eine relative Konsolidierung erreicht,
allerdings eine Etablierung voller Spannungen. Gehlen war es gelun-
gen, sich als markantester Vertreter dieser Denkrichtung auszuprä-
gen. Sein Hauptwerk war neu erschienen und zog seine Bahn als
»anthropo-biologisches«, am weitesten durchgearbeitetes Zeugnis
dieser Richtung. Allerdings hing über ihm – von idealistischer, her-
meneutischer und existenzphilosophischer Richtung genährt – der
Schatten des »Biologismus«. Dem Remigranten Plessner war die
Reintegration gelungen, aber die volle Rehabilitation seiner Pionier-
leistung war ausgeblieben. Sein Hauptwerk, die ›Stufen des Organi-
schen und der Mensch‹, vor mehr als zwanzig Jahren erschienen, war
vergriffen und nur Kennern bekannt. Präsent war er mit ›Lachen und
Weinen‹, scheinbar eher einer Theoriedurchführung vom Rande her,
und – seit 1953 – unter dem Titel ›Zwischen Philosophie und Gesell-
schaft‹ mit einer Sammlung von Schriften aus diesen zwanzig Jah-
ren. 1 Nicolai Hartmann war tot; die Protagonisten des Ansatzes
mussten ab jetzt selbst dafür einstehen. 2 Der Ausgleich zwischen
Gehlen und Plessner war rein formell. Plessner – als primärer Ver-
treter Philosophischer Anthropologie – wird und will Gehlen nicht
gegen den kursierenden Vorwurf des Biologismus in Schutz nehmen.
Zugleich sitzen beide zu Beginn der 50er Jahre auf Lehrstühlen der
Soziologie, einer modernen Wissenschaft. Das bringt Philosophische
Anthropologie in eine fruchtbare Situation; latent droht aber auch
das Verschwinden des Ansatzes aus der philosophischen Präsenz.

Ein Aufsatz von H. Wein ›Zwischen Philosophie und Erfahrungswis-


senschaften‹ 3 , der auch auf englisch erscheint, fasst für das deutsche
1 H. Plessner, Zwischen Philosophie und Gesellschaft. Ausgewählte Abhandlungen und
Vorträge, Bern/München 1953.
2 Plessner und Gehlen waren beide auch als Beiträger des Gedenkbandes für N. Hart-

mann vorgesehen: H. Heimsoeth/R. Heiß (Hrsg.), Nicolai Hartmann. Der Denker und
sein Werk, Göttingen 1952. Plessners Beitrag ›Offene Problemgeschichte‹ erschien im
Band, der von Gehlen vorgesehene ›Hartmanns Anthropologie‹ aber nicht. (Vgl. das
Typoskript der ersten Gliederung des Bandes durch H. Heimsoeth im Plessner-Nach-
lass).
3 H. Wein, Zwischen Philosophie und Erfahrungswissenschaften, in: J. Moras/

H. Paeschke (Hrsg.), Deutscher Geist zwischen gestern und morgen. Bilanz der kultu-
rellen Entwicklung seit 1945, Stuttgart 1954, S. 248–261.

Philosophische Anthropologie A 235


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

und amerikanische Publikum zum ersten Mal die »Denk-›Schule‹«


einer Philosophischen Anthropologie zusammen: »Das Köln der
zwanziger Jahre, das Scheler, Plessner und Hartmann vereinte, ist
die Geburtsstätte dieser neuen deutschen ›philosophischen Anthro-
pologie‹.« Wein erinnert an Scheler, der »mitten in der Vorbereitung
zu einer systematischen philosophischen Anthropologie« verstorben
sei. »Sein Nachlaß enthält eine Fülle von Entwürfen zu dieser und
einer ›Meta-Anthropologie‹. Bis jetzt ist dieser Nachlaß nicht he-
rausgegeben; doch ist sein Erscheinen in Bälde zu erwarten.« Wein
macht auf Gehlens und v. a. auch Rothackers wichtige Beiträge auf-
merksam, betont die von Hartmann erkannte Bedeutung Plessners:
»Nicolai Hartmann, dessen systematisches Gebiet nicht die philoso-
phische Anthropologie war, sah gleichwohl den wichtigsten Fund,
den die philosophische Anthropologie im engeren Sinne bisher ge-
macht hat […], in dem Theorem Helmuth Plessners von der ›exzen-
trischen Positionalität‹ des Menschen.« 4 Vor allem erkennt Wein
Möglichkeiten der fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen der aus
der Ethnologie kommenden amerikanischen Kulturanthropologie
(Kroeber, Kluckhohn) und der Philosophischen Anthropologie.

In der Nachfolge von N. Hartmann, der seit den zwanziger Jahren


von einer interessierten Drittenposition aus die Entfaltung des En-
sembles Schritt für Schritt beobachtet hatte, setzt mit Weins Skizze
eine erste wirksam werdende Rekonstruktion des Paradigmas ein. Zu
Beginn der 50er Jahre bildet der Denkansatz der Philosophischen
Anthropologie eine konsolidierte Größe im intellektuellen Feld.
Nicht nur durch den beständigen – reflektierten – Rückbezug auf
die Biologie, sondern ebenso durch seine Etablierung in der Sozio-
logie und durch seine Einbeziehung der Kulturanthropologie ist er
für andere Richtungen eine Herausforderung. Durch den philoso-
phisch reflektierten Kontakt zur Empirie bildet er ein dynamisches
Zentrum, das christliche und jüdische Theologie, Idealismus, Her-
meneutische Philosophie, Existenzphilosophie, Lebensphilosophie,
Evolutionstheorie und Marxismus zur Formulierung ihrer Ideen im
Felde der Anthropologie zwingt. Andererseits steht die Philosophi-
sche Anthropologie unter dem Dauerdruck, angesichts dieser neu

4 Ebd., S. 259 f.

236 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

formulierten theologischen (R. Guardini 5 , A. Dempf, 6 Teilhard de


Chardin, M. Buber 7 ), neoidealistischen (Th. Litt 8 ), hermeneutischen
(H. Lipps) 9 , existenzphilosophischen (P. L. Landsberg 10 , J. P. Sartre 11,
A. Camus 12, G. Marcel 13 ), lebensphilosophischen (Ortega y Gas-
set) 14 , evolutionsbiologischen (J. Huxley) 15 und im Zuge der Rezep-
tion des frühen Marx marxistischen Anthropologien 16 der »Entfrem-
dung« (E. Fromm 17 , E. Bloch 18 ) ihre Linie zu halten.
Gleichzeitig löst die Philosophische Anthropologie selbst eine
Historisierung aus, die Vergewisserung einer Reflexionsgeschichte
des Menschen über den ›Menschen‹. Angesichts des enormen Inte-
resses und des sich anbietenden Materials der verschiedenen Rich-
tungen drängt sich die disziplingeschichtliche Vergewisserung einer
Subdisziplin »philosophische Anthropologie« auf. Wegen der inter-
nen Spannung tritt der Denkansatz Philosophische Anthropologie
dabei aber nicht von innen her selbst als rekonstruierende Kraft auf.
Die Umstrukturierung des wissenschafts- und philosophiegeschicht-
lichen Materials unter dem Gesichtspunkt der Frage nach dem Men-
schen, wie sie schon B. Groethuysen Ende der 20er Jahre begonnen
hatte, lockt Autoren wie W. E. Mühlmann, M. Landmann und
W. Brüning. Auf Anregung Rothackers hatte W. E. Mühlmann, der
Biologie, Ethnologie und Soziologie studierte, bereits Anfang der
40er Jahre Materialien zu einer umfassenden Geschichte der »an-
thropologischen Wissenschaft« von der Antike bis zur Gegenwart
gesammelt. Jetzt erscheint seine ›Geschichte der Anthropologie‹ als

5 R. Guardini, Welt und Person. Versuch zur christlichen Lehre vom Menschen, Würz-
burg 1939.
6 A. Dempf, Theoretische Anthropologie, München 1950.

7 M. Buber, Das Problem des Menschen, Heidelberg 1948.

8 Th. Litt, Mensch und Welt. Grundlagen einer Philosophie des Geistes, München 1948.
9 H. Lipps, Die Wirklichkeit des Menschen, Frankfurt a. M. 1954.

10 P. L. Landsberg, Einführung in die philosophische Anthropologie (1934), 2. Aufl.

Frankfurt a. M. 1949.
11 J. P. Sartre, Ist der Existentialismus ein Humanismus?, Zürich 1947.
12 A. Camus, Der Mensch in der Revolte. Essays (1951), Hamburg 1953.

13 G. Marcel, Homo Viator. Philosophie der Hoffnung, Düsseldorf 1949.

14 J. Ortega y Gasset, Vom Menschen als utopischem Wesen. 4 Essays, Stuttgart 1951.

15 J. Huxley, Der Mensch in der modernen Welt, Nürnberg 1950.


16 K. Marx, Die Frühschriften, hrsg. v. S. Landshut, Stuttgart 1953.

17 E. Fromm, Man for himself. An inquiry into the psychology of ethics, New York

1947.
18 E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung. Erster Band, Berlin 1954.

Philosophische Anthropologie A 237


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

eine Geschichte der Forschungen zum Menschen. 19 Ein Schüler


N. Hartmanns, M. Landmann, wird 1955 die erste Rekonstruktion
der »philosophischen Anthropologie« als einer philosophischen Sub-
disziplin vorlegen. In diesem vielfach aufgelegten, später auch eng-
lisch übersetzten Buch ›Philosophische Anthropologie. Menschliche
Selbstdarstellung in Geschichte und Gegenwart‹ führt er den Bogen
der einschlägigen Denkleistungen von der »religiösen Anthropolo-
gie« über die »Vernunftanthropologie« zum Zwischenspiel der »bio-
logischen Anthropologie«, um sie mit der »Kulturanthropologie« ab-
zuschließen. 20 Ein späterer von ihm organisierter Band wird die
Historisierung einer solchen Disziplin philosophische Anthropologie
noch anreichern und durch die Forschung nach »impliziten Anthro-
pologien« bei Denkern und in Kulturen vertiefen. 21 Einen parallelen
Versuch wird W. Brüning unternehmen, der – österreichischer Emi-
grant in Argentinien – die philosophische Szene im Nachkriegs-
deutschland unter dem Thema »Mensch« genau beobachtet, im spa-
nischsprachigen Raum bekannt macht und nach vielen Einzelstudien
während der 40er und 50er Jahre schließlich sein Standardwerk vor-
legt: ›Philosophische Anthropologie. Historische Voraussetzungen
und gegenwärtiger Stand‹. 22

Diese Historisierungen und Systematisierungen einer Subdisziplin


»philosophische Anthropologie« verwischten gerade in den sehr klar
gehaltenen Überblicken von Landmann und Brüning allerdings die
Konturschärfe des Denkansatzes einer »Philosophischen Anthro-
pologie«. Andererseits sicherten sie aber durch die Normalisierung
der ›philosophischen Anthropologie‹ als philosophischer Disziplin
dem Denkansatz ein zusätzliches Aufmerksamkeitsfeld. Zudem ist
die Philosophische Anthropologie durch die nun seit 1954 beginnen-
de Werkausgabe Schelers erneut in die Erwartung der unveröffent-
lichten Schelerschen Anthropologie versetzt. »Noch ist der Schatz

19 W. E. Mühlmann, Geschichte der Anthropologie (1948), 2. verb. u. erw. Aufl. Wies-


baden 1968.
20 M. Landmann, Philosophische Anthropologie. Menschliche Selbstdarstellung in Ge-

schichte und Gegenwart (1955), 4. überarb. u. erw. Aufl. Berlin/New York 1976.
21 M. Landmann, De Homine. Der Mensch im Spiegel seines Gedankens, v. M. Land-

mann unter Mitarbeit v. G. Diem, P. L. Lehmann, P. Ch. Ludz, E. Tielsch, N. Hinske,


M. Theunissen, Freiburg/München 1962, S. 13.
22 W. Brüning, Philosophische Anthropologie. Historische Voraussetzungen und ge-

genwärtiger Stand, Stuttgart 1960.

238 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

des Schelerschen Nachlasses, der dem Vernehmen nach Entwürfe zu


einer Anthropologie und zu einer Metaphysik bergen soll und für
den in der Gesamtausgabe vier Bände reserviert sind, ungehoben.
[…] Erst die Edition des Nachlasses wird uns Schelers geistiges Ge-
sicht ganz enthüllen und vielleicht auch der Gegenwartsphilosophie
neue Impulse geben!« 23

Vor diesem Hintergrund kommt es nun in den 50er Jahren zur rela-
tiven Erfolgsgeschichte der Philosophischen Anthropologie, wobei
das nicht nur die Geschichte Gehlens und Plessners ist, sondern der
Denkansatz als vielköpfige akademische und öffentliche Ideenbil-
dung in Erscheinung tritt.
Bedeutsam für die Konsolidierung der Philosophischen Anthro-
pologie ist vor allem die volle Entfaltung Adolf Portmanns im diskur-
siven Ensemble. Sein Beitrag einer ›Biologie auf neuen Wegen‹ 24 sta-
bilisiert den Denkansatz erheblich, weil sich mit Plessner wie Gehlen
und Rothacker die Protagonisten des Ansatzes gleichermaßen positiv
auf sie bezogen. Seine Sicht auf das »extra-uterine Frühjahr« ver-
anlasste auch andere Denkrichtungen zum Aufmerken, wie Jaspers
und Heidegger. 25 Seit 1956 zieht Portmann mit der Neuveröffent-
lichung seines Buches von 1944 als Band 20 von ›Rowohlts deutscher
Enzyklopädie‹ unter dem Titel ›Zoologie und das neue Bild vom
Menschen‹ 26 seine Bahn in der Öffentlichkeit. Portmanns Buch ist
deshalb für die Entfaltungsgeschichte des Denkansatzes bedeutsam,
weil hier öffentlich ein Zoologe, von der unhintergehbaren Eigenart

23 So die Besprechung des 2. Bandes der Werkausgabe (Vom Umsturz der Werte), in: St.
Gallener Tagblatt, 21. 1. 1956.
24 A. Portmann, Biologie auf neuen Wegen, in: J. Moras/H. Paeschke (Hrsg.), Deut-

scher Geist zwischen gestern und morgen. Bilanz der kulturellen Entwicklung seit 1945,
Stuttgart 1954, S. 172–188.
25 Durch Vermittlung von Heideggers Schüler und Freiburger Nachfolger Wilhelm Szi-

lasi, der mit Portmann befreundet war, kam es zwischen Portmann und Heidegger zu
einigen langen Diskussionen. J. Illies, Das Geheimnis des Lebendigen. Leben und Werk
des Biologen Adolf Portmann, München 1976, S. 187 f. Heidegger schrieb an Portmann
28. 2. 1949: »Ich bin froh, Ihr schönes Buch zu besitzen. […] Das große Forschungsresul-
tat werden die meisten zunächst übersehen. […] Mitten durch geht die Anstrengung,
unversehens eine andere Weise des Sehens auszubilden, d. h. an einem gewandelten
Verhältnis zur Welt mitzubauen, ohne den eigentlichen Bauherren genau zu ken-
nen […]«. Zit. n. H. Müller, Philosophische Grundlagen der Anthropologie Adolf Port-
manns, Weinheim 1988, S. VIII.
26 A. Portmann, Zoologie und das neue Bild vom Menschen. Biologische Fragmente zu

einer Lehre vom Menschen, Hamburg 1956.

Philosophische Anthropologie A 239


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

der sozio-kulturellen Sphäre des Menschen überzeugt, in seiner For-


schung darauf Acht hat, was sie im Aufbau des Organismus ermög-
licht. Portmann bewährt für die Leser die Konstruktion Schelers und
Plessners – Unterbrochenheit des Lebens im menschlichen Lebewe-
sen als »Weltoffenheit« oder »Exzentrizität« – am Phänomen. Paral-
lel vor allem zu Gehlens Durchführung gibt das dem konstruktiven
Moment des Ansatzes einen überzeugenden Anschauungshinter-
grund. So wird Portmann, der seinen Grundgedanken über die Son-
derstellung des Menschen – vor allem in ontogenetischer Hinsicht –
in zahllosen Vorträgen und Aufsätzen zu großer Publizität verhilft 27 ,
zu einem Referenzautor in den Kultur- und Sozialwissenschaften.
Für den Kölner Soziologen René König z. B. ist »keine Einführung
in die Soziologie möglich […] ohne eingehendste Kenntnis der For-
schungen von Portmann, da nicht nur seine Scheidung von anima-
lischen und menschlichen Verhalten, sondern vor allem sein Zusam-
mensehen von menschlicher Entwicklung und der der Säugetiere die
Eigenständigkeit von menschlicher Kultur und sozialem Lernen
deutlicher zeigt, als je ein Biologe vor ihm tat.« 28

Nicht weniger bedeutend für die Philosophische Anthropologie ist


Portmanns Ausarbeitung seines biologischen Grundgedankens vom
kategorialen Charakter der »Erscheinung lebendiger Gestalten im
Lichtfelde«. Mit Beiträgen in den Festschriften für Jaspers 29, Pless-
ner 30 und Buytendijk 31 stützt Portmann mit diesem Theorem von
der bereits subhumanen »Selbstdarstellung des Lebendigen« die For-
schungen Buytendjks und Plessners zum spezifischen Expressivitäts-
charakter der menschlichen Körpererscheinung. Er verklammert mit
seinem doppelten Grundgedanken – struktureller »Erscheinungs-

27 A. Portmann, Entläßt die Natur den Menschen? Gesammelte Aufsätze zur Biologie
und Anthropologie, München 1970. – Ders., Vom Lebendigen. Versuche zu einer Wis-
senschaft vom Menschen, Frankfurt a. M. 1973.
28 R. König, Soziologisch wichtige Bücher aus Rowohlts Deutscher Enzyklopädie, in:

Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 8 (1956), S. 128.


29 A. Portmann, Um ein neues Bild des Organismus, in: Offener Horizont. Festschrift

für Karl Jaspers, hrsg. von K. Piper, München 1953, S. 213–226.


30 A. Portmann, Die Erscheinung der lebendigen Gestalten im Lichtfelde, in: K. Ziegler

(Hrsg.), Wesen und Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für Helmuth Plessner,
a. a. O., S. 29–41.
31 A. Portmann, Transparente und opake Gestaltung, in: Rencontre/Encounter/Begeg-

nung. Contributions à une psychologie humaine dédiées au F. J. J. Buytendijk, Utrecht/


Antwerpen 1957, S. 335–370.

240 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

charakter« des Organischen und »extra-uterine Geburt« des Men-


schen – die beiden Momente der Philosophischen Anthropologie
Schelers, Plessners und Gehlens, Natur- und Kulturtheorie sein zu
wollen: der »Kosmos« und die »Stellung des Menschen« in ihm.
Nicht zuletzt unter dem Eindruck von Portmanns Beitrag beginnen
auch Hannah Arendt und Hans Jonas in den USA ihre existenzphi-
losophische Denkungsart philosophisch-anthropologisch zu refor-
mulieren. »Die Welt als ein Gebilde von Menschenhand«, wird
H. Arendt am Anfang ihres 1958 erscheinenden ›The Human Condi-
tion‹ schreiben, »ist, im Unterschied zur tierischen Umwelt, der Na-
tur nicht absolut verpflichtet, aber das Leben als solches geht in diese
künstliche Welt nie ganz und gar ein, wie es auch nie ganz und gar in
ihr aufgehen kann; als ein lebendes Wesen bleibt der Mensch dem
Reich des Lebendigen verhaftet, von dem er sich doch dauernd auf
eine künstliche, von ihm selbst errichtete Welt hin entfernt.« Arendt,
die über Jaspers in Basel auf Portmann gestoßen wird, bindet ihre
anthropologische Auszeichnung des Begriffes »Handlung« (gegen-
über »Herstellen« und »Arbeiten«) als conditio des öffentlichen Rau-
mes an das ›extrauterine Frühjahr‹ oder die »Grundbedingung der
Natalität«: »Der Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt
kommt, kann sich in der Welt nur darum zur Geltung bringen, weil
dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen
Anfang zu machen, d. h. zu handeln.« 32 Ende der 40er, Anfang der
50er Jahre verschiebt Hans Jonas seinen Forschungsschwerpunkt
von philosophiegeschichtlichen Untersuchungen hin zu einer »phi-
losophischen Biologie« und anthropologischen Themen, um die un-
natürliche Trennung des Cartesianismus zwischen dem Mentalen
und dem Stofflichen zu revidieren, denn »das Verständnis des
Menschen leidet an der Trennung ebenso sehr wie das des außer-
menschlichen Lebens«. 33 Im englischsprachigen Raum indirekt dabei
zunächst die Plessnersche Auseinandersetzung mit dem Cartesianis-
mus erneuernd an den Fronten des Materialismus und des Darwinis-
mus, aber auch des Existentialismus 34, sieht sich Jonas direkt ermu-

32 H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben (1958), München 1967, S. 8 f., S. 15. –
Vgl. zu diesem Buch auch die zustimmende Rezension von Arnold Gehlen: Vom tätigen
Leben, in: Merkur Jg. 15 (1961), S. 482–486.
33 H. Jonas, Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, 3. Kap.,

Frankfurt a. M./Leipzig 1994, S. 9.


34 H. Jonas, Materialism and the Theory of Organism (1951), wiederabgedr. in: Das

Prinzip Leben, a. a. O., S. 73–108.

Philosophische Anthropologie A 241


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

tigt durch die Vorstöße von Portmann: »Ich erinnere mich aber, daß
Karl Jaspers zu mir sagte: ›Wissen Sie, das wirklich Interessante, was
heute vorgeht, wovon der Philosoph Kenntnis nehmen muß, das geht
nicht in der Philosophie vor, das geht bei einzelnen Naturwissen-
schaftlern vor, zum Beispiel Adolf Portmann‹«. 35 Portmann führt
auch – sozusagen stellvertretend für den Ansatz – die Auseinander-
setzung um die in den 50er Jahren intensiv diskutierte anthropologi-
sche Evolutionstheologie Teilhard de Chardins: Anerkennung für die
biologisch gearbeitete Beobachtung, dass in der Evolution die »Inte-
riorité oder Innerlichkeit, wie Teilhard de Chardin es nennt« zu-
nimmt, aber von einer »basalen Anthropologie« (Portmann) oder
»aufschließend-exponierenden« Anthropologie (Plessner) her mit
Reserve gegenüber der theologischen Gesamtdeutung dieses christ-
lichen Evolutionsdeuters. 36

Bedeutsam für den Paradigmenerfolg der Philosophischen Anthro-


pologie war zudem, dass F. J. J. Buytendijk, mit nach wie vor un-
gebrochener Präsenz im Diskursfeld, erst jetzt zu seinem eigenen
anthropologischen Beitrag vorstößt. Seit 1947 Professor für Psycho-
logie in Utrecht, baute er seinen physiologisch-biologisch gestützten
Tier-Mensch-Vergleich stärker denn je zu philosophisch-anthropo-
logischen Beiträgen aus. Weil das Lebendige »Präfiguration des
Menschlichen«, d. h. »eine Anspielung des Geistes« ist, interessierte
sich Buytendijk immer für die Übergangsformen zwischen Tier und
Mensch (das »Spiel«), um nun umgekehrt die kategoriale Differenz
des Menschen gegenüber dem Tier in den spezifisch menschlichen
körperleiblichen Bewegungen aufzuweisen. Dabei ging er ebenso
den Eindruckszonen wie den Ausdruckszonen des menschlichen Kör-
perleibes nach. 1948 erschien sein Buch ›Über den Schmerz‹ 37 , über-
setzt von Plessner, in Deutschland. 1957 schreibt er – an Plessners
Ästhesiologie des Geistes anknüpfend und sie durch die Geistigkeit
eines ›niederen Sinnes‹ modifizierend –, für die Plessner-Festschrift
über den ›Geschmack‹ 38 .

35 H. Jonas. Erkenntnis und Verantwortung. Gespräch mit I. Hermann in der Reihe


›Zeugen des Jahrhunderts‹, hrsg. v. I. Hermann, Göttingen 1991, S. 104.
36 A. Portmann, Der Pfeil des Humanen. Über P. Teilhard de Chardin, Freiburg/Mün-

chen 1960. – Teilhard de Chardin, Der Mensch im Kosmos, München 1959.


37 F. J. J. Buytendijk, Über den Schmerz, Bern 1948.

38 F. J. J. Buytendijk, Der Geschmack, in: K. Ziegler (Hrsg.), Wesen und Wirklichkeit des

Menschen. Festschrift für Helmuth Plessner, a. a. O., S. 42–57.

242 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

Buytendijk schrieb auch ein Buch über ›Die Frau. Natur – Er-
scheinung – Dasein‹ 39 , also eine – auch vor dem Hintergrund von
S. de Beauvoirs existenz-historischem Werk ›Le deuxième sexe‹
(1949) verfasste – Studie über die Unterschiede der Geschlechter, de-
ren methodisch »phänomenologisch-anthropologischen« Charakter
V. E. v. Gebsattel in seinem Vorwort hervorhob. Um »das Verhältnis
der Frau zum eigenen Körper« zu klären, greift Buytendijk »auf den
Grundsatz der philosophischen Anthropologie zurück, dass der
Mensch nie, wie das Tier, ›natürlich‹ ist. Der Mensch deckt sich nie
mit dem, was er von Natur ist: diesem Körper.« Und im expliziten
Rückbezug auf Plessners ›Stufen des Organischen‹ und ›Zur Anthro-
pologie des Schauspielers‹ bemerkt Buytendijk über »das Verhältnis
des Menschen zum eigenen Körper«: »Das Zufällige des Körpers ist
zwar das Los, das er in der Lotterie des Lebens gezogen hat; es wird
aber sein eigenes Los erst durch die Art und Weise, wie es angenom-
men, von ihm selbst übernommen wird. Erst in dieser Stellungnah-
me ist der Mensch selbst gegenwärtig und nimmt er eine Stellung
anderen gegenüber ein, sieht sie an und weiß sich auch gesehen.«
Zum »biologisch-physiologischen Gesichtspunkt […] der Konstituti-
on des Körpers« tritt vermittelt über den »anthropologischen Ge-
sichtspunkt« »der Distanz des Menschen zu sich selbst« der »sozio-
logische Gesichtspunkt«: »Während er aber den eigenen Körper mit
allem, was dazu gehört, […] als Teil der Situation annimmt, die sein
Dasein umschließt, konstituiert er sich zugleich immer als Glied
einer bestimmten Gruppe.« Insofern »ist das Verhältnis zum eigenen
Leib durch den Blick des Anderen bedingt, durch den der Mensch, der
sich angeblickt – angesprochen, angerührt – weiß, auf sich selbst zu-
rückgeworfen wird und so in besonderer Weise die eigene Leiblich-
keit erlebt.« 40 »Wir werden darum bei der Frage nach dem Verhältnis
der Frau zum eigenen Körper vor allem von der Distanz des Men-
schen zu sich selbst ausgehen.« Und Buytendijk fährt fort: »Es ist
eines der zweifellosen Verdienste von Simone de Beauvoir, daß sie,
neben vielen ressentimenterfüllten Auslassungen, so nachdrücklich
darauf hingewiesen hat, daß die Frau den ›Zugriff‹ auf die Welt nur

39 F. J. J. Buytendijk, Die Frau. Natur, Erscheinung, Dasein, Köln 1953. – Bereits 1924
erwähnte Plessner Buytendijks Beschäftigung mit dem »Wesensunterschied von männ-
lich und weiblich«, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/Helmuth
Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 43.
40 F. J. J. Buytendijk, Die Frau, a. a. O., S. 269.

Philosophische Anthropologie A 243


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

unsicher vollzieht. Man kann es in einem gewissen Gegensatz zu


ihren Darlegungen vielleicht so formulieren, daß die Frau sich in
allen Formen der Bewegung nicht so sehr als ›greifend‹, sondern als
›gegriffen‹ oder als ›greifbar‹ erfährt, wobei wir die Worte ›gegriffen‹
oder ›greifbar‹ so formal wie möglich nehmen müssen.« Das Schwan-
gerschaftspotential des Körpers der Frau, der Zyklus, der ganze Be-
reich von Empfängnis, Austragen, Geburt und Nähren bildet dabei
den Hintergrund. »Das bedeutet also, daß sie ihren Leib als das hat,
›bei dem‹ sie genommen werden kann oder genommen wird.« Diese
Möglichkeit des »Genommenwerdens«, »diese Position bildet sich
größtenteils auf Grund der Erziehung und unter dem Druck traditio-
neller Ansichten, ist zum Teil aber auch durch die weibliche Konsti-
tution bedingt, die die Frau einlädt, ihrem Leib eine andere Bedeu-
tung zu geben, als der Mann tut.« 41 Plessner würdigt gerade an
diesem Buch Buytendijks Verfahren der »Verschränkung beider
Wirklichkeiten«, die »Verbindung und Entgegensetzung physiologi-
scher und psychologischer Betrachtung« und liest das Buch vor den
Augen der Kritiker: »Im Zeitalter der Gleichberechtigung wittern
ihre Vorkämpfer […] hinter der These von der Andersartigkeit und
spezifischen Wesensnatur der Geschlechter den reaktionären An-
spruch des Mannes, seiner uralte Vorherrschaft auch in der indus-
triellen Gesellschaft aufrecht zu erhalten.« »Es wäre an der Zeit«,
sagt er, »diesen Kritikern mit einer Darstellung der Idole der Gleich-
berechtigung zu begegnen«, und fährt fort: »Mag an der These der
Sartreuse manches wahr, die Frau eine Erfindung des Mannes (und
der Mann eine Erfindung der Frau) sein, so dürfte das schöpferische
Widerspiel in seinem historisch-gesellschaftlichen Wechsel sein Sub-
strat und seine Grenze doch wohl an der schlichten Tatsache haben,
dass immer nur die Frauen Kinder kriegen.« Und er schließt: »Die
Variabilität der Daseinsauslegung in den geschichtlichen Gestaltun-
gen des Verhältnisses der Geschlechter zueinander ist von einer bio-
logischen Konstanz durchzogen und in sie verschränkt, die der Psy-
chologe zwar erfahren, aber mit den Mitteln seiner Wissenschaft
ebenso wenig sichtbar machen kann wie der Biologe, Historiker oder
Soziologe. Genau an dieser Frage meldet sich die philosophische An-
thropologie zu Wort.« 42

41Ebd., S. 276.
42H. Plessner, Unsere Begegnung, in: Rencontre/Encounter/Begegnung. Contributions
à une psychologie humaine dédiées au F. J. J. Buytendijk, Utrecht/Antwerpen 1957,

244 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

1958 erscheint ein Sammelband, der nicht nur Buytendijks die


Genese der Philosophischen Anthropologie befruchtenden Arbeiten
aus den 20er Jahren enthält, sondern seine eigentlich anthropologi-
schen Arbeiten zu den leiblichen Bewegungsformen des Menschen:
des Anblickens, der Gesten, des Lächelns, der Mitbewegung im Spiel,
der Nachahmung, des Tanzes. 43 Zugleich leistete Buytendijk Öffnun-
gen und weitere Anschlüsse des Ensembles der Philosophischen An-
thropologie. Während der Besatzungszeit und in der unmittelbaren
Nachkriegszeit hatte er sich verstärkt dem französischen und ame-
rikanischen Raum zugewandt, ohne die deutschen Kontakte aufzuge-
ben. So war es mit seine Leistung, die seit Anfang der 1930er Jahre
entstandenen anthropologischen Arbeiten des nach Amerika emi-
grierten Mediziners Erwin Straus 44 in das Ensemble einzuholen.
Buytendijk richtete auch durch seine intensive Rezeption von Sartre,
aber vor allem der wahrnehmungs- und verhaltensphänomenologi-
schen Arbeiten von Merleau-Ponty 45 (Denkansatz vom Leib, vom
»corps propre« her), mit dem er ein dauerhaftes Verhältnis aufbaute,
dem Ansatz der Philosophischen Anthropologie Übergangsstellen zu
leibphänomenologischen Studien ein. Umgekehrt hatte Merleau-
Ponty den Aufsatz von Plessner und Buytendijk über ›Die physio-
logische Deutung des Verhaltens‹ (bei Pawlow) mit ihrer Gegenthese
von der »jedem Verhalten innewohnenden Verständlichkeit« bereits
systematisch für seine Theorie ausgewertet 46 und verfolgte zwischen

S. 331–338, hier S. 337. Buytendijk selbst hat diese philosophisch-anthropologische Be-


trachtung unterstrichen. »Im Zusammenleben der Tiere ist der Geschlechtsunterschied
ein artspezifisch bestimmtes Schicksal, dessen Bedeutung in der Umwelt nur eine gerin-
ge Variabilität zukommt. In der menschlichen Gesellschaft werden den leiblichen Un-
terschieden von Mann und Frau die mannigfaltigsten Bedeutungen und Werte zuge-
schrieben. Sie sind historisch bedingt, kein unausweichliches Schicksal.« Ders., Tier
und Mensch. Ein Beitrag zur vergleichenden Psychologie, Reinbek b. Hamburg 1958,
S. 72.
43 F. J. J. Buytendijk, Das Menschliche. Wege zu seinem Verständnis, Stuttgart 1958.

44 Erwin Straus, Geschehnis und Erlebnis, Berlin 1930 – Ders., Vom Sinn der Sinne,

Berlin 1935.
45 Vgl. F. J. J. Buytendijk, Mensch und Tier. Ein Beitrag zur vergleichenden Psychologie,

Hamburg 1958. – M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966.


(Buytendijk bezog sich auf M. Merleau-Ponty, Phénomenologie de la perception, Paris
1945, und ders., La structure du compartement, Paris 1942). Für Merleau-Ponty wichtig
auch K. Goldstein, Der Aufbau des Organismus. Einführung in die Biologie unter be-
sonderer Berücksichtigung der Erfahrungen am kranken Menschen, Den Haag 1934.
46 H. Plessner, Unsere Begegnung, in: Rencontre/Encounter/Begegnung. Contributions

à une psychologie humaine dédiées au F. J. J. Buytendijk, a. a. O., S. 333.

Philosophische Anthropologie A 245


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

1956 und 1960 in Vorlesungen unter den Titeln »Die Animalität, der
menschliche Leib, Übergang zur Kultur« in Auseinandersetzung mit
der deutschsprachigen Bioanthropologie (J. v. Uexküll, A. Portmann,
K. Lorenz) die Problematik des Verhältnisses von »Natur und Le-
benswelt«. 47
In diesem europäischen Bezugsfeld sich bewegend, legte Buy-
tendijk sein 1949 fertiggestelltes anthropologisches Hauptwerk 1956
auch auf deutsch vor: ›Allgemeine Theorie der menschlichen Hal-
tung und Bewegung‹, methodisch gearbeitet als »Verbindung und
Gegenüberstellung von physiologischer und psychologischer Be-
trachtungsweise«, wie der Untertitel bezeichnend lautet. 48 »Vom ers-
ten Atemzug des Neugeborenen und dem Weinen und Strampeln des
Wiegenkindes bis zur müden Gebärde des Greises und dem letzten
Atemzug des Sterbenden wechseln Haltung und Bewegungen mit-
einander ab.« Die Sonderstellung des menschlichen Verhaltens,
Schelers Postulat der psycho-physischen Neutralität des lebendigen
Körpers und die mit Plessner Mitte der 20er Jahre entwickelte Idee
von der »Umweltintentionalität des Leibes« ernstnehmend, versuch-
te er »dieses Stehen und Gehen, diese Aktionen und Reaktionen,
Handlungen, Ausdrucksbewegungen und Gebärden, die Stellung
von Kopf, Rumpf und Gliedern, das Mienenspiel des Antlitzes, den
Bewegungsreichtum von Bein und Arm, Hand und Auge von einem
einheitlichen methodischen Gesichtspunkt« aus zu erfassen. 49 Dabei
bezog er neben Plessners Ausdrucksstudien zu Lachen und Weinen
vor allem auch V. v. Weizsäckers Gestaltkreislehre und E. Straus’
Studien zum Bewegungsraum ein, wie er durch das Zusammenspiel
von Bewegungen und Empfindungen konstituiert wird. Zwischen
den – physiologisch analysierten – natürlichen Prozessen und Funk-
tionen des Aufbaus und Abbaus von Erscheinungen des Körpers und
den – psychologisch zu erschließenden – Motiven, Erlebnissen und
Befindlichkeiten begleitender und abbrechender Art sieht Buyten-
dijks Verhaltenslehre den Menschen als sich zu sich, zur Objekt-
und Mitwelt verhaltenden Organismus: als Körperleib – stützend,
gehend, laufend, springend, greifend, sich kratzend, in reflektori-

47 M. Merleau-Ponty, Die Natur. Aufzeichnungen von Vorlesungen am College de


France 1956–1960, hrsg. u. m. Anmerkungen versehen v. D. Séglard, München 2000.
48 F. J. J. Buytendijk, Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung –

als Verbindung und Gegenüberstellung von physiologischer und psychologischer Be-


trachtungsweise, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1956.
49 Ebd., S. 1.

246 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

schen Bewegungen, in Haltungen und Ausdrucksbewegungen – bil-


det er ein intentionales Gefüge, das in der Welt erscheint. Umgekehrt
ruft die Welt als Objekt-Welt, als Mit-Welt den Leib in einem je
anderen Bedeutungsgefüge in ein je anderes Verhalten.
Gleichzeitig zu Buytendijk gelingt auch dem Mediziner und
Psychologen E. Straus diese Art von Durchführung der Philoso-
phischen Anthropologie. Paradigmatisch wird seine deutsch und
englisch erscheinende »anthropologische Studie« zur »aufrechten
Haltung«/»upright posture« 50 , mit der er sich in das diskursive En-
semble einschreibt. Straus beginnt methodisch mit dem kontrastiven
Tier/Mensch-Vergleich. Das vierfüßige Tier bewegt sich in der
Längsachse seines Leibes, und die in dieser Achse hinter dem Maul,
Schnabel, Rüssel gelegenen Augen leiten das Maul als den Zugang
zur Beute hin. Dabei erhebt es sich vom Boden, dem es doch nahe
und verhaftet bleibt. Der Schwerpunkt der Bewegung bleibt über
einer genügend weiten Positionsfläche in einem mehr oder weniger
gesicherten Gleichgewicht. Von seinem Bauplan her ist hingegen das
menschliche Lebewesen gattungsmäßig auf die aufrechte Haltung
disponiert, die zugleich im Akt des Sich-Aufrichtens die Leistung
des Einzelnen erfordert. Der Mensch blickt und bewegt sich senk-
recht zur Längsachse des Körpers. Die aufrechte Haltung löst den
Menschen vom Erdboden ab, gibt ihm Distanz zur Umwelt und lässt
ihn in der Entfernung vom Grunde zugleich eine Geborgenheit ver-
lieren, die er nur in der Schlafhaltung zurückgewinnt. Die Fortbewe-
gung ist ein »Gehen auf Kredit«, der Schwerpunkt liegt immer für
Momente über die eigene Position hinaus. Mit der aufrechten Hal-
tung verwandeln sich andere Körperfunktionen in Anthropina. Der
Kopf wird zum Haupt, vom Rumpf getragen, das Maul zum Mund
transformiert, gegenüber der Augenpartie zurückgenommen, ihr
untergeordnet, die nun im Blickstrahl die Dinge dort ›drüben‹ in der
Distanz herankommen lassen, aber auch dort sich selbst überlassen,
als »Sache« auf sich beruhen lassen kann. Die vorderen Extremitäten
gewinnen als Hände einen Spielraum, instrumentalisierbar als Sin-
nesorgan, Kontrollorgan, Kommunikationsorgan, Arbeitsorgan –

50 E. Straus, Die aufrechte Haltung. Eine anthropologische Studie (1949/1952), in:


Ders., Psychologie der menschlichen Welt. Gesammelte Schriften, Berlin/Göttingen/
Heidelberg 1960, S. 224–235. Vgl. auch E. Straus, Zum Sehen geboren, zum Schauen
bestellt. Betrachtungen zur ›aufrechten Haltung‹, in: Werden und Handeln, V. E. v. Geb-
sattel zum 80. Geburtstag, hrsg. v. E. Wiesenhütter, Stuttgart 1963, S. 44–73.

Philosophische Anthropologie A 247


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Werkzeug aller Werkzeuge. Der Mund hingegen wiederum, als Ar-


beitsorgan entlastet, gewinnt im Zusammenspiel mit anderen Kör-
perfunktionen die Möglichkeit des Sprechenkönnens. Durch die Auf-
richtung wird das menschliche Lebewesen eine vorwärts und
rückwärts, aufwärts und abwärts polarisierte Gestalt, vom Boden
wegstrebend, aber an einer schmalen Stelle an ihn gebunden, deshalb
vom Sinken, Fallen, Straucheln bedroht. Insofern dringt mit der auf-
rechten Haltung eine nie ganz zur Auflösung gebrachte Gegensätz-
lichkeit in alles menschliche Verhalten.
Zu dieser Anfang der 50er Jahre sich vollziehenden philo-
sophisch-anthropologischen Durchdringung der menschlichen Sen-
sorik und Motorik, die indirekt Motive der Plessnerschen Ästhesio-
logie vom Beginn der 20er Jahre aufgreift, gehört auch H. Jonas’
anthropologische Auszeichnung des Sehens als Ermöglichung des
Geistes: »The Nobility of the Sight«. 51 Die nicht auf Sprache rück-
führbare »Bild-Leistung« des menschlichen Sehens disponiert dem-
nach mit ihrer »Simultaneität der Darbietung« von Hinter- und Vor-
dergrund das menschliche Lebewesen zur Erfassung des Kontrasts
zwischen Unveränderbarem und Veränderbarem, mit ihrer »dyna-
mischen Neutralisation« zur Abhebung der Form vom Stoff und
mit der »Distanz« zur Vorstellung der Unendlichkeit. »So ging der
Geist, wohin das Sehen zeigte.«

Zur vielköpfigen Konsolidierung des Denkansatzes der Philosophi-


schen Anthropologie trugen in diesen Jahren neben Buytendijk und
Straus noch weitere Mediziner bei. Zwar kamen V. v. Weizsäcker und
die Psychiater V. E. v. Gebsattel, H. Bürger-Prinz oder L. Binswanger
nicht aus der Kernzone des Denkansatzes, aber sie hatten alle das
produktive Köln der 1920er Jahre touchiert und im Ringen um das
Projekt einer »medizinischen Anthropologie« bildete auch für sie der
grundbegriffliche Fonds der Philosophischen Anthropologie die phi-
losophischen Muster, die die Übergänge zwischen naturwissenschaft-
licher Medizin, Psychoanalyse, Psychosomatik, Phänomenologie und
Heideggerscher Daseinsanalyse vorzustellen vermochten. Das wird
deutlich an V. v. Weizsäcker, dem schon Schelers Impulse ermöglicht
hatten, zwischen einer naturwissenschaftlich objektivierenden Medi-

51 H. Jonas, Der Adel des Sehens. Eine Untersuchung zur Phänomenologie der Sinne
(engl. 1953/54), in: Ders., Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie,
a. a. O., S. 233–264.

248 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

zin, aus der er kam, und der Freudschen Psychoanalyse, von der er
fasziniert war, das Konzept einer ›medizinischen Anthropologie‹ zu
entwickeln, die entlang des Diktums seines Lehrers L. v. Krehl –
›Krankheiten als solche gibt es nicht, wir kennen nur kranke Men-
schen‹ – das Subjekt, den »kranken Menschen«, mit seinem biogra-
phischen Gewicht in die medizinische Biologie der »Krankheit« ein-
zuführen suchte. Seinen auf Schelers Einladung in der Kölner
Kantgesellschaft 1927 gehaltenen Vortrag ݆ber medizinische An-
thropologie‹, in dem er zum ersten Mal das Prinzip des Gestaltkreises
einführte, hatte Plessner im ›Philosophischen Anzeiger‹ veröffent-
licht. Seitdem gab es auch den Kontakt von Buytendijk zu v. Weizsä-
cker und seinem Heidelberger Kreis. Jetzt Anfang der 50er Jahre trat
er mit einer Vielzahl von Schriften in der Öffentlichkeit hervor, u. a.
mit ›Der kranke Mensch. Eine Einführung in die medizinische An-
thropologie‹ 52 . Im Konzept der »Biographischen Medizin« meint
»bios« gegenständlich biologisch das Leben und zugleich die in den
Erscheinungen zum Vorschein kommende Entwicklung dieses Le-
bens, einschließlich der versäumten Möglichkeiten, der verlorenen
Gelegenheiten und insgesamt als negative Bestimmungen wirkenden
Unterlassungen einer Lebensführung. Um dieses Konzept einer ›me-
dizinischen Anthropologie‹, in der der Kranke nicht nur als Objekt,
sondern auch als gestaltendes Subjekt seiner Krankheitsvorgänge
gilt, baute v. Weizsäcker mit einer jüngeren Generation wie P. Chris-
tian, H. Plügge, A. Mitscherlich, P. Vogel Heidelberg zu einem Zen-
trum der Psychosomatik aus.
Buytendijk war seit den 20er Jahren auch eng befreundet mit
dem Psychiater V. E. v. Gebsattel, der jetzt 1954 sein Hauptwerk vor-
legte: ›Prolegomena einer medizinischen Anthropologie‹. Ähnlich
wie für v. Weizsäcker war auch für v. Gebsattel Max Scheler und
dessen philosophisch-anthropologische Wendung im kontrastiven
Tier/Mensch-Vergleich der Schlüssel, um die Freudsche Psychoana-
lyse, die er gelernt hatte, mit existenzphilosophischer Hermeneutik
zu verbinden und beide an die biologische Medizin zurückzubinden:
»Denn der Mensch steckt nicht blind im Leib wie das Tier, sondern
sein Sich-Verhalten zum Leib, das Leibsein und Leibhaben, be-
stimmt, indem er ihn durchgeistigt, auch das Gesamtphänomen der
Krankheit als ein Kranksein. Auf dem Umweg über die Erkrankung

52 V. v. Weizsäcker, Der kranke Mensch. Eine Einführung in die medizinische Anthro-


pologie, Stuttgart 1951.

Philosophische Anthropologie A 249


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

des Leibes verhält sich der Mensch auf besondere Weise zu sich
selbst, und die Art dieses Verhältnisses geht in die Krankheit ein als
ein potenzierender oder depotenzierender Charakter.« 53 Ein solches
exzentrisch positioniertes Lebewesen ist der Gefährdung eines
Wechselspiels zwischen einer balancierenden Lebensführung und
apersonalen Mechanismen ausgesetzt, die sich in der körperlichen
Krankheit, in Neurosen, sexuellen Perversionen und der Sucht ab-
spalten. V. E. v. Gebsattel, dessen Hauptinteresse als Freiburger Pro-
fessor für medizinische Psychologie und Psychotherapie der Psycho-
pathologie galt, gründete Anfang der 50er Jahre zusammen mit dem
Weizsäcker-Schüler P. Christian und dem Rothacker-Schüler W. J.
Revers das ›Jahrbuch für Psychologie und Psychotherapie‹, das über
fast zwei Jahrzehnte das Organ dieser ›medizinischen Anthropologie‹
wurde. 54 Zu diesem Umkreis gehörte auch der Hamburger Psychiater
und Neurologe H. Bürger-Prinz, der mit V. E. v. Gebsattel eng hin-
sichtlich der Psychopathologie der Sexualität zusammenarbeitete.
Bürger-Prinz förderte wiederum den jungen Mediziner Hans Giese,
der in Frankfurt bei H. Lipps eine phänomenologisch-hermeneuti-
sche Variante der philosophischen Anthropologie studiert hatte und
sich zum führenden deutschen Sexualwissenschaftler der Nach-
kriegszeit entwickelte. Bürger-Prinz und Gebsattel beteiligten sich
an dem von H. Giese 1953 herausgegebenen ›Handbuch der medizi-
nischen Sexualforschung‹.55 Bürger-Prinz kam direkt aus der Origi-
nalkonstellation der Philosophischen Anthropologie der 20er Jahre:
»Denn neben Medizin hörte ich in Köln auch Philosophie, bei Max
Scheler, Nicolai Hartmann, Helmuth Plessner, und ich war nahe da-
ran, überhaupt aus der Medizin wieder auszuscheren, um ganz bei
der Philosophie zu bleiben.« 56 Durch den Kölner Psychiater und
Schelerschüler Kurt Schneider zur Psychiatrie überzeugt, wurde er
Privatdozent dieser Disziplin in Leipzig und stand in dieser Zeit nun
unter dem starken intellektuellen Eindruck von Gehlen, wie dieser
umgekehrt wesentliche Anregungen hinsichtlich der spezifischen

53 V. E. v. Gebsattel, Prolegomena einer medizinischen Anthropologie. Ausgewählte


Aufsätze, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1954, S. 5.
54 Von 1952–1960 ›Jahrbuch für Psychologie und Psychotherapie‹, ab dann bis 1970 mit

dem Zusatz ›medizinische Anthropologie‹, im Auftrag der Görres-Gesellschaft hrsg. v.


V. E. Freiherr v. Gebsattel, P. Christian und W. J. Revers.
55 H. Giese (Hrsg.), Die Sexualität des Menschen. Handbuch der medizinischen Sozial-

forschung, Stuttgart 1953.


56 H. Bürger-Prinz, Ein Psychiater berichtet, Hamburg 1971, S. 26.

250 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

Antriebskonstitution des Menschen seinem intellektuellem Psychia-


ter-Freund verdankte. Mit Schelsky zusammen, der in dem genann-
ten Band über ›Die Sexualität des Menschen‹ ebenfalls einen Beitrag
über ›Die sozialen Formen der sexuellen Beziehungen‹ verfasste, ver-
arbeitete Bürger-Prinz den philosophisch-anthropologischen Ansatz
zu einem Handbuchartikel über ›Sexualität‹. 57 In ihrer Monogra-
phien-Reihe ›Beiträge zur Sexualforschung‹, der damals wichtigsten
Publikationsreihe zu diesem Thema, gaben Bürger-Prinz und Giese
auch einen – bis dahin in der deutschen Rezeption zurückgehaltenen
– deutschen Erstdruck von Sartres ›Der Leib‹ heraus, »weil die Sexu-
alforschung, phänomenologisch betrieben, der modernen Existenz-
philosophie, insbesondere Sartre, wichtige Impulse verdankt.« 58

Durch Veröffentlichung seiner Aufsätze unter dem Titel ›Phänome-


nologische Anthropologie‹ 59 wurde schließlich gleichzeitig die erheb-
liche Übereinstimmung zwischen den Prämissen der Philosophischen
Anthropologie und dem prominenten Schweizer Psychiater Ludwig
Binswanger sichtbar. Obwohl dieser Pionier der anthropologischen
Richtung in der Psychiatrie seine Richtung selbst als ›daseinsana-
lytisch‹ kennzeichnete, war seine Anlehnung an die Philosophische
Anthropologie im Schlüsselaufsatz von 1936 deutlich geworden, wo
er gleichsam stellvertretend für die ›medizinische Anthropologie‹
›Freuds Auffassung des Menschen im Lichte der Anthropologie‹ 60
zu würdigen und kritisch einzuhegen unternahm. Überzeugend sei
Freud, wenn er im Hinblick auf die Psychopathologie des Menschen
gegen jeden idealistischen Ansatz den »homo natura« ernstnehme
im überwältigenden Faktum des »Trieblebens« und damit die Vitali-
tät oder Leiblichkeit als Basis der Desillusionierung methodisch ein-
setze. Doch bleibe das psycho-analytische Reduktionsverfahren,
dessen Freud sich als methodisches Mittel für die theoretische Kons-
truktion seiner Idee des Menschen bediente, »echt naturwissen-

57 H. Schelsky/H. Bürger-Prinz, Sexualität, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaf-


ten, Bd. 5, Göttingen 1956, S. 229–238.
58 J. P. Sartre, Der Leib. Ein Kapitel aus ›Das Sein und das Nichts‹ (Beiträge zur Sexual-

forschung, hrsg. v. H. Bürger-Prinz u. H. Giese, 9. Heft), Stuttgart 1956, S. 3.


59 L. Binswanger, Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Bd. 1: Zur phänomenologischen

Anthropologie, Bern 1947; Bd. 2: Zur Problematik der psychiatrischen Forschung und
zum Problem der Psychiatrie, Bern 1955.
60 L. Binswanger, Freuds Auffassung im Lichte der Anthropologie, in: Ders., Ausgwähl-

te Vorträge und Aufsätze, Bd. 1, a. a. O., S. 159–189.

Philosophische Anthropologie A 251


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

schaftlicher Geist« in dem Willen, »die Phänomene so rasch und so


gründlich wie möglich ihrer Phänomenalität [zu] entkleiden.« »Die
Wirklichkeit des Phänomenalen, ihre Eigenart und Eigengeschicht-
lichkeit, wird verschlungen von den ›angenommenen‹ Kräften, Stre-
bungen und den sie beherrschenden Gesetzen.« Wenn »Leiblichkeit
oder Vitalität« zur eigentlichen Motivbasis der Auslegung des Men-
schen werden, dann wird alles andere jetzt notwendigerweise ݆ber-
bau‹, nämlich ›Erdichtung‹ (Nietzsche), Sublimierung und Illusion
(Freud) oder Widersacher (Klages). »Wird dem Leibe mit seinen Be-
dürfnissen aber die Richterbefugnis zugesprochen über das Ganze
des Menschseins, so wird das Menschenbild ›vereinseitigt‹ und onto-
logisch verfälscht.« Dem hält Binswanger grundsätzlich entgegen:
Der Mensch sei nicht nur mechanische Notwendigkeit und Organi-
sation, »sondern sein Dasein ist überhaupt nur zu verstehen als In-
der-Welt-Sein, als Entwurf und Erschließung von Welt, wie es uns
Heidegger unwiderstehlich gezeigt hat.« Aber gerade weil Bins-
wanger von Freud wie von Nietzsche fasziniert ist und deren Einsicht
in das psychobiologische Triebgeschehen unter Führung der Sexuali-
tät halten will, bemüht er zu ihrer Einordnung nicht existenzphilo-
sophische, sondern durch Bezugnahme auf Schriften von K. Löwith,
E. Straus und Buytendijk/Plessner philosophisch-anthropologische
Argumentationen, so z. B. in der »anthropologischen Kritik« an der
»Lehre von der Sublimierung«: »Auch hier haben wir es mit einer
Vermischung zu tun, nämlich der unbestreitbaren Tatsache des
›Übergangs‹ einer Triebregung von einer niederen in eine höhere
Form, oder, wie man auch sagen kann, von dem Gerichtetsein auf
einen niederen Sinngehalt auf das Gerichtetsein auf einen höheren,
der Vermischung […] dieser Tatsache mit der Annahme einer ›Ent-
stehung‹ der höheren Formen mit den ihnen eigenen Sinngehalten
selbst aus den niederen.« Schelers Kritik an Freud ist hier deutlich
hörbar. Für Binswanger ist der Mensch also von Beginn an ein zu
seiner Natur stellungnehmendes Lebewesen, ein sie vorauswerfen-
des, sie in die Höhe werfendes Wesen, von dem der Satz gesagt wer-
den kann: »unser ›ganzes Kunststück‹ bestehe darin, ›das wir unsere
Existenz aufgeben, um zu existieren‹« (Goethe). Erst dieser Hiatus,
dieser Zwang zur »Ver-Wandlung« enthält aber auch die »›Bruch-
stellen im alltäglichen Lebenszusammenhang‹ (Löwith)«, die Mög-
lichkeiten der neurotischen und psychotischen Erkrankungen.
Innerhalb seines psychiatrischen Themenfokus einer Phänome-
nologie des Wahns handelt Binswanger 1949 ›Vom anthropologi-

252 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

schen Sinn der Verstiegenheit‹. 61 Faktisch unternimmt er dabei eine


psychopathologische Ausschöpfung der Kategorie der ›exzentrischen
Positionalität‹, die er zwar nicht eigens erwähnt, die ihm aber doch
vertraut ist aus seiner gründlichen Besprechung von ›Lachen und
Weinen‹. Binswanger leidet Plessner, dass dieser sich zu einem
»schweren Ausfall gegen die Existentialanalytik hinreißen läßt.« 62
Dennoch ist deutlich, dass Binswanger in seiner 1956 bündelnden
Studie ›Drei Formen mißglückten Daseins. Verstiegenheit, Verschro-
benheit, Manieriertheit‹ 63 das Wahnverhalten des Kranken als
immanente und konstitutive anthropologische Möglichkeit exzentri-
scher Position, mit ihrem immanenten Zwang zur aufrechten Hal-
tung, zur Sprache bringt. Nicht die pathologische Dysfunktion eines
»psychischen Apparates« bezeichnet das »Mißglücken des Daseins«,
sondern die anthropologische Disproportion des »Steigens in die Hö-
hen und Schreitens in die Weite«. Mißglücktes Dasein hat die ihm
eigene mögliche Höhe, von wo aus sie das Erfahrene sich anzueignen
vermag, nicht erstiegen, sondern hat sich verrannt, verstiegen oder
ist abgestürzt. »Verstiegenheit«, »Verschrobenheit« und »Manie-
riertheit« gehören zur Symptomgruppe innerhalb der Schizophrenie,
in Form des ideenflüchtigen Einfalls eines Manischen oder der bizar-
ren Geste, Redeweise oder Handlung eines Schizophrenen oder der
Phobie eines Neurotikers. Das »Drama der menschlichen Verstiegen-
heit« bedeutet, auf schmaler Basis ein hohes Gebäude errichten, hoch
hinauswollen, ohne das Leben auf festem Boden zu gründen und
ohne die Techniken des Steigens nach oben und unten zu üben. Das
»Drama des Querulanten« wiederum ist eine genuin menschliche
Möglichkeit, insofern einer »verschroben«, eigentümlich quer zum
üblichen Denken und Leben steht. Das Drama der »Manieriertheit«
ist insofern eine echt menschliche Möglichkeit, weil es hier aus Ver-
zweifelung und Verängstigung des Stellungnehmenmüssens zur
Flucht in die ›Manieren‹ des Sprechens und Verhaltens kommt, in
das wörtlich ›exzentrische‹, überspannte, gespreizte, affektierte, ge-
zierte Verhalten. »Verstiegenheit als strukturelle Verschiebung der

61 L. Binswanger, Vom anthropologischen Sinn der Verstiegenheit (1949), in: E. Straus/


J. Zutt (Hrsg.), Die Wahnwelten (Endogene Psychosen), Frankfurt a. M. 1963, S. 148–
154.
62 L. Binswanger, Besprechung: Plessner, Lachen und Weinen, in: Schweizer Archiv für

Neurologie und Psychiatrie, Jg. XLVIII (1941) S. 158–163.


63 L. Binswanger, Drei Formen mißglückten Daseins. Verstiegenheit, Verschrobenheit,

Manieriertheit, Tübingen 1956.

Philosophische Anthropologie A 253


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

anthropologischen Proportion« ist eine genuine Möglichkeit des


menschlichen Lebewesens, weil ihm als exzentrisch positioniertem
Wesen genuine Pathologien innewohnen.

In ganz anderer Hinsicht verschaffte Anfang der 50er Jahre Erich


Rothacker von seinem Bonner philosophischen Lehrstuhl aus der
Philosophischen Anthropologie Geltung. In Rothacker, der nie einem
Dilthey-Schülerkreis angehört hatte, war der Dilthey-Auftrag, Kul-
tur – und damit Kulturforschung – zu begründen, unmittelbar leben-
dig. Weder die wertphilosophische Kulturbegründung (Kulturen als
Spannung zwischen ewigen Werten und der Wirklichkeit; aber wa-
rum die Vielfalt der Kulturen?) noch die lebensphilosophische Kul-
turbegründung (die Vielfalt der Kulturen als schöpferischer Lebens-
ausdruck; aber warum Schöpfung?) wurden für Rothacker dem
Faktum der Kulturen gerecht. Motiviert durch die öffentliche Debat-
te um die Weltoffenheit/Umweltgebundenheit des Menschen auf
dem Philosophie-Kongress 1950 arbeitet er seine Begründung als ei-
ne philosophisch-anthropologische im nunmehr verdichteten Forum
des Denkansatzes plastischer und prägnanter denn je heraus und ver-
knüpft sie zudem mit Forschungsprogrammen in Richtung Kultur-
anthropologie. Im WS 1953/54 hält der inzwischen 65jährige ein be-
rühmt werdendes Kolleg über »Philosophische Anthropologie«,
durch das z. B. Jürgen Habermas, Karl-Otto Apel, Hermann Schmitz,
Otto Pöggeler mit der »Denk-›Schule‹« bekannt werden, also junge
Philosophen aus dem großen Schülerkreis Rothackers (und O. Be-
ckers), die seitdem auch mit Theoremen der Philosophischen An-
thropologie weiterdenken. Rothacker ist damit derjenige innerhalb
der Kerngruppe, der die Philosophische Anthropologie als Denk-
ansatz in der Philosophie bündelt und weiterreicht. Gerade auch
Schelers Ideenimpulse sind bei Rothacker in Bonn »noch oder wieder
neu lebendig«. 64 Über das Kolleg schreibt er ein Jahr später an Pless-
ner: »Im I. Buch meiner ›Anthropologie‹, das in Kolleg-Nachschrift
fertig ist, das ich aber erst nach dem II. Buch, an dem ich z. Zt. ar-
beite, veröffentlichen will, habe ich die ganze Problematik des Unter-
schieds von Mensch und Tier noch einmal aufgerollt.« 65 Rothacker

64 O. Pöggeler, Scheler und die heutigen anthropologischen Ansätze zur Metaphysik,


in: Heidelberger Jahrbücher, Jg. 33 (1989), S. 175–192, S. 176.
65 Rothacker an Plessner 2. 12. 1954, Nachlaß Rothacker, Briefwechsel Rothacker-Pless-

ner.

254 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

wird die Vorlesung, die als Mitschrift kursiert, erst zehn Jahre später
veröffentlichen, aber völlig unverändert, so überzeugt ist er von sei-
ner geschlossenen Darstellung. 66 Er bringt darin ein Doppeltes: Er
gibt eine Einführung in die »bekanntesten Anthropologien dieser
Dezennien«, die in der Differenz von Mensch und Tier die Sonder-
stellung des Menschen bestimmen: also Scheler, Gehlen, Portmann,
Klages, Plessner, Buytendijk, Wein, Straus, aber die Auseinanderset-
zungen mit diesem Ensemble, sagt er, »enthalten zugleich die Grund-
thesen meiner eigenen ›Lehre vom Menschen‹«. 67 Die Einführung in
die Philosophische Anthropologie konzentriert sich auf Scheler und
Gehlen, aber die eigene These: »Der Mensch ist umweltgebunden
und distanzfähig« ist in Auseinandersetzung mit Plessners Begriff
der exzentrischen Distanz gearbeitet. Rothacker kommt alles darauf
an, dass »Distanz« nicht allein als denkendes Transzendieren der an-
schaulichen Umwelt möglich ist, sondern dass Menschen im Bereich
des Anschauens selbst schon distanzieren können. Menschen können
bereits rational handeln und analysieren, weil sie in anschaulichen
Umwelten leben, innerhalb derer sie – z. B. in Metaphern – »An-
schauungsdistanz« einnehmen, d. h. innerhalb bedeutsamer Erleb-
nisinhalte diese »distanzieren«, so dass durch die Anschauung eine
»sich öffnende Welt« erscheint.
Seine Philosophische Anthropologie des notwendigen »Zurück-
fallens« aus der potentiellen Weltoffenheit des Menschen in die an-
schauungsdistanzierte Umweltgebundenheit je bestimmter Hinsich-
ten entfaltete Rothacker in diesen Jahren systematisch zu einer
›Genealogie des menschlichen Bewußtseins‹, seinem anthropologi-
schen Hauptwerk. 68 Rothackers Intuition kreiste darum, einen Be-
griff der Kultur zu begründen, der dem Faktum gerecht wird, dass
die vorwissenschaftliche Weise, das Leben als »Bewußtsein« zu voll-
ziehen, viel umfänglicher und fundamentaler ist als die wissenschaft-
liche Weise; dass es »Wissen« als Kennerschaft auch außerhalb der
Wissenschaften gibt, schlicht gesagt: dass der Mensch schon Hun-
derttausende von Jahren gelebt hatte, ehe er anfing, Wissenschaft
auszubilden. Die Frage nach dem Menschen war die Frage, warum
überhaupt Kultur ist. Kultur sollte nicht wiederum aus Kultur be-

66 E. Rothacker, Philosophische Anthropologie, Bonn 1964.


67 Ebd., S. VII.
68 E. Rothacker, Zur Genealogie des menschlichen Bewußtseins, Bonn 1966. Das Buch,

betreut von W. Perpeet, erscheint erst nach Rothackers Tod 1965.

Philosophische Anthropologie A 255


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

gründet werden, sondern von woanders her, aus einer nicht-kulturel-


len Größe, einer Größe, die voraussetzungsnotwendig ist, um Kultur
als zum Menschen zugehörig zu denken. Das kulturelle Universum
ist nicht denkbar ohne das natürliche, nicht-kulturelle Universum,
dem, was Scheler und Plessner »Kosmos« nannten. Rothacker fand
unter diesem Aspekt für die menschliche Gattung das Bild von »der
Vogelfamilie, die auf einem ihr unverständlichen Rücken eines auf
der Meeresoberfläche schwimmenden Seeungeheuers nistet, ohne
zu ahnen, dass dieser Riesenwal auch einmal tauchen könnte. Sie
nistet mit Behagen, wenn sie auf dem Rücken Boden findet und un-
terschlüpfen kann. Trifft sie dazwischen eine Meereswoge, so sinkt
sie in das Grab, aber andere nisten weiter in Freud und Leid.« Kultur
also ist, so die philosophisch-anthropologische Begründung, weil ein
wirklichkeitsgeöffnetes Lebewesen in seiner Not im »Kosmos« aus
ansichseiender Wirklichkeit als dem unverständlichem substanzhaf-
tem Stoff eine »Welt« erformen muss, einen verstehbaren öffent-
lichen »Lebensstil«. »Diese symbolischen Vögel richten sich ein, so
gut es geht, und erdeuten sich den Rücken des Seeungeheuers, so
weit es ihnen gelingt, als ihre Welt. Das Tragische ist, daß hier un-
erhörte Entdeckungen geistiger Höhenwege an dieses erträgliche
Vegetieren gebunden sind und mit dem ›bloßen Leben‹ zugleich zu-
grunde gehen. Wie jeder Archäologe und Philologe weiß.« 69
Diese Welten des vorwissenschaftlichen Bewusstseins enthalten
schon eine spezifische Sachlichkeit (»Satz der Sachlichkeit«), eine
spezifische Logizität (»Satz der Logizität«), werden aber wie alle
menschlichen Welten integriert durch sinnhafte Anschaulichkeit
(»Satz der Bedeutsamkeit«). Erformen kann sich die jeweilige »Welt«
aus der völlig unfasslichen »Wirklichkeit« nur kraft der spezifisch
menschlichen Anschauung und dem Erscheinen der Wirklichkeit in
dieser Anschauung. Die Anschauung – das menschliches Vermögen
der Bilder und Metaphern – als Voraussetzung jeder rationalen Dis-
tanzleistung ist die zentrale Idee der Rothackerschen Philosophi-
schen Anthropologie. Das vorwissenschaftliche Bewusstsein konsti-
tuiert kraft Anschauungsdistanz vor-rationale Welt = »Lebenswelt«.
Rothacker bevorzugt bewusst den vom späten Husserl verwendeten
Begriff der »Lebenswelt« vor Schelers Begriff der »natürlichen Welt-
ansicht«, in dem Wissen, dass diese späte phänomenologische Be-
griffswahl Husserls durch Scheler erkämpft war. Die Synthesisleis-

69 Ebd., S. 211.

256 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

tungen der Distanz innerhalb der Anschauung und der Sprache er-
möglichen erst die rationale Welt des Begriffs, ohne dass das mensch-
liche Lebewesen im »ex-zentrischen« Begriff je die »positionale« La-
ge der Anschauung verlassen kann. Zugleich mit dieser
Verschränkung von Anschauung und Begriff versucht Rothacker
eine Einhegung der Reichweite wissenschaftlicher Objektbestim-
mung, insofern er betont, dass durch die Verselbständigung der
Denk- und Begriffsebene mit ihrer Einengung des Welthaften auf
das Statische, Gegen-Ständliche, das Moment der Bewegung nicht
erfasst werde.
Rothacker verknüpfte die philosophisch-anthropologische Be-
gründung der Kultur seit den 50er Jahren umgekehrt mit der Siche-
rung der Philosophischen Anthropologie – einer »theoretischen
Konstruktion« – in einer »vergleichenden Menschheitswissenschaft«:
»Keine philosophische Anthropologie ohne die Basis einer allgemei-
nen vergleichenden Menschheitswissenschaft.« 70 Für diese »Idee
einer vergleichenden Menschheitswissenschaft« sah er als metho-
disches Ideal Goethes »Schema der Urpflanze«. Kern der »verglei-
chenden Menschheitswissenschaft« sollte sein, »daß alles mensch-
liche Sein aus einem gemeinmenschlichen Strukturstamm besteht,
der aber nicht lebensfähig wäre, wenn ihm nicht immer und not-
wendig ein variabler Index der Konkretheit anhafte. Woraus sich
zunächst das Problem ergibt: 1. vergleichend den Umfang des Ge-
meinsamen zu bestimmen. Sodann 2. für die konkreten Indices Va-
riabilitätsregeln zu entdecken. Genauso ist Goethes Urpflanze kons-
truiert. Blatthaftigkeit ist das Gemeinsame. Die Entfaltungen des
Blattes in dem restlos auszuschöpfenden Formenreichtum der Pflan-
zenwelt stellen den Inbegriff der mit Worte Index bezeichneten, bis
jetzt realisierten konkreten Variationen dar.« 71 »Sollte aber dieses
Schema des variabel sich entfaltenden Urphänomens, wie es für das
Verhältnis von Sprache und Sprachen so besonders plausibel ist,
nicht auch auf den Königsweg zu einer empirischen und vergleichen-
den Anthropologie führen? Dann entpuppte sich das ›Wesen‹ des

70 E. Rothacker, Vorfragen der philosophischen Anthropologie, in: Studium Generale,


Jg. 9 (1956), S. 339–343. – Dazu auch: W. Perpeet, Aufgaben und Ergebnisse der
Menschheitswissenschaft. Zum vorliegenden Werk E. Rothackers, in: Deutsche Viertel-
jahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 32 (1958), S. 174–215.
71 E. Rothacker, Vorfragen der philosophischen Anthropologie, a. a. O., S. 340 f.

Philosophische Anthropologie A 257


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Menschen als eine Regel von Variationen einer Konstante (vorerst


noch fraglichen Umfangs).« 72
Dieses Projekt einer ›Vergleichenden Menschenwissenschaft‹
führte Rothacker erneut – wie bereits Ende der 20er Jahre – konkret
zur Idee und intensiven Vorarbeit einer kulturwissenschaftlichen En-
zyklopädie als eines Archivs der »Hinsichten«, durch die historische
Phänomene situativ konstituiert wurden. Die ganze ›Genealogie des
menschlichen Bewußtseins‹ war ursprünglich als Einleitung zum ge-
planten »Wörterbuch kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe« kon-
zipiert. 73 Er dachte hier an Grundworte und Kernbegriffe wie »eidos«
oder »auctoritas«, die geschichtliche Welten aufschließen, weil die in
ihnen eingekapselten Haltungen ganze »Lebensstile« und »Kultu-
ren« – wie z. B. die griechische oder die römische – ermöglicht hatten.
Durch die anthropologische Fundierung in der »anschaulichen Abs-
traktion« galten ihm vor allem die Metaphern als Königsweg der
Kulturerschließung.
Rothackers gesamtes philosophisch-anthropologisches Projekt
einer »Kulturanthropologie« wurde durch Horkheimer und Adorno
äußerst kritisch beobachtet. Aus Anlass eines Rothackerbeitrages
›Probleme und Methoden der Kulturanthropologie‹ Anfang der 50er
Jahre verwarfen sie in Radio-Kommentaren allein schon den Diszip-
lin-Vorschlag: »Tatsächlich […] bedeutet der Versuch, die Kultur aus
dem Wesen des Menschen herauszuspinnen, den Verzicht darauf, sie
aus dem für die Menschen Wesentlichen zu begreifen, nämlich in
ihrem Verhältnis zu der Geschichte der Menschheit, ihren Kämpfen
und Leiden und der Funktion, die zum Guten und Schlechten Kultur
im Leben der Menschheit erfüllt«. 74 Rothackers Ansatz, den »Le-
bensstil«-Begriff zum Zentralbegriff der Vergesellschaftung zu ma-
chen, und sein Satz – »Die politische Geschichte handelt von den
Existenz- und Machtkämpfen der Gesellschaft, auch um ihrer Le-
bensstile willen« – war für Adorno »ein durch die plattesten Ideo-
logien des Kulturphilisters verwässerter Ästhetizismus« 75 , für Hork-

72 Ebd., S. 341.
73 E. Rothacker (Hrsg.), Archiv für Begriffsgeschichte. Bausteine zu einem historischen
Wörterbuch der Philosophie (Im Auftrag der Kommission für Philosophie der Aka-
demie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz), Bd. 1–10, Bonn 1955–1966.
74 Th. W. Adorno, ›Kulturanthropologie‹ (ca. 1951), in: Ders., Gesammelte Schriften,

Bd. 20.1, Vermischte Schriften I, hrsg. v. R. Tiedemann, Frankfurt a. M. 1997, S. 136.


75 Ebd., S. 139.

258 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

heimer – etwas maßvoller – »gemäßigter Ästhetizismus« 76 . »Bei


Rothacker aber läuft es nach alter idealistischer Manier darauf hi-
naus, dass dieser Stil, als ein geistiges Prinzip, die Wirklichkeit be-
stimmen soll. […] Von Lebensnot und realer Selbsterhaltung der
Gesellschaft ist nicht die Rede.« Horkheimers und Adornos entschei-
dender Einwand gegen die »Kulturanthropologie« aber war: Von den
Gebilden, »welche die Kultur ausmachen, ist ja keineswegs alles oder
auch nur das Entscheidende gleichsam frei im Menschenwesen ent-
sprungen, sondern das meiste unter dem Zwang von Verhältnissen,
die zwar menschlich sind, aber den Menschen gegenüber sich ver-
selbständigt haben und einen unmenschlichen, zwanghaften Aspekt
annehmen. Es ist erstaunlich, daß ein an der Geistesgeschichte gebil-
deter Mann wie Rothacker von Kultur redet, ohne sich an die seit
Fichte und Hegel, ja eigentlich seit Rousseau von der verantwort-
lichen Kulturkritik immer wieder hervorgehobenen Begriffe der Ent-
fremdung und Verdinglichung auch nur zu erinnern.« »Um Roth-
acker zu zitieren« – so erwähnt Plessner in einem anderen
Zusammenhang Mitte der 1950er Jahre Rothackers Antwort auf die-
se Kritik – »›Der Bildungsphilister des 19. Jahrhunderts hat dem Kri-
senphilister des 20. Jahrhunderts Platz gemacht‹.« 77

In den 50er Jahren ist die Philosophische Anthropologie ein viel-


köpfiger Denkansatz, deutlich identifizierbar in Textkorpus und
Personal, abgehoben von einer Disziplin philosophische Anthro-
pologie, deren Durchordnung er entscheidend motiviert, ohne mit
ihr zusammenzufallen. Zum Denkansatz rechnen in diesem Zeit-
raum noch jüngere Figuren wie Hermann Wein 78 , Michael Land-

76 M. Horkheimer, Korreferat zu Rothackers ›Probleme und Methoden der Kultur-


anthropologie‹ (1950), in: Ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. A. Schmidt/G. Schmid
Noerr, Bd. 13: Nachgelassenene Schriften 1949–1972, Frankfurt a. M. 1989, S. 18.
77 H. Plessner, Über einige Motive der Philosophischen Anthropologie, GS VIII, S. 128.

78 H. Wein vertrat zu Beginn der 50er Jahre in vielen Aufsätzen die Idee der Philoso-

phischen Anthropologie und suchte dann realistische Einsichten der Hegelschen Dialek-
tik als »Realdialektik« (unter Aneignung amerikanischer Diskurse) in Richtung der
Sprach- und Kulturanthropologie einerseits und der philosophischen Kosmologie ande-
rerseits fruchtbar zu machen. H. Wein, Das Problem des Relativismus. Philosophie im
Übergang zur Anthropologie, Berlin 1950. – Ders., Trends in Philosophical Anthropol-
ogy and Cultural Anthropology in postwar Germany, in: Philosophy of Science, Vol. 24
(1957), S.. 46–56. – Ders., Zugang zu philosophischer Kosmologie. Überlegungen zum
philosophischen Thema der Ordnung in nach-kantischer Sicht, München 1954. – Ders.,
Realdialektik. Von hegelscher Dialektik zu dialektischer Anthropologie, München 1957.

Philosophische Anthropologie A 259


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

mann 79 und Hans-Eduard Hengstenberg 80 , die als Trabanten des


Ansatzes und in der Ausarbeitung einzelner Motive den Echoraum
der Philosophischen Anthropologie vergrößern.
Systematisch bedeutsam ist auch die Präsenz von Karl Löwith,
dessen Schwerpunkt zwar bei philosophiegeschichtlichen Arbeiten
liegt, der aber doch – in Distanzierung seiner existenzphilosophi-
schen Herkunft und im Rückblick auf Nietzsche – in mehreren Auf-
sätzen seit Mitte der 1950er Jahre immer erneut den prinzipiellen
Ansatzpunkt der Philosophischen Anthropologie gegenüber der
Existenzphilosophie, aber auch einer hermeneutischen Philosophie
präzisiert: »daß der Mensch ein Weltphänomen und zugleich ein
existierendes ›In-der-Welt-sein‹ ist«. 81 »Das durch Nietzsche erneut
bedachte Verhältnis von Mensch und Tier wird in der neueren Biolo-
gie in bedeutender Weise wissenschaftlich erforscht«, wobei Löwith
ausdrücklich auf die Arbeiten von A. Portmann verweist. »Hinsicht-
lich seiner philosophischen Tragweite ist es jedoch«, schreibt er aus

– Ders., Philosophie als Erfahrungswissenschaft. Aufsätze zur philosophischen Anthro-


pologie und Sprachphilosophie, Den Haag 1965. – H. Wein, der lange Jahre einen Lehr-
auftrag für philosophische Anthropologie an der Göttinger Universität vertrat, blieb ein
Außenseiter in der Philosophie; vgl. J. Broekman/J. Knopf (Hrsg.), Konkrete Reflexion.
Festschrift für Hermann Wein zum 60. Geburtstag, Den Haag 1975, S. 234.
79 M. Landmann entwickelte neben seinen großen Übersichten zur Philosophie-

geschichte der philosophischen Anthropologie auch eigene Beiträge zur Kulturanthro-


pologie, angelehnt an Rothacker. M. Landmann, Von der Individualanthropologie zur
Kulturanthropologie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Jg. 9 (1955), abgedr.
in: Ders., Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur. Geschichts- und Sozial-
anthropologie, München/Basel 1961, S. 13–27. »Systematisch gehöre ich zur (deut-
schen, nicht mit der sich ebenfalls so nennenden amerikanischen Ethnologie zu ver-
wechselnden, wenn auch mit ihr sich überschneidenden) ›Kulturanthropologie‹, die ich
zugleich für die Grundlagendisziplin der Geisteswissenschaften halte. Sollte eine künf-
tige Philosophiegeschichte mich überhaupt nennen, so in einer Anmerkung zu Port-
mann, Rothacker und Gehlen.« M. Landmann, Materialien zur Selbstdarstellung (nach
einem Entwurf von 1967), in: K.-J. Grundner/P. Krausser/H. Weiss (Hrsg.), Der Mensch
als geschichtliches Wesen. Anthropologie und Historie. Mit einem Geleitwort von
H. Heimsoeth. Festschrift für Michael Landmann zum 60. Geburtstag am 16. 12. 1973,
Stuttgart 1974, S. 271.
80 H.-E. Hengstenberg war ein wegen des Todes Schelers 1928 nicht mehr zum Zuge

gekommener Doktorand Schelers, der in dessen Nachfolge philosophische Anthropolo-


gie als Ontologie der Person ausbaute. H.-E. Hengstenberg, Philosophische Anthropo-
logie, Stuttgart 1957. – Ders., Die Frage nach verbindlichen Aussagen in der gegenwär-
tigen philosophischen Anthropologie, in: R. Rocek/O. Schatz (Hrsg.), Philosophische
Anthropologie heute, München 1972, S. 65–83.
81 H. Plessner, Geleitwort, in: H. Braun/M. Riedel (Hrsg.), Natur und Geschichte. Karl

Löwith zum 70. Geburtstag, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1967, S. 8.

260 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

der Erfahrung vom Anfang der 1950er Jahre, »seit Plessner, ›Die Stu-
fen des Organischen und der Mensch‹ (1928), und Gehlen, ›Der
Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt‹ (1940), nicht
mehr erörtert worden und scheinbar belanglos geworden.« Und un-
ter dem Eindruck der philosophischen Dominanz der Existenzphi-
losophie konstatiert er: »Die Ansätze zu einer philosophischen An-
thropologie wurden durch Heideggers ontologische Analytik des
Daseins überholt. […] Die lebendige Welt, die Nietzsche mit großen
Opfern wieder entdeckte […] ist, ineins mit dem leibhaftigen Men-
schen, im Existentialismus wieder verloren gegangen. Der eigentlich
existierende Mensch will sich nicht von der Welt her verstehen.« 82
Den Doppelaspekt von »Welt und Menschenwelt«, von natürlicher
und geschichtlicher Welt, von Kosmos und Lebenswelt verteidigt Lö-
with auch gegen die historisch-hermeneutische Anthropologie: »Die
historischen Abwandlungen der vielfachen Interpretationen des
Menschseins, wie sie Groethuysens philosophische Anthropologie
[…] zur Darstellung bringt, beweisen nicht, dass sich die menschliche
Natur je wesentlich geändert hätte; sie verweisen nur auf einen Wan-
del im Selbstverständnis des Menschen.« 83 Kontrastiv zur Existenz-
philosophie und zur Hermeneutik stärkt Löwith den philosophisch-
anthropologischen Ansatzpunkt bei der ›Stellung des Menschen im
Kosmos‹ : »Um aber von der Natur des Menschen sprechen zu kön-
nen, muß man mindestens eine Ahnung von der Natur überhaupt
und als solcher haben. […] Und sofern der Mensch kein extramun-
danes Geschöpf und Ebenbild Gottes ist, bedarf die philosophische
Anthropologie der Kosmologie zu ihrer Begründung.« Das heißt sys-
tematisch: »exzentrische Betrachtung der Welt, worin der Mensch
kein Mittelpunkt ist und deren Umkreis nicht in der Umwelt des
Menschen zentriert ist.« 84 Denn alles, »was ist, ist von Natur aus da,
und diese Natur erscheint in allem, was ist, inbegriffen dem Phäno-
men, das wir Mensch nennen.« 85 Diese Beobachtung der Welt als
Natur »bedeutet nicht einen ›defizienten Modus‹ der praktischen
Umsicht oder gar ein bloßes ›Begaffen‹ des nur noch Vorhandenen

82 K. Löwith, Natur und Humanität des Menschen, in: K. Ziegler (Hrsg.), Wesen und
Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für H. Plessner, a. a. O., S. 279.
83 Ebd., S. 266.
84 K. Löwith, Welt und Menschenwelt (1960), in: Ders., Sämtliche Schriften, Bd. 1:

Mensch und Menschenwelt. Beiträge zur Anthropologie, hrsg. v. K. Stichweh, Stuttgart


1981, S. 295–328, hier S. 313.
85 K. Löwith, Natur und Humanität des Menschen, a. a. O., S. 264.

Philosophische Anthropologie A 261


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

und nicht mehr Zuhandenen.« 86 Sondern erst wer diesen »Kosmos-


charakter der Welt«, der Natur erblickt, kann die Frage nach der
Besonderheit des Menschen als Natur in der Natur auftauchen las-
sen. Seine eigenen Überlegungen, sagt Löwith, »beanspruchen nicht,
die Aufgabe, die sich Plessner vor dreißig Jahren gestellt hatte, wei-
terzuführen und neu in Angriff zu nehmen. Sie wollen nur die Frage
nach der Humanität des Menschen in die nach seiner Natur zurück-
stellen und auf diese Weise die menschliche Natur vom außer-
menschlichen Leben des Tieres abheben und abgrenzen.« 87 Im Unter-
schied zu Pflanzen und Tieren gehört der Mensch der natürlichen
Welt, zu der er gehört, »nicht fraglos« an. »Der Mensch befragt die
Welt und wird sich damit selber fraglich«. Aber »obgleich der
Mensch die ganze Welt und sich selbst in Frage stellen kann, ist und
bleibt er doch von Natur aus ein Geschöpf dieser fraglos gegebenen,
natürlichen Welt. Er ist ein verschwindender Organismus im Ganzen
des Universums und zugleich ein Organ, für welches es Welt gibt. Er
ist eine Natur, aber er hat sie als Mensch, und seine Natur ist darum
von Anfang an menschlich.« Erst jetzt ist die »Menschenwelt«, der
»mundus hominum«, »Weltentwurf«, »Weltorientierung«, die »ge-
schichtliche Welt« im Kosmos thematisch. »Wer aber fähig ist, von
aller Naturgegebenheit, auch seiner eigenen, Abstand zu nehmen, ist
nicht eindeutig eine Natur, sondern hat sie auf eine mehrdeutige
Weise – in den von Natur aus gesetzten Grenzen.« 88
Vom so gewonnenen Doppelaspekt Kosmos und Menschenwelt
geht Löwith auf eigene Weise die »menschlichen« Fassungen der Na-
turmomente durch – die »zeremonielle« Ernährung, die »mensch-
liche Sinnlichkeit […] voller Sinn« in der Begattung, in der Krank-
heit und im Sterben, das Verlautenlassen in Sprache und Schweigen,
die Umwandlung der organischen Selbstrückkoppelung in die »Frei-
heit zum Tode« einerseits und in das »Opfer des Lebens« anderer-
seits. Löwiths Sensorium bleibt dabei immer auf die Natur im Men-
schen, auf das Pathische der Positionalität gerichtet: »Die Natur ist
aber nicht nur natürlich, wenn sie wachsen und gedeihen läßt, son-
dern ebenso sehr, wenn sie zerstört, die Erde erbeben, das Meer tosen
und Vulkane ausbrechen läßt. Desgleichen gehören die heftigsten
Leidenschaften des Menschen nicht minder zu seiner Natur wie die

86 K. Löwith, Welt und Menschenwelt, a. a. O., S. 314.


87 K. Löwith, Natur und Humanität des Menschen, a. a. O., S. 280.
88 Ebd., S. 285.

262 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

regelmäßige Atmung, der Schlaf und das stille Wachstum«. Gerade


Schlaf und Traumwelt waren für Löwith ausgezeichnete Gegeben-
heiten für das »alltägliche Grundphänomen der Naturbestimmtheit
menschlichen Daseins.« 89 Theorieentscheidend war für ihn der Dop-
pelaspekt von »Welt und Menschenwelt«: die Natur zwingt und er-
möglicht, dass das menschliche Lebewesen auf Kultur hin »transzen-
diert«, aber durch die Kultur hindurch öffnet sich diesem Lebewesen
der Blick in die Natur, die ihn wie alles Leben trägt. Wir wissen, so
Löwith, in der »philosophischen Skepsis« um die Vermitteltheit der
Welt durch unseren Weltentwurf, »dass auch unsere Welt eben die
unsere ist, auch wenn wir sie noch so sehr durch Teleskope und Mi-
kroskope erweitern. Aber die Welt selbst ist niemals die ›unsere‹ oder
das Insgesamt menschlicher Perspektiven für sie. Wir können sie uns
zwar aneignen […]; sie selbst wird aber nie unser Eigentum, sondern
wir selbst gehören zu ihr, und zwar gerade auch dann, wenn wir sie
aneignend überschreiten und sie, umwillen unserer selbst, in unseren
Dienst stellen. […] Als das Ganze des Seienden überschreitet die
Welt ihrerseits alles tierische und menschliche Transzendieren.« 90

Vor diesem Fundus bereitgehaltener, bei verschiedenen Autoren ei-


genständig entfalteter Motive des Denkansatzes kommen nun Pless-
ner und Gehlen zum Zuge. Beide gelangen in den 50er Jahren zum
Höhepunkt ihrer Wirksamkeit, Plessner als der überlebende Pionier
des Ansatzes, Gehlen als der produktivste Sproß. Bei den Alpbacher
Hochschulwochen 1953 trafen sie aufeinander, ohne sich allerdings
zu begegnen. In der philosophischen Arbeitsgemeinschaft zum The-
ma ›Was ist der Mensch?‹ teilten sie sich die Leitung, jedoch sequen-
ziert; Gehlen leitete den ersten Abschnitt, und als Plessner als sein
Nachfolger in der Leitung ankommt, ist Gehlen schon nicht mehr da.
Das interessierte Publikum hatte den Vergleich. Gehlen fand lebhafte
Kritik mit seinen im biologischen und ethnologischen Feld durch-
gearbeiteten Ideen – seitens der Biologen und Ethnologen –, aber
eben auch starke Beachtung für provozierend »erregende Gedanken-
gänge« durch das Publikum insgesamt. Er verteidigte seinen pro-
grammatischen Begriff von Philosophischer Anthropologie als »em-

89 K. Löwith, Zur Frage einer philosophischen Anthropologie, in: Neue Anthropologie,


hrsg. v. H.-G. Gadamer/P. Vogler, Bd. 7: Philosophische Anthropologie. Zweiter Teil,
München 1975, S. 330–342, S. 338 f.
90 K. Löwith, Natur und Humanität des Menschen, a. a. O., S. 391 ff.

Philosophische Anthropologie A 263


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

pirischer Philosophie« bzw. einer »ebenfalls empirisch verfahrenden


Wissenschaft«: »Die philosophische Anthropologie setzt das Materi-
al der Einzelwissenschaften in Zusammenhang und kann so Begriffe
finden, die keine der Einzelwissenschaften aus sich heraus ent-
wickelt.« Damit war leicht nachvollziehbar, wie Gehlen den Grund-
satz einer »empirischen Philosophie« 91 verstanden wissen wollte:
Philosophie sollte die »großen Themen« (Mensch, Geschichte) im
Kontakt mit der Empirie, dem Material der Fachwissenschaften ent-
wickeln, aber die eigenartige, unhintergehbare Leistung der Philoso-
phie war dabei, durch ihre originäre Kategorienbildung den Kontakt
zwischen den verschiedenen Empirien, den voneinander abgegrenz-
ten Materien der Fachwissenschaften, herzustellen, eine Leistung, zu
der keine der Fachwissenschaften von sich aus in der Lage konnte.
Insofern war »empirische Philosophie« Gehlens Synonym für eine
»Philosophische Anthropologie«, die ja schon bei Scheler mit durch-
laufenden Kategorien der Philosophie die verschiedenen voneinander
abgegrenzten anthropologischen Empirien (Physisches, Biopsy-
chisches, Kulturelles) ins Verhältnis zueinander zu setzen suchte,
was diese von sich aus nicht konnten.
Plessner konnte seine These, dass »die Ausdrucksproblematik
[…] zentrale Bedeutung für die philosophische Anthropologie« hat,
vor allem an der Analyse der menschlichen Ausdrucksmonopole des
Lachens und Weinens demonstrieren – polemisch gewendet gegen
die Existenzphilosophie. Gegen deren einseitige Betonung der Ge-
schichtlichkeit der menschlichen Existenz müsse man die ständige
Verklammerung der Existenz mit der Naturhaftigkeit systematisch
mit berücksichtigen. Insgesamt trat Plessner vorsichtiger auf, vertei-
digte seinen Begriff von Philosophischer Anthropologie, die bei Be-
rücksichtigung aller Aspekte der menschlichen Erscheinung die
Übergänge von einem Aspekt zum anderen zu finden suche, aber
verantwortungsbewusst »die Aufstellung abschließender Struktur-
formeln« vermeide. 92

91 A. Gehlen, Einleitung zur Aufsatzsammlung ›Studien zur Anthropologie und Sozio-


logie‹ (1963), abgedr. in: A. Gehlen, Philosophische Anthropologie und Handlungslehre,
hrsg. v. K.-S. Rehberg, Frankfurt a. M. 1983, GA 4, S. 408.
92 R. Reinboth, ›Was ist der Mensch?‹ Alpbacher Hochschulwochen 1953, in: Zeitschrift

für philosophische Forschung, Jg. 8 (1954), S. 138–146.

264 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

Schon hier wird deutlich, dass Gehlen der Impulsgeber und damit der
überragende Autor der Philosophischen Anthropologie in dieser
Phase ihrer Bildungsgeschichte wird. Obwohl es ihn durch die Zeit-
läufte in die Speyerer Provinz verschlagen hatte, entfaltete er von
dieser postuniversitären Einrichtung der Verwaltungshochschule
aus konsequent seine Aktivitäten. Es motivierte ihn sichtlich, dass
er Rechtsreferendare, also eine künftige Verwaltungselite, zum The-
ma »Staat und Verwaltung« und darüber hinaus zu belehren hatte. 93
Mit seinen aus dem Hintergrund der Philosophischen Anthropologie
immer erneut im Kontakt mit den ›Empirien‹ vorgetragenen Inter-
ventionen beschäftigte er über die Hochschule hinaus ein weitge-
spanntes Publikum. Gehlen machte dabei nicht nur in Westdeutsch-
land Furore. Der junge Ostberliner marxistische Starphilosoph
Wolfgang Harich entdeckte 1949 Gehlens ›Der Mensch‹ und unter-
nahm 1952 eine ›Art Pilgerreise‹ nach Speyer, um mit Gehlen meh-
rere Tage eingehend dessen philosophische Anthropologie zu dis-
kutieren. 94 Den ersten Zugang zum Ansatz hatte Harich bereits
durch N. Hartmann, seinen bewunderten Lehrer, gefunden, bei dem
er Anfang der 40er Jahre in Berlin studiert hatte und dessen realisti-
sche Ontologie er mit dem dialektisch-historischen Marxismus für
vereinbar hielt. Neben dem von Harich geschätzten Gehlenschen
Junktim von Instinktschwäche und stabilisierender Institution war
ein entscheidender Koinzidenzpunkt zwischen ihnen der Zusammen-
hang zwischen anthropologischer Handlungstheorie und der marxis-
tischen Theorie der Arbeit, der auch von Gehlen im ausführlichen
Briefwechsel mit Harich – allerdings mit charakteristischer Differen-
zierung – gesehen wurde: »Was Sie nun zur Arbeit […] sagen: Kul-
turmilieu als die Zuchtwahl ausschaltend, Arbeit als Gruppenerschei-
nung, Arbeit als teleologische Struktur und Willen, als Askese
implizierend und als Vehikel zur Einsicht in die Naturgesetze (zu
diesem letzten Punkt habe ich gefunden, daß dabei zur Arbeit noch
die Kategorie Spiel dazutreten muß) – das alles gefällt mir gut und
ich könnte mich da weitgehend mit Ihnen einigen, einige Korrektu-
ren vorbehalten (Arbeit ist nämlich auch einsamer Prozess des Erfin-

93 H. Klages/H. Quaritsch, Vorwort, in: Dies. (Hrsg.), Zur geisteswissenschaftlichen


Bedeutung Arnold Gehlens, a. a. O., S. V–VII.
94 K.-S. Rehberg, Kommunistische und konservative Bejahung der Institutionen. Eine

Brief-Freundschaft, in: St. Dornuf/R. Pitsch (Hrsg.), Wolfgang Harich zum Gedächtnis.
Eine Gedenkschrift in zwei Bänden, München 1999, S. 440–486.

Philosophische Anthropologie A 265


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

dens).« 95 Auch schickte Harich Gehlens ›Der Mensch‹ nicht nur u. a.


seinem marxistischem Lehrer G. Lukács (»Nach meiner Meinung ist
dieses Buch die talentvollste Leistung, die ein bürgerlicher Philosoph
in unserer Zeit vollbracht hat« 96 ), der es in seiner Ästhetik verwen-
dete, sondern unterschied gegenüber allen Gesprächspartnern erläu-
ternd immer zwischen Gehlens ehemaligem politischem Nazitum
und seiner Philosophie, deren Kern davon keinen Gebrauch gemacht
habe. 97

Insgesamt erreichte Gehlen die empirische Sättigung seiner Beiträge,


die sie für das gebildete Publikum spannend machten, durch die Ein-
beziehung von ethnologischem und soziologischem Material, v. a.
aber durch die zunehmende Nähe zur Ethologie, der biologischen
Verhaltensforschung. Gehlen war beeindruckt durch die Beobach-
tungsschärfe und Ausdeutungskraft dieser neuen Forschungsrich-
tung. Umgekehrt verstanden Konrad Lorenz und seine Mitarbeiter
Gehlens ›Der Mensch‹ mit seiner Art der Herausarbeitung der Son-
derstellung des Menschen als echte Konkurrenz zu ihrem auf das
evolutionäre Kontinuum im Menschen achthabenden Projekt. Jeden-
falls stand Gehlen mit Lorenz und seinen Mitarbeitern seit ›Der
Mensch‹ von 1940 und dem Symposion von 1950 im intensiven Kon-
takt und begriff das erfahrungswissenschaftliche Material der Etho-
logie als Feld, in dem er seine Überlegungen zum Menschen be-
währen könne. 98 Allerdings führte Gehlens Bezugnahme auf die
Forschungen der Verhaltensforschung nicht etwa zu einer Wieder-

95 A. Gehlen an W. Harich 16. 3. 1952, zit. n. K.-S. Rehberg, a. a. O., S. 484. – L. Kofler,
Das Prinzip der Arbeit in der Marxschen und in der Gehlenschen Anthropologie, in:
Schmollers Jahrbuch Jg. 78 (1958), S. 71–86.
96 W. Harich an G. Lukács 20. 9. 1952, zit. n. K.-S. Rehberg, a. a. O., S. 441.

97 So auch noch in den 70er Jahren nach Gehlens Tod: »obwohl er damals Nazi war, und

nicht nur aus Opportunitätsgründen, sondern auch nationalistisch-konservativer Über-


zeugung, hat er faktisch in seinem Hauptwerk alle theoretischen Voraussetzungen des
Rassismus zerschlagen. Seine durch nichts zu bestechende wissenschaftliche Aufrichtig-
keit machte ihn da im eigenen politischen Lager zu einem unbequemen, widerborstigen
Nonkonformisten. Gegen jeglichen Biologismus ist das Werk sowieso gerichtet inso-
fern, als es den Menschen ja nicht als Instinktwesen gelten läßt, womit es auch ›die
blonde Bestie‹, die damals im Schwange war, von den Grundlagen her in Frage stellt.«
W. Harich, Die Extreme berühren sich. Gespräch zum Tod von Arnold Gehlen, in:
Frankfurter Rundschau 21. 2. 1976. Erst in den 80er Jahren entsteht eine deutliche Dis-
tanz Harichs von Gehlen, verbunden mit dem Vorwurf, dieser habe das Werk des Juden
Paul Alsberg plagiiert. Vgl. Rehberg, a. a. O., S. 467–473.
98 Vgl. auch: R. Karneth, Anthropo-Biologie und Biologie. Biologische Kategorien bei

266 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

holung von deren Thesen, sondern er achtete konsequent darauf, wie


er im prägnanten Material über Auslöser, Instinktkoordinationen
und Verhaltensschemata den anthropologischen Sprung herausholen
konnte, auf den es ihm ankam. So lag ihm in einem Aufsatz von 1950
›Über einige Kategorien des entlasteten, zumal des ästhetischen Ver-
haltens‹ 99 , der auch seine Applikation des Denkansatzes im Feld der
Ästhetik einleitete, daran, für das Problem der Ästhetik, genauer der
bildenden Kunst und des Phänomens des Ornaments, auf »das Aus-
löser-Phänomen aus der Tierpsychologie zurückzugreifen.« Dabei
drehte es sich nicht darum, für das ästhetische Gebiet eine biologisti-
sche »›Erklärung‹ eines ›nichts anderes, als […]‹« zu bieten, »sondern
um die hier in modellartiger Klarheit sich bietende Chance auszunüt-
zen, sowohl den Zusammenhang der Kategorien, als das Neueinset-
zen von Kategorien (Nicolai Hartmann) gerade auf unserem Gebiet
zu zeigen.« 100
Gehlen gibt sich beeindruckt von den berühmt gewordenen Ar-
beiten von Lorenz zur tierischen Instinktlehre und vor allem zu den
spezifisch farbauffallenden und formprägnanten »Auslösern«, die
eben bei je bestimmten Tieren angeborene und zentral koordinierte
Instinktbewegungen freisetzen. Alle diese »Auslöser« im Tierreich
zeichnen sich durch Unwahrscheinlichkeit der reinen Spektralfarbe,
symmetrischen Form, rhythmischen Bewegung (vor durchschnitt-
lich eher diffusem Hintergrund) und Einfachheit aus und reichten –
Lorenz stellt damit selbst ein biologisches Kontinuum zur Ästhetik
her – durch bis in die Empfindung des ›Schönen‹ beim Menschen.
Gehlen fährt fort, ganz charakteristisch die Wende zur Philosophi-
schen Anthropologie einleitend: »Die tiefe biologische Verwurzelung
des Schönen hat also Lorenz meisterhaft gesehen, doch den katego-
rialen ›Sprung‹ nicht markiert, der sich auf der Seite des Gegenstan-
des in der eigenartigen dynamischen Entmachtung zeigt, d. h. darin,
daß diese Reize bei uns ihre durchschlagende Enthemmungswirkung
auf ein physisches Verhalten verlieren« und »handlungsloses ästhe-
tisches Entzücken« erwecken. 101 Gehlen erklärt das Phänomen mit
einer spezifisch menschlichen Reduzierung des Instinktrepertoires,

Arnold Gehlen – im Licht der Biologie, insbesondere der vergleichenden Verhaltens-


forschung der Lorenz-Schule, Würzburg 1991.
99 A. Gehlen, Über einige Kategorien des entlasteten, zumal des ästhetischen Verhal-

tens, in: Ders., Studien zur Anthropologie und Soziologie, Neuwied 1963, S. 64–78.
100 Ebd., S. 65.

101 Ebd., S. 67.

Philosophische Anthropologie A 267


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

verbunden mit einer »Entdifferenzierung« der Sinnesorgane. Die


»Entlastung« der Sinnesorgane vom Instinktdienst führt zur spezi-
fisch menschlichen Konstellation: »Erhalten ist von der stammes-
geschichtlich uralten Auslöserwirkung ein offenbar funktionslos ge-
wordener, entmachteter Rest, der aber deswegen über die ganze
Breite des ›befreiten‹ optischen Feldes hinweg in unendlicher Man-
nigfaltigkeit sich öffnen kann.« Symmetrische, regelmäßige, spek-
tralfarbige Naturformen können von der menschlichen Phantasie zu
unendlich verschiedenen Gebilden erneut stilisiert werden. Der äs-
thetische Genuss dieses Lebenssubjekts lebt allerdings davon, dass
auf der Instinktseite ein entdifferenzierter Rest geblieben ist, der kei-
ne Handlung mehr aktiviert, aber als starkes Lustgefühl sich von den
stilisierten Auslösern gerne binden lässt. Damit ist der anthropologi-
sche Sprung im organischen Feld erreicht: »Die Endphase des Verhal-
tens kann sehr leicht das Lustgefühl selbst werden, nämlich die re-
flektierte, sich selbst im schönen Ding erlebende Lust. An genau
dieser Stelle setzt eine neue Kategorie ein, eine geistige: die der In-
version oder ›Umkehr‹ der Lebensrichtung.« 102 Ohne Gehlens Argu-
mentation hier weiter zu verfolgen, wird deutlich, was das Publikum
an Gehlen schätzte bzw. inwiefern das Publikum dieser Jahre durch
ihn hindurch Philosophische Anthropologie schätzen lernte: nicht
etwa durch die Verdoppelung der biologischen Verhaltensforschung
in seinen Schriften, sondern durch die Distanzleistung im provozie-
renden Material dieser Forschung zur Aufklärung verschiedenster
Felder menschlicher Lebensführung zu gelangen.

Seit 1950 wird der 46jährige aber nicht zuletzt auch deshalb das Zug-
pferd des Denkansatzes, weil er auffällig reibungsscharf dessen Lehr-
stücke gegen andere, gleichfalls Aufmerksamkeit beanspruchende,
Anthropologien ausarbeitet.
Das wird schon erkennbar im Aufsatz von 1952 mit dem pro-
grammatischen Titel: ›Die Geburt der Freiheit aus der Entfrem-
dung‹. 103 Er entdeckt eine Koinzidenz zwischen Existentialismus,
Marxismus und Psychoanalyse in der Idee der Wiedergewinnung
der unmittelbaren Subjektivität aus der »Entfremdung« und setzt
gegen die Koinzidenz dieser verschiedenen Denkrichtungen – drei

102Ebd., S. 69 f.
103A. Gehlen, Über die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung, in: Ders., Studien zur
Anthropologie und Soziologie, Neuwied 1963, S. 232–246.

268 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

auf einen Streich – die philosophisch-anthropologische Lehre: »der


Mensch kann zu sich und seinesgleichen ein dauerndes Verhältnis
nur indirekt festhalten, er muß sich auf einem Umwege, sich ent-
äußernd, wiederfinden«. 104 Das ist gar nicht so weit entfernt von
Plessners Formeln von 1924: »Der Mensch verallgemeinert und ob-
jektiviert sich durch eine Maske, hinter der er bis zu einem gewissen
Grade unsichtbar wird, ohne doch völlig als Person zu verschwin-
den« 105 oder dessen Formeln von der »indirekten Direktheit« bzw.
der »vermittelten Unmittelbarkeit« als anthropologischem Grund-
gesetz aus den ›Stufen‹. Ungewöhnlich aber ist Anfang der 50er Jahre
Gehlens Blick für den »roten Faden«, der von »Fichte über Marx zu
Freud« und E. Fromm und seinem ›Man for himself‹ (1947) läuft.
Was in Fichtes Idealismus zum ersten Mal entworfen ist: dass der
Mensch die »Freiheit« realisiert, indem er die Verfügungsgewalt
über die ihm entglittenen Produkte seiner eigenen Selbsttätigkeit
wiedererlangt, dadurch, dass er sich und die Dinge als Produkte
»setzt«, kehrt bei Feuerbach als Anwendung des Entfremdungssche-
mas auf die Theologie des Gottesglaubens und bei Marx auf die Öko-
nomie der Arbeitsteilung und Klassenschichtung wieder: jeweils
fremd gegenüberstehende, aus der Produktivität und dem Aufeinan-
derwirken der Menschen erzeugte Mächte, die den Menschen unter-
jochen, statt dass er sie beherrscht. Die Fichtesche Formel, so Gehlen,
sei schließlich weltpopulär geworden in Freud. Psychoanalytisch er-
scheinen die Träume, die Ticks, die unüberwindlichen Zwänge als
bewusstloses Produkt der Selbsttätigkeit des Ich, die sich ihm ent-
fremden und als Übermacht gegenübertreten, bis sie durch die Ana-
lyse bewusstgemacht, ihre Genesis und Entstehungsgeschichte nach-
vollzogen wird, so dass Freiheit und Verfügungsgewalt des Ichs über
seine eigenen neurotischen Nachtgeburten wiederhergestellt sind.
Bei Erich Fromms ›Man for himself‹ (1947), dem »modernen Stief-
bruder« von Fichtes ›Ich, das sich selbst setzt‹ 106 , meint Gehlen das
jakobinische Freiheitspathos gegen dieselben Gegner zu identifizie-
ren, die Marx hatte: der »›autoritäre Charakter‹ […] kann handeln im
Namen Gottes, der Vergangenheit oder der Pflicht, aber nicht im
Namen von sich selbst‹«; auch fühlt er sich nicht eins mit seinen
Kräften, die ihm »maskiert« und »entfremdet (alienated)« sind

104 Ebd., S. 245.


105 H. Plessner, Grenzen der Gemeinschaft, GS VI, S. 82.
106 A. Gehlen, Die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung, a. a. O., S. 245.

Philosophische Anthropologie A 269


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

(Fromm). 107 »Idealismus«, so Gehlen, »ist einer der tiefsten und am


schwersten aufzudeckenden Irrtümer und er besteht zuletzt in dem
Glauben, die Idealität, die allerdings im Menschen liegt, sei in der
unmittelbaren Subjektivität lebbar.« 108 »Das direkte Ausspielen der
Subjektivität ist daher immer falsch und es ist schließlich stets so, wie
im Verhältnis der Geschlechter: es läßt sich zwischen Mann und Frau
das leidenschaftlichste, reichste und belebendste Verhältnis direkt
und allein, als seelisches Pathos, nur unter allerseltensten Bedingun-
gen durchhalten, es läßt sich nicht darauf gründen. […] Das Verhält-
nis muß sich objektivieren, versachlichen, aus der Ausschließlichkeit
dieser Einzelnen heraus verallgemeinern, mit einem Worte: zur In-
stitution (der Ehe) entfremden, gerade wenn diese Menschen sich
nicht gegenseitig verlieren und fremd werden sollen.« Und Gehlen
schließt, als ob er Plessners soziale Distanzformen der Indirektheit,
der »Masken« und »Zeremonien« von 1924 anklingen ließe: »Und
die Institutionen wie Ehe, Eigentum, Kirche, Staat entfremden zwar
die Menschen von ihrer eigenen unmittelbaren Subjektivität, ihnen
eine durch die Ansprüche der Welt und der Geschichte hindurch-
gegangene höhere verleihend, aber sie schützen sie auch vor sich
selbst, für einen hohen und vergleichslosen seelischen Einsatz doch
Platz lassend, ohne ihn zu fordern.« 109
Gehlen, mit notorischem Hang zur empirischen Wirklichkeit,
bei voller Ausnutzung seiner philosophischen Schulung, mit Blick
für die gegnerischen Denkrichtungen, wird in diesen Jahren der kon-
sequent vorwärts arbeitende Autor der Philosophischen Anthropolo-
gie. Als Inhaber eines »Lehrstuhls für Soziologie und Psychologie«,
arbeitet er – typisch für das Personal der Philosophischen Anthro-
pologie – auf mehreren Gebieten gleichzeitig. Er bietet neben Vor-
lesungen zur Soziologie, über ›Kapitalismus und Sozialismus‹, über
›Gesellschaft und Technik‹, ›Bürokratie‹ und ›Soziologie im moder-
nen Staatsrecht‹, ›Verfassungspolitik‹ auch solche über ›Sozialpsy-
chologie‹, ›Öffentliche Meinung und Meinungsforschung‹, ›Persön-
lichkeitsforschung und Eignungsforschung‹. »Gehlen bot also in
Speyer das Lehrprogramm eines halben Dutzend Lehrstühle, übri-
gens auch in den Seminaren als Alleinunterhalter; besondere Auf-
merksamkeit genügte ihm als Seminarleistung der Hörer. Die Auf-

107 Zit. n. Gehlen, ebd., S. 243 f.


108 Ebd., S. 244.
109 Ebd., S. 245 f.

270 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

merksamkeit wurde ihm stets zuteil; in seinen Lehrveranstaltungen


sammelte sich die Creme der Referendare. Auch zog er pädagogisch
geschickt die Hörer auf die ihnen fremden Gebiete so hoch, daß sie
ihm gerade noch folgen konnten. Dazu trug seine eminente sprach-
liche Fähigkeit bei, die scheinbar mühelos auch im freien Vortrag die
Sätze wie mit dem Schnitzmesser zurichten ließ.« 110 Gehlen probier-
te seine Argumentationen aber nicht nur in Vorlesungen und Semi-
naren durch, sondern auch für ein weiteres Publikum in öffentlichen
Vorträgen, Rundfunkbeiträgen und Aufsätzen. Er wurde einer der
Hauptautoren der Zeitschrift ›Merkur‹. Dabei verdichtete er seine
Ideen, die solange variiert und stilistisch durchgearbeitet wurden,
bis sie in knapper und scharfer Formulierung als Gedankenmuster
in großen Hauptwerken montierbar wurden. 111

Gehlen gab Anfang der 1950er Jahre auch die Theorie der Technik
aus der Sicht der Philosophischen Anthropologie, wie sie bei Scheler
in der Einarbeitung des Pragmatismus, in Plessners Gesetz der »na-
türlichen Künstlichkeit« und vor allem bei Alsberg im Prinzip der
»Körperausschaltung« vorgedacht worden war. Gerade an Letzteren
knüpfte Gehlen bewusst an, wenn er als »eine der Hauptleistungen
der Technik die Ausschaltung des Organischen« kennzeichnete, die
»Ausschaltung menschlicher Organe oder organischer Bewegun-
gen.« 112 »Der Schlagstein in der Hand entlastet und überbietet zu-
gleich im Erfolg die schlagende Faust.« Neben den »Organersatz«
treten von vornherein »die Organentlastung und Organüberbie-
tung«: »der Wagen, das Reittier entlasten uns von der Gehbewegung
und überbieten weit deren Fähigkeit. Im Tragtier wird das Entlas-
tungsprinzip handgreiflich anschaulich. Das Flugzeug wieder ersetzt
uns die nichtgewachsenen Flügel und überbietet weit alle organische
Flugleistung.« 113 In seiner Konstellationsanalyse der Technik als ei-
nem Monopol des Menschen verknüpfte Gehlen mehrere Faktoren
der menschlichen Natur. Ein Bezugspunkt war das »Mängelwesen«,
»das aus Mangel an spezifischen Organen und Instinkten, sinnesarm,
waffenlos, nackt, embryonisch in seinem Habitus, instinktunsicher

110 H. Klages/H. Quaritsch, Vorwort, a. a. O., S. VI.


111 Zu dieser Arbeitsweise Gehlens K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers, in:
A. Gehlen, Philosophische Anthropologie und Handlungslehre, GA 7, S. 433.
112 A. Gehlen, Mensch und Technik (1953), GA 7, S. 142.

113 A. Gehlen, Die Technik in der Sichtweise der Anthropologie (1953), GA 6, S. 152.

Philosophische Anthropologie A 271


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

schon wegen der Innenmeldung seiner Antriebe, […] auf Handlung


gestellt, auf die intelligente Veränderung der beliebig vorgefundenen
Naturumstände« verwiesen ist – also auf Technik. Gehlen sah aber
als zweite Quelle auch die den Menschen auszeichnenden Organe
mit dem riskanten Vorteil ihrer unbegrenzten Generalisierung:
»Hände und Gehirn mögen als spezialisierte Organe des Menschen
angesprochen werden, aber sie sind es in anderem Sinn als die tieri-
schen: verwendungsvieldeutig, spezialisiert für unspezialisierte Auf-
gaben und Leistungen, gewachsen daher den unvorhersehbaren Pro-
blemen der offenen Welt.« Diese beiden Quellen: Organmangel und
Organvieldeutigkeit zog Gehlen zusammen: »Das Kunststück eines
so riskierten Wesens, sich am Leben zu erhalten, kann in der elemen-
taren Schicht nur in einer Überbietung und Kompensation seiner
Mängelausstattung bestehen, und wo wir früheste Kulturen aus-
graben, finden wir denn auch die lebensnotwendigen Werkzeuge,
die Faustkeile, Feuersteinmesser, Lanzenspitzen […], die Feuerspu-
ren.« 114 Aus der Sicht der Philosophischen Anthropologie legte Geh-
len Wert darauf, dass Menschen von Beginn an eine »technische
Existenz« führen (wie Max Bense das genannt hatte 115 ), »das Geist-
reiche, Konstruktive und Naturüberlegene in der Technik« liegt be-
reits in ihrem Ursprung. »Sie verfährt in ihren frühesten und spätes-
ten Werken erfinderisch und ohne Naturmodell« 116 – wie z. B. bereits
beim Messer aus Feuerstein: »Die scharfe Schneidekante, die der
Fortsetzung ihrer Richtung in gerader oder gekrümmter Richtung,
geführter Bewegung etwas zerteilt, hat kein Naturvorbild. Neben
das Zerteilen des natürlicherweise Verbundenen tritt das Verbinden
des natürlicherweise Getrennten: Knoten und Schnüre.« Zur »Tech-
nik des Organischen« zählt Gehlen auch die »Zähmung, vor allem
die Züchtung von Tieren ist eine echte Technik, die erst nach vielen
Experimenten gelingt.« Diese Prinzipien des Organersatzes, der Or-
ganentlastung und –überbietung, zunächst im leibnahen Bereich
nachvollziehbar, setzten sich nun nach außen fort, sie ergreifen tech-
nisch immer größere Bereiche des Organischen überhaupt (z. B. die
Ausschaltung des Holzes wie auch des Steines durch die Erfindung
der Metallverarbeitung) bis hin zur »Ausschaltung des Organischen

114 Ebd., S. 153.


115 M. Bense, Kybernetik oder Die Metatechnik der Maschine (1951), in: Ders., Aus-
gewählte Schriften, hrsg. v. E. Walther, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 1998, S. 429–446.
116 A. Gehlen, Technik in der Sicht der Anthropologie, GA 6, S. 151.

272 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

überhaupt«: Holz und Stein werden durch Kunststoffe ersetzt, »Le-


der und Hanf durch Stahltrossen, Wachslicht durch Gas oder Elek-
trizität, natürliche Farbstoffe wie Purpur oder Indigo durch syntheti-
sche usw.« 117 In dieser Sicht erinnerte Gehlen daran, dass Technik
»stets den ihr auch heute eigenen gefährlichen Doppelsinn« hat, »sie
diente stets, um leben helfen und um sterben zu machen.« Schon
»der Faustkeil aus Feuerstein war ein unentbehrliches hammerarti-
ges Werkzeug, aber auch eine tödliche Waffe, es besteht da dieselbe
Zweideutigkeit wie noch heute bei Atomenergie, die friedlichen und
kriegerischen Zwecken zugeführt werden kann.« 118
Charakteristisch für Gehlens Sicht der Technik aus der Philoso-
phischen Anthropologie ist, dass er Ursprung und Moderne zusam-
mensehen kann. Dadurch entdeckt er einen weiteren die Technik er-
möglichenden Faktor in der menschlichen Natur, den er »Faszination
durch den Automatismus« nennt, der sowohl der uralten Magie wie
der modernen Naturwissenschaft und Technik zugrunde liegt: »Nach
unserer Auffassung ist die rationale Technik so alt wie die Magie und
sind beide so alt wie der Mensch, und die Technik ist in sehr langer
Entwicklung in den Raum hineingewachsen, den früher, als die Tech-
nik nur Werkzeugtechnik war, die Magie beherrschte […]. Die magi-
sche Formel war sozusagen das Werkzeug für räumliche und zeitliche
Distanzen.« Unabhängig vom Nutzen oder der Macht liegt die Fas-
zination von magisch kontrollierten oder technisch beherrschten
Vorgängen in der Resonanz auf den Automatismus: »Wenn wir […]
außer uns einen solchen sinnvollen Automatismus wahrnehmen« –
sei es den völlig rationalen, durchsichtigen Automatismus der Ma-
schine oder der Sinn bestünde »bloß in der rätselhaft genauen Repe-
tition wie beim Umschwung der Gestirne –, so schwingt etwas in uns
mit, gibt es eine Resonanz in uns, und wir verstehen begriffslos und
wortlos etwas von unserem eigenen Wesen.« Der sinnvolle, zweck-
hafte Automatismus außerhalb entspricht der spezifischen »Eigen-
konstitution« des Menschen, »angefangen von der zielbewussten Be-
wegung des Gehens bis hin zu habitualisierten, rhythmischen
Arbeitsgängen der Hand, die wir, aus uns heraus objektiviert, von
einer Maschine übernommen denken können.« 119

117 Ebd., S. 153.


118 A. Gehlen, Das Vorurteil gegen die Technik, GA 6, S. 165.
119 A. Gehlen, Die Technik aus der Sicht der Anthropologie, GA 6, S. 155 f.

Philosophische Anthropologie A 273


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Die Konstellationsanalyse der Technik – Organmangel und


Ausschaltung des Organischen, Organverwendungsvieldeutigkeit
von Hirn und Hand, das »Resonanzphänomen« des Automatismus
– ermöglichte Gehlen, Umbrüche in der menschlichen Technik-
geschichte mit der neolithischen Revolution des Überganges der Jä-
ger- und Sammlerkultur zur Sesshaftigkeit von Ackerbau und Vieh-
zucht bis hin zur modernen »Industriekultur« zu skizzieren, zum
»exzentrischen Prozess der modernen Technisierung«. »Jede Maschi-
ne, jedes Meß- und Beobachtungsgerät, jede elektrische Anlage ent-
hält natürlich einen Formelschatz, einen Vorrat wissenschaftlicher
Theorie und Erklärung. Und umgekehrt: die Naturforschung selbst
wird durch immer neue technische Hilfsmittel weitergetrieben, die
Natur technisch aufgebrochen.« Dieser »Zusammenhang von Wis-
senschaft, technischer Anwendung, Rückanwendung und industriel-
ler Auswertung ist längst selbst eine Superstruktur geworden« 120 , zu
einem »neuen, selbst technischen Komplex«, wie Gehlen konstatier-
te, womit er der Gegenwartsdiagnostik einer »Industriegesellschaft«
vorarbeitete. Der Mensch konnte also nach Gehlen von der Philoso-
phischen Anthropologie auch von der Technik her, auch in Analogie
zur Maschine beschreibbar werden, weil die Abgrenzungsbeschrei-
bung zum Tier ergab, dass er von Beginn an wegen seiner natürlichen
Körperkonstitution darauf verwiesen war, eine »technische Existenz«
(Bense) zu führen.

Dass sich Philosophische Anthropologie in diesen Jahren als ein cha-


rakteristischer Denkansatz innerhalb der Soziologie etablierte, lag
nicht nur an der Einschlägigkeit von Gehlen. 121 Es lag auch am Ver-
bund Gehlens mit Helmut Schelsky. Von Hamburg aus wurde Schel-
sky in diesen Jahren mit seiner zupackenden Realistik – ›Auf der Suche
nach Wirklichkeit‹ – zu einem der führenden Soziologen der Bundes-
republik. In seinen durch empirische Feldstudien gestützten kultur-
soziologisch-anthropologischen Studien zur westdeutschen Nach-
kriegs-Familie, zur modernen sozialen Schichtung, zur Sexualität 122

120 Ebd., S. 158.


121 Es erreichte bereits in der Auflage von 1959 35000 Exemplare; die 11. Auflage von
1976 wird bei 106. Tsd. liegen. Vgl. K.-S. Rehberg, Arnold-Gehlen-Bibliographie
(Teil I), in: H. Klages/H. Quaritsch (Hrsg.), Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung
von Arnold Gehlen, a. a. O., S. 916.
122 H. Schelsky, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düs-

seldorf/Köln 1957.

274 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

und zu Wandlungen der deutschen Jugend im 20. Jahrhundert sah sich


ein Leser immer wieder auf die Hintergrundannahmen »der neueren
deutschen philosophischen Anthropologie (Scheler, Plessner, Geh-
len)« 123 verwiesen, wobei Schelsky konkret vor allem auf die Gehlen-
schen Impulse rekurrierte und sie modifizierte.
Bedeutsam war vor allem seine empirisch-monographische Er-
hebung über das Leben und Schicksal der deutschen Familie der Ge-
genwart 124 , aus der er weitreichende Konsequenzen für die Diagnos-
tik der Gesellschaft zog. Schelsky ließ 167 Flüchtlingsfamilien (v. a.
im nordwestdeutschen Raum) untersuchen, indem soziologisch ge-
schulte Feldstudenten die Aufgabe erhielten, zusätzlich zur quantita-
tiven Erhebung mittels Fragebögen eine »langfristig intime Beobach-
tung« der Familien zu leisten, einzelne Familienmitglieder (auch in
offenen Interviews, Anregung zu Erlebnisbeschreibungen) zu befra-
gen und die damit insgesamt gewonnenen Einblicke in »rein be-
schreibenden Monographien« niederzulegen. In dieser (an der Sozio-
graphie orientierten) komplexen Methodik zeigte sich (das später
immer wieder anzutreffende) charakteristische Methodenverständ-
nis der philosophisch-anthropologisch inspirierten Soziologen; es
galt, durch eine selbstverständliche Kombination von (erst viel später
im Fach so genannten) quantitativen und qualitativen Methoden,
und innerhalb der letzteren noch einmal in einer bewussten Ver-
bindung von (phänomenologisch geschulter) Beobachtung und (her-
meneutisch reflektierter) dialogischer Befragung tief in die innere
Alltagswirklichkeit der Gesellschaft (in diesem Fall von deutschen
Nachkriegsfamilien) einzudringen. In der Auswertung dieses Beob-
achtungs- und Befragungsmaterials erkannte Schelsky die Familien-
verfassung der »Flüchtlingsfamilie«, die er mit den durch Ausbom-
bung, Evakuierung, Kriegsversehrung oder lange Gefangenschaft
deklassierten Familien zusammensah, als die fortgeschrittenste und
ausgeprägteste Form des Wandels der Familie – und der Gesellschaft.
Soziale Aufstiegsprozesse, die die bisherige Entwicklung der indus-
triellen Gesellschaft in ihrer sozialen Mobilität gekennzeichnet hät-
ten, würden nun gekreuzt von Abstiegserscheinungen in breitem
Umfang. Die Ausblicke seines Materials, so der Plessner-Schüler

123 H. Schelsky, Soziologie der Sexualität. Über die Beziehungen zwischen Geschlecht,

Moral und Gesellschaft, Hamburg 1955.


124 H. Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart (1953), 7. Aufl.

Stuttgart 1967.

Philosophische Anthropologie A 275


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Hans Paul Bahrdt in einer Besprechung, »führen Schelsky in den


schärfsten Gegensatz sowohl zu der herkömmlichen Familiensozio-
logie als auch zu den üblichen Deutungen der industriellen Gesell-
schaft«. 125 Entgegen der Erwartung, die Familie habe im Zuge der
modernen Entwicklung durch Industrialisierung und Bürokratisie-
rung Funktionsverluste erlitten und sei ein noch nicht angepasster
und daher gefährdeter Fremdkörper in der modernen Gesellschaft,
stellte Schelsky auf Grund seines Materials eine neuerliche Funk-
tionsanreicherung fest. Die Familie hat sich nach Schelsky, so Bahrdt,
als »haltbarste, weil ›transportabelste‹ Institution« erwiesen. Schel-
sky arbeitete hier zum ersten Mal mit dem Theorem »gegenläufiger
Prozesse« in der Moderne. Den Mobilisierungs- und Entwurzelungs-
vorgängen der hochkapitalistischen Gesellschaft, der damit ver-
knüpften Vermassung, Desorganisation der Familie und ihrer
Aufsplitterung in Individualitäten und Individualegoismen, den Ver-
innerlichungs- und Luxurierungstendenzen der gesellschaftlichen
Verhaltensweisen, stehen andere, nicht leicht fassbare Prozesse der
Stabilitätserhöhung der Familie durch Betonung des Institutionellen
und des Solidaritätswerts der kleinen Gruppe gegenüber. Mit dieser
Abschließung und Konsolidierung von Intimgruppen innerhalb der
Gesellschaft zersetzen sich zugleich vorhandene Standes- und Klas-
senstrukturen. Entgegen der marxistischen Erwartung zugespitzter
Klassenstrukturen industrieller Gesellschaften nivellieren sich Auf-
fassungen und Lebensformen auf einer »kleinbürgerlichmittel-
ständischen« Basis. Die für die Moderne kennzeichnenden gleichzei-
tigen Aufstiegs- und Abstiegsprozesse führen »zur Herausbildung
einer nivellierten kleinbürgerlich-mittelständischen Gesellschaft,
die ebenso wenig proletarisch wie bürgerlich ist, d. h. durch den Ver-
lust der Klassenspannung und sozialen Hierarchie gekennzeichnet
wird.« 126
Gehlen und Schelsky gaben 1955 auch gemeinsam ein soziolo-
gisches ›Lehr- und Handbuch zur modernen Gesellschaftskunde‹ he-
raus 127, das der junge Jürgen Habermas (der noch bei Hartmann ge-
hört und bei Rothacker in Bonn studiert hatte) als das »Come back

125 H. P. Bahrdt, Die Familie als Kampfgruppe, in: Frankfurter Hefte, Jg. 8 (1953),

S. 927.
126 H. Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie, a. a. O., S. 218.

127 A. Gehlen/H. Schelsky (Hrsg.), Soziologie. Ein Lehr- und Handbuch zur modernen

Gesellschaftskunde, Düsseldorf 1955.

276 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

der deutschen Soziologie« besprach. 128 Es präsentiere »Soziologie mit


Sachlichkeit und Autorität« – so Habermas – und informiere »über
den neuesten Stand der deutschen Soziologie, die während der Nazi-
zeit in Quarantäne gehen und alsdann mit starkem ›Nachholbedarf‹
wieder von vorne anfangen musste. Den Kern des Buches bilden die
fünf hauptsächlich an der westdeutschen Gesellschaft orientierten
Darstellungen bestimmter sozialer Bereiche: Familie (René König),
Industrie (Schelsky), Landwirtschaft (Herbert Kötter), Großstadt
(Elisabeth Pfeil), Staat und Recht (Otto Stammer).« »Aus diesem
engeren Rahmen«, so Habermas weiter, »fällt Gehlens einleitender
Beitrag über die Sozialstrukturen primitiver Gesellschaften heraus,
was ihn indes nicht minder faszinierend macht. Überhaupt erstaunt
es auf den ersten Blick, den Anthropologen Gehlen als Mitheraus-
geber eines soziologischen Handbuches zu sehen. Nun, er war nicht
nur Schelskys Lehrer, er ist es immer noch in dem symptomatischen
Sinne, daß sich die neueste deutsche Soziologie bewußt auf die von
der philosophischen Anthropologie erarbeitete und noch zu erarbei-
tende Grundlage stützt.« Wenn Gehlen die erstaunliche Stabilität
und Kontinuität »aus der raffinierten und meist hochdifferenzierten
Institutionalisierung der Geschlechts- und Familienverhältnisse er-
klärt, wird sogleich klar, daß ihm das soziologische Material nur zur
Herausarbeitung fundamentaler anthropologischer Kategorien
dient.« Die Analyse des Mädchentausches, der als Schlüsselfigur ›ak-
tiver Gegenseitigkeit‹ die Beziehung mehrerer Gruppen dauerhaft
regele, und des Totemismus, der den verstreuten Mitgliedern die Ein-
heit der Gruppe zu Bewußtsein bringen hilft, nehme einen Faden auf,
an»den Gehlen im Schlußkapitel seines wieder aufgelegten Haupt-
werkes (Bonn 1950) angeknüpft hatte.« 129

Plessners Bedeutung für die Bildungsgeschichte der Philosophischen


Anthropologie während der 50er Jahre steht im Schatten von Geh-
lens Präsenz. Das ist allein schon deutlich im Vergleich der Verfüg-
barkeit ihrer Werke. Während Gehlens Hauptwerk ›Der Mensch‹
1950 bereits in der 4. Auflage erscheint, bleiben Plessners ›Stufen‹
von 1928 vergriffen. Plessner wird auch keine neue Fassung der Phi-

128 J. Habermas, Come back der deutschen Soziologie. Besprechung von A. Gehlen/

H. Schelsky, ›Soziologie. Ein Lehr- und Handbuch zur modernen Gesellschaftskunde‹


u. W. Bernsdorf/F. Bülow, ›Wörterbuch der Soziologie‹, in: FAZ 23. 7. 1955.
129 Ebd.

Philosophische Anthropologie A 277


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

losophischen Anthropologie mehr schreiben, wie er es Ende der


Zwanziger und dann noch einmal nach 1945 vorhatte. Dennoch ist
sein Beitrag zur Konsolidierung des Denkansatzes von Beginn der
50er Jahre an wichtig und gewinnt, unter mehreren Herausforderun-
gen, Mitte und schließlich Ende der 50er Jahre noch einmal Prägnanz
für die Philosophische Anthropologie.
Kurz nachdem Plessner in Göttingen das Soziologische Seminar
aufzubauen begann, wurde er auch Mitarbeiter des 1951 wiederbe-
gründeten Instituts für Sozialforschung in Frankfurt. Für einen Mo-
ment sah es so aus, als käme es zu einem gemeinsamen Engagement
der Remigranten Horkheimer, Adorno und Plessner. Auf Vorschlag
Horkheimers sprang er – zusätzlich zu seinen Göttinger Verpflich-
tungen – ein Jahr lang die halbe Woche lang für Adorno ein 130 , der
um des Erhaltes seiner amerikanischen Staatsbürgerschaft willen
vorübergehend in die USA zurückkehren musste. 131 Im Versuch,
Plessner zur Stabilisierung ihres Instituts einzubinden, setzten
Horkheimer und Adorno auf die Tragfähigkeit des gemeinsamen
Emigrantenschicksals. Plessner umgekehrt war interessiert, sich für
eigene Projekte des Erfahrungsvorsprunges der Frankfurter hinsicht-
lich empirischer Sozialforschung zu versichern. »Wertvoll für den
Aufbau war mir die Vergleichsmöglichkeit mit dem Frankfurter In-
stitut für Sozialforschung«, schreibt er später. 132 Doch in der Koope-
ration wurden die intellektuellen Differenzen unübersehbar. Neben
Lehraufgaben war Plessner v. a. zuständig für die Betreuung der von
den Frankfurtern angesetzten sog. »Gruppenstudie« zur Ermittlung
des politischen Bewusstseins der westdeutschen Bevölkerung. Zu be-
stimmten Themen, die als verdeckte Schlüsselreize fungierten, soll-
ten die Probanden in »Gruppendiskussionen« gleichsam alltägliche
Meinungen und Einstellungen äußern, deren verborgene Tiefen-
struktur im nachhinein durch Analysanden v. a. mit Hilfe psychoana-
lytischer Einsichten entlarvt werden konnte. So gesehen erwies sich
das Diskussionsmaterial als durchsetzt mit Klischees, in denen Ab-
wehrmechanismen der Schuld und nationalsozialistische Ideologie

130 R. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Po-

litische Bedeutung, München/Wien 1986, S. 511.


131 M. Plessner, ›Ein Abend bei Adornos‹ und ›Gruppenbild mit Horkheimer‹ in: Dies.,

Die Argonauten auf Long Island. Begegnungen mit Hannah Arendt, Theodor W. Ador-
no, Gershom Scholem und anderen, Berlin 1995, S. 47–56 u. 57–72.
132 H. Plessner, Die ersten zehn Jahre Soziologie in Göttingen, in: Mens en maatschappij

Jg. 40 (1965), S. 448–455.

278 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

weiterwirkten, und als Symptom der historisch erzeugten »fortdau-


ernden anthropologischen Bedingungen« (Adorno) für die Anfällig-
keit für totalitäre Systeme. Hinsichtlich des psychoanalytischen Ent-
larvungsgestus kam es zu Differenzen zwischen Plessner und den
Frankfurtern. Letztlich gelang es Adorno und Horkheimer nicht,
Plessner inhaltlich einzubinden. 133 Das Verhältnis blieb von strategi-
schen Vorteilsüberlegungen bestimmt, und obwohl Plessner zu ihrer
Empörung in verschiedenster Hinsicht einen »Mangel an Solidari-
tät« 134 hatte erkennen lassen, zogen Adorno und Horkheimer ihre
Beiträge zur Plessner-Festschrift 1957 nur deshalb nicht zurück, weil
Plessner im Gutachterausschuss der DFG für Frankfurter Projekte
wichtig werden konnte. 135
Plessner vertiefte in den frühen 50er Jahren Motive der Philo-
sophischen Anthropologie und verknüpfte sie mit soziologischer
Blickdistanz auf die moderne Gesellschaft. Den Impuls seiner frühen
Ästhesiologie, im Menschen am Fall seiner Sinne, speziell des Sehens
und Hörens, »die spezifischen Bruch- und Nahtlinien aufzusuchen,
in denen das Ineinandergreifen naturhafter und geistiger Gefüge
stattfindet«, verankerte er unter dem Titel einer ›Verkörperungs-
funktion der Sinne‹ 136 in der Philosophischen Anthropologie. »Ist
[…] nämlich menschliche Motorik im Unterschied zur tierischen
durch ein ursprüngliches und im Grunde nicht ausgleichbares Miss-
verhältnis zu sich und seiner Sensorik ausgezeichnet, einem Verhält-
nis zu einem (Miß-)Verhältnis, und ruht seine geschichtliche Ent-
wicklungs- und Verfallsfähigkeit auf dieser seiner Eigentümlichkeit,
so ist damit die körperliche Existenz als ein Verhalten des Menschen
zu sich als Körper und zu seinem Körper, d. h. als Verkörperung be-
stimmt.« Im Handeln, in der Sprache und in der Gestaltung, in der
der Körper ein Verhalten zu ›ihm‹ und seinen Gegenständen ge-
winnt, »spielen die Sinne als Fern- und Nahsinne, als höhere, mit
133 Das Denken der Philosophischen Anthropologie war für sie »naturalistische Anthro-

pologie« entfremdeter Selbsterhaltung, wie Horkheimer in seinem Beitrag zur Plessner-


Festschrift betonte: M. Horkheimer, Zum Begriff des Menschen heute, in: K. Ziegler
(Hrsg.), Wesen und Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für Helmuth Plessner, Göt-
tingen 1957, S. 261–280. – R. Weiland, Das Gerücht über die Philosophische Anthro-
pologie: Über einen Blindfleck ›Kritischer Theorie‹, in: Ders. (Hrsg.), Philosophische
Anthropologie der Moderne, Weinheim 1995, S. 165–173.
134 Adorno an Horkheimer, 27. 2. 1957, Nachlaß Horkheimer.

135 Adorno an Horkheimer, 14. 3. 1957, Nachlaß Horkheimer.

136 H. Plessner, Die Verkörperungsfunktion der Sinne, in: Studium generale, Jg. 6

(1953), S. 410–416, S. 410.

Philosophische Anthropologie A 279


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

den animalen verknüpfte, und als niedere, mit den vegetativen Ver-
richtungen verknüpfte Modi der Verkörperung eine entscheidende
Rolle, die auch an der Grenze zu den Automatismen und unbewuß-
ten reflektorischen Vorgängen nicht ausgespielt hat«: in der Konsti-
tution z. B. »des Befindens und der Stimmung mit Hilfe kinästheti-
scher, haptisch-taktiler, gustatorisch-olfaktorischer und thermischer
Modi oder der Modi des Schmerzes, der Vibration und der Wollust.«
Die Aufgabe einer »Ästhesiologie des Leibes« sei es, »die spezifischen
Konkretisierungsmodi der Verleiblichung unseres eigenen Körpers
zu erkennen, eine Realisierung besonderer Art, von einerseits ele-
mentarer, andererseits kultivierbarer Bedeutung, die für kein Kul-
turmilieu als eine bloß biologische Angelegenheit abzutun ist.« Das
Feld reiche »von der schauspielerischen und tänzerischen Verkörpe-
rung bis zur verhüllend-enthüllenden Betonung durch Anzug und
Schmuck, von den Eß- und Trinksitten bis zu den Konzentrations-
techniken der Selbstbeherrschung und Entkörperung, vom simpels-
ten Spiel bis zum spezialisierten Sport«. 137
Charakteristisch für die von Plessner gleichzeitig entfaltete So-
ziologie der modernen Gesellschaft ist nun seine Diagnose des mo-
dernen Sports in der Industriegesellschaft. Er blickt systematisch auf
die Tendenzen heterogener, sich differenzierender, abstrakt werden-
der Vergesellschaftung, dabei das Augenmerk auf Phänomene len-
kend, die eine »Ausgleichsreaktion« darstellen, insofern in ihnen die
Moderne nicht überwunden, aber doch – ihre Strukturzüge wieder-
holend, spiegelnd – Menschen eine ›verkörperte‹ Lebenswelt einrich-
ten, um mit der Moderne fertig zu werden. Sein Augenmerk fällt auf
den modernen Sport, die moderne Geisteswissenschaft, die moderne
Malerei. Der Sport als Massenphänomen ist soziologisch gesehen
eine »Ausgleichsreaktion« des Menschen auf die moderne Lebens-
form, die ihn spezialisiert, abstrakt, anonym in Anspruch nimmt.
Der Sport ist in ihr, in der modernen Arbeitsgesellschaft – sie ist
seine Gegenwelt –, und er fungiert ihr gegenüber – er ist ihr Gegen-
bild. Moderne Industriegesellschaft impliziert auf Grund der Ar-
beitsteilung ein eingeschränktes Körpergefühl, auch auf Grund der
Mechanisierung und Monotonie der Arbeit, der Befriedung der Kon-
flikte durch das physischen Gewaltmonopol des Staates und durch die
zivilisierten Verkehrsformen; aber der Mensch will auch als leibhaf-
te, auch erregte Gesamtexistenz zur Geltung kommen. Moderne Ge-

137 Ebd., S. 415.

280 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

sellschaft impliziert auch als städtische Gesellschaft ein Unsichtbar-


werden des Einzelnen, die Anonymität, aber der Mensch will gese-
hen, anerkannt werden. Moderne Gesellschaft schließlich impliziert
auf Grund der Abstraktion und Verwissenschaftlichung der Lebens-
verhältnisse ein Unverständlichwerden durch Intellektualität, aber
der Mensch will durch Anschauung verstanden haben. Der Sport
nun – als Massenphänomen – ist eine der modernen Arbeitsgesell-
schaft gegenüberstehende, aber auf ihr basierende Zone des wett-
streitenden Spiels. Er gewährt eine »Re-sublimierung (das heißt Zu-
rückerstattung eines Maßes der dem Denken und der Arbeit
übermäßig zugeleiteten Triebenergien an den Leib und die Körper-
kultur in künstlich geregelter Form)«. 138 Zugleich gewährt er den
»direktesten Weg in die Öffentlichkeit«, in das Gesehenwerden, und
er macht Prozesse unmittelbar verständlich als sublimierte anschau-
liche Aggression. 139
Diese Denkfigur, dass die in der modernen-industriellen Gesell-
schaft geweckten, gezüchteten Motive, die zugleich durch die Struktur
an der Befriedigung gehemmt werden, in einer Ausgleichsreaktion
oder einer Kompensation einen Ausdruck finden, erkennt Plessner
auch in der Wissenschaft und Malerei. In den wissenschafts- und bil-
dungssoziologischen Studien, die einen Schwerpunkt von Plessners
soziologischen Aktivitäten 1953–1958 bilden 140 , kommt nicht nur
heraus, dass Wissenschaft mitsamt der Geisteswissenschaft eine Wie-
derholung, Spiegelung der modernen Industriegesellschaft wird –
»Wissenschaft wird zur Industrie« –, sondern dass die Geisteswissen-
schaften innerhalb des gesamten universitären Forschungsbetriebes
eine »Ausgleichsreaktion« darstellen: in ihnen wird nach der Reso-
nanz des ganzen Forschers verlangt, in ihnen hängt es vom jeweils
einsetzenden Entwurf des Forschers ab, was am methodisch gesicher-
ten Material neu zur Sprache, zur Sicht gebracht werden kann. 141
138 Plessner zitiert hier explizit M. Scheler, Resublimierung und Sport, (Geleitwort zu

der Dissertation von A. Peters, Psychologie des Sports, Leipzig 1927), GW 14, S. 419-
420.
139 H. Plessner, Soziologie des Sports. Stellung und Bedeutung des Sports in der moder-

nen Gesellschaft, in: Deutsche Universitätszeitung, Jg. 7 (1952), Nr. 22, S. 9-11, und
Nr. 23/24, S. 12-14. – Ders., Die Funktion des Sports in der industriellen Gesellschaft
(1956), GS X, S. 147–167.
140 H. Plessner (Hrsg.), Untersuchungen zur Lage der deutschen Hochschullehrer.

3 Bde., Göttingen 1956.


141 H. Plessner, Zur Lage der Geisteswissenschaften in der industriellen Gesellschaft

(1958), GS X, S. 167–178.

Philosophische Anthropologie A 281


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Als Plessner 1951 – 59jährig – in Göttingen die Professur für Sozio-


logie mit philosophischer Lehrberechtigung annahm, »fand er«, wie
der außenstehende Kenner Schelsky viel später sagen wird, »eine
ungewöhnlich hochbegabte Gruppe von jungen Sozialwissenschaft-
lern als Studenten vor, die sich dort aus […] den Flüchtlings- und
Rückzugsbewegungen des Kriegsendes zusammengefunden hat-
te.« 142 Richtig ist vermutlich die Begabtenkonzentration, richtig ge-
sehen auch die Umstände eines »Kreises von Studenten […], die als
Kriegsteilnehmer der letzten Stunde, als mittellose Flüchtlinge und
Vertriebene einen Ernst und eine menschliche Reife mitbrachten«. 143
Nicht richtig ist, dass Plessner diese Studenten als Sozialwissen-
schaftler vorfand. Vielmehr verwandelte sein Auftreten in Göt-
tingen, sein Übergang von der Philosophie zur Soziologie, seine
philosophisch-anthropologische Wendung zur Wirklichkeit diese
Studenten wie Popitz, vor allem aber Bahrdt, v. Krockow, v. Ferber,
v. Oertzen u. a., »die alle mehr oder weniger Philosophie studierten«,
in bundesrepublikanische Sozialwissenschaftler. 144
Exemplarisch sind bei Hans Paul Bahrdts Wendung von der Phi-
losophie zum Industriesoziologen die »Belehrungen durch Helmuth
Plessner« nachvollziehbar: »Einerseits waren wir damals – Ende der
vierziger Jahre – nicht ganz schlecht auf die Ankunft von Helmuth
Plessner vorbereitet. Von Philosophischer Anthropologie hatte man
schon etwas gehört, von Phänomenologie – dank Kurt Stavenhagen
und Nicolai Hartmann – schon etwas mehr. Den jungen Marx, vor
allem die erst damals in Deutschland einer breiteren Öffentlichkeit
zugänglichen Frühschriften, hatte man gerade zu studieren begon-
nen.« 145 Andererseits war es eben Plessners Auftritt, der dem Orien-
tierungsverlangen dieser bürgerlich-adligen Gruppe von Studenten

142 H. Schelsky, Die verschiedenen Weisen, wie man Demokrat sein kann. Erinnerung

an Hans Freyer, Helmuth Plessner und andere, in: Ders., Rückblicke eines ›Anti-Sozio-
logen‹, Opladen 1981, S. 139.
143 H. Plessner, Selbstdarstellung, GS X, S. 337.

144 H. v. Alemann, Interview mit Helmuth Plessner am 7. April 1981, Aufzeichnungen

(23 S.), Nachlaß Plessner, S. 3.


145 H. P. Bahrdt, Belehrungen durch Helmuth Plessner, in: Kölner Zeitschrift für Sozio-

logie und Sozialpsychologie, Jg. 34 (1982), S. 510. – Noch in den 1980er Jahren war es
Bahrdt im Zusammenhang eines Verweises auf Hartmanns ›Der Aufbau der realen
Welt‹ wichtig, zu erwähnen (was auch für Popitz galt): »Der Verfasser hat die Philoso-
phie N. Hartmanns vor allem in Vorlesungen und Seminaren als Student nach 1945 in
Göttingen kennengelernt.« H. P. Bahrdt, Grundformen sozialer Situationen. Eine kleine
Grammatik des Alltagslebens, hrsg. v. U. Herlyn, München 1996, S. 229.

282 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

den Pfad zu einer bestimmten Art der Wirklichkeitsvergewisserung


bahnte. Er vermittelte eine gewisse Skepsis gegenüber der Über-
erwartung an Philosophie in der deutschen Tradition mit ihrer faszi-
nierenden ›Tiefe‹, ›Eigentlichkeit‹ und ›Innerlichkeit‹ ; dafür entschä-
digte er mit einem offenen, nichts verwerfenden Blick auf die
modernen Lebensverhältnisse: nicht nur die großen brisanten Struk-
turen 146 , sondern z. B. auch das neue Verhältnis des Menschen zu
seinem Körper im Phänomen des Sports. 147 Methodisch lernten die
Studenten »durch seine Initiative empirische Arbeit, u. a. das müh-
same Geschäft der Befragung«, kennen, das er wiederum in Verbin-
dung hielt mit Beobachtung und phänomenologischer Vergewisse-
rung. Zugleich war in der Wende zur Soziologie Philosophie nicht
preisgegeben, sondern als Ort der Urteilskraft über die Einheit der
Aspekte im Menschen beibehalten.

So ist die bahnbrechende industriesoziologische Doppelstudie ›Tech-


nik und Industriearbeit‹ und ›Das Gesellschaftsbild des Arbeiters‹ 148 ,
an der 1953/54 mit Popitz und Bahrdt zwei dieser Göttinger Nach-
kriegsstudenten führend beteiligt waren, zwar keine Idee Plessners
gewesen und entstand auch nicht in Göttingen, aber die metho-
dischen und interpretativen Einstellungen der an ihr Beteiligten sind
erheblich durch ihn und in letzter Hinsicht durch die Philosophische
Anthropologie geprägt. Mit dieser soziologischen Studie schien den
beeindruckten Rezensenten öffentlich ein »Einbruch in jene terra in-
cognita gelungen, welche die gesellschaftliche Realität der heutigen
Arbeiterexistenz für uns heute vorstellt.« 149 Heinrich Popitz, der vor
Plessners Ankunft ebenfalls bei Hartmann in Göttingen Philosophie
studiert hatte, in dessen Seminar er auch Bahrdt kennenlernte, führte
diese Gruppe. In seiner Dissertation über die ›Zeitkritik und Ge-
schichtsphilosophie beim jungen Marx‹ hatte er entlang der Pariser
Manuskripte dessen Kategorie des »entfremdeten Menschen«‹ 150 in
146 H. Plessner, Der kalte Krieg, in: Göttinger Universitäts-Zeitung, Jg. 4 (1949), Nr. 17,

S. 1–3. – H. Plessner, Die Friedens-Chance. Hemmende Kräfte im Kalten Krieg, in: Göt-
tinger Universitäts-Zeitung, Jg. 4 (1949), Nr. 18, S. 5–6.
147 H. Plessner, Soziologie des Sports, a. a. O., in: Deutsche Universitätszeitung, Jg. 7

(1952), Nr. 22, S. 9–11und Nr. 23/24, S. 12–14.


148 H. Popitz/H. P. Bahrdt/E. A. Jüres/H. Kesting, Technik und Industriearbeit. Sozio-

logische Untersuchungen in der Hüttenindustrie, Tübingen 1957.


149 W. Rothe, Industriebetrieb und Gesellschaft, in: Soziale Welt, Jg. 8 (1958), S. 381.

150 H. Popitz, Der entfremdete Mensch. Zeitkritik und Geschichtsphilosophie beim jun-

gen Marx, Tübingen 1953 (Diss. in Basel bei K. Jaspers). Bahrdt und Popitz waren 1947/

Philosophische Anthropologie A 283


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

ihren idealistischen Ursprung aus Hegels »Philosophie der Arbeit«


mit ihrer spekulativen Kernfigur von Entäußerung und Aneignung
zurückverfolgt. Diesen idealistisch-marxistischen »Gedanken der
Selbstentfremdung«, der seit seiner materialistischen Wendung die
kritische Debatte über Technik und moderne Industriearbeit be-
herrschte, wollte Popitz im konkreten Feld »der technischen und
sozialen Bedingtheit der Arbeit in einem Großbetrieb« empirisch-
anschaulich prüfen. 151 Bahrdt, der bei Plessner über die Geschichts-
philosophie Herders zu Ende promoviert 152 und dabei »die Bezüge
Herders zur neueren philosophischen Anthropologie ausführlich
und wohl auch richtig behandelt hatte« 153 , kam zur Feldforschung
ins Ruhrgebiet mit. Ausgestattet waren die philosophischen Sozial-
forscher mit Geldern der durch die Rockefeller Foundation gegrün-
deten Sozialforschungsstelle Dortmund, die eine Reihe von Sozio-
logen aus dem ehemaligen Leipziger Kreis um Freyer (und Gehlen)
beschäftigte. 154 Man muss dabei erinnern, dass es bereits in der Phi-
losophie und Soziologie von Freyer früh (im Anschluss an Hegel,

48 für zwei Semester von Göttingen nach Heidelberg gegangen, weil sie der Meinung
waren, »wir müssten, vollgepfropft von der Philosophie Hartmanns, jetzt auch dessen
existentialistischen Feind Jaspers kennenlernen.« Popitz ging dann mit Jaspers nach Ba-
sel, wo er promovierte, Bahrdt kehrte zum Studium nach Göttingen zurück. (H. P.
Bahrdt, Selbst-Darstellung. Autobiographisches, in: Ders., Himmlische Planungsfehler.
Essays zu Kultur und Gesellschaft, hrsg. v. U. Herlyn, München 1996, S. 28). – Plessner
wird später an Rothacker einmal schreiben, wenn er Popitz für einen Lehrstuhl für
Soziologie empfiehlt: »Sie kennen wahrscheinlich seine feinsinnige Dissertation über
den jungen Marx und die Geschichte des Entfremdungsgedankens, die er bei Jaspers
gemacht hat.« Plessner an Rothacker 16. 6. 1961, Nachlaß Rothacker, Briefwechsel Roth-
acker-Plessner.
151 Popitz/Bahrdt/Jüres/Kesting, Technik und Industriearbeit, a. a. O., S. V.

152 Nach dem plötzlichen Tod von Bahrdts Doktorvater K. Stavenhagen, einem Phäno-

menologen, bei dem er diese philosophische Arbeit begonnen hatte, übernahm Plessner
die Betreuung. H. P. Bahrdt, Die Freiheit des Menschen in der Geschichte bei J. G. Her-
der, Diss. Göttingen 1952.– Bahrdt war übrigens auch einer der Berichterstatter über ein
Symposion auf dem Bremer Philosophie-Kongreß 1950; vgl. H. Plessner, Symphiloso-
phein, a. a. O., S. 360.
153 H. P. Bahrdt, Selbst-Darstellung, a. a. O., S. 36.
154 U. a. waren O. Neuloh, W. Brepohl, C. Jantke, G. Ipsen, H. Linde und E. Pfeil dort

beschäftigt. »Die Sozialforschungsstelle Dortmund eröffnete vielen Leipzigern und NS-


belasteten Soziologen erneute akademische Arbeitsmöglichkeiten.« K.-S. Rehberg,
Hans Freyer (1887-1969), a. a. O., S. 103. – Zu diesem Kreis um H. Freyer und A. Geh-
len auch E. Üner, Die Entzauberung der Soziologie. Skizzen zu Helmut Schelskys Ak-
tualisierung der ›Leipziger Schule‹, in: H. Baier (Hrsg.), Helmut Schelsky – ein Sozio-
loge in der Bundesrepublik. Eine Gedächtnisschrift von Freunden, Kollegen und
Schülern, Stuttgart 1986, S. 5–19.

284 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

Marx und Durkheim) einen ausgeprägten Sinn für die »Artefakte«


oder – genauer – »Sachen als profane Artefakte der Kategorie ›Ge-
rät‹« (im weitesten Sinn), für die technische Dimension einer Gesell-
schaft, für die Modifikation sozialer Verstellungen und Haltungen in
ihrer Sachvermitteltheit durch Werkzeuge, Apparate, Maschinen
und Automaten gab. 155 Gegen die Tendenz der Sachabstinenz der
Soziologie teilten Popitz und Bahrdt diese Aufgeschlossenheit der
Leipziger für Technik, für das Phänomen der »Sachdominanz in
Sozialstrukturen« 156 , ohne allerdings von vornherein einen »Sach-
zwang« zu unterstellen. Einmal in das ›heart of darkness‹ der
modernen deutschen Gesellschaft, in ihr wichtigstes Industrie(pro-
letariats)revier gelangt, waren die vier jungen Forscher in der Kon-
zeption ihres Forschungsprojektes frei. 157
»Was ist ein Arbeiter, der eine technische Industriearbeit aus-
führt, zu tun gezwungen? Welche Möglichkeiten des menschlichen
Verhaltens werden hier angesprochen und ausgebildet, in welchen
Grenzen und welcher Ausschließlichkeit?« 158 Die Frage nach dem
Klassenbewusstsein verwandelten sie in die nach dem »Gesellschafts-
bild« oder der »sozialen Topik« der Arbeiter. Trotz erster Ver-
trautheit mit empirischer Sozialforschung mehr Philosophen als
Soziologen, entwickelten sie gleichsam aus dem Rückhalt der Phi-
losophischen Anthropologie die für die Erschließung sozialer Realität
angemessenen Forschungswerkzeuge des Schauens und Hörens, der
Phänomenologie und der Hermeneutik. Um mit den Hüttenarbei-
tern vernünftige Interviews über ihre Arbeit, deren technische Ver-
änderung und die je eigene Verortung in der Gesellschaft führen zu
können, brauchten sie anschauliche Kenntnis der typischen Arbeits-
situationen. Um die Vollzüge einiger technischer Industriearbeiten
arbeitssoziologisch und anthropologisch verstehen zu lernen, be-
obachteten und beschrieben sie zunächst einzelne wiederkehrende
Arbeitssituationen der Arbeit als menschliches Verhalten bestimm-

155 H. Freyer, Theorie des objektiven Geistes. Eine Einleitung in die Kulturphilosophie,

Leipzig/Berlin 1923, S. 48 ff.


156 So später der einschlägige Titel bei H. Linde, Sachdominanz in Sozialstrukturen,

Tübingen 1972, der eine solche Soziologie der Artefakte diskutiert.


157 Die industriesoziologische Studie beruht auf Analysen einzelner Arbeitsvollzüge in

der Hüttenindustrie, Krupphütte Reinhausen. Die »Feldarbeit in den Hüttenwerken


wurde im März 1953 aufgenommen«. Popitz/Bahrdt/Jüres/Kesting, Technik und Indus-
triearbeit, a. a. O., S. V–VII.
158 Ebd., S. V.

Philosophische Anthropologie A 285


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

ten technischen Gegenständen gegenüber: ›Technik und Industrie-


arbeit‹. »Der erste Teil der Feldarbeit«, berichtete Bahrdt brieflich an
Plessner, »bestand aus Analysen verschiedener Arbeitsvollzüge […]
in mehreren Stadien. Es begann jedesmal mit einer objektivierenden
Beschreibung. Dabei ging es in erster Linie darum, dass wir wenigs-
tens notdürftig die technischen Zusammenhänge verstanden, und
ohne Ambition in methodischer Hinsicht, nur im Hinblick auf eine
Reihe von Gesichtspunkten, beschrieben, was die einzelnen Arbeiter
tun. Im einem zweiten Arbeitsgang versuchten wir im Hinblick auf
eine phänomenologische Typologie der Arbeitsvollzüge die Gege-
benheiten der Arbeit, der Akte, der Gegenständlichkeiten, der Situa-
tion in ihrer zeitlichen Struktur und im Horizont des jeweils Gleich-
zeitigen zu erfassen.« 159 Die Forscher unterschieden »Arbeit mit der
Maschine« (Habitualisierung) von der »Arbeit an der Maschine«, in
der sich der gesunde Menschenverstand zum technischen Verständ-
nis diszipliniert. Sie entdeckten, dass die Industriearbeit zumindest in
der eisenherstellenden Industrie von Tätigkeiten durchsetzt war, in
denen die Grenzen zwischen materieller und geistiger Arbeit ver-
wischt waren: von den Arbeitenden waren – bei aller Wiederholung
der Vollzüge – Entscheidungsvermögen, Geistesgegenwart, Feinner-
vigkeit und Geschicklichkeit, mitunter Eleganz gefordert, um dem
Leistungsanspruch der Arbeitssituation gerecht zu werden. Trotz
Grenzen des Zuganges »glaube ich«, so Bahrdt an Plessner weiter,
»dass wir einiges Grundsätzliche feststellen können darüber, was das
Verhältnis des Menschen zur modernen Technik betrifft. Zumindest
können wir die beiden Arbeitsmodelle des Essayisten, den Mann am
Fliessband und den Ingenieur, der alles, was er will, durch Verwissen-
schaftlichung machen kann, etwas an den Rand schieben. Gerade in
einem Hüttenwerk gibt es nicht nur sehr viele Erscheinungsformen
von Technik, sondern anthropologisch relevante Umgangsweisen mit
Technik ganz verschiedenster Art.« 160 Für die Beobachtung, Be-
schreibung und Auswertung war für diese bürgerlichen Soziologen,
denen die Hüttenindustrie fremd war, hilfreich, mit der Philosophi-
schen Anthropologie einen Denkansatz im Rücken zu haben, der
ihnen mit Kategorien wie »natürlicher Künstlichkeit« der mensch-
lichen Situation, dem Verhältnis des Menschen zu seinem Körper

159 Bahrdt an Plessner, 20. 1. 1954, S. 2; Archiv des Soziologischen Seminars Univ. Göt-

tingen.
160 Ebd.

286 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

als umweltgebundener-weltoffener Grundsituation, der »Verkörpe-


rungsfunktion der Sinne« 161 , dem »Entlastungscharakter« im Hand-
lungsvollzug Denkfiguren zur Verfügung hielt 162 , die ihnen erlaubte,
ihre Beobachtungen und Befragungen »im Niemandsland« zwischen
dem kritisch-materialistischem Theorem der »Entfremdung« indus-
triell-technischer Arbeit und dem funktionalistischem Theorem der
Anpassung durch »Psychotechnik« einzuordnen und auszuwerten.
Diese Blickführung half ihnen auch bei der Erfassung der »Sozialfor-
men«, die unter den jeweiligen technischen Bedingungen möglich
sind. So entdeckten sie, so Bahrdt in leicht polemischer Zuspitzung
an Plessner, »außer der berühmten ›Vereinsamung‹ des Arbeiters in
der Masse, die in der Fabrikhalle arbeitet, und der glorifizierten und
verharmlosten sozialen Gruppe der ›Human-Relations‹-Ideologie
eine ganze Reihe […] Zwischenformen mittlerer sozialer Intensi-
tät« 163 zwischen »gefügeartiger« und »teamartiger Kooperation«.
Ihre Forschung ging v. a. auf das durch den Zusammenhang tech-
nischer Anlagen bestimmte, durch den Herausforderungscharakter
der Artefakte sachdeterminierte »Arbeitsgefüge« als der typischen
»Kooperationseinheit« der Industriearbeiter. 164

Aber mit der Leitkategorie der »sozialen Bildwelt« bzw. des »Gesell-
schaftsbildes« stand der philosophisch-anthropologische Ansatz auch
im Hintergrund ihrer zweiten Aufgabe, der Ermittlung des »Gesell-
schaftsbildes«, ihrer – zur phänomenologisch geleiteten Beobachtung
komplementären – hermeneutischen Methodik der Befragung, in der
die interviewten Arbeiter ihre Meinungen und Einschätzungen zur
eigenen Arbeit, zum technischen Fortschritt, zu wirtschaftlichen Pro-

161 H. Plessner, Über die Verkörperungsfunktion der Sinne, in: Studium generale, Jg. 6

(1953), S. 410–416.
162 Bahrdt macht in dem von ihm verantworteten Abschnitt »Analyse der Arbeitssitua-

tion« bei der Beschreibung vom Arbeiten mit einer Maschine ausdrücklich Gebrauch
von Gehlens Begriff der »Entlastung«, in: Popitz/Bahrdt/Jüres/Kesting, Technik und
Industriearbeit, a. a. O., S. 114.
163 Bahrdt an Plessner, 20. 1. 1954, S. 3., a. a. O.

164 Der Freyer-Schüler H. Linde hat ausdrücklich dieses Resultat hervorgehoben: »Dass

soziale Vorstellungen und Attitüden durch spezifische Sachvorstellungen modifiziert


werden, haben Popitz, Bahrdt, Jüres und Kesting in ›Technik und Industriearbeit‹ […]
am Beispiel der mit den sachdeterminierten teamartigen oder gefügeartigen Koopera-
tionsformen unterschiedlichen Formen der Kollegialität, also der Verhaltenserwartun-
gen gegenüber den kooperierenden Arbeitskollegen, belegt.« H. Linde, Sachdominanz
in Sozialstrukturen, a. a. O., S. 61.

Philosophische Anthropologie A 287


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

blemen und der Mitbestimmung äußern sollten. Auf Grund ihrer


geisteswissenschaftlichen Vorbildung führten die Feldforscher ihre
Interviews – an Hand eines in zahllosen Kontakten vor Ort ausgetüf-
telten Fragebogens mit eigener Dramaturgie – als dynamische Ge-
spräche, mit »Freilauf-Fragen« und »Nachhak-Fragen«. Wichtig
nun für die Auswertung des Gehörten war die Annahme, dass sie in
dem Antwortmaterial auf Stereotype stoßen würden, allerdings nicht
im Sinne von bloßen »Vorurteilen« genommen, sondern im Sinne
von »Topoi« oder einer »sozialen Bildwelt«, in denen bestimmte »Er-
fahrungen der Arbeiterschaft als solcher« ihren Ausdruck fanden.
»Im weiteren Sinne gehören zur Topik auch die wiederkehrenden
Bilder, Figuren und Gestalten (exempla, imagines etc.)«, also die
»Metaphorik«. Die Anthropologie des orientierungsfunktionalen
Bildentwurfs entnahmen sie direkt der von E. R. Curtius systemati-
sierten antiken Topik-Lehre. »Daß ein Teil unserer Welt für uns da
ist, aber nicht durch unmittelbare Erfahrung da sein kann, ist ja
nichts Neues. Aber wir glauben nicht von vornherein«, schreibt
Bahrdt über die »soziale Bildwelt« an Plessner, »dass alles, was sich
in diese Lücke schiebt, Ideologie sein müsse.« 165 »Daher«, so Popitz in
der Studie, »erscheint es uns nicht zureichend, die Topoi als Vorein-
genommenheiten oder Vorurteile (prejudices) zu charakterisieren.
[…] Formal sind die Topoi natürlich Vorurteile, aber damit ist weder
über ihren Realitätsgehalt, noch über ihre Leistungsfähigkeit für die
Welt- und Umweltorientierung der Arbeiter entschieden.« 166 »Das
Wort ›Gesellschaftsbild‹ «, erläuterte Bahrdt später, »haben wir nicht
nur gewählt, weil wir einen Begriff brauchten, unter dem außer ra-
tional konstruierten Gedankengebäuden auch umfassende bildhafte
Vorstellungen erfaßt werden sollen, sondern auch: ›Gesellschaftsbild‹
umfaßte für uns auch das, wovon man sich nur ein Bild machen kann,
weil es an Erfahrung fehlt, und ein Bild machen muß, falls man ein
Bedürfnis dazu hat.« 167 Auf Grund des Materials ergab die »soziale
Topik der Arbeiterschaft« nun einerseits die durchgängige Figur des
eigenen Leistungsbewusstseins der Arbeiter (Arbeiterarbeit ist kör-
perlich, primär, produktiv) und andererseits ein auffällig »dichoto-

165 Ebd.
166 H. Popitz/H. P. Bahrdt/H. Kesting/H. Jüres, Das Gesellschaftsbild des Arbeiters. So-
ziologische Untersuchungen in der Hüttenindustrie, Tübingen 1957, S. 86.
167 H. P. Bahrdt, Das Gesellschaftsbild der Arbeiter. Ein Vortrag zur Entstehung dieser

Studie, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 14 (1985), S. 153.

288 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

misches Gesellschaftsbild«, in der sich die Arbeiter »unten« von de-


nen (das Kapital, die Unternehmer) »oben« absetzten. Innerhalb der
Typologie dieser sozialen Topik waren wiederum zwei Gruppen präg-
nant: die, die diese Dichotomie als unabwendbar resignativ hinnah-
men und allenfalls private Strategien verfolgten, und die, die unter
Aufrechterhaltung der Dichotomie auf ein Aushandeln des gerechten
Anteils setzten – zwischen Kapitalgebern und denen, die die Arbeit
geben. Ausgeprägtes Selbstbewusstsein (›auf unseren Knochen kön-
nen sie nur ihr Geld verdienen‹) verbanden sie mit der Bereitschaft
zu gerechter Zusammenarbeit. Gegen die zeitgenössische moderne
Betriebssoziologie der ›human relations‹ im Betrieb (Abbau der Dif-
ferenz durch harmonisierende ›Nettigkeit‹) bestätigte die Unter-
suchung einen realistischen Kern der marxistischen Klassenspal-
tungstheorie und ermittelte deren Erwartung eines revolutionären
Umwälzungspotentials zugleich als unwahrscheinlich.
Die Popitz/Bahrdt-Industriearbeiterstudie konnte als »in man-
cher Hinsicht überlegenes Gegenstück« zur gleichzeitig vom Institut
für Sozialforschung erarbeiteten ›Mannesmann-Studie‹ erscheinen,
in der Horkheimer und Adorno von professionellen Interviewern un-
ter Arbeitern das »Betriebsklima« erforschen ließen. Nicht nur die
spezifische Vorgehensweise – die konzentrierte Anschauung der Ar-
beitsplätze im »Feld«, die Hermeneutik der Gesprächsentwürfe und
-führung – führte die philosophischen Soziologen Popitz und Bahrdt
tiefer in die Sache hinein. Auch inhaltlich schienen ihre Unter-
suchungsergebnisse realistischer. Während die industriesoziologische
Studie der Frankfurter zwar in der Einleitung die Möglichkeit der
fortdauernden Gültigkeit der Klassentheorie offenhielt, in den Resul-
taten aber jede aktuelle Vorstellung der befragten Arbeiter über einen
Machtkampf zwischen Arbeit und Kapital oder ›unten‹ und ›oben‹
aussparte, »bildete in der Popitz-Untersuchung die umstandslose Ver-
werfung der Klassentheorie die Basis einer eingehenden Beschäfti-
gung mit den gesellschafts›theoretisch‹ relevanten Vorstellungen, Ar-
gumenten und Stereotypen der Arbeiter. Die Studie, die eröffnet
worden war von vier langen Zitaten der Berichte von vier Arbeitern
über ihre Arbeit, von vier O-Tönen gewissermaßen, mündete nach
ausführlichen qualitativen Analysen mit zahlreichen, höchst präg-
nanten Zitaten am Ende in eine differenzierte Typologie der Gesell-
schaftsbilder der befragten Arbeiter bzw. der Arbeiter anhand ihrer
Gesellschaftsbilder – eine beeindruckende und im Westdeutschland
der 50er Jahre einmalige empirisch fundierte Phänomenologie der

Philosophische Anthropologie A 289


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Reaktionsformen von Arbeitern auf ihre Daseinsbedingungen als Ar-


beiter, auf die ›condition ouvrière‹«. 168

1955 lud Schelsky in Absprache mit Plessner den »wissenschaftlichen


Nachwuchs für Soziologie an den norddeutschen Hochschulen« zu
einer Tagung nach Hamburg ein. Junge Gelehrte sollten die Ergeb-
nisse ihrer Untersuchungen einer größeren wissenschaftlichen Öf-
fentlichkeit vorlegen. Für die Göttinger und Hamburger Assistenten
von Plessner und Schelsky (Goldschmidt, v. Ferber; Kluth) und des
gerade verstorbenen Kieler Bevölkerungswissenschaftlers Macken-
roth (Bolte), war der Austausch ihrer Ergebnisse der Durchbruch
zur soziologischen Identität. Noch vor der Veröffentlichung gaben
Popitz und Bahrdt eine Skizze vom Gesellschaftsbild der Industrie-
arbeiter. Zuhörer der Tagung waren u. a. Ralf Dahrendorf, Dieter
Claessens und Jürgen Habermas, der von Frankfurt gekommen war
und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen respektvollen Ta-
gungsbericht veröffentlichte: ›Der Soziologen-Nachwuchs stellt sich
vor‹. Habermas, der kurz zuvor eine positive Besprechung von Pless-
ners Aufsatzband »Zwischen Philosophie und Gesellschaft« unter
dem Titel ›Mut und Nüchternheit‹ geschrieben hatte 169, war sich
nicht ganz sicher, wie er die unter Federführung von Plessner und
Schelsky in den Diskussionen der jungen Soziologen sich einspielen-
de Leidenschaft zur Sachlichkeit und die Enthaltsamkeit in welt-
anschaulichen Gegensätzen einschätzen sollte: »Sind die tatsäch-
lichen Entspannungen der gesellschaftlichen Lage und im
gegenwärtigen Bewußtsein lediglich Erschöpfungs- und Resigna-
tionseffekte, die einen harmonistischen Schleier über dahinschwe-
lende, gleichwohl ungelöste Konflikte breiten; oder sind das echte
Entspannungen, die uns in eine Art positive Restauration, in ein kon-
formistisches Verhältnis zu den Zwangslagen und Errungenschaften
des technischen Fortschritts wie der nunmehr verabschiedeten Auf-
klärung einpendeln? […] Eine stillschweigende Demonstration des
häufiger zitierten ›utopielosen Zeitalters‹ ? Oder praktizierten hier
junge Soziologen den von ihnen selbst leidenschaftlich und genau
analysierten ›Konkretismus‹, sozusagen auf höchstem Niveau? Wie

168 R. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Po-

litische Bedeutung, a. a. O., S. 548 f.


169 J. Habermas, Mut und Nüchternheit. Besprechung: H. Plessner, Zwischen Philo-

sophie und Gesellschaft, in: Frankfurter Hefte, Jg. 9 (1954), S. 702–704.

290 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Konsolidierung (1950–1955)

auch immer, mit Positivismus hatte die Enthaltsamkeit nichts zu


tun.« 170 Nicht positivistisch, aber auch nicht radikal gesellschaftskri-
tisch – »Für manche Beteiligte war dies die deutsche Geburtsstunde
der Soziologie«, wird sich Popitz später erinnern. Vor allem Schelsky
habe »vielen Jüngeren geholfen, in nächtelangen Diskussionen zu-
hörend und anregend.« 171 Ausgestattet mit einer philosophisch-an-
thropologischen Hintergrundtheorie, durch Feldforschung in der
komplizierten und abstrakt erscheinenden Wirklichkeit der eigenen
Gesellschaft angekommen, mag sich im Bewusstsein mancher Betei-
ligter auf dieser Tagung öffentlich ein Stück intellektueller Grün-
dung der Republik vollzogen haben.

170 J. Habermas, Der Soziologen-Nachwuchs stellt sich vor. Zu einem Treffen in Ham-

burg unter der Leitung von Professor Schelsky, in: FAZ 13. 6. 1955.
171 H. Popitz, Der Wiederbeginn der Soziologie in Deutschland nach dem Kriege, in:

Ders., Soziale Normen, hrsg. v. F. Pohlmann u. W. Eßbach, Frankfurt a. M. 2006,


S. 205–210, hier S. 207.

Philosophische Anthropologie A 291


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

1.7 Nachfolge (1955–1960)

Mitte der 1950er Jahre ergibt sich für die Philosophische Anthro-
pologie die Chance einer institutionellen Kontinuität an der deut-
schen Universität. Seit 1954 ist der Rothacker-Lehrstuhl in Bonn va-
kant, und Rothacker, der diesen Lehrstuhl immerhin 16 Jahre
innegehabt hatte, ist entschieden dafür, Gehlen als seinen Nachfolger
berufen zu lassen. »Gehlen ist der beste Mann« 1 , so lässt er in der
Berufungskommission verlauten, und »sein Buch ›Der Mensch‹ […]
ist m. E. der bedeutendste Wurf, der auf dem Gebiet der mir beson-
ders am Herzen liegenden ›Philosophischen Anthropologie‹ seit Max
Scheler gelungen ist.« 2 Im Widerstand gegen Gehlen, der v. a. von
Th. Litt vorgetragen wird, bemängelt die Kommission »seinen star-
ken Biologismus und ein Unterbinden jeder höheren Kräfte«, abge-
sehen vom politischen Einwand: »Gehlen gilt als zu sehr belastet.« 3
Um Rothackers Verlangen nach einem Nachfolger in Sachen ›Phi-
losophischer Anthropologie‹ entgegenzukommen, plädiert die Kom-
mission nun wiederum, angeführt vom Dekan der Philosophischen
Fakultät, dem Kunsthistoriker und Schelerschüler H. Lützeler, mehr-
heitlich für Plessner als Rothacker-Nachfolger und setzt ihn an die
Spitze der Berufungsliste des philosophischen Lehrstuhls. »Gegen
Plessner habe ich gar nichts einzuwenden als sein Alter« 4 , bemerkt
Rothacker. Aber eben aus diesem Grund – Plessner ist 62 – lehnt das
Kultusministerium die vorgeschlagene Liste ab und gibt sie zur Neu-
verhandlung an die Philosophische Fakultät Bonn zurück.

Genau in dieser Konstellation gelingt Gehlen sein bahnbrechender


kultur- und sozialanthropologischer Beitrag zur Philosophischen An-
thropologie in den 50er Jahren. Ursprünglich wollte Gehlen seine
»Philosophie der Institutionen«, die 1956 erschien, »Der Mensch.
Bd. II.« nennen 5 , wurde aber von seinem Verleger zu dem Titel ›Ur-
mensch und Spätkultur‹ 6 überredet. Er entfaltet diese philosophisch-

1 Rothacker an den Dekan, 12. 2. 1954, Archiv der Universität Bonn, UAB-UV 77/149
(Wiederbesetzung Lehrstuhl Philosophie 1958 Martin)
2 Rothacker Separatvotum 20. 2. 1954, a. a. O.

3 Protokoll der Komissionssitzung 17. 2. 1954, a. a. O.


4 Rothacker an den Dekan 12. 2. 1954, a. a. O.

5 K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers, GA 3.2, S. 914.

6 A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen

(1956), 4. verb. Aufl. Frankfurt a. M. 1977.

292 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Nachfolge (1955–1960)

anthropologische Theorie der Institutionen in drei Zügen. Anthro-


pologisch erscheinen »Institutionen« wie Recht, Ehe, Eigentum usw.
als eine Art Instinktersatz. Für ein Lebewesen, dessen Antriebskräfte
durch Retardation und Entdifferenzierung als plastisch und rich-
tungslabil freigesetzt sind, sind Institutionen – gleichsam verselb-
ständigte »Setzungen« (Gehlens Dissertation) – haltgebende und ge-
staltbestimmende Stabilisierungen. Durch Institutionen gewinnt der
Mensch eine tier-analoge, aber kategorial völlig neue Verhaltens-
sicherheit. Durch Institutionen springt der Mensch von der Natur
zur Kultur in der Natur. »Jede Kultur ›stilisiert‹« – so erinnert Geh-
len indirekt an Rothacker – »gewisse Verhaltensformen heraus,
macht sie verpflichtend und für alle ihr Zugehörigen modellvorbild-
lich. Solche Institutionen bedeuten dann für den Einzelnen eine Ent-
lastung von Grundentscheidungen und eine eingewöhnte Sicherheit
der maßgeblichen Orientierungen, so daß das Verhalten reflexions-
frei und stetig, auch in der Gegenseitigkeit gleichförmig erfolgen
kann. Man muß daher das institutionell eingeregelte Verhalten (Füh-
len, Denken, Werten usw.) als eine Wiederherstellung der verlorenen
tierischen Instinktsicherheit auf sehr viel höherer Ebene auffassen.« 7
In seiner Ursprungstheorie der Institutionen will Gehlen eine
Ableitung aus dem Subjektivismus, aus Affekten oder dem Lust-
prinzip und nach utilitaristischen Gesichtspunkten vermeiden. Er
analysiert eine Konstellation von Mechanismen, aus denen der Ver-
pflichtungscharakter von Institutionen hervorgeht, u. a. die »Hinter-
grundserfüllung«, die Bildung des »Selbstwerts im Dasein«. Wichtig
ist angesichts der volatilen Affektatmosphäre in den menschlichen
Lebewesen und zwischen ihnen der Mechanismus der »stabilisierten
Spannung« zwischen der Affektambivalenz von Angst und Sym-
pathie, zwischen Einverständnis und Streit z. B. in »stilisierten
Ausdrucksgesten der Höflichkeit und Kühle«. In dieser »tension sta-
bilisée« des Verhaltens ist die Höflichkeit ein im Verhalten vorweg-
genommenes stilisiertes Einverständnis, während die Kühle zugleich
die Chance des Abbruchs, die Möglichkeit des Rückzugs deckt, was
»aber das Einverständnis nicht als unerreichbar erscheinen« lässt;
denn das wäre der Fall der »Kälte«. 8 Diese Stilisierung des Verhaltens

7 A. Gehlen, Das Bild des Menschen im Lichte der modernen Anthropologie (1952), in:
Ders., Anthropologische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des
Menschen, Reinbek b. Hamburg 1961, S. 68.
8 A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur, a. a. O., S. 88–95.

Philosophische Anthropologie A 293


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

»erleichtert in der Sachebene den Neuzutritt rationaler Motive« und


gestattet die Anschlussfähigkeit von Kontakten in verschiedenen Si-
tuationen nun unabhängig von Affektlagen. Im zweiten Schritt sei-
ner These sucht er an Hand ethnologischen Materials »rational un-
erklärbare Institutionen wie Tierhege und Familienstrukturen
anthropologisch tiefer zu erklären«. Den archaischen Gesellschaften
ist in einer Bewusstseinslage, welche rationale Organisation oder
Planung einer Gesellschaft nach Zweckgesichtspunkten ausschloss,
»das Meisterstück ihrer kulturellen Arbeit am eigenen Leibe« gelun-
gen. »Dieses Meisterstück besteht in der artifiziellen, nämlich ein-
seitigen Zurechnung der Blutsverwandtschaft, der sog. unilinealen
Deszendenz.«
Gehlen greift hier die »bahnbrechende Arbeit von Lévi-Strauss
zu den sozialen Verwandtschaftsstrukturen« auf. »Dazu muß eine
privilegierte ›Nächstverwandtschaft‹ so definiert werden, daß sie ent-
weder nur über die Männerfolge (patrilineal) oder über die Frauen-
folge (matrilineal) gerechnet wird, wobei die Blutsverwandten der
anderen Seite jeweils ›ausgeklammert‹ werden.« Die eindeutige, le-
benslängliche Zurechnung, die präzise Inzestverbote und Exogamie-
regeln gestattet und durch jede Familie quer durchschneidet, bezieht
sich auf die Mitgliedschaft in der so entstehenden, nun nicht mehr
nur positional durch den Ort definierten Gruppe; diese artifizielle
Zurechnung leugnet keine bestehende Blutsverwandtschaft, über-
formt diese vielmehr zur Hälfte durch ein »Statusprinzip«. Die Ge-
nese dieser Strukturen erklärt Gehlen weder ›strukturalistisch‹ –
nach dem Prinzip der Sprache – noch pragmatistisch – als Organisie-
ren zweckmäßiger Sozialformen. »Scharf gestellt, ist die Frage: wie
hat ein an der Außenwelt orientiertes Bewußtsein den abstrakten,
nichtsichtbaren Sachverhalt einer kontinuierlichen Blutslinie über-
haupt erreicht, und wie konnte man diesen abstrakten Sachverhalt
wieder in den Status des Einzelnen übersetzen?« Gehlen gibt eine
philosophisch-anthropologische Antwort: die Institution entspringt
nicht aus den Subjekten, ihren Reflexionen und Entscheidungen,
sondern indirekt durch Ritualisierung, Tabuisierung, Zermonialisie-
rung, durch plastische und mimische Verkörperung von etwas Nicht-
Menschlichem. Die Geburt der artifiziellen Blutslinie stammt aus
dem »imitatorischen Tierritual«, diesem Kernritual der archaischen
Blutsverwandtengruppen. Erst die »mimische Verkörperung von
Tierwesenheiten« als Ursprung der Blutslinie, der »Totemismus«,
realisiert die unverzichtbare »anschauliche ›Verhaltensunterstüt-

294 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Nachfolge (1955–1960)

zung‹« der abstrakten Struktur. »Das Sichidentifizieren mit einem


Linien- oder Sippengenossen in dieser ja hoch abstrakten Eigen-
schaft kann gar nicht in einem begrifflichen Sichverständigen be-
standen haben, es mußte über ein Drittes gehen, mit dem jeder sich
identifizieren konnte. Das handgreifliche Sichverkleiden oder an-
schauliche Sichgleichsetzen mit einem Tier, aus dem Kernritual
längst mit Verpflichtungen besetzt, war im prähistorischen Stadium
des sich erst entwickelnden Selbstbewußtseins die einzige Möglich-
keit, das Bewußtsein einer scharf definierten, vereinseitigten Grup-
penzugehörigkeit zu erzeugen – und festzuhalten. Indem sich also
die Einzelnen mit demselben Tier identifizieren, seine Darstellung
gegeneinander festhaltend, [wird] im Totemismus […] die zeitüber-
dauernde Kontinuität einer Linie und von blutsmäßig unterscheid-
baren Linien von der physischen Seite der Abstammung her institu-
tionalisiert: der Zweck der Natur zum eigenen Zweck.« 9 Man sieht
deutlich, dass Gehlen die Institutionentheorie intersubjektivitäts-
theoretisch über das Totemtier als dritte Figur rekonstruiert. Phi-
losophisch-anthropologisch wird die Konstitution der Gesellschaft
nicht aus der Urszene des Austausches, des Vertrages, der Arbeits-
teilung oder der Anerkennung zwischen zweien, dem Einen und
dem Anderen vorgestellt, sondern im Umweg über die Figur des
Dritten, des Fremden. Die füreinander instabilen und unergründli-
chen menschlichen Lebewesen, in dramatischer Unwahrscheinlich-
keit der Weltoffenheit zueinander gestellt, treffen sich in ihrer
»Phantasie«, – ihrem Versetzungsvermögen –, an einem dritten Ort,
im Totemtier als dem Dritten, den sie rituell-darstellend in der An-
schauung voreinander nachahmen. Das ermöglicht ihnen, aus dessen
fremder Perspektive ihre Interaktion und sich zu beobachten. Genese
und Geltung von Institutionen liegen für Gehlen darin, dass
menschliche Lebewesen nur indirekt, nur über den Umweg der Ent-
fremdung füreinander erreichbar werden.
Gehlen führt die anthropologische Rekonstruktion des Ur-
sprunges der Institution durch »Verkörperung« noch einen Schritt
weiter. Der gemeinsame Konvergenzpunkt im Totemtier ereignet
sich im »Tanz«, im Tanz des Schamanen, in dem sich die Umkehr
des Lebensschwerpunktes oder die »Umkehr der Antriebsrichtung« 10
vollzieht. Den instinktarmen Menschen versetzt das Tier in panische

9 A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur, a. a. O., S. 204.


10 Ebd., S. 238.

Philosophische Anthropologie A 295


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Furcht oder überflutendes Begehren. Der Tanz des Schamanen, der


vor der Gruppe das gefürchtete und begehrte Tier darstellt, erreicht
nun einen Hiatus im Antriebsleben. Die Entlastung im Ritus und
zugleich eine ekstatische Selbststeigerung ermöglichen es, das Tier
zu beobachten, es in den Kreis der bewussten Überlegung zu ziehen,
Tierhege anzusetzen. Das Tier muss erst einmal vor dem Nahrungs-
trieb geschützt und tabuisiert werden, um es zu hegen. An der Rück-
seite des Kultes, »aus der darstellenden Phantasie geboren« 11 , ent-
stehen Figuren rationalen Verhaltens, der bepflanzte Garten, das
gehegte und gezüchtete Tier, die unilineale, durch Inzesttabu und
Exogamie herausgearbeitete Blutslinie. »Züchtung« meint neben
Disziplinierung des Antriebsüberschusses immer auch die nur dem
menschlichen Lebewesen mögliche ›Politik‹ hinsichtlich des Bios.
Die erste Institution stammt, um es noch einmal zusammen-
zufassen, nicht aus individuell kalkulierter Nützlichkeit instrumen-
tellen Verhaltens, aber auch nicht aus anonymer strukturaler Ver-
nunft. Vielmehr übernimmt das rituell-darstellende, verkörpernde
Handeln, gerade dadurch, dass es nicht primär zweckmäßig ist, aber
als Bild die Anschauung bannt, »sekundäre objektive Zweckmäßig-
keit«, die dann auch rückwirkend stabilisierende Funktionen über-
nimmt. Gehlen verknüpft in seiner ›Philosophie der Institutionen‹
gleichsam Strukturalismus und Pragmatismus via Philosophischer
Anthropologie. Im dritten Durchgang nun liest Gehlen diese Ge-
schichte der Menschwerdung durch Institutionalisierung als eine Ge-
schichte der Steigerung und der Gefährdung. Das Faktum der Insti-
tution als Mitwelt ist genuin verknüpft mit der Ausbildung von
»Faktenaußenwelt« und »Fakteninnenwelt«. Unausgesprochen kehrt
hier Plessners Unterscheidung von »Außenwelt, Innenwelt und Mit-
welt« von 1928 wieder. Im Prozess der Herausbildung der »Fakten-
außenwelt« wird die Natur ein Gegenstand des Wissens und der ra-
tionalen Operation, aber auch der ästhetischen Gestaltung. Die
komplementäre Herausbildung der »Fakteninnenwelt« führt zum Er-
lebnisbereich der Seele, der beobachtenden Psychologie, bis hin zur
freigesetzten Reflexion einer »Innerlichkeit«. Während dem Urmen-
schen die Institutionen als »Transzendenzen ins Diesseits« galten, in
die er sich mit Haut und Haaren gab, relativieren sie sich durch den
Monotheismus als »Transzendenzen ins Jenseits«. Unter der tech-
nisch-industriellen Moderne schließlich werden die Institutionen

11 Ebd., S. 206.

296 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Nachfolge (1955–1960)

auf direkte Nützlichkeit hin aufklärerisch und schließlich massenhaft


durchfragt; damit verlieren die Institutionen ihre durch Indirektheit
erreichte Kraft zur Kultursteigerung des Menschen.

Auf dem Hintergrund dieses Vorschlages einer anthropologisch fun-


dierten Institutionentheorie montiert Gehlen 1957 nun seine in zahl-
reichen Vorträgen und Veröffentlichungen erprobten sozialpsycho-
logischen, technik- und kultursoziologischen Studien zum Buch
›Die Seele im technischen Zeitalter‹, das – als Taschenbuch in der
Rowohlt-Enzyklopädie, dieser Prä-Suhrkamp-Kultur der 50er Jahre
– zu einer der verbreitetsten soziologischen Diagnostiken der moder-
nen Industriegesellschaft wird. 12 Er kommt dem Bedürfnis nach einer
»Art Großanalyse der sozialen und kulturellen Gesamtlage« nach,
»weil infolge mehrerer Revolutionen und durchgreifender sozialer
Veränderungen unsere Gesellschaft, unser Volk sich selbst, sozusa-
gen gleichzeitig, nahegetreten und aus den Augen geraten ist.« 13 Er
zeichnet nach, wie durch gesteigerte Technik, die im menschlichen
Handlungskreis gründet, bis hin zur Auslagerung des Handlungs-
kreises in automatisierte Maschinen einerseits, durch utilitäre und
funktionale Umstrukturierung von Institutionen in sachorientierte
Organisationen andererseits, es zu einer geschichtlich beispiellosen
Daseinsstabilisierung gekommen ist. Indem aber die Bedürfnisse der
Menschen im Natur-, Sozial- und Selbstkontakt direkt zum Zwecke
seiner Handlungen werden, verlieren die Institutionen – und hier
wendet Gehlen die ›Philosophie der Institutionen‹ aus ›Urmensch
und Spätkultur‹ in die Gegenwartsdiagnostik – ihren Eigenwert, über
den die Individuen zur Innenweltstabilisierung gelangten. Korrelativ
zum Zerfall der Institutionen entfaltet sich der Subjektivismus mit
seiner Freisetzung der Reflexion und der Dauerirritation des An-
triebslebens. Der institutionell nicht mehr entlastete Mensch verliert
seine Verhaltenssicherheit und Gelassenheit, es tauchen erhöhte
Reizbarkeit und Verunsicherung auf, kommt zu Reprimitivisierung
und gesteigerter Aggressivität. Im Zerfall der Institutionen lösen sich

12 A. Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der


industriellen Gesellschaft, Hamburg 1957. Es ist die Neubearbeitung der Schrift ›Sozial-
psychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft‹, Tübingen 1949. Wieder-
abgedr. in A. Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter und andere sozialpsychologi-
sche, soziologische und kulturanalytische Schriften, hrsg. v. K.-S. Rehberg, Frankfurt
a. M. 2004, GA 6, S. 1–137.
13 A. Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter (1957), a. a. O., S. 120 f.

Philosophische Anthropologie A 297


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

auch ihre »Leitideen« auf, lösen sich von ihnen ab, werden verschieb-
bar in rasch sich ablösenden, kombinierbaren Weltanschauungen.
Wegen des philosophisch-anthropologischen Hintergrundes endet
Gehlens kritische Diagnose aber nicht pessimistisch. Er hält an der
unhintergehbaren Vermitteltheit des menschlichen Lebewesens
durch die Institutionen fest und sieht die »Persönlichkeit« auch in
der Moderne auf die bestehenden Institutionen verpflichtet: »Das
Wesentliche einer dauerhaften Institution ist ihre Überdeterminiert-
heit: sie muß nicht nur im nächsten, praktischen Sinne zweckmäßig
und nützlich sein, sie muß auch Anknüpfungspunkt und Verhaltens-
unterstützung (behavior support) höherer Interessen sein, ja den an-
spruchsvollsten und edelsten Motivationen noch Daseinsrecht und
Daseinschancen geben: dann erfüllt sie die tiefen vitalen, aber auch
geistigen Bedürfnisse des Menschen nach Dauer, Gemeinsamkeit
und Sicherheit – sie kann sogar etwas wie Glück erreichbar machen,
wenn dieses darin besteht, im Über-sich-Hinauswachsen nicht allein
zu bleiben.« 14
Gehlen sieht angesichts des Zerfalls der Institutionen in formel-
le Organisationen die »Persönlichkeit« nicht dadurch gerettet, dass
sie sich »von den harten Apparaturen des sozialen Lebens abseits
stellt«, um sich privat das sensible Organ für die Werte der Kultur
zu bewahren. »Persönlichkeit« findet sich laut Gehlen in der moder-
nen Industriegesellschaft gerade nicht so sehr »im abgesondert Kul-
turellen, im Literarischen oder Artistischen, sondern da, wo es einer
übernimmt, die anspruchsvollen Tendenzen des Geistes im Apparat
selbst zur Geltung zu bringen, sich also gerade nicht von ihm zu
›distanzieren‹.« Denn, so schreibt er, »Institutionen machen, weil sie
eine Seite des Nutzens und der Praxis enthalten, so versehrbare Din-
ge wie Freiheit und Bildung erst lebensfähig, während umgekehrt
diese Güter, wenn man sie verteidigt, die Verselbständigung der
Zwecksetzung und Nutzberechnung hemmen.« Und er demonstriert
die Funktionsweise der Institution in der Moderne am Fall des
Rechts: »Das Verhalten der Menschen gegeneinander in die Form
des Rechts zu zwingen, heißt daher, den Idealen wie Freiheit oder
Gerechtigkeit eine Chance zu geben, sich zu materialisieren. Sie sind
dann zwar nicht notwendig realisiert, weil auch das Recht in der
Form der geistlosen Gewohnheit, ja kurze Zeit in der Form des Be-
truges betrieben werden kann – aber solange die Institution besteht,

14 Ebd., S. 116.

298 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Nachfolge (1955–1960)

sind sie jederzeit möglich und realisierbar.« Und er schließt: »Die


Institutionen sichern etwas vom Dasein und Wirksamkeit des Ideel-
len, und zuletzt dienen sie ihm doch, wenn sie es aus dem perfiden
Terrain des Subjektiven auf den festen Boden der vernünftigen Tat-
sachen, Bedürfnisse und Interessen führen.« 15

Zeitgleich mit Gehlen, der die ›sozialpsychologischen Probleme‹ der


›Seele im technischen Zeitalter‹ beobachtete, spitzte Günter Anders,
der bereits Ende der zwanziger Jahre die neue Philosophische An-
thropologie für sich entdeckt hatte, in seinem Werk ›Die Seele im
Zeitalter der zweiten technischen Revolution‹ die philosophisch-an-
thropologische Beschreibung der neuesten Technik zu, wenn er den
Menschen in der »gemachten Welt der Produkte« – der Apparate,
Atomwaffen und Rundfunk- und Fernseh-Medien – in seiner »Anti-
quiertheit« beobachtete. 16 Anders eröffnete der Philosophischen An-
thropologie damit neben dem konstitutiven Tier/Mensch-Vergleich
damit eine zweite Vergleichsfolie des Mensch/Maschine-Vergleichs.
Ihm, der Ende der 20er Jahre ebenfalls »das tierische Dasein als Ver-
gleichsfolie benutzt« hatte, um den Menschen als »distanzierte In-
härenz«, als »freies und undefinierbares Wesen« zu definieren,
erschien nun »die Wahl dieser Folie fragwürdig«, »weil es philoso-
phisch gewagt ist, für die Definition des Menschen eine Folie zu ver-
wenden, die mit der effektiven Folie des menschlichen Daseins nicht
übereinstimmt: schließlich leben wir ja nicht vor der Folie von Bie-
nen, Krabben und Schimpansen, sondern der von Glühbirnenfabri-
ken und Rundfunkapparaten.« 17 Der Mensch ist zur Selbsterfahrung
deshalb auch im Vergleich zum Artefakt, zur Maschine, zum Medi-
um gefordert. Blieb für Anders allerdings auch fraglos, dass der
Mensch im Vergleich zum Tier von der Instabilität seiner Natur aus
zur natürlichen Künstlichkeit gezwungen ist, so konstatierte er für
den »Menschen in der Welt der Geräte« eine dreifach veränderte
Erfahrungslage: die Mehrfachvernichtung der Gattung durch die
Nukleartechnologie, das »prometheische Gefälle« oder die »promet-
heische Scham«, den Phantomcharakter der Wirklichkeit in der Mo-
dellierung durch die neuen Medien. Durch die Atombombe verwan-

15 Ebd., S. 118.
16 G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten
technischen Revolution (1956), Zürich 1984.
17 Ebd., S. 327.

Philosophische Anthropologie A 299


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

delt sich das Sein des Menschen in ein Gerade-Noch-Sein, in die


unhintergehbare Erfahrung des möglichen Endes der Menschheit
(die Menschheit wird gewesen sein). Das »prometheische Gefälle«
wiederum wohnt der industriellen Lebenswelt inne, insofern es zum
Überschuss der Herstellungspotenz über die Vorstellungspotenz des
Menschen kommt, der Mensch ist der Reichweite und Konsequenzen
seiner Produkte vorstellungsmäßig nicht mehr gewachsen. Die »pro-
metheische Scham« ist die »Scham vor der ›beschämend‹ hohen Qua-
lität der selbstgemachten Dinge« 18 : »In seiner fleischlichen Tölpel-
haftigkeit, in seiner kreatürlichen Ungenauigkeit vor den Augen der
perfekten Apparaturen stehen zu müssen«, kann dem Menschen un-
erträglich sein bis zur Scham, »geworden, statt gemacht zu sein.« In
der medial bestimmten Lebenswelt schließlich kommt es zur Um-
kehr von leiblichem Original und Reproduktion: die leibhafte Wirk-
lichkeit ebenso wie ihre Wahrnehmung beginnt sich vermittelt und
gebrochen durch die »Matrize« der neuen Medien zu formieren.
Anders’ »Philosophische Anthropologie im Zeitalter der Tech-
nokratie« 19 spannte das ganze Spektrum aus, vom Punkt, dass der
Mensch leiblich der Perfektion seiner Produkte nicht mehr gewach-
sen sei, bis hin zum Punkt, dass er sich kraft bestimmter Artefakte –
der »Weltraumflüge« – seine exzentrische Positionalität medial
wahrnehmbar machte. Gerade in dieser medial vermittelten Kosmos-
erfahrung vertraute Anders nun aber doch auf den unmittelbaren
sinnlichen Wahrnehmungseffekt. Er setzte früh mit anthropologi-
schen »Reflexionen über Weltraumflüge« ein, über »unsere Fähig-
keit, Mitmenschen in die Tiefe des Weltraums hinauszuschießen […]
[und] unsere Fähigkeit, die Hinausgeschossenen jederzeit einzuholen
und sie in unserer (bzw. uns in ihrer) Nähe zu halten«. 20 Gerade
Schelers ingeniöse philosophisch-anthropologische Formel von der
»Stellung des Menschen im Kosmos« öffnete Anders die Augen für
die neuartige kosmologische Rahmung der menschlichen Lebenswelt
durch die Kosmonautik. 21 Der in den Weltraum geschossene Pilot,

18 Ebd., S. 23.
19 M. Lohmann, Philosophieren in der Endzeit. Zur Gegenwartsanalyse von Günther
Anders, a. a. O., S. 140.
20 G. Anders, Der Blick vom Mond. Reflexionen über Weltraumflüge, München 1970,

S. 130.
21 Bereits Plessner hatte dieses Thema im Blick: H. Plessner, Gedanken zur Zeit: Gedan-

ken eines Philosophen zur Weltraum-Rakete, Gesendet: 13. Okt. 1949, 22.45–23.00,
Typoskript, Nachlaß Plessner.

300 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Nachfolge (1955–1960)

dessen Beobachtungen wir von der Erde beobachten, der schließlich


faktische ›Blick vom Mond‹, macht exzentrische Positionalität mas-
senmedial sinnlich – positional – sichtbar: »Die Tatsache, daß wir,
obwohl noch an der Oberfläche der Erde klebend, diese doch als etwas
von uns Verschiedenes und von uns Entferntes, als etwas nicht hier
Seiendes, sondern als einen dort seienden Fremdkörper wahrnehmen
können«, diese Tatsache macht »Epoche in der Geschichte des
menschlichen Denkens. Denn um unsere Heimaterde als ein Him-
melsobjekt unter anderen Himmelsobjekten zu verstehen, dazu hat-
ten wir es ja bis eben nötig gehabt, von unserer Wahrnehmung ab-
zusehen […] Was das vom Wahrnehmen absehende Denken geleistet
hatte, das ist dem Denken nun abgenommen und wird nun vom
Wahrnehmen selbst geleistet.« 22 Die Formel ›exzentrische Positiona-
lität‹ wird hier gleichsam eine Umstiegsformel innerhalb der Positio-
nalität, das menschliche Lebewesen selber wird eine extraterristische
Intelligenz.

Trotz seines produktiven Gebrauchs der von ihm früh rezipierten


Philosophischen Anthropologie bleibt Anders – auch wegen seiner
kulturpessimistischen Zuspitzungen – ein Seitenautor des Denk-
ansatzes in der akademischen und öffentlichen Welt, als dessen Pro-
tagonisten Gehlen und Plessner fungieren. Plessners Analysen in
diesen Jahren erreichen allerdings nicht die Resonanz von Gehlens
Kulturanthropologie oder seiner philosophisch-anthropologischen
Soziologie der modernen Industriegesellschaft. Schelsky wird viel
später von einer entgangenen Chance sprechen, die Plessner mit der
»ungewöhnlich hochbegabten Gruppe von jungen Sozialwissen-
schaftlern« hatte: »Ich halte Göttingen für den universitären Ur-
sprungsort der geistigen Initiative für eine neue bundesdeutsche So-
ziologie, wie es in den 20er Jahren Frankfurt, Heidelberg und Leipzig
waren. Plessner zeigte sich dieser Lage keineswegs gewachsen«. 23 Ob
sich Plessner die Gelegenheit hat entgehen lassen, auf dem Hinter-
grund der Philosophischen Anthropologie eine von Göttingen aus-
strahlende Soziologie aufzubauen, ist schwer zu beurteilen. Die
»Attraktivität der Soziologie« in Göttingen war durchaus an die von
Plessner geschaffene Atmosphäre rückgebunden, und er beeindruck-
te die Studenten sowohl durch seinen Vorlesungs- wie durch seinen

22 G. Anders, Der Blick vom Mond, a. a. O., S. 96.


23 H. Schelsky, Die verschiedenen Weisen, wie man Demokrat sein kann, a. a. O., S. 139.

Philosophische Anthropologie A 301


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Seminarstil. Er konnte offensichtlich sehr ausdrucksvoll vortragen:


»Plessner verkörperte in seinen Vorlesungen, auf dem Podium, ein
wenig seine eigene Anthropologie, den Leitsatz von der ›exzentri-
schen Position‹ des Menschen, zumindest von der Doppelrolle des
Schauspielers, der sich in sich spaltet. Plessner war vortragender Ge-
lehrter und Schauspieler zugleich, er versinnlichte seine Gedanken
durch Bewegungen und Gesten, durch Mimik und sprachliche Mo-
dulation. Die Vorlesung wurde zur Inszenierung, bei der er selbst als
Regisseur immer erkennbar blieb.« 24 Wichtiger vermutlich noch wa-
ren die Seminare. »Jenseits der negativen Extreme verdinglichter
Wissensvermittlung und unverbindlichen Räsonnements« gestaltete
Plessner »seine Seminare als Gesprächssituationen […], in der er mit
ganzer Person anwesend war. Darin lag […] seine Stärke. Man hatte
den Eindruck, es musste ihm auch selbst Spaß machen, dann war er
ungemein anregend, weil er selbst angeregt wurde und neue Ideen
entwickeln konnte. Auf der anderen Seite konnte er unnachahmlich
wortlos auch mitteilen, wenn ihn ein Beitrag langweilte. Insofern hat
er es uns als Studenten nicht leicht gemacht.« 25 In jedem Fall fällt
auf, dass die von ihm direkt initiierten Projekte 26 (v. a. die Hochschul-
lehrerstudie) nicht ins Zentrum akademischer oder öffentlicher Auf-
merksamkeit geraten. Mit seinen eigenen Veröffentlichungen bleibt
Plessner in diesen Jahren verdeckt von Gehlen, bleibt im Vergleich
mit dem anthropologisch-soziologischen Erfolgsautor ein Hinter-
grundautor. Andererseits gewinnt er Prominenz, indem er nahezu
zeitgleich Präsident der ›Deutschen Gesellschaft für Soziologie‹
(1955) wie der ›Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in
Deutschland‹ (1954) wird. Er übernimmt schwierige Vermittlungs-
funktionen zwischen Remigranten und Dagebliebenen, zugleich zwi-
schen den verschiedenen Denkrichtungen in diesen Disziplinen. Zu-
gleich schieben sich aber diese arbeitsintensiven akademischen
Funktionen zwischen Plessners Plan der noch zu schreibenden ›gro-
ßen Anthropologie‹ und seine Ausführung, einen Plan, dessen Leit-
motive er durchaus parat hielt.

24 W. Hinck, Im Wechsel der Zeiten – Leben und Literatur, Bonn 1998, S. 151.
25 M. Baethge, Gedenkworte des Dekans des Fachbereichs Sozialwissenschaften, in: In
memoriam Helmuth Plessner. Gedenkfeier am 7. 2. 1986 in der Aula der Georg-August-
Universität, Göttingen 1986, S. 22 f. Diese aus der Endphase von Plessners Göttinger
Wirken Anfang der 60er Jahre stammende Charakterisierung wird auch für die Zeit
davor bestätigt.
26 Vgl. H. Plessner, Die ersten zehn Jahre Soziologie in Göttingen, a. a. O., S. 448–455.

302 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Nachfolge (1955–1960)

In einem Aufsatz 1957 ݆ber einige Motive der philosophischen An-


thropologie‹ 27 vermochte Plessner seine Version des Denkansatzes
Philosophische Anthropologie systematisch zu präzisieren. Sich
dem philosophischen Anspruch der »universitas« stellend, wie sie
z. B. das mittelalterliche gottgeborgene »Gesamtbild, in das sich die
Dinge der Natur und der Gesellschaft bedeutungsvoll und für alle
Ewigkeit einordnen«, geleistet hat, will die Philosophische Anthro-
pologie eine »offene universitas« leisten, ein neuartiges ›Bild‹ der
Einheit – »keinem geschlossenen Weltbild verpflichtet, sondern of-
fen für eine nicht mehr bildhafte Welt.« 28 Diese zur pluralen Arbeits-
und Wissenschaftsgesellschaft kovariante, schwierige Leistung ver-
sucht nach Plessner Philosophische Anthropologie als »Grenzfor-
schung« zu leisten, im doppelten Sinn des Wortes. Erstens setzt sie
sich auf die Spur der modernen spezialisierten, deshalb heterogenen
Erfahrungswissenschaften dort, wo diese Disziplinen notwendige
Fachgrenzen von sich aus zu sprengen drohen und an »überbrücken-
de Einsichten heranführen: auf den sogenannten Gebieten der
Grenzforschung. Der Grenzforschung gelingen die Überbrückungen
zwischen Gebieten, die für so disparat gehalten werden, daß man
keine gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen ihnen vermutet und
Übergänge von einem zum anderen für unmöglich hält.« Solche
Grenzgebiete sind schon im »Modell der aristotelischen Philosophie
in dem stufenförmigen Aufstieg vom Stoff bis zur höchsten Form
über Pflanze, Tier und Mensch« in den Blick gerückt. »Das Modell
ist dann im Lauf der wissenschaftlichen Differenzierung entspre-
chend verfeinert worden. Zwischen Mathematik und Physik, Physik
und Chemie, anorganischer und organischer Chemie, wiederum zwi-
schen ihr und der Biologie, Biologie und Psychologie, Psychologie
und Soziologie liegen die geheimnisvollen Zwischenzonen der Ver-
klammerung des Wirklichen, an die sich die auf die jeweiligen
Hauptzonen eingeschränkte Spezialwissenschaft schon aus metho-
dischen Gründen nicht herantraut.« 29 Hier ist der Einsatzpunkt der
Philosophischen Anthropologie. Schon vor der spezifischen Wirk-
lichkeit des Menschen hat sie auf die Grenzgebiete in der »Natur«
selber acht. »Gleichwohl stellt die Wirklichkeit des Menschen den

27 H. Plessner, Über einige Motive der philosophischen Anthropologie, GS VIII, S. 117–


135.
28 Ebd., S. 118.

29 Ebd., S. 120.

Philosophische Anthropologie A 303


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

klassischen Fall für Grenzforschung dar, und zwar im doppelten Sinn


des Wortes. Er ist das an Dimensionen reichste Objekt, das wir ken-
nen, und er ist in allen diesen Dimensionen und zu ihnen Subjekt. Er
bietet also nicht nur rein seinsmäßig die meisten Übergänge von
Schicht zu Schicht, von Stoff zu Leben, zu Seele, zu Geist, sondern
er ist ihnen zugleich als Person, als Kern und Träger dieser Schich-
tenfülle überlegen und gewissermaßen entzogen.« 30 Im Begriff
»Grenzforschung« als Leitbegriff der Philosophischen Anthropologie
zieht Plessner indirekt Motive von Gehlen und Scheler zusammen:
Philosophische Anthropologie als »empirische Philosophie« (Geh-
len), insofern sie kraft Philosophie für die Grenzgebiete verschiede-
ner Empirien Kategorien stiftet, und Philosophische Anthropologie
als Philosophie der »Person« (Scheler), als Aktzentrum des Geistes,
das jeder Vergegenständlichung entzogen ist. Für Plessner löst Phi-
losophische Anthropologie damit ein Doppelproblem der modernen
Philosophie: erstens hütet sie die Einheit der Aspekte angesichts der
Gefahr der Spezialisierung (der Wissenschaften): dass die eine Hand
nicht weiß, was die andere tut. Zweitens gibt sie Acht auf die Freiheit,
angesichts der Gefahr, dass der Mensch glaubt, sich in der wissen-
schaftlichen Objektivierung und gesellschaftlichen Organisation
selbst in die Hand zu bekommen. Philosophische Anthropologie legt
ihre Kategorienbildung der Grenzforschung im Sinne Kants so an,
dass das Wesen des Menschen der Vergegenständlichung entzogen,
menschliche Freiheit gesichert bleibt. »Auf die Grenzen möglicher
Erfahrung verwiesen und so immer an Erscheinungen gebunden,
kann Wissenschaft den Menschen über diese Grenze hinaus, d. h. in
seinem Wesen, nicht vergegenständlichen. Er bleibt sich auch mit der
raffiniertesten Psychologie ein unauflösliches Rätsel. Diese Grenze
ist ihm gezogen, aber nur durch seine eigene Vernunft und nur inso-
fern, als er um ihre letztlich praktische Bestimmung weiß.« 31
Plessner schließt, auf das Einspringen der Philosophischen An-
thropologie für die Theologie und die Metaphysik in ihrem Gefolge
zurückkommend: »Der homo absconditus, der unergründliche
Mensch, ist die ständig jeder theoretischen Festlegung sich entzie-
hende Macht seiner Freiheit, die alle Fesseln sprengt, die Einseitig-
keiten der Spezialwissenschaften ebenso wie die Einseitigkeiten der

30 Ebd., S. 121.
31 Ebd., S. 132.

304 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Nachfolge (1955–1960)

Gesellschaft.« 32 Mit dieser Doppelbestimmung von »Grenzfor-


schung« als Leitbegriff der Philosophischen Anthropologie nimmt
Plessner den Begriff der »Heautonomie« auf, den er 1920 in Anleh-
nung an Kant neu auf die »philosophische Urteilskraft« insgesamt
bezogen hatte: sich in ihrem Verfahren, in der Art ihrer Kategorien-
bildung, selbst zu bestimmen angesichts offener Gegebenheiten, mit
Bezug auf gegeneinander abgegrenzte Gebiete und Sphären, die von
sich her keine Vermittlung erreichen können. Zur »Grenzforschung«
der Philosophie gehörte für Plessner immer auch die philosophisch-
anthropologische Begründung der Naturwissenschaften und Geistes-
wissenschaften in ihrer Verschiedenheit. Um sowohl dem Über-
nahmeversuch der Geistes- und Sozialwissenschaften durch die
Naturwissenschaften (Positivismus) wie umgekehrt der Panherme-
neutik, dem Primatanspruch der Geisteswissenschaften gegenüber
der Naturwissenschaften in der philosophischen Hermeneutik zu
entgehen, setzte er immer erneut den wissenschaftstheoretischen
Versuch fort (den er erstmals in der ›Ästhesiologie des Geistes‹ von
1923 formuliert hatte): die Bedingung der Möglichkeit der Naturwis-
senschaft im Distanzvermögen des Auges (»Ästhesiologie des Ge-
sichts«), die der Geisteswissenschaften im Resonanzvermögen des
Gehörs (»Ästhesiologie des Gehörs«) zu begründen, und damit bei-
den Wissenschaftsgruppen philosophisch-anthropologisch ihr relati-
ves Recht einräumend. 33

Von einer systematischen Selbstvergewisserung der Philosophischen


Anthropologie her erschien Plessner in diesen Jahren als der geeig-
nete Nachfolger auf dem Rothacker-Lehrstuhl. Da Plessner selbst seit
Anfang der 50er Jahre immer wieder ernsthaft erwog, in die Philoso-
phie zurückzukehren und mehrere Berufungsverhandlungen führte,
war für ihn die Aussicht auf den Bonner Lehrstuhl attraktiv. Die
Bonner wiederum hielten durch verschiedene Kultusministerwechsel
an der Berufung von Plessner fest und verwandten außerordentliche
Energie darauf, in Absprache zwischen den Kultusministern der bei-
den Länder und mit den zwei Göttinger Fakultäten, denen Plessner

32 Ebd., S. 134.
33 H. Plessner, Anthropologie der Erkenntnis, in: Philosophische Vorträge und Diskus-
sionen. Bericht über den Philosophen-Kongreß, Mainz 1948, a. a. O., S. 27–31. – Ders.,
Mit anderen Augen (1953), GS VIII, S. 88–104. – Ders., Zur Lage der Geisteswissen-
schaften in der industriellen Gesellschaft (1958), GS X, S. 167–178.

Philosophische Anthropologie A 305


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

angehörte, eine Regelung für diesen Fall zu finden, in dem wegen der
Altersgrenze keine reguläre Berufung möglich war. »Es ist in Göttin-
gen ebenso bekannt wie hier«, schrieb 1956 der neue Dekan L. Weis-
gerber an seinen Göttinger Kollegen, »daß wir uns seit über drei Jah-
ren bemühen, für unseren philosophischen Lehrstuhl (Nachfolge
Rothacker) Herrn Plessner zu gewinnen: für uns ist es die Lösung,
und für Herrn Plessner ist die Rückkehr von der Soziologie zur Phi-
losophie in gewissem Sinne eine Er-lösung.« 34 Für Rothacker hin-
gegen stellte Gehlens ›Urmensch und Spätkultur‹, das er bereits wäh-
rend der Berufungsverhandlungen 1955 der Kommission in noch
ungedruckter Fassung zukommen lassen konnte, die Möglichkeit
von dessen Kandidatur auf eine völlig neue Basis. »Trotz mancher
abweichender Ansichten stehe ich nicht an«, schrieb er in einem Gut-
achten, »dies Buch als die bedeutendste Leistung zu bezeichnen, die
mir bis jetzt auf dem Grenzgebiet zwischen philosophischer Anthro-
pologie und Kultursoziologie […] begegnet ist.« Rothacker, der seit
Anfang der 1940er Jahre – von N. Hartmann animiert – mit Gehlen
um die adäquate Ausarbeitung einer Kulturanthropologie konkurrier-
te, anerkannte dessen Leistung. Die Mehrheit empfand wiederum die-
se Verbindung von Philosophie und Soziologie als Nachteil für Geh-
len. Es wurden andere Kandidaten ins Spiel gebracht, aber der Kampf
um die Rothacker-Nachfolge spielte sich ab »zwischen den beiden
feindlichen Brüdern Plessner und Gehlen« 35 , wie Rothacker in einem
anderen Kontext das Spektrum der Philosophischen Anthropologie
kennzeichnete. Plessner selbst wurde seitens der Berufungskommis-
sion zur Begutachtung anderer Kandidaten gebeten, einschließlich
der von Gehlen: »In Sachen Gehlen«, schrieb er diplomatisch seinen
Vorteil wahrend, »könnte man mein Urteil für befangen erklären.
Ich bestreite übrigens in keiner Weise seine wissenschaftlichen Qua-
litäten, die ihn freilich mehr zu einem Soziologen und Kultur-
anthropologen qualifizieren. Nach allem, was ich von ihm kenne,
auch nach dem Eindruck seiner Persönlichkeit, würde ich es sehr
bedauern, wenn einem solchen Mann in Bonn die Philosophie anver-
traut werden sollte. Man darf, glaube ich, die moralische Qualität
einer Person, auch die Frage der Wärme, nicht ganz außer Acht las-

34 L. Weisgerber an P. E. Schramm, 21. 7. 1956, Archiv der Universität Bonn, UAB-UV


77/149 (Wiederbesetzung Lehrstuhl Philosophie 1958 Martin).
35 Rothacker an Buytendijk, 25. 11. 1958, Nachlaß Rothacker.

306 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Nachfolge (1955–1960)

sen. Hier würde ich mehr auf das Urteil Litt’s als auf das meines
Freundes Rothacker hören.« 36

Beide, Plessner und Gehlen, waren auch zu Beiträgen zur Rothacker-


Festschrift eingeladen, und beide entfalteten, wohl unabhängig von-
einander, in ihren Beiträgen eine philosophisch-anthropologische Ar-
gumentation bezogen auf ein weiteres Phänomen der Moderne, das
Phänomen der modernen bildenden Kunst. Sowohl Gehlens ›Über
Kultur, Natur und Natürlichkeit‹ 37 wie Plessners ›Zur Genesis der
modernen Malerei‹ 38 entwickeln zwischen den forciert sympathisie-
renden Kunstfürsprechern der modernen Malerei (Werner Haft-
mann) und ihren kunstgeschichtlichen Kritikern eines ›Verlusts der
Mitte‹ (Hans Sedlmayr) eine anthropologische und soziologische
Blickdistanz auf das öffentlich umstrittene Phänomen der modernen
– abstrakten – Malerei. Plessner, der an Rothacker schreibt, sein Bei-
trag sei »mehr ein Anti-Sedlmayr als ein Pro-Rothacker gewor-
den« 39 , folgt seiner philosophisch-anthropologisch motivierten
Soziologie der Moderne, dass Menschen angesichts der selbst aus-
gelösten Abstraktionen und Spezialisierungen »Ausgleichsreaktio-
nen« hervorbringen, die das Kernmoment der Moderne nicht über-
winden, sondern wiederholen und zugleich in bestimmter Art
auszugleichen suchen, wodurch sich insgesamt eine moderne Le-
benswelt einspielt. Er arbeitet neben vielen anderen Bedingungen
der Moderne heraus, dass die »Aufsprengung und Relativierung des
natürlichen Gesichtskreises durch die naturwissenschaftliche Er-
schließung des Unsichtbaren und durch das Fliegen« eine Aus-
gleichsreaktion in der modernen Malerei hervorruft: »Die Evozie-
rung neuer Farb- und Formenwelten, die Vorstöße an die Grenzen
der Sichtbarkeit sind ebenso sehr Fluchtversuche aus den abgegrasten
Augenweiden wie Erziehungsversuche, den Augen das Sehen wieder
schmackhaft zu machen. Aus den schützenden Ordnungen von Über-
lieferungen und Institutionen herausgedrängt und einer akosmisch
gewordenen Welt preisgegeben, braucht diese Art Mensch Antwort-

36 H. Plessner an den L. Weisgerber, 7. 12. 1955, Archiv der Universität Bonn, UAB-UV
77/149 (Wiederbesetzung Lehrstuhl Philosophie 1958 Martin).
37 A. Gehlen, Über Kultur, Natur und Natürlichkeit, in: G. Funke (Hrsg.), Konkrete

Vernunft. Festschrift für Erich Rothacker, Bonn 1958, S. 113–123.


38 H. Plessner, Zur Genesis moderner Malerei, in: G. Funke (Hrsg.), Konkrete Vernunft.

Festschrift für Erich Rothacker, Bonn 1958, S. 411–420.


39 Plessner an Rothacker 15. 3. 1958, Nachlaß Rothacker.

Philosophische Anthropologie A 307


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

möglichkeiten und Schutzwehren, die ihr die alte Kunst, die alte Ma-
lerei nicht mehr […] vermittelt.« 40
Gehlen legt im Beitrag für die Rothacker-Festschrift, ebenfalls
wie Plessner in langjähriger Vertrautheit mit den Strömungen mo-
derner Kunst, u. a. durch Documenta-Besuche, den Keim seiner
Argumentation, den er 1959 in öffentlichen Diskussionen mit
H. Sedlmayr (›Bis wohin ist Malen Kunst?‹) ausbauen und 1960 in
einem eigenen Buch als ›Soziologie und Ästhetik der modernen Ma-
lerei‹ 41 publizieren wird. Der Mensch, von »Natur aus ein Kulturwe-
sen« 42 , entdeckt in der bildenden Kunst immer schon die Abhebbar-
keit der Bildfläche von der gegenständlichen Bildschicht. Malen heißt
Gestalten der Bildfläche, Erfinden der Farb-Form-Fläche, um etwas
erscheinen zu lassen. Eine Möglichkeit der Bildkunst ist, durch die
Gestaltung der Bildfläche den Geist des Betrachters gradlinig zum
evozierten Gegenstand hindurchzuführen, zur Erscheinung eines ver-
trauten, jedenfalls irgendwie darstellungswürdigen Gegenstandes,
einer gegenständlichen Figur. Das Bild ist dann – in idealistischer
oder realistischer Richtung – auf die Einheit von Anschauung und
Begriff hin gearbeitet. Moderne Kunst, so Gehlen, ist dann, rein de-
skriptiv gesehen, der Fall, in dem der Künstler reflektiert daran ar-
beitet, Bildfläche und Gegenstand gegeneinander zu verschieben. Es
kommt zur »optischen Verselbständigung« 43 der Bildfläche, die als
die formale »Außenhaut« mit ihren Farben und Formen »eigenwer-
tig« wird, wobei der evozierte Gegenstand deformiert/vielperspekti-
visch (Kubismus) oder schockierend (Surrealismus) oder verschrift-
licht (Kandinsky, Klee) oder stumm (Abstrakte Kunst) oder verflacht
bzw. gar nicht mehr erscheint (Konzept-Kunst).
Gehlens soziologische Überlegungen kreisen um den Stellen-
wert, die Bedingungen und Leistungen dieses so strittigen Phäno-
mens moderner Malerei in der modernen Industriegesellschaft. Teils
macht sie das Leben in der Industriegesellschaft verträglich, indem
diese »Reflexionskunst«, die notorisch den Unterschied zwischen
Bildfläche und Bildgegenstand ausspielt, den experimentellen Zug
der gesamten Lebensform (in Naturwissenschaft, Technik und sub-

40 H. Plessner, Zur Genesis moderner Malerei, a. a. O., S. 419.


41 A. Gehlen, Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei (1960), 3.
erw. Aufl. Frankfurt a. M. 1986.
42 Ebd., S. 78.

43 Ebd., S. 57.

308 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Nachfolge (1955–1960)

jektiven Lebensentwürfen) in die Bildlichkeit aufnimmt und weiter-


führt. Teils macht sie das moderne Leben verträglich durch eine Aus-
gleichsfunktion: der Fortfall von aufgedonnertem Sinn bzw. von Be-
deutungsmächtigkeit der gezeigten Erscheinung verschont den
Bewohner der modernen Lebensform vor den zu Engagement auffor-
dernden Zumutungen der modern freigesetzten Weltanschauungen,
der »Schlüsselattitüden«. 44 Darin könnte nach Gehlens Analyse eine
Befreiung, eine Erfrischung, Entlastung liegen. In jedem Fall impli-
ziert das Auseinandertreten von Anschauung und Begriff im Bild
aber »Kommentarbedürftigkeit«, und im nicht zur Ruhe kommen-
den Anstacheln der Reflexion – das Auge wird ins Bild gesetzt –, im
endlosen Weitergereichtwerden durch die Bildfläche spiegelt sich der
moderne gesellschaftliche Zustand der »chronischen Reflektiert-
heit«. 45 Das moderne Kunstwerk, das – seiner Idee nach – in der
Erzeugung und Betrachtung nicht mehr fertig wird, könnte ein
»Kleinsymbol dieses Systems« sein. Gehlen führte dem Publikum
Ende der 50er Jahre am prekären Phänomen moderner Ästhetik ge-
wissermaßen den Gestus Philosophischer Anthropologie vor. Weder
folgen seine Darlegungen der diskursiven Selbstdarstellungslogik
moderner Malerei – geschichtsphilosophischer Fortschritt hin zu
einer »neuen Natürlichkeit«, Emanzipation der eigentlichen Natur
des Subjekts und der eigentlichen Natur hinter der bloßen sinnlichen
Erscheinung46 –, noch gibt er der dramatisch kulturkritischen Ver-
werfung der modernen Kunst als ›Verlust der Mitte‹ nach. Eine an-
thropologische Analyse des Sehens und Sehenlassens durch die
»Zweischichtigkeit des Bildes« wird ergänzt durch eine soziologische
Überlegung zu den Funktionen, den Akzeptanzmotiven dieser »Zeit-
Bilder« in der modernen Lebensform, ohne sie soziologisch zu legiti-
mieren. Von den anthropologischen Kategorien her bleibt festgehal-
ten, dass eine Bilderwartung im Sehen – Objektsättigung – jetzt
unerfüllt bleibt. Dass mit Plessner und Gehlen zwei Protagonisten
der Philosophischen Anthropologie analytisch das Phänomen der
modernen bildenden Kunst besetzen, ist von der Gesamtgeschichte
des Denkansatzes her nicht überraschend. Just in dem Augenblick,

44 A. Gehlen, Über kulturelle Kristallisation (1961), in: Ders., Studien zur Anthropolo-
gie und Soziologie, Neuwied 1963, S. 313.
45 A. Gehlen, Zeit-Bilder, a. a. O., S. 62.

46 Vgl. dazu Gehlen, Über Kultur, Natur und Natürlichkeit, a. a. O., S. 84–91.

Philosophische Anthropologie A 309


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

wo die bildende Kunst sich programmatisch vom Figurativen löst und


die Malerei durch ihr Abstraktwerden die innersten Verhältnisse der
modernen Welt adäquat zu erreichen sucht, kommt es bei den Phi-
losophen Scheler, Plessner und Gehlen zur kategorialen Wiederein-
führung der Körper-Figur des Menschen in die Theorie, des Konkre-
ten in das abstrakte Medium der Reflexion. Das ist nicht nur einer
der von der Philosophischen Anthropologie immer wieder aufgespür-
ten Prozesse des Ausgleichs, der Gegenläufigkeit in der Moderne –
diesmal in der Theorie selbst –, sondern der systematische Einsatz bei
der Körperlichkeit und spezifischen Sinnlichkeit des Menschen ver-
schafft ihnen offensichtlich auch die Voraussetzungen, Bildlichkeit,
die Eigenlogik des Bildes im Unterschied zur Sprachlichkeit zu be-
greifen und damit auch das Abstraktwerden des Bildes als eine der
Möglichkeiten des Menschen zu verstehen. Eine bildliche Dezentrie-
rung des Menschen, seine Deformation im Bild konnten die Philoso-
phischen Anthropologen durchaus als Möglichkeit begreifen, hatten
sie den ›Verlust der Mitte‹, den Mangel an geschlossener Gestalt be-
reits selbst konstitutionell in ihre Grundkategorien (»Weltoffen-
heit«, »exzentrische Positionalität«, »Mängelwesen«) eingebaut.

1957 scheiterte die Absicht, die Rothacker-Nachfolge im Sinne der


Fortführung Philosophischer Anthropologie auf einem Philosophie-
Lehrstuhl zu lösen. Obwohl der Nachdruck der Bonner zu der Ab-
sprache der zwei betroffenen Kultusminister geführt hatte, Plessner
bei vorzeitiger Emeritierung in Göttingen als persönlichen Ordina-
rius in Bonn zu berufen, solange bis geeigneter Nachwuchs zur Ver-
fügung stehe, erwies sich sein Fall als zu kompliziert. Es gelang nicht,
die nötige Zustimmung der beiden Göttinger Fakultäten zu gewin-
nen. Plessner sagte ab. Rothackers nochmaliger Versuch, Gehlen ins
Spiel zu setzen, misslang. Litts Kritik des ›Naturalismus‹ der Geh-
lenschen Anthropologie wurde ausdrücklich durch ein auswärtiges
Gutachten von Josef König unterstützt. Litt wie König, die beide aus
anderen Denkrichtungen (Idealismus bzw. Sprachanalytik) kamen,
bestritten am Fall Gehlen die Möglichkeit einer Philosophischen
Anthropologie. Wegen systematischer Einbeziehung empirischen
Wissens sei Gehlens Anthropologie weder Wissenschaft noch Philo-
sophie: »Wenn ich Gehlens Wissenschaft vom Menschen eine Pseu-
do-Wissenschaft nenne, so meine ich […], dass sie überhaupt keine
Wissenschaft ist sondern eine Philosophie, aber eine Philosophie, die

310 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Nachfolge (1955–1960)

sich von anderen Philosophien dadurch unterscheidet, dass sie keine


sein will.« 47

Damit war der einzige philosophische Lehrstuhl, von dem aus Phi-
losophische Anthropologie eine personelle Kontinuität hätte gewin-
nen können, verloren. 1958 rückte für Gehlen eine zweite Chance in
die Reichweite, wieder einen Ruf an eine renommierte deutsche Uni-
versität zu erhalten. Karl Löwith, der wie Rothacker von Gehlens
geschichtlich durchgearbeiteter Philosophischer Anthropologie in
›Urmensch und Spätkultur‹ beeindruckt war, hätte Arnold Gehlen
gern in Heidelberg als Soziologen gesehen, wollte ihn jedoch »vorher
über seine derzeitige Haltung zum Nazismus eben zur Rede […]
stellen«. 48 Gehlen äußerte sich zum ersten Mal – und einem Emig-
ranten gegenüber – »über einige ziemlich drastisch formulierte na-
tionalsozialistische Sätze« – so Gehlens eigene Worte – in der ersten
Auflage von ›Der Mensch‹, verteidigte seine Hauptargumentation
(Einheit der Gattung gegenüber Rassenidee) im Verhältnis zu diesen
Sätzen, erwähnte die Entfernung der letzteren schon in der Auflage
von 1944 und schrieb, dass er Löwith »ausdrücklich dafür Respekt
und Dank bezeuge, daß Sie mich stellten. Ich habe damit das erste
Mal Gelegenheit gefunden, zu dem ganzen Sachverhalt schriftlich
und ausdrücklich Stellung zu nehmen«. 49 Nach diesem »sehr erfreu-
lich offenen Brief« stand für Löwith offensichtlich Gehlens Berufung
nichts mehr entgegen. 50 Sachlich gesehen hatte Löwith sich ja in sei-
nem Beitrag ›Natur und Humanität‹ in der Plessner-Festschrift 1957
dezidiert in die philosophisch-anthropologische Denktradition von
Plessner und Gehlen gestellt und damit indirekt Horkheimers Bei-
trag ›Zum Begriff des Menschen heute‹ im gleichen Band diametral
widersprochen.51 In diesem Fall der Berufung auf einen soziologi-

47 J. König an L. Weisgerber, 4. 2. 1956, Archiv der Universität Bonn, UAB-UV 77/149


(Wiederbesetzung Lehrstuhl Philosophie 1958 Martin).
48 A. Löwith, seine Frau, in einem Brief an L. Samson 11. 11. 1980, zitiert nach K.-S.

Rehberg, Nachwort des Herausgebers, GA 3.2, S. 878.


49 Gehlen an Löwith 19. 3. 1958, zit. nach: K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers,

GA 3.2, S. 876–878.
50 So jedenfalls A. Löwith, seine Frau, an L. Samson 11. 11. 1980, zitiert nach K.-S. Reh-

berg, Nachwort des Herausgebers, GA 3.2, S. 878.


51 Löwith unterschied sich von der Existenzphilosophie und der Kritischen Theorie vor

allem durch einen philosophisch-anthropologischen Gebrauch des Begriffs der »Ent-


fremdung« im Unterschied zu einem geschichtsphilosophischen. In der »alles mensch-
liche Verhalten kennzeichnenden Abständigkeit liegt die Möglichkeit der Vergegen-

Philosophische Anthropologie A 311


https://doi.org/10.5771/9783495999899
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

schen Lehrstuhl waren es nun Adorno und Horkheimer, die in von


anderer Seite geforderten Gegengutachten diese Berufung verhin-
derten. Für die Kritische Theorie, von Marx und Lukács her gedacht,
arbeitete Gehlens Anthropologie mit einem verdinglichten Men-
schenbegriff. Bereits 1957 berichtete Adorno an Horkheimer über
den Erfolg seiner schneidenden Kritik an Gehlen in einem Tagungs-
vortrag: »Da in der vorigen Woche Gehlen gesprochen hatte, hatte
ich mir von Habermas eine Reihe besonders schöner Gehlen-Zitate
zusammenstellen lassen, die ich kritisch behandelte. Zum Kontrast
gab ich ein paar Stellen aus dem ökonomischen-philosophischen Ma-
nuskript und der Deutschen Ideologie, in denen sich zeigt, wie sehr
der Begriff des Menschen nur gesellschaftlich vermittelt ist.« 52 Ador-
no war durch die Berufungsmöglichkeit Gehlens auf einen bedeuten-
den Lehrstuhl für Soziologie alarmiert. »Professor Kromphardt in
Heidelberg hat Sie ebenso wie mich« schrieb er an Horkheimer,
»um ein Gutachten gebeten, um die Berufung des Herrn Gehlen zu
verhindern. Da ich die Sache für äußerst ernst und wichtig nehme,
habe ich, um Zeit zu sparen, hier, auf Grund von Exzerpten von Ha-
bermas, ein Gutachten für Sie entworfen, das sorgfältig so gehalten
ist, daß es sich mit meinem eigenen nicht überschneidet.« Adorno
war sich nahezu sicher, »daß es wirklich an unseren Worten hängt,
daß dieser beispiellose Affront verhindert wird.« 53 Wenn er, so Hork-
heimer dann in seinem Gutachten, Gehlens Berufung nicht befür-
worte, so habe das mit Gehlens »persönlichem Verhalten in der Ver-
gangenheit recht wenig zu tun«. Vielmehr habe er bei einem Vortrag
Gehlens den entscheidenden Eindruck gewonnen, »daß die positive
Beziehung zu Macht und Irrationalität, die der Gehlenschen natura-
listisch-positivistischen Denkweise eigentümlich ist, der Bewahrung
und Entfaltung humanistischen und humanen Geistes, an der uns in
der Gegenwart mehr als je gelegen ist, entschieden entgegenstünde.«

ständlichung dessen, wozu man sich verhält. Wer sich aber der Welt und sich selbst kraft
eines solchen entfernenden Abstandnehmens vergegenständlichend gegenüberstellt,
der hat sich damit der Welt und sich selbst entfremdet. Als ein Fremdling kann und
muß sich der Mensch in der Welt wie in etwas Anderes und Fremdes einhausen, um
im Anderssein bei sich selbst sein zu können. Aus dem Abstand der Entfremdung kann
der Mensch allem, was ist, näher kommen und sich das scheinbar schon Vertraute als ein
Befremdliches aneignen. […] Die Möglichkeit der Entfremdung […] gehört zur Natur
des alles in Frage stellenden Menschen.« K. Löwith, Natur und Humanität, a. a. O.,
S. 285 f.
52 Adorno an Horkheimer, 14. 2. 1957, Nachlaß Horkheimer.

53 Adorno an Horkheimer, 23. 4. 1958, Nachlaß Horkheimer.

312 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Nachfolge (1955–1960)

Seine »Bejahung sozialer Gebilde auf Kosten der Menschen läuft


schließlich auf die Krieck’sche These hinaus, daß nur das Opfer frei
mache, das Opfer um des Opfers willen.« »Jedenfalls scheint mir die
naturalistische Anthropologie« »zur darwinistisch konzipierten Na-
tur« zurückzurufen. 54 Löwiths Plan einer Berufung Gehlens nach
Heidelberg zerschlug sich.

Aus der Sicht einer Bildungsgeschichte der Philosophischen Anthro-


pologie erzählt, war der Denkansatz nach den Initiativen von Roth-
acker und Löwith in Gefahr. Die ersten Versuche, das Paradigma der
Philosophischen Anthropologie durch eine Ideenvergesellschaftung
an einer deutschen Universität abzustützen, waren missglückt. Ge-
genströmungen blockierten den produktivsten Vertreter des Ansat-
zes. Wegen des Zwistes zwischen den Protagonisten konnte sich
Plessner, der im Schatten von Gehlens Präsenz stand, nicht zur Un-
terstützung entschließen. Dennoch gelangt die Philosophische An-
thropologie durch Plessner Ende der 1950er Jahre doch noch zu neuer
Prägnanz, die in der Folge auch die soziologische Forschung anregt.
Herausgefordert durch Gehlens Präsenz, findet er gegen Ende seiner
Lehrtätigkeit, im Echoraum öffentlicher Ämter, die er im Verlauf der
Jahre akkumuliert, zu charakteristischen sozialanthropologischen
Kategorien und zu einer bio-anthropologisch fundierten Konkretion
seiner Arbeiten. Auslösendes Moment von Plessners nochmaliger
Konzentration war aber eine den Denkansatz insgesamt bündelnde
Darstellung von außen, im Blick eines Dritten.

1958 erschien der Lexikon-Artikel von Jürgen Habermas zur »An-


thropologie« im Fischer-Lexikon ›Philosophie‹. 55 Zum Band trugen
durchweg jüngere Philosophen verschiedenster Herkunft bei, die
Einleitungsskizze zur Philosophie des 20. Jahrhunderts stammte von
H. Plessner. Neben systematischen Artikeln: Erkenntnistheorie, On-
tologie, Ethik etc. kamen nach dem Willen der Herausgeber Denk-
richtungen des 20. Jahrhunderts zur Darstellung: »Anthropologie,
Phänomenologie, Existenzphilosophie, Materialismus, Positivismus«

54 M. Horkheimer an Wilhelm Kromphardt, 29. 4. 1958, in: Ders, Gesammelte Schrif-


ten, hrsg. v. A. Schmidt/G. Schmid Noerr, Bd. 18, Briefwechsel 1949–1973, Frankfurt
a. M. 1996, S. 419 f.
55 J. Habermas, Anthropologie, in: A. Diemer/I. Frenzel (Hrsg.), Philosophie. Mit einer

Einleitung von H. Plessner, Frankfurt a. M. 1958, S. 18–35.

Philosophische Anthropologie A 313


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

und Neopositivismus. 56 Anthropologie wurde hier also deutlich als


Denkrichtung, nicht als Disziplin behandelt. Die Denk-›Schule‹ der
Philosophischen Anthropologie hatte somit die gute Chance, in ei-
nem publikumswirksamen philosophischen Fachband sich neben der
Phänomenologie, der deutschen und französischen Existenzphiloso-
phie und dem Logischen Positivismus zu konsolidieren; für die kriti-
sche Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule war kein eigener
Artikel vorgesehen. Habermas brachte gute Voraussetzungen für
die Darlegung des autorenübergreifenden Denkansatzes der Philo-
sophischen Anthropologie mit: als Schüler Hartmanns, Litts, Oskar
Beckers und Rothackers, seines Doktorvaters 57, war er mit Philo-
sophischer Anthropologie aus den Quellen vertraut, hatte Bespre-
chungen sowohl zu Plessner wie Gehlen geschrieben. Als er den Ar-
tikel schreibt, ist er allerdings schon seit 1956 Assistent von Adorno
am Frankfurter Institut für Sozialforschung. 1956 hatte er auch einen
Frankfurter Vortrag Herbert Marcuses über ›Die Idee des Fortschritts
im Lichte der Psychoanalyse‹ emphatisch rezensiert, der den Begriff
der nicht-repressiven Sublimierung einführte: »Die Dialektik des
Fortschritts hat heute eine nicht repressive Kultur objektiv möglich
gemacht, ›die morgen oder übermorgen realisiert werden könne,
wenn die Menschen nur endlich wollen‹«. 58 Der Handbuch-Artikel
von Habermas über die Philosophische Anthropologie wird wegen
seiner sachlichen Kompetenz, seiner Bündigkeit, seiner gleich ver-
teilten Aufmerksamkeit auf Scheler, Plessner, Gehlen, Rothacker,
auch Portmann, zur Standardauskunft über diesen Denkansatz wer-
den. Er setzt die von Hartmann, Wein, Rothacker begonnene Kano-
nisierung des Paradigmas fort. Tatsächlich ist dieser Artikel aber zu-
gleich ein dialektischer Kunstgriff, weil er in einem Zuge mit der
luziden Darstellung der Philosophischen Anthropologie sie von in-

56 A. Diemer/I. Frenzel (Hrsg.), Philosophie, a. a. O., S. 5 f.


57 Habermas bezeichnet im seiner Dissertation beigefügten Lebenslauf neben Roth-
acker, Litt, O. Becker auch N. Hartmann als seinen philosophischen Lehrer. J. Habermas,
Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken, Diss.
Bonn 1954. Noch 1956 schreibt er einen Nachruf auf L. Klages, dessen Werk er über
Rothacker kennengelernt hatte: J. Habermas, »Ludwig Klages – überholt oder unzeit-
gemäß? Zum Tode des deutschen Philosophen«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. 08.
1956. Er war auch mit einem Beitrag in der Festschrift Rothacker vertreten: J. Haber-
mas, Soziologische Notizen zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit, in: Konkrete Ver-
nunft. Festschrift für E. Rothacker, hrsg. v. G. Funke, a. a. O., S. 219–231.
58 J. Habermas, Triebschicksal als politisches Schicksal, in: FAZ 14. 7. 1956.

314 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Nachfolge (1955–1960)

nen heraus zersetzt zugunsten der Kritischen Theorie der Gesell-


schaft.
Habermas setzt mit der Bestimmung ein, dass »philosophische
Anthropologie« als Philosophie Forschungsergebnisse von Wissen-
schaften über den Menschen verarbeite, das gegenständliche Wissen
sinnverstehend deute. Die Kategorien nun, so Habermas, unter de-
nen die philosophischen Anthropologen die Menschenkenntnis der
Wissenschaften verarbeiten, »sind gleichzeitig Kategorien, unter de-
nen sich auch die Gesellschaft, auch die geschichtliche Lage verste-
hen, der die Betrachter selbst angehören. Eine kritische Anthropolo-
gie unterschlägt das nicht.« 59 Damit ist der Urteilsrahmen gesetzt.
Nach dieser Exposition setzt die Darstellung ein: »Die philoso-
phische Anthropologie ist in den zwanziger Jahren unseres Jahrhun-
derts durch Untersuchungen von Max Scheler und Helmuth Plessner
entstanden.« Die moderne philosophische Anthropologie sei eine
»›reaktive‹ philosophische Disziplin«, die die vorgegebenen Wissen-
schaften – der Biologie, der Psychologie – nicht mehr begründe, son-
dern verarbeite. Ihre großen Motive hingegen stammten alle aus der
Tradition von Herder bis Marx: die Instinktschwäche, die bedürftige
Existenz, die Notwendigkeit zur Handlung bzw. zur Arbeit, der ge-
schichtliche Charakter der gesellschaftlichen Arbeit, in der sich die
Gattung erhält und fortlaufend herstellt. Habermas führt dann die
Ideenträger der spezifischen Gruppe nacheinander ein: wie Scheler
von 1922–1928 in Auseinandersetzung mit dem Tier-Umwelt-Ver-
hältnis die Kategorie »Weltoffenheit« gewinne durch die Metaphysik
von Geist und Leben; wie Plessner – nach Vorarbeiten einer Ästhe-
siologie des Geistes – 1928 sein grundlegendes Buch ›Die Stufen des
Organischen und der Mensch‹ vorlegt, das die Anthropologie aus der
metaphysischen Klammer löse: »exzentrische Positionalität« arbeite
als ein Strukturbegriff, der alle menschlichen Monopole in ihrer Ver-
bundenheit aufweise, ohne auf ein darüberhinausgreifendes Prinzip
zu rekurrieren. Arnold Gehlen schließlich verarbeite den Stand der
biologischen Forschung – Bolk, v. a. aber Portmann, Storch – »mit
Motiven von Scheler, Plessner und G. H. Mead […] zu einer syste-
matischen Anthropologie.« »In minutiösen Analysen am ›Hand-
lungskreis‹, am Zusammenspiel von Hand, Auge, Tastsinn und Spra-
che« demonstriere Gehlen das Prinzip der »Entlastung« bei der
menschlichen Lebenserhaltung.

59 J. Habermas, Anthropologie, a. a. O., S. 19.

Philosophische Anthropologie A 315


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Ab jetzt lässt Habermas – bei weiter fortgeführter Darstellung –


Momente der Kritik auftauchen, zunächst die von Th. Litt an der
anthropologischen Reduktion des Geistes: »Offensichtlich reicht aber
der Maßstab biologischer Zweckmäßigkeit nicht aus, um den Sinn
gesellschaftlichen Handelns ganz zu erschöpfen.« »Gehlen hat sich
denn auch in seinen neueren Versuchen teilweise korrigiert«, indem
er nun neben dem instrumentellen das auf instinktresiduale Auslöser
reagierende mimetisch-darstellende Verhalten einführe. Weiterhin
würde die Begrenztheit einer allein auf Handlung abzielenden An-
thropologie – wie der Gehlenschen – sichtbar in der systematischen
Vernachlässigung der genuin menschlichen Ausdrucksgebärden, wie
sie in Plessners »tiefgründiger Untersuchung« zum Lachen und Wei-
nen ihre anthropologische Beachtung fänden. Hier in den spezifisch
menschlichen Ausdrucksgebärden (wie noch der Scham, des Ekels in
den Analysen von Hans Lipps) stoße die Philosophische Anthropolo-
gie auf das Phänomen, dass der Mensch von Haus nicht einfach ist,
was er ist: »es gibt unter Menschen keine Bewegung, kein Verhalten,
genau genommen nicht einmal einen Ausdruck, der ›natürlich‹ ist.
Immer schießt in sein Gebaren etwas von dem ein, was der Mensch
nicht von Natur aus schon ist, wozu er sich selber vielmehr erst
macht.« 60 Diese »Selbstbestimmung«, so Habermas, wird hier so ge-
deutet und dort anders, »je nach der geschichtlichen Lage und der
gesellschaftlichen Verfassung, in der die Menschen leben, nach der
Art und Weise, in der sie ihr Leben reproduzieren.« 61
Jetzt ist Habermas soweit, dass er in der luziden Darstellung die
Selbstauflösung des Denkansatzes weiter fortschreiben kann, wobei
er nun Rothacker auftreten lässt: »Damit hängt am Ende eine Schwie-
rigkeit zusammen, die den Rahmen der Anthropologie sprengt: ›den‹
Menschen gibt es sowenig wie ›die‹ Sprache.« Rothacker habe zeigen
können, dass Menschen sowenig in ›der‹ Welt lebten wie sie ›die‹
Sprache sprechen würden; sie leben jeweils in den fast umwelthaft
beschränkten Welten ihrer konkreten Gesellschaften. Hochselektive
und traditionsfeste Interessen, Gewohnheiten und Haltungen (»Le-
bensstile«) seien nach Rothacker verbunden mit muttersprachlich ar-
tikulierten Weltbildern, und – wie Habermas hinzufügt – »beides
eingelassen in ein bestimmtes ›System‹ gesellschaftlicher Arbeit, in
Produktionsverhältnisse mit entsprechenden Institutionen politi-

60 Ebd., S. 30.
61 Ebd., S. 31.

316 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Nachfolge (1955–1960)

scher Herrschaft«. 62 Mit dieser – im Namen Rothackers herbeige-


führten – Geschichtlichkeit des Menschen treibt Habermas’ Darstel-
lung die Spaltung und innere Zersetzung der Philosophischen An-
thropologie fort. Der Mensch lebe also zugleich kulturell
umweltgebunden und weltoffen, und in dieser Dialektik erscheine
wieder die Tatsache – so Habermas –, »daß der Mensch Geschichte
hat und geschichtlich erst wird, was er ›ist‹. Eine beunruhigende Tat-
sache für eine Anthropologie, die es mit der ›Natur‹ des Menschen,
mit dem, was allen Menschen jederzeit gemeinsam ist, zu tun hat.«
Jetzt hat er die Lage so vorbereitet, dass er mit der Kritik an
Gehlen das ganze Projekt der Philosophischen Anthropologie treffen
kann. Wenn eine Anthropologie trotzdem daran festhält, »gewisser-
maßen ›ontologisch‹ zu verfahren, nämlich nur das Wiederkehrende,
das Immergleiche, das Zugrundeliegende an Mensch und Menschen-
werk zum Gegenstand zu machen, wird sie unkritisch und führt am
Ende gar zu einer Dogmatik mit politischen Konsequenzen, die um so
gefährlicher ist, wo sie mit dem Anspruch wertfreier Wissenschaft
auftritt.« 63 Als Beispiel dafür dient ihm Gehlens ›Urmensch und
Spätkultur‹, in dem dieser ein historisch frühes Stadium der mensch-
lichen Entwicklung generalisiere: Menschen könnten das ihnen feh-
lende Verhältnis von Auslöser und Instinkt nur durch verpflichtende
Institutionen wiederherstellen, jenseits derer die Subjekte gar keine
Lebensmöglichkeit hätten. Gegen Gehlens Kritik des Abbaus der In-
stitutionen im Namen der Subjektivität hält Habermas die reale
Möglichkeit der »Ersetzung blinder Herrschaft durch rationale Auto-
rität«. Es »können doch andere Verhältnisse geschichtlich ebenso
möglich und morgen schon wirklich sein, unter denen der Mensch
in dem Maße, in dem er Triebenergien sublimiert und sich selbst
gleichsam in die Hand bekommt, gerade unabhängig von den großen
›Zuchtsystemen‹« 64 der Institutionen sein werde. Nachdem Haber-
mas noch gegenüber der »Naivität Gehlens, bestimmte historische
Kategorien schlicht als anthropologisch ›notwendig‹ zu unterstellen«,
Rothackers Ansatz einer allgemeinen ›vergleichenden Menschen-
wissenschaft‹ mit ihrem Takt gegenüber den vielen historischen
Lebensformen würdigt, verwarnt er auch dessen »Kulturanthropo-
logie«, die darin gesuchte »Fülle kultursoziologischer Regelmäßig-

62 Ebd., S. 31.
63 Ebd., S. 32.
64 Ebd., S. 33.

Philosophische Anthropologie A 317


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

keiten und Typen […] der ›Natur‹ des Menschen« zuzuschlagen.


»Mit Sicherheit lassen sich in dieser Dimension anthropologische
Konstanten von historischen Variablen überhaupt nicht trennen, ja
die Frage scheint falsch gestellt.« 65
Nachdem er die Philosophische Anthropologie als Denkrichtung
im verwerflichen Kern mit Gehlens Werk identifiziert und Rothacker
vor dessen eigenem Forschungsprogramm gewarnt hat, schlägt er
zum Abschluss – indirekt – die Selbstauflösung der Philosophischen
Anthropologie in eine »Theorie der Gesellschaft« vor. Anthropo-
logie, insofern sie philosophisch ist, müsse sich selbst in ihrer ge-
schichtlich-gesellschaftlichen Vermitteltheit reflektieren. »Wer An-
thropologie treibt, kann nicht für sich die Position der Engel, des
›Bewußtseins überhaupt‹ beanspruchen, die er allen anderen ab-
spricht; auch er lebt in einer konkreten Gesellschaft, fragt insofern
aus einem ›dogmatischen‹ Ansatz (Rothacker), läßt seinen Begriff
vom Menschen anleiten durch die objektiven Interessen seiner Le-
benswelt, […] die aus den geschichtlichen Tendenzen der gesell-
schaftlichen Entwicklung hervorgehen.« Ideologiekritisch gesehen
spiegele der heute führende Begriff des handelnden und arbeitenden
Menschen »die Welt bürgerlicher Arbeit«. Philosophische Anthro-
pologie – und jetzt kommt der Umschlagpunkt – »wird darum nur
in dem Maße kritisch, wie sie sich im Wechselgespräch mit einer
Theorie der Gesellschaft begreift. Soziologie kann sich nicht, wozu
in Deutschland eine gewisse Neigung besteht, durch Anthropologie
als eine Art Grundlagenwissenschaft die Maßstäbe vorgeben las-
sen […]. Vielmehr muß sich die Anthropologie grundsätzlich ihren
Begriff vom Menschen erläutern lassen durch den Begriff der Gesell-
schaft, in dem er entsteht und nicht zufällig entsteht – nur so entgeht
sie der Versuchung, geschichtlich Gewordenes schlechthin als ›Na-
tur‹ auszugeben […].« Vorbild so einer »kritischen Anthropolo-
gie« 66 , ein Modell für diese Reflexion der Anthropologie in einer
»Theorie der Gesellschaft«, so schließt Habermas seinen Handbuch-
artikel über die »philosophische Anthropologie«, findet man in Un-
tersuchungen, die »Psychoanalyse und Soziologie aufeinander be-
ziehen (H. Marcuse).« 67

65 Ebd., S. 34.
66 Ebd., S. 19.
67 Ebd., S. 35. Zur Rezeption von Marcuse J. Habermas, Triebschicksal als politisches

Schicksal, in: FAZ 14. 7. 1956.

318 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Nachfolge (1955–1960)

Der luzide Artikel ist eine Darstellung der Philosophischen An-


thropologie, in der die Darstellungsoberfläche der Philosophischen
Anthropologie benutzt wird, um in feiner Destruktionslogik die »kri-
tische Theorie der Gesellschaft« in ihrer Überlegenheit der Selbst-
reflexion ihres Tuns hervortreten zu lassen. 68 Für die konkrete Bil-
dungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie bedeutete der
Artikel eine prekäre Situation, weil er eine durchaus prägnante Re-
präsentation von außen bedeutete und Habermas zugleich in Absicht
der auflösenden – weil aus der Binnenlogik entfalteten – Kritik die
Differenzen der Ideenträger haarscharf gegeneinander ausgespielt
hatte. Für Gehlen war es nicht überraschend, auf diese Weise trak-
tiert zu werden. Für Rothacker – mit seiner Konkurrenz zu Gehlen in
den 30er Jahren – war es eine Genugtuung, dass sein Schüler Haber-
mas, wenn auch in durchsichtiger Absicht, ihn vor Gehlen rückte.
Helmuth Plessner hingegen brachte der Artikel-Verfasser Habermas
durch seine Darstellung in eine Zwickmühle. Plessner sah sich in der
philosophischen Öffentlichkeit Ende der 50er Jahre durch den jungen
Habermas, der Plessners Leiden an der vertrackten Verfemung zwi-
schen Scheler und Gehlen und am Exilschicksal gegenüber den
›Reichsprivilegierten‹ kannte, zum ersten Mal repräsentativ inner-
halb des Denkzusammenhanges zur Darstellung gebracht, richtig
gewürdigt zwischen Scheler und Gehlen, mit präziser Wiedergabe
seiner Kernideen. Zugleich muss er gespürt haben, dass – bei aller
Genugtuung verschaffenden Repräsentation – in der Konsequenz
dieser Darstellung, in der die auf Gehlen zugespitzte Philosophische
Anthropologie zugunsten der kritischen »Theorie der Gesellschaft«
überwunden wurde, seine zentralen Ideen eines »naturphilosophi-

68 1957/1958, also um die Zeit des Anthropologie-Artikels herum, empfiehlt Horkhei-


mer gegen den Widerstand von Adorno die Entfernung Habermas’ aus dem Institut für
Sozialforschung wegen der Radikalität seines Aufsatzes ›Zur philosophischen Diskussi-
on um Marx und den Marxismus‹ (1957) und seiner Einleitung zur empirischen Studie
›Student und Politik‹ : ›Über den Begriff der politischen Beteiligung‹. Habermas plädiere
für die Ablösung der autonomen Philosophie durch eine Geschichtsphilosophie in prak-
tischer Absicht, arbeite der Diktatur und dem Untergang der letzten Reste der bürgerli-
chen Zivilisation in die Hände. Zu Habermas’ emphatischen Begriff der politischen Be-
teiligung meinte Horkheimer: »Wie soll denn das Volk, das ›in den Fesseln einer […]
bürgerlichen Gesellschaft in liberal-rechtsstaatlicher Verfassung gehalten wird‹, in die
sogenannte politische Gesellschaft übergehen, für die es nach H. ›längst reif‹ ist, wenn
nicht durch Gewalt. Solche Bekenntnisse im Forschungsbericht eines Instituts, das aus
öffentlichen Mitteln dieser fesselnden Gesellschaft lebt, sind unmöglich.« Horkheimer
an Adorno 27. 9. 1958, zit. n. R. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, a. a. O., S. 615.

Philosophische Anthropologie A 319


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

schen Ansatzes« der »philosophischen Biologie und Anthropologie«


(so 1928 in den ›Stufen‹) mit untergehen mussten.
Dass Plessner sich zu einer indirekten öffentlichen Antwort ent-
schloss, in der die Integrität der gesamten Philosophischen Anthro-
pologie gewahrt blieb, hatte auch zu tun mit der öffentlichen Auf-
merksamkeit, die ihm inzwischen anderwärts zuteil wurde. Die
Augen richteten sich auf ihn durch die ihm – fast parallel zur Roth-
acker-Festschrift – gewidmete Festschrift 69 , durch die Neuveröffent-
lichung seiner Deutschlandstudie (›Schicksal deutschen Geistes am
Ausgang seiner bürgerlichen Epoche‹ von 1935) unter dem Titel ›Die
verspätete Nation‹. Zudem hatte er sich durch eine inzwischen akku-
mulierte Repräsentanz von Ämtern und Funktionen 70 eine Stellung
erworben, die seinen Äußerungen Gehör verschaffte. 1959 hatte er
auf dem Berliner Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie
eine Bestimmung der Soziologie vorgeschlagen, die sich deutlich von
der ›Kritischen Theorie der Gesellschaft‹ in Frankfurt absetzte: »Das
die soziale Wirklichkeit ihren Angehörigen gegenüber immer erst
dann ins Blickfeld zu treten scheint und Anstoß zur Beobachtung
bietet, wenn es mit ihr nicht mehr stimmt, bedeutet für die Etablie-
rung der Soziologie als Fach das öffentliche Eingeständnis des Unver-
mögens, die Unstimmigkeiten in kurzer Frist und sozusagen aus dem
Handgelenk des Armes der Gerechtigkeit in Ordnung bringen zu
können. […] Kein Mensch verteidigt oder behauptet die Soziologie
mehr als Geschichtsphilosophie, weder aus liberalistischer noch aus
sozialistischer Sicht.« Und er spitzte die Aufgabe der Soziologie zu:
»Eine institutionalisierte Dauerkontrolle gesellschaftlicher Verhält-
nisse in kritischer Absicht und in wissenschaftlicher Form – und das
ist Soziologie als Fach – rechtfertigt sich allein gegenüber einer offe-
nen Gesellschaft, die aus Achtung vor dem einzelnen Menschen oder
im Interesse einer Mobilisierung seiner produktiven Kräfte ihre Pla-
nung bewusst begrenzt und sich selber freie Räume ihrer eigenen
Gestaltung zugesteht.« Und er spitzte zu: »Es gibt für diesen selbst-

69 K. Ziegler (Hrsg.), Wesen und Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für Helmuth
Plessner, Göttingen 1957; mit Beiträgen von Jaspers, Litt, Löwith, Walter Schulz, Buy-
tendijk, Portmann, Bollnow, Josef König, Horkheimer, Adorno u. a. Besprechung der
Festschriften für Rothacker und Plessner: E. Ströker, Zur gegenwärtigen Situation der
Anthropologie, in: Kantstudien, Jg. 51 (1959/60), S. 461–479.
70 Neben den erwähnten Führungsfunktionen in den Fachverbänden der Philosophie

und Soziologie wurde er 1960 Rektor der Universität Göttingen; dadurch verlängerte
sich seine Lehrstuhlbesetzung um ein Jahr.

320 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Nachfolge (1955–1960)

empfindlichen Beobachtungsstoff keine Theorie, die nicht kritische


Theorie ist und als Kritik ein uneingestandenes Bekenntnis für oder
gegen die Grundlagen der offenen Gesellschaft enthält.« 71

Für die Konsolidierung der Philosophischen Anthropologie erweist


sich als wichtig, dass Plessner auf die Herausforderung, die für ihn
die gesamte Entwicklung in den 1950er Jahren bedeutete, Antworten
findet, die eine Fortentwicklung früherer Motive aus den 20er Jahren
einschließen.
Gehlens dominante sozialanthropologische Kategorie der »In-
stitution« und Habermas’ daran geknüpfte Aufforderung, die in
einem Begriff ›menschlicher Natur‹ fundierte Philosophische An-
thropologie zu liquidieren zugunsten einer »kritischen Theorie der
Gesellschaft« rational-repressionsfreier Sublimierung, musste Pless-
ner vor Augen führen, dass seine Soziologie und Sozialphilosophie
bisher keine gleichermaßen konturierte sozialanthropologische Kate-
gorie auskristallisiert hatte. Sicher ermunterte ihn, dass der Göttin-
ger Staatsrechtler Rudolf Smend 1955 in einer Abhandlung ›Zum
Problem des Öffentlichen und der Öffentlichkeit‹ beiläufig Plessners
frühe Sozialphilosophie im Verhältnis zu Heideggers weitverbreite-
ter Verdachtskategorie des Öffentlichen erwähnenswert fand, die
Dinge für die 20er Jahre ins Lot rückend: »Über Wesen und Gel-
tungsanspruch der Öffentlichkeit schwanken die Urteile in Deutsch-
land noch heute in einem Maße, wie es wohl nirgendwo im Ausland
denkbar wäre. Ich zitiere für die – bezeichnend deutsche – Ablehnung
den wohl bekanntesten Beleg aus § 27 von Heideggers ›Sein und
Zeit‹ : ›Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung konstituieren
als Seinsweisen des Man das, was wir als Öffentlichkeit kennen. Sie
regelt zunächst alle Welt- und Daseinsauslegung und behält in allem
Recht, […] nicht weil sie über eine ausdrücklich zugeeignete Durch-
sichtigkeit des Daseins verfügt, sondern […] weil sie unempfindlich
ist gegen alle Unterschiede des Niveaus und der Echtheit. Die Öffent-
lichkeit verdunkelt alles und gibt das so Verdeckte als das Bekannte
und jedem Zugängliche aus.‹ Der gegensätzliche«, fährt Smend fort,
»ungleich sorgfältiger (auch im Ethischen) begründete Standpunkt
ebenso bezeichnender Weise in der Defensive bei H. Plessner, Gren-

71 H. Plessner, Der Weg der Soziologie in Deutschland (1960), GS X, S. 191–211.

Philosophische Anthropologie A 321


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

zen der Gemeinschaft, 1924.« 72 Nur war diese gegensätzliche Positi-


on kaum jemandem vertraut, weil von Plessner seit 1924 nicht neu
ausgearbeitet. Zupass kam Plessner im Wagnis der Wiederanknüp-
fung in jedem Fall die in der deutschen Soziologie gerade geführte
Debatte um den empirisch-analytischen Wert des Rollenbegriffs. 73
Plessner entschloss sich zu einer Antwort mit zwei dezidiert so-
zialanthropologischen Texten: zum ›Problem der Öffentlichkeit und
der Idee der Entfremdung‹ (1960) und ›Soziale Rolle und mensch-
liche Natur‹ (1960). Er markierte »Öffentlichkeit« und »soziale
Rolle« als spezifisch anthropologische Kategorien. Dabei ging er aus
von dem doppelten Faktum des sozialen Wandels der öffentlichen
Sphäre 74 : Die Gesellschaft als industrielle Arbeitsgesellschaft zieht
sich in der Gegenwart unter der Kategorie der Leistungsarbeit ihre
Individuen heran, erzwingt ihre Vergesellschaftung und Veröffent-
lichung einerseits; andererseits ragt die Gesellschaft in Form tech-
nischer Massenkommunikationsgesellschaft als Öffentlichkeit bis in
die private Sphäre hinein. Von diesem Tatbestand unterschied Pless-
ner die herrschende Deutung dieser Wandlungen als eines Selbstent-
fremdungsprozesses des Menschen. Vom Philosophem der »mensch-
lichen Selbstentfremdung« her erscheine das einzelne menschliche
Individuum als bloßer Funktionsträger, als »soziale Rolle, die ihm
von einer verwalteten Welt zudiktiert wird« und ihn damit der Tota-
lität des Anonymen ausliefert.
Plessners ausführliche Charakteristik der »Idee der Entfrem-
dung« war deutlich sichtbar an die von Gehlen 1952 vorgelegte Re-
konstruktion vom »roten Faden« dieser Idee aus dem Idealismus bis
zur Verbindung von Marxismus und Psychoanalyse angelehnt. 75
»Dieses Theorem«, so Plessner, »Erbe und Liquidation des deutschen
Idealismus in einem, seine neunte Symphonie, hat damit bis heute
ein Prinzip virulent gehalten, daß der Mensch mit sich identisch wer-
72 R. Smend, Zum Problem des Öffentlichen und der Öffentlichkeit (1955), in: Ders.,
Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2. Aufl. Berlin 1968, S. 472.
73 R. Dahrendorf, Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kri-

tik der sozialen Rolle, Köln 1959.


74 H. Plessner, Das Problem der Öffentlichkeit und die Idee der Entfremdung (1960),

GS X, S. 212–226.
75 Plessner machte das so: Er erwähnte den Namen Gehlen nicht im Text, führte aber

ausdrücklich Gehlens Aufsatz von 1951: ›Die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung‹
im der Rede beigefügten Literaturverzeichnis auf; Plessner, Das Problem der Öffentlich-
keit, GS X, S. 226. Da er sonst nie einen speziellen Aufsatz von Gehlen erwähnt hatte,
war das ein ungewöhnliches Zeichen.

322 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Nachfolge (1955–1960)

den müsse, weil er es einmal gewesen sei und an dieser Grundfigur


der Zurücknahme seiner Taten, in denen er sich entäußere, Grund
und Gewähr seiner Freiheit besitze.« 76 Plessner schrieb Gehlens »ro-
ten Faden« fort. Durch Koinzidenz im Theorem der »menschlichen
Selbstentfremdung« würden zwei gegenwärtige »Philosopheme« das
Phänomen der modernen Öffentlichkeit entwerten: »Marxismus«
und »Existentialismus«. »Dieser entwertet Öffentlichkeit zur ver-
flachten, uneigentlichen Weise menschlichen Daseins, indem er In-
nerlichkeit mit Eigentlichkeit gleichsetzt, jener entwertet Öffentlich-
keit in ihrer heutigen Form als Ausdruck des seiner Entfremdung
noch nicht Herr gewordenen Menschen.« Mit Existentialismus
meinte Plessner Heidegger, mit Marxismus deutlich vernehmbar –
»verwaltete Welt«, »marxistische Eschatologie« – Adorno und
Bloch. 77
Gegen die Hintergrundidee der Kritik der menschlichen Selbst-
entfremdung – der Grundfigur des Zusammenfallens von Innen und
Außen: das Inwendige wird wie das Auswendige und das Auswendige
wie das Inwendige sein – entfaltet Plessner das Theorem von der
grundsätzlichen Rollenhaftigkeit der menschlichen Existenz. Nur
durch die »soziale Rolle«, die einem Menschen von woanders her
zukommt, die einer zu spielen hat, die Forderungen an ihn stellt,
gelangt menschliche Existenz in Kontakt zu sich selbst. »Was uns an
ihr stört, das Moment des Zwangs, den sie auf mein Verhalten aus-
übt, ist zugleich die Gewähr für jene Ordnung, die ich brauche, um
Kontakt mit anderen zu gewinnen und zu halten. Der Abstand, den
die Rolle schafft, im Leben der Familie wie in dem der Berufe, der
Arbeit, der Ämter, ist der den Menschen auszeichnende Umweg
zum anderen, das Mittel seiner Unmittelbarkeit. […] Nur der
Mensch hat, weil er weder Engel noch Tier ist, die Möglichkeit, ein
Wolf im Schafspelz oder ein Schaf im Wolfspelz zu sein – nicht zu
vergessen die häufigste Form: Schaf im Schafspelz. Tiere und Engel
haben weder Kern noch Schale, alles sind sie mit einem Male. Nur
der Mensch erscheint als Doppelgänger, nach außen in der Figur sei-
ner Rolle und nach innen, privat, als er selbst.« 78 Erst in der anthro-

76 H. Plessner, Das Problem der Öffentlichkeit, GS X, S. 220.


77 Im Literaturverzeichnis sind Th. W. Adorno (Erfahrungsgehalte der Hegelschen Phi-
losophie (1960)) und E. Bloch (Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel (1951)) aus-
drücklich angeführt, ebd., S. 226.
78 Ebd., S. 223 f.

Philosophische Anthropologie A 323


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

pologischen Anerkennung der Rollenhaftigkeit des Menschen wür-


den der ins »Riesenhafte gewachsenen Öffentlichkeit […] die Kräfte«
zuwachsen, »die sie braucht, um menschlich gemeistert zu wer-
den.« 79
Plessner gewann also seine sozialanthropologische Kategorie
der »sozialen Rollen«, die die Kernstruktur der »›Öffentlichkeit‹ als
Realisierungsmodus des Menschen« 80 bilden, im Rückgriff auf die
›Grenzen der Gemeinschaft‹ von 1924 und die ›Anthropologie des
Schauspielers‹ von 1948, beide rekonstruiert über das anthropologi-
sche Grundgesetz der »vermittelten Unmittelbarkeit« von 1928. Der
Mensch gibt »sich erst sein Wesen kraft der Verdoppelung in einer
Rollenfigur, mit der er sich zu identifizieren versucht. Diese mögliche
Identifikation eines jeden mit etwas, das keiner von sich aus ist, be-
währt sich als einzige Konstante in dem Grundverhältnis von sozialer
Rolle und menschlicher Natur.« 81 Plessner setzt gegenüber Gehlens
Kategorie der »Institution« (die er nicht aufführt) mit seinen sozial-
anthropologischen Kategorien »Rolle« und »Öffentlichkeit« zwar
einen verschobenen Akzent – statt auf das Stabilisierungsmoment
(Institution), auf das Gehlen alles ankommt, auf das Erscheinungs-
moment (»Maske«) abhebend –, aber die Argumentationsfigur, der
Mensch könne zu sich und anderen ein Verhältnis nur »indirekt«,
»auf einem Umwege« (Gehlen), über ein Fremdes (»das keiner von
sich aus ist«, das nicht aus »Selbstbetätigung« stammt (Plessner))
erreichen, ist dieselbe, und die Reibungsschärfe gegen den Auf-
hebungscharakter der Selbstentfremdungsformel – »mit sich eins,
zu sich gekommen, für sich selbst geworden« 82 – deckungsgleich.
Dass Plessner auf eine Liquidierungsaufforderung des Gesamtansat-
zes der Philosophischen Anthropologie reagierte, indem er Gehlen in
der inhaltlichen Ausarbeitung nachfolgte, dabei aber seine eigenen,
schon davor liegenden, in die Gründungsphase des Denkansatzes
während der 20er Jahre fallenden Ideen nachahmte, sie ausarbeitete
und mit dieser sozialanthropologischen Intervention hervortrat und
Aufsehen erregte, trug zur Konsistenz und Konsolidierung des
Denkansatzes bei. Mit ihrer anthropologisch-soziologischen Aufklä-

79 Ebd., S. 225.
80 Das war Plessners unausgeführt gebliebene Formel der Sozialanthropologie in den
›Stufen des Organischen und der Mensch‹ (1928) gewesen; vgl. H. Plessner, Die Stufen
des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 345.
81 H. Plessner, Soziale Rolle und menschliche Natur (1960), GS X, S. 227–240.

82 Ebd., S. 236.

324 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Nachfolge (1955–1960)

rung über die konstitutive Distanz der Menschen untereinander,


über das künstlich vermittelte Verhältnis zueinander (ob nun im Be-
griff der »Rolle« oder im Begriff der »Institution«) leistete diese Art
der Sozialphilosophie auch eine kontinuierliche Aufklärung über die
mentalen Voraussetzungen des Nationalsozialismus, in dem das Ver-
langen nach Gemeinschaft und unentfremdeter Unmittelbarkeit in
seiner völkischen Variante in Gewaltherrschaft, Ausgrenzung und
Vernichtung umgeschlagen war. 83

Damit hatte Plessner aber immer noch keine passende Antwort auf
die Gehlensche Herausforderung der Anthropo-Biologie gefunden.
Gehlens philosophisch-anthropologische Kategorien machten des-
halb Furore, weil sie so dicht im Material der empirischen Anthro-
pologie gearbeitet waren, von dem sie sich durch den konstruktiven
Charakter ihrer Bildung zugleich abhoben. Plessner war es während
der ganzen Jahre nicht gelungen, auch für das interessierte Publikum
nicht gelungen, das Zwischenstück zwischen seiner eigenen natur-
philosophischen Herleitung der »exzentrischen Positionalität« des
Menschen aus den zwanziger Jahren und Gehlens anthropo-biologi-
scher, die Fakten des spezifisch menschlichen Organismus gründlich
auswertenden und durcharbeitenden Heraufführung des Menschen,
vorzuführen. Die neugewonnenen sozialanthropologischen Katego-
rien verlangten ebenfalls nach dieser Verankerung.
Von den Historikern G. Mann und A. Heuß aufgefordert zu
einer Einleitung in die ›Propyläen-Weltgeschichte‹, also einer wei-
teren repräsentativen Äußerung, ergreift er die Gelegenheit, um im
selben Zeitraum, 1960, und in einem Zuge in der großen Abhand-
lung zur ›Conditio humana‹ 84 ein Resümee und eine Revision zu-

83 Hierbei spielte Plessners erwähnte Neuauflage seiner Deutschlandstudie (›Verspätete


Nation‹) eine Rolle mit ihrem die These zuspitzenden Untertitel ›Über die politische
Verführbarkeit bürgerlichen Geistes‹. Z. B. Habermas schrieb eine ausführliche Bespre-
chung: J. Habermas, ›Die Grenze in uns‹. Helmuth Plessner: ›Die verspätete Nation‹, in:
Frankfurter Hefte Jg. 14, (1959), S. 826–831, Auf der Spur Plessners v. a. sein Schüler
Ch. Graf v. Krockow mit seiner kritischen Studie: Die Entscheidung. Eine Untersuchung
über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger (Göttinger Abhandlungen zur So-
ziologie unter Einschluß ihrer Grenzgebiete, hrsg. v. H. Plessner, Bd. 3), Stuttgart 1958.
84 H. Plessner, Conditio humana, in: Propyläen-Weltgeschichte, hrsg. v. G. Mann u.

A. Heuß, Bd. 1: Vorgeschichte. Frühe Hochkulturen, Berlin 1961, S. 33 ff. – Die Aufgabe
war vermittelt über den Göttinger Althistoriker Alfred Heuß, der den ersten Band re-
daktionell betreute. Der Text wird zit. nach H. Plessner, Die Frage nach der Conditio
humana (1961), GS VIII, S. 136–217.

Philosophische Anthropologie A 325


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

gleich zu vollziehen. Innerhalb der realen Bildungsgeschichte der


Philosophischen Anthropologie findet Plessner eine Form, die es
ihm erlaubt, vor sich selbst und den Kennern sein Gesicht zu wahren.
Es ist eindeutig, dass er eine konkretisierende Korrektur des natur-
philosophischen Ansatzes der ›Stufen‹ vollzieht, wo er die Struktur
der »Exzentrizität« – schwerpunktmäßig philosophisch, nicht empi-
risch interessiert – allein aus der Stufenlogik der »Positionalität« her-
leitet. Offensichtlich ist er bereit, der fortgeschrittenen Differenzie-
rung biologisch-anthropologischer Funde Rechnung zu tragen, die,
von Buytendijk gut vorbereitet, von Gehlen zum ersten Mal syste-
matisch ausgewertet wurden. Er hat den Einfall – ohne ihn allerdings
anzumerken –, seine originären Ideen von damals und jetzt in die
Matrize des Textes ›Tier und Mensch‹ von 1938 hineinzukomponie-
ren, den Buytendijk damals allein unter seinem Namen veröffent-
lichte, den Gehlen für sein Buch 1940 intensiv verarbeitete und von
dem Plessner später – 1946 – öffentlich behauptete, er sei Mitautor
gewesen, der aus politischen Gründen ungenannt geblieben sei. 85 Das
ermöglicht ihm, die Blöße des Buches von 1928 zu verdecken, näm-
lich bei ausdrücklich dort formuliertem Programm, »den Menschen
als Menschen und doch zugleich als Naturwesen in Einer Perspektive
zu sehen« 86 , die Bindung des Menschseins an eine bestimmte natür-
liche Gestalt oder eine Körperform nicht weiter verfolgt zu haben. 87

85 F. J. J. Buytendijk, Tier und Mensch, in: Die Neue Rundschau, Jg. 49 (1938), S. 313–
337.
86 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 315.

87 Das Menschsein könnte »unter mancherlei Gestalt stattfinden, die mit der uns be-

kannten nicht übereinstimmen«, ebd., S. 291. Diese Idee hatte Plessner vor 1928 ver-
mutlich von Scheler übernommen, in jedem Fall mit ihm geteilt. Scheler hatte darauf
aufmerksam gemacht, dass die von ihm gefasste »Wesensidee des Menschen […], das
seine Antriebe und Vorstellungen nach Akt-Gesetzen […] ›lenken‹ und ›leiten‹ kann
(Asket des Lebens), für alle möglichen anatomischen, physiologischen und vitalpsy-
chischen Organisationen völlig freien Spielraum läßt.« (M. Scheler, Die Wissensformen
und die Gesellschaft (1926), GW 8, S. 97). Plessner hat dieses Theorem – eventuell eben
bereits im Aufsatz ›Tier und Mensch‹ (1938) gemeinsam mit Buytendijk – spätestens im
Buch ›Lachen und Weinen‹ 1941 revidiert, das die spezifisch physische Existenz des
Menschen auf seine »exzentrische Position« bezieht. Diese dort vollzogene Revision
gegenüber den ›Stufen des Organischen und der Mensch‹ hat Plessner ausgearbeitet in
der Schrift ›Conditio humana‹ und nicht mehr preisgegeben (F. Rodi, Conditio humana.
Zu der gleichnamigen Schrift von Helmuth Plessner und zur Neuauflage seines Buches:
›Die Stufen des Organischen und der Mensch‹, in: Zeitschrift für philosophische For-
schung, Jg. 19 (1965), S. 703–711). In der ›Autobiographischen Einleitung‹ von 1981
(die er vermutlich aus Altersgründen nicht mehr selbst formuliert hat), teilt er mit:

326 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Nachfolge (1955–1960)

Genau wie Buytendijk im Text ›Tier und Mensch‹ von 1938 be-
ginnt Plessner jetzt mit historisch-methodologischen Eingangskapi-
teln zum Darwinismus, geht dann über zur dagegen opponierenden
Lebensphilosophie von Bergson und Klages, um sich als nächstes
über den methodisch richtigen Gedanken von Uexküll, nach »Bau-
plänen« der Tiere im Verhältnis zu Umwelten zu suchen, dem »Sinn
der menschlichen Körperform« zu nähern, oder – wie Plessner es
jetzt nennt – die Frage nach dem »menschlichen Bauplan« zu stellen.
Im historisch-methodologischen Abschnitt des Aufsatzes behandelt
er unter dem (bereits von Scheler 1913) verwendeten Titel ›Versuche
einer Philosophie des Lebens‹ Bergson und Dilthey (wie bereits Sche-
ler), wobei er aber Wert darauf legt, neben den konstruktiven Impul-
sen von Bergson die theoretischen Überlegungen Diltheys einzuar-
beiten samt dem von Misch systematisierten Impuls, für die
Geisteswissenschaften methodisch nach der »szenischen Macht« der
Natur im menschlichen Leben selbst zu fragen. Außerdem ist es ihm
wichtig, innerhalb des destruktiven Potentials der ›Philosophie des
Lebens‹ im weitesten Sinne Marx und Freud mit aufzuführen, die in
ihrem humanistischen Pathos der »Selbstbefreiung von Individuum
und Gesellschaft« an der »Selbstentwertung des Menschen« mit-
gewirkt hätten, indem sie geistige Vorgänge als Spiegelfechtereien
über den ›eigentlichen‹ ökonomischen oder triebenergetischen Grö-
ßen ›entlarvt‹ hätten.
Im systematisch-sachlichen Teil, der unter dem Titel »Der
menschliche Bauplan« den damaligen Buytendijk-Abschnitt »Der
Sinn der menschlichen Körperform und die Wesensgrenze zwischen
Tier und Mensch« aufnimmt und ablöst, geht Plessner nun direkt
den Fragen nach, wie die Natur den Menschen konkret so macht, dass
er etwas aus sich selbst machen muss. Er folgt hier unter dem Titel
»Jugendphase, Triebüberschuß, Spielfähigkeit. Der Anthropoide«
den von Buytendijk bereits 1938 festgehaltenen Gedanken, inwiefern
Dispositionen der Anthropoiden das dann strukturell werdende Ver-
mögen des Menschen vorbereiten, von sich abzusehen und sich in
anderes versetzen zu können. Angereichert mit den Ideen von Port-
mann zum »extrauterinen Frühjahr« und von E. Straus zur »Auf-

»Wer meinen Ansatz ernst nimmt […], nimmt die physische Existenz für die Frage nach
dem Menschen ernst, ohne naturalistisch kurzschlüssig sich schuldig zu machen.«
(H. Plessner, Autobiographische Einleitung, in: Ders., Mit anderen Augen, Stuttgart
1982, S. 7).

Philosophische Anthropologie A 327


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

richtung« als Beginn der aufrechten Haltung, schreitet Plessner fort


zur »Dominanz des Auge-Hand-Feldes« in Interpretation neuerer
vergleichender Primatenforschung. Mit der »Überhöhung des Auge-
Hand-Feldes durch die Sprache« lässt Plessner die Rekonstruktion
des Tier-Mensch-Übergangsfeldes hinter sich, mit dem der Mensch
aber wegen seiner Körperhaftigkeit zugleich unlösbar verbunden
bleibt. »Sprache wahrt als Ausdruck vermittelter Unmittelbarkeit
die Mitte zwischen der zupackenden, greifenden und gestaltenden
Hand, dem Organ der Distanz und Überbrückung, und dem Auge
als dem Organ unmittelbarer Vergegenwärtigung. Sprache steht aber
nicht nur zwischen diesen Funktionen, sondern verschmilzt sie auf
eine neue, in ihnen beiden nicht vorgegebene Weise. Ihr packender
Zugriff macht sichtbar und evident, ist Hand und Auge in einem. Die
Metapher selbst ist ihre spezifischste Leistung: Sprache überträgt,
schiebt sich an Stelle von etwas, ist das repräsentierende Zwischen-
medium in dem labil-ambivalenten Verhältnis zwischen Mensch und
Welt.« Und er fährt fort in seiner philosophisch-anthropologischen
Theorie der Sprache: »Dem Menschen wächst in ihr ein virtuelles
Organ zu, dessen Gebrauch den Gebrauch der physischen Organe
zwar nicht entbehrlich macht, aber entlastet. […] Sie ist kraft der
mit ihr erreichten ›Ausschaltung der Organe‹, wie Alsberg ihre Leis-
tung charakterisierte, eine Sparmaßnahme: nicht des Menschen, son-
dern durch den Menschen, ein Ersatz für nicht geleistete und nicht
mehr zu leistende physische Arbeit, eine planmäßige Handlung und
zugleich eine Institution mit festen Regeln, die individuelle Ab-
sprachen überflüssig macht und Verständigung auf ihrem Niveau
von vornherein sichert.« 88 Plessner gibt hier zum ersten Mal seine
Sprachanthropologie unter Reformulierung seiner eigenen ästhesio-
logischen Motive aus den frühen 20er Jahren (Auge-Hand-Feld und
Stimme-Gehör-Kreislauf), verknüpft mit Ideen von Alsberg und
Gehlen.
Mit dieser anthropo-biologischen Rekonstruktion ist für Pless-
ner die strukturelle Konstellation der »exzentrischen Positionalität«
erreicht: »›Ich bin, aber ich habe mich nicht‹ charakterisiert die
menschliche Situation in ihrem körperleibhaften Dasein. Sprechen,
Handeln, variables Gestalten schließen die Beherrschung des eigenen
Körpers ein, die erlernt werden muß und ständige Kontrolle ver-

88 H. Plessner, Die Frage nach der Conditio humana, GS VIII, S. 38.

328 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Nachfolge (1955–1960)

langt.« 89 Plessner kennzeichnet als die beiden Strukturfolgen der


»exzentrischen Positionalität« – anthropo-biologisch gesehen – aus-
drücklich und prägnant »Verdinglichung und Verdrängung«. »Vor al-
lem die Tatsache des extrauterinen Frühjahrs gibt dem Menschen die
Chance, sich in und mit seinem Körper zugleich zurechtzufinden.
Diese Verschränkung der beiden Aspekte begünstigt, um nicht zu
sagen erzwingt die ›Verdinglichung‹ des eigenen Leibes. Das Kind
wird mit ihm als einem Innen-Außen vertraut, wird daran gewöhnt,
sich mit anderen Dingen wie ein Ding zu behandeln und seine eigene
Position im Hier – eine durch nichts und niemand eingenommene
Position – als gegen andere Position vertauschbar zu erfahren.«90 Zu-
gleich bedeutet exzentrische Position, das Leben »künstlich«, von wo-
anders, von »Normen« her führen zu müssen: »Mensch sein, heißt,
von Normen gehemmt, Verdränger sein. Jede Konvention, jede Sitte,
jedes Recht artikuliert, kanalisiert und unterdrückt die entsprechen-
den Triebregungen.« Mit der Kategorie »exzentrische Position« ist
für Plessner auch die »biologische Deutung der Zivilisation als eines
Sündenfalls der Natur« (Lorenz) bestritten, die These der »Selbst-
domestikation«: Der Mensch habe sich aus der Wildform zu einem
triebhypertrophen Haustier domestiziert. Dass der Mensch »nicht
zur Ruhe im Zyklus des ersten Bedürfnisses und seiner Befriedigung
kommt, daß er etwas sein und tun will, in Gebräuchen und Sitten
lebt, die ihm gelten, hat seinen Grund nicht im Trieb oder Willen,
sondern in der vermittelten Unmittelbarkeit seiner exzentrischen
Position.« 91 In dieser »essentiellen Gebrochenheit im Verhältnis des
Menschen zu sich« 92 verankert Plessner nun seine Theorie der »Ver-
körperung« als Existenzform des Lebewesens Mensch: seine Sozial-
anthropologie der »Rolle und Darstellung«, seine psychologische
Anthropologie von »Lachen, Weinen, Lächeln«, seine Religions-
anthropologie der Verkörperung der »Entkörperung« und seine his-
torische Anthropologie der Verkörperung von »Geschichtlichkeit«,
der je »künstlichen Horizontverengung, die wie eine Umwelt das
Ganze des menschlichen Lebens einschließt, aber gerade nicht ab-
schließt«. 93

89 Ebd., S. 49.
90 Ebd., S. 50.
91 Ebd., S. 52.
92 Ebd., S. 51.
93 Ebd., S. 48.

Philosophische Anthropologie A 329


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

»Daß ein jeder ist, aber sich nicht hat; genauer gesagt, sich nur
im Umweg über andere und anders als ein Jemand hat – so heißt es,
gibt der menschlichen Existenz in Gruppen ihren institutionellen
Charakter.« In dieser Art der Gedankenführung, die bis in den Wort-
laut hinein reibungsscharf gegen Blochs marxistische Gemein-
schaftseschatologie geführt ist – »Ich bin. Aber ich habe mich nicht.
Darum werden wir erst.« 94 – und mit Gehlens Institutionenkategorie
koinzidiert, insofern sie zugleich systematisch die indirekt-interakti-
ve Perspektivität Meads ins Spiel setzt, konsolidiert sich Philosophi-
sche Anthropologie als Denkansatz. Durch Gehlens Vorstöße heraus-
gefordert, durch Habermas’ immanente Liquidierungsversuche
gezwungen, holt Plessner seine Denkmotive aus früheren Tagen her-
bei und konkretisiert sie gegen marxistische, psychoanalytische
Selbstentfremdungs- und evolutionäre Selbstdomestikations-An-
thropologie (Lorenz). In gewisser Weise gibt er mit dieser 100seiti-
gen Schrift einen Statthalter seiner immer wieder angekündigten
›großen Anthropologie‹. Ob Plessner wirklich an dem Buytendijk-
Artikel von 1938 mitgeschrieben hat oder nicht, vielleicht nur Ge-
sprächspartner war, bleibt ungeklärt. 95 Der Einfall, sich in diesen Ar-
tikel rückversetzend eine Selbstkorrektur zu vollziehen, befördert
jedenfalls die interne Bildungsgeschichte der Philosophischen An-
thropologie Anfang der 1960er Jahre.

94 E. Bloch, Spuren (1930), Frankfurt a. M. 1959, S. 7.


95 Anders als der 1925 gemeinsam veröffentlichte Aufsatz ›Deutung des mimischen
Ausdrucks‹, in dem eher die Gedankenführung und Schreibweise Plessners dominieren,
sprechen Ideen und Schreibstil des Artikels von 1938 eher für Buytendijks Autorschaft
bei Beratung durch den in Groningen am Schreibtisch vor Ort anwesenden Plessner.
Buytendijk erwähnt später, wenn er den Titel in seinem Schriftenverzeichnis mit auf-
führt, Plessners Mitautorschaft nicht, und Plessner erwähnt diesen Text ›Tier und
Mensch‹ – und eine eventuelle Doppelautorenschaft – auch nicht in seiner Rede auf
Buytendijk ›Unsere Begegnung‹ (1958) – im Unterschied zu der Aufsatz-Kooperation
an der »gemeinsamen Kritik Pawlows« von 1935.

330 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

1.8 Driften (1961–1969)


Aber die Konsolidierung des Denkansatzes und seine Repräsentanz
kommen nicht zur Deckung. In den 1950er Jahren zwischen ihren
Hauptprotagonisten funktioniert die reale Bildungsgeschichte der
Philosophischen Anthropologie gleichsam so: Provoziert durch Geh-
lens rhythmisch gesetzte Impulse, die im Grunde unbekannt und
ungenannt Plessnersche Motive anthropologisch gebrochener Dia-
lektik ins Wirkliche tauchen und profilieren, antwortet Plessner da-
rauf – verspätet, nachahmend, durch Revitalisierung früherer Moti-
ve aus den 20er Jahren. Dennoch werden die Träger des Denkansatzes
niemals gemeinsames Subjekt dieses Denkansatzes, in dem sie bil-
dungsgeschichtlich und von der Ideenhaltung her verbunden sind.
Das Publikum bleibt irritiert hinsichtlich der Kontur dieser Philoso-
phischen Anthropologie, da die wechselseitigen Distanzgesten der
Hauptautoren den Blick auf den gemeinsamen theoriegeschicht-
lichen Quellgrund verdecken.
Beide, Plessner 1 wie Gehlen 2 , waren während der 50er Jahre
mehrfach aufgefordert gewesen oder ergriffen die Gelegenheit, bün-
dig die theoriegeschichtliche Situation der Philosophischen Anthro-
pologie darzustellen. Plessner sprach immer von »philosophischer
Anthropologie«, mit Akzent gegen die Anthropo-biologie oder »Bio-
logie des Menschen« bei Gehlen 3 , obwohl er – Plessner – doch selbst
aus der Biologie herkam, Gehlen hingegen systematisch von »an-
thropologischer Forschung« bzw. »moderner Anthropologie«, ob-
wohl er selbst philosophisch verfuhr. Gehlen sprach – immer nur bei-
läufig – von Plessner und immer nur kurz von Scheler, um dann sein
eigenes Modell im Zusammenhang der Forschungen darzulegen.
Aus dieser Konstellation heraus gaben sie vor dem Publikum
Max Scheler, die Inspirationsquelle der Philosophischen Anthropolo-

1 H. Plessner, Artikel: Anthropologie, philosophisch, in: Evangelisches Kirchenlexikon,


Bd. I, Göttingen 1956, S. 138 f. – Ders., Artikel: Anthropologie, philosophisch, in: Die
Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. I, 3. Aufl. Tübingen 1957, Sp. 410–414. –
Ders., Anthropologie philosophique, in: R. Klibansky (ed.), Philosophy in the mid-cen-
tury. A Survey. II: Metaphysics and Analysis, Firenze 1958, S. 85–90.
2 A. Gehlen, Der gegenwärtige Stand der anthropologischen Forschung (1951), GA 4,

S. 113–126. – Ders., Das Bild des Menschen im Lichte der modernen Forschung (1952),
GA 4, S. 127–142. – Ders., Zur Geschichte der Anthropologie (1957), GA 4, S. 143–164.
– Ders., Das Menschenbild in der modernen Anthropologie (1958), GA 4, S. 165–174.
3 Vgl. Plessner, Anthropologie philosophique, a. a. O., S. 89.

Philosophische Anthropologie A 331


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

gie, preis. Wenn Plessner Mitte der 50er Jahre einen Lexikon-Artikel
über Scheler 4 schreibt, würdigt er zwar eindringlich dessen Phäno-
menologie der Gefühle und die Wissenssoziologie, aber in Sachen
Philosophischer Anthropologie äußert er sich spitz: »Kurz bevor er
Köln verließ, um in das konfessionell weniger eindeutig geprägte
Frankfurt überzusiedeln, brachte er noch eine Skizze seiner Anthro-
pologie unter dem Titel ›Die Stellung des Menschen im Kosmos‹
(1928) heraus. Wie weit es ihm gelungen ist, seine wohl gewandelten,
doch nie aufgegebenen metaphysischen Überzeugungen mit den re-
lativierenden Bestrebungen seiner Wissenssoziologie im Gesichts-
kreis einer solchen Philosophischen Anthropologie in Einklang zu
bringen, wird sich bis zur Veröffentlichung des Nachlasses […] dem
Urteil entziehen.« 5 Beide denken aber gar nicht daran, sich um das
Fortleben der Ideen Schelers zu kümmern. Beide überlassen ihn dem
Treiben. Weder Plessner noch Gehlen kümmern sich darum, als im
Umkreis der Frankfurter Schule Ende der 50er Jahre die »Spät-
philosophie Schelers« – also die Phase seines Durchbruchs zur Phi-
losophischen Anthropologie und Wissenssoziologie – aus den bei ihr
vermuteten immanenten Widersprüchen ideologiekritisch destruiert
wird. 6 Indirekt verantworten somit beide, obwohl auf Soziologie-
Lehrstühlen, auch die Abwesenheit Schelers in der neu aufgebauten
westdeutschen Soziologie.

Plessner, als der Ältere, von Pioniertagen her Verantwortliche für den
Denkansatz, wird diese Mißhelligkeiten um 1959/60, kurz vor seiner
Emeritierung, deutlicher als Gehlen gespürt haben. Durch den Ha-
bermas-Handbuch-Artikel über Philosophische Anthropologie war
deutlich geworden, welchem Risiko der nicht zur Selbstrepräsentati-
on fähige Denkansatz ausgesetzt war, wenn der Ansatz Dritten aus-
geliefert blieb, die ihm inhaltlich nicht verbunden waren. Es war der
Übergang von Hartmann, der, obwohl nur interessiert und nicht zu-
gehörig, einen dazugehörigen Autor besser verstehen konnte als die-
ser sich selbst, zu Habermas, der es besser wusste als der darzustel-
lende Denkansatz.

4 H. Plessner, Artikel: Scheler, Max, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften,


Bd. 9, Stuttgart/Tübingen/Göttingen 1956, S. 115–117.
5 Ebd., S. 115.

6 K. Lenk, Von der Ohnmacht des Geistes. Kritische Darstellung der Spätphilosophie

Max Schelers, Tübingen 1959.

332 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

Nur aus diesen Hintergründen wird die für alle Lager über-
raschende Phantasie Plessners verstehbar, die ihn 1960/61 ergreift,
sozusagen eine Möglichkeitsgeschichte innerhalb der Realgeschichte
des Denkansatzes, die er noch 1981 mit fast 90 Jahren nicht vergessen
haben wird: »Plessner erwähnte […] noch eine Episode, die ein Licht
auf sein Verhältnis zu Arnold Gehlen wirft. Als er nämlich das Buch
›Zeit-Bilder‹ (1960) von Gehlen gelesen habe, habe er spontan so
reagiert, dass er es nicht nur für ein ausgezeichnetes Buch hielt, son-
dern dass er, was Monika Plessner bestätigte, ausgerufen habe, dass
dieser Mann eigentlich sein Nachfolger in Göttingen werden sollte.
Dann hat Plessner auch mit Josef König, seinem engsten Freund in
Göttingen gesprochen.« 7 In Plessners Idee – Gehlen könne Nachfol-
ger auf dem von ihm bereiteten Lehrstuhl für Soziologie und Phi-
losophie werden – steckte offensichtlich die Phantasie, die Philoso-
phische Anthropologie könne doch noch aus sich selbst heraus ihre
Ordnung herstellen. Plessner schätzte nicht nur die ›Zeit-Bilder‹,
sondern auch ›Die Seele im technischen Zeitalter‹ 8 , und spürte deut-
lich die Nähe zu Gehlens Beiträgen – vom Quellgrund der Philo-
sophischen Anthropologie her, in der Diagnostik der Moderne, zu-
letzt in der ›Ästhetik‹. Vielleicht spielte – am Ende seiner Göttinger
Zeit – die schon aus den 40er Jahren stammende Schöfflersche Idee
mit, Göttingen in der Nachfolge Hartmanns zum geistigen Zentrum
der Philosophischen Anthropologie aus Köln zu machen. In jedem
Fall wichtig ist die wörtliche Formulierung des alten, sich erinnern-
den Plessner bezogen auf Gehlen: »daß er […] ausgerufen habe, daß
dieser Mann eigentlich sein Nachfolger in Göttingen werden sollte.« 9
Plessner hatte offensichtlich die Phantasie, dass er, indem er Gehlen
in Göttingen zu seinem »Nachfolger« mache, vor aller Welt die ge-
nealogische Reihenfolge innerhalb der Philosophischen Anthropolo-
gie insgesamt herstellen könne. Damit wird auch deutlich, dass seine
innerakademischen und öffentlichen Markierungen von Gehlens
Denken als ›biologistisch‹ oder ›autoritaristisch‹ in letzter Hinsicht
aus der Verletzung durch den Streit um die Philosophischen Anthro-

7 H. v. Alemann, Interview mit Helmuth Plessner am 7. April 1981, Aufzeichnungen


(23 S.), Nachlaß Plessner, S. 22. – Plessner hat diese Idee der Gehlen-Nachfolge in Göt-
tingen in einem Brief an K.-S. Rehberg vom 9. 4. 1979 bestätigt. Vgl. K.-S. Rehberg,
Nachwort des Herausgebers, GA 3.2, S. 895.
8 Mündliche Auskunft Monika Plessner.

9 H. v. Alemann, Interview mit Helmuth Plessner am 7. April 1981, Aufzeichnungen

(23 S.), Nachlaß Plessner, S. 22.

Philosophische Anthropologie A 333


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

pologie stammten, dem Herzstück von Plessners Denkanspruch –


Markierungen, die abfielen, wenn die Wunde geheilt werden konnte.
Einem jüngeren Denker, der ihn durch Nichtbeachtung seiner Denk-
leistung ständig verletzte, musste Plessner die akademische För-
derung immer erneut verweigern; wäre aber Gehlen als der von
Plessner in Göttingen inaugurierte Nachfolger für die Philosophische
Anthropologie repräsentativ geworden, hätte Gehlen so oder so
Plessners Leistung öffentlich anerkennen müssen und hätte dann die
Philosophische Anthropologie – so vermutlich Plessners Phantasie –
mit seiner auch von ihm gesehenen philosophischen, intellektuellen
und schriftstellerischen Hochbegabung zur Blüte bringen können.
»Dann hat Plessner auch mit Josef König, seinem engsten Freund in
Göttingen gesprochen. Dieser habe ihm davon abgeraten, diesen Plan
weiter zu verfolgen, weil ein Mann wie Gehlen niemals eine ernst-
hafte Chance haben würde, einen solchen Ruf zu erhalten.« 10

Plessners Phantasie einer an einer deutschen Universität doch noch


geordneten Denk-›Schule‹ war eine letzte Gelegenheit, über einen
mit Philosophie und Soziologie doppelt ausgelegten Lehrstuhl das
Auseinanderdriften des Denkansatzes in der Erscheinungsoberfläche
aufzuhalten. Seitdem verstärkt sich der öffentliche Eindruck der Dis-
krepanz unaufhaltsam. Schon 1961, als Gehlen publikumswirksam
seine anthropologischen Aufsätze seit 1936 in einem rde-Band unter
dem Titel ›Anthropologische Forschung‹ versammelt 11 , lässt er ver-
lauten, Scheler samt Plessner hätten »metaphysische Anthropolo-
gie« getrieben, ihre Werke mit der Suche nach dem Menschen als
Teil des Weltganzen hätten als »›Groß-Informationen‹ eine im we-
sentlichen doch nur dichterische Evidenz«. Allerdings wird im Eröff-
nungsbeitrag erstmals »Schelers Antwort auf die Frage nach dem
Menschen« als in einer Hinsicht »sehr interessant und epochema-
chend« gewürdigt: Sein Werk ›Die Stellung des Menschen‹ »brachte
eine merkwürdige und erstaunliche Wendung«, so Gehlen, »indem
es den Menschen nicht im Vergleich zu Gott interpretierte, sondern
indem es nach dem Wesensunterschied von Mensch und Tier fragte«,
also »einen Vergleich zum Problem machte«. 12 In seiner Lösung habe

10 Ebd., S. 22.
11 A. Gehlen, Anthropologische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstent-
deckung des Menschen, Reinbek b. Hamburg 1961.
12 Ebd., S. 14.

334 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

Scheler allerdings bestimmt, »dasjenige Zentrum aber, von dem aus


der Mensch« – eine raumzeitliche Individualität – »die Akte, die geis-
tigen Handlungen vollziehe, durch die er die Welt, seinen Leib und
seine Seele vergegenständliche, könne nicht Teil von dieser Welt
sein. […] Die ›Exzentrizität‹ des Menschen hat Plessner in Abhebung
vom Tier und von der Pflanze beschrieben, Klages hat den Geist, um
den es hier immer geht, ausdrücklich als eine außervitale, geradezu
lebensfeindliche Macht hingestellt.« 13 Von dieser »metaphysischen
Anthropologie«, die auf das Ganze ziele, hebt Gehlen seine »philo-
sophische Anthropologie mit empirischer Methode« ab, eine »phi-
losophisch-empirische Anthropologie« als Versuch, mit einer »›Mo-
dellvorstellung‹ vom Menschen« verschiedene Disziplinen (wie
Morphologie, Physiologie, Psychologie, Sprachwissenschaft, Ge-
schichtswissenschaft) zu »überdecken«, eine »Modellvorstellung«,
die »ihre Leistungsfähigkeit im Durchordnen von Tatsachen und Be-
griffen bewährt«. »Anthropologische Grundbegriffe wie Handlung,
Entlastung, Hintergrundserfüllung« seien philosophisch dann so
konzipiert, dass »sie auf der physischen wie auf der psychischen Seite
verwendbar sind«, und darüber hinaus könnten mit der Kategorie der
»Institution […] wenigstens einige Grundphänomene des sozialen
Zusammenhangs sowie der Entwicklungsgeschichte der Kultur« in-
tegriert werden. 14 Neben seinem eigenen »Grundentwurf« einer
»philosophischen Anthropologie«, der bei »der Handlung als dem
eigentlich ausschlaggebenden menschlichen Schlüsselphänomen«
ansetzt, nennt Gehlen noch zwei einschlägige Autoren: die »ame-
rikanischen Pragmatisten, zumal John Dewey«, »und in jüngster Zeit
beweist das Buch von Hannah Arendt ›Vita activa‹ (1960), welche
Fülle wertvoller Einsichten man von diesem Standpunkt aus errei-
chen kann« – ein Werk, dem er im gleichen Jahr eine Besprechung
voller Anerkennung widmete. 15

Zwei Jahre später antwortet Plessner mit ›Immer noch philosophi-


sche Anthropologie?‹ 16 , einem Beitrag für die Adorno-Festschrift

13 Ebd., S. 141.
14 Ebd., S. 143.
15 Ebd. S. 142. A. Gehlen, Vom tätigen Leben (Besprechung: H. Arendt, Vita activa oder

Vom tätigen Leben), in: Merkur, Jg. 15 (1961), S. 482–486.


16 H. Plessner, Immer noch philosophische Anthropologie? (1963), GS VIII, S. 235–246.

Zuerst in M. Horkheimer (Hrsg. im Auftrag des Instituts für Sozialforschung), Zeug-


nisse. Theodor W. Adorno zum 60. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1963, S. 65–73.

Philosophische Anthropologie A 335


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

1963. Aus der dualistischen Logik der neuzeitlichen Philosophie-


geschichte – der »Geschichte der Emanzipation des Menschen von
der Welt« (als Subjektivität, Vernunft, Freiheit bei Descartes, Kant
etc.) bei gleichzeitig davon getrennt laufender empirisch forschender
Feststellung der Welt der Körper – bestimmt er die Philosophische
Anthropologie als ein spezifisch philosophisches Projekt: Dringend
erforderlich sei es – um der Proportion, um der Humanität des Men-
schen willen –, nach der Emanzipation der menschlichen Monopole
in der Neuzeit die »Verklammerung der spezifisch menschlichen
Monopole mit dem menschlichen Organismus« in eine Sicht zu brin-
gen. Mit Metaphysik hat »Philosophische Anthropologie […] nichts
zu tun, denn ihr bleiben die empirischen Befunde am Menschen vor-
gegeben. In ihrem Horizont liegen nur die Fragen nach der Konsti-
tution jenes Organismus, den wir einen Menschen nennen, weil er
über geistig-kulturelle Möglichkeiten verfügt.« 17 Indem er diese
»Verklammerung menschlicher Leistungen mit dem menschlichen
Organismus« – mit der »Körperlichkeit in ihrer Faktizität« – zum
Leitfaden macht, summiert Plessner in diesem Text bündig die Ab-
grenzungen der Philosophischen Anthropologie als Denkansatz von
verschiedenen anderen philosophischen Optionen – gegenüber Dil-
theys hermeneutischer Grundlegung der Geisteswissenschaften,
gegenüber Cassirers »›anthropologischer Philosophie‹« der »sym-
bolischen Formen«, gegenüber Heideggers »Phänomenologie der
Existenz« bzw. der »Leiblichkeit«, weiterhin gegenüber der Sprach-
philosophie einschließlich der Philosophie der »Linguistic Analysis«.
Bei Dilthey löse sich der Begriff des Menschen in die Verschie-
denheit seiner kulturellen Auslegungen auf, »indem sich die histori-
sche Relativierung zur Radikalität steigert und damit die in der eu-
ropäischen Denkgeschichte festgehaltene Zentralperspektive auf den
›vernünftigen‹ Menschen durchbricht«; der Begriff des Menschen
wird zum »hermeneutischen Problem« und in einer »Theorie der
Geisteswissenschaften« zu einer »Frage der Deutungsprinzipien von
Dokumenten und Monumenten.« Aber der »lebensphilosophische
Historismus«, eine hermeneutische »Philosophie des Lebens«, die
diese Lage reflektiert, könne – wie Plessner bereits in ›Macht und
menschliche Natur‹ von 1931 beobachtete – den Horizont der Doku-
mente und Monumente, der »Medien der Aussage« nicht durch-
brechen. Zwar kann innerhalb eines solchen hermeneutischen Ansat-

17 H. Plessner, Immer noch philosophische Anthropologie?, GS VIII, S. 236.

336 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

zes auch »Vitales, Leidenschaft, Krankheit, körperliche Verfassung in


den Blick kommen«, aber nur als »bezeugtes, erzähltes Leben«, »nie
aber im biologischen Sinne eine für den hermeneutischen Akt fun-
dierende Rolle spielen.« 18 »Wer da glaubt, dass mit Sprach- oder
Kulturphilosophie die Sache gemacht ist«, hatte Plessner bereits in
seiner »Grundlegung einer Philosophie des Menschen« 1928 fest-
gehalten, »irrt sich ganz gewaltig.« 19
Auch Cassirer kann für Plessner deshalb die »Körperlichkeit in
ihrer Faktizität« philosophisch nicht erreichen. »In der Begrenzung
auf kulturelle Leistung trifft sich Cassirers Philosophie der symboli-
schen Formen mit Dilthey«. Plessner konnte von Cassirers interes-
sierter Bezugnahme Ende der 20er Jahre auf Schelers und seine –
Plessners – naturphilosophische Konzeption einer Philosophischen
Anthropologie nichts wissen, die damals unveröffentlicht geblieben
war und auf die Cassirer in seiner später veröffentlichten Schrift ›An
Essay on Man‹ (1944, dt. 1960) nicht mehr zurückgekommen war.
Bei Cassirer, sagt Plessner, ist »das Subjekt […] immer schon in
seinen Leistungen verschwunden, die darum eben das Subjekt sym-
bolisch repräsentieren. Cassirer weiß zwar auch, dass der Mensch ein
Lebewesen ist, aber er macht philosophisch davon keinen Gebrauch.«
Eine »›anthropologische Philosophie‹«, so hebt Plessner Cassirers
Projekt randscharf gegen den Ansatz einer »Philosophischen Anthro-
pologie« ab, will und kann »die Verklammerung menschlicher Leis-
tungen mit dem menschlichen Organismus« nicht zeigen. »Tierische
Ausdrucksformen dienen ihm nur als Kontrastmittel, um gegen
ihren Hintergrund die spezifisch menschlichen Ausdrucksformen ab-
zuheben. Ihr Funktionssinn bleibt dunkel, weil man nicht weiß, für
wen sie funktionieren.« Von einem Kantianer wie Cassirer könne
man nach Plessner ebenso wenig wie von einem Hermeneutiker wie
Dilthey »erwarten, dass sie den Mut, ja auch nur das Interesse auf-
bringen, in solcher Verklammerung etwas anderes zu sehen als ein
empirisches Faktum. Wo die körperliche Dimension beginnt, hört für
sie die Philosophie auf.« 20
Und dieses Diktum gelte auch für die Existenzphilosophie oder
die Daseinsanalyse. Zwar kann die »Phänomenologie der Existenz«,
die das Subjekt durch das »Dasein« ersetzt, »Leiblichkeit« erschlie-

18 Ebd., S. 242.
19 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 63.
20 H. Plessner, Immer noch philosophische Anthropologie?, GS VIII, S. 243.

Philosophische Anthropologie A 337


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

ßen, aber keine »Körperlichkeit«. »Leiblichkeit« ist existenzphiloso-


phisch in diese »Art von Sein, die dem konkreten Individuum als
einem endlichen, durch den Tod begrenzten Wesen eigentümlich
ist«, mit eingeschlossen. »Was dem Existenzbegriff aber fehlt und
worauf er keine Rücksicht nimmt, ist die unübersehbare Verklamme-
rung der menschlichen Art zu sein mit dem menschlichen Organis-
mus. Die Leiblichkeit als ein Strukturmoment der konkreten Exis-
tenz, mit der sie sich auseinandersetzen muss und die sie in den
verschiedenen Modi der Zuständlichkeit und Widerständlichkeit
durchzieht, wird nicht als Körper zum Problem. Das überlässt man
der Biologie und den organischen Naturwissenschaften. Indem die
Existenzanalyse die Leiblichkeit von vornherein im Ansatz der Art,
wie Menschen in der Welt sind, mit berücksichtigt, überspielt sie die
menschliche Erscheinung als ein Problem der Körperlichkeit in ihrer
Faktizität.« Auch für die Existenzphilosophie sei somit in Fort-
setzung des »kritischen Transzendentalismus« die »Natur das Ande-
re, das Konstituierte, das Produkt schöpferischer Funktionen«.
Und in der Verschiebung des Schwerpunkts zur »Sprache als das
Haus des Seins« wird »der Mensch als Lebewesen […] zum Gespräch
mit dem Anspruch und Zuspruch des Seins«. Vom Phänomen des
Menschen bleibe in dieser Seinshermeneutik, »daß es spricht«, und
damit ist sie »das ontologische Gegenstück zur Liquidationstechnik
aller metaphysischen Fragen mit Hilfe der ›Linguistic Analysis‹«.
Hier denkt Plessner natürlich auch an die von seinem Freund J. König
in der Nachkriegszeit in Göttingen etablierte sprachanalytische Phi-
losophie. Und jetzt, nachdem er die philosophischen Optionen des
20. Jahrhunderts am Leitfaden der »Verklammerung spezifisch
menschlicher Monopole mit dem menschlichen Organismus« kri-
tisch im Namen der »Philosophischen Anthropologie« geprüft hat,
kommt er auf Arnold Gehlen zu sprechen, indirekt, ohne dass der
Name fällt: »man kann sich nicht wundern«, schreibt er, »wenn die
Philosophie der Existenz eine unphilosophische Theorie des Men-
schen ungewollt begünstigt, die so tut, als ließe sich das vergessene
Problem Natur mit Leihgaben aus dem Museum des Behaviorismus
verdecken.« 21
Helmuth Schelsky hat viel später bezogen auf Arnold Gehlen
und Helmuth Plessner als einem Fall von »geistigem Zwillingsanta-
gonismus« gesprochen, worunter er verstand, dass Philosophen (oder

21 Ebd., S. 246.

338 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

Wissenschaftler oder Künstler) »eine fast gleichlautende inhaltliche


›Aussage‹ vertreten, aber durch sekundäre, z. B. politische, aber auch
publizistische Gegnerschaft, die zuletzt aus einer persönlich über-
zogenen Originalitätssucht stammt, aktuell zu Vertretern gegen-
sätzlicher Lager stilisiert werden.« »Zwischen beiden hat eine per-
sönliche und politische Feindseligkeit darüber geherrscht, wer nun
eigentlich die ›philosophische Anthropologie‹ in Nachfolge der Er-
kenntnisse Schelers geschaffen und durchgesetzt hat.« 22 In jedem
Fall ist hier Schelskys scharfer Blick auf seinen Weggefährten Gehlen
festzuhalten, der ja »original« faktisch erst später in der Szene der
Philosophischen Anthropologie aufgetreten war. Richtig ist aber
auch, dass sich durch den politisch-geistigen Klimawechsel der
1960er Jahre die publizistische Gegnerschaft zwischen Plessner und
Gehlen verschärfte und zur Unkenntlichkeit des Ansatzes in der dis-
kursiven Erscheinung beitrug, ohne dass sich in der Teilhabe an der
gemeinsamen »Aussage« etwas änderte.

Noch bevor man von den Bedingungen der Vertiefung des Risses in
der Erscheinungsfläche spricht, ist von stabilisierenden, neutralen,
aber in Sachen Philosophische Anthropologie engagierten Faktoren
zu sprechen. Erich Rothacker veröffentlichte 1963 seine ›Heiteren
Erinnerungen‹ 23 , in der – bei allem Witz – die »feindlichen Brüder«
(so Rothacker 1958) Plessner und Gehlen nicht vorkamen, weil sie
vielleicht die Heiterkeit gestört hätten. 1964 brachte Rothacker seine
Vorlesung zur ›Philosophischen Anthropologie‹ von 1953/54 heraus,
ein populäres, weil anschauliches Buch, das 1966 in 2. Auflage er-
schien. 24 Darin war unabhängig von allen Spannungen sichtbar, dass
es sich bei Scheler, Plessner, Gehlen, Portmann u. a. um einen Denk-
ansatz handelte, der zugleich Differenzierungen mit sich führte. 1961
hatte Rothacker Plessner als Mitglied der Mainzer Akademie der
Wissenschaften und Literatur vorgeschlagen mit den Worten: »Noch
vor Max Scheler könnte man ihn den ersten Anreger der heute so
viel bearbeiteten ›Philosophischen Anthropologie‹ nennen.« 25 1966
erschienen Rothackers ›Schichten der Persönlichkeit‹ in der 6. Auf-

22 H. Schelsky, Die verschiedenen Weisen, wie man Demokrat sein kann, a. a. O., S. 138.
23 E. Rothacker, Heitere Erinnerungen, Frankfurt a. M./Bonn 1963.
24 E. Rothacker, Philosophische Anthropologie (1964), 2. verb. Aufl. Bonn 1966.

25 E. Rothacker, Antrag, Akademie der Wissenschaften und Literatur, 3. 10. 61, Nachlaß

Rothacker, Briefwechsel Rothacker- Plessner, Beilage.

Philosophische Anthropologie A 339


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

lage, auch die Schrift ›Probleme der Kulturanthropologie‹ erschien


neu. Die Zusammenfassung seiner Einsichten – die ›Genealogie des
Bewußtseins‹ (1966) – brachte er kurz vor seinem Tod zustande. Die
Idee des Dekans der Philosophischen Fakultät, zur Gedenkfeier »für
die philosophische Hauptwürdigung Gehlen als originellen und
Rothacker kongenialen Denker zu bitten«, war wegen Widerstandes
der Fakultät »nicht realisierbar«. 26 Die Bildungsgeschichte des Denk-
ansatzes Mitte/Ende der 60er Jahre musste von nun an ohne Roth-
acker auskommen.

Professionelle, räumliche und politische Umstände verstärkten das


Auseinanderdriften der Hauptprotagonisten in den 60er Jahren.
Gehlen, der 1962 den neugegründeten Lehrstuhl für Soziologie an
der TH Aachen übernimmt, den er bis 1969 innehat, wird in diesem
Zeitraum, nicht zuletzt durch seine kultursoziologisch gestützte,
pointierte Kritik am »Engagement der Intellektuellen gegenüber
dem Staat« (1964) 27 , das aus gesteigerter »humanitaristischer Gesin-
nungsethik« hervorgehe, zu einer Schlüsselfigur der bundesrepubli-
kanischen Öffentlichkeit. Seit 1960 sucht bereits Adorno gezielt die
Nähe Gehlens. 28 Anknüpfungspunkt war Gehlens Buch zur moder-
nen Kunst. »Mein Eindruck davon ist außerordentlich«, schrieb
Adorno an Gehlen. »Besonders berührt haben mich eine Reihe von
Übereinstimmungen der unerwartetsten Art. […] Sollte ich […] sa-
gen, was an Ihrem Buch so besonders mich berührt, dann ist es das,
daß Sie mit der Sache der neuen Kunst sich identifizieren, ohne in
Apologetik zu geraten und das Moment der Negativität zu verleug-
nen, das zur Sache selbst notwendig dazu gehört.« 29 Der Briefwech-
sel zwischen beiden, der bis 1969 dauert, ist von freundlichem Tonfall
und gegenseitiger Hochachtung gekennzeichnet. Adorno sucht und

26 Dekan W. Schmid 14. 10. 1965, Personalakte Rothacker (1785). Zur Gedenkfeier für
Rothacker am 11. 2. 1966 versammelten sich u. a. H. Plessner, J. Ritter, C. A. Emge,
H. Heimsoeth, H. Thomae, C. G. Graumann, R. Heiß, H. Kuhn, H. Schmitz, K.-O.
Apel, H. Blumenberg.
27 A. Gehlen, Das Engagement der Intellektuellen gegenüber dem Staat, GA 7, S. 253–

266.
28 Ch. Thies, Die Krise des Individuums. Zur Kritik der Moderne bei Adorno und Geh-

len, Reinbek 1997, S. 45–53.


29 Adorno an Gehlen 2. 12. 1960, zit. nach K.-S. Rehberg, Kommunistische und konser-

vative Bejahung der Institutionen. Eine Brief-Freundschaft, in: St. Dornuf/R. Pitsch
(Hrsg.), Wolfgang Harich zum Gedächtnis. Eine Gedenkschrift in zwei Bänden, Mün-
chen 1999, S. 462.

340 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

erkennt offensichtlich einen öffentlichen intellektuellen Gegner von


Rang, und Gehlen ergreift die Chance, einer auch durch die fehl-
geschlagenen Berufungen drohenden akademischen Isolierung zu
entgehen.
Mehrere verabredete öffentliche Begegnungen und Diskussio-
nen bauen eine spannende geistige Konstellation auf, in der Gehlen
allerdings nun mit daran arbeitet, dass seine realistische Anthropolo-
gie als eine pessimistische, konservative Anthropologie hochstilisiert
wird – v. a. durch Adorno. Gehlen stellt beim 7. Deutschen Kongress
für Philosophie 1963 in einer Sektion über ›Evolution und Fort-
schritt‹ seine These von der »kulturellen Kristallisation« der Moder-
ne zur Diskussion, dass nämlich »die moderne Kultur in einem sta-
tionären Zustand angelangt ist und deshalb den Charakter der
Unwiderruflichkeit trägt«, d. h. bei allem technisch-industriellen
Fortschritt sich doch in ihren prinzipiell ausdifferenzierten künstleri-
schen, wissenschaftlichen und sittlichen Möglichkeiten – beruhigen-
derweise – »in einem Zustand endloser Dauer befindet«. Es ist Ador-
no als erstem Diskussionsredner wichtig, bei aller Konzilianz die
inhaltlich scharfen »Differenzen« über die geschichtsphilosophische
Annahme des »Fortschritts« nicht zu verschweigen: »Die moderne
Kultur enthält trotz ihres stationären Verhaltens immer noch
Sprengstoff, der den gegenwärtigen Zustand zerstören und neue
Bahnen eröffnen kann. Gehlens Zukunftsbild ist eine negative Uto-
pie, die die tragenden Kräfte der Gesellschaft nicht richtig ein-
schätzt.« 30 Die öffentliche Differenz zwischen den Ansätzen führen
beide im berühmten, weil später auch publizierten TV-»Streit-
gespräch« 1965 über die Frage ›Ist die Soziologie eine Wissenschaft
vom Menschen?‹ fort. Gegen Adorno, der angesichts der modernen
»Übergewalt der Institutionen über den Menschen« – v. a. in Gestalt
des »universalen Tauschprinzips« – »Selbstbestimmung« und »Mün-
digkeit« einfordert, verteidigt Gehlen die in der Moderne von Zerrei-
bung betroffenen »Institutionen« Recht, Ehe, Familie, Eigentum als
»Bändigung der Verfallsbereitschaft des Menschen. […] Ich glau-
be […], daß die Institutionen den Menschen vor sich selber schüt-

30 Diskussionsbericht von I. Klein, in: H. Kuhn/F. Wiedmann (Hrsg.), Die Philosophie


und die Frage nach dem Fortschritt. Verhandlungen des Siebten Deutschen Kongresses
für Philosophie: Philosophie und Fortschritt (Münster 1962), München 1964, S. 326–
327.

Philosophische Anthropologie A 341


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

zen.« 31 Den Beobachtern schien es, als ob Adorno und Gehlen »vor-
einander anmutig groteske Tanzrituale aufführen, um sich gegensei-
tig zu versichern, wie nahe sie sich überraschender Weise seien, wäh-
rend sie doch Welten trennten.« 32 Gehlens Bewunderer Wolfgang
Harich, der das Nachtstudio-Gespräch von Ostberlin aus verfolgte,
warf ihm brieflich 33 vor, nicht genügend zum Zuge gekommen zu
sein und sich teilweise gefallen lassen zu haben, dass Adorno ihn
gar nicht zu Wort kommen ließ. Ihm, Harich, seien an einigen Stel-
len Zitate aus Gehlens Werken eingefallen, die als passende Antwor-
ten auf Adornos Argumente geeignet gewesen wären. Leider, fügt
Harich noch in Erinnerung ihrer gemeinsamen Bezugsfigur hinzu,
würde Gehlen wohl nicht wie Nicolai Hartmann vorgehen, der seine
eigenen Texte im Kopf gehabt und mit scheinbarer Improvisation
von ihnen Gebrauch gemacht habe. Inhaltlich lässt sich im Nach-
hinein vermuten, dass Gehlens gesellschaftstheoretische Diagnostik
einer »kulturellen Kristallisation« der Moderne ›konservativ‹ vor
dem Hintergrund von Adornos geschichtsphilosophisch-utopischer
Erwartung wirkte, die »moderne Kultur […] enthalte immer noch
Sprengstoff, der den gegenwärtigen Zustand zerstören und neue
Bahnen eröffnen kann.«

Vor dem Hintergrund vor allem der Kritischen Theorie der Gesell-
schaft – und von einer revolutionären Transformationserwartung aus
gesehen – konnte Gehlens Gesellschaftstheorie der Moderne ins-
gesamt ›konservativ‹ erscheinen. Von ihrer Argumentation her war
seine Theorie des »nachgeschichtlichen Zeitalters« der Moderne eine
gesellschaftstheoretische Diagnostik, die die Möglichkeit bestritt, mit
einer nochmaligen »Schlüsselattitüde«, mit einer nochmaligen Über-
bietungsgeste die Moderne übersteigen zu können – eine These, die
Luhmann kurze Zeit später, nicht unbeeindruckt von Gehlen und der
Philosophischen Anthropologie, aber doch mit eigenen Denkmitteln

31 Th. W. Adorno und A. Gehlen, Ist die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen?
Ein Streitgespräch, in: F. Grenz, Adornos Philosophie in Grundbegriffen. Auflösung
einiger Deutungsprobleme, Frankfurt a. M. 1974, S. 245. Das Gespräch wurde vom SFB
und vom NDR im Dritten Programm 1965 gesendet.
32 K. Korn, Kulturkritik zwischen Skepsis und Spekulation [Zu Gehlen: ›Die Seele im

technischen Zeitalter‹], in: G. Rühle (Hrsg.), Bücher, die das Jahrhundert bewegten.
Zeitanalysen – wiedergelesen, Frankfurt a. M. 1980, S. 193.
33 Indirekte Wiedergabe des Briefes vom 8. 5. 1965 bei K.-S. Rehberg, Kommunistische

und konservative Bejahung der Institutionen. Eine Brief-Freundschaft, a. a. O., S. 483.

342 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

gesellschaftstheoretisch fortentwickelte. Mit »kultureller Kristallisa-


tion« als Signum der Lage in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
meinte Gehlen »denjenigen Zustand auf irgendeinem Gebiet […],
der eintritt, wenn die darin angelegten Möglichkeiten in ihren
grundsätzlichen Beständen alle entwickelt sind. Man hat auch Ge-
genmöglichkeiten und Antithesen entdeckt und hineingenommen
oder ausgeschieden, so dass nunmehr Veränderungen in den Prämis-
sen, in den Grundanschauungen zunehmend unwahrscheinlich wer-
den. Dabei kann das kristallisierte System noch das Bild einer erheb-
lichen Beweglichkeit und Geschäftigkeit zeigen […]. Es sind
Neuigkeiten, Überraschungen, es sind echte Produktivitäten mög-
lich, aber doch nur in dem schon abgesteckten Feld und auf der Basis
der schon eingelebten Grundsätze, diese werden nicht verlassen.« 34
Gehlens prominentes Anschauungsbeispiel für diese »kulturelle
Kristallisation« mit ihrer Beweglichkeit auf stationärer Basis in ei-
nem »nachgeschichtlichen Zeitalter« ist die moderne Malerei. Inner-
halb weniger Jahre um 1910 seien in den Richtungen des Kubismus,
der geometrisierenden oder informellen Malerei, im Surrealismus
und Futurismus, in der abstrakten Abwendung vom Bildgegenstand,
der Zulassung konstruktiver Phantasie, der »Ausgestaltung der Bild-
Oberfläche zu einem autonomen Reiz-Quantum« neue Möglichkei-
ten des Bildes entdeckt worden 35 ; damit aber seien alle Möglichkeiten
des Bildes zwischen Bildgegenstand und Bildfläche im Prinzip da,
nun könne man realistisch oder konstruktivistisch, abstrakt oder ge-
genständlich malen. Alle Möglichkeiten der Malerei hieß verschiede-
ne Möglichkeiten der bildnerischen Operation, keine Möglichkeit –
auch nicht die der Avantgardebewegungen – habe sich als die eine
Möglichkeit herausgestellt, die alle anderen erledigt. Gesellschafts-
theoretisch mit dem Begriff der »kulturellen Kristallisation« operie-
ren hieß insofern, das Ende der »›großen Schlüsselattitüde‹« für die
Moderne zu diagnostizieren, d. h. der Unternehmungen, die »aus ei-
ner Gesamtschau heraus eine Weltinterpretation und darin eine ein-
leuchtende Handlungsanweisung geben.« »Die große Schlüsselatti-
tüde lebt in sehr vielen Menschen noch als eine Art leeres Modell,
aber dieses läßt sich nicht mehr von den Sachen her mit Weltinhalt
oder ethisch mit eindeutigen Anweisungen füllen.« 36 Gehlens mo-

34 A. Gehlen, Über kulturelle Kristallisation, GA 6, S. 307.


35 A. Gehlen, Kulturelle Kristallisation und Post-Historie, GA 6, S. 333.
36 A. Gehlen, Über kulturelle Kristallisation, GA 6, S. 300 f.

Philosophische Anthropologie A 343


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

dernediagnostische Formel der »kulturellen Kristallisation«, die die


Möglichkeit der »großen Schlüsselattitüde« abweist, folgt darin ähn-
lichen Figuren der Philosophischen Anthropologie bei Scheler und
Plessner: bei Scheler, wenn er 1927 im Vortrag ›Weltalter des Aus-
gleichs‹ die Kategorie des »Allmenschen« (als gegenwartsdiagnosti-
sche Kategorie der ausdifferenzierten Möglichkeiten) gegen den Be-
griff des »Übermenschen« (als Überbietungskonzept) entwickelt,
und bei Plessner, der in seiner ›Anthropologie der geschichtlichen
Weltansicht‹ 1931 mit der Kategorie der »Unergründlichkeit« oder
des Menschen als »offener Frage« gegen die marxistische, geschichts-
philosophische Erwartung operiert, der Mensch könne sich noch ein-
mal bei seiner Wurzel packen und eine eindeutige, abschließende
Antwort finden. In diesen charakteristischen gesellschaftstheoreti-
schen Diagnostiken der Moderne reflektierten die Autoren der Phi-
losophischen Anthropologie möglicherweise die historischen Vo-
raussetzungen ihrer eigenen Theorieprogrammatik.
Gehlen und seine Philosophische Anthropologie wurden durch
die gemeinsamen, von Adorno erwünschten und stilisierten Auftritte
Mitte der 60er Jahre prägnant und erschienen durch Adornos Geg-
nerschaft als »konservativ« profiliert. Während Gehlen soweit in den
60er Jahren vor Ort im bundesrepublikanischen Geschehen in das
sich angesichts des Klimawechsels neu formierende bürgerlich-kon-
servative Lager rückt, erscheint Plessner in diesen Jahren mit seinen
nicht nachlassenden Interventionen schon etwas der unmittelbaren
Auseinandersetzung entrückt und zugleich im weitesten Sinn bür-
gerlich-liberal. Indem er kurz nach seiner Emeritierung 1962 hin als
erster die Theodor-Heuss-Professur an der New School for Social
Research in New York vertrat, rückte er der deutschen Szene etwas
fern, zugleich aber seiner Vergangenheit nah. Die Begegnungen mit
vielen exilierten Akademikern jüdischer Herkunft, die an der New
School in den 30er Jahren Schutz gefunden hatten, riefen ihm seine
eigene Leidenszeit zurück. Plessner fand dort aber auch neue Kon-
takte zur – von dem kurz zuvor verstorbenen Alfred Schütz auf-
gebauten – offenen Szene der Phänomenologen, zu Aaron Gur-
witsch, Thomas Luckmann, Peter L. Berger. Er zog sich nach dem
Amerikaaufenthalt in die liberale Schweiz zurück, wo es über-
raschend noch zu Lehraufträgen für Philosophie in Zürich kam.
Außerdem entwickelten sich Kontakte zu zeitgenössischen deutsch-
jüdischen Intellektuellen, zu Gershom Scholem, Hans Mayer, Peter

344 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

Szondi u. a. 37 In diese Schweizer Jahre fällt auch der nähere Kontakt


Plessners mit Adolf Portmann im Zusammenhang der Gründung der
Werner-Reimers-Stiftung38 für anthropologische Forschung.

Dieser Lageunterschied mit politischer Färbung – Gehlen im un-


mittelbaren intellektuell-öffentlichen Stellungskampf, Plessner dis-
tanziert ohne aktive Verpflichtung – wirkt als Hintergrund für die
auseinanderlaufenden größeren, autobiographisch reflektierten Er-
innerungen seit Mitte der 60er Jahre, die nun die Bildungsgeschichte
der Philosophischen Anthropologie selbst zum Thema haben.
Den Anfang macht Plessner in seinem Vorwort zur zweiten
Auflage der ›Stufen des Organischen und der Mensch‹, die 1965 er-
scheint. 39 Nach fast 40 Jahren spricht Plessner zum ersten Mal über
die entstehungsgeschichtliche und wirkungsgeschichtliche Situation
seines Buches Mitte und Ende der 20er Jahre. Er spricht davon, dass
das erwartungsvolle Publikum nach der Schelerschen Planskizze
einer Philosophischen Anthropologie im selben Jahr »das schwerfäl-
lige Werk eines Unbekannten für die Ausführung Schelerscher Ge-
danken« gehalten habe. Neben einigen anderen habe sich »vor allem
Nicolai Hartmann sehr bald und nachdrücklich gegen solche leicht-
fertige Verdächtigung gewandt, aber aliquid haeret«. Plessner sieht
sein Buch genetisch ureigen zwischen Scheler und Heidegger entste-
hen und zugleich wirkungsgeschichtlich – in den Jahren 1928 - 1933
– im Schatten von Schelers »geschickter Verwendung biologischer
und psychologischer Fakten« und Heideggers existenzphilosophi-
scher Durchbrechung des Wissenschaftshorizontes in ›Sein und Zeit‹
verschwinden: »Ernsthafte Kritik haben die Stufen nicht gefun-
den.« 40 Wie damals würdigt Plessner Scheler ausdrücklich als denje-
nigen, der die kognitive Leistung des Emotionalen erkannt habe, um
zugleich den Ansatz der »Planskizze« der Schelerschen Philosophi-

37 Vgl. dazu die Erinnerungen von M. Plessner, Die Argonauten auf Long Island. Be-
gegnungen mit Hannah Arendt, Theodor W. Adorno, Gershom Scholem und anderen,
a. a. O.
38 Der Schweizer Industrielle Reimers wollte – im Sinne Teilhard de Chardins und

seiner Anthropologie – ein Institut gründen; nach dem Tod des französischen Anthro-
pologen sprang Portmann ein und zog Plessner in den wissenschaftlichen Beirat der jetzt
vollzogenen Gründung der Stiftung mit Sitz in Bad Homburg.
39 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philoso-

phische Anthropologie, 2. Aufl. Berlin [de Gruyter] 1965.


40 Ebd., S. VII.

Philosophische Anthropologie A 345


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

schen Anthropologie herabzuspielen. Scheler habe schon seit der


›Idee des Menschen‹ von 1915 den Menschen theomorph als »Gestalt
der Transzendenz« verstanden, und die Skizze von 1927 »scheint«
nur »den Unterschied zwischen Tier und Mensch ohne Gott zu be-
greifen«, denn, so Plessner, bei Scheler werde der Mensch »zu einem
solchen durch seine Beziehung zu Gott.« Geistigkeit, das Monopol
des Menschen nach Scheler, sei letztlich ein Prädikat Gottes: »die
spezifische Körpergestalt der Hominiden mag eine hierbei unterstüt-
zende Rolle spielen – aufrechter Gang, Freisetzung der Hand, Zere-
bralisation – entscheidend ist sie nicht. Warum sollte in dieser Sicht«
– so Plessner weiter – »nicht auch ein Vogelkörper Schauplatz von
Triebverdrängung und Weltoffenheit sein – wenn der Geist in ihn
fährt?« 41 Plessner erwähnt hier allerdings nicht, dass er 1928 – in
seinem nun wiederaufgelegten Text – ebenfalls erklärt hatte, dass
im Hinblick auf das Prinzip der »Exzentrizität« »physische Merkma-
le der menschlichen Natur […] nur einen empirischen Wert« hätten,
also – parallel zu Scheler – zu der These kam: »Mensch sein ist an
keine bestimmte Gestalt gebunden.« 42
Plessner charakterisiert seinen ureigenen Ansatz von 1928 als
Versuch, »die Stufung der organischen Welt unter einem Gesichts-
punkt zu begreifen. Wohlgemerkt in der Absicht, unter Vermeidung
eben jener geschichtlich belasteten Bestimmungen wie Gefühle,
Drang, Trieb und Geist einen Leitfaden zu finden und zu erproben,
der die Charakterisierung spezieller Erscheinungsweisen belebter
Körper möglich macht. Solche Charakterisierung darf weder mit
den begrifflichen Instrumenten der Naturwissenschaften noch mit
denen der Psychologie erfolgen, wie das Scheler in alter panpsychis-
tischer Weise (und von Freud fasziniert) zum Besten gegeben.« 43
Um dem damaligen (bis zu und über Gehlen hinauswirkenden)
»akademischen Ballgeflüster«, Plessners ›Stufen‹ seien Schelers
»Vermächtnis« – »Lebte der Autor nicht auch in Köln, und war er
nicht sein Schüler?« – etwas entgegenzuhalten, entschließt sich
Plessner zu einem ungewöhnlichen Schritt. »Man wird in dieser Sa-
che dem Urteil eines so erfahrenen Anthropologen wie Frhr. v. Eick-
stedt gerade darum besonderes Gewicht beimessen dürfen, weil er zu
keiner philosophischen Partei gehört, aber im Unterschied zu man-

41 Ebd., S. XI.
42 Ebd., S. 293.
43 Ebd., S. XI.

346 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

chen seiner Fachgenossen die Notwendigkeit einer philosophischen


Anthropologie begreift. Er schildert die Situation folgendermaßen«
– und Plessner bringt nun das Zeugnis des Anthropologen v. Eick-
stedt: »›Der Soziologe und Philosoph Pleßner, von Driesch und Win-
delband zugleich herkommend – veröffentlicht 1928 das erste ge-
schlossene System einer durchaus originären Biophilosophie, in der
der Mensch die zentrale Figur bildet. Dessen unstete Vielseitigkeit
(Plastizität) inmitten eines bezugs- und spannungsreichen ›Umfel-
des‹ (Positionalität) führt ihn über sich selbst hinaus und damit zur
Distanz gegen sich selbst und dadurch zu einer organisch einmaligen
Daseinsdynamik herauf. Diese könne aber nur verstanden werden,
wenn Tatsachen und Deutungen, also Anthropologie und Philo-
sophie gemeinsam vorgehen. Dieser kühne Vorstoß wird leider so-
gleich von dem revolutionär wirkenden Essay des älteren und längst
anderwärts erfolgreichen Scheler überschattet. […] Sein lebenslan-
ges Kämpfen um Sein und Sollen der Menschen und ein Hinauskom-
men über seines (und u. a. meines) Lehrers Husserl Phaenomeno-
logie im Sinn einer lebensnäheren angewandten Phänomenologie
hatte ihn immer wieder zu dem Problem des Menschen geführt.‹« 44
Ungewöhnlich ist Plessners Schritt, nicht weil v. Eickstedt einer der
bedeutendsten, schulbildenden empirischen Anthropologen in
Deutschland war, sondern weil er mit seinem Hauptwerk von 1934
ein wirklicher Rassen-Kundler im Sinne der empirisch-anthropolo-
gischen Forschung war. 45 Verstehbar wird diese Zitierung nicht nur
wegen der eindeutigen Aussage v. Eickstedts, sondern weil dieser
schon 1940 auch in Gehlens Buch als eine Autorität in Sachen biolo-
gischer Anthropologie vorkam.
Glaubt Plessner damit den Scheler/Plessner-Streit zu seinen
Gunsten entkräftet, so kommt er anschließend auf Gehlen zu spre-
chen. Plessner gibt zum ersten Mal eine Art Besprechung des Geh-

44 Ebd., S. XIf. Plessner zitiert E. Frhr. v. Eickstedt, Anthropologie mit und ohne An-
thropos, in: Homo. Zeitschrift für die vergleichende Forschung am Menschen. Organ
der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Jg. 14 (1963), Bd. 1, S. 11.
45 E. Frhr. v. Eickstedt, Rassenkunde und Rassengeschichte der Menschheit, Stuttgart

1934. Dieses Werk erschien in der 2. Auflage seit 1937 in Lieferungen unter dem Titel:
Die Forschung am Menschen, Teil 1: Geschichte und Methoden der Anthropologie,
Stuttgart 1940; Teil 2: Physiologische und morphologische Anthropologie, Stuttgart
1944; Teil 3: Psychologische und philosophische Anthropologie, Stuttgart 1963. – Aus
dem letzten Teilband stammte v. Eickstedts auch in dem angeführten Aufsatz vorliegen-
de Darstellung von Plessners Werk; vgl. ebd., S. 2597.

Philosophische Anthropologie A 347


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

lenschen Buches, polemisch gespickt mit Verweisen auf dessen ge-


nannte und ungenannte Anreger und auf die Aufdeckung der Be-
schränktheit von dessen biologisch-pragmatischen Gesichtspunktes
konzentriert: »Mit bemerkenswertem Geschick hat Arnold Gehlen
(zuerst 1940) ein biologisches Verhaltensmodell des Menschen ent-
worfen, für welches er unter Strapazierung des Herderschen Begriffs
vom Mängelwesen zahlreiche Anreger wie den Anatomen Bolk, die
Biologen Portmann und K. Lorenz, S. Freud und vor allem Scheler
nennt, ein Modell allerdings begrenzter Tragkraft. Ihrer Prüfung
sollte sich die philosophische Anthropologie nicht entziehen.« 46 Den
Menschen durch seine spezifische Körperentwicklung als zu be-
stimmten Leistungen ermächtigt vorzustellen, sei nicht neu: »So et-
was hat man auch vor Gehlen schon versucht. Ich erinnere nur an
Paul Alsbergs Buch ›Das Menschheitsrätsel‹ (Dresden 1922), das die
Bedeutung der Organausschaltung – Gehlens Entlastung – bereits
zur Leitidee seines Gesamtentwurfs gemacht hat.« 47 Gehlen, so
Plessner, habe selbst die Schranke seiner pragmatistisch-biologischen
Idee, die den Menschen unter dem Gesichtspunkt zielgerichtet-in-
strumentellen Verhaltens rekonstruieren will, kenntlich gemacht
durch das Einführen der Offenheit der Antriebsstruktur, in der der
Mensch im Zusammenhang mit der Sprache zu »biologischer Mehr-
deutigkeit emanzipiert« sei. »Diese von Gehlen selbst ermittelte, und
zwar durch Festhalten am pragmatischen Gesichtspunkt ermittelte,
Emanzipation menschlichen Verhaltens vom biologisch eindeutigen
Handeln, ermächtigt die Anthropologie, eben diesen von Gehlen
empfohlenen Gesichtspunkt aufzugeben. […] Auch ein negatives Er-
gebnis ist für den Empiriker ein gutes Ergebnis, mag es sogar auf
krummen Wegen erzielt sein, auf durch Hypothesen ad hoc ge-
krümmter Bahn und verschwiegener Information.« 48
Nach diesen von Bitterkeit durchsetzten Bemerkungen kommt
Plessner dann – in sein neu aufgelegtes, unverändert gelassenes Buch
von 1928 einführend – auf sein Modell zu sprechen, das »mensch-
liches Verhalten in der Fülle seiner Möglichkeiten« zugänglich ma-
chen will. Interessanter Weise erwähnt er als Fall einer solchen »vol-
len« Verhaltenstheorie zunächst Buytendijks ›Allgemeine Theorie
der menschlichen Haltung und Bewegung‹ (1956), dann die von ihm

46 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. XV.
47 Ebd., S. XVI.
48 Ebd., S. XVIII.

348 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

selbst in der gleichnamigen Schrift untersuchten Phänomene »La-


chen und Weinen«, die als »Grenzreaktionen des Verhaltens« aufträ-
ten, »genauer gesagt, als Reaktionen auf Grenzen, die unserem durch
Sprache und Zielsetzung gesteuertem Benehmen gezogen sind.« Und
dann fährt er fort: An ihnen »kommt ein Grundzug menschlichen
Daseins zum Vorschein, den ich in den ›Stufen‹, und zwar nicht in
spezieller Berücksichtigung von Lachen und Weinen, sondern im
Hinblick auf eine ganze Reihe anderer Charakteristika dieser Art
Dasein exzentrische Positionalität genannt habe.« Nachdem er auf
diese Weise seine eigene anthropo-biologische Lücke von 1928 um-
gangen hat 49 , kommt er nun auf die tatsächliche Denkbewegung sei-
nes Buches zu sprechen, nämlich die »Daseinsart des Menschen als
eines Naturereignisses und Produkts ihrer Geschichte […] im Wege
der Kontrastierung mit den anderen uns bekannten Daseinsarten der
belebten Natur« zu gewinnen. Er legt den Akzent ganz auf seine
»Theorie der Grenze« und der »Positionalität« als einer Theorie des
Lebendigen 50 , um mit A. Portmanns Ausbau dieser Theorie der
Grenze zur Theorie der »Selbstdarstellung« des Lebendigen »durch
Gestaltung der Grenzfläche« als »schlichtester Manifestation im
Lichtraum« zu schließen. 51
1967 verschärft Plessner in einem Merkur-Aufsatz ›Der
Mensch als Lebewesen. Adolf Portmann zum 70. Geburtstag‹ noch
einmal den Tonfall gegenüber Gehlen, als wollte er ihn zu einer
Reaktion zwingen. Gehlens Band ›Anthropologische Forschung‹, in
dem Plessners Beitrag als »metaphysische Anthropologie« von nur
»dichterischer Evidenz« abgetan wurde, lag inzwischen in 5. Auflage
mit 40000 Exemplaren vor. Plessner will im ›Menschen als Lebewe-
sen‹ 52 die Merkmale, die dem Menschen die Möglichkeit geben, sich
von der physischen Welt »zu unterscheiden und gegen sie als ein
geistiges Wesen zu behaupten«, zur Darstellung bringen – im Ver-

49 Vgl. die umsichtige Besprechung von F. Rodi, Conditio humana. Zu der gleichnami-
gen Schrift von Helmuth Plessner und zur Neuauflage seines Buches: ›Die Stufen des
Organischen und der Mensch‹, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Jg. 19
(1965), S. 705–706.
50 Plessner entdeckte in diesen Jahren überhaupt, ermutigt durch Portmanns Zuspruch,

seine originäre Theorie des Organischen wieder. Vgl. H. Plessner, Ein Newton des Gras-
halms? (1964), GS VIII, S. 247–266.
51 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. XXIII.

52 H. Plessner, Der Mensch als Lebewesen. Adolf Portmann zum 70. Geburtstag (1967),

GS VIII, S. 314–327.

Philosophische Anthropologie A 349


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

such, »diese Sonderstellung biologisch zu begreifen«. Entlang von


Sprachtheorie, Primatenforschung und natürlich Portmanns extrau-
terinem Frühjahr unternimmt er es, die Ich-Struktur aus der
menschlichen Körperdisposition und zugleich in ihrer schwerpunkt-
verlagernden Rückwirkung auf das Körperverhältnis darzustellen. In
jedem Fall ist ihm die Distinktion gegenüber Gehlen wichtig: »Un-
sere Analyse vermeidet […] die bewußte Niveausenkung des auch
im deutschen Schrifttum verspätet in Mode gekommenen Behavio-
rismus, der (zu Recht erworbene Begriffe) der Verhaltensforschung
auf die menschliche Daseinsweise anwendet, um sich ein spezial-
wissenschaftliches, exakt biologisches Air zu geben und so zu tun,
als habe sie es damit fertig gebracht, den ›Fall Mensch‹ seiner phi-
losophischen Schwierigkeiten zu entkleiden.« 53

Tatsächlich antwortet Gehlen, natürlich ohne Plessners Invektiven


irgendwie zu erwähnen. Aber sein Beitrag ›Ein anthropologisches
Modell‹ von 1968 54 , in dem er zum ersten Mal selbst einen autobio-
graphisch gefärbten Rückblick auf seinen Zugang zur Philosophi-
schen Anthropologie gibt, ist kontrapunktisch zu Plessners Rückblick
im Vorwort von 1965 gebaut. 55 Gehlen beschreibt seine Lage um
1935 so: »Einem jüngeren Gelehrten, der damals die Arena der Phi-
losophie betreten hatte«, wäre klar gewesen, dass angesichts der wis-
senschaftlichen Entwicklung ontologische oder systemkonstruktive
Ambitionen in der Fortsetzung der großen Tradition philosophisch
nicht aussichtsreich sein würden. Von den beiden Versuchen, die Phi-
losophie neu zu begründen, der Phänomenologie und der Existenz-
philosophie, habe sich die Phänomenologie Husserls bei ihrem
anspruchsvollen Versuch, das Bewusstsein des Denkenden in sich
selbst zurückzurufen und dessen eigene Strukturgesetze zu erfor-
schen, in subtile und unabschließbare Reflexionen verloren; nur
Scheler habe sie als »durchdachte Erlebnisbeschreibung in Absicht

53 Ebd., S. 324.
54 A. Gehlen, Ein anthropologisches Modell, GA 4, S. 203–215.
55 Gehlen schrieb an den Herausgeber der Zeitschrift ›The Human Context‹, in dem

sein Beitrag auf deutsch und englisch erschien, dass er in einer Art »methodologischem
Selbstporträt« schildern wolle, »welche Prämissen vorlagen, welches Projekt ich mir
vornahm und welche methodischen Schritte sich ergaben. Dabei kann ich nicht vermei-
den, daß gewisse sonst für die Öffentlichkeit uninteressante autobiographische Details
zur Sprache kommen, sonst werden die Prämissen nicht klar.« Gehlen an P. A. Senft
7. 1. 1967, zit. n. K.-S. Rehberg, Nachweise zur Textgeschichte, GA 4, S. 416.

350 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

feststellbarer Erkenntnisse betrieben« und ihr eine praktikable Fas-


sung gegeben. Heideggers Existenzphilosophie hingegen habe durch
die subtile Revitalisierung von christlichen Beständen dem Leser das
Gefühl seiner Weltbedeutung, also eine Steigerung des Subjektivis-
mus, aber keine bleibenden Gewissheiten vermittelt.
Jetzt kommt Gehlens entscheidende, gegen Plessner gewendete
und selbst eine Wendung vollziehende Bemerkung: »Dagegen hatte
Max Scheler mit seiner im Todesjahr 1928 erschienenen kleinen
Schrift ›Die Stellung des Menschen im Kosmos‹ ein Tor geöffnet, an
dem man nicht vorbeigehen konnte.« 56 Gehlen schildert damit hier
deutlicher als je zuvor das Scheler-Buch als den für ihn entscheiden-
den Wendepunkt seiner philosophischen Entwicklung, als unmittel-
baren Vorläufer seines eigenen Buches von 1940, und rückt Scheler,
den er wenige Jahre zuvor noch als metaphysische »Großinforma-
tion« abgetan und dessen ›Schüler‹ zu sein Plessner sich eben noch
geweigert hatte, in die Stelle des ausschlaggebenden Inspirators des
Denkansatzes. Gleichsam in dem Augenblick, wo Plessner es im
Rückblick gewissermaßen versäumt hat, Schelers Bedeutung für sei-
ne Entwicklung und für die Philosophische Anthropologie offen dar-
zulegen, ergreift Gehlen die Gelegenheit, um nun repräsentativ die
Genealogie des Denkansatzes zu verantworten. Er wird diese Linie
im Verlauf der nächsten Jahre konsequent fortsetzen. 57
Max Scheler sei offenbar dabei gewesen, ein Modell vom Men-
schen auszuarbeiten, in das man große Teile der in produktiver
Dringlichkeit befindlichen Wissenschaften vom Menschen – Ethno-
logie, die Sprachwissenschaften, die Soziologie und Humanbiologie
bis zur Psychologie und Psychoanalyse – eintragen konnte. Zwar ha-
be Scheler die Sonderstellung letztlich dualistisch bestimmt, insofern
er sie aus dem Geist ableitete, dessen »Zentrum« selbst nicht Teil der
vergegenständlichten Welt sei. Abgesehen davon entwickelte er aber
56 A. Gehlen, Ein anthropologisches Modell, GA 4, S. 206.
57 Zugleich wird das Gerücht, Plessner sei bis in den Gedankenkern hinein ein unmittel-
barer Schüler Schelers gewesen, weiter verbreitet, so in der Soziologie-Geschichte des
Gehlen-Assistenten F. Jonas: »Plessner geht in seiner philosophischen Anthropologie,
die er zuerst in seinem Buch ›Die Stufen des Organischen und der Mensch‹ (1928) ent-
wickelt hatte, auf das Werk von Max Scheler zurück, der ebenfalls 1928 seine einfluss-
reiche Schrift ›Die Stellung des Menschen im Kosmos‹ veröffentlichte (6. Aufl. 1962).
Scheler hatte in dieser Schrift zuerst das Thema von der exzentrischen Positionalität des
Menschen entwickelt, das dann bei Plessner […] weiterentwickelt wird.« F. Jonas, Ge-
schichte der Soziologie IV. Deutsche und amerikanische Soziologie. Mit Quellentexten,
Reinbek b. Hamburg 1968, S. 111.

Philosophische Anthropologie A 351


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

»Positionen, die sofort als aussichtsreich erscheinen mußten.« »Zwei


der wichtigsten Thesen Schelers konnte man […] beibehalten, näm-
lich den Ausgangspunkt von dem Vergleich zwischen Mensch und
Tier und die Lehre von der Weltoffenheit, d. h. der Beeindruckbarkeit
durch beliebig mannigfaltige Außenweltdaten, auch dann, wenn sie
biologisch gleichgültig oder gar schädlich sind.« 58 Wichtig sei Sche-
lers gegen die Deszendenztheorie (»gradlinige Entwicklung von den
Anthropoiden zum Menschen«) gerichtete Methodik gewesen, »den
Menschen indirekt zu beschreiben, nämlich zugleich im Vergleich
und im Gegensatz zum Tier.« 59 Um die Aspekte von Körper und
Geist zu verklammern, sei es allerdings bedeutsam geworden – und
jetzt schildert Gehlen seinen eigenen Entschluss –, eine neutrale Ka-
tegorie wie »Handlung« als Entfaltungspunkt zu wählen und über
den »Handlungskreis« bis zu einer Sprachtheorie zu gelangen, die
Scheler nicht gegeben habe. Darüber hinaus sei über die auch von
Scheler schon eingeführte Dimension des »Antriebsüberschusses«
in der Kategorie der »Instinktreduktion« eine systematische Auswer-
tung der psychoanalytischen Funde Freuds möglich geworden.
Schließlich hätten die morphologischen Funde einer organischen Re-
tardation beim Menschen (v. a. von Bolk) die Notwendigkeit für ein
solches Lebewesen, durch Handlung die vorgefundene Natur umzu-
arbeiten, bestätigt. In der von ihm herausgehobenen Kategorie der
»Institution« endlich seien Grundzüge der Kultur zugänglich. In der
Religion und im Recht, in den Ordnungen des Zusammenlebens, der
Familie, der Arbeit, des Staates, führten die Menschen – »instinkt-
unsicher und energiegeladen« – einen Kampf »gegen das Überwäl-
tigtwerden durch die Natur, durch andere Menschen und durch das
eigene Innere. Es ist die Bestimmung des Menschen, daß er nach der
Unmittelbarkeit seines Wollens und Meinens nicht leben kann, denn
er muß sich, ein konstitutionell ›riskiertes‹ Wesen, seiner Natur ent-
fremden, um ihr zu entrinnen, aber in eine Kultur hinein, deren Ge-
setze er immer weniger beherrscht, je höher sie ihn treibt.« 60

Gehlen gab 1968 gleich noch eine indirekte Antwort auf Plessners
Unterstellung, er – Gehlen – entfalte nur eine »biologische Verhal-
tenslehre des Menschen«. Demonstrativ setzte er in einem Vortrag

58 A. Gehlen, Ein anthropologisches Modell, a. a. O., S. 210.


59 Ebd., S. 208.
60 Ebd., S. 215.

352 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

über ›Philosophische Anthropologie und Verhaltensforschung‹61 sei-


ne »Modellvorstellung des Menschen« zur »vergleichenden Verhal-
tensforschung« ins Verhältnis, das »ergiebigste Feld von Erkennt-
nissen über den Menschen«, wie es in der Zusammenfassung durch
den Lorenz-Schüler Eibl-Eibesfeldt vorlag. 62 Das humanethologi-
sche Werk von Eibl-Eibesfeldt beruhte, anders als die Schriften von
Lorenz, dessen ethologischem Programm vergleichender Verhal-
tensforschung bei Tier und Mensch es folgte, auch auf ethnologi-
schen Feldstudien. Gehlen erkannte an, dass er bei einer großen
Zahl bei Tier und Mensch aufgedeckter »angeborener Verhaltens-
weisen« den aggressiven Zug bisher vernachlässigt habe, wie bei
Drohstellungen und Imponiergesten. Besondere Aufmerksamkeit
wendete Gehlen in diesem Zusammenhang den ethologischen Be-
schreibungen von Lächeln und Lachen zu: »Aggression wird voraus-
gesetzt bei den Gesten der Beschwichtigung mit der guten Beobach-
tung, daß sie infantiles Verhalten reaktivierten, hierher gehört das
Lächeln als Aggressionspuffer, während das Lachen scharf vom Lä-
cheln zu unterscheiden ist, in ihm steckt ein aggressiver Zug, ur-
sprünglich hält es Konrad Lorenz für eine Drohbewegung, die zur
Begrüßungszeremonie umfunktionalisiert wurde (›ritualisiert‹). Die
aggressive Komponente tritt klar beim Auslachen oder Verhöhnen
heraus, das als Ausstoßreaktion gegen normabweichendes Aussehen
oder Verhalten gelten muß.«
Gegen die Dominanz angeborener Verhaltensweisen beim Men-
schen allerdings hielt Gehlen, teilweise mit Formulierungen von
Eibl-Eibesfeldt, daran fest, dass es neben diesen Instinktresiduen –
wie z. B. dem Lachen – beim Menschen ein »›unspezialisiertes‹ Reser-
voir frei verfügbarer Antriebsenergie gibt«, ohne die die unendlich
mannigfaltigen Arbeitsgänge der menschlichen Kultur nicht verstan-
den werden könnten. Es kam ihm darauf an, die Sachlichkeit ermög-
lichenden Verhaltensweisen – als nicht festgelegt – von den mög-
licherweise instinktresidualen Ausdrucksweisen – wie Lachen und
Lächeln – abzuheben. Er fasste zusammen: »Angeboren zweckmäßig
und arterhaltend, instinktiv zu nennende Handlungsketten, die defi-
nierte Bestandteile der Außenwelt einbeziehen und vom Beobachter

61 A. Gehlen, Philosophische Anthropologie und Verhaltensforschung (1968), GA 4,


S. 216–221.
62 I. Eibl-Eibesfeldt, Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung, München

1967.

Philosophische Anthropologie A 353


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

mit diesen zusammengesehen werden müssen, lassen sich beim


Menschen kaum finden, sondern in erster Linie mimische und affek-
tive (Ausdrucks-)Bewegungen sowie sozialbezogene Signale.« 63
Gehlen behielt also seine Linie bei, im Feld der Verhaltensbiologie
selber die Sonderstellung des Menschen zu verteidigen (Sachlich-
keit); zugleich gab er Plessners Deutung des Lachens als eine spezi-
fisch menschliche, sinnvermittelte Verhaltensweise der Kritik durch
die Lorenzsche Verhaltensbiologie preis. Wenig später wird er sagen:
»Das ›Lachen‹, um das sich Bergson, Plessner u. a. vergeblich bemüh-
ten, ist von K. Lorenz als ritualisierte, d. h. als durch Sozialkontakt
genetisch umorientierte Drohbewegung interpretiert worden, wofür
ja auch das Zähnezeigen spricht.« 64 Nun hatte schon Portmann an
Plessners Deutung des Lachens den fehlenden sozialen Bezug kriti-
siert; andererseits war durch Lorenz’ funktionalistische Erklärung
des Lachens noch nicht die merkwürdige Verselbständigung dieser
körperlichen Reaktionsweise erklärt, also Plessners Deutung aus
dem prekären Selbstverhältnis des Menschen zu seinem zu beherr-
schenden Körper nicht erledigt. Gehlen wollte ganz offensichtlich
mit dem schlichten Anschluss an die sozialfunktionale Ausdrucks-
lehre der Lorenz-Schule seine eigene Schwäche hinsichtlich der
Theorie des spezifisch menschlichen Ausdrucks verbergen und zu-
gleich Plessners Ideenbildung treffen.

Plessners Invektiven gegen Gehlen leisteten einer gewissen Stereo-


typisierung dieses Autors Vorschub. Sie waren für interessierte Drit-
te ein gefundenes Fressen, Dritte, die am Ansatz nicht interessiert
waren, aber als Munition gegen den sogenannten ›konservativen‹
Autor Gehlen dessen theoretische Kennzeichnung als »Biologisten«
brauchen konnten. Andererseits verhärtete sich auch das liberal-kon-
servative Lager, und Plessner fiel nun aus dessen Lektürespektrum
heraus, in dem er Anfang der 50er und noch Anfang der 60er Jahre
Resonanz fand. 65 Von der Erscheinung der Philosophischen Anthro-

63 A. Gehlen, Philosophische Anthropologie und Verhaltensforschung (1968), GA 4,


S. 219.
64 A. Gehlen, Fortschritte der Instinktforschung beim Menschen (1970), GA 4, S. 225.

65 Vgl. die Urteile zweier bürgerlich-konservativer Publizisten, Joachim Günther und

Wolf Jobst Siedler: Joachim Günther, in dessen ›Neuen Deutschen Heften‹ Gehlen in
den 60er Jahren einer der Hauptautoren werden wird, schreibt 1954 über Plessner in
einer Besprechung von ›Zwischen Philosophie und Gesellschaft‹ : »Plessner […] ist ein
ebenso ausgezeichneter Philosoph, wie er andererseits bis in die Nuancen seines Stils

354 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

pologie her schienen die beiden Hauptautoren Angehörige verschie-


dener ideeller Lager zu sein, nur nominell unter dem Titel eines
Denkansatzes verknüpft.

Dieser Eindruck schien sich zu bestätigen, als beide Autoren mit Al-
terswerken weitere inhaltliche Beiträge zur Philosophischen Anthro-
pologie vorlegten. Gehlen macht 1969 Furore, als er mit ›Moral und
Hypermoral‹ eine »pluralistische Ethik« 66 vorlegt, die vier nicht auf-
einander rückführbare »Sozialregulationen«, einen »Pluralismus
mehrerer ethischer Instanzen« herauszupräparieren sucht: das Ethos
der Gegenseitigkeit, das Ethos der »physiologischen Tugenden« 67 ,
das Ethos der Familiarität und das Ethos der Institutionen insonder-
heit des Staates. Unter der Voraussetzung, dass die Menschen zu-
meist in moralischen Mischzuständen leben, konnte Gehlen struk-
turell auf Spannungen zwischen diesen pluralen Ethosformen durch
strukturelle »Elargierungen« oder »Überdehnungen« jeweiliger
Ethosformen eingehen. Dabei waren die ganzen Ausführungen ge-
genwartsdiagnostisch mit der Kritik einer zeitgenössischen »Hyper-
moral«-Lage durchzogen, in der unter Führung der Intellektuellen

hinein auch ein Mann der ›guten Gesellschaft‹ ist. […] Plessners dialektisch und sprach-
lich gleich gut geführte Feder erinnert bisweilen an die besten kulturphilosophischen
Essais Simmels, ohne sich so weit, wie oftmals das Simmelsche Philosophieren, in die
Seidengespinste persönlicher Spekulationen zu verlieren. Das merkt man besonders an
den mit konkreten Gegenwartsbeziehungen gesättigten Arbeiten Plessners, die ins en-
gere soziologische Gebiet weisen.« J. Günther, Besprechung: H. Plessner, Zwischen Phi-
losophie und Gesellschaft, in: Deutsche Rundschau, Jg. 80 (1954), S. 410–411. – Und
Wolf Jobst Siedler 1962 in einer Umfrage: ›Kritiker antworten: Das sollten Bestseller
sein!‹ : »Ich mache zuerst Helmuth Plessner namhaft, einen Kopf allerersten Ranges, im
Grenzgebiet zwischen Philosophie und Soziologie denkend, mit Blicken auf seelische
Zwischenschichten, die ihn den großen Psychologen der Zeit zuordnen. Die großen
politischen und gesellschaftswissenschaftlichen Werke an dieser Stelle beiseite lassend,
führe ich vor allem die Essays ›Über das Lächeln‹ und ›Lachen und Weinen‹ an, die zwar
in engen Zirkeln einigen Ruhm genießen, der jedoch in keinem Verhältnis zu der Macht
steht, die Heidegger, Jaspers oder Adorno über das intellektuelle Deutschland besitzen.«
W. J. Siedler, Stellungnahme zu: Kritiker antworten: Das sollten Bestseller sein!, in:
Westermanns Monatshefte, Jg. 103 (1962), H. 11, S. 19.
66 A. Gehlen, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Frankfurt a. M./Bonn

1969.
67 »Physiologische Tugenden« meint nicht Tugenden der Physis oder der Natur, son-

dern das Ethos, das sich in diesen Tugenden um die »physiologischen« Aspekte des
Körpers kümmert, sei es im Mitleid um den Schmerz des Anderen, in der Schutz- und
Pflegereaktion um die Hilflosigkeit der Kinder oder im Eudämonismus sich um das
eigene Wohlbefinden sorgend.

Philosophische Anthropologie A 355


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

wohlfahrtsstaatlicher Eudämonismus – als Elargierung der Fürsorge-


Moral – zusammen mit familiärem Brüderlichkeitsethos (Humanita-
rismus) überdehnt würden gegenüber dem Institutionenethos des
Staates. Gehlens »anthropologische Ethik«, die er als konsequenten
Fortsetzungsband seiner bisherigen anthropologischen Hauptwerke
auffasste (»Der Mensch. Bd. I–III« 68 ), fand entschiedenen Wider-
spruch bei Habermas, der gegenüber Gehlens irreduzibler Pluralität
der Ethosformen im Menschen auf die »Einheit des moralischen Be-
wußtseins« abhob und zugleich die theoretische Kritik an seiner An-
thropologie mit einer massiven politischen Einschüchterung ver-
band: »Ein im Dreieck Carl Schmitt, Konrad Lorenz, Arnold Gehlen
entwickelter Institutionalismus könnte leicht das Maß an Breiten-
glaubwürdigkeit erhalten, das kollektiven Vorurteilen genügt, um
virulente Aggressivität zu entbinden und gegen innere Feinde man-
gels äußerer zu richten.« 69
Plessner wird etwas später diese Kritik von Habermas an Gehlen
unterstützen, vor allem politisch: »Gerade weil die Generation sehr
bald verschwunden sein wird, die Aufstieg und Ende des Nationalso-
zialismus mitgemacht hat, sollte die Warnung nicht verhallen. Sein
Potential ist noch lange nicht erschöpft.« 70 Allerdings ist Plessners
Beitrag aus demselben Jahr 1969 – der berühmte Aufsatz ›Homo
absconditus‹ – inhaltlich nicht so fern von Gehlens Position, wenn
Plessner dem – aktuell vor allem von Marcuse entfalteten – »Theo-
rem der menschlichen Selbstentfremdung«, also »dem anthropologi-
schen Rückgrat des Marxismus«, mit dem die innerweltliche Heils-
geschichte der Heimkehr aus der Fremde (in die Brüderlichkeit)
erzählt werde, bewusst ein anderes anthropologisches Theologume-
non entgegensetzt: »homo absconditus. Dieser ursprünglich dem un-
ergründlichen Wesen Gottes zugesprochene Begriff trifft die Natur
des Menschen. Sie läßt sich nur als eine von ihrer biologischen Basis
jeweils begrenzte und ermöglichte Lebensweise fassen, die den Men-
schen weiterer festlegender Bestimmung entzieht.« 71 Und Plessner
fährt fort: Der »Mensch hat sich nie verlassen. Keine Art von Arbeit

68 K.-S. Rehberg, Arnold Gehlens Beitrag zur ›Philosophischen Anthropologie‹, a. a. O.,


S. I.
69 J. Habermas, Nachgeahmte Substantialität. Eine Auseinandersetzung mit Arnold

Gehlens Ethik, in: Ders., Philosophisch-politische Profile. 3., erweit. Aufl. Frankfurt
a. M. 1981, S. 107–126. – Zuerst in Merkur, Jg. 24 (1970), S. 313–127.
70 H. Plessner, Trieb und Leidenschaft (1971), GS VIII, S. 370.

71 H. Plessner, Homo absconditus (1969), GS VIII, S. 365.

356 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

hat ihn je von sich entfremdet. Und keine Art von Arbeit kann ihn
um seine Möglichkeiten bringen. So kehrt denn der Mensch auch nie
zurück. Auf die dem Marxismus inhärente Romantik von Entfrem-
dung und Heimkehr müssen wir verzichten und uns ihren illusionä-
ren Charakter eingestehen.« 72
Und wenn Plessner in seinem letzten großen Text von 1970, der
›Anthropologie der Sinne‹ 73 , anknüpfend an die ›Einheit der Sinne‹
von vor fast fünfzig Jahren und diese nun noch einmal als Kom-
plement seiner »Philosophischen Anthropologie« begreifend 74 , sys-
tematisch die Pluralität der Welt- und Selbstregulationen in der
irreduziblen Differenz der Sinne, v. a. der heterogenen Aufschlie-
ßungsmöglichkeiten von Auge und Ohr, herausarbeitet und zugleich
systematisch auf das Problem der »Einheit der Sinne« abzielt als je-
weils zu leistender »Verkörperung« des Menschen, dann scheint er
sachlich von Gehlens »pluralistischer Ethik« als der Frage der Pro-
portion der verschiedenen Ethosformen zueinander nicht so weit ent-
fernt. Ob »Einheit« des moralischen oder ästhesiologischen Bewusst-
seins, in jedem Fall geht es den Protagonisten der Philosophischen
Anthropologie offensichtlich darum, die jeweiligen differenten Mo-
mente nicht als geschichtliche Abfolge von Entwicklungsstufen zu
rekonstruieren, kein Stadiengesetz und keine Evolutionslogik, auch
keine abschließende Synthese der differenten Momente zu postulie-
ren, sondern eine parataktische Balance von nicht aufeinander rück-
führbaren Größen zu rekonstruieren, in Abwehr der »Elargierung«
jeweils einer Größe zuungunsten anderer. Bereits Plessner hatte in
seinen ›Grenzen der Gemeinschaft‹ von 1924 den Pluralismus
mehrerer Ethosformen nebeneinander gesehen (Vernunftmoral, Dis-
tanzmoral, Vertrautheitsmoral) und systematisch ihre jeweiligen
»Grenzen« aufgewiesen als Voraussetzung der Beobachtung von
»Überdehnungen« jeweiliger Geltungsansprüche. Plessners »Kritik
des sozialen Radikalismus« von 1924 fungierte also bereits damals
als eine Kritik der »Hypermoral«, die Gehlen jetzt 1970 vorlegte.

72 Ebd., S. 366.
73 H. Plessner, Anthropologie der Sinne (1970), GS III, S. 321–393.
74 H. Plessner, Philosophische Anthropologie. Lachen und Weinen, Das Lächeln, An-

thropologie der Sinne, hrsg. v. G. Dux, Frankfurt a. M. 1970. Plessner fügte diese ›An-
thropologie der Sinne‹ zusammen mit ›Lachen und Weinen‹ und dem ›Lächeln‹ zur
›Philosophischen Anthropologie‹, die in der Reihe ›Conditio humana‹ des S. Fischer Ver-
lages figurierte und die damit Kerntexte seiner an Phänomenen ›durchgeführten‹ Phi-
losophischen Anthropologie enthielt.

Philosophische Anthropologie A 357


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Und auch Max Scheler hatte schon in seiner Wertethik (unabhängig


vom Theorem der »Rangordnung« der Werte) gegen jede Prinzipien-
ethik (Ethik eines Prinzips) mit einer Pluralität verschiedener, nicht
aufeinander rückführbarer Werte operiert und unter Bedingungen
seiner Philosophischen Anthropologie dementsprechend 1927 eine
moderne Beobachtungstheorie des ›Menschen im Weltalter des Aus-
gleichs‹ entwickelt. In dieser Operationsweise – dem Aufweis einer
systematischen Pluralität von aufeinander irreduziblen Größen, der
Beobachtung von »Überdehnungen« oder »Radikalismen« und des
Verfahrens des Ausgleichs, der »Inverhältnissetzung« von Größen –
konnte die Philosophische Anthropologie bei ihren verschiedenen
Autoren als ein eigener Typus einer kritischen Theorie kenntlich
werden.

Insofern ist es nur scheinbar ein Widerspruch, dass es trotz der fort-
während erneuerten und vertieften Spannungsverhältnisse zwischen
Plessner und Gehlen in diesen Jahren insgesamt zur veritablen Wir-
kungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie kam. Obwohl
die Referenzautoren wegen ihrer Querelen die Repräsentanz des An-
satzes treiben ließen, lag die philosophisch-anthropologische Gedan-
kenbildung tiefenstrukturell in den Kernaussagen doch dicht genug
beieinander, so dass sich eine Strömung Philosophische Anthropolo-
gie bildete, die unabhängig von Distanzgesten ihrer Protagonisten
driftete. Schon in den 1950er Jahren an Wirkung gewinnend, gerie-
ten vor allem noch in den 60er Jahren neue Kräfte in verschiedenen
Disziplinen in das Einflussfeld der Philosophischen Anthropologie.
1967 erschien in der ›Encyclopedia of Philosophy‹ der Artikel ›Phi-
losophical Anthropology‹, der den Denkansatz auch international als
eine Strömung kodifizierte – »Modern philosophical anthropology
originated in the 1920s. During the 1940s it became the representati-
ve branch of German philosophy« – und erste Hinweise auf die Wir-
kungsgeschichte dieser Gegenwartsströmung in der Psychologie und
der Biologie der 60er Jahre gab. 75 Aus westdeutscher Sicht war die
Wirkung allerdings gerade in der Soziologie besonders greifbar, we-
gen des Übergangs von Gehlen und Plessner von der Philosophie zur
Soziologie natürlich gerade dort. Rückblickend darf man die Wir-
kungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie aber nicht ver-

75 O. Pappé, Philosophical Anthropology, in: P. Edwards (ed.), The Encyclopedia of Phi-


losophy, Vol. 6, New York/London 1967, S. 159–166.

358 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

engt auf eine Disziplin erzählen; sie sprang eben neben der Soziolo-
gie auch auf Köpfe der bundesrepublikanischen Philosophie über, ob-
wohl sie dort seit 1954 (Emeritierung Rothacker) über keinen Lehr-
stuhl mehr verfügte, beeinflusste aber eben auch die Theologie und
Fragestellungen und Forschungen in der Psychologie, Medizin-
anthropologie, in der Naturphilosophie und philosophischen Bio-
logie.

Die Philosophische Anthropologie gewann in den 60er Jahren einen


gewissen Einfluss innerhalb der Biologie und Naturphilosophie. Man
muss dabei im Hintergrund erinnern, dass H. Driesch, der bedeu-
tendste deutsche philosophische Biologe der ersten Jahrhunderthälf-
te, mit Plessner und Gehlen zwei Schüler gehabt hatte, die – bei aller
inhaltlichen Distanz zu Driesch im Einzelnen – nun nach der Jahr-
hundertmitte die Impulse einer in die Philosophischen Anthropo-
logie als Voraussetzung eingebauten philosophischen Biologie mit
in naturphilosophische Debatten hineintrugen.
Dass die Philosophische Anthropologie notwendig eine Natur-
philosophie impliziere und damit auch ein Beitrag zur Naturphiloso-
phie sei, arbeitete sehr deutlich K. Löwith stellvertretend für den An-
satz heraus. Philosophische Anthropologie sei als philosophische »ein
einziger Versuch, den Menschen als solchen und im ganzen zu erfas-
sen, weil die Philosophie überhaupt auf das Ganze geht und keine
Fachwissenschaft ist.« 76 »›Im ganzen‹ kann aber zweierlei bedeuten«
– so präzisierte er –, »nämlich erstens den einen und ganzen Men-
schen im Unterschied zu den vielen besonderen Teilansichten – und
dann meint ›im ganzen‹ dasselbe wie ›als solcher‹ : der Mensch als
Mensch – und zweitens den ganzen Menschen im Ganzen dessen,
was überhaupt ist. Der Mensch als solcher und ganzer im ersten Sinn
ist nicht schon das Ganze des Seienden im zweiten Sinn.« Mit diesem
»zweiten Sinn« explizierte Löwith den naturphilosophischen Sinn
der Titel der Hauptwerke der Philosophischen Anthropologie: ›Stel-
lung des Menschen im Kosmos‹, Plessners Arbeitstitel ›Kosmologie
des Menschen‹, Gehlens ›Der Mensch – Seine Natur und seine Stel-
lung in der Welt‹. »Eine Anthropologie, die philosophisch sein will« –
so Löwith – »kann nicht umhin zu fragen, wie sich das rätselhafte

76 K. Löwith, Zur Frage der philosophischen Anthropologie, in: Neue Anthropologie,


hrsg. v. H.-G. Gadamer/P. Vogler, Bd. 7: Philosophische Anthropologie. Zweiter Teil,
München 1975, S. 330–342., S. 329 f.

Philosophische Anthropologie A 359


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Bruchstück Mensch als solcher und im ganzen zum Ganzen dessen,


was ist, verhält. […] Der Mensch muß über sich selbst hinaus fragen,
um sich im Verhältnis zum Ganzen in seiner wahren Proportion zu
erkennen. Das Ganze des Seienden nennen wir aber gemeinhin Welt-
all oder Welt. Erst mit dieser umfassenden Frage nach dem Verhält-
nis von Mensch und Welt wird die Anthropologie philosophisch.«
Damit hob er den Denkansatz kritisch ab von der »Voraussetzung
der Ontologie des Bewußtseins, von Descartes bis Hegel und darüber
hinaus bis zur Existenzphilosophie, daß das seiner selbst bewußte
und sich zu sich selbst verhaltende Sein auch für das Verstehen des
Unbewußten und des bloß lebendigen Seins das maßgebliche sei«.
Das sei nur die »halbe Wahrheit«. Im Gegenzug brachte er das not-
wendig zur Naturphilosophie führende Argument der Philosophi-
schen Anthropologie: »Der Umstand, dass das Bewußtsein maßgeb-
lich ist für das Verständnis des Unbewußten [und des lebendigen
Seins], besagt nicht, dass es auch maßgeblich ist für das, was das
Lebendige selber ist.« 77 Für Löwith unterscheidet sich demzufolge
eine ›anthropologische Philosophie‹, in der »der Mensch der Aus-
gangs- und Bezugspunkt für das Wissen von allem Seienden ist«
(womit die Philosophie – wie bei Kant – notwendig auf ihn zurück-
zuführen und auf ihn bezogen ist), von der »philosophischen An-
thropologie« im spezifischen Sinn des Ansatzes: »Das Weltverhältnis
ist nicht auf ein einseitiges Verhalten des Menschen zur Welt re-
duzierbar, denn das würde voraussetzen, dass der Mensch für es
maßgebend ist und nicht auch die Welt.« 78 Mit dieser Löwith-Argu-
mentation wird klar, warum die Philosophische Anthropologie syste-
matisch – im Hinblick auf eine Philosophie des Menschen – eine
Naturphilosophie (des Kosmos, der Welt) und eine philosophische
Biologie (des lebendigen Seins) ausarbeiten muss und warum durch
sie und in ihrem Umfeld eben deshalb auch einschlägige Beiträge zur
Naturphilosophie, zur Philosophie des Leben, zur Philosophie der
Pflanze 79 und zur Philosophie des Tieres entstanden. Es ist zu er-

77 K. Löwith, Zur Frage der philosophischen Anthropologie, a. a. O., S. 340 f.


78 Ebd., S. 330.
79 Vgl. zu diesem Thema die Darstellung bei H.-W. Ingensiep, Die Pflanzenseele in der

neueren philosophischen Anthropologie, in: Ders., Geschichte der Pflanzenseele. Phi-


losophische und biologische Entwürfe von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart
2001, S. 506–534. Zum naturphilosophischen Umfeld der Philosophischen Anthropolo-
gie gehören auch die phänomenologisch-ontologischen Arbeiten der Husserl-Schülerin
H. Conrad-Martius, wie Plessner selbst bemerkt hat: Die ›Seele‹ der Pflanze. Biologi-

360 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer

https://doi.org/10.5771/9783495999899
Driften (1961–1969)

innern, dass wie bereits bei Scheler v. a. in Plessners ›Stufen des Or-
ganischen und der Mensch‹ der thematische Schwerpunkt des gesam-
ten Buches auf einer Philosophie des Lebens, der Pflanze und des
Tieres – eben dem »Kosmos der lebendigen Form« – liegt, ehe es sich
im abschließenden VII. Kapitel überhaupt dem Menschen zuwendet.
H. André gab eine Monographie zur Pflanze, Buytendijk eine zum
Tier. 80 Gerade weil die Philosophische Anthropologie nicht anthropo-
zentrisch ansetzt, gerade weil sie die Wesensdifferenz nicht durch
Abscheidung vom Organischen, sondern innerhalb der Lebenssphäre
von Pflanze und Tier zu gewinnen sucht, wird bereits der Pflanze und
v. a. dem Tier viel an eigenen Qualitäten eingeräumt.

Für eine Wirkungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie in


der Naturphilosophie und philosophischen Biologie hing allerdings
in dieser Hinsicht sehr viel an der überragenden Präsenz von Adolf
Portmann, der seine Biologie der spezifischen »Erscheinung der le-
bendigen Gestalten« gleichzeitig innerhalb der naturwissenschaftli-
chen Fachdiskussion81 , der Philosophie 82 und der gebildeten Öffent-
lichkeit 83 vertrat. Zugespitzt könnte man sagen, dass er ›Neue Wege
der Biologie‹ 84 – so sein Hauptwerk 1960 – zeigte, indem er Plessners
und Buytendijks Theorie des Lebens am zoologischen Phänomen
durchführte. Portmann schöpfte die kritisch-phänomenologische
Grenztheorie des Organischen aus, indem er den irreduziblen Er-
scheinungscharakter des Organischen an seiner Grenzfläche poin-
tierte und damit Plessners eigenem Denkmotiv im biologischen Feld
zur Wirkung verhalf. Gegen den funktionalistischen Ansatz in der

sche-ontologische Betrachtungen, Breslau 1934; dies., Bios und Psyche. Zwei Vortrags-
folgen, Hamburg 1949; dies., Der Selbstaufbau der Natur. Entelechien und Energien,
Hamburg 1944, 2. Aufl. 1961.
80 F. J. J. Buytendijk, Wege zum Verständnis der Tiere, Zürich/Leipzig 1938.

81 A. Portmann, Das Problem des Lebendigen, in: Handbuch der allgemeinen Patho-

logie, Bd. I, Berlin/Heidelberg/New York 1969, S. 187–204, wiederabgedr. in: Ders.,


Entläßt die Natur den Menschen? Gesammelte Aufsätze zur Biologie und Anthropo-
logie, München 1970, S. 88–119. – Ders., Zoologie aus vier Jahrzehnten. Gesammelte
Abhandlungen, München 1967.
82 A. Portmann, Zur Philosophie des Lebendigen, in: F. Heinemann (Hrsg.), Die Phi-

losophie im XX. Jahrhundert, Stuttgart 1959, S. 410–440.


83 Exemplarisch dafür Portmanns zentrale Stellung innerhalb der Eranos-Tagungen seit

1948 als Wirkung eines Biologen in die Kulturwissenschaften. Seine biologischen Bei-
träge 1956–1963: A. Portmann, Aufbruch der Lebensforschung, Zürich 1965.
84 A. Portmann, Neue Wege der Biologie, München 1960, 3. Aufl. 1965.

Philosophische Anthropologie A 361


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Biologie, der die Erscheinungscharakteristika – die tierischen Haut-


muster, die Federnzeichnungen, aber auch die Ausdrucksartikulation
im akustischen Feld – als funktionale Zweckmäßigkeiten der Selbst-
erhaltung und der Arterhaltung identifiziert, hebt Portmann auf den
Eigenwert der Erscheinung ab. Zunächst fällt der phänomenale Un-
terschied zwischen »eigentlicher« und »uneigentlicher« Erschei-
nung, zwischen äußerer Gestalt und innerem Apparat des Organis-
mus, auf. Die Organe im Organismus ›erscheinen‹ im Lichte nur bei
Verletzungen oder Eingriffen der zufälligen Beobachtung und wir-
ken dann – als ›Erscheinung‹ – ungeordnet, während die äußere Ge-
stalt des Organismus an seiner Grenzfläche mit ihrer Symmetrie und
Wohlgeordnetheit von sich aus im Lichtfeld, für ein Gesehenwerden
auftaucht. Über diesen Erscheinungsüberschuss des Äußeren über
das Innere hinaus fällt am Organischen der Überschuss »unadressier-
ter« Erscheinungen über »adressierte« Erscheinungen auf: Gibt es
Farbmuster und Gesänge, die um der Partnerfindung und Feindmei-
dung willen funktionieren, so gibt es eben auch solche, in denen die
Lebewesen unabhängig davon, ohne »Adressierung«, erscheinen: die
Farbmuster von Fischen in dunkler Tiefsee oder der nuancierte Vo-
gelgesang der Grasmücke nach der Balzzeit – auch wenn keiner ihn
hört. Portmann schlägt deshalb vor, innerhalb der Lebensforschung
systematisch neben dem Drang zur »Selbsterhaltung« und dem
Drang zur »Arterhaltung« zusätzlich auch mit einem »Drang zur
Selbstdarstellung« des Lebendigen zu operieren, der sich zwar mit
den beiden anderen Lebensmerkmalen verbindet, aber nicht auf sie
rückführbar ist. Die Grenzfläche des Organischen dient nicht nur der
Grenzregulierung der Selbsterhaltung, sondern sie ist konstitutionell
auch zum Erscheinen da, sie soll gesehen und vernommen werden,
und sie ist Ausdruck des Dranges, zu erscheinen, sich in die Welt der
Erscheinungen einzufügen. Hannah Arendt hat darauf insistiert, dass
Portmanns Theorie des Lebens im Feld der theoretischen Biologie
eine »Umkehrung der metaphysischen Hierarchie« vollzieht, und da-
raus Konsequenzen bis in ihre Sozial- und Wissensphilosophie gezo-
gen: Statt der »alten metaphysischen Dichotomie von (wahrem) Sein
und (bloßer) Erscheinung, zusammen mit dem alten Vorurteil des
Vorrangs des Seins vor der Erscheinung« wird hier eine scheinbare
Nebensache: die »Erscheinung« zur Hauptsache: der »Wert der Ober-
fläche«: »Könnte es nicht so sein, daß nicht die Erscheinungen für
den Lebensprozeß da sind, sondern vielmehr dieser für die Erschei-

362 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

nungen? Wir leben ja in einer erscheinenden Welt«. 85 Und sie fährt


fort: »Aus Portmanns Befunden folgt die Falschheit unserer üblichen
Urteilsmaßstäbe […], nach denen das Wesentliche unter der Ober-
flächliche ist und diese etwas ›Oberflächliches‹ ist; es folgt die Hinfäl-
ligkeit der verbreiteten Überzeugung, unser Inneres, unser ›Innenle-
ben‹, sei maßgeblicher dafür, was wir ›sind‹, als das äußerlich
Erscheinende.« 86
Innerhalb der Philosophie der Natur kam es in den 60er und 70er
Jahren zu einer Aufarbeitung der Kategorien und Theoreme der Phi-
losophischen Anthropologie. Dieser Rückgriff – auf Portmann und
Plessner, Buytendijk, aber über sie hinaus auf große Teile des natur-
und biophilosophisch relevanten Textkorpus – erfolgte im Versuch,
zwischen der darwinistischen Evolutionstheorie einerseits, der physi-
kalischen Beschreibung der Natur in Form von biochemischen und
kybernetischen Modellen andererseits, unter Vermeidung des Idealis-
mus mit seinen teleologischen oder holistischen Motiven philoso-
phisch einen nicht-spekulativen Zugang zur Natur zu gewinnen.
Auch Hans Jonas, dem neben Löwith zweiten Heidegger-Schüler, der
in einer philosophischen Biologie und Naturphilosophie zu Denkfigu-
ren der Philosophischen Anthropologie überging, kam hier ins Spiel.
Diese Einführung der Philosophischen Anthropologie in die Na-
turphilosophie und Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften
war v. a. eine Initiative der amerikanischen Philosophin Marjorie
Grene, die seit 1965 in Kalifornien lehrte. Grene, die nach dem Krieg
mit mehreren Studien zur deutschen (sie hatte Anfang der 30er Jahre
bei Heidegger und Jaspers gehört) und französischen Existenzphi-
losophie (Sartre) zu deren Verbreitung beigetragen hatte, eröffnete
sich, vorbereitet durch intensive Aristoteles-Studien, seit Beginn der
60er Jahre – inspiriert durch Erwin Straus, Portmann, v. a. durch die
Systematik von Plessners Stufen-Buch – mit dieser Art »philosophi-
scher Biologie« eine Denkrichtung, um von ihr aus hinfort syste-
matisch innerhalb amerikanischer Debatten um die naturwissen-
schaftliche, speziell die evolutionistische Auffassung der Natur zu
argumentieren. Sie versammelte 1965 zunächst unter dem Titel
›Approaches to a philosophical biology‹ 87 einige Schlüsselfiguren:

85 H. Arendt, Vom Leben des Geistes, Bd. I, Das Denken (1971), München/Zürich 1977,
S. 37.
86 Ebd., S. 40.

87 M. Grene, Approaches to a philosophical biology, New York/London 1968.

Philosophische Anthropologie A 363


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

A. Portmann, H. Plessner, F. J. J. Buytendijk, E. Straus, K. Goldstein,


deren Werk, das je um eine organismuszentrierte Biologie im Hin-
blick auf den Menschen kreiste, sie einzeln vorstellte. Diese Denkart
einer – nicht-reduktionistischen und nicht-teleologischen – verste-
henden Biologie setzte sie dann in ihren eigenen Studien ›Understan-
ding of nature‹ 88 systematisch ein, um innerhalb der philosophischen
Biologie Beschreibungsweisen ohne mechanistischen Naturalismus
und ohne Idealismus vorzuschlagen und damit innerhalb einer Theo-
rie der Wissenschaften überhaupt ein Verfahren zu eröffnen, das von
Naturphänomenen aus adäquat zu psychischen und sozial-kulturel-
len Phänomenen überleiten konnte. Vor allem in Auslegung von
Plessners ›Stufen des Organischen‹ – dessen »Positionalitäts«-Lehre
des Organischen durch sie – neben Portmann – die erste adäquate
Rezeption erfuhr 89 – schlug sie vor, die kategoriale Aufmerksamkeit
naturphilosophisch statt auf die theoretischen Kategorien der Wirk-
ursache oder des Endzwecks auf die der Bedeutsamkeit und die der
Form als das zu Verstehende zu richten. Das Interesse richtete sich
somit auf die Genese der Form- und Strukturbildung auf allen Stufen
der Komplexität in der Naturentfaltung, einen Prozess nicht-teleo-
logischer Selbstentfaltung.
Paradigmatisch versuchte sie die Leistungsfähigkeit einer sol-
chen naturphilosophisch angelegten »philosophical anthropology«
zu zeigen, indem sie das von K. Popper und J. Eccles Ende der 60er
Jahre für die Stellung des menschlichen Gehirnwesens in der Natur
entwickelte »Drei-Welten-Konzept« mit Plessners Modell »exzentri-
scher Positionalität« samt »Außenwelt«, »Innenwelt« und »Mitwelt«
konfrontierte. 90 Popper hatte eine »Welt 1« der physischen Gegen-
stände und Zustände, einschließlich des Gehirns und der materiellen
Artefakte unterschieden von einer »Welt 2« der Bewusstseinszustän-
de (Wahrnehmungen, Gedanken, Träume etc.), um schließlich davon
abzuheben eine »Welt 3«, die das Wissen im objektiven Sinn enthielt

88 M. Grene, The understanding of nature. Essays in the Philosophy of Biology, Dord-


recht/Boston 1974.
89 M. Grene, Positionality in the Philosophy of Helmuth Plessner, in: The Review of

Metaphysics, Vol. XX (1966), No. 2, S. 250–277. – M. Grene besorgte auch die ame-
rikanische Ausgabe von Plessners ›Lachen und Weinen‹ : H. Plessner, Laughing and
Crying. A Study of the Limits of Human Behavior, transl. by M. Grene with J. Chur-
chill, Northwestern University Press 1970.
90 M. Grene, People and other animals (1972), in: Dies., The understanding of nature,

a. a. O., S. 346–360.

364 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

(kulturelles Erbe, geistige Leistungen, wissenschaftliche Probleme


etc.). Gegen den Zug dieses Konzepts, das menschliche Lebewesen
auf diese drei Welten aufzuteilen, expliziert Grene Plessners Figur
der Verschränkung der Welten: »what I want to say […] is that al-
though, as Plessner puts it, every human person has at one und the
same time an inner world, an outer world and a social world; the inner
and the outer worlds are dependent in their human character on the
structure of the social world.« Anders als ein Tier (das als physische
Außen- und als Innenwelt lebendig ist) »a human person not only is a
body, that is, a physical system, and has a body, that is, a living nexus
of tissues, organs, organs systems by which he lives. He also learns, as
he assumes humanity, to take a position with respect to this bodily
being and to his biological and physical environment. This is, what
Plessner calls the eccentric position of man. […] he can stand apart, to
one side, ›eccentrically‹, from his biological and physical being and
consider himself in relation to them. How can he do this? Not by
possessing some new entity called soul or mind; but simply through
the achievement of personhood as the embodiment of culture. The
achievement of the eccentric position of man, of each man, is depen-
dent on the artifacts of culture through participation in which and in
expression of which he achieves that position.« 91 Und sie resümiert:
»Or to put it still another way, a developed human being is at one and
the same time a personalisation of nature and an embodiment of
culture.« 92 Grene »suggests a direction for a ›philosophical anthro-
pology‹, not so much a philosophy of mind as a philosophy of man
(or man-in-nature) which would permit new and more fruitful at-
tacks on some traditional philosophical questions. The theory of evo-
lution would form an essential ingredient of such an anthropology,
though not, I believe, its comprehensive framework.« 93
Sie hat diese Position nicht nur gegen die amerikanische phi-
losophische Hermeneutik verteidigt 94 . Sie war es auch, die Mitte der
60er Jahre den später mit einer über die Generationen-Anthropo-

91 Ebd., p. 356 f.
92 Ebd., p. 354.
93 Ebd., p. VIII.

94 Vgl. ihre Antwort auf R. Rortys Beitrag zu ihrer Festschrift (»Rorty says I want to

found philosophy on biology«) mit Plessner und Merleau-Ponty: M. Grene, In and On


Friendship, in: A. Donagan/A. N. Perovich/M. V. Wedin (ed.), Human nature and nat-
ural knowledge. Essays Presented to Marjorie Grene on the Occasion of Her Seventy-
Fifth Birthday, Dordrecht/Boston 1986, S. 358.

Philosophische Anthropologie A 365


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

logie fundierten Verantwortungsethik berühmt werdenden Philoso-


phen Hans Jonas in einer Besprechung seines dieser Ethik voraus-
gehenden Werkes ›The phenomenon of life. Towards a philosophical
biology‹ (1966) 95 und der darin enthaltenen großen Studien über
›Nobility of Sight‹ und ›Image-Making and the Freedom of Man‹
in die Philosophische Anthropologie hereinholte. Nicht ohne zu fra-
gen, »why Professor Jonas fails to mention […] the others who are
engaged with him, in a strikingly convergent way, on a single task
of conceptual reform«, rückte sie seine Argumente in den Kontext
von Schelers und Plessners Ideen der 20er Jahre. Auffällig sei, dass
der Heidegger-Schüler in der amerikanischen Emigration in seinen
ästhesiologischen und bildanthropologischen Arbeiten keinerlei Be-
zug zu den Schlüsselfiguren der deutschen Philosophischen Anthro-
pologie herstellt: »But Professor Jonas must know. For example, he
quotes from an essay by Erwin Straus, but makes no mention of
Straus’s book ›Vom Sinn der Sinne‹, which in 1934 undertook a
reform in philosophical biology that is, in some ways at least, strik-
ingly congruent with his own. […] His essay on the ›Animal Soul‹
puts rather slightly what Plessner argued much more solidly about
plants and animals in ›Die Stufen des Organischen und der Mensch‹
in 1928. And so on.« 96 Mit diesen Hinweisen wird auch deutlich,
inwiefern Jonas’ ›Versuch einer Ethik für die technologische Zivili-
sation‹ 97 von 1979 zur Wirkungsgeschichte der Philosophischen An-
thropologie gehört. Angesichts der technologisch induzierten mas-
siven Folgen für Natur und Leben (Atomenergie, ökologische
Folgen der Technologie, Gentechnologie) suchte Jonas in den USA
nach einer naturphilosophischen Begründung einer neuen Ethik, die
diesem Stand des Verhältnisses zwischen ›Mensch und Erde‹ mit
seinen Fernfolgen standhalten könnte. Über seine »philosophische
Biologie«, die bereits das Phänomen des »Lebens« auf einen eigenen
Spielraum, das Organische auf »Freiheit« hin beobachtet, rekons-
truiert er eine Naturphilosophie, um eine mögliche »Verantwor-

95 H. Jonas, The Phenomenon of Life. Toward a Philosophical Biology, New York 1966.
– Auf deutsch: Ders., Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Bio-
logie, Göttingen 1973; erneute Auflage unter dem neuen Titel: Das Prinzip Leben. An-
sätze zu einer philosophischen Biologie, Frankfurt a. M./Leipzig 1994.
96 M. Grene, Besprechung: H. Jonas, The Phenomenon of Life. Toward a philosophical

biology, in: Commentary, Vol. 42 (1966), S. 94–95.


97 H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische

Zivilisation, Frankfurt a. M. 1979.

366 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

tung« des menschlichen Lebens für die Weiterexistenz von Leben


einschließlich des menschlichen Lebens überhaupt freizulegen. Die
naturphilosophische Reflexion auf die Stellung des menschlichen Le-
bewesens im Kosmos lässt dieses sich selbst als eine Zweckmäßigkeit
auffassen, nämlich dass das Sein das menschliche Lebewesen und sein
Sollen herausstellt und brauchen könnte. Die Stellung des Menschen
in der Natur enthält damit den Auftrag, für die Erhaltung von Zweck-
mäßigkeit, von Leben im Kosmos zu sorgen. »Handle so, daß die
Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz
echten Lebens auf Erden.« 98 Diese naturphilosophische Reflexion
auf die Sonderstellung des Menschen führt zu einer Umstellung der
Ethik von ihrem alleinigen Bezug auf die Gleichzeitigkeit der Mitwelt
zur Fernethik für die nichtmenschliche Natur und für kommende
Generationen; das Paradigma ist das asymmetrische Eltern-Kind-
Verhältnis, das in Generationen sich in die Zukunft generierende Le-
ben. »Es überrascht«, so der Rothackerschüler Pöggeler, »daß Jonas
der Sache nach (und vor allem in seinen Aufsätzen bis in die einzel-
nen Formulierungen hinein) Gedankengänge Schelers wiederholt,
ohne sich mit Scheler und der Bergson-Rezeption auseinanderzuset-
zen.« 99 Hans Jonas war als ehemaligem Heideggerschüler (ebenso wie
Hannah Arendt, Günter Anders und Karl Löwith) die Paradigmen-
konkurrenz von Existenzphilosophie und Philosophischer Anthro-
pologie Ende der 20er Jahre zutiefst vertraut, und er hat vermutlich
– durch die Exilkonstellation aus den kontinentaleuropäischen Kon-
texten und Debatten gelöst – unter neuen Herausforderungen der
50er und 60er Jahre bereits in der Reformulierung einer »philosophi-
schen Biologie« und schließlich einer naturphilosophisch operieren-
den Ethik des »Prinzips Verantwortung« Grundfiguren der für ihn
versunkenen Philosophischen Anthropologie aktiviert.

Möglicherweise lassen sich philosophisch-anthropologische Denkfi-


guren noch weiter in der Natur- und Lebensphilosophie der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts verfolgen. Inwieweit das Organismus-
konzept der Philosophischen Anthropologie wirkungsgeschichtlich
mit »the early days of autopoiesis« 100 verbunden ist, ist schwer ein-
98 Ebd., S. 111.
99 O. Pöggeler, Ausgleich und anderer Anfang. Scheler und Heidegger, in: Phänomeno-
logische Forschungen, Bd. 28/29 (1994), S. 166–203, S. 200.
100 F. J. Varela, The early days of autopoiesis. Heinz und Chile, in: Systems Research,

Vol. 13 (1996), S. 407–416.

Philosophische Anthropologie A 367


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

zuschätzen. Immerhin standen die chilenischen Neurobiologen H. R.


Maturana und F. J. Varela in den 60er Jahren auch unter dem Ein-
druck der europäischen phänomenologischen Biologie, »a long tradi-
tion which seeks to express the properties of biological phenomena
beyond their material particularities«, 101 wie Varela später erinnert.
Plessner hatte im Vorwort zur 2. Auflage seiner ›Stufen des Organi-
schen‹, die für die lang geplante Neubearbeitung einsprang, 1965
noch einmal darauf abgehoben, dass es in den aktuellen Kontrover-
sen zwischen Mechanismus und Vitalismus immer darum gehen
müsse, »die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für das
Auftreten der Qualität ›lebendig‹ an chemisch zu definierenden Ver-
bindungen […] zu formulieren«. 102 Auch sein Aufsatz von 1964 ›Ein
Newton des Grashalms‹ kreiste erneute um das »Problem einer
Autonomie belebter Materie«. 103 Seinen Lösungsvorschlag einer phi-
losophischen Biologie von 1928, als »Minimalbedingung« alles Or-
ganischen, welchen Organisationsgrades auch immer, »das Verhält-
nis des begrenzten Körpers zu seiner Grenze« 104 anzusetzen,
erkannte er in aktuellen Formeln der theoretischen Biologie wieder,
wie z. B. in einer Äußerung von I. B. S. Haldane: »›The critical event
which may best be called the origin of life was the enclosure of sever-
al different self-reproducing polymers within a semipermeable mem-
brane‹.« Plessner sah seine Grenztheorie des Organischen bestätigt:
Die »Membranbildung«, deren Materialien aus der Umgebung syn-
thetisiert oder akkumuliert sein müssen, »markiert das Lebe›wesen‹
als einzelnes und wirkt doppelsinnig: einschließend-abschirmend
gegen die Umgebung und aufschließend-vermittelnd zu ihr.« Und
Plessner weiter: »Wenn ein Körper mit seinem Medium in einem
durch die Brems- und Schleusenleistung seiner vermittelnden Grenz-
schicht distanzierten Kontakt steht, ist die Chance zur Bewahrung
eines Eigenbereichs gewachsen.« 105 Das entspricht der Theorie der
»Autopoiesis« als Organisation lebender Systeme, wie sie Maturana
und Varela entwickelten: »Toward the end of 1970 we had come to
the conclusion that a simple case of autopoiesis would require two
reactions: one of polymerization of membrane elements, the other,

101 Ebd., S. 410.


102 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 350 f.
103 H. Plessner, Ein Newton des Grashalms, GS VIII, S. 247.
104 H. Plessner, Nachtrag (1965), in: Ders., Stufen des Organischen, a. a. O., S. 356.
105 Ebd., S. 358.

368 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

the ›metabolic‹ generation of monomers«. 106 Etwas später hält Matu-


rana fest: »Das gegenwärtige biochemische Wissen erlaubt es uns,
lebende Systeme als sich selbsterzeugende Systeme zu bezeichnen,
die ihre eigenen Grenzen bestimmen und aufbauen.« 107 Als »auto-
poietisch« ist das System insofern zu kennzeichnen, als es als Netz-
werk von rekursiven Prozessen der Produktion seiner eigenen Be-
standteile zu definieren ist, das sich grenzrealisierend im Raum
realisiert. Der Aktionsbereich der Autopoiesis erstreckt sich dabei
sowohl auf die Umgebung wie als auch auf das Innere des Systems,
erzeugt also eine Einpassung von Organismus und Umwelt. Kogniti-
onsbiologisch gelangen Maturana und Varela über Stufungen von
selbstreferentiell geschlossenen Nervensystemen zur Kategorie der
rekursiven »Beobachtung« und »Beschreibung« lebender Systeme,
die in etwa der der »exzentrischen Positionalität« entspricht. Auch
ohne direkten Einfluss zeigt sich innerhalb der Biologie inhaltlich
die Relevanz der Philosophischen Anthropologie, die gegen den phy-
sikalistischen oder chemischen Reduktionismus sogenannter mecha-
nistischer Ansätze den neovitalistischen Einwand ernst nahm (ohne
dem neovitalistischen Lösungsvorschlag eines Driesch zu folgen),
dass »vitale Prozesse […] als Gestalten erscheinen und insoweit,
nämlich erscheinungsmäßig, eine besondere Qualität besitzen, die
sich darstellt« 108 . »Die Theorie der autopoietischen Systeme, die der-
zeit Konjunktur […] hat, kennt« – so Plessners späterer Assistent
Ch. v. Ferber im Rückblick Anfang der 1990er Jahre – »den Namen
Plessner nicht – paradoxer Weise, plante doch Plessner in der zweiten
Hälfte der 50er Jahre eine Weiterführung seiner philosophischen An-
thropologie unter dem Arbeitstitel ›Autopoiesis‹.« 109

Im deutschen und europäischen Raum wurde insgesamt die Lorenz-


sche Vergleichende Verhaltensforschung sowohl innerhalb der Tier-
wie der Humanbiologie das dominante Paradigma dieses Jahrzehnts.
Allerdings ist nun nicht zu übersehen, dass die Lorenz-Schule – der

106 F. J. Varela, The early days of autopoiesis, a. a. O., S. 414.


107 H. R. Maturana, Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit,
Braunschweig/Wiesbaden 1982, S. 280.
108 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 351.
109 Ch. v. Ferber, Ende der 1950er Jahre der engste Mitarbeiter Plessners, kennzeichnet

diese Information als »persönliche Mitteilung« Plessners an ihn: Die Soziologie – ein
Werkzeug der Freiheit?, in: J. Friedrich./B. Westermann (Hrsg.), Unter offenem Hori-
zont. Anthropologie nach Helmuth Plessner, a. a. O., S. 332.

Philosophische Anthropologie A 369


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

es um die stammesgeschichtlichen Aktions- und Reaktionsnormen


ging, die der Mensch mit den höheren Tieren teilt, um die instinkti-
ven Grundlagen menschlicher Kultur, um Zivilisationspathologie
und gestörte Wirkungsgefüge in der Natur – durch Portmann, v. a.
aber auch durch Gehlens »Anthropo-biologie«, also durch die syste-
matisch philosophisch-anthropologische Durchdringung der Biolo-
gie, zu einer gewissen Vorsicht und Präzision ihrer Aussagen ver-
anlasst wurde, soweit es die menschliche Sphäre betraf. Portmanns
zoologisch ausgearbeitete Entdeckung der »extrauterinen Früh-
geburt« des Menschen wurde im Großen und Ganzen von der Hu-
manbiologie bestätigt und übernommen 110 , Portmanns Ideen inner-
halb der Biologie und Anthropologie wurden auch publizistisch
wirksam seit den 60er Jahren in Veröffentlichungen des Gießener
Biologen Joachim Illies vertreten. 111 Gehlen war, seit dem Erscheinen
seines Buches 1940, über das sie, die vergleichenden Ethologen – Lo-
renz, Leyhausen, O. Koehler – noch in Königsberg Seminare abhiel-
ten, der einzige, den sie von der Philosophischen Anthropologie als
Konkurrenz innerhalb des human-ethologischen Feldes ernst nah-
men. Das wird an Aussagen von Lorenz 112 , von Leyhausen in einem
Beitrag zur Festschrift für Gehlen 113 , aber auch von I. Eibl-Eibesfeldt
bis in die Wortwahl deutlich: »Biologisches Erbe bestimmt mensch-
liches Verhalten, wie wir zeigen werden, in genau feststellbaren
Bereichen. Aber ebenso gilt, dass nur der Mensch über eine Wort-
sprache verfügt, mit der er schöpferisch immer neue Aussagen for-
mulieren und kulturelles Erbe tradieren kann, und das man nur ihn

110 A. Portmann, Die Stellung des Menschen in der Natur, in: L. v. Bertalanffy (Hrsg.),

Handbuch der Biologie, Bd. IX, Konstanz 1965, S. 437–460, wiederabgedr. in: Ders.,
Zoologie aus vier Jahrzehnten. Gesammelte Abhandlungen, München 1967, S. 312–
336. – H. H. Hemminger/M. Morath, Der Mensch – eine physiologische Frühgeburt,
in: H. Wendt (Hrsg.), Die Sonderstellung des Menschen. Kindlers Enzyklopädie Der
Mensch, Bd. IV, Zürich 1981, S. 117–129.
111 J. Illies war Professor für Biologie in Gießen, außerdem Leiter des Max-Planck-In-

stituts für Limnologie (Biologie der Flußgewässer), und arbeitete zur Zoologie, Anthro-
pologie und Ökologie. – J. Illies, Zoologie des Menschen. Entwurf einer Anthropologie,
München 1971.
112 K. Lorenz, Über tierisches und menschliches Verhalten. Aus dem Werdegang der

Verhaltenslehre. Gesammelte Abhandlungen, Bd. I u. II, München 1965; Sammlung


aller grundlegenden Arbeiten von Lorenz. – K. Lorenz/P. Leyhausen, Antriebe tieri-
schen und menschlichen Verhaltens, München 1968.
113 P. Leyhausen, Vom Ursprung des ›handelnden Wesens‹, in: E. Forsthoff/R. Hörstel

(Hrsg.), Standorte im Zeitstrom. Festschrift für Arnold Gehlen zum 70. Geburtstag am
29. Januar 1974, Frankfurt a. M. 1974, S. 197–226.

370 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

als Kulturwesen bezeichnen kann, selbst wenn einige Primaten be-


scheidene Ansätze dazu zeigen. Kunst, Vernunft und verantwortliche
Moral sowie Weltoffenheit und Universalität sind weitere wesens-
bestimmende Merkmale des Menschen, an dessen Sonderstellung
kein vernünftiger Biologe zweifelt.« 114

Und noch eine aufschlussreiche Spur der explizit mit einer philoso-
phischen Biologie arbeitenden Philosophischen Anthropologie lässt
sich verfolgen. 1973 legt der französische Philosoph Edgar Morin
ein Buch zu ›La nature humaine‹ vor, in dem er die Forschungen
von Lorenz und v. a. Eibl-Eibesfeldt, die Primatenforschung von Go-
dall und die Neotenie-These von Bolk mit den neueren Studien zur
»Selbstorganisation« (von Foerster) und »Autopoetic Systems« von
Maturana sowie die Soziologien der französischen lebensphilosophi-
schen Tradition, v. a. von G. Bataille und R. Callois, aber auch Lacan,
zusammenzieht, um aus einer konzeptionellen Rekonstruktion des
biologischen Wissens von Tieren und Menschen einen komplexen
Begriff des Menschen zu gewinnen. Dieser Begriff soll seine sowohl
rationalen wie auch seine ekstatischen Seiten erreichen. A. Portmann
stellte im Vorwort zur deutschen Ausgabe (›Das Rätsel des Huma-
nen‹) die theoriegeschichtlichen Bezüge her: »Im Jahre 1928 hat Hel-
muth Plessner in einem bedeutenden Werk das Wesen des Menschen
als ›natürliche Künstlichkeit‹ bezeichnet und damit im Grunde den
Gegensatz begraben zwischen dem Versuch, den Menschen um jeden
Preis als Tier zu erfassen oder ihn ebenso gewaltsam der Tierheit zu
isolieren. […] 1973 ist in Frankreich das Werk erschienen, […], in
dem Edgar Morin die menschliche Situation als ›la nature culturelle‹
kennzeichnet, und damit die Formel Plessners, unabhängig von ihm,
in die Mitte einer offenen Theorie vom Menschen stellt.« 115 Port-
mann weist ausdrücklich auf das Kapitel »homo sapiens/demens«
hin, das er für das bedeutendste des Buches hält. Morin kreist dort
um die Komplementarität der Monopole der Vernunft und des
Wahnsinns, von Rationalität und ›Exzentrik‹, thematisiert die auf
Grund der »Rückbildung der genetischen Programme«, dem Wech-

114 I. Eibl-Eibesfeldt, Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Human-

ethologie, München/Zürich 1984, S. 18. – Zur Auseinandersetzung mit Gehlen seitens


der Lorenz-Schule auch N. Bischof, Das Rätsel Ödipus. Die biologischen Wurzeln des
Urkonflikts von Intimität und Autonomie, München/Zürich 1985.
115 E. Morin, Das Rätsel des Humanen. Grundfragen einer neuen Anthropologie. Vor-

wort zur deutschen Ausgabe von Adolf Portmann, München/Zürich 1974.

Philosophische Anthropologie A 371


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

selverhältnis von wachsender Verjugendlichung und wachsender Ze-


rebralisierung für homo sapiens »charakteristische Unordnung«: das
Geschöpf, das denkend lernt und das Geschöpf von »starker und un-
beständiger Affektivität«, das »Geschöpf, das lächelt, lacht und
weint.« In Übereinstimmung mit der weltweit vergleichenden eth-
nologisch-ethologischen Forschung von Eibl-Eibesfeldt behauptet
Morin, dass »Lächeln, Lachen und Weinen uns angeboren« sind, »ein
konstitutiver Wesenszug der menschlichen Natur, den die verschie-
denen Kulturen lediglich mit ihrer jeweiligen Semiotik ausschmü-
cken, ohne seine ursprünglichen anthropologischen Bedeutungen je-
mals aufzuheben.« Und um seine Pointe zu erreichen, fährt Morin
fort: »Lachen und Weinen sind heftige, von Zuckungen und Krämp-
fen begleitete Gemütszustände, die mit Erschütterungen und Krisen
verbunden sind, die darüber hinaus zusammen auftreten und inei-
nander übergehen können. […] Kein Kind einer anderen lebenden
Art hat je mit vergleichbarer Intensität zum Ausdruck gebracht, was
das Kind von sapiens äußert: eine unerhörte Schwäche und Hilflosig-
keit in seinem Geschrei und eine unglaubliche Zufriedenheit im
glücklichen Strampeln mit allen Gliedmaßen. Unversehens wechselt
es von der schreienden Verzweiflung zum glückseligen Lachen.«
Trotz aller Disziplinierung bleibt auch beim Erwachsenen die Heftig-
keit des Lachens und Weinens erhalten, »und man muß diese Eigen-
tümlichkeit in Beziehung setzen zu andern psychisch-affektiven,
ausbruchsartigen Erscheinungen, die in einer rationalistischen An-
thropologie des homo sapiens merkwürdigerweise vergessen werden:
seine Bereitschaft einerseits zur Lust, zum Rausch, zur Ekstase, an-
dererseits zum Zorn, zur Wut, zum Haß.« Und er fährt fort: »Man
darf die Lust, die sapiens nicht nur im Orgasmus, sondern in allen
Bereichen sucht, nicht auf den Zustand der Befriedigung, nicht auf
die Realisierung eines Verlangens, die Beseitigung einer Spannung
verkürzen. Er sucht – über das bloße Vergnügen hinaus – diese Lust
in Erregungszuständen, die sein gesamtes Wesen erfassen und sogar
die Grenze der Katalepsie und der Epilepsie erreichen.« Es werden in
archaischen und moderneren Gesellschaften durch Drogen, durch
den Tanz und das Ritual, durch das Profane und das Heilige »Zustän-
de der Trunkenheit, des Paroxysmus, der Ekstase angestrebt, in denen
sich zuweilen die extreme Unordnung des Spasmus und der Konvul-
sion mit der vollkommensten Ordnung eines vollständigen Einswer-
dens mit dem anderen, der Gemeinschaft, dem Weltall zu verbinden
sucht.« Und Morin schließt: »Es geht hier nicht darum, diese Phäno-

372 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

mene zu erklären, sondern ihre wesentliche Bedeutung zu erkennen,


die von der traditionellen Anthropologie übersehen wurde. Sehr sel-
ten ist – wie etwa bei Georges Bataille […] oder Roger Callois […] –
gesehen worden, daß das ›Verzehrende‹, der Taumel, der Exzeß in der
Wissenschaft vom Menschen eine zentrale Stellung beanspruchen
dürfen. […] Doch man kann sich keine Fundamentalanthropologie
vorstellen, die nicht dem Fest, dem Tanz, dem Lachen, den Konvul-
sionen, den Tränen, der Lust, dem Rausch, der Ekstase ihren Platz
einräumte.« 116

Mitte der 1960er Jahre erreichte die Philosophische Anthropologie


den Höhepunkt ihrer aus den 40er und 50er Jahren entfalteten Wir-
kungsgeschichte auch in der Psychologie, medizinischen Anthro-
pologie und Psychiatrie. Bezugsquelle blieb hier Scheler und seine
frühe Bedeutung für diese Gebiete 117, weil sich wichtige Einfluss-
figuren wie Buytendijk, Rothacker, v. Weizsäcker oder E. Straus
ungebrochen zu dieser Filiation bekannten. Schelers Auffassung
vom psycho-physisch neutralen Körperleib, der die zentrale Ver-
mittlungsschicht zwischen den vegetativ animalischen Funktionen
und dem nicht-objektivierbaren Personkern bilde, gestützt durch
die Anthropologie der weltoffenen Stellung dieses menschlichen Le-
bewesens, implizierte ein geschichtetes Korrelationsverhältnis von
Person und Welt. Modifiziert war dieser phänomenologisch-anthro-
pologische Gedankenkern durch Buytendijks und Plessners These
von der »Umweltintentionalität des Leibes«: In ästhesiologischen
und ethologischen Strukturen ist der Mensch als körperleibliche
Existenz vorreflexiv, anschaulich-bedeutungsvoll auf eine Umwelt
bezogen, auf welche er, die auf ihn einspielt. In diesem »Gestalt-
kreis« von Wahrnehmung und Bewegung, so eine dritte Modifika-
tion durch V. v. Weizsäcker, ist ihm sein Verhältnis zu den Dingen,
zu sich und zu den Anderen gegeben. Plessner hatte das pathische
Moment der »Weltoffenheit« geradezu als Spezifikum, als »katego-
rische« Möglichkeit der »exzentrischen Positionalität‹« bestimmt:
nicht nur ist das menschliche Lebewesen aktiv zur Welt hin geöff-
net, sondern in »der Maßlosigkeit leidenschaftlichen Ergriffen-

116Ebd., S. 129 f.
117D. Wyss/G. Huppmann, Die Bedeutung Max Schelers für die Medizinische Anthro-
pologie, in: P. Good (Hrsg.), Max Scheler im Gegenwartsgeschehen der Philosophie,
Bern/München 1975, S. 215–224.

Philosophische Anthropologie A 373


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

seins« 118 ist die Welt umgekehrt zugleich in dieses Lebewesen hin-
eingeöffnet. Plessner nannte das – z. B. in einem Aufsatz von 1968 –
präzise den »kategorischen Konjunktiv«, das für den Menschen
unbedingte, keinen Widerspruch duldende »Gepacktwerden von der
Imagination im verführerischen und verräterischen Modus des
›Könnte‹« – des Möglichkeitssinns. 119 Im Erleiden der »Phantasie«,
diesem Versetzungsorgan der exzentrischen Position, in dieser par-
tiellen »Entschränkung und Enthemmung der eigenen Person« lie-
gen ihre jeweiligen biographischen – mit ihren auch pathologischen
– Möglichkeiten: »Fortgerissen kommt sie von sich los; auf eine
Weise, die sie sich selbst von sich aus nicht verschaffen kann.« 120
Damit bestimmte Plessner das Phänomen der »Leidenschaft«, des
Begehrens bis hin zu den pathologischen Möglichkeiten des Wahns
und der Sucht als spezifisch menschliche Möglichkeiten. »Der Ver-
gegenständlichung des eigenen Körpers und der Umgebung«, die
mit der exzentrischen Positionalität gegeben sind, »entspricht – was
oft übersehen wird – eine Fähigkeit zum Entgegengesetzten, der
Verunsachlichung und der Ergriffenheit, die mit dem Aktiv-Charak-
ter der Objektivierung korrespondiert. Wie die erstgenannte Kapa-
zität des Menschen seiner exzentrischen Position vorbehalten ist, so
auch die zweite der Ergriffenheit, der Fähigkeit des Erleidens der
Passion, der Leidenschaft bis hin zum Selbstverlust.« 121 »Exzentri-
sche Positionalität« impliziert ein Verkehrungspotential: Perversität,
Süchte und Leidenschaften sind nur einem exzentrisch positionier-
ten Lebewesen möglich. Die Philosophische Anthropologie bot also
jenen Psychologen und Medizinern Rückhalt, die einen Raum zwi-
schen experimentell-empirischer Psychologie einerseits und ortho-
doxer Psychoanalyse andererseits offenhalten wollten, wobei sie sich
häufig mit der zeitgleich entstandenen existenzphilosophischen
Strömung verband, zu deren innenzentrierten Subjektivismus die
Philosophische Anthropologie durch ihre Rückbindung an die Fak-
tizität der naturalen Körperlichkeit ein gewisses objektives Gegen-
gewicht bildete. 122 Insofern ist es wirkungsgeschichtlich richtig, eine

118 H. Plessner, Über den Begriff der Leidenschaft (1950), GS VIII, S. 72.
119 H. Plessner, Der kategorische Konjunktiv. Ein Versuch über die Leidenschaft (1968),
GS VIII, S. 350.
120 H. Plessner, Über den Begriff der Leidenschaft, GS VIII, S. 72.

121 H. Plessner, Der kategorische Konjunktiv, GS VIII, S. 345.

122 P. Christian, Medizinische Anthropologie, in: Das Fischer-Lexikon: Medizin I,

Frankfurt a. M. 1959, S. 29–58.

374 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

»anthropologisch-existentialontologische Psychologie« in »ihren


Auswirkungen insbesondere auf die Psychiatrie und Psychothera-
pie« im Blick zu haben. 123
Die Impulse der Philosophischen Anthropologie in der Psycho-
logie wirken zunächst bei Autoren aus der Schweiz und den Nieder-
landen. Produktiv waren Schweizer Psychologen wie Hans Kunz,
Wilhelm Keller, Detlev von Uslar. Nicht unwichtig wurde dabei im
Verlauf der Jahre, dass einer der Pioniere der Philosophischen An-
thropologie, Plessner – schon durch die Exilzeit – mit den ›neutralen‹
Schweizern regelmäßige Verbindung hatte. Hans Kunz, Baseler Psy-
chologe und Philosoph, langjähriger Redakteur der Zeitschrift ›Psy-
che‹, hat sein Denkleben lang an der Vermittlung von Philosophi-
scher Anthropologie und Tiefenpsychologie gearbeitet, die die
»Erweiterung des Menschenbildes durch Freud« und die gleichzeiti-
ge Verengung im Bewusstsein halten sollte. In seinem Hauptwerk
›Der anthropologische Ursprung der Phantasie‹ 124 – angelehnt an
Schelers »Neinsagenkönner«, Plessners »exzentrische Positionali-
tät« und Heidegger – ließ er aus der nur das menschliche Lebewesen
konstituierenden Erfahrung des Nichtseins – der Dinge, aber auch
des absehbaren Verschwindens des eigenen Wollens –, aus der Ver-
lusterfahrung der bergenden Heimatlichkeit des Tieres die »Phanta-
sie« entspringen, in einem »Todesursprung des Geistes«, so dass sich
die leere Innenwelt zwischen geborstenem Funktionskreis von
Merk- und Wirkwelt in eine »Bildwelt« verwandelt, durch deren
künstliche Heimat dieses Lebewesen neue Weltbindungen aufbaut.
Freuds Psychoanalyse war nach Kunz eine der zentralen Bereiche-
rungen anthropologischen Wissens, insofern er in der Kategorie
»Unbewußtes« aufdeckt, dass die menschliche Existenz im Wesent-
lichen bereits immer schon »geschehen« ist. Andererseits bleibe als
systematisches Problem der Psychoanalyse, innerhalb der Natur des
triebhaften, unbewussten Leibkörpers des Menschen das reflexiv-
bewusste Ich, den Geist oder wie der dem Menschen reservierte
Zug zu nennen ist, als autonome Größe herzuleiten. 125 Wilhelm
Keller, Psychologe und Philosoph in Zürich, ebenfalls an der Grund-

123 D. Wyss, Die anthropologisch-existentialontologische Psychologie und ihrer Aus-

wirkungen insbesondere auf die Psychiatrie und Psychotherapie, in: H. Balmer (Hrsg.),
Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. I: Die europäische Tradition. Tendenzen – Schulen
– Entwicklungslinien, Zürich 1976, S. 461–509.
124 H. Kunz, Die anthropologische Bedeutung der Phantasie, 2 Bde. Basel 1946.

125 H. Kunz, Die Erweiterung des Menschenbildes in der Psychologie Sigmund Freuds,

Philosophische Anthropologie A 375


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

legung der Psychologie interessiert, gab eine Anthropologie des


Selbstwertstrebens und des Wollens 126 : Die Wirklichkeit des Wol-
lens, die sich aus der Interferenz der Antriebe mit der Selbstbestim-
mung des Ichs ergibt, gründet im gebundenen Selbstsein: »Freiheit
im Durchbruch« durch die Positionalität. Keller 127 war es übrigens
auch, der in den 60er Jahren den Einfall hatte, den 72jährigen nach
Zürich siedelnden Plessner zur Übernahme eines mehrjährigen phi-
losophischen Lehrauftrages zu überreden. 128 Erhebliche Wirkung er-
reichte die Philosophische Anthropologie in der niederländischen
Psychologie schließlich in den 60er Jahren über Buytendijk und sei-
ne ›Utrechter Schule‹ 129 . Buytendijk, von Scheler phänomenologisch
geschult, von der Zusammenarbeit mit Plessner geprägt, in langjäh-
rigen Kontakten mit den Medizinanthropologen V. von Weizsäcker
und V. E. v. Gebsattel, beeinflusste mit seiner – z. B. als ›Theorie der
menschlichen Haltung und Bewegung‹ (1956) entwickelten – an-
thropologischen Psychologie der umweltbezogenen Verhaltensfor-
schung, die um die Phänomene der »Situation« und »Begegnung«
kreiste, eine Vielzahl von Psychologen (z. B. Linschoten), Psychiater
(van den Berg) und Pädagogen (Langeveld). 1967 erschien seine
›Prolegomena einer anthropologischen Physiologie‹. Ziel war es, zu
klären, »inwieweit man tatsächlich aufweisen kann, dass das spezi-
fisch Menschliche ein konstituierender Faktor ist in den normalen
Funktionen von Organen und Organsystemen.« Wie schon in Pless-

in: H.-G. Gadamer/P. Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie, Bd. 6: Philosophische An-
thropologie I, Stuttgart 1972, S. 44–113.
126 W. Keller, Psychologie und Philosophie des Wollens, München 1954. – Ders., Selbst-

sein und Selbststreben im Lichte der philosophischen Anthropologie, in: F. Berger


(Hrsg.), Vom menschlichen Selbst, Stuttgart 1965, S. 86–106. – Ders., Philosophische
Anthropologie – Psychologie – Transzendenz, in: H.-G. Gadamer/P. Vogler (Hrsg.),
Neue Anthropologie, Bd. 6: Philosophische Anthropologie I, a. a. O., S. 3–43.
127 W. Keller, Auf dem Rückweg zum Bewußtsein, in: G. Dux/Th. Luckmann (Hrsg.),

Sachlichkeit. Festschrift zum achtzigsten Geburtstag von Helmuth Plessner, a. a. O.,


S. 23–41.
128 Der jüngere D. v. Uslar, der während dieser Zeit in Zürich Psychologie und philoso-

phische Grundlagen der Psychologie lehrte, entwickelte in den 60er Jahren eine Anthro-
pologie des Traumes und eine Theorie der »Wirklichkeit des Psychischen« aus den Kon-
stituenten »Leiblichkeit«, »Weltlichkeit«, »Zeitlichkeit« und »Begegnung«. D. v. Uslar,
Die Wirklichkeit des Psychischen, Pfullingen 1969. – Ders., Ontologische Voraussetzun-
gen der Psychologie, in: H.-G. Gadamer/P. Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie, Bd. 5:
Psychologische Anthropologie, Stuttgart 1973, S. 386–413.
129 Rencontre/Encounter/Begegnung. Contributions à une psychologie humaine dédi-

ées au F. J. J. Buytendijk, Utrecht/Antwerpen 1957.

376 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

ners ›Lachen und Weinen‹ und in Buytendijks eigenem Buch ›Über


den Schmerz‹ wird das spezifisch Menschliche nicht als Bewusstsein
verstanden, »sondern als die Manifestation einer Daseinsweise, die
während des ganzen Lebenslaufes […] durch eine körperlich fundier-
te […] Verbindung mit der Welt gekennzeichnet ist, in der gelebt
wird und in der primär durch den eigenen Körper der Zugang er-
schlossen wird.« 130 Buytendijk war es auch, der seit 1945 systema-
tisch die französische Phänomenologie der Wahrnehmung und des
Verhaltens, v. a. bei Merleau-Ponty, und die deutsche Philosophische
Anthropologie ins Verhältnis zueinander setzte. Davon zeugt die Ar-
beit von C. A. Peursen (1959), der unter dem Stichwort »Der Körper
als Leib« »Gehlen–Plessner–Sartre–Merleau-Ponty« 131 verglich, und
der Versuch von S. Strasser zum methodischen Ausgleich zwischen
›Phänomenologie und Erfahrungswissenschaft vom Menschen‹
(1964). 132 Ein bedeutsames Dokument der Wirkung der Philosophi-
schen Anthropologie im Grenzbereich von Psychologie und Medizin
ist schließlich auch das Gemeinschaftsunternehmen von Buytendijk
und den Weizsäcker-Schülern P. Christian und H. Plügge ›Über die
menschliche Bewegung als Einheit von Natur und Geist‹. 133 In drei-
facher Auseinandersetzung mit Kleists Aufsatz ݆ber das Marionet-
tentheater‹, dieser Philosophischen Anthropologie avant la lettre,
versuchen sie die Spezifik der »menschlichen Bewegung« als eines
geistvermittelten Naturablaufs gegenüber der tierischen und der au-
tomatischen Bewegung der Maschine zu bestimmen; Prototypen für
die menschliche Bewegung sind dabei die »Willkürbewegung«
(›Vom Wertbewußtsein im Tun‹) 134 und die Bewegung der »An-
mut«. 135

130 F. J. J. Buytendijk, Prolegomena einer anthropologischen Physiologie, Salzburg

1967, S. 21.
131 C. A. Peursen, Leib, Seele, Geist. Einführung in eine phänomenologische Anthro-

pologie, Gütersloh 1959, S. 127–147.


132 S. Strasser, Phänomenologie und Erfahrungswissenschaften vom Menschen, Berlin

1964.
133 F. J. J. Buytendijk/P. Christian/H. Plügge, Über die menschliche Bewegung als Ein-

heit von Natur und Geist, Schorndorf b. Stuttgart 1963. Vgl. dazu ausführlich St. Rieger,
Kybernetische Anthropologie. Eine Gechichte der Virtualität, Frankfurt a. M. 2003,
S. 375–446.
134 P. Christian, Vom Wertbewußtsein im Tun. Eine Beitrag zur Psychophysik der Will-

kürbewegung, in: F. J. J. Buytendijk/P. Christian/H. Plügge, Über die menschliche Be-


wegung als Einheit von Natur und Geist, a. a. O., S. 19–44.
135 H. Plügge, Grazie und Anmut. Ein biologischer Exkurs über das Marionettentheater

Philosophische Anthropologie A 377


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

In Deutschland liefen wichtige Impulse von der Philosophischen An-


thropologie in die Psychologie v. a. über Erich Rothacker, der mit dem
philosophischen Lehrstuhl bis 1954 zugleich Direktor des Psycho-
logischen Institutes in Bonn war und mit seiner vielfach aufgelegten
›Schichtenlehre der Persönlichkeit‹ ein Referenzbuch der psychologi-
schen Anthropologie geschrieben hatte. Diese Wirkung wird greifbar
bei zwei seiner Schüler, dem Psychologen Hans Thomae und dem
Philosophen Hermann Schmitz. Hans Thomae 136, zugleich sein
Nachfolger im Psychologischen Institut 137 , entwickelte sich zu einem
der einflussreichsten Vertreter der psychologischen Anthropologie
während der 60er Jahre. Von Bonn aus wurde das ›Handbuch der
Psychologie in 12 Bänden‹ herausgegeben, in dessen von Thomae
zusammen mit Philipp Lersch konzipiertem Band zur ›Persönlich-
keitsforschung und Persönlichkeitstheorie‹ der enge »Zusammen-
hang zwischen philosophischer Anthropologie und Psychologie« in
mehreren Beiträgen resumiert wurde. 138
Thomae entwickelte ein philosophisch-anthropologisches Para-
digma der Biographie- oder Lebenslaufforschung in der Nachfolge
von Rothacker. 139 In seinem Hauptwerk: ›Das Individuum und seine
Welt‹ (1968) 140 kam es ihm darauf an, die ihm in Explorationspro-
tokollen und Protokollen von Verhaltensbeobachtungen zugäng-
lichen Lebensläufe unter Vermeidung aller »nomothetischen« Reduk-
tionen (evolutionärer Aufbau-Abbau oder ›letzte Ziele‹ / Lebenssinn)
zur »Anschauung« des Individuums in seiner Welt zurückzubinden.
Deutungsansatz ist die »Thematik« des jeweiligen Lebens und, damit
eingeschlossen, die thematische Umstrukturierung. »Die themati-

von Heinrich von Kleist, in: F. J. J. Buytendijk/P. Christian/H. Plügge, Über die mensch-
liche Bewegung als Einheit von Natur und Geist, a. a. O., S. 45–77.
136 Dissertation bei Rothacker: H. Thomae, Bewußtsein und Leben. Versuch einer Sys-

tematisierung des Bewußtseinsproblems, Diss. Bonn 1939.


137 H. Thomae, Herkunft und Bedeutung des psychologischen Werkes Erich Roth-

ackers, in: G. Martin/H. Thomae/W. Perpeet, In memoriam Prof. Erich Rothacker, Bonn
1967, S. 13–26.
138 F. Mathey, Zur Schichttheorie der Persönlichkeit. In: Ph. Lersch/H. Thomae (Hrsg.),

Persönlichkeitsforschung und Persönlichkeitstheorie. Handbuch der Psychologie in


12 Bdn., Bd. 4, Göttingen 1960, S. 437–474. – W. J. Revers, Philosophisch orientierte
Theorien der Person und der Persönlichkeit, ebd., S. 391–436.
139 H. Thomae, Grenzprobleme zwischen philosophischer und psychologischer Anthro-

pologie, in: Studium generale, Jg. 9 (1956), S. 433–445.


140 H. Thomae, Das Individuum und seine Welt. Eine Persönlichkeitstheorie, Göttingen

1968. – Ders., Formen der Daseinsermöglichung, in: H.-G. Gadamer/P. Vogler (Hrsg.),
Neue Anthropologie, Bd. 5: Psychologische Anthropologie, Stuttgart 1973, S. 317–348.

378 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

schen Einheiten oder Aspekte des Lebensvollzuges haben immer


einen Bezug zu dem ›Bedeutsamkeitshorizont‹ des Subjekts.« Dem-
entsprechend sind Persönlichkeitsentwicklungen für Thomae nicht
typisierbar. Die Entwicklung ist beobachtbar und beschreibbar hin-
sichtlich formaler Verhaltensqualitäten, subjektivem Lebensraum,
Selbstbild, Thematik und »Daseinstechniken« als fundamentalen For-
men der Daseinsermöglichung: leistungsbezogene Techniken (Über-
windung von Schwierigkeiten), Anpassung (in Übereinstimmung
bringen), Abwehr-Kunstgriffe, schließlich Evasion und Egression,
Aggression als Lebenstechniken. Aber die Persönlichkeitsentwick-
lung ist völlig individuell, indem ihre Strukturierung »thematisch«,
nicht »kausal« bedingt ist. Die thematischen Strukturierungen erfol-
gen nicht nach natürlichen Bedürfnissen oder generellen Strebungen
oder Endzielen wie Selbstverwirklichung oder Gleichgewicht mit sich
selbst, sondern sie sind sozial vermittelt und dienen dem Individuum
dazu, sich »stimmig« in seiner Situation zu erleben. Diese Stimmig-
keit wird von den Individuen als Richtgröße ihrer Biographien erlebt,
als sinnvoll und »bedeutungshaltig«. Infolge der absolut unver-
gleichbaren Individualität aller individuellen Lebenswelten – aller
Individuen in ihrer Welt – gibt es in Thomaes psychologischer An-
thropologie kein generelles Schema, das dem Lebenslauf als Ganzem
gerecht werden kann. 141
Zu dieser Wirkungsgeschichte der Philosophischen Anthropolo-
gie in der Psychologie in den 60er Jahren gehörte auch, dass ein wei-
terer, allerdings philosophisch orientierter Schüler Rothackers, Her-
mann Schmitz, 1965 – also noch in der Hochzeit der Philosophischen
Anthropologie – seinen ersten Band ›Der Leib‹ innerhalb eines ›Sys-
tems der Philosophie‹ vorlegte. In seiner Phänomenanalyse des »leib-
lichen Befindens« knüpfte er ausdrücklich – wenn auch kritisch eigene
Akzente setzend – an die von Scheler eingeführte und von Plessner
fortgeführte systematische Unterscheidung an zwischen dem Phäno-
men des Körpers – im Sinne der naturwissenschaftlichen Vergegen-

141 Ein anderer Schüler Rothackers, W. J. Revers, der sich bei ihm in den 40er Jahren mit

einer »existenzphilosophisch-anthropologischen Grundlegung« über ›Langeweile und


Weltschmerz‹ qualifiziert hatte, wurde mit einer vergleichenden Abhandlung zum »tie-
rischen Stutzen«/»menschlichen Staunen« Mitarbeiter des ›Jahrbuches für Psychologie,
Psychotherapie und medizinische Anthropologie‹ und arbeitete in den 60er Jahren zum
»Leibproblem in der Psychologie«. W. J. Revers, Das Leibproblem in der Psychologie, in:
R. Rocek/O. Schatz (Hrsg.), Philosophische Anthropologie heute, München 1972,
S. 130–141.

Philosophische Anthropologie A 379


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

ständlichung – und dem Phänomen des Leibes – der in »Lebens-


gefühlen« als Realität gespürt wird. 142 Systematisch gesehen, ver-
wandelt Schmitz seit Ende der 50er Jahre Rothackers in den ›Schichten
der Persönlichkeit‹ ausgeführte philosophische Psychologie der Es-
Ich-Polarität in eine neue Phänomenologie der Subjektivität – des
»eigenleiblichen Spürens«. Unter Auswertung der durch Rothacker
vermittelten Ausdrucksgestaltpsychologie von Klages, auch unter
Hinzuziehung von Beschreibungen der Psychiater Viktor E. von Geb-
sattel und Jürg Zutt sowie der »französischen Existenzphilosophie«
(Sartre) erarbeitet er ein »Kategoriensystem der Leiblichkeit« (»En-
gung und Weitung«, »Spannung und Schwellung«), mit dessen Hilfe
verschiedenste leibgebundende Phänomene – wie Schreck, Angst und
Schmerz, Traum und Erwachen, Ein- und Ausatmen, Wollust, Hun-
ger, Durst, Ekel, Frische und Müdigkeit – erschlossen werden. Schmitz
erweitert diese Leibphänomenologie um eine Phänomenologie der
Gefühle als »randlos ergossener Atmosphären«, in der Schelers Ent-
deckung der »Intentionalität des Gefühls« und Plessners Theorie der
Gefühle als »durchstimmende Angesprochenheiten« 143 , als »Ergrif-
fenheit« der exzentrischen Positionalität zu einer ganz eigenständigen
Forschung philosophischer Psychologie (mit noch weiterreichenden
philosophischen Ansprüchen) fortgeführt wurden. 144 Schmitz kannte
Plessners Kategorie der »exzentrischen Positionalität« sehr gut und
unternahm in seiner philosophischen Psychologie gleichsam ihre
leibphänomenologische Lektüre, indem er sie zwischen den Polen der
»personalen Emanzipation« (des Ich aus der »primitiven Gegenwart«
des Dieses) und der »personalen Regression« explizierte. 145

Die Wirkung der Philosophischen Anthropologie in der Medizin war


seit den 1920er Jahren mit dem Wirken Viktor von Weizsäckers, der
den Durchbruch des Denkansatzes direkt verfolgt hatte, verbunden
Der Ausdruck einer »Medizinischen Anthropologie« wurde 1929 bei
Oswald Schwarz dezidiert verwendet: »Gegenstand der medizi-
nischen Anthropologie ist der Mensch, soweit er naturhaft ist, d. h.

142 H. Schmitz, Der Leib. System der Philosophie, Bd. II. 1, Bonn 1965, S. 596 f.
143 H. Plessner, Lachen und Weinen, GS VII, S. 138.
144 H. Schmitz, Einführung in die Phänomenologie des leiblichen Befindens, in: Ders.,

Subjektivität. Beiträge zur Phänomenologie und Logik, Bonn 1968, S. 83–95. – Die Re-
zeption der Leibphänomenologie von H. Schmitz setzt allerdings erst Mitte der 80er
Jahre ein.
145 H. Schmitz, Subjektivität. Beiträge zur Phänomenologie und Logik, a. a. O.

380 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

innerhalb der Sphäre biologisch-vitaler Ursachen und Zwecke; dann


aber soweit er sich zur Idee wendet, d. h. Werte in sich verwirklicht,
also im Totalaspekt seiner lebendigen Existenz.« 146 Schwarz bezog
sich dabei direkt auf Plessners ›Stufen des Organischen und der
Mensch‹ von 1928. Die Philosophische Anthropologie war insofern
neben der Phänomenologie und der Existenzphilosophie beteiligt an
den verschiedenen Schattierungen der »anthropologischen Medizin«
und der »anthropologischen Psychiatrie« 147 ; letztere wurde in den
60er Jahren von Erwin Straus, Viktor E. von Gebsattel, Jürg Zutt,
Hubertus Tellenbach vertreten. Einem Lebewesen, das »exzentrisch
positioniert« ist, kann die »vitale Hemmung« – die Hemmung der
positionalen »Vitalgefühle« (Scheler) –, die sich im psychopathologi-
schen Phänomen der Depression verkörperte 148 , ebenso zustoßen wie
die Verrückung des Koordinatensystems in »Wahnwelten«. 149 Zur
Wirkungsverdichtung kam es in den 60er Jahren in diesen Diszipli-
nen auch dadurch, dass die Arbeiten des seit den 30er Jahren in den
USA lebenden Mediziners Erwin Straus zu einer ästhesiologischen
und raumbezogenen Anthropologie erst seit 1960 – gebündelt als
›Psychologie der menschlichen Welt‹ 150 – wieder zugänglich waren
und für die Psychologie und medizinische Anthropologie ausgewer-
tet wurden. Seine – ganz ähnlich wie bei Plessner – vorgetragene
kritische Überwindung der Descartschen Begründung des Psy-
chischen in der Ordnung der Natur sowie seine direkt ästhesiologi-
schen 151 und ethologischen Studien 152 fanden große Aufmerksamkeit
bei Kunz, Tellenbach und anderen Vertretern der medizinischen An-
thropologie. 153 Auf Grund der Vermittlung von Marjorie Grene kam
es Mitte der 60er Jahre auch zu mehreren Konferenzbegegnungen

146 O. Schwarz, Medizinische Anthropologie, Wien 1929, S. 22.


147 P. Christian, Medizinische Anthropologie, a. a. O., S. 29–58.
148 H. Tellenbach, Melancholie, Frankfurt a. M. 1961.

149 E. Straus/J. Zutt (Hrsg.), Die Wahnwelten, Frankfurt a. M. 1963.

150 E. Straus, Psychologie der menschlichen Welt. Gesammelte Schriften, Berlin/Göt-

tingen/Heidelberg 1960.
151 E. Straus, Die Ästhesiologie und ihre Bedeutung für das Verständnis der Halluzina-

tionen, in: Ders., Psychologie der menschlichen Welt, a. a. O., S. 236.


152 E. Straus, Die aufrechte Haltung. Eine anthropologische Studie, in: Ders., Psycho-

logie der menschlichen Welt, a. a. O., S. 224–235.


153 H. Kunz, Über vitale und intentionale Bedeutungsgehalte, in: Conditio humana. Er-

win W. Straus on his 75th birthday, hrsg. v. W. v. Baeyer/R. M. Griffith, Berlin/Heidel-


berg/New York 1966, S. 162–199.

Philosophische Anthropologie A 381


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

zwischen Straus 154 und Plessner, sozusagen als später Ausgleich für
den unterbliebenen Kontakt der beiden Ästhesiologien Anfang der
30er Jahre. Auf einer von Straus organisierten Konferenz 1964 trug
Plessner zum ersten Mal auf Englisch seine in ›Lachen und Weinen‹
ausgearbeitete Differenz zwischen Leibsein und Körperhaben als un-
ausgleichbarer Grundbeziehungen des Menschen zu sich und zur
Welt vor. Der Text ›On human expression‹ kursierte seitdem inner-
halb der anthropologisch-existential-phänomenologischen Szene der
Psychologie. 155
Plessner trug aber auch dadurch zur anthropologischen Psycho-
logie und medizinischen Anthropologie bei, dass er als Philosophi-
scher Anthropologe, motiviert durch seine hartnäckige Kritik an der
Körper-Vergessenheit der deutschen Existenzphilosophie, auf dem
6. Deutschen Kongress für Philosophie 1960 ein Symposion über
»Probleme der Psychosomatik« veranstaltete, zu dem er Philosophen
und Mediziner einlud. 156 In der Diskussion mit dem Psychosomati-
ker Thure von Uexküll, den Psychoanalytikern W. Loch und A. Mit-
scherlich, dem Psychopathologen Müller-Suur u. a. brachte er syste-
matisch das Denkmodell der Philosophischen Anthropologie aus den
20er Jahren in die Debatte: das Verhältnis der Person zum Körperleib
als gewisser Spielraum, in dem der Umschlag in unbeherrschte kör-
perliche Vorgänge Antwortcharakter, also Sinn besäße, wie schon der
normale Grenzfall von Weinen und Lachen demonstriere: »Ein Ding
kann auseinanderfallen, ein Tier kann verstört werden, aber nur der
Mensch kann eine Krisis bewältigen, das heißt durch das Auseinan-
derfallen jeder persönlichen Struktur und dem Aufgeben aller Ver-
bindungen zur Welt aufs Neue geboren werden und dennoch dersel-
be sein« – so fasste Buytendijk dieses Muster zusammen. 157 Unter
dem Einfluss von Plessners und Buytendijks Einsatz, Philosophische

154 E. Straus, Embodiment and Excarnation, in: M. Grene (ed.), Toward a unity of

knowledge (Psychological issues, Vol. 6, No. 2), New York 1969, S. 217–250.
155 H. Plessner, On human expression, in: E. Straus (ed.), Phenomenology: pure and

applied. The first Lexington Conference, Pittsburgh 1964, S. 63–74. – Wiederabgedr.


in: Review of Existential Psychology and Psychiatry, Jg. 4 (1964), S. 37–46. – Wieder-
abgedr. in: J. Kockelmans (ed.), Phenomenological psychology. The Dutch school, Dord-
recht 1987, S. 47–54.
156 H. Plessner (zus. m. L. W. Nauta), Diskussionsbericht über das VII. Symposion: Pro-

bleme der Psychosomatik (Leitung Plessner), in: H. Kuhn (Hrsg.), Sechster deutscher
Kongreß für Philosophie München 1960. Das Problem der Ordnung, Meisenheim a.
Glan 1962, S. 304–313; auch abgedr. in: Psyche, Jg. 15 (1961), S. 98–104.
157 F. J. J. Buytendijk, Psychologie des Romans, Salzburg 1966, S. 54.

382 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

Anthropologie als Korrektiv der existenzphilosophischen Strömun-


gen in der Psychologie und Medizin zu begreifen, kam es auch zu den
Studien des Mediziners H. Plügge über ›Der Mensch und sein Leib‹
(1967) bzw. ›Vom Spielraum des Leibes‹ (1970) 158 , in denen zugleich
die Beschreibungen Merleau-Pontys zur »ambiguité« im deutsch-
sprachigen Raum zum ersten Mal systematisch ausgewertet wurden.
Die Ästhesiologie der unvertretbaren Eigenart der körpergebunde-
nen Sinne fand im gleichen Zeitraum eine originäre Fortsetzung
durch den Psychiater H. Tellenbach mit seiner Studie zu ›Geschmack
und Atmosphäre. Medien menschlichen Elementarkontaktes‹ 159 , die
eine Anthropologie des menschlichen Oralsinnes und Mundraumes
gab. Nicht zuletzt diese konkrete Wirkungsgeschichte der Philoso-
phischen Anthropologie in der Psychologie und Medizin 160 ermutig-
te den 78jährigen Plessner, seine ›Ästhesiologie des Geistes‹ von
1923, die eine solche Wirkung im Auge gehabt hatte, noch einmal
in einer ›Anthropologie der Sinne‹ (1970) zusammenzufassen. 161

Hat die Philosophische Anthropologie also durchaus Orientierungs-


funktion in der Naturphilosophie, der philosophischen Biologie, in
der anthropologischen Medizin, Psychologie und Psychiatrie aus-
geübt, so wurde sie in den 60er Jahren aber vor allem ein wirkungs-
voller Ansatz in der Soziologie. Das hat nicht nur damit zu tun, dass
mit Plessner und Gehlen zwei Protagonisten des Theorieprogramms
von der Philosophie zu soziologischen Lehrstühlen übergegangen
waren, sondern damit, dass sich – trotz der persönlich-akademischen
und politisch-biographischen Divergenzen zwischen ihnen – ein
Netzwerk von Soziologen (v. a. um Schelsky, Popitz, Bahrdt, Claes-
sens) entwickelte, die die Grundannahmen der Philosophischen An-
thropologie teilten, sich gleichermaßen auf Plessner wie auf Gehlen
bezogen, sich in diesem Rekurs auf die Philosophische Anthropologie
untereinander erkannten und aus dieser gemeinsamen Vorausset-
zung von verschiedenen Universitäten aus die soziologische For-

158 H. Plügge, Der Mensch und sein Leib, Tübingen 1967. – Ders., Vom Spielraum des

Leibes. Klinisch-phänomenologische Erwägungen über ›Körperschema‹ und ›Phantom-


glied‹, Salzburg 1970.
159 H. Tellenbach, Geschmack und Atmosphäre. Medien menschlichen Elementarkon-

taktes, Salzburg 1968.


160 Zu dieser Wirkungsgeschichte auch der Kunz-Schüler M. Herzog, Phänomenologi-

sche Psychologie. Grundlagen und Entwicklungen, Heidelberg 1992, S. 339–344.


161 H. Plessner, Anthropologie der Sinne (1970), GS III, S. 317–393.

Philosophische Anthropologie A 383


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

schung in Schlüsselthemen der bundesrepublikanischen Soziologie


vorantrieben (Technik- und Industriesoziologie, Stadtsoziologie, Fa-
miliensoziologie, Rechtssoziologie). Innerhalb des Koordinatensys-
tems der deutschen Nachkriegssoziologie bildete sich eine dritte Po-
sition aus, die in sich vielfältig, aber doch deutlich von anderen
soziologischen Denkrichtungen unterschieden auftrat. So gesehen,
war die Philosophische Anthropologie in der deutschen Soziologie
nach 1945 bis Mitte der 70er Jahre 162 möglicherweise in manchen
Augen neben der Frankfurter Schuler (Horkheimer, Adorno) und
der »Kölner Schule« (René König) eine der produktivsten Theorie-
ansätze.
Kenntlich wurde die Philosophische Anthropologie als charakte-
ristischer Ansatz vor allem in zwei Debatten der Soziologie: einer
Debatte über die Soziologie selbst – ihre »Ortsbestimmung« – und
einer Debatte innerhalb der Soziologie um den »Rollenbegriff«. Vor
dem Hintergrund erheblicher Reizbarkeiten in der deutschen Sozio-
logie 163 , die sich vor allem auch aus der Spannung von Remigranten
und während des Nationalsozialismus Dagebliebenen speisten (und
an dem an Adorno, Horkheimer und René König scheiterndem Wil-
len Schelskys, 1959 als Nachfolger Plessners Präsident der Deutschen
Gesellschaft für Soziologie zu werden), legte Helmut Schelsky 1959
eine ›Ortsbestimmung der deutschen Soziologie‹ 164 vor. Er konsta-
tierte zunächst eine Spaltung in zwei Soziologien, nämlich zwischen
dem US-orientierten »empirischen Funktionalismus« einerseits und
der kultur- und gesellschaftskritischen Tradition »soziologischer
Deutungswissenschaft« andererseits. Der Text lässt deutlich erken-
nen, dass er die Dichotomie zwischen der ›Kölner Schule‹ des ein-
flussreichen Remigranten René König und der Frankfurter Schule
um die Remigranten Horkheimer und Adorno im Blick hatte. Bereits
in der Auseinandersetzung mit der Methodologie der Soziologie, der
Frage der »Wirklichkeitserfassung der empirischen Soziologie«, cha-
rakterisierte er mit dem Terminus einer »phänomenologischen Em-
pirie« eine dritte Position (wie sie faktisch z.B in den industriesozio-
logischen Studien von Popitz und Bahrdt betrieben worden war, von

162 G. Lüschen (Hrsg.), Deutsche Soziologie nach 1945. Entwicklungsrichtungen und

Praxisbezug, Opladen 1974.


163 K.-S. Rehberg, Hans Freyer, (1887–1960), Arnold Gehlen (1904–1976), Helmut

Schelsky (1912–1984), in: D. Kaesler (Hrsg.), Klassiker der Soziologie, Bd. II: Von Tal-
cott Parsons bis Pierre Bourdieu, a. a. O., S. 90 f.
164 H. Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, Düsseldorf/Köln 1959.

384 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

Schelsky aber auch namentlich bei Gehlen oder Plessner gesehen


wurde): gegenüber der reinen Beschränkung der soziologischen For-
schung der Kölner auf die Erhebung und Auswertung empirischer
Daten akzentuierte er das relative Recht der »phänomenologischen
Methode«, die er als »verwissenschaftlichte Primärerfahrung« des
Sozialforschers hinsichtlich der komplexen Ganzheit von Vergesell-
schaftung kennzeichnete; andererseits hob er gegenüber der Kritik an
der »Entstellung des Objekts« (Adorno) seitens der Frankfurter, der
Verdopplung verdinglichter Welt durch jede positivistische For-
schung durchaus die Bedeutung der sozialwissenschaftlichen Empirie
für die Sozialforschung hervor. »Soziologie als Erfahrungswissen-
schaft« war für Schelsky in die »gegenseitige Vorläufigkeit der bei-
den beschriebenen Formen der Empirie«, »in diese Gegenbewegung
von Vorgriffen der verwissenschaftlichten Primärerfahrung und me-
thodischer Einzelfallforschung und –verifikation eingebettet.« 165
Neben dieser methodologischen Kennzeichnung markierte
Schelskys »Ortsbestimmung« aber auch die Möglichkeit einer drit-
ten Position vor allem mit Blick auf die »theoretische Soziologie«.
Die Kölner Schule postulierte nach Schelsky eine »soziologische
Theorie«, die bezüglich der Generalisierung empirischer Aussagen
sich wissenschaftstheoretisch mit dem logischen Positivismus, gesell-
schaftstheoretisch mit Parsons’ Strukturfunktionalismus als Vorbild
einer solchen »allgemeinen Soziologie« verband; die Frankfurter
Schule hingegen zielte mit einer konkreten »Theorie der Gesell-
schaft« als »soziologische Deutungswissenschaft« kultur- und gesell-
schaftskritisch auf die Möglichkeit einer »befreiten Gesellschaft«
(Adorno). Der möglichen dritten Position in der »theoretischen So-
ziologie« zwischen »soziologischer Theorie« und »Theorie der Ge-
sellschaft« nähert sich Schelsky von zwei Seiten in Auseinanderset-
zung mit der »soziologischen Theorie« einerseits, mit der kritischen
»Theorie der Gesellschaft« andererseits. Die »Aufnahme und Ver-
arbeitung der ›strukturell-funktionalen‹ Theorie im deutschen sozio-
logischen Denken« in Perspektive einer allgemein analytisch be-
fähigten »soziologischen Theorie« versprach er sich vor allem von
einer »Theorie der Handlung«, die gerade auch »die reichere Be-
deutsamkeit der Institution für das soziale Handeln« systematisch
reflektiere. »Vor allem aber könnte eine Begegnung zwischen der
von Scheler herkommenden ›philosophischen Anthropologie‹ in

165 Ebd., S. 83.

Philosophische Anthropologie A 385


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Deutschland und der soziologischen Theorie Parsons’ eine breitere


gemeinsame Grundlage einer Theorie der Handlung schaffen.« In
Parsons’ Theorie der Handlung allerdings käme »die biologische Sei-
te der menschlichen Handlungsverfasstheit nur in Form der Tiefen-
psychologie […] zum Zuge«. »Gerade die deutsche ›philosophische‹
oder ›kulturelle‹ Anthropologie hat aber diese theoretische Verbin-
dung zwischen der biologischen Verfasstheit des Menschen, seiner
sozialen Handlungsform und dem Verständnis kultureller Gebilde
zu ihrem Hauptthema gemacht.« War nach Schelskys Auffassung
die Frage einer so fokussierten »soziologischen Theorie der Hand-
lung« »nur vom Boden der ›philosophischen Anthropologie‹ und
ihrer Folgerungen in verschiedenen Fachdisziplinen her beantwort-
bar«, so gab er nun in seiner ›Ortsbestimmung der deutschen Sozio-
logie‹ ziemlich genau die Denkergruppe einer solchen dritten Positi-
on in der Soziologie an: »auf die zahlreichen Beiträge gerade
soziologischen Gehalts zu diesen Fragen im letzten Jahrzehnt von
E. Baumgarten, A. Gehlen, K. Lorenz, W. E. Mühlmann, H. Plessner,
A. Portmann, E. Rothacker, H. Schelsky, Herm. Weber u. a. kann hier
nur kurz hingewiesen werden.« 166
Die dritte Position war nach Schelsky aber nicht nur dadurch
gekennzeichnet, dass sie die »soziologische Theorie« auf eine Fundie-
rung in der »Natur« des Menschen verpflichtete, sondern auch da-
durch, dass sie das Freiheitsmotiv, also den tragenden Impuls der kri-
tischen »Theorie der Gesellschaft« in der Soziologie gegen den
positivistischen Strukturfunktionalismus, aufnahm und gegen diese
kritische Theorie selbst verteidigte. Schelsky gab König Recht in sei-
nem Anspruch einer wissenschaftlichen Emanzipation der rein ana-
lytischen »soziologischen Theorie« von alten gesellschaftsdeutenden
Ansprüchen, und gab umgekehrt der »Theorie der Gesellschaft«
Recht in ihrem Anspruch, die »Frage der Freiheit des Menschen von
der Gesellschaft« systematisch in die Soziologie mit einzubeziehen.
Dabei nannte er als die »Aufgabe einer ›kritischen Theorie des Sozia-
len‹ […], ›Kritik‹ eben nicht im Sinne der Kultur- und Zeitkritik zu
verstehen«, sondern Kritik im Kantischen Sinne zu reformulieren:
»Sinn und Grenzen des Sozialen und des soziologischen Denkens zu
bestimmen.« 167 Bereits hier schien indirekt bei Schelsky der »Anti-
Soziologe« in der Soziologie selbst auf. Gegen die »soziale Utopie«

166 Ebd., S. 91 f.
167 Ebd., S. 96.

386 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

der »befreiten Gesellschaft« ging es für ihn um eine »transzendentale


Theorie der Gesellschaft«, die die Notwendigkeit der »Freiheit des
Menschen von der Gesellschaft« im Prinzip der Gesellschaft selbst,
die die »Grenze des Sozialen« formal und material im Sozialen selbst
aufweisen könne. Ohne direkt Namen zu nennen, schloss Schelsky
hier an Schelers Begriff der »Person«, an Plessners Prinzip der »Un-
ergründlichkeit« des Menschen bzw. an Gehlens »Geburt der Freiheit
aus der Entfremdung« an.

Schelskys »Ortsbestimmung der Soziologie« umriss die Möglichkeit


der Philosophischen Anthropologie als einer dritten Position in der
Soziologie zwar prinzipiell, aber hinsichtlich ihrer Konkretion doch
eher vorsichtig. Konkret kenntlich wurde diese Option als soziologi-
sche Richtung erst in einer zeitgleichen anderen Debatte der Sozio-
logie, im Streit um Dahrendorfs »Homo Sociologicus«, um die Kate-
gorie der »sozialen Rolle« als Schlüsselkategorie der soziologischen
Analyse. 168 In diese Auseinandersetzung stiegen viele ältere und jün-
gere Soziologen ein, die von Grundannahmen der Philosophischen
Anthropologie aus sich mit Dahrendorf auseinandersetzten, ältere
wie vor allem Plessner 169, Gehlen 170 und Schelsky 171, aber auch jün-
gere wie Popitz 172 , Bahrdt 173 , Claessens 174, Tenbruck 175 , dann auch die
damals in New York wirkenden jungen Soziologen P. L. Berger und
Th. Luckmann. 176 In dieser Debatte erkannten sich die philosophisch-
anthropologisch argumentierenden Soziologen – nicht als eine

168 R. Dahrendorf, Homo Sociologicus: Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik

der Kategorie der sozialen Rolle, Köln/Opladen 1957.


169 H. Plessner, Soziale Rolle und menschliche Natur (1960), GS X., S. 227–244.

170 A. Gehlen, Besprechung v. R. Dahrendorf ›Homo Sociologicus‹, in: Zeitschrift für

die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 117, (1961), S. 368–371.


171 H. Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, a. a. O., S. 106–109.
172 H. Popitz, Der Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischen Theorie.

Freiburger Antrittsvorlesung vom 7. Juli 1966 (erw. Fassung) (1967), 4. Aufl. Tübingen
1975.
173 H. P. Bahrdt, Zur Frage des Menschenbildes in der Soziologie, in: Europäisches Ar-

chiv für Soziologie, Jg. II (1961), S. 1–17.


174 D. Claessens, Rolle und Verantwortung, in: Soziale Welt, Jg. 14 (1963), S. 1–13.

175 F. Tenbruck, Zur deutschen Rezeption der Rollentheorie, in: Kölner Zeitschrift für

Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 13 (1961), S. 1–40.


176 P. L. Berger/Th. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit.

Eine Theorie der Wissenssoziologie (amerik. 1966). Mit einer Einleitung zur deutschen
Ausgabe von Helmuth Plessner. Übersetzt von Monika Plessner, Frankfurt a. M. 1969
(Reihe Conditio humana), S. 76–83. Vgl. später auch: Th. Luckmann, Persönliche Iden-

Philosophische Anthropologie A 387


https://doi.org/10.5771/9783495999899
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

»Schule«, aber doch als ein Gruppenzusammenhang, der charakteris-


tische Prämissen der soziologischen Theorie und Gesellschaftstheorie
teilte. Die Bedeutung dieser Denkergruppe für die westdeutsche So-
ziologie wird im Nachhinein nicht erkennbar, wenn man sich auf den
sog. ›Positivismusstreit‹ in der deutschen Soziologie als einer Schlüs-
seldebatte fixiert – an diesem war nämlich keiner der genannten Au-
toren maßgeblich beteiligt. Da diese Soziologen – denkt man z. B.
Popitz und Bahrdt mit ihren industriesoziologischen Studien – in
ihrer Sozialforschung von Beginn an mit einer Kombination von em-
pirischer Erhebung und Phänomenologie und Hermeneutik (der aus-
führlichen Interviews) verfuhren, also die später so genannte Alter-
native quantitative oder qualitative Forschung von vornherein
entkräfteten (und in der qualitativen Forschung noch einmal Phäno-
menologie von Hermeneutik unterschieden), war vermutlich für ihre
Art der Methodenverschränkung die zugespitzte wissenschaftstheo-
retische Debatte zwischen Kritischem Rationalismus und Kritischer
Theorie mit den Extremen einer entweder emphatischen Überbewer-
tung der empirischen Erhebung oder deren energischer Abwehr als
»Positivismus« nicht fruchtbar, nicht identitätsbildend.
Waren die erwähnten Soziologen also in den »Positivismus-
streit« nicht primär involviert – was im nachhinein seinen kano-
nischen Stellenwert für die gesamte Entfaltung der bundesdeutschen
Soziologie relativiert –, so waren sie im Streit um die Kategorie der
»sozialen Rolle« als einer Kategorie der Vermittlung zwischen dem
Einzelnen und der Gesellschaft alle mit Beiträgen engagiert. Im Buch
»Homo sociologicus« hatte Ralf Dahrendorf im Anschluss an die
englische Ethnologie und amerikanische Soziologie eine Einführung,
Bedeutungseinschätzung und Kritik der »Kategorie der sozialen Rol-
le« unternommen. »Soziale Rollen« wurden demnach als jeweilige
Bündel von Erwartungen, von Verhaltensvorschriften begriffen, die
in einer jeweiligen Gesellschaft – vermittelt über »Bezugsgruppen«
und ihre Sanktionen – sich an die Träger von jeweiligen »Positionen«
richteten und in diesen – zugeschriebenen oder erworbenen – Stel-
lungen die jeweiligen Menschen zwangen, sich entsprechend den
normativen Erwartungen zu verhalten bzw. entsprechende Eigen-
schaften, Rollenattribute, auszubilden. Dahrendorf legte Wert da-
rauf, dass »der Mensch als Träger sozialer Rollen kein Abbild der

tität, soziale Rolle und Rollendistanz, in: Identität, hrsg. v. O. Marquard/K.-H. Stierle
(Poetik und Hermeneutik VIII), München 1979, S. 293–314.

388 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

Wirklichkeit, sondern eine wissenschaftliche Konstruktion« ist, eben


der »homo sociologicus«, dessen analytisches Potential er durchaus
skizzierte und differenzierte. Zugleich kam es ihm aber darauf an, zu
zeigen, dass im Konstrukt der »sozialen Rolle« die »Gesellschaft
nicht nur eine Tatsache, sondern eine ärgerliche Tatsache ist, der wir
uns nicht ungestraft entziehen können« 177 : Gesellschaft insgesamt
als Rollenstruktur, als Bündel der Bündel von Verhaltenserwartun-
gen, in denen der »ganze Mensch« sich in der »Sozialisierung«, der
Anpassung an die Verhaltenserwartungen, von sich selbst entfrem-
det. »Für Gesellschaft und Soziologie ist der Prozeß der Sozialisie-
rung stets ein Prozeß der Entpersönlichung, in dem die Individualität
und Freiheit des Einzelnen in der Kontrolle und Allgemeinheit sozia-
ler Rollen aufgehoben wird.« Im Hintergrund des soziologischen
Rollenkonzeptes deckte Dahrendorf so einen Gegensatz zwischen
dem ganzen Menschen und dem entfremdeten Menschen auf, zwi-
schen dem »moralischen Bild des Menschen als einem ganzen, ein-
maligen, freien Wesen und seinem wissenschaftlichen Bild als zer-
stückelten, exemplarischen, determinierten Aggregat von Rollen«
und kritisierte, dass »die Soziologie, indem sie den Menschen zum
homo sociologicus entfremdet, entgegen ihrer ursprünglichen Inten-
tion Unfreiheit und Unmenschlichkeit wenn nicht bewusst fördert,
so doch durch ihre Toleranz unterstützt.«178
Die Debatte entzündete sich daran, dass Dahrendorf mit der
»Kategorie der sozialen Rolle«, mit dieser »wissenschaftlichen Kons-
truktion« des »homo sociologicus« die Vorstellung einer »Entfrem-
dung« des ganzen Menschen in das »Ärgernis der Gesellschaft« ver-
knüpfte. Zur Debatte gehörte auch, dass diese Entfremdungskritik an
der soziologischen Rollenkategorie von marxistischer Seite vertieft
wurde. Bei Dahrendorfs »homo sociologicus« richte sich nämlich die
Kritik »gegen Gesellschaft schlechthin, nicht gegen eine schlechte
Gesellschaft.« 179 In seinem Vortrag ›Marxismus als Kritik‹ hatte Ha-
bermas 1960 als erster in dieser Linie bestritten, dass die Kategorie
der »sozialen Rolle« eine »universalhistorische Kategorie« der Sozio-
logie sein könne, und hatte vielmehr historisch-materialistisch ihre

177 R. Dahrendorf, Homo sociologicus, a. a. O., S. 146.


178 Ebd., S. 188.
179 F. Haug, Rollentheorie, in: H. Kerber/A. Schmieder (Hrsg.), Handbuch Soziologie.

Zur Theorie und Praxis sozialer Beziehungen, Hamburg 1984, S. 484. So bereits: Dies.,
Kritik der Rollentheorie und ihrer Anwendung in der bürgerlichen deutschen Sozio-
logie, Frankfurt a. M. 1972.

Philosophische Anthropologie A 389


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Genesis und Geltung auf ein »fortgeschrittenes Stadium der indus-


triellen Gesellschaft« mit seiner »kapitalistischen Produktionsweise«
bezogen und beschränkt: »Die Vervielfältigung, die Verselbständi-
gung und der beschleunigte Umsatz abgelöster Verhaltensmuster
gibt erst den ›Rollen‹ eine quasi dingliche Existenz gegenüber den
Personen, die sich darin ›entäußern‹ und in der zu Bewußtsein kom-
menden Entäußerung den Anspruch auf Innerlichkeit entfalten – wie
die Geschichte des bürgerlichen Bewußtseins […] zeigt.« 180 Diese
historisch-materialistische Kritik, die die soziologische Kategorie
der »Rolle« als ideologischen Ausdruck der Verdinglichung der Ver-
haltensweisen in der kapitalistischen Produktionsweise aufdeckte
und dem Warencharakter menschlicher Beziehungen in dieser Ge-
sellschaftsformation zurechnete 181 , wurde innerhalb der Debatte in
den 60er Jahren dann bedeutsam als Kritik an der »bürgerlichen
Soziologie«.
Grundsätzlich anders setzten sich die oben genannten Beiträger
Plessner, Gehlen, Schelsky, Popitz, Bahrdt, Claessens, Tenbruck,
Luckmann, Berger mit Dahrendorfs Thesen auseinander, eine Grup-
pe, zu der auch Nachwuchssoziologen wie Hans Peter Dreitzel (ein
Schüler von Plessner und Bahrdt) und Hans Joas stießen, der 1971
für ein Colloquium von Claessens und Dreitzel einen Literaturbe-
richt zur »soziologischen Rollentheorie« schrieb. 182 In diesen Beiträ-
gen wurde bei allen Differenzen mit Theoremen der Philosophischen
Anthropologie operiert, diese konkretisiert und so konzeptualisiert,
dass sich Kombinationsmöglichkeiten (v. a. bei Berger und Luck-
mann) mit wahlverwandten Theorietraditionen (wie z. B. G. H. Mead,
E. Goffman) öffneten. Popitz arbeitete ein anthropologisches Fundie-
rungsverhältnis hinsichtlich der »Kunstgriffe der Soziologie in der
Bildung des Rollenbegriffs« heraus: »zugrunde liegt ihnen ein
Kunstgriff der Gesellschaft, der soziologischen eine soziale Abstrak-
tion.« Bevor die Rolle zum Kunstgriff der Soziologie wird, ist sie
bereits ein Kunstgriff der Gesellschaft selber. Bei aller historischen
und wissenschaftstheoretischen Selbstreflexion brachte er die ge-
meinsame Annahme der genannten Autoren auf den Punkt, dass

180 J. Habermas, Zwischen Philosophie und Wissenschaft. Marxismus als Kritik (Vor-

trag 1960, Erstveröffentlichung 1963), in: Ders., Theorie und Praxis. Sozialphilosophi-
sche Studien, 4. erw. Aufl. Frankfurt a. M. 1971, S. 239.
181 F. Haug, Kritik der Rollentheorie, a. a. O., S. 104.

182 H. Joas, Die gegenwärtige Lage der soziologischen Rollentheorie (1971), 3. Aufl.

Wiesbaden 1978.

390 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

gleichförmige Verhaltensweisen in der menschlichen Gesellschaft,


also auch eine Rollenstruktur, »keine Erfindung der Soziologie, son-
dern eine Erfindung der Gesellschaft« selbst waren 183 , allerdings
auch nun keine Erfindung einer bestimmten historischen Formation
wie der bürgerlichen Industriegesellschaft, wiewohl dort besondere
Umgangsformen mit »Rollen« konstatiert werden konnten. Die ele-
mentare, universelle Rollenhaftigkeit menschlicher Gesellschaften
begründete Plessner für die Denkergruppe in seinem vielbeachteten
Beitrag ›Soziale Rolle und menschliche Natur‹ in der »menschlichen
Natur«, d. h. im »formalen Grundzug unserer leibhaften Existenz,
welche zwischen körperlichem Sein und dem Zwang, dieses körper-
liche Sein zu beherrschen, einen Ausgleich finden muss.« Er wies
entschieden die Option zurück, »das Sein in einer Rolle von dem
eigentlichen Selbstsein zu trennen und dieses gegen das Ärgernis
der Gesellschaft auszuspielen (wie das Dahrendorf kürzlich mit sei-
nem ›Homo Sociologicus‹ noch getan hat).« »Der Weg nach innen
bedarf des Außenhalts«, nur »im Umweg über anderes und anders
als ein Jemand« vermag die Personalität sich zu »verkörpern« und
darin zu entfalten. Plessner verwies auf K. Löwiths ›Das Individuum
in der Rolle des Mitmenschen‹ und Th. Litts ›Individuum und Ge-
meinschaft‹, deren sozialontologische Entwürfe der 1920er Jahre in
Deutschland für die Rezeptionsresonanz der nunmehrigen Rollen-
debatte eine Disposition bildeten. Er zog das ästhetische Paradigma
des ›theatrum mundi‹ im Kosmos, des Voreinandererscheinens, in das
soziologische Paradigma der »Rolle« hinein. Mit dem »Namen«, mit
dem jemand in ein soziales Gefüge inkorporiert wird, ist ihm eine
erste »Rolle zugefallen, die vielleicht nur Nachahmung und Nach-
folge eines vergangenen, eines unerreichten Helden oder Halbgottes
bedeutet«. Die »Darstellung« dieser Rolle, die Identifikation – so
Plessner gegen Dahrendorf – »hebt nicht nur nicht sein Selbst auf,
sondern schafft es ihm. Nur an dem anderen seiner selbst hat er –
sich.« Plessner sprach von der »Struktur des Doppelgängertums, in
welchem Rollenträger und Rollenfigur miteinander verbunden
sind.« Der Mensch gibt »sich erst sein Wesen kraft der Verdopplung
in einer Rollenfigur, mit der er sich zu identifizieren versucht. Diese
mögliche Identifikation eines jeden mit etwas, was keiner von sich
aus ist, bewährt sich als die einzige Konstante in dem Grundverhält-

183 H. Popitz, Der Begriff der sozialen Rolle, a. a. O., S. 9.

Philosophische Anthropologie A 391


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

nis von sozialer Rolle und menschlicher Natur.« 184 Entsprang somit
in der Identifikation mit einer Rollenfigur zugleich überhaupt der
individuelle Spielraum des Rollenspielers, gleichsam seine private
Existenz, so machte der Plessner-Schüler Hans Paul Bahrdt umge-
kehrt auf die Bedeutung dieser Individualität bei der situationsbezo-
genen Ausübung von Rollenvorschriften im sozialen Gefüge auf-
merksam, auf das reflexive und zugleich kreative Moment der
Rollendistanz. Gegen Dahrendorfs Vorstellung einer reinen Konfor-
mität des Positionsträger gegenüber den ihm objektiv gegenüber ste-
henden Rollenvorschriften erläuterte er die Notwendigkeit der »Ei-
genleistung« bei der Konkretisierung der »Rollenerscheinung«, der
spontanen Interpretation von vagen Rollenerwartungen seitens des
geforderten Individuums, damit die jeweilige Rolle als gesellschaft-
liches Funktionselement konkretisiert werden konnte. 185
Die gesamte Debatte um die Fruchtbarkeit des Rollenbegriffs
ermöglichte es dem Paradigma der Philosophischen Anthropologie
auch, das Potential der Intersubjektivitätstheorie in der deutschen
Soziologie zu entfalten und den Rollenbegriff auf seine interaktive
Dimension hin zu öffnen. Enthielten schon Schelers ›Phänomenolo-
gie der Sympathiegefühle‹ mit dem wirkungsgeschichtlich bedeut-
samen Lehrstück »vom fremden Ich«, Plessners ›Grenzen der
Gemeinschaft‹ mit dem Theorem der Maskenbildung im Erblicktwer-
den durch den Anderen und Löwiths ›Das Individuum in der Rolle
des Mitmenschen‹ genuine Sozialkategorien, in denen die »Rezipro-
zität der Perspektiven« (Th. Litt) systematisch expliziert worden war,
so disponierte schließlich Portmanns ontogenetische Auslegung der
›exzentrischen Positionalität‹ als ›extrauterines Frühjahr‹ zur soziali-
sationstheoretischen Ausarbeitung. Die von Gehlen – vor jeder an-
deren Sekundärrezeption – geleistete deutschsprachige Eingemein-
dung des interaktionistischen ›role-taking of the other‹ von George
H. Mead Anfang der 50er Jahre 186 – in unmittelbarer Nähe mit dem
Referat von Plessners Kategorie ›exzentrische Positionalität‹ – er-
schloss jetzt in der Rollendebatte – z. B. in der Meadrezeption bei

184 H. Plessner, Die Frage nach der Conditio humana, GS VIII, S. 204.
185 H. P. Bahrdt, Zur Frage des Menschenbildes, a. a. O., S. 121.
186 K.-S. Rehberg, Die Theorie der Intersubjektivität als eine Lehre vom Menschen.

George Herbert Mead und die deutsche Tradition der ›Philosophischen Anthropologie‹,
in: H. Joas (Hrsg.), Das Problem der Intersubjektivität. Neuere Beiträge zum Werk
George Herbert Meads, Frankfurt a. M. 1985, S. 60–92.

392 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

Hans Joas 187 – die analytischen Potentiale der verschiedenen Varian-


ten des »symbolischen Interaktionismus«. Die von der Philoso-
phischen Anthropologie her gerade bei Plessner stark gemachten
Momente der Vergesellschaftung als Zusammenhang der »Verkörpe-
rung«, als Erscheinungs- und Repräsentationsverhältnis, aktivierten
zugleich den Sinn für die theatralische Dimension der Rollenstruktur
und ermöglichten damit die in den 60er Jahren – z. B. bei dem
Plessner- und Bahrdt-Schüler Hans Peter Dreitzel 188 – einsetzende
Rezeption der Studien von Erving Goffman, die die gesellschaftsbil-
denden Mechanismen der alltäglichen »Präsentation« der Beteilig-
ten in den Rollen voreinander und vor jeweiligem Publikum, der
»Rollendistanz« (ironische Brechung, manipulativer Einsatz, Rück-
zug) anschauungsreich thematisierten. 189 Von Grundannahmen der
Philosophischen Anthropologie her zeigten so die verschiedenen
Beiträge in der Homo-Sociologicus-Debatte die analytische Frucht-
barkeit der Kategorie der sozialen Rolle. War die Gesellschaft als
normativ-interaktive Rollenstruktur aufgefasst, als ein dichtes Netz
von Verhaltenserwartungen, über die Menschen sich identitätsbil-
dend sozialisierten und in deren spontanen Konkretisierungen sie
sich voreinander zur partiellen Darstellung brachten, so waren nun
auch Varianten der Rollenstruktur bis hin zur modernen Industrie-
gesellschaften unterscheidbar; Machtverhältnisse in den Rollen-
strukturen wurden analysierbar (Dieter Claessens) 190 und in der
»Pathologie des Rollenverhaltens« die »gesellschaftlichen Leiden
und das Leiden an der Gesellschaft« 191 – wie der Titel der von Hans
Peter Dreitzel im Umfeld von Plessner und Bahrdt geschriebenen
Habilitation lautete.

So wird die Dreieckskonstellation in der bundesdeutschen Soziologie


kenntlich: Frankfurt, Köln und das Netzwerk der Philosophischen An-
thropologie. Unabhängig von den unmittelbaren Schülern der nun-

187 H. Joas, Die gegenwärtige Lage der soziologischen Rollentheorie, a. a. O., S. 19. –

Ders., Intersubjektivität bei Mead und Gehlen, in: Archiv für Rechts- und Sozialphi-
losophie Jg. 65 (1979), S. 105–121.
188 H. P. Dreitzel, Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft. Vor-

studien zur Pathologie des Rollenverhaltens, Stuttgart 1968.


189 E. Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München

1969 (EA: The Presentation of Self in Everyday Life, New York 1959).
190 D. Claessens, Rolle und Macht, München 1968.

191 H. P. Dreitzel, Die gesellschaftlichen Leiden, a. a. O., S. 19.

Philosophische Anthropologie A 393


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

mehrigen Soziologen Plessner 192 und Gehlen 193 wurde diese dritte
Option kenntlich v. a. im Werk von Popitz, Bahrdt, Schelsky und Claes-
sens, vier Soziologen, die von Mitte der 1950er bis in die 80er Jahre
sich in dem Bezug auf Plessner 194 und Gehlen einander erkannten
und dabei Schlüsselthemen der Soziologie moderner Gesellschaft
konzeptualisierten und erforschten: Techniksoziologie, Gesell-
schaftsbild-Forschung, Familiensoziologie, Stadtsoziologie, Arbeits-
soziologie, Soziologie der Macht, Rechtssoziologie. Philosophische
Anthropologie wirkte als eine Forschungs- und Urteilshaltung 195 in
der Soziologie 196, um moderne soziale Wirklichkeit zwischen empiri-

192 Zu den unmittelbaren Schülern Plessners gehören der Bildungssoziologe D. Gold-

schmidt, Ch. v. Ferber, der später an der von Schelsky gegründeten Sozialwissenschaftli-
chen Fakultät in Bielefeld lehrte; Ch. Graf v. Krockow, zunächst politischer Soziologe und
Sportsoziologe, später bekannter Publizist; A. Busch, W. Lempert, P. v. Oertzen,
W. Schulenberg, der Stadtsoziologe M. Schwonke und H. P. Dreitzel. Vgl. dazu C. Diet-
ze, ›Nach siebzehnjähriger Abwesenheit …‹ Das Blaubuch. Ein Dokument über die An-
fänge der Soziologie in Göttingen nach 1945 unter Helmuth Plessner, in: Jahrbuch für
Soziologiegeschichte 1997/98 (2001), S. 243–300. – Plessners Schüler aus der niederlän-
dischen Zeit, v. a. die ihm persönlich stark verbundenen Philosophen L. Nauta und J. Gla-
stra van Loon, arbeiten sachlich nicht im Umkreis der Philosophischen Anthropologie.
193 V. a. F. Jonas: Ders., Geschichte der Soziologie IV. Deutsche und amerikanische Sozio-

logie. Mit Quellentexten, Reinbek b. Hamburg 1968. Ders., Die Institutionenlehre Ar-
nold Gehlens, Tübingen 1966. Ders., Technik als Ideologie, in: H. Freyer/J. C. Papalekas/
G. Weippert (Hrsg.), Technik im technischen Zeitalter, Düsseldorf 1965, S. 109–136.
194 Der publizistisch wirksamste Schüler Plessners wurde Ch. Graf v. Krockow, der ne-

ben der Sportsoziologie viele weitere Denkmotive Plessners v. a. zur »Öffentlichkeit« in


der Mentalitätsforschung und der politischen Soziologie eigenständig weiterentwickelte
und prägnant in der Öffentlichkeit vertrat, zunächst in der Auseinandersetzung mit
Rechtsintellektuellen, später mit Linksintellektuellen: Ch. Graf v. Krockow, Die Ent-
scheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt und Martin Heidegger
(Göttinger Abhandlungen zur Soziologie unter Einschluss ihrer Grenzgebiete, hrsg. v.
H. Plessner), Stuttgart 1958. Ders., Herrschaft und Freiheit. Politische Grundpositionen
der bürgerlichen Gesellschaft, Stuttgart 1977.
195 Man kann unterstellen, dass die genannten Autoren vom Textkanon der Philosophi-

schen Anthropologie mindestens immer Schelers ›Stellung des Menschen im Kosmos‹,


Gehlens ›Der Mensch‹, Plessners ›Stufen des Organischen und der Mensch‹ (v. a. das
7. Kapitel über die »Sphäre des Menschen«) gut kannten, außerdem Gehlens ›Urmensch
und Spätkultur‹, ›Die Seele im technischen Zeitalter‹, in jedem Fall auch Portmanns
›Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen‹ und Plessners ›Lachen und Wei-
nen‹ – abgesehen von kleineren Aufsätzen.
196 1970 entfaltet G. Dux zum ersten Mal sein eigenes Konzept einer historisch-geneti-

schen Anthropologie in der Einführung zu Plessners Werk: G. Dux, Helmuth Plessners


philosophische Anthropologie im Prospekt. Ein Nachwort, in: H. Plessner, Philosophi-
sche Anthropologie. Lachen und Weinen. Das Lächeln, hrsg. v. G. Dux, Frankfurt a. M.
1970, S. 255–316. Ders., Anthropologie und Soziologie. Zur Propädeutik gesamtgesell-

394 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer

https://doi.org/10.5771/9783495999899
Driften (1961–1969)

scher Erhebung und kritischer Verwerfung (durch konservative Kul-


turkritik oder neomarxistische Gesellschaftskritik) in den Blick zu
bekommen. 197

Zu einer Schlüsselfigur für eine unspektakuläre, aber konsequente


Ausschöpfung der Philosophischen Anthropologie für eine »anthro-
pologische Soziologie« entwickelte sich Heinrich Popitz, der Meister
der kleinen Form. Seit 1964 vom neuen, ersten soziologischen Lehr-
stuhl in Freiburg aus lehrend, gewannen seine Theorieminiaturen
zur »sozialen Norm«, »sozialen Rolle«, zu »Prozessen der Machtbil-
dung« – konsequent Fragen der allgemeinen Soziologie aus einem
anthropologischen Horizont entwickelnd – in der soziologischen Dis-
kussion immer neu und schließlich bleibendes Gewicht. Dabei über-
rascht es nicht, dass Popitz das Thema seiner (mit Bahrdt u. a. unter-

schaftlichen Verhaltens. Helmuth Plessner zum 80. Geburtstag, in: Kölner Zeitschrift
für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 24 (1972), S. 425–454. Dux wurde später auch
einer der Herausgeber von Plessners Gesammelten Schriften (zus. mit O. Marquard und
E. Ströker). Er reformuliert Plessners konstruktiv angelegte Charakterisierung der »ex-
zentrischen Positionalität« historisch-genetisch als Übergang von Natur zum Geist,
vom Tier zur Lebensform des Menschen: dabei rekonstruiert er eine Handlungslogik,
also auch unter Bezug auf ein Motiv Gehlens, innerhalb der sozialkognitiven, geneti-
schen Erkenntnistheorie von Piaget, abzielend auf eine ontogenetische und historische
Logik von Weltbildern und Gesellschaftsgeschichte: G. Dux, Die Logik der Weltbilder.
Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte, Frankfurt a. M. 1982. Vgl. zur späteren Ent-
wicklung des Verhältnisses von Dux und der Philosophischen Anthropologie: G. Dux/
U. Wenzel (Hrsg.), Der Prozeß der Geistesgeschichte. Studien zur ontogenetischen und
historischen Entwicklung des Geistes, Frankfurt a. M. 1994.
197 Auch für den sehr eigenständig vorgehenden philosophisch geschulten Friedrich

Tenbruck, der Anfang der 1950er Jahre zunächst als Assistent am Institut für Sozial-
forschung bei Horkheimer wirkte, bildete seit Ende der 1950er Jahre die Philosophische
Anthropologie die Hintergrundtheorie seiner verschiedenen soziologischen Interessen,
die schließlich in das Vorhaben einer Rehabilitierung der Kultursoziologie gegenüber
der ›Struktursoziologie‹ mündeten. In seiner Habilitationsschrift ›Geschichte und Ge-
sellschaft‹ (1962), veröffentlicht Berlin 1986, schrieb er (S. 76): »Auf der Höhe der ge-
genwärtigen Wissenschaft und, fügen wir hinzu, auch des sachlichen Problems einer
Theorie des menschlichen Handelns, scheinen uns allein die in sich durchaus verschie-
denartigen Beiträge, die wir neuerdings kurzweg unter dem Stichwort Anthropologie
zusammenzufassen gewohnt sind, also im deutschsprachigen Gebiet etwa die Arbeiten
von Plessners, Portmanns und Gehlens von Bedeutung.« – Tenbruck teilte später mit
Schelsky dessen Distanz zur Disziplin Soziologie innerhalb der Disziplin; er war auch
mit Beiträgen vertreten sowohl in der Gehlen-Festschrift (hrsg. v. E. Forsthoff/R. Hörs-
tel 1974) wie in einer der Schelsky-Festschriften (hrsg. v. H. Baier 1977). Zu Tenbruck
C. Albrecht (m. W. Dreyer/H. Homann), Einleitung der Herausgeber, in: F. H. Ten-
bruck, Perspektiven der Kultursoziologie. Gesammelte Aufsätze, Opladen 1996, S. 7–24.

Philosophische Anthropologie A 395


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

nommenen) konkreten industriesoziologischen Studie ›Technik und


Industriearbeit‹, die aus einem philosophisch-anthropologischen
Hintergrund angelegt war, langfristig in eine »Anthropologie der
Technikgeschichte« als »Geschichte produktiver Umweghandlun-
gen« überführte. Er rekonstruierte sie als eine Steigerungsgeschichte
›natürlicher Künstlichkeit‹ und ›vermittelter Unmittelbarkeit‹
(»Technologie des Werkzeugs«, »Technologie der Agrikultur«,
»Technologie der Feuerbearbeitung«, »Technologie des Städtebaus«,
»Technologie der Maschine«, »Technologie der Chemie«, »Techno-
logie der Elektrizität«), die die »Indirektheit« der Menschen im Ver-
hältnis zur Natur erhöht (ein Ding wird bearbeitet, um es zur Be-
arbeitung anderer Dinge geeignet zu machen). Aber auch bereits der
Ursprung dieser Technikgeschichte bildet im Verbund mit künst-
lichen Sozialstrukturen den »Aufbruch zur artifiziellen Gesellschaft«
– nicht erst ein späteres Stadium. 198 Körperanthropologische Studien
von Alsberg, Hans Jonas (dem er sein Technikbuch widmen wird)
und Erwin Straus auswertend, die differenten Beschreibungen Geh-
lens (Organmängel des Menschen) und Lorenz’ (Organspezialisie-
rung des Menschen) vermittelnd, fundierte Popitz die »Anthropo-
logie der Werkzeugtechnik« in der menschlichen »Hand«, im
»technischen Handeln mit der Hand« als einem von unmittelbaren
Lebensfunktionen entlastetes, für vielfältige Leistungen offenes, ge-
eignetes – psychophysisch neutrales – Organ. »Das Vermögen, tech-
nisch zu handeln, ist bereits angelegt in der organischen Grundaus-
stattung des Menschen. Es ist angelegt in der menschlichen Hand –
einem technisch immens brauchbaren Organ«.
In den Popitz-Studien zu ›Rolle‹, ›Norm‹ und ›Macht‹, die die
größte Aufmerksamkeit fanden, ist die philosophisch-anthropologi-
sche Filiation noch deutlicher. Wird in der Studie zum ›Begriff der
Rolle als Element der soziologischen Theorie‹ 199 die Plessnersche The-
se von der »Struktur des Doppelgängertums« 200 direkt fortgeführt, so
in den Studien zur »normativen Konstruktion der Gesellschaft« 201 in-

198 H. Popitz, Der Aufbruch zur artifiziellen Gesellschaft. Zur Anthropologie der Tech-

nik (1989), Tübingen 1995, S. 8. Darin: Technisches Handeln mit der Hand. Zur Anthro-
pologie der Werkzeugtechnik, S. 44–78.
199 H. Popitz, Der Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischen Theorie.

Freiburger Antrittsvorlesung vom 7. Juli 1966 (Erweiterte Fassung) (1967), 4. Aufl. Tü-
bingen 1975.
200 Ebd., S. 17.

201 H. Popitz, Die normative Konstruktion von Gesellschaft, Tübingen 1980 (den Kern

396 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

direkt die Gehlensche Institutionentheorie; beide Male die entspre-


chenden einschlägigen soziologischen Autoren (Simmel, Geiger) in
der Philosophischen Anthropologie fundierend und die jeweiligen Ka-
tegorien zugleich mit ihnen anreichernd und differenzierend. Soziale
Rollen – »im Schnittpunkt sozialer Normierung und positioneller
Differenzierung« 202 – sind möglich und universell, weil Menschen
auf Grund ihrer konstitutionellen Unberechenbarkeit füreinander
immer – durch lernende Übereinkunft in einer Serie von Abstrakti-
onsprozessen – bestimmte gleichförmige Verhaltensweisen erfinden,
die in Form von sanktionierten Normen spezifischen Positionen zuer-
wartet werden. Wegen seiner anthropologischen Konstitution ist das
Phänomen sozialer Normen universell, denn nur durch die institutio-
nelle Koppelung von verpflichtenden Verhaltensregelmäßigkeiten
und konflikthaften (eigentlich normverletztenden) Sanktionshand-
lungen im Fall der Unregelmäßigkeit bilden sich Verhaltensspiel-
räume durch Einschränkung der Offenheit. Die »exzentrische Positio-
nalität« bildet den Quell für die »soziale Negation«, damit für
Normierung und Sanktionierung, aber auch für Abweichung. 203
Den Höhepunkt seines Konzepts, Klassiker der Soziologie an
eine »anthropologische Soziologie« anzuschließen und dabei ihre
Einsichten aufzuschließen, erreicht Popitz in den Arbeiten über
Machtprozesse 204, Gewalt und Herrschaft mit Bezug auf Max Weber.
Webers neukantianische »Idealtypen« werden phänomenologisch-
anthropologisch aufgewiesen. Wie Weber bestimmt er Macht als so-
ziale Beziehung mit der Chance, die eigene Handlungsintention auch
gegen den Willen anderer durchzusetzen. Anders als Weber, der
Macht in verschiedenen, nicht zu systematisierenden Ursachen
(›gleich worauf die Chance beruht‹) sieht, klärt Popitz die Macht-
beziehung als eine spezifisch menschliche Lebensbeziehung auf, die
auf distinkten komplementären Möglichkeiten des Tuns/des Durch-

des Buches bildet die Baseler Antrittsvorlesung 1961: Soziale Normen, in: Europäisches
Archiv für Soziologie, 1961/2).
202 Ebd., S. 20.
203 H. Popitz, Die Erfahrung der ersten sozialen Negation. Zur Ontogenese des Selbst-

bewußtseins, in: M. Baethge/W. Eßbach (Hrsg.), Soziologie – Entdeckungen im Alltäg-


lichen. Festschrift für Hans Paul Bahrdt zum 65. Geburtstag, Frankfurt a. M./New York
1983, S. 17–32. – Vgl. auch den Popitz-Schüler T. v. Trotha, Exzentrische Position,
Norm und Abweichung. Sozialphilosophische und soziologische Überlegungen über
die Universalität von Norm und Abweichung, in: Archiv für Rechts- und Sozialphiloso-
phie Jg. LXIV (1978), S. 305–331.
204 H. Popitz, Prozesse der Machtbildung, 2. Aufl. Tübingen 1969.

Philosophische Anthropologie A 397


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

setzens und des Leidens/der Ohnmacht beruhen. »Die implizite An-


thropologie des Macht-Konzepts muss theoretisch explizit gemacht
werden […]. Es läßt sich zeigen, dass dieses Durchsetzungsvermögen
mit verschiedenen, bestimmbaren Handlungsfähigkeiten und ver-
schiedenen, bestimmbaren vitalen Abhängigkeiten verbunden ist.
Im Versuch, diese Fähigkeiten und Abhängigkeiten genauer zu fas-
sen, bin ich auf vier anthropologische nicht weiter reduzierbare Be-
dingungen gestoßen«: Der ersten Möglichkeit, der »verletzenden
Aktionsmacht« entspricht das Potential des Schmerzes, die konstitu-
tive »Verletzungsoffenheit« des Menschen. Allem Leben kann das
Leben genommen werden, »doch die Ausgesetztheit des mensch-
lichen Körpers ist besonders sinnfällig. Ohne Fell und Panzer, in auf-
rechter Haltung, sind seine vitalen Organe offen für den Angriff von
außen […]. Zur kreatürlichen Verletzbarkeit kommt die ökonomi-
sche Verletzbarkeit« (Raub, Zerstörung, Einschränkung des Zugangs
zur Subsistenz) und »schließlich die Verletzbarkeit durch den Entzug
sozialer Teilhabe […]. Der Verlust von Zugehörigkeiten kann in
einer unendlichen Reihe von Ausgrenzungen und Herabsetzungen
die individuelle Existenz bedrohen.« 205 Die zweite Form der Macht,
die »instrumentelle Macht«, beruht auf der Vorstellungskraft des
menschlichen Lebewesens, seiner antizipierenden Phantasie: er kann
sich oder anderen glaubhaft die Möglichkeit von Verletzung oder
Belohnung »vorstellen« als Drohung oder Versprechen und damit
die Handlungsfähigkeit des angesichts dieser Erwartung Nachgeben-
den auf Dauer ausbeuten. Für die dritte Form der Machtbeziehung,
die »autoritative Macht«, bildet die »anthropologische Basis […] die
Orientierungsbedürftigkeit des Menschen, die Maßstabs-Bedürftig-
keit des Menschen.« »Die Autoritätsbeziehung beruht auf einem
zweifachen Anerkennungsprozess: Auf der Anerkennung der Über-
legenheit anderer als Maßsetzenden […] und auf dem Streben, von
diesen Maßgebenden selbst anerkannt zu werden, Zeichen der Be-
währung zu erhalten.« »Die Macht des Datensetzens« schließlich –
die vierte anthropologische Machtmöglichkeit –, die technische Ver-
änderung der Natur (wer Wohnsiedlungen baut, entscheidet über
Zwänge, Gelegenheiten, Wünsche, Verhaltensnormen der künftigen
Bewohner) übt objektvermittelt über die Artefakte Macht über Men-
schen aus. Den frühen Kern von Popitz’ Machtanthropologie bildete
eine über Webers Definitionen hinausgehende ingeniöse Analyse des

205 H. Popitz, Phänomene der Macht. 2., stark erw. Aufl., Tübingen 1992, S. 23 f.

398 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

»Prozesses« von Machtbildungen aus konkreten Situationen über


Machtnahme, Machtaufbau und Machterhaltung hin zu dauerhaften
Herrschaftsgefügen, am Beispiel von kleinen, von der Umwelt eini-
germaßen isolierten Gruppen, die nicht gleich auseinanderlaufen
können: auf einem Schiff, wo es um die Vergabe knapper Liegestühle
geht, in einem Gefangenenlager, wo es zum Bau eines Herdes durch
eine kleine Gruppe kommt, in einem Knabeninternat, wo es durch
ein System der Umverteilung von Ressourcen zur hierarchischen
Staffelung von Gruppen kommt. »Die Ausdifferenzierung von
Machtzentren kommt«, so der junge Luhmann in seiner bewundern-
den Besprechung von Popitz’ Studie, »nahezu zufällig auf Grund mi-
nimaler Unebenheiten der Lage zustande, um dann mit einer ›absur-
den Selbstverständlichkeit‹ zu sich selbst verstärkenden Strukturen
aufzulaufen.« Luhmann lässt anklingen, dass Popitz, der in den
1940er Jahren im Haus seines Vaters Carl Schmitt kennenlernte, die
aktionstheoretische Macht-Literatur eines Plessner, Gehlen und
Schelsky aus den 20er und 30er Jahren vertraut war: »Nicht ohne
die Sünde der Sympathie für die absurd erfolgreichen Machthaber
ein wenig auszukosten, beschreibt Popitz, wie kleine Ursachen große
Wirkungen haben können. Das erste Beispiel, die Verteilung knapper
Liegestühle auf einem Schiff, lehrt, dass schon die verteidigungs-
bereite Inbesitznahme durch eine Teilgruppe ihr den ausschlag-
gebenden Vorteil besserer Organisationsfähigkeit verschafft, der ihre
Macht auf Dauer konsolidiert. Im Gefangenenlager ist es die etwas
stärkere Solidarität einer Teilgruppe, dass heißt höhere Bereitschaft,
unter sich zu teilen und zu helfen, die es ermöglicht, eine Tauschbasis
zu schaffen, die das ganze Lager in Abhängigkeit bringt. Im Jugend-
erziehungslager schaffen erste Akte erfolgreicher Gewaltanwendung
die Möglichkeit, das System in Diener und Opfer einer herrschenden
Gruppe zu differenzieren.« Darüber hinaus findet Luhmann »ein-
drucksvoll, wie Popitz auf dieser Grundlage den herrschenden Legi-
timitätsbegriff unterlaufen kann. Macht beruhe auf einer Differen-
zierung von Chancen, die in sich selbst einen Ordnungswert habe.
Ordnung werde geschätzt. Andere, konkurrierende Ordnungen seien
nur schwer und nur abstrakt ausdenkbar. Dadurch habe die Macht
eine ›Basislegitimität‹, auf Grund derer der Legitimitätsglaube sich
dann wie von selbst einstelle.« Macht sei in Herrschaft überführt. 206

206 N. Luhmann, Besprechung: H. Popitz, Prozesse der Machtbildung, in: Soziale Welt,

Jg. 19 (1968), S. 369–370.

Philosophische Anthropologie A 399


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Popitz bezieht in seinem anthropologischen Macht-Konzept


»Gewalt« körperanthropologisch strikt auf die »Verletzungsoffen-
heit« des Menschen, was ihm ermöglicht, die »Entgrenzung des
menschlichen Gewaltverhältnisses« zu thematisieren. »Die relative
Instinktentbundenheit des Handelns und die relative ›Realitätsent-
bundenheit‹ unserer Vorstellungskraft«, ihre »Uferlosigkeit«, sind
die »anthropologische Basis dieser Entgrenzung«: »Der Mensch
muß nie, kann aber immer gewaltsam handeln, er muß nie, kann aber
immer töten – einzeln oder kollektiv – gemeinsam oder arbeitsteilig
– in allen Situationen, kämpfend oder Feste feiernd – in verschiede-
nen Gemütszuständen, im Zorn, ohne Zorn, mit Lust, ohne Lust,
schreiend oder schweigend (in Todesstille) – für alle denkbaren Zwek-
ke – jedermann.« 207 Der Tod ist für das menschliche Lebewesen
machbar. »Das Bewußtsein des Töten-Könnens, [der] Selbsttötung
wie die Tötung anderer« entspringt für Popitz derselben Wurzel wie
die menschliche »Kreativität«: der Entgrenzung eines extra-positio-
nalen Lebewesens. Seine späten Studien wird Popitz Basisprozessen
der wissenschaftlichen Neugier, der künstlerischen Gestaltung, der
religiösen Sinnstiftung widmen entlang der Kategorie der »Allozen-
trik«. »Zur Anthropologie, zur Logik des Anthropos […] gehört die
Begabung zur Allozentrik.« 208 Diese Kategorie, die bei René Spitz auf
die Kompetenz zum Perspektivenwechsel in sozialen Beziehungen
eingeschränkt ist, wird von Popitz anthropologisch gefasst, als Bedin-
gung der spielenden, erkundenden, gestaltenden Phantasie, in der die
Welt im Licht des Anders-Möglichen ergründet wird (einschließlich
der Kommunikation): »Die Begabung zur Allozentrik […] bezieht
sich viel allgemeiner auf eine Möglichkeit des menschlichen Weltver-
hältnisses, einschließlich der Subjekt-Objekt-Beziehung«. Damit hat
Popitz eine Kernkategorie der Philosophischen Anthropologie, die
»exzentrische Positionalität«, reformuliert und für die Erschließun-
gen im Feld des Wissens, der Kunst und der Religion fruchtbar ge-
macht. 209

207 Popitz, Phänomene der Macht, a. a. O., S. 50. – Aus diesem aus der philosophisch-

anthropologischen Denktradition heraus entwickelten Macht- und Gewaltkonzept ha-


ben später jüngere Forscher, wie z. B. der Bahrdt-Schüler W. Sofsky – unter Hinzuzie-
hung von Canettis ›Masse und Macht‹ – Gewaltphänomene der Moderne neu zu
erfassen versucht: W. Sofsky, Traktat über die Gewalt, Frankfurt a. M. 1996.
208 H. Popitz, Wege der Kreativität, Tübingen 1997, S. 98.

209 H. Popitz, Die Kreativität religiöser Ideen. Zur Anthropologie der Sinnstiftung, in:

Grenzenlose Gesellschaft? Verhandlungen des 29. Kongresses der Deutschen Gesell-

400 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer

https://doi.org/10.5771/9783495999899
Driften (1961–1969)

Die Verwandlung der Theoreme der Philosophischen Anthropologie


in Prämissen der soziologischen Forschung und Theoriebildung lässt
sich deutlich auch bei Hans Paul Bahrdt erkennen. Bahrdt wurde
1962 Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Soziologie in Göttingen,
den sein »verehrter Lehrer und Doktorvater Plessner eingenommen
hatte«. 210 Aus den gemeinsamen soziologischen Forschungen zur
Arbeitswelt der Industrieproduktion mit Popitz übernahm Bahrdt
die »arbeitssoziologische Betrachtungsweise« auch für die Dienst-
leistungsebene, das »Büro«, indem er im industrialisierten Büro-
betrieb die Wandlung von »Arbeitssituationen« untersuchte und in
ihren organisations- berufs- und letztlich klassensoziologischen
Konsequenzen reflektierte. Sein Forschungsresümee von der tenden-
ziellen »Enthierarchisierung« der Arbeitsbeziehungen auf Grund ei-
nes hohen Technisierungsgrades, verknüpft mit einer Angleichung
von Arbeiter- und Angestelltentätigkeiten – bei ausbleibender Pro-
letarisierung –, bestätigte indirekt Schelskys Diagnostik der »nivel-
lierten Mittelstandsgesellschaft« als neuer Variante der modernen
bürgerlichen Gesellschaft: »Je mehr die Büroarbeit maschinisiert
und automatisiert wird, desto nachdrücklicher werden die Koopera-
tionsbedürfnisse einen Umbau der Büroorganisation verlangen, der
auf eine ähnliche Relativierung des hierarchischen Prinzips hinaus-
läuft wie in der Produktion.« »Die ›Herrschaft‹ in Form der Kontrol-
le, des Befehls, der persönlichen Entscheidung« – so resümiert Schel-
sky 1961 in seinem Vortrag ›Der Mensch in der wissenschaftlichen
Zivilisation‹ die Forschungsergebnisse von Bahrdts Studien – »tritt
gegenüber der Tatsache zurück, daß die Ratio der Apparate und Ma-
schinen dem Arbeiter immer einsehbarer wird und als technischer
Leistungsanspruch unmittelbar sozial von ihm gedeutet werden
kann. Herrschaftsdisziplin wird zur Sachdisziplin umgeformt.« 211
Und Schelsky zitiert zustimmend aus Bahrdts ›Soziologie des indus-
trialisierten Bürobetriebes‹ dessen Beobachtungen von »Arbeits-
situationen«, die »die Stellung des Vorgesetzten und die Disziplin
des Untergebenen« als gewandelt erscheinen lassen: »Gewiß muß
der Vorgesetzte Aufträge erteilen. Es hat aber keinen Sinn, die Auf-

schaft für Soziologie in Freiburg 1998, hrsg. v. C. Honegger/St. Hradil/F. Traxler, Teil 2,
Opladen 1999, S. 691–708.
210 H. P. Bahrdt, Selbst-Darstellung. Autobiographisches, a. a. O., S. 45.

211 H. Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation (1961), in: Ders., Auf

der Suche nach Wirklichkeit, a. a. O., S. 457.

Philosophische Anthropologie A 401


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

tragserteilung in die Gestalt eines Befehls zu kleiden. Vielmehr muss


der Auftrag im Zwiegespräch erklärt werden. Ist er begriffen, haben
sich alle Bedenken und Unklarheiten erledigt, dann bedarf es keines
Kommandos mehr. Die Sache spricht für sich selbst. Sie kann nur so
und nicht anders erledigt werden.« Und Bahrdt fährt in der Beschrei-
bung dieses tendenziellen Überganges von der personen- und amts-
gebundenen Autorität zur Sachautorität, vom Sprechakt des Befehls
zum Sprechakt argumentativer Kommunikation fort: »Selbstver-
ständlich ist auch jetzt gelegentlich die Kritik des Vorgesetzten nötig.
Aber sie findet im Allgemeinen in der Form statt, daß der Vorgesetzte
seinem Untergebenen einen Denkfehler nachweist bzw. durch gut
gestellte Fragen ihn diesen Fehler selbst finden läßt. Ist er gefunden
und verstanden, dann ist wiederum kein Machtspruch mehr möglich.
[…] Das Vorgesetztenverhältnis versachlicht sich also, es reduziert
sich auf einen Gedankenaustausch, in dem derjenige, der über mehr
Erfahrung und Begabung besitzt, das Übergewicht besitzt.« 212
Methodisch entscheidend war für Bahrdt – wie schon in der Un-
tersuchung zu ›Technik und Industriearbeit‹ – auch für die Un-
tersuchung zur »Industriebürokratie« die phänomenologische Ver-
gewisserung der »sozialen Situation«, der »Arbeitssituation«: die
unmittelbare Beobachtung und Analyse der durch technische Neue-
rungen veränderten Arbeitsvollzüge und ergänzend Selbstbeschrei-
bungen und Urteile evozierende Gespräche mit den Beschäftigten
über die soziale »Arbeitssituation« – wie sie für das Erleben der Be-
schäftigten (– hier der »Angestellten«) – gegeben ist und insofern die
Verhältnisse auch ihr Verhalten bestimmt. Bahrdt – wie auch Popitz –
zogen ihr soziologisches Selbstbewusstsein bei der gegenwartsdiag-
nostischen Deutung – auch im Vergleich zur Kölner Schule, zur Kri-
tischen Theorie der Frankfurter Schule und teilweise auch gegenüber
Schelsky – daraus, dass sie mit ihren phänomenologisch-empirischen
Studien der Industrie- und Arbeitssoziologie über Kernzonen bun-
desrepublikanischer Lebenswelt informiert waren, intellektuelle An-
schauung gewonnen hatten. 213

212 H. P. Bahrdt, Industriebürokratie. Versuch einer Soziologie des industrialisierten

Bürobetriebes und seiner Angestellten, Stuttgart 1958, S. 90.


213 In der methodischen Nachfolge der für die Arbeitssoziologie paradigmatischen Po-

pitz-Bahrdt-Studien stehen auch noch die späteren industriesoziologischen Studien der


Bahrdt-Schüler H. Kern und M. Schumann, die phänomenologische Situationsanalysen
in Industriebetrieben mit gesellschaftstheoretischen Kategorien der Politischen Ökono-
mie zusammenführten. Durch die Arbeitssituationsanalyse v. a. in der neueren Auto-

402 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer

https://doi.org/10.5771/9783495999899
Driften (1961–1969)

Bahrdts epochemachendes Buch in der deutschen Soziologie war seine


anthropologisch-soziologische Theorie der »modernen Großstadt«
(1961). 214 In seiner Kritik zweier – praktisch folgenreicher – Groß-
stadtdiskurse der Moderne, nämlich einer »Kritik der romantischen
Großstadtkritik« (der Gartenstadtbewegung) einerseits und der Kritik
der rationalen Großstadtplanung andererseits (Le Corbusier, Hilbers-
heimer: die funktionelle Stadt), griff er zurück auf die strukturelle
Polarisierung des Öffentlichen und des Privaten als Grundformen
städtischer Vergesellschaftung. Der langfristige Erfolg von Bahrdts
Soziologie der großen Stadt lässt sich nur damit erklären, dass er die
implizite Anthropologie der Weberschen Bestimmung der »okziden-
talen Stadt« explizit machte, indem er – wie ähnlich Popitz für Webers
Macht- und Herrschaftsbegriffe – dessen neukantianisch gebildete
»Idealtypen« – in diesem Fall die »Stadt« (als Marktvergesellschaf-
tung) – in eine philosophisch-anthropologisch aufgeklärte soziale
und bauliche Konfiguration überführte 215 , in eine Entdeckung, die
menschliche Lebewesen bei Gelegenheit der Erfindung der Stadt an
sich gemacht haben: »Öffentlichkeit und Privatheit als Grundprinzi-
pien städtischer Soziierung.‹« 216 . Die von Weber 217 gesetzte Marktver-

mobilindustrie (dem Ursprungsort für das fordistische Massenproduktionsregime der


kapitalistischen Ökonomie) beobachteten sie die Transformation der rationalisierenden
Produktionskonzepte hin zur Reintegration der »lebendigen Arbeit«, so dass sie die
innerhalb der Logik der Kapitalismustheorie liegende Erwartung ständiger Steigerung
der Taylorisierung der Arbeit revidierten. H. Kern/M. Schumann, Das Ende der Ar-
beitsteilung? Rationalisierung in der industriellen Produktion, München 1984.
214 H. P. Bahrdt, Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum modernen

Städtebau, Reinbek b. Hamburg 1961. – H. P. Bahrdt, Öffentlichkeit und Privatheit.


Überlegungen zu ihrer Kommunikations- und Interaktionsstruktur, in: H. Evers
(Hrsg.), Sozialpsychologie. Die Psychologie des 20. Jahrhunderts: Bd. 8, München 1979,
S. 510–518.
215 Bahrdt stützte sich ausdrücklich auf sozialgeschichtliche und soziologische Vorarbei-

ten zum »Sozialgebilde der modernen Stadt«, die dem Leipziger Kreis um Freyer zuzu-
rechnen waren: G. Ipsen, Artikel: Stadt (IV), in: Handwörterbuch der Sozialwissen-
schaften, Bd. 9, Tübingen/Göttingen 1956, S. 786 ff., und die Studien von E. Pfeil, v. a.
ihren Beitrag ›Soziologie der Großstadt‹ in dem von Gehlen und Schelsky organisierten
Buch: Soziologie. Ein Lehr- und Handbuch zur modernen Gesellschaftskunde, Düssel-
dorf/Köln, 3. Aufl. 1955.
216 H. P. Bahrdt, Die moderne Großstadt, a. a. O., S. 59.

217 Auf dem für die für die bundesrepublikanische Soziologie wichtigen Kongress ›Max

Weber und die Soziologie heute‹ 1964 verfasste eine philosophisch-soziologische Göt-
tinger Gruppe um Bahrdt den Tagungsbericht: H. P. Bahrdt, E. Bubser, H. P. Dreitzel u.
K. Thomas, Max Weber und die Soziologie heute. Rückblick auf einen Kongress, in:
Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 17 (1965), S. 791–813.

Philosophische Anthropologie A 403


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

gesellschaftung ist so gesehen Prototyp einer »Öffentlichkeit« als


»unvollständiger Integration«: »Beliebige, flüchtige, dennoch nach
strengen Regeln verlaufende soziale Kontakte auf Märkten zwischen
beinahe einander unbekannten Individuen bei gleichzeitig möglicher
Ausklammerung der jeweiligen Sozialgefüge, denen diese Individuen
sonst noch angehören.« 218 »Soll die Situation, in die der Mensch in
einer unvollständig integrierten Umwelt gerät, bewältigt werden, so
bedarf es einer Stilisierung des Verhaltens, die schließlich zu einer
Umformung der sozialen Verhältnisse überhaupt führt.« Das »dar-
stellende Verhalten« müsse einerseits »verhüllen, was der nur be-
schränkt kalkulierbaren sozialen Umwelt vorenthalten werden soll,
andererseits ihr all das, was für sie bestimmt ist, deutlich genug zeigen,
damit auch im flüchtigen Kontakt ein Arrangement gelingt.« 219 »Es
genügt nicht, mit den anderen nur technisch ›zurechtzukommen‹ :
Man will, so flüchtig der Kontakt immer ist, als etwas gelten.« »Die
wichtigste Stilisierung des Verhaltens, die die Brücke über die Distanz
schlägt, ist die Repräsentation, die […] sehr verschiedene Formen
haben kann. Sie äußert sich in besonderen Umgangsformen, spezi-
fischen Formen der Geselligkeit, in der Kleidung, in charakteristi-
schen Bauformen […], und selbstverständlich in politischen Gebilden
eigentümlicher Art«, der »politischen Öffentlichkeit«. 220 Die so in dis-
tanzierter Kommunikation bewältigte »lückenhafte«, »unvollständi-
ge Integration« der Öffentlichkeit weckt zugleich das Bedürfnis zur
Privatisierung, ist aber auch Voraussetzung dafür, dass diese kultiviert
werden kann. Die Absonderung und Aussonderung gewisser Bezirke
des Lebens ist nur dann denkbar, »wenn jene unvollständige Integra-
tion vorliegt […], d. h. wenn Beliebigkeit und Distanz charakteristisch
sind für einen Großteil der sozialen Kontakte«. »Wo sich eine private
Sphäre entfaltet, gewinnt das Leben an seelischer Differenziertheit.
Das Zusammenleben und auch das individuelle Dasein erhalten all-
mählich […] einen Nuancenreichtum, der ohne die Abschirmung
nach außen immer wieder kupiert würde.« 221 Die Stadt ist nun da-
durch charakterisiert, »dass die Dualität und das Wechselverhältnis
von Öffentlichkeit und Privatheit das ganze Leben zu beherrschen
beginnen, und zwar aller, die am städtischen Leben teilnehmen« –

218 H. P. Bahrdt, Die moderne Großstadt, a. a. O., S. 38.


219 Ebd., S. 43.
220 Ebd., S. 42.
221 Ebd., S. 54.

404 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

immer mehr Verhaltensweisen, Geschehnisse, Institutionen werden


entweder der privaten Sphäre vorbehalten oder in die Öffentlichkeit
verwiesen.
Dass Bahrdt hier Plessners bereits in den ›Grenzen der Gemein-
schaft‹ von 1924 unternommene sozialphilosophische Auszeichnung
der »Gesellschaft«, obwohl er sie nicht erwähnt, in eine »soziologi-
sche Theorie der Stadt« übersetzte, ist offensichtlich. Dabei verknüpf-
te er, und das war die Innovation, in der Theorie des städtischen Lebens
das Interesse an deren Sozialformen mit dem Interesse an deren »Bau-
formen«, in denen diese Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit
ihre architektonische Ausdrucksgestalt gewinnt. Er gibt also eine in-
tegrale Stadt- und Architektursoziologie, ein »Verständnis der Stadt
als eines sozialen und baulichen Zusammenhanges«. 222 Von dieser
philosophisch-anthropologischen Stadttheorie aus beobachtet er die
Krise der städtischen Lebensform in der »modernen Großstadt« ange-
sichts von Veränderungen am Öffentlichkeitspol wie am Privatheits-
pol, Verfallsformen des öffentlichen Raumes (»Verkümmerung unse-
rer öffentlichen Plätze und Straßen zur bloßen Verkehrsfläche«,
»Verfall der kommunalen Öffentlichkeit«) und des privaten Raumes
(»die Ideologisierung des privaten Heims« 223 ): »Das Gleichgewicht
von Öffentlichkeit und Privatheit ist gestört.« 224 Diese Beobachtung
führt ihn nicht zur Verwerfung der Großstadt als »Irrtum« mensch-
lichen Lebens (›Vermassung‹ und ›Vereinzelung‹), sondern zum Ein-
satz »für eine Urbanisierung der Großstadt […], d. h. für eine Stadt, in
der die frühere fruchtbare Wechselwirkung von Privatheit und Öf-
fentlichkeit, die für das städtische Leben konstitutiv sei, wieder
gewonnen würde.« Angesichts der Gleichgewichtsstörung des moder-
nen städtischen Lebens könne es nicht um die städtebauliche Rück-
kehr naturnaher und nachbarschaftlicher Lebensformen gehen, aber
auch nicht um die rationale städtebauliche Trennung von Funktionen,
sondern müsse es sich um die künstliche Wiederherstellung des öf-
fentlichen Raumes z. B. in der systematischen städtebaulichen Etab-
lierung von »Mischfunktionen« in der Stadt drehen. Mitten in der

222 Ebd., S. 138.


223 Ebd., 79. Er bezog sich auch auf »W. Benjamins Bemerkungen über das Interieur:
Schriften, hrsg. v. Th. W. Adorno, Frankfurt a. M. 1955, Bd. 1, S. 414 ff.« und kommen-
tierte: »Geistvoll, aber doch wohl ungerecht wird hier die extremste und notwendig
verlogene Form der bürgerlichen Privatsphäre als die schlechthin bürgerliche dar-
gestellt.«
224 H. P. Bahrdt, Die moderne Großstadt, a. a. O., S. 100.

Philosophische Anthropologie A 405


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Verdichtung der Lebensfunktionen konnten dann die »Distanzregeln«


gelten, die – wie Bahrdt einmal Plessners ›Grenzen der Gemeinschaft‹
resümierte – »ein Leben im Medium der Öffentlichkeit für Menschen
möglich machen, die auf ihre Verschiedenartigkeit insistieren, und in
der auch die – zweifellos lästigen – Künstlichkeiten des Rechtsstaats
und des politischen Spiels ihren Platz haben.« 225 Gerade mit Bahrdts
»Urbanitätstheorie« 226 wurde indirekt in der Plessner-Linie und paral-
lel zu dessen 1960 erneuter soziologischer Auszeichnung der »Öffent-
lichkeit« (gegen »die Idee der Entfremdung«) diese als ein Modus »re-
präsentativer Öffentlichkeit«, als dramaturgischer sozialer Raum der
stilisiert voreinander Erscheinenden thematisch; das war durchaus
eine Aufmerksamkeitsverschiebung gegenüber dem von J. Habermas
in diesem Zeitraum historisch rekonstruierten und mit dem Modus
rationaler »Kritik« ausgezeichneten Begriff »räsonnierender Öffent-
lichkeit«. Bahrdt, der in der Neuauflage von 1969 zu Habermas’
›Strukturwandel der Öffentlichkeit‹ Stellung bezog, teilte nicht den
»bei Habermas unverkennbaren Weg einer an dialektischen Denkmo-
dellen« gewonnenen umfassenden historischen Deutung der Moder-
ne: »Entstehung und Zerfall der bürgerlichen Öffentlichkeit spiegeln
zugleich Entstehung und Zerfall der bürgerlichen Gesellschaft.« 227
Bahrdt hielt es offensichtlich für eine soziologisch offene, auch städte-
baulich zu bewältigende Konstellation, ob unter den Bedingungen von
Industriegesellschaft, »Kapitalismus und städtische Öffentlichkeit«
das städtische Grundmuster der Polarität von Öffentlichkeit und Pri-
vatheit unter Einbindung ehemals »nichtbürgerlicher Schichten« sich
kontinuieren lasse.
Theoriesystematisch hat Bahrdt seit den 60er Jahren an einer

225 H. P. Bahrdt, Belehrungen durch Helmuth Plessner, in: Kölner Zeitschrift für Sozio-

logie und Sozialpsychologie, Jg. 34 (1982), S. 510 f. – Schon in einer nicht veröffentlich-
ten Festschrift (seiner unmittelbaren Schüler) für Plessner 1957 schrieb H. P. Bahrdt,
Über einige Formen des gesitteten Betragens, in: Gesellenstücke. Helmuth Plessner zum
65. Geburtstag, Göttingen 4. 9. 1957, S. 1–26. Nachlaß Plessner. – Noch ein später Bei-
trag, der ganz unbefangen Gebrauch macht von der ethologischen Forschung, nimmt
das Thema wieder auf: H. P. Bahrdt, Soziologische Überlegungen zum Begriff der ›Dis-
tanz‹, in: H. Oswald (Hrsg.), Macht und Recht. Festschrift für Heinrich Popitz zum
65. Geburtstag, Opladen 1990, S. 269–288.
226 U. Herlyn, Zum Bedeutungswandel der öffentlichen Sphäre. Anmerkungen zur Ur-

banitätstheorie von H. P. Bahrdt, in: W. Siebel (Hrsg.), Die europäische Stadt, Frankfurt
a. M. 2004, S. 121–130.
227 H. P. Bahrdt, Einleitung 1969, in: Ders., Die moderne Großstadt. Soziologische Über-

legungen zum Städtebau, hrsg. v. U. Herlyn, Opladen 1998, S. 31.

406 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

»Situationstheorie« gearbeitet und dabei versucht, den von ihm so-


wohl in seiner »Soziologie der Arbeit« wie der »Soziologie des städ-
tischen Lebens« entfalteten Forschungsansatz bei der »sozialen Si-
tuation« zum Kernthema einer soziologischen Theorie zu machen.
Nicht das soziale Handeln und nicht die sozialen Strukturen, sondern
die »soziale Situation« schien ihm die angemessene Grundeinheit
einer anthropologisch-phänomenologisch angelegten Soziologie. In
immer wieder aufgenommen Versuchen unter den Titeln »Aufbau-
elemente sozialer Situationen« und »Typen sozialer Situationen« 228
verknüpfte er Husserls Phänomenologie des »inneren Zeitbewußt-
seins« mit den philosophisch-anthropologischen Analysen zur Lage
eines »weltoffen« positionierten Lebewesens. Vor allem stützte er
sich auf die ihm seit langen vertrauten ›Untersuchungen zum Begriff
der Situation. Eine Studie im Grenzgebiet zur Ontologie und Anthro-
pologie‹, in der der Plessner-Schüler W. Finke eine Konstitutionsana-
lyse der »Situation« unter Auswertung der Theoreme von Husserl,
Hartmann, Heidegger, Sartre, Plessner, Scheler und Rothacker unter-
nommen hatte. 229 »Die große Fülle der Mitgegebenheiten und Ver-
weisungscharaktere, welche das Thema einer Situation umgeben und
›durchsäuern‹« – so Bahrdt –, »ist unter verschiedenen Aspekten zum
Gegenstand der Philosophischen Anthropologie gemacht worden,
wobei trotz aller Querverbindungen zur Phänomenologie oft ein an-
deres Vokabular benutzt wurde« – z. B. das der »Reizüberflutung« bei
Gehlen. »Außerdem bedingt die etwas anders gelagerte Fragestellung
und Methodik der anthropologischen Untersuchungen, dass oft
Aussagen gemacht wurden, welche den Bannkreis der phänomeno-
logischen Epoché [Urteilszurückhaltung] überschreiten.« Dement-
sprechend bezog Bahrdt die phänomenologischen Analysen zur

228 H. P. Bahrdt, Grundformen sozialer Situationen. Eine kleine Grammatik des All-

tagslebens, hrsg. v. U. Herlyn, München 1996. Es handelt sich um ein aus dem Nachlass
stammendes, teilweise durch andere Bahrdt-Texte ergänztes Typoskript, an dessen Fas-
sungen Bahrdt seit den 1960er Jahren arbeitete; in der publizierten Fassung rekurriert er
auch auf die Arbeiten von A. Schütz.
229 W. Finke, Untersuchungen über den Begriff der Situation. Eine Studie im Grenz-

gebiet von Ontologie und Anthropologie, Phil. Diss. Göttingen 1955. Diese philosophi-
sche Studie blieb unveröffentlicht. Bei J. Markowitz, der im Situationsbegriff eine Ver-
knüpfung von phänomenologischer Soziologie und Systemtheorie unternimmt (Die
soziale Situation. Entwurf eines Modells zur Analyse des Verhältnisses zwischen per-
sonalen Systemen und ihrer Umwelt, Frankfurt a. M. 1979) wurde die Arbeit von Finke
unter dem Stichwort »Neue Ansätze« neben denen von H. P. Dreitzel und A. Schütz
besprochen und kritisch gewürdigt.

Philosophische Anthropologie A 407


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

»Mitgegebenheit« im thematisch gebundenen Bewusstsein auf die


anthropologischen Analysen zu Last und Chance dieser Fülle der
Mitgegebenheit und Verweisungen in der »Offenheit der mensch-
lichen Situation«: die Vitalsituation eines »extrapositionalen We-
sens« 230 verlangte so gesehen angesichts der Flut der Mitgegebenhei-
ten nach »Entlastung«, aber sie ermöglichte auch die Auswertung des
Verweisungsüberschusses für Lernprozesse. Menschliche Lebewesen
können sich in der Situation, in der sich aktuelle Welt im Sprechen,
im Bild, in der inneren Einstellung für das Selbst artikuliert, auch
noch distanziert und artikuliert zu dieser Situation verhalten. »Das
Feld der Mitgegebenheiten bildet gewissermaßen ein Sicherheits-
netz, das uns schützt, wenn wir uns allzu vertrauensselig einem be-
währten Interpretationsmuster überlassen.« Neben allgemeinen
Überlegungen zur Situation behandelte er die »Sozialität von Situa-
tionen«, um dann die »Identität als Vollzug von Identifikationsleis-
tungen« in sozialen Situationen zu thematisieren. Insgesamt ver-
mutete seine Situationstheorie in der »sozialen Situation« den
Fokus der Vergesellschaftung, in der sich soziale Verhaltensweisen
und soziale Verhältnisse in ihrer Verschränkung vollziehen und
methodisch aufschließen lassen. 231 Deshalb gehörte für Bahrdt ›die
Notwendigkeit der Kultivierung ›vorwissenschaftlicher‹ Orientie-
rungsformen beim Betreten der Soziologie‹ 232 zur Methodik der So-
ziologie, wie er in einer Plessner-Festschrift schrieb. Insgesamt galt

230 H. P. Bahrdt, Zum Begriff der ›Distanz‹, a. a. O., S. 184.


231 Unter dem Eindruck von Bahrdts Situationstheorie und in der Nachfolge der Bahrdt/
Popitz-Studien zur Arbeits- und Industriesoziologie steht noch Konrad Thomas, Die
betriebliche Situation der Arbeiter (Göttinger Abhandlungen zur Soziologie, Bd. 9, be-
gründet von H. Plessner, hrsg. v. H. Plessner u. H. P. Bahrdt), Stuttgart 1964. – Ders.,
Analyse der Arbeit. Möglichkeiten einer interdisziplinären Erforschung industrialisier-
ter Arbeitsvollzüge, Stuttgart 1969. – K. Thomas später zur Wiederaufnahme und Wei-
terführung der Philosophischen Anthropologie in der Soziologie: K. Thomas, Soziologie
ohne philosophische Anthropologie? Zu Helmuth Plessners Vermächtnis, in: Soziologi-
sche Revue, Jg. 10 (1987), S. 19–24. – Ders., Für eine anthropologische Soziologie (Eine
Programm-Skizze), in: R. P. Nippert/W. Pöhler/W. Slesina (Hrsg.), Kritik und Engage-
ment. Soziologie als Anwendungswissenschaft. Festschrift für Christian von Ferber zum
65. Geburtstag, München 1991, S. 59–65. – Ebenfalls in der Linie einer anthropolo-
gisch-phänomenologischen Situationstheorie die bei Bahrdt geschriebene Dissertation
von W. Sofsky, Die Ordnung sozialer Situationen. Theoretische Studien über die Me-
thoden und Strukturen sozialer Erfahrung und Interaktion, Opladen 1982.
232 H. P. Bahrdt, Über die Notwendigkeit der Kultivierung ›vorwissenschaftlicher‹ Ori-

entierungsformen beim Betreten der Soziologie, in: G. Dux/Th. Luckmann, Sachlich-


keit. Festschrift zum 80. Geburtstag von Helmuth Plessner, a. a. O., S. 175–186.

408 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

ihm Soziologie als »Distanzform«: »sich einlassen auf seine Zeit, ihre
Probleme entdecken, genau beobachten, soziale Situationen erfahren,
aber auch immer wieder reflektierte Distanz zu ihnen gewinnen, eine
Distanz, die immer zugleich anerkennt, daß der Soziologe selbst auch
zur sozialen Situation gehört.« 233 Grundannahme von Bahrdts Theo-
rie und Methodik war aber das »Theorem von der ›Extrapositionali-
tät‹ des Menschen« (wie er den philosophisch-anthropologischen
Grundbegriff für sich umformulierte): »daß der Mensch, der ein un-
vollständig definiertes Geschöpf ist, nur unter artifiziellen Bedingun-
gen, die er sich selbst geschaffen hat, halbwegs natürlich leben
kann.« 234 Ob in der Arbeits- und Industriesoziologie 235 , in der Stadt-
und Architektursoziologie oder im Entwurf der Situationstheorie,
Bahrdt verband in einer Art Stufung in der Soziologie auf kon-
sequente Weise zwei Denkrichtungen: »Der kundige Leser
wird […]«, so merkte er zu einem Vortrag über ›Sicherheit und Un-
sicherheit des Verhaltens im Wandel seiner soziokulturellen Bedin-
gungen‹ an, »bemerken, in welchem Maß der Verfasser von der so-
genannten ›Philosophischen Anthropologie‹ (z. B. von H. Plessner
und A. Gehlen), ferner von der Phänomenologie […] beeinflußt
ist.« 236

233 M. Baethge/W. Eßbach, Zum Geleit, in: Dies. (Hrsg.), Soziologie. Entdeckungen im

Alltäglichen. Hans Paul Bahrdt zu seinem 65. Geburtstag, Frankfurt a. M./New York
1983, S. 10. – Unter dem Eindruck der Plessner-Bahrdt-Linie auch die Aufsätze von
Wolfgang Eßbach zu Plessner und der Philosophischen Anthropologie: W. Eßbach, Der
Mittelpunkt außerhalb. Helmuth Plessners philosophische Anthropologie, in: G. Dux/
U. Wenzel (Hrsg.), Der Prozeß der Geistesgeschichte. Studien zur ontogenetischen und
historischen Entwicklung des Geistes, Frankfurt a. M. 1994, S. 15–44. – Ders., Rivalen
an den Ufern der philosophischen Anthropologie, in: G. Raulet (Hrsg.), Max Scheler.
L’anthropologie philosophique en Allemagne dans l’entre-deux-guerres. Philosophische
Anthropologie der Zwischenkriegszeit, Paris 2002, S. 15–47.
234 H. P. Bahrdt, Die Industriesoziologie – eine ›spezielle Soziologie‹ ?, in: Materialien

zur Industriesoziologie, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sh. 24


(1982), S. 11–15.
235 1969 gründete Bahrdt zusammen mit Nachwuchswissenschaftlern des Soziologi-

schen Seminars (M. Schumann, H. Kern, M. Baethge) das Soziologische Forschungs-


institut Göttingen (SOFI), das sich neuen Fragen der industrie- und bildungssoziologi-
schen Forschung zuwandte.
236 H. P. Bahrdt, Umwelterfahrung. Soziologische Betrachtungen über den Beitrag des

Subjekts zur Konstitution von Umwelt, München 1974, S. 250. – Noch vor der Schütz-
Rezeption in der deutschen Soziologie bemerkt Habermas 1967: »Bahrdt gehört zu den
wenigen, die einen phänomenologischen Ansatz festhalten.« J. Habermas, Zur Logik der
Sozialwissenschaften. Ein Literaturbericht (1967), in: Ders., Zur Logik der Sozialwissen-
schaften. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M. 1982, S. 237.

Philosophische Anthropologie A 409


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Die größte Wirksamkeit erreichte die Philosophische Anthropologie


in der Soziologie während der 1960er Jahre im Wirken von Helmut
Schelsky, und zwar während seiner fruchtbarsten forschungs- und
hochschulpolitischen Schaffensperiode zwischen 1960 und 1970 auf
dem Lehrstuhl für Soziologie in Münster. Gleichzeitig war er Leiter
der Sozialforschungsstelle in Dortmund (von der aus auch Popitz und
Bahrdt ihre industriesoziologischen Studien koordiniert hatten), der
damals größten soziologischen Forschungsstelle Europas, die als In-
stitut mit der Universität Münster verbunden war. Durch diese Dop-
pelfunktion entwickelte sich Schelskys großer Schülerkreis, aus dem
eine Reihe von habilitierten Soziologen auf neue Lehrstühle in der
expandierenden Disziplin gelangten. Obwohl hinsichtlich der The-
matik und auch der politischen Orientierung durchaus verschieden,
war im intellektuellen Hintergrund dieser Schelsky-Schüler 237 die
Philosophische Anthropologie, in jedem Fall in der durch Schelsky
verwandelten Gehlenschen und Plessnerschen Variante, präsent.
Auch N. Luhmann, den Schelsky bei seinem Berufswechsel vom Ver-
waltungsjuristen zum Soziologen zum Abteilungsleiter der Sozial-
forschung machte und etwas später in Münster promovierte und ha-
bilitierte, gelangte durch Schelskys Förderung in die akademische
Soziologenlaufbahn.
Schelsky bündelte seine vielfältigen Thesen einer gegenwarts-

237 Zum Kreis der von Schelsky inspirierten und geförderten Soziologen muss man

(selektiv und kursorisch) erwähnen: H. Baier, Mediziner und Max-Weber-Spezialist,


habilitiert bei Schelsky, ein genauer Kenner der Philosophischen Anthropologie auch
der Plessnerschen Variante. – F. X. Kaufmann, von Schelsky als Abteilungsleiter an die
Sozialforschungsstelle geholt und nach der Habilitation an der Universität Bielefeld zur
Sozialpolitik und zur Religionssoziologie forschend. – L. Clausen, Mitarbeiter an der
Sozialforschungsstelle Dortmund, geprägt von Schelsky und D. Claessens, später Uni-
versität Kiel. – Helmut Klages, die Tradition Gehlens an der Hochschule für Verwal-
tungswissenschaften in Speyer fortsetzend, Soziologie des Wertewandels. – J. C. Papa-
lekas, Arbeits- und Industriesoziologe, und H. J. Krysmanski, Konflikt- und
Klassensoziologe. – H. Kesting, ehemaliges Mitglied der Forschergruppe Popitz/
Bahrdt/Kesting/Jüres, dann zunächst Assistent Gehlens in Aachen. – B. Schäfers, der
Schelsky vermutlich am nächsten stehende Schüler, später an der TH Karlsruhe u. a.
auch Stadt- und Architektursoziologie lehrend. – W. Lipp, von Gehlen und Schelsky
herkommend, später Universität Würzburg, zusammen mit F. Tenbruck Mitbegründer
der Sektion Kultursoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. – H. Tyrell,
der an der Universität Bielefeld Religionssoziologie lehrt und später leitender Mit-
herausgeber der ›Zeitschrift für Soziologie‹ ; zu erwähnen in diesem Umfeld auch F. Jo-
nas, der Schüler Gehlens, Autor eines der wichtigsten Gehlen-Bücher und Verfasser
einer vierbändigen Geschichte der Soziologie.

410 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

diagnostischen Soziologie 1965 als Aufsatzsammlung unter dem spre-


chenden Titel ›Auf der Suche nach Wirklichkeit‹ 238 . Eine Hauptthese
betraf in Auseinandersetzung mit schichten- und klassentheoreti-
schen Ansätzen die Spezifik der Sozialstruktur moderner west-
europäischer Gesellschaften. Sein durch empirische Forschung ge-
stützter Einblick in die Gleichzeitigkeit – die »Kreuzung« – von
breiten sozialen Abstiegs- und Deklassierungsprozessen mit massen-
haften sozialen Aufstiegsmobilitäten führte ihn dazu, alles in allem in
den westlichen Gesellschaften dominante Züge einer »nivellierten
Mittelstandsgesellschaft« 239 zu identifizieren: »Diese konvergieren-
den Vorgänge bewirken einen relativen Abbau der Klassengegensätze,
eine Entdifferenzierung der alten, noch ständisch geprägten Gruppen
und führten zu einer sozialen Nivellierung in einer verhältnismäßig
einheitlichen, kleinbürgerlich-mittelständisch lebenden Gesell-
schaft.« 240 Die »sich kreuzende Sozialisierung des jeweiligen Klassen-
bewußtseins« führt zu einer relativen »Entschichtung«: »Die in der
Industriearbeiterschaft primär entwickelten Haltungen zur Arbeits-
welt und zur Öffentlichkeit greifen auf die ehemaligen bürgerlichen
Schichten über, während die ›bürgerlichen‹ Vorstellungen und Ver-
haltensweisen im Bereich des privaten und familiären Lebens, der
Freizeit und des Konsums von der gesamten Bevölkerung mehr und
mehr adoptiert werden.« 241 Dabei erweist der »verhältnismäßig ein-
heitliche Lebensstil der nivellierten Mittelstandsgesellschaft« – »diese
›mittelständische‹ Lebensform« – die zeitgenössischen Gesellschaften
des Westens insgesamt doch als eine Variante der durchgesetzten bür-
gerlichen Gesellschaft 242 : »Der universale Konsum der industriellen
und publizistischen Massenproduktionen sorgt auf der materiellen
und geistigen Ebene dafür, daß fast jedermann seinen Fähigkeiten an-

238 H. Schelsky, Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf/

Köln 1965.
239 H. Schelsky, Die Bedeutung des Klassenbegriffs für die Analyse unserer Gesell-

schaft, in: Ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, a. a. O., S. 352–390.
240 H. Schelsky, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düs-

seldorf/Köln 1957, S. 233.


241 H. Schelsky, Auf der Suche nach Wirklichkeit, a. a. O., S. 355 f.

242 Dem entspricht Schelsky Hinweis auf die Interpretation der Hegelschen Rechtsphi-

losophie durch den Münsteraner Philosoph J. Ritter, demzufolge Hegel die ›bürgerliche
Gesellschaft‹ mit ihrer ›Herrschaft der Bedürfnisse‹, ihrer Versachlichung der gesell-
schaftlichen Beziehungen in Eigentum und Arbeitsvertrag, als die prinzipielle soziale
Struktur begrüßt, die die Freiheit der Person in der modernen Welt begründet. J. Ritter,
Hegel und die französische Revolution, Köln/Opladen 1957.

Philosophische Anthropologie A 411


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

gemessen das Gefühl entwickeln kann, nicht mehr ganz ›unten‹ zu


sein, sondern an der Fülle und dem Luxus des Daseins schon teilhaben
zu können.« Und er fährt fort: »In diesem Sinne liegt in der industriel-
len Massenproduktion von Konsum-, Komfort- und Unterhaltungs-
gütern, deren sich die ehemals oberen, bürgerlichen Schichten heute
schon voll bedienen, die wirksamste Überwindung des Klassenzustan-
des der industriellen Gesellschaft selbst begründet, allerdings auch
ihre Uniformierung in Lebensstil und sozialen Bedürfnissen.« 243

Komplementär zu seiner sozialstrukturellen Gegenwartsdiagnostik


entfaltete Schelsky seine These von der anthropologischen Ermögli-
chung und Rückwirkung der »wissenschaftlich-technischen Zivilisa-
tion«. »Was bedeutet es, dass mehr und mehr Menschen an Krank-
heiten leiden und auch sterben, die der Mensch selbst erst durch
seinen Zivilisationsprozess geschaffen hat?«, fragte er 1961 in sei-
nem Vortrag ›Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation‹. 244
»Was bedeutet es, daß die materiellen Bedürfnisse der Menschen in
unserer Zivilisation sich mehr und mehr von Naturprodukten ablö-
sen und von Kunstprodukten befriedigt werden können, die zum Teil
bis in ihre Rohstoffgrundlage hinein eine Erfindung und Produktion
menschlicher Schöpferkraft sind?« »Was bedeutet es, daß der
Mensch in den industriegesellschaftlichen Ballungen, den Großstäd-
ten und Industrierevieren, mehr und mehr in einer künstlichen, von
ihm selbst geschaffenen und durchgearbeiteten Umwelt lebt und die
›freie Natur‹ als einen Luxus und Zivilisationsgenuss organisiert?« In
Abwägung mit der pessimistischen kulturkritischen Reaktion auf
»diese Situation der Rekonstruktion der Welt und des Menschen
durch seine eigene wissenschaftlich-technische Produktion« 245
brachte Schelsky mit dem philosophisch-anthropologischen Blick
eine zweite Einstellung auf den Zwang der »Sachgesetzlichkeiten«
ins Spiel: »Auf der anderen Seite bringt die wissenschaftliche Zivili-
sation, in der der menschliche Geist sich selbst als Sachgesetzlichkeit
gegenübertritt, eine neue Form der Identifikation hervor, die die blo-

243 H. Schelsky, Auf der Suche nach Wirklichkeit, a. a. O., S. 333 f.


244 H. Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation (1961), in: Ders., Auf
der Suche nach Wirklichkeit, a. a. O., S. 439–480.
245 H. Freyer/J. C. Papalekas/G. Weippert (Hrsg.), Technik im technischen Zeitalter,

Düsseldorf 1965. – Später: J. C. Papalekas, Institutions-Abbau und Subjektivismus. Zur


Aktualität Arnold Gehlens, in: H. Klages/H. Quaritsch (Hrsg.), Zur geisteswissen-
schaftlichen Bedeutung Arnold Gehlens, a. a. O., S. 805–825.

412 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

ße Natur dem Menschen nicht bot. Arnold Gehlen hat verschiedent-


lich darauf aufmerksam gemacht, daß die Faszination, die die moder-
ne Technik, insbesondere alle technische Automatismen, auf den
Menschen ausüben, eben in diesem ›Resonanzphänomen‹, diesem
Wiedererkennen der eigenen geistigen Konstitution in den eigenen
rationalen Produkten, besteht.« 246 Schelsky beobachtet zwei mögli-
che Konsequenzen – im Hinblick auf die politische Verfasstheit und
das Bildungswissen. Er erkannte ein ›Absterben‹ des Staates im Sinn
des autoritären Staates durch Verwandlung von Herrschaftsdisziplin
in Sachdisziplin (wie Bahrdt es für die Verwaltungen in der Industrie
beobachtet hatte), und er erkannte zugleich eine partielle Einhegung
des demokratischen Prinzips des Staates (der Volkssouveränität):
»Der ›technische Staat‹ entzieht, ohne antidemokratisch zu sein, der
Demokratie ihre Substanz. Technisch-wissenschaftliche Entschei-
dungen können keiner demokratischen Willensbildung unterliegen,
sie werden auf diese Weise nur ineffektiv. Wenn die politischen Ent-
scheidungen der Staatsführungen nach wissenschaftlich kontrollier-
ten Sachgesetzlichkeiten fallen, dann ist die Regierung ein Organ der
Verwaltung von Sachnotwendigkeiten, das Parlament ein Kontroll-
organ für sachliche Richtigkeit geworden.« 247 Typisch für philoso-
phisch-anthropologische Diagnostik erwartete Schelsky angesichts
dieser Tendenz als Konsequenz für das Bildungswissen eine Kom-
pensation, ein Ausgleichsphänomen in der »wissenschaftlichen Zivi-
lisation« : »Die analysierte und wieder synthetisierte Welt, die
wissenschaftliche Selbstschöpfung des Menschen durch technische
Objektivierung aller seiner Teile muß das Bedürfnis nach Bewahrung
und Rettung des ›ganzen Menschen‹ und seiner wissenschaftlich
nicht fassbaren und manipulierbaren seelischen Tiefe unvermeidlich
hervorrufen. In der Tat ist ja heute auch die Besinnung oder die An-
rufung ›des Menschen‹, der ›im Mittelpunkt aller Dinge‹ steht und
stehen soll, universales Glaubensbekenntnis, überall zu hörender mo-
ralischer Appell gegenüber der modernen Zivilisation.« Als Kom-
pensation oder gegenläufige Tendenz zur Sachgesetzlichkeit der ›wis-
senschaftlichen Zivilisation‹ erkannte Schelsky die »metaphysische
Dauerreflexion«. Er zeigte sich »überzeugt, dass die wissenschaftliche
Zivilisation die Dauerreflexion in verschiedenen geistigen Formen

246 H. Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, a. a. O., S. 451.


247 Ebd., 459.

Philosophische Anthropologie A 413


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

und Niveaus breiten Bevölkerungsschichten aufnötigen wird« 248 ,


eine Dauerreflexion, die er für »institutionalisierbar« hielt. 249

Im Zentrum seiner Soziologie steht die »anthropologisch begründete


Institutionenlehre«, die er – von Gehlen ausgehend – bereits 1948
um die Denkmotive der amerikanischen Kulturanthropologie Mali-
nowskis und Plessners »Exzentrizität« angereichert und die er in ein
flexibles Instrument der soziologischen Analyse auch der Moderne –
z. B. der Familie, der Schule 250 , der Universität 251 , schließlich des
Rechts – verwandelte. Institutionen »entlasten«, insofern sie den
Menschen vom Druck unmittelbarer, vagabundierender Bedürfnisse
im Medium gegensteuernder, Antriebe in Interessen verwandelnder
»Leitideen« und ritueller Gewohnheiten abkoppeln. Indem sie in die-
ser indirekten Weise vitale Grundbedürfnisse befriedigen, bilden die
Institutionen auf Grund der »schöpferischen Versachlichung und
Vergegenständlichung der Bedürfnisbefriedigungen« für ein Lebe-
wesen mit Plastizität der Antriebe zugleich den Raum für die Aus-
bildung »künstlicher« Bedürfnisse, sekundärer, tertiärer Art, die

248 Ebd., S. 459. In der Debatte über Schelskys ›technischen Staat‹, die in der Zeitschrift

›Das Atomzeitalter‹ geführt wurde, setzte Bahrdt aus seiner situationstheoretischen Be-
obachtung der »Sachgesetzlichkeiten« einen Gegenakzent: »Im Gegensatz zu Schelsky
wollen wir die These aufstellen, dass nicht nur im Bereich der Forschung und tech-
nischen Entwicklung, sondern auch im technisierten Alltag ein ›Funktionieren‹ unserer
Welt nur dann gesichert ist, wenn der Mensch Eigenschaften bewahrt und kultiviert, die
ihm zugleich Distanz ermöglichen und Vorbehalte gegenüber einer totalen Anpassung
machen lassen.« Viele Maschinen und Apparaturen »funktionieren nur dann, wenn der
Mensch bewusst die Funktionen übernimmt, die die Maschine ihm zuschiebt, weil sie
sie selbst nicht ausfüllen kann. Die technische Zivilisation erfordert, wenn sie funktio-
nieren und sich weiter entfalten soll, sehr viel Besonnenheit, Ruhe, Spieltrieb, Voraus-
denken und Improvisation, und zwar nicht nur von den Spitzenkräften, sondern ebenso
vom Arbeiter an automatisierten Anlagen, vom Fernfahrer und Reparaturelektriker.«
H. P. Bahrdt, Helmut Schelskys technische Staat. Zweifel an ›nachideologischen Ge-
schichtsmodellen‹, in: Ders., Wissenschaftssoziologie – ad hoc. Beiträge zur Wissen-
schaftssoziologie und Wissenschaftspolitik aus den letzten zehn Jahren, Düsseldorf
1971, S. 266–274, hier S. 273.
249 H. Schelsky, Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? Zum Thema einer moder-

nen Religionssoziologie (1957), in: Ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, a. a. O.,
S. 250–275.
250 H. Schelsky, Anpassung oder Widerstand? Soziologische Bedenken zur Schul-

reform, Heidelberg 1961. – J. Habermas, Pädagogischer ›Optimismus‹ vor Gericht einer


pessimistischen Anthropologie, in: Neue Sammlung, Jg. 1 (1961), S. 251–278.
251 H. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität

und ihrer Reformen, Reinbek b. Hamburg 1963.

414 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

ihrerseits zu einem Weitertreiben der Institutionsbildung auf-


fordern. »Während beim Tier die Bedürfnisse nahezu konstant blei-
ben und nur im Artenwandel der Entwicklungsgeschichte Verände-
rungen erfahren, ist es das Wesen der abgeleiteten menschlichen
Kulturbedürfnisse, aus sich selbst, gerade über den Weg institutio-
neller, versachlichter Befriedigungen, immer neue Formen von je-
weiligen Folgebedürfnissen hervorzutreiben.« 252 Von Malinowski
übernimmt Schelsky auch, dass Institutionen als »Funktionssynthe-
sen« funktionieren, d. h. elastische, polyfunktionale Mechanismen
darstellen: Familien übernehmen in Versorgungskrisen der Wirt-
schaft primär ökonomische Funktionen, Kirchen, Gewerkschaften
übernehmen Staatsfunktionen, wenn politische Einrichtungen kolla-
bieren. Schließlich bewährt sich – so Schelsky – die »institutionelle
Stabilität« in einem »stabilen Institutionenwandel« unter den Bedin-
gungen der Reflexivität. Er stellte bereits 1949 (in dem Aufsatz:
›Über die Stabilität von Institutionen‹) und dann deutlich 1959 (›Ist
Dauerreflexion institutionalisierbar?‹) im Kontrast zu Gehlen, der
die Gefährdung der Institutionen in der Moderne durch die Reflexi-
vitätssubjektivität zum analytischen Dauerthema machte, – und auch
bereits »vor den expliziten Ausformulierungen einer Theorie der In-
stitution durch Gehlen – […] die im Lichte Gehlens revolutionär
anmutende Frage nach den Institutionalisierungsbedingungen von
Reflexion und Subjektivität, die er als neu entstandene und irrever-
sible Bedürfnisse des modernen Bewußtseins, als Verschärfung des
Wesenszugs der menschlichen ›Exzentrizität‹ (Plessner) fasst.« 253
»Dieser Prozeß der kritischen Veränderung der Selbstbewußtheit«,
so Schelsky, »greift auf die Leitbilder und Zielbilder aller sozialen
Institutionen über; der Mensch der Gegenwart nimmt grundsätzlich
anders zu sich Stellung als vor 150 Jahren: die Exzentrizität, wie
H. Plessner diesen Wesenszug des Menschen genannt hat, ist ge-
wachsen und von einem motivbildenden in ein allgemein kritisches
und konstatierendes Bedürfnis des Selbstbewußtseins verwandelt, in
dem der Mensch jetzt ein sachliches Verhältnis zu sich zu gewinnen
trachtet.« 254 Schelsky, der diese Thematik zunächst in der »modernen

252 H. Schelsky, Über die Stabilität von Institutionen, besonders Verfassungen. Kultur-

anthropologische Gedanken zu einem rechtssoziologischen Thema, in: Ders., Auf der


Suche nach Wirklichkeit, a. a. O., S. 33–58, hier S. 39.
253 H. Firsching, Moral und Gesellschaft. Zur Soziologie des ethischen Diskurses in der

Moderne, Frankfurt a. M./New York 1994, S. 251.


254 H. Schelsky, Über die Stabilität von Institutionen, a. a. O., S. 47.

Philosophische Anthropologie A 415


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Religionssoziologie« entwickelte, hielt – ohne die Gehlenschen Ent-


lastungs- und Stabilisierungsfunktion preiszugeben – die »Dauer-
reflexion« oder die »kritische Reflexion« selbst für »institutionali-
sierbar« und identifizierte solche Institutionen in der Gegenwart
(die Verfahren der parlamentarischen Debatten, die Herausbildung
öffentlicher Meinungen bis hin zu organisierten Gesprächs- und
Kommunikationsformen z. B. der Evangelischen Akademien, die
Produktion von neuen Ideen im ›Teamwerk‹, in der Universität, in
der Mode, der Kunst). 255
Das hinderte ihn nicht daran, die Gehlenschen Motive der Intel-
lektuellenkritik gegenüber einer kritischen Intelligenz weiterzu-
führen, die im ›Marsch durch die Institutionen‹ diese grundsätzlich
verflüssigen und transzendieren wolle.256 Schelskys sachlicher
Schwerpunkt wandte sich – im Konsequenz des »Verfassungs«-The-
mas von 1949 – der Rechtssoziologie zu, um gegen die Abwertung der
rechtlichen Ordnung zugunsten der moralischen Diskursrationalität
»juridische Rationalität« als ein eigenes, nicht auf technische und
nicht auf diskursive Rationalität rückführbares Kernelement von
Vergesellschaftung zu begründen. Gesetzgebung und justizielle Ur-
teilsfindung seien keine Wahrheitsfindung, sondern Zukunftsstabili-
sierungen des menschlichen Lebens unter Handlungs- und Entschei-
dungszwang. Die juridische Rationalität – in Gestalt eines Gesetzes
oder Gerichtsurteiles – könne durchaus schöpferisch sein, müsse sich
aber immer in die gegebene rechtliche Ordnung einfügen, so dass mit
der weiterentwickelten institutionellen Regelung hinfort gelebt wer-
den kann. Schelsky sah einen Unterschied, ob die Gesellschaft vom
»Diskurs als Gegeninstitution« (Habermas) her als kommunikative
Rationalität vorgestellt wird oder ob sie sich von der sie bindenden
Rationalität als »juridische Rationalität« versteht. Man könnte es
auch so erläutern: Im Gegenzug zur Rationalität des »kommunikati-
ven Handelns« (Habermas), hinter der das Modell sprachlicher Ver-
ständigung in der Dyade (minimal) zwischen ego und alter ego steht,
bildet für Schelsky das Modell »juridischer Rationalität« das Gericht,
vor und in dem – zwar unter Gewaltausschluß, aber unter Zeit- und
Handlungsdruck – die zwei streitenden Parteien rhetorisch-strate-

255 H. Schelsky, Zur soziologischen Theorie der Institution, in: Ders. (Hrsg.), Zur Theo-

rie der Institution, Düsseldorf 1970, S. 9–26.


256 H. Schelsky, Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der

Intellektuellen, Opladen 1975.

416 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

gisch handeln, um für die verhandelte Sache die Überzeugung eines


›Dritten‹ zu gewinnen, sei es das Gericht oder das Forum der Öffent-
lichkeit. »Im institutionalisierten Verfahren rollenverteilter Argu-
mentationen gewonnene Bestimmungen des sozialen Handlungs-
fortgangs, z. B. der Frieden, die Rechtssicherheit usw., sind von
höherer Rationalität als das subjektive Allgemeine, weil sie die Stabi-
lität der Institutionen sichern, in denen sich erst die philosophische
Wahrheitssuche, die Meinungs- und Diskussionsfreiheit, die Formu-
lierung der Selbst- und Gruppenidentität als Person oder als Interes-
sengruppe vollziehen kann.« 257 Für die Wirkungsgeschichte der Phi-
losophischen Anthropologie ist charakteristisch, dass Schelskys späte
Rechtssoziologie aus der Plessnerschen Richtung – z. B. bei Bahrdt 258
und Krockow 259 – Zustimmung erfuhr. Wenn Bahrdt schreibt, in sei-
ner Rechtssoziologie zeige sich Schelsky als ein »liberaler, nicht kon-
servativer Soziologe«, und wenn in einem anderen Zusammenhang
ein René König-Schüler distanzierend vermerkt, Bahrdt sei eben
doch ein »liberaler Schelskyaner«, dann wird in solchen internen
und externen Winken das untergründige philosophisch-anthro-
pologische Richtungsgeflecht eines institutionalistischen Ansatzes
in der westdeutschen Soziologie sichtbar. 260 Schelskys philoso-
phisch-anthropologische Differenzierung des Institutionenbegriffs
hatte eine erhebliche Bedeutung in der Diskussion. 261 Im Topos

257 H. Schelsky, Die Soziologen und das Recht. Abhandlungen und Vorträge zur Sozio-

logie von Recht, Institution und Planung, Opladen 1980, S. 47.


258 H. P. Bahrdt, Besprechung: H. Schelsky, Die Soziologen und das Recht, in: Kölner

Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 33 (1981), S. 761–765.


259 Ch. Graf v. Krockow, Besprechung: H. Schelsky, Die Soziologen und das Recht, in:

Die ZEIT, Nr. 42, 15. 10. 1982.


260 W. Lipp setzte den Institutionsbegriff gegenwartsdiagnostisch in Auseinanderset-

zung mit der Kritischen Theorie ein (W. Lipp, Institution und Veranstaltung. Zur An-
thropologie der sozialen Dynamik, Berlin 1968) und modifizierte ihn in Richtung einer
»dramatologischen« Fassung, die die »konfligierende« Selbstdarstellung von Institutio-
nen mit einbezieht: W. Lipp, Institutionen – Mimesis oder Drama? Gesichtspunkte zur
Neufassung einer Theorie, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 5 (1976), S. 360–381. –
W. Lipp, Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten, Berlin 1977.
261 B. Schäfers erinnert aus der Münsteraner Zeit an ein »Seminar zur Institutionen-

theorie« im Wintersemester 1967/68, »an dem u. a. folgende Professoren und Privat-


Dozenten teilnahmen: Arnold Gehlen, Friedrich Kaulbach, Hermann Lübbe, Niklas
Luhmann, Odo Marquard, Ernst-Joachim Mestmäcker, Johann Baptist Metz, Karl Rah-
ner, Joachim Ritter, Trutz Rendtorff, Helmut Schelsky.« B. Schäfers, In Memoriam Hel-
mut Schelsky (14. Oktober 1912 – 24. Februar 1984). Person und Institution, in: Kölner
Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 36 (1984), S. 422. – H. Schelsky

Philosophische Anthropologie A 417


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

der »Dauerreflexion« implementierte er in den Institutionsbegriff


die »nötige Mitinstitutionalisierung der Reflexion« 262 , und zugleich
erkannte seine Rechtssoziologie in der »juridischen Rationalität«
die zentrale Reflexionsform des »stabilen Institutionenwandels« in
der Moderne. 263 Selbst Schelskys späte Stilisierung als ein »Anti-
Soziologe« 264 enthielt neben der schrillen Zurückweisung der zeit-
genössischen Überdehnung der kritischen Aufklärungserwartung
des Faches und an das Fach (in der Öffentlichkeit) einen theoreti-
schen Kern in der Philosophischen Anthropologie selbst, die als
Philosophie jeden überdehnten Anspruch einer Wissenschaft auf das
Ganze (des Menschen) zurückweisen musste – auch den der Sozio-
logie. Bahrdt formulierte diese Schelsky-Position, die Soziologie tra-

(Hrsg.), Theorie der Institution. Interdisziplinäre Studien, hrsg. vom Zentrum für inter-
disziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, Bd. 1, Bielefeld 1970, S. 25–50.
262 H. Lübbe, Helmut Schelsky und die Institutionalisierung der Reflexion, in: Recht

und Institution. Helmut Schelsky Gedächtnissymposion Münster 1985, hrsg. v. der


Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster, Berlin 1985, S. 59–70, hier
S. 69.
263 Unter dem Eindruck von Schelsky entfaltete auch der Gehlen-Schüler Karl-Siegbert

Rehberg seine kritisch an Gehlen anschließenden institutionentheoretischen Überle-


gungen, die zugleich mit Adorno-Motiven durchsetzt waren. In seiner bei Arnold Geh-
len geschriebenen Dissertation ›Ansätze zu einer perspektivischen Soziologie der Insti-
tutionen‹ brachte er gegen dessen Institutionalismus, ohne die Kategorie der Institution
preiszugeben, die »Perspektive der Betroffenheit« – als das Wort noch nicht in Mode
war – zur Geltung (K.-S. Rehberg, Ansätze zu einer perspektivischen Soziologie der
Institutionen, Diss. Aachen 1973). Verschränkt in die Entlastungsleistung der Institu-
tionen sind Subjekte zugleich in ein Belastungsverhältnis zu ihnen gesetzt, was die Per-
spektive einer kritischen Institutionenanalyse eröffnet – z. B. in der Unterscheidung von
›notwendiger‹ und ›überflüssiger‹ Herrschaft. Rehberg, seit Beginn der 1980er Jahre
Herausgeber der kommentierten Gehlen-Werke, entwickelte früh einen balancierenden
Blick für das Gesamtspektrum der Autoren der Philosophischen Anthropologie, v. a. für
Plessner neben Gehlen: K.-S. Rehberg, Philosophische Anthropologie und die »Soziolo-
gisierung« des Wissens vom Menschen, in: M. R. Lepsius (Hrsg.), Soziologie in
Deutschland und Österreich, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie,
Sh. 23 (1981), S. 160–197. Seine modifizierte Theorie »institutioneller Mechanismen«
entwickelte er später innerhalb eines »Institutionen-Projekts« systematisch als For-
schungsansatz der Institutionen als »symbolischen Ordnungen«: K.-S. Rehberg, Eine
Grundlagentheorie der Institutionen: Arnold Gehlen. Mit systematischen Schlussfolge-
rungen für eine kritische Institutionentheorie, in: G. Göhler/K. Lenk/R. Schmalz-Bruns
(Hrsg.), Die Rationalität politischer Institutionen. Interdisziplinäre Perspektiven, Ba-
den-Baden 1990, S. 115–144. – Ders., Institutionen als symbolische Ordnungen. Leit-
fragen und Grundkategorien zur Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen,
in: G. Göhler (Hrsg.), Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutio-
nentheorie, Baden-Baden 1994, S. 47–84.
264 H. Schelsky, Rückblicke eines ›Anti-Soziologen‹, Opladen 1981.

418 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

ge zur Standortbestimmung der Menschen in der modernen Gesell-


schaft bei, sei aber nicht die einzige Instanz einer solchen Standort-
bestimmung, indirekt so: Man habe »u. a. auch von Plessner gelernt,
daß der Satz, der Mensch sei ein durch und durch gesellschaftliches
Wesen, nicht mit dem Satz identisch ist, der Mensch werde ganz und
gar durch die Gesellschaft vereinnahmt.« 265

Mit der umtriebigen Präsenz Schelskys in Münster wird diese Uni-


versität in den 1960er Jahren überhaupt zu einem Umschlagplatz der
Philosophischen Anthropologie. Aus dem Kreis um Joachim Ritter,
mit seiner Tendenz zur praktischen Philosophie und zum ›anknüp-
fenden Denken‹, gibt es eine Offenheit für anthropologische Argu-
mentationen, zumindest bei dessen Schülern Robert Spaemann, Her-
mann Lübbe und Odo Marquard. Hans Freyer, der seit 1953 in
Münster wirkt, lehrt noch, Gehlen kommt aus Aachen zu Vorträgen
herüber. Später wird Hans Blumenberg für lange Jahre in Münster
wirken. Ganz eigenständig war jedenfalls die soziologische Fortfüh-
rung der Philosophischen Anthropologie seit Anfang der 60er Jahre
durch den 40jährigen Dieter Claessens, der – von Schelsky nach
Münster geholt und neben ihm von 1962–1966 lehrend – explizit
die Hauptautoren und Grundlagen der Philosophischen Anthropo-
logie aufarbeitet, um den Denkansatz unter Hinzuziehung der ame-
rikanischen und französischen Kulturanthropologie, der Ethologie,
der Zivilisationstheorie und systemtheoretischer Theoreme in Rich-
tung einer »soziologischen Anthropologie« zu bewähren. 266 Claes-

265 H. P. Bahrdt, Belehrungen durch Helmuth Plessner, in: Kölner Zeitschrift für Sozio-

logie und Sozialpsychologie, Jg. 34 (1982), S. 510 f.


266 Zur Wirkungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie in der Soziologie dieser

Jahre gehört auch, dass sich in ihrem Umkreis – nach der niederländischen – die deut-
sche wissenschaftliche Entdeckung und ›Wiedereinbürgerung‹ von Norbert Elias ereig-
nete. Es war D. Claessens, der Elias 1965 zum ersten Mal nach Münster zu einem Vor-
trag einlud. Wahlverwandte Motive zwischen der Philosophischen Anthropologie und
der Figurations- und Zivilisationstheorie von Elias, so z. B. zwischen dem Interesse an
»Verhaltensbildung« (Plessner) und dem Prozess der »Zivilisierung« (statt Rationalisie-
rung) und zwischen institutionellen Machtbalancen und der Figurationssoziologie, er-
möglichten es Claessens und jüngeren Autoren wie dem Plessner- und Bahrdt-Schüler
P. Gleichmann, dem von Schelsky und Claessens herkommenden H. Korte oder später
dem Gehlenschüler K.-S. Rehberg aus dem Denkraum der Philosophischen Anthropolo-
gie heraus ein Rezeptionsinteresse an Elias’ historischer Anthropologie oder seinem
Konzept der »Menschenwissenschaften« zu gewinnen und zu fördern. Gleichmann ver-
band Philosophische Anthropologie und die Figurations- und Zivilisationstheorie zu
einer Soziologie des Wohnens und der »häuslichen Verrichtungen«. P. Gleichmann,

Philosophische Anthropologie A 419


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

sens war in der Soziologie der 60er Jahre einer der offensivsten Ver-
treter des Theorieprogramms der Philosophischen Anthropologie.
Schon sein erstes Hauptwerk ›Familie und Wertsystem. Studien zur
zweiten, sozio-kulturellen Geburt des Menschen‹ (1962) 267 war eine
systematische soziologische Einlösung des Portmannschen »extra-
uterinen Frühjahrs« als Spezifikum des Menschen. Claessens begrün-
dete geradezu die Sozialisationstheorie in der deutschen Soziologie,
indem er die Bestimmungen der Philosophischen Anthropologie von
der »Offenheit« (Scheler), »Gebrochenheit« (Plessner) und »Män-
gelhaftigkeit« (Gehlen) des einzelnen Menschen zu einem sozio-kul-
turellen Funktionskreis schloß: »Diese Vorstellungen von Offenheit
und Gebrochenheit des Menschen […] können nur einen Aus-
sagewert behalten […], wenn zugestanden wird, daß der Mensch in
dieser Situation eines ›Katalysators‹, eines Entwicklungshelfers, ei-
nes ›Mediums‹ bedarf, das ihn aus dem Circulus der Mängelhaftig-
keit oder der Gebrochenheit wenigstens zu Beginn seines Seins he-
raushilft.« Diese Analytik der Mutter-Kind-Dyade als Bedingungen
der Menschwerdung, des familialen sozialen Netzwerkes, das dem
extra-uterinen Wesen kulturspezifische Werte vermittelt, dieser
»Ontogenese des Abstrakten« 268 verwies v. a. auf die emotional-kon-
krete Vermittlung und den Positionswert des weiblichen Geschlechts
mit seinem »Mäzenatentum« gegenüber dem zu früh geborenen Le-
bewesen. 269

Wohnen, in: H. Häußermann (Hrsg.), Großstadt. Soziologische Stichworte, Opladen


1998, S. 270–278. – K.-S. Rehberg (Hrsg.), Norbert Elias und die Menschenwissenschaf-
ten. Studien zur Entstehung und Wirkungsgeschichte seines Werkes, Frankfurt a. M.
1996. Ders., Positionalität und Figuration gegen jede Gemeinschafts-Verschmelzung.
Soziologisch-anthropologische Theorieverschränkungen bei Helmuth Plessner und
Norbert Elias, in: W. Eßbach/J. Fischer/H. Lethen (Hrsg.), Plessners ›Grenzen der Ge-
meinschaft‹. Eine Debatte, Frankfurt a. M. 2002, S. 213–247.
267 D. Claessens, Familie und Wertsystem. Eine Studie zur zweiten sozio-kulturellen

Geburt des Menschen und der Belastbarkeit der Kernfamilie (1962), 3. überarb. Aufl.
Berlin 1972.
268 L. Clausen, Natürlich in Gesellschaft. Besprechung v. D. Claessens, Das Konkrete

und das Abstrakte. Soziologische Skizzen zur Anthropologie, in: Soziologische Revue,
Jg. 5 (1982), S. 399–407, hier S. 407.
269 Es kann hier nur angedeutet werden, dass der Ansatz der Philosophischen Anthro-

pologie in den 1950er und 60er Jahren auch eine Wirkungsgeschichte in der Pädagogik
zeitigte: »Die philosophischen Anthropologien von M. Scheler und H. Plessner wurden
[…] richtungweisend für anthropologische Fundierungsversuche der Erziehung vor al-
lem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg: für eine ›personale Pädagogik‹ […] und für
eine explizite Pädagogische Anthropologie.« D. Höltershinken, Einleitung, in: Ders.

420 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

Diese Grundgedanken hat Claessens dann systematisch zu einer


anthropologischen Grundlegung der Soziologie ausgearbeitet, welche
zugleich den soziologischen Aspekt der Philosophischen Anthropo-
logie anreichern und ausarbeiten sollte. In ›Instinkt, Psyche, Gel-
tung‹ 270 , rekurrierte er nicht nur gleichermaßen auf Scheler, Plessner
und Gehlen, sondern vor allem auch auf Paul Alsberg, dessen Buch
von 1922 er neu herausgab. 271 Hinsichtlich des »Menschheitsrätsels«
der Menschwerdung, der evolutionären »Stellung des Menschen in
der Natur« (Alsberg) kombinierte Claessens Alsbergs »Körperaus-
schaltungsprinzip«, die Distanztechnik des menschlichen Lebewesens
zum eigenen Körper im eigenen Körper, mit dem Prinzip der sozialen
»Insulation«, einer von Hugh Miller entwickelten These zu »künst-
lichen Innenklimata« von Gruppen in der Natur. In seinem Schlüssel-
werk ›Das Konkrete und das Abstrakte‹ 272 unternahm er schließlich
entlang dieser Prinzipien eine Philosophische Anthropologie der
Menschwerdung, eine »Phylogenese des Abstrakten«, in der er
ethnologische, ethologische, sprachwissenschaftliche, geschlechts-
wissenschaftliche Forschungsfunde zusammen mit seinen eigenen fa-
miliensoziologischen Studien zur »Ontogenese des Abstrakten«

(Hrsg.), Das Problem der Pädagogischen Anthropologie im deutschsprachigen Raum,


Darmstadt 1976, S. 6. – Vgl. auch J. Nosbüsch., Moderne Anthropologie und ihre Be-
deutung für die Pädagogik. Scheler, Hartmann, Gehlen, Portmann (1961), in: D. Höl-
tershinken (Hrsg.), Das Problem der Pädagogischen Anthropologie im deutschsprachi-
gen Raum, a. a. O., S. 174–202. – O. F. Bollnow; Methodische Prinzipien der
pädagogischen Anthropologie, in: D. Höltershinken, Das Problem der Pädagogischen
Anthropologie, a. a. O., S. 247–251. – E. Meinberg, E., Das Menschenbild der modernen
Erziehungswissenschaft, Darmstadt 1988, S. 241–306. – Vor dem Hintergrund der Aus-
einandersetzung um die ›Pädagogische Anthropologie‹ (ihre Kritik durch die ›kritische
Theorie der Sozialisation‹ in der Richtung der »Einbeziehung der Anthropologie in eine
dialektische Theorie der Geschichte« (M. Horkheimer, Bemerkungen zur philosophi-
schen Anthropologie, a. a. O., S. 9)) auch die Auseinandersetzung zwischen Habermas
und Schelsky: J. Habermas, Pädagogischer ›Optimismus‹ vor Gericht einer pessimisti-
schen Anthropologie. Schelskys Bedenken zur Schulreform, in: Neue Sammlung, Jg. 1
(1961), S. 251–278.
270 D. Claessens, Instinkt, Psyche, Geltung. Zur Legitimation menschlichen Verhaltens.

Eine soziologische Anthropologie (1968), 2. überarb. Aufl. Opladen 1972.


271 P. Alsberg, Der Ausbruch aus dem Gefängnis – Zu den Entstehungsbedingungen des

Menschen, hrsg. u. kommentiert v. D. Claessens, Gießen 1975 (Neuauflage des 1922


erschienenen Buches ›Das Menschheitsrätsel‹).
272 D. Claessens, Das Konkrete und das Abstrakte. Soziologische Skizzen zur Anthro-

pologie, Frankfurt a. M. 1980. Zur Würdigung dieser Schrift vgl. P. Sloterdijk, Das Men-
schentreibhaus. Stichworte zur historischen und prophetischen Anthropologie, Weimar
2001, S. 25–58.

Philosophische Anthropologie A 421


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

durchinterpretierte. Die so angelegte »Skizze« der Menschwerdung


verknüpfte die ontogenetische und phylogenetische »Genealogie der
Abstraktion« (also der »Exzentrizität«) mit der ständigen Rezentrie-
rung des »Abstrakten« in das »Konkrete« (oder der »Positionalität«).
Für Claessens ist die Menschwerdung weder allein ein anony-
mes Evolutionsgeschehen entlang der bereits für die vormensch-
lichen Organismen geltenden Mutations- und Selektionsmechanis-
men, noch ein bloßer Effekt eines Zeichen- oder Sprachgeschehens,
das die Menschen in ihrer Kultur grundsätzlich von der Natur ent-
koppelt. Die Anthropogenese ist vielmehr als ein Durchbruch, ein
Ausbruch in der Natur zu begreifen, eine »Naturgeschichte der Na-
turdistanzierung«, damit eine Ablösung von den unmittelbar evolu-
tionären Prinzipien, ohne dass der Raum der Natur verlassen würde.
Claessens rekurriert hierbei (mit Alsberg) zunächst auf das Werk-
zeug als Distanzierungstechnik zwischen Körper und natürlicher
Umwelt, wodurch das »Körperanpassungsprinzip« der Tiere durch
ein »Köperausschaltungsprinzip« überlagert wird: Der Stein in der
Hand, der in die Ferne geworfen wird und trifft oder der in unmittel-
barer Nähe etwas schlägt und ›treffend‹ zurichtet (auch den Feind),
schiebt in jedem Fall eine künstliche Zone zwischen den Organismus
und die Umwelt, einen vermittelnden Abstand zwischen dem unmit-
telbaren Körper und der unmittelbar Anpassungsdruck ausübenden
Natur; durch die Stabilisierung dieser ›vermittelten Unmittelbarkeit‹
eröffnet sich ein Spielraum der Körperentfaltung wie der Entdeckung
des in der Welt Vorhandenen. Diese Distanzierungstechnik im stabi-
lisierten Werkzeuggebrauch koppelt sich mit dem Prinzip der »sozia-
len Insulation«, der werkzeuggestützten, künstlichen Membranbil-
dung einer Gruppe, deren soziales Binnenklima nun ebenfalls den
unmittelbaren Anpassungsdruck der Natur auf die Körperlichkeit
künstlich zu distanzieren und zu »vermitteln« beginnt. Im Zentrum
dieses durch Grenzziehung eingeräumten sozialen Raumes, dieses
Binnenklimaraumes im Kosmos, konzentriert sich die Mutter-Kind-
Beziehung auf die Eigenzeit der Individualentwicklung der organi-
schen Neuankömmlinge. Angesichts herabgesetzter Bedrohungen
entfalten sie sich im Medium der kommunikativ einander zugewand-
ten Gesichtsflächen der Gruppenzugehörigen – Gesichtsflächen, die
als Ausdrucks-, Artikulations- und Blickzone das Medium aller Me-
dien bilden. Die »Distanzierung« vom Anpassungsdruck der primä-
ren Natur (auch in der Werkzeugtechnik) ist dem menschlichen Le-
bewesen also nur möglich durch die insulierende »Gruppe«. Die

422 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

kindlichen Lebewesen »begreifen« das Objektive mit Händen, Ge-


fühl und Geist nur, weil diese kindlich-individuellen Begriffe sich in
den »luxurierenden sozialen Klimata« der »Insulation« entfalten und
zugleich durch die bereits mit Distanzierungserfolgen gesättigten,
gesellschaftlich gebilligten, tradierten Begriffe der Gruppe berichtigt
werden. Entscheidend ist die »Einrichtung« der im Schutz der insu-
lativen Gruppe »zu früh« gebärenden Mutter, die die emotionale Sta-
bilisierung des Nachwuchses in Offenheit garantiert. 273 Das Prinzip
der Ausschaltung des evolutionären Körperanpassungsdrucks durch
Distanzierungs-Techniken und das Prinzip der Minderung der Na-
turpression durch »soziale Insulation« und Membranbildung sozialer
Binnenklimata hängen für Claessens nun wiederum zusammen mit
der Emergenz der physiologischen, morphologischen, kognitiv-emo-
tionalen Sonderverfassung der menschlichen Körpergestalt. Hierhin
gehören die biologisch unwahrscheinlichen Phänomene der Neotenie
und Fetalisation (Bolk), also der Fixierung kindlicher und jugend-
licher Gestaltzüge im Erscheinungsbild des Menschen, die ›Nackt-
heit‹, die verunsicherte Antriebs- und Stimmungslage, die Unspezia-
lisiertheit von Organen wie der Hand, aber auch des Hirns – also
alles, was Gehlen dramatisch als Konstitution eines ›Mängelwesens‹
gekennzeichnet hatte und was als strukturelle »Frühgeburt« körper-
lich auf eine riskante »Weltoffenheit« verwiesen ist. Vermittelt über
den Nahbereich des »sozialen Uterus« entwickelt sich ein solches ex-
trauterines Lebewesen in einem hochsensiblen und hochemotionalen

273 Claessens aktivierte also die genuine Sozialtheorie der Philosophischen Anthropolo-

gie. Trotz Nähe zu und Erwähnung von Scheler kam es auch bei ihm nicht zur Durch-
brechung der in der Soziologie blockierten Scheler-Rezeption und zur vollen Ausschöp-
fung der Philosophischen Anthropologie in der Revitalisierung der Schelerschen
»Phänomenologie der sympathetischen Gefühle und ihrer Funktion für den Interakti-
onsprozeß«, so die Formulierung bei H. P. Dreitzel, Die gesellschaftlichen Leiden und
das Leiden an der Gesellschaft, a. a. O., S. 216. Scheler spielte in der Soziologie der 60er
Jahre nur am Rande eine Rolle. Allerdings versuchte W. L. Bühl den Anspruch einer
»verstehenden Soziologie« v. a. von Scheler her gegenüber einer »reduktionistischen
Soziologie« aufrechtzuerhalten: W. L. Bühl (Hrsg.), Verstehende Soziologie. Texte von
G. Simmel, G. H. Mead, A. Schütz, M. Scheler u. a., München 1972. Schelers erkennt-
nisanthropologische Unterscheidung von drei »Wissensformen« (Leistungswissen, Bil-
dungswissen, Erlösungswissen) spielte eine Rolle bei H. Schelsky, Die Arbeit tun die
anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, Opladen 1975 – Wie
zuvor schon indirekt bei J. Habermas’ Unterscheidung dreier anthropologisch tiefsitzen-
der »Erkenntnisinteressen« (allerdings wird die Stelle des Heilswissens durch das kri-
tisch-emanzipatorische Erkenntnisinteresse ersetzt). J. Habermas, Erkenntnis und Inte-
resse, Frankfurt a. M. 1968.

Philosophische Anthropologie A 423


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Verhältnis zum »Ausdruckscharakter der Welt«, zum »›sinnlichen


Aufbau der Welt‹« 274 und bildet sich neben dieser Vertiefungsform
des Konkreten zugleich in den Distanzformen der »Abstraktion«. Die
Sprache ist paradigmatisch für diese Verzahnung der »Genealogie
des Direkten oder des Unmittelbaren […] mit einer Genealogie des
Mittelbaren oder Abstrakten«. 275 Claessens verfolgt innerhalb der
Konstellation der Prinzipien der Menschwerdung nun die »Genea-
logie des Abstrakten« oder Mittelbaren, um seine Abhebung vom
Konkret-Sinnlichen oder Unmittelbaren des emotional gebundenen
Tastens, Schmeckens, Riechens, Hörens und Sehens in konkreten
kleinsten Verbänden beim Übergang zur Organisation größerer
Gruppenverbände mit erweiterten Verwandtschaftssystemen, Ar-
beits- und Handelsstrukturen bis hin zu Abstrakta des Geldes und
des Staates zu beobachten. Es bleibt eine Grundspannung zwischen
Positionalität und Exzentrizität, zwischen dem »Konkreten« und
dem »Abstrakten«, und damit eine Daueraufgabe auch moderner so-
ziokultureller Membran- oder Systembildungen. Da sich die in klei-
nen Gruppenzusammenhängen am Konkret-Sinnlichen gewachsene
und geschulte Emotionalität einer einfachen Ausdehnung über die
Gruppengrenzen hinaus verweigert, erfinden die Menschen in vielen
Generationen »Techniken der Verbindung des Abstrakten mit dem
Konkreten« 276 wie »Institutionen«, »Maschinen«, »Metaphern« und
»Mythen«, die das Fernste mit dem Nahen verknüpfen, »Über-
tragungen« aus dem Konkret-Vertrauten in das Abstrakt-Fremde
leisten.

Außer auf die soziologische Forschung dieser vier bundesrepublika-


nischen Soziologen – Popitz, Bahrdt, Schelsky und Claessens – ent-
wickelte die Philosophische Anthropologie in den 1960er Jahren noch
eine formgebende Kraft in der Ausbildung anderer Richtungen der
Soziologie. Zunächst kam es Anfang der 60er Jahre zu einer Kon-
nexion zwischen Philosophischer Anthropologie und der Phänome-
nologie, eine gleichsam international nachgeholte Verknüpfung, die
in der Zeit Ende der 1920er Jahre bis 1933 wegen verschiedener Um-
stände nicht richtig zum Zuge gekommen war. An der New School of
Social Research in New York, im Umkreis des emigrierten, 1959 ver-

274 D. Claessens, Das Konkrete und das Abstrakte, a. a. O., S. 115.


275 Ebd., S. 94.
276 Ebd., S. 288 f.

424 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

storbenen Husserl-Schülers Alfred Schütz fanden P. L. Berger und


Th. Luckmann für ihr 1962 gemeinsam begonnenes Projekt einer
phänomenologischen Soziologie des Wissens in der Philosophischen
Anthropologie eine Fundierung, die ihnen zugleich den Einbau des
symbolischen Interaktionismus von G. H. Mead erlaubte. 277 Die von
Schütz rekonstruierte, in ihrem Sinnaufbau gleichsam von innen her
erschlossene »Lebenswelt« versetzten sie mit einer Beobachtung die-
ser menschlichen Lebenswelt von außen, von der Welt des Lebendi-
gen oder Organischen, wofür sie explizit sämtliche Schlüsseltexte
und Denkfiguren von Uexküll, Buytendijk, Portmann, Plessner und
Gehlen konzentriert abriefen. 278 Der Schub der Philosophischen An-
thropologie kam 1962/63 durch Plessners Aufenthalt an der neu ein-
gerichteten Theodor-Heuss-Professur an der New School, bei dem
Luckmann auch Veranstaltungen von Plessner betreute. In dem vir-
tuosen Gebrauch dieses Denkansatzes fügt sich das Interesse von Ber-
ger an Gehlens Institutionentheorie (den er in den USA einführte 279 )
mit dem Interesse von Luckmann an Plessner (über den er einen
Lexikon-Artikel in der amerikanischen Philosophie-Enzyklopädie
schrieb 280 ) und seiner Kategorie der »exzentrischen Positionalität«
zusammen. Die Verknüpfung von Philosophischer Anthropologie
und Sozialphänomenologie erlaubte ihnen, auseinanderlaufende
Theoreme der Klassiker der Soziologie wie Durkheims Institutiona-
lisierung und Simmels Wechselwirkungsformen ineinander zu über-
setzen ebenso wie die deutsche Denktradition mit dem amerikani-
schen Pragmatismus zu vermitteln: »Unsere Argumentation«, so
fügen sie in kombinatorischer Gewissheit an einer Stelle beiläufig
ein, »verbindet Gedanken von Mead und Gehlen zum Problem der
Sozialisation bzw. Institutionalisierung« 281 ; und an einer anderen

277 P. L. Berger/Th. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit.

Eine Theorie der Wissenssoziologie (amerik. 1966). Mit einer Einleitung zur deutschen
Ausgabe von Helmuth Plessner. Übersetzt von Monika Plessner, Frankfurt a. M. 1969
(Reihe Conditio humana).
278 Vgl. die Anmerkung 1 zu Beginn des II. Kapitels: Gesellschaft als objektive Wirk-

lichkeit, in: Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit,


a. a. O., S. 49.
279 P. L. Berger/H. Kellner, Arnold Gehlen and the Theory of Institution, in: Social Re-

search, Vol. 32 (1965), S. 110–115.


280 Th. Luckmann, Helmuth Plessner, in: P. Edwards (ed.), The Encyclopedia of Philoso-

phy, Vol. 6, New York/London 1967, S. 350.


281 P. L. Berger/Th. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit,

a. a. O., S. 60.

Philosophische Anthropologie A 425


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Stelle fällt kurz das Licht auf eine bis dahin nicht ausgesprochene
Wahlverwandtschaft von Simmel und Plessner, was die Schranke
jeder Vergesellschaftung als Ermöglichung der Sozialisation betrifft:
»Vgl. Simmel über die Selbstauffassung des Menschen als sowohl
innerhalb wie außerhalb der Gesellschaft stehend. Wir verweisen
hier auch wieder auf Plessners Formulierung der ›exzentrischen Po-
sitionalität‹ des Menschen.« 282 Dass sich für das von Mead und Sartre
gemeinte Intersubjektivitäts- bzw. Interexistentialgeschehen der pas-
sende Ausdruck »Reziprozität der Perspektiven« bereits 1926 bei
Th. Litt findet, wird erwähnt. 283 Die »gesellschaftliche Konstruktion
der Wirklichkeit« durch »Sinnwelten« verankern Berger und Luck-
mann nun in der »Exzentrizität« und »Weltoffenheit« der mensch-
lichen Natur: »Man kann geradezu sagen, daß die ursprüngliche
Weltoffenheit der menschlichen Existenz durch die Gesellschaftsord-
nung immer in eine relative Weltgeschlossenheit umtransponiert
wird, ja, werden muß. Diese nachträgliche Geschlossenheit erreicht
zwar niemals die animalische Existenz – und sei es nur, weil sie vom
Menschen hervorgebracht und daher »künstlicher Natur« ist. Aber
sie ist doch fähig, der menschlichen Lebensführung – im Wesentli-
chen jedenfalls und meistens – Richtung und Bestand zu sichern.« 284 .
»Wobei es uns darauf ankommt«, schreiben sie, »seine [Meads] Rol-
lentheorie zu einer Theorie der Institutionen auszuweiten.« Im
Rückgriff auf Durkheim, Simmel und Gehlen beschreiben sie die
Emergenz objektiver symbolischer Sinnwelten aus situativen Inter-
aktionen von ego und alter ego, die von Institutionalisierungen ge-
tragen werden, welche die Sinnwelten wiederum immunisieren
(»Gesellschaft als objektive Wirklichkeit«). Umgekehrt verfolgen sie
mit Cooley, Mead und Plessner Prozesse der Internalisierung der in
den Sinnwelten erschlossenen Wirklichkeit in der Ich-Identitätsbil-
dung der körperbezogenen Subjekte (»Gesellschaft als subjektive
Wirklichkeit«). Die anthropobiologischen Argumente von Port-
mann, Plessner und Gehlen dienen dazu, die mit Bezug auf die
»menschliche Natur« aufgeladenen »Produktions«-Kategorien des
frühen Marx zu ent-eschatologisieren, ebenso wie die zugespitzte
Freudsche Lehre von der menschlich-tierischen »Triebnatur« als Er-
klärungs- und Entlarvungsbasis zu entdramatisieren.

282 Ebd., S. 144.


283 Ebd., S. 31.
284 Ebd., S. 55.

426 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

In ihrer materialen soziologischen Forschung waren Berger und


Luckmann Religionssoziologen, die sich nicht auf die Entlarvung der
religiösen Sinnwelt als das Andere ihrer selbst (Interessen, Triebe)
kaprizierten, sondern auf den Aufbau-Charakter religiöser Sinn-
welten, deren Funktionen für die Gesellschaft, aber auch für die Iden-
titätsbildung dann transparent werden konnten. Mit ihrer deutsch-
amerikanisch (von der neuen westdeutschen Soziologie werden
neben Plessner und Gehlen auch Schelsky, Popitz und Tenbruck zu-
stimmend erwähnt) komponierten Konstitutionsanalyse sozio-kul-
tureller Lebenswelt fand nicht nur die Sozialphänomenologie der
Wissenstypisierungen und Sinnwelten eine Fundierung in der Phi-
losophischen Anthropologie der Sonderstellung des Menschen in der
Natur, sondern auch die Wissenssoziologie selbst fand – wie Plessner
in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe von 1969 schrieb – zu
einer neuen Form: »Wir haben also in diesem Werk zum ersten Mal
eine Wissenssoziologie des guten Gewissens vor uns, ohne die üb-
liche Furcht vor Ideologie und Entfremdung, freilich auch ohne jede
Vorfreude auf jenen heute üblichen spekulativen Aschermittwoch,
an dem alle Masken fallen.« 285 Habermas sprach 1967 in seinem For-
schungsbericht zur ›Logik der Sozialwissenschaften‹ von dem »an-
spruchsvollen Versuch […], in Form einer Soziologie des Wissens
die Grundzüge einer anthropologisch begründeten Gesellschafts-
theorie zu entwerfen.« 286

285 H. Plessner, Zur deutschen Ausgabe, ebd., S. XVI.


286 J. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften. Ein Literaturbericht (1967), in:
Ders., Zur Logik der Sozialwissenschaften, a. a. O., S. 229. Vgl. auch B. Schnettler, Die
phänomenologisch-anthropologischen Grundlagen der Sozialtheorie, in: Ders., Thomas
Luckmann, Konstanz 2006, S. 69-84. – P. Berger trat noch mit einer weithin gelesenen
Einführung in die Soziologie hervor, die ebenfalls von Plessners Frau Monika Plessner
ins Deutsche übersetzt wurde: Ders., Einladung zur Soziologie. Eine humanistische Per-
spektive, München 1977. – Th. Luckmann, seit 1965 auf dem Lehrstuhl für Soziologie
an der Universität Frankfurt, wurde in der neueren Religionssoziologie prägend mit
seinem 1967 erschienenen Werk ›Die unsichtbare Religion‹, das bereits in der ›Gesell-
schaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit‹ mit Bezug auf Schelskys »eingängigen Aus-
druck der ›Dauerreflexion‹« selbst angezeigt wird: »Der theoretische Hintergrund des
Schelskyschen Gedankenganges ist Gehlens Theorie der ›Subjektivierung‹ in der mo-
dernen Gesellschaft. Luckmann hat in seinen Gedanken zur Soziologie der modernen
Religion daran angeknüpft.« Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der
Wirklichkeit, a. a. O., S. 184. – Wichtig auch Luckmanns Sozialtheorie der universell
adressierten, erst sekundär limitierten Empathie des Menschen, in der er an Wundt,
Scheler, Tenbruck, Gehlen und Lévi-Strauss anknüpft: Th. Luckmann, On the Bounda-
ries of the Social World, in: M. Natanson (Ed.), Phenomenology and Social Reality.

Philosophische Anthropologie A 427


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Besonders erhellend für diese späte produktive Konjunktion von


Philosophischer Anthropologie und phänomenologischer Soziologie
war im Umfeld der Schütz-Phänomenologie 287 I. Srubars nachträgli-
che Entdeckung, dass bereits Schütz selber Mitte der 1920er Jahre bei
seiner Rekonstruktion von »Lebensform und Sinnstruktur« mit an-
thropologischen Hintergrundkonzepten experimentierte, die sich
neben Bergson und Heidegger vor allem auf Scheler stützten. 288 In
seinem Versuch, den Aufbau der Sinnstruktur menschlicher Lebens-
formen in der vorwissenschaftlichen Sphäre des alltäglichen Lebens
aufzuweisen, fand Schütz Anhaltspunkte bei Scheler, der – in Aneig-
nung von Uexkülls Innenwelt-Umwelt-Korrelationslehre – die Be-
schreibung der psycho-physisch-indifferenten Berührungsstellen
von Erleben und Gegenstand in der menschlichen Organismus-Mi-
lieu-Korrelation mit dem Erleben des Wirbewusstseins in der natür-
lichen Einstellung verband. »›Philosophische Anthropologie‹ hieß
das Unternehmen, mit welchem die Frage nach der Selbstgenese der
sozialen Welt als Kulturwelt in diesem Sinne aufgenommen wurde«
– so Srubar –, »und die konsequenteste Entwicklung des Problems
der Selbstgenese aus der anthropologischen Fragestellung finden
wir im Denken Schelers.« Mit dieser Interpretation der frühen Le-
benswelttheorie von A. Schütz als philosophische Anthropologie er-
fuhr die von Berger und Luckmann viel später – nun allerdings mit
Plessner und Gehlen – unternommene Fundierung der phänomeno-
logischen Soziologie in der Philosophischen Anthropologie auch eine
theoriegeschichtliche Rechtfertigung. Aber an dem allmählichen

Essays in Memory of Alfred Schütz, The Hague 1970, S. 73–100. – Luckmann hat 1974
mit G. Dux zusammen die zweite Festschrift für Plessner herausgegeben.
287 Vermittelt über Luckmann neben Impulsen der Phänomenologie auch die der Phi-

losophischen Anthropologie bei W. Sprondel, H.-G. Soeffner und R. Grathoff, Milieu


und Lebenswelt, Frankfurt a. M. 1989; ders., Grenze und Übergang. Frage nach den
Bestimmungen einer cartesianischen Sozialwissenschaft, in: G. Dux/Th. Luckmann
(Hrsg.), Sachlichkeit. Festschrift zum achtzigsten Geburtstag von Helmuth Plessner,
a. a. O., S. 223–242. – H.-G. Soeffner, Kulturmythos und kulturelle Realität(en), in:
Ders. (Hrsg.), Kultur und Alltag, Sonderband 5 der Sozialen Welt, Göttingen 1988,
S. 3–21. – Ders., Das ›Ebenbild‹ in der Bilderwelt – Religiosität und Religion, in:
W. Sprondel (Hrsg.), Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Kons-
truktion. Für Thomas Luckmann, Frankfurt a. M. 1994, S. 291–317.
288 A. Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verste-

hende Soziologie (1932), 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1981. I. Srubar, Vom Milieu zur Auto-
poiesis. Zum Beitrag der Phänomenologie zur soziologischen Begriffsbildung, in: Ch.
Jamme/O. Pöggeler (Hrsg.), Phänomenologie im Widerstreit. Zum 50. Todestag Ed-
mund Husserls, Frankfurt a. M. 1989, S. 307–331.

428 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

Ausscheiden Max Schelers aus der deutschen Soziologie der zweiten


Hälfte des 20. Jahrhunderts änderte auch diese Aufdeckung nichts.
Der Inspirator Scheler blieb – da sich Plessner und Gehlen in der
Soziologie jeder für sich einer öffentlichen Anerkennung ihrer Be-
zugsfigur Scheler enthielten – nach seinem frühen Tod eine langsam
absterbende Figur, bis ihm die deutsche Soziologie den »Klassi-
ker«-Status – wie es scheint – endgültig entzog. 289

Dessen ungeachtet ist aber schließlich die wirkungsgeschichtliche


Kraft der Philosophischen Anthropologie in der deutschen Soziologie
der zweiten Jahrhunderthälfte auch daran erkennbar, dass die beiden
bedeutendsten soziologischen Theorieprojekte der Bundesrepublik,
die von Habermas und Luhmann, Ende der 1960er Jahre im geistigen
Spannungsfeld dieses Denkansatzes sich bildeten.
Philosophische Anthropologie bildete die Grundierung des in-
tellektuellen Bildungsganges von Jürgen Habermas, der 1949 noch
bei Nicolai Hartmann in Göttingen gehört hatte. Später studierte
und promovierte er bei Erich Rothacker und Oskar Becker in Bonn,
er hörte Rothackers glänzende Vorlesung 1953/54 zur »Philosophi-
schen Anthropologie«, und er entwickelte sich früh zu einem Kenner
der Sachen von Plessner und Gehlen, die er noch vor der Kritischen
Theorie rezipierte und zu denen er Mitte der 1950er Jahre Rezensio-
nen schrieb. »Sprache« war bei Erich Rothacker ein prominentes
Thema. Auch der Zugang zu Mead und dem amerikanischen Prag-
matismus war durch die Philosophische Anthropologie, speziell Geh-
len und dessen für die deutsche Philosophie (neben Jaspers) unge-
wöhnlich starken Begriff der »Kommunikation«, vermittelt. Diese
gesamte Grundierung brachte er dann in seine Begegnung mit der
Frankfurter Schule (und der Marburger Schule von W. Abendroth)
– diesen beiden neomarxistischen Gruppen einer »Kritischen Theorie
der Gesellschaft« – ein, indem er die von ihm erkannte Schwäche
einer von Marx her ›bloß‹ geschichtsphilosophisch orientierten Ver-
nunftkritik der modernen Gesellschaft durch eine Reanthropologi-
sierung des Erkenntnis- und Gesellschaftskonzepts und damit der

289 1976 fand Max Scheler noch Aufnahme in die von D. Kaesler organisierte zweibän-

dige Sammlung ›Klassiker soziologischen Denkens‹ mit dem ausführlichen und instruk-
tiven Beitrag von W. L. Bühl, Max Scheler, in: D. Kaesler (Hrsg.), Klassiker des soziolo-
gischen Denkens, Bd. 2: Von Weber zu Mannheim, München 1978, S. 178–225. In der
von Kaesler 1999 organisierten neuen und erweiterten (!) Ausgabe ›Klassiker der Sozio-
logie‹ kommt Scheler nicht mehr vor.

Philosophische Anthropologie A 429


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Kritikgrundlagen zu überwinden suchte. Zusammen mit dem acht


Jahre älteren Karl-Otto Apel, einem anderen Rothacker-Schüler, wa-
ren ihm aus diesem Hintergrund eine erkenntnisanthropologische
Akzeptanz der Hermeneutik (die sie beide zusammen zunächst in
ihrer Rothackerschen, dann in ihrer Gadamerschen Variante kennen-
lernten) und eine frühe Öffnung zum amerikanischen Pragmatis-
mus, der Sprach- und Sprechakttheorie und dem Begriff der »Kom-
munikation« innerhalb der und für die Frankfurter Schule möglich.
Schelsky hatte ja bereits 1957 die Frage aufgeworfen, die Habermas
im Hinblick auf die Selbststeuerung moderner Gesellschaften be-
schäftigte: »Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar?« Habermas
(der im WS 1966/67 in Frankfurt eine Vorlesung zur »Anthropolo-
gie« hielt) verwandelte in Auseinandersetzung mit Gehlens Institu-
tionenbegriff die Meadsche Kommunikationstheorie im Blick auf die
Sprache in eine Theorie der unhintergehbaren, unauflösbaren »Insti-
tution der Institution«; und die »Öffentlichkeit« wird damit zu einer
Institution kritisch-praktischer »Diskurse«, in der kraft Eigengesetz-
lichkeit der Sprache Dauerreflexion eingebaut ist. 290 In seiner späte-
ren »Theorie des kommunikativen Handelns« verknüpft er Meads
Theorie der Kommunikation mit Durkheims Soziologie der »Institu-
tionen«, was ihm gestattet, die ihm bekannten Gehlenschen Motive
ohne direkten Bezug auf diese in seine Sozialtheorie einzuführen.

Der Jurist Niklas Luhmann hingegen verwandelte in seinem sozio-


logischen Theorieansatz Schritt für Schritt die Institutionenbe-
grifflichkeit von Gehlen und vor allem von Schelsky in system-
theoretische Kategorien. Luhmann und Gehlen lernten sich an der
Verwaltungshochschule Speyer kennen und schätzen. Nach dem
Wechsel von der Verwaltungsjurisprudenz zur Soziologie und nach
Luhmanns Studium bei Parsons war vor allem Helmut Schelsky ein
entschiedener Förderer von seiner raschen akademischen Karriere in
Münster und dann innerhalb der neuen ›Sozialwissenschaftlichen Fa-
kultät‹ an der von Schelsky gegründeten Universität Bielefeld. In
seiner Dissertation über ›Funktionen und Folgen formaler Organisa-
tionen‹ (1964) selbst noch ein wendiger Institutionenanalytiker, re-

290 Anfang der 1970er Jahre stellte Habermas einige Aufsatze unter dem Titel ›Philoso-

phische Anthropologie‹ zusammen: J. Habermas, Zu Fragen der philosophischen An-


thropologie, in: Ders., Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze, Frankfurt a. M. 1973,
S. 87–236.

430 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

formulierte er Parsons’ Theorie sozialer Systeme in eine System-


Umwelt-Theorie, die deutlich Züge der Philosophischen Anthropolo-
gie trägt. Luhmann hat das 1967 in dem ersten Aufsatz, der seinen
Entwurf einer »Soziologie als Theorie sozialer Systeme« für ein grö-
ßeres Fachpublikum vorstellte, auch selbst unmissverständlich in ei-
ner Anmerkung zu erkennen gegeben, nachdem er kurz zuvor seine
Kategorie der »Reduktion von Komplexität« mit Gehlens Begriff der
»Entlastung« erläutert hatte: »Überhaupt trifft die hier skizzierte
Theorie sozialer Systeme sich in wesentlichen Punkten mit einer an-
thropologischen Soziologie, welche die ›Weltoffenheit‹ und die ent-
sprechende Verunsicherung des Menschen zum Bezugspunkt von
(letztlich funktionalen) Analysen macht: Siehe auch Helmuth Pless-
ner, Conditio humana, Pfullingen 1964.« 291 Noch davor hatte er mit
Bezug auf Gehlen und Scheler Schelskys Theorem von der institu-
tionalisierbaren »Dauerreflexion« zum Theorem »reflexiver Mecha-
nismen« in sozialen Systemen ausgebaut. 292 Im von Schelsky orga-
nisierten Band zur ›Theorie der Institution‹ verdeutlichte Luhmann
mit Rückbezug auf den amerikanischen Funktionalismus von Par-
sons diesen »Mechanismus der Institutionalisierung« im Hinblick
auf zunehmende Komplexität gesellschaftlicher Zusammenhänge.
Institutionen tragen nicht einfach zur Stabilisierung von Gesell-
schaften bei, indem sie diese fixieren, sondern im Gegenteil nur da-
durch, dass sie Spannungen stabilisieren und Handlungsalternativen
und Reflexionsreserven offen halten. 293 Insofern war in der – für die
deutsche Soziologie spektakulären – Habermas/Luhmann-Debatte
Anfang der 1970er Jahre der gemeinsame Bezug auf die Philosophi-
sche Anthropologie auch eine Ermöglichung der wechselseitigen
Wahrnehmung und Auseinandersetzung zwischen beiden. 294 Und

291 N. Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, in: Kölner Zeitschrift für So-

ziologie und Sozialpsychologie Jg. 19 (1967), S. 615–644; wiederabgedr. in: Ders., Sozio-
logische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Bd. 1, Opladen 1970,
S. 113–136.
292 N. Luhmann, Reflexive Mechanismen, in: Soziale Welt Jg. 17 (1966), S. 1–23; wie-

derabgedr. in: Ders., Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme,
Bd. 1, a. a. O., S. 92–112
293 N. Luhmann, Institutionalisierung: Funktion und Mechanismus im sozialen System

der Gesellschaft, in: H. Schelsky (Hrsg.), Theorie der Institution. Interdisziplinäre Stu-
dien, hrsg. vom Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld,
Bd. 1, Bielefeld 1970, S. 27–41.
294 J. Habermas, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Eine Auseinanderset-

zung mit Niklas Luhmann, in: J. Habermas/N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder

Philosophische Anthropologie A 431


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

selbst in der Grundproblematik »doppelter Kontingenz« zwischen


ego und alter ego, aus der Luhmann »soziale Systeme« als Lösungen
auftauchen lässt, die überschießende und vagabundierende Erwar-
tungserwartungen verarbeiten und anschlussfähig machen, lässt sich
noch Plessners Theorem der an Masken und Zeremonien orientier-
ten »Verkehrsformen« wieder erkennen, in deren Medium ›Men-
schen‹ die »Unergründlichkeit ihrer Seelen« ausbalancieren, um
überhaupt eine lebbare Wechselseitigkeit zu erreichen. Auch Geh-
lens Theorem der über das Totemtier, den Umweg der dritten Figur
als »Institution«, ermöglichten indirekten Kommunikation klingt an.
Schließlich rekurriert Luhmann selbst in seiner Wende zur »Auto-
poiesis«, die er mit Rückgriff auf die neue Biophilosophie von Matu-
rana vollzieht, noch auf biophilosophische Hintergrundfiguren der
Philosophischen Anthropologie: Plessners Theorem der »Positionali-
tät«, nach der Leben sich durch den gesetzten Selbstaufbau innerhalb
einer semipermeablen »Grenze« gegenüber einer spezifischen Um-
welt konstituiert. Die »Geburt der Systeme aus dem Geist der Insti-
tutionen« und die Anlehnung der Modernediagnostik Luhmanns –
ausdifferenzierte und kommunikativ verselbstständigte Verfahrens-
und »Sachzwänge« – an Denkfiguren des Leipziger Kreises um Frey-
er und Gehlen ist aus der Schelsky-Richtung früh erkannt und mit
beobachtet worden. 295

Innerhalb der deutschen Philosophie schließlich ist die Philosophi-


sche Anthropologie auf philosophische Köpfe zunächst fast nur im
Umkreis des Rothacker-Lehrstuhls für Philosophie übergesprun-
gen. 296 Aus dieser Quelle gingen neben der Leibphänomenologie

Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt a. M. 1971, S. 156–


157. – N. Luhmann, Moderne Systemtheorien als Form gesamtgesellschaftlicher Ana-
lyse (1968), ebd., S. 7–25.
295 H. Baier, Die Geburt der Systeme aus dem Geist der Institutionen. Arnold Gehlen

und Niklas Luhmann in der ›Genealogie‹ der ›Leipziger Schule‹, in: H. Klages/H. Qua-
ritsch (Hrsg.), Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Arnold Gehlens, a. a. O., S. 69–
74. – K.-S. Rehberg, Hans Freyer (1887–1969), Arnold Gehlen (1904–1976), Helmut
Schelsky (1912–1984), in: D. Kaesler (Hrsg.), Klassiker der Soziologie, Bd. 2, Von Tal-
cott Parsons bis Pierre Bourdieu, a. a. O., S. 72–104.
296 Plessners philosophische, seiner Art der Philosophie verbundene Schüler waren der

Niederländer H. Redeker und H. U. Asemissen, die beide später als Kunstphilosophen


arbeiteten. Beide verfaßten einschlägige philosophische Darstellungen von Plessners
Werk: Vgl. H. Redeker, Helmuth Plessner oder Die verkörperte Philosophie, Berlin
1993. – H. U. Asemissen, Helmuth Plessner: Die exzentrische Position des Menschen,

432 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

von H. Schmitz die Versuche von K.-O. Apel hervor, zwischen 1958
und 1968 eine »Erkenntnisanthropologie« zu entwickeln, die sowohl
die Rothackersche Anthropologie der Geisteswissenschaften wie die
»Anthropologie der mathematischen Denkform« des gleichfalls in
Bonn lehrenden O. Becker integrierte – derselbe, der bereits im
Plessnerschen ›Philosophischen Anzeiger‹ seine ersten diesbezüg-
lichen Aufsätze veröffentlicht hatte. Apel unternahm eine philo-
sophisch-anthropologische Grundlegung der Kultur- und der Natur-
wissenschaften.
In seinem Beitrag zur Rothacker-Festschrift 1958 297 unterschei-
det Apel von der »Physiognomie« die »Technognomie, eine erkennt-
nis-anthropologische Kategorie«. »Technognomie« soll heißen, »daß
der Leib durch sein Eingreifen in die Welt erst den Gesichtspunkt und
die Perspektive für jede Art anschaulicher Bedeutsamkeit schafft.«
Die Erkenntnis liegt im »Leibeingriff, der jede ›Ansicht‹ bedingt, […]
in der Gewalt des menschlichen ›Entwurfs‹ […], so daß er einmal als
›Kunst‹, zum anderen als ›technische‹, (d. h. auf mathematischer
›Festsetzung‹ und Wiederholung des menschlichen Eingriffs, d. h.
auf ›Messung‹ beruhende) Wissenschaft hochstilisiert werden kann.«
»Gleichwohl erwächst der Technognomie im Rahmen und unter Vo-
raussetzung ihrer apriorischen Funktion ein Gegenspieler in der
›Physiognomie‹, das meint hier: in der Möglichkeit, daß die Dinge,
Pflanzen, Tiere oder Mitmenschen ihr An-sich-sein nicht nach Maß-
gabe unseres Eingriffs (wenngleich nicht ohne ihn), sondern von sich
aus […] zu erkennen geben.« 298 In seiner Fortsetzungsstudie ›Das
Leibapriori der Erkenntnis‹ (1963) 299 rekonstruiert Apel erstmals die
Erkenntnisanthropologie zwischen der »Einsteinschen Relativitäts-
theorie als empirisch verifizierbares Modell einer exzentrisch ge-
dachten Monadologie« und dem »Leibapriori der geisteswissen-

in: J. Speck (Hrsg.), Grundprobleme der großen Philosophen: Philosophie der Gegen-
wart II, 2. erg. Aufl. Göttingen 1981, S. 146–180. – Zur niederländischen philosophi-
schen Rezeption der Philosophischen Anthropologie Plessners vgl. B. Delfgaauw/H. H.
Holz/L. Nauta (Hrsg.), Philosophische Rede vom Menschen. Studien zur Anthropologie
Helmuth Plessners, Frankfurt a. M./Bern/New York 1986.
297 K.-O. Apel, Technognomie: eine erkenntnisanthropologische Kategorie, in: G. Funke

(Hrsg.), Konkrete Vernunft. Festschrift für Erich Rothacker, Bonn 1958, S. 61–79.
298 Ebd., S. 74–76.
299 K.-O. Apel, Das Leibapriori der Erkenntnis. Eine erkenntnisanthropologische Be-

trachtung im Anschluß an Leibnizens Monadenlehre (1963), in: H.-G. Gadamer/P. Vog-


ler (Hrsg.), Neue Anthropologie, Bd. 7: Philosophische Anthropologie II, a. a. O., S. 264–
288.

Philosophische Anthropologie A 433


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

schaftlich relevanten Weltkonstitution« in Begriffen der Plessner-


schen »exzentrischen Positionalität« 300 , um dann in seinem »Entwurf
einer Wissenschaftslehre in erkenntnisanthropologischer Sicht«
(1966) 301 fortzufahren: »Die cartesische Subjekt-Objekt-Relation ge-
nügt eben nicht zur Begründung einer Erkenntnisanthropologie: Ein
reines Gegenstands-Bewußtsein kann, für sich allein genommen, der
Welt keinen Sinn abgewinnen. Um zu einer Sinnkonstitution zu ge-
langen, muß das – seinem Wesen nach ›exzentrische‹ – Bewußtsein
sich zentrisch, d. h. leibhaft, im Hier und Jetzt engagieren: Jede Sinn-
konstitution weist auf eine individuelle Sinnkonstitution zurück, die
einem Standpunkt, u. d. h. wieder: einem Leibengagement des erken-
nenden Bewußtseins entspricht.« Und Apel fährt fort, hier For-
schungsergebnisse der Philosophischen Anthropologie bündelnd:
»Eigenart und Unentbehrlichkeit der engagierten Erkenntnis hat
E. Rothacker in seiner Abhandlung ›Die dogmatische Denkform in
den Geisteswissenschaften und das Problem des Historismus‹ 302 he-
rausgearbeitet; die Bedeutung der exzentrischen Reflexion für die
Aufstellung immer umfassenderer Relativitäts- bzw. Transformati-
onstheorien hat O. Becker in seinem Buch ›Größe und Grenze der
mathematischen Denkweise‹ 303 durch das wissenschaftsgeschicht-
liche Gesetz der ›pythagoreischen Notwendigkeit‹ (Verzicht auf an-
schaulich-bedeutsame Erkenntnis zugunsten mathematisch-abstrak-
ter Allgemeingültigkeit) verdeutlicht.« Und Apel fasst seine
»Erkenntnisanthropologie« zusammen, die wie eine Explikation der
Plessnerschen auf der Differenz von Auge und Ohr basierten ›An-
thropologie der Erkenntnis‹ von 1948 klingt: »Das Leibapriori der
Erkenntnis steht […] insgesamt in einem komplementären Verhält-
nis zum Bewußtseinsapriori; d. h.: beide Bedingungen der Möglich-
keit der Erkenntnis ergänzen einander mit Notwendigkeit im Ganzen
der Erkenntnis, aber im aktuellen Vollzug der Erkenntnis hat entwe-
der das Leibapriori oder das Bewußtseinsapriori die Führung: ›Er-

300 Ebd., S. 269.


301 K.-O. Apel, Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik. Entwurf einer Wissenschafts-
lehre in erkenntnisanthropologischer Sicht (1968), in: Ders., Transformation der Phi-
losophie II: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft„ Frankfurt a. M. 1973,
S. 96–127.
302 E. Rothacker, Die dogmatische Denkform in den Geisteswissenschaften und das Pro-

blem des Historismus, Mainz/Wiesbaden 1954.


303 O. Becker, Größe und Grenze der mathematischen Denkweise, Freiburg/München

1959.

434 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

kenntnis durch Reflexion‹ und ›Erkenntnis durch Engagement‹ tre-


ten polar auseinander. […] Alle Erfahrung – auch und gerade die
theoretisch angeleitete, experimentelle Erfahrung der Naturwissen-
schaft – ist primär Erkenntnis durch Leibengagement, alle Theorie-
bildung ist primär Erkenntnis durch Reflexion.« 304

Obwohl die Philosophische Anthropologie nach Rothackers Abgang


1954 über keinen Lehrstuhl in der bundesrepublikanischen Philoso-
phie mehr verfügte, es deshalb seitdem keine durch institutionelle
Vermittlung in dieser Denktradition geschulten Philosophen gab,
kam es im Zeitraum der 60er Jahre (neben Apel und H. Schmitz,
den beiden Rothacker-Schülern) noch zu zwei weiteren folgenreichen
Rückgriffen auf ihre Theoreme durch jüngere Philosophen. Gesucht
wurde die Anlehnung an die Philosophische Anthropologie offen-
sichtlich zunächst dort, wo es um ein Entkommen aus der Alternative
von sprachanalytischer Philosophie einerseits und kritischer Gesell-
schaftstheorie andererseits ging, diesen zwei großen philosophischen
Projekten im Namen einer unvollendeten Aufklärung, die sich an
den noch nicht restlos überwundenen Mythen und traditionalen
Normen abarbeiteten. Um auf die Philosophische Anthropologie zu
kommen, musste dann für die Hermeneutik und Phänomenologie, in
der man Arbeitsmöglichkeiten fand, selbst eine Begründung gesucht
werden, die allerdings außerhalb dieser Richtungen lag.
In dieser Hinsicht ist eine Wirkungsgeschichte der Philoso-
phischen Anthropologie bei Hans Blumenberg und Odo Marquard
erkennbar. Beide haben sich seit Mitte der 1960er Jahre – bei un-
terschiedlicher Thematik und Stilistik – als wahlverwandt in Grund-
zügen ihrer Philosophie wahrgenommen und wurden auch so
wahrgenommen. 305 Der gemeinsame Theoriehintergrund der Phi-

304K.-O. Apel, Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik, a. a. O., S. 99.


305Blumenberg und der acht Jahre jüngere Marquard lernten sich 1965 in Gießen ken-
nen, als sie beide dort Lehrstühle für Philosophie hatten. 1966 wurde Marquard auch
Mitglied der 1963 – u. a. von Hans Robert Jauss, Hans Blumenberg – gegründeten For-
schungsgruppe ›Poetik und Hermeneutik‹, deren wichtigste Philosophen Blumenberg
und Marquard wurden. Ebenfalls 1965 wurden Hans Blumenberg, Hermann Lübbe
und Odo Marquard auf Vorschlag von Helmut Schelsky zu Mitgliedern des Gründungs-
gremiums der ostwestfälischen, späteren Universität Bielefeld. Als Hintergrund ihres
Verhältnisses ist zu erwähnen, dass Blumenberg »in der Terminologie der Nazis gespro-
chen – ›Halbjude‹ war«, deshalb 1939 nach seiner Schulzeit nicht auf die Universität
durfte, im Lager war, durch Flucht und Versteck überlebte, während der jüngere Mar-
quard 1940 mit zwölf Jahren auf ein »Naziinternat, eine Adolf-Hitler-Schule« kam. Vgl.

Philosophische Anthropologie A 435


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

losophischen Anthropologie war der Koinzidenzpunkt, wobei bei


Blumenberg eher Rothacker und Gehlen, bei Marquard Plessner
und Gehlen die Bezugsautoren waren.

Charakteristisch für die unspektakuläre, d. h. ohne autoritative Zitate


auskommende, aber deutliche Anlehnung an den Denkansatz der
Philosophischen Anthropologie ist Hans Blumenberg, wenn er
40jährig mit dem philosophischen Programm »Paradigmen zu einer
Metaphorologie« (1960) hervortritt 306 , die Rothacker in sein ›Archiv
für Begriffsgeschichte‹ mit aufnimmt, einer Zeitschrift, die er als
Vorarbeit zu seinem bereits Ende der 1920er Jahre angedachten Pro-
jekt eines historischen Wörterbuches kulturwissenschaftlicher
Grundbegriffe eingerichtet hatte.
Der folgenreichen erkenntnisanthropologischen Idee, die Ge-
schichte der Philosophie, dieses Inbegriffs eines begriffs-rationalen
Wissenwollens, das sich gerade hermeneutisch einer Vergewisserung
seiner eigenen »Begriffsgeschichte« unterziehen will, subsidiär auch
als Geschichte ihrer »Metaphorik« und Mythik aufzurollen, liegt die
anthropologische Annahme zugrunde, dass Menschen aus Mangel an
Anpassungsinstinkten in jeder Hinsicht Ersatz durch Kultur finden
müssen. Blumenberg ging zurück auf Cassirer und Husserl: Cassirer,
dessen ›Philosophie der symbolischen Formen‹ – als »Ausstiegsver-
such aus dem Neukantianismus« – »die ›anschauliche Welt‹, ihre
Phänomene des Ausdrucks, als Grundlage aller theoretischen Leis-
tungen sehen« wollte, »fast genau gleichzeitig«, als der späte »Ed-
mund Husserl unter dem Stichwort der ›Lebenswelt‹ […] das neu-
kantianische Element seiner Philosophie endgültig eliminiert.« Aber
mehr noch als von Husserl und von Cassirer, dessen Ausstiegsver-
such der ›Philosophie des symbolischen Formen‹ mit der »durch-
gehenden Intentionalität des Gesamtsystems auf Erkenntnis wissen-
schaftsförmiger Art und deren unüberbietbare Endgültigkeit hin«
Blumenberg zufolge doch dem Neukantianismus verhaftet blieb 307 ,

O. Marquard, Entlastung vom Absoluten. In memoriam: Hans Blumenberg, in: Lübe-


ckische Blätter 14 (1996), S. 109–111, und ders., Philosophie des Stattdessen, Stuttgart
2000, S. 9.
306 H. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, in: E. Rothacker (Hrsg.), Ar-

chiv für Begriffsgeschichte, Jg. 6 (1960), S. 7–143.


307 H. Blumenberg, Ernst Cassirers gedenkend bei Entgegennahme des Kuno-Fischer-

Preises der Universität Heidelberg (1974), in: Ders., Wirklichkeiten in denen wir leben.
Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, S. 163–172.

436 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

zeigt sich Blumenbergs metaphorologisches Projekt hinsichtlich der


Begründungsmöglichkeit sachlich beeindruckt durch Rothackers tie-
fer gelegte Kulturanthropologie: dass das menschliche Lebewesen,
das in vitalen Lagen eine Haltung finden muss, noch vor Begriffen
immer »Bilder« findet, durch die es sich in seiner weltoffenen Le-
benswelt eine Basisorientierung verschafft. Insofern ist das Pro-
gramm einer »Metaphorologie«, d. h. die begriffliche Rekonstruktion
der Philosophie als Verdichtung einer Kultur im Medium ihrer Bild-
begriffe, nicht nur ergänzend zur Begriffsgeschichte, sondern konsti-
tutiv gemeint, weil die Metaphern die unhintergehbare Substruktur
des Denkens bilden, die Nährlösung der systematischen begrifflichen
Kristallisationen. Je mehr sich Blumenberg in die Philosophische An-
thropologie Rothackers, Gehlens, Alsbergs, Plessners einarbeitete,
desto mehr erkannte er 308, dass »Metaphern« und »Mythen« nicht
nur als »Vorfeld der Begriffsbildung, als Behelf in der noch nicht
konsolidierten Situation von Fachsprachen«, sondern im Menschen
konstitutionell »als eine authentische Leistungsart der Erfassung von
Zusammenhängen« 309 arbeiten. Blumenberg, der von Rothacker in
die Akademie der Wissenschaften in Mainz geholt wurde, hoffte,
diesen systematisch aus dessen Philosophischer Anthropologie der
Kultur entwickelten Gedanken der »Metaphorologie« für das große
Rothacker-Projekt der kulturwissenschaftlichen Enzyklopädie der
Welt- und Selbsterklärungssysteme der reflexiv operierenden »Hoch-
kulturen« dienstbar machen zu können.
Als Rothacker starb und das begriffsgeschichtliche Projekt in die
Hände des Cassirer-Schülers Joachim Ritter und die Ritter-Schule
überging, hielt Blumenberg in der Akademie die Abschiedsrede auf
ihn und machte sich eigenständig an die Einlösung seines philoso-
phisch-anthropologisch gedeckten Programms einer Mythologie
und Metaphorologie in Form erzählender Philosophiegeschichte,
den Impuls aufnehmend: »Erich Rothacker hat den unaufhebbaren
Vorsprung des Lebens vor der Theorie, der Anschauung vor dem Be-
griff nicht nur gesehen, nicht nur an sich erfahren, sondern er hat ihn
zum Thema der Theorie selbst gemacht.« 310 Über die ›Beobachtun-

308 W. Hudson, After Blumenberg. Historicism and philosophical anthropology, in: His-

tory of the human sciences, Vol. 6 (1993), S. 109–116.


309 H. Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher,

Frankfurt a. M. 1979.
310 H. Blumenberg, Nachruf auf Erich Rothacker, in: Jahrbuch der Akademie der Wis-

senschaften und der Literatur Mainz Jg. 17 (1966), S. 70–76.

Philosophische Anthropologie A 437


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

gen an Metaphern‹ (1970) 311 gelang Blumenberg später der Durch-


bruch mit dem Buch ›Arbeit am Mythos‹. 312 Statt der erkenntnis-
theoretischen Abklärung des Mythos durch Philosophie und Wissen-
schaft, die mit der Prämisse arbeitet, dass der Geist mit dem Mythos
einsetzt und dann durch den Logos ersetzt wird, oder dass die Ver-
nunft den Mythos als Wirklichkeitsirrtum erledigt, arbeitete Blu-
menberg philosophiegeschichtlich mit einer anthropologischen Ab-
klärung des Mythos: Der Geist setzt mit dem Mythos ein, der schon
eine Arbeit des Logos selbst ist, insofern durch erzählende Struktu-
rierung der ein offenes Lebewesen überwältigende »Absolutismus
der Wirklichkeit« abgearbeitet wird. In mythischen Darstellungen
schafft sich das menschliche Lebewesen die Struktur der Wirklichkeit
und der Handlungsmöglichkeit. Und auch dann, wenn im Geist der
Logos des Begriffs dominiert, wird er den Mythos nicht los, vielmehr
bringt er ihn durch die logische, aufklärende »Arbeit am Mythos«
vermittelt-unmittelbar zu keinem Ende. In der systematischen Aner-
kennung der Mythen und der Metaphern der Wissenschafts- und
Philosophiegeschichte, die per Struktur immer zu mehreren auf-
treten, »mythische Gewaltenteilung« in einer narrativen Vielzahl
bieten, steckt auch eine Anerkennung der Pluralität menschlichen
Weltzuganges im Verhältnis zum Monopolcharakter des Begriffs.
Blumenberg hat sich in seinen großen Büchern bezüglich des
Rückhaltes seines philosophischen Projekts in der Philosophischen
Anthropologie bedeckt gehalten und doch diesen Bezugspunkt in Er-
gänzungsaufsätzen unmißverständlich zu erkennen gegeben, so in
den »Anthropologischen Annäherungen an die Aktualität der Rheto-
rik« 313 (im Sammelband unter dem programmatischen Titel: ›Wirk-
lichkeiten, in denen wir leben‹ 314 ) und schließlich in der Theorie der
»Unbegrifflichkeit«. 315 Um sich nicht unmittelbar mit der für ihn als
offenes Lebewesen absoluten, »genuin tödlichen Wirklichkeit«, dem
»Absolutismus der Wirklichkeit«, einzulassen, greift der Mensch

311 H. Blumenberg, Beobachtungen an Metaphern, in: Archiv für Begriffsgeschichte,

Jg. 15 (1971), S. 161–214.


312 H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1979.

313 H. Blumenberg, Anthropologische Annäherungen an die Aktualität der Rhetorik,

in: Ders., Wirklichkeiten in denen wir leben, a. a. O., S. 104–136.


314 H. Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stutt-

gart 1981.
315 H. Blumenberg, Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit, in: Ders., Schiff-

bruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, a. a. O., S. 77–93.

438 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

zum »metaphorischen Umweg«. »Der menschliche Wirklichkeits-


bezug ist indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem
metaphorisch«. »Der Hauptsatz der Rhetorik ist das Prinzip des un-
zureichenden Grundes. […] Er ist das Korrelat der Anthropologie
eines Wesens, dem Wesentliches mangelt.« 316 Wegen Evidenzmangel
und Handlungszwang muss ein solches Lebewesen etwas stattdessen
tun. In der Benennung mit Namen, in Metaphern und Mythen stellt
es in unvertrauter Wirklichkeit denjenigen Wirklichkeitsbezug her,
der unter der anthropologischen Bedingung fehlender Umweltanpas-
sung das Lebenkönnen gewährleistet. Unhintergehbar stecken in den
»absoluten Metaphern« die fundamentalen, tragenden Denkmodelle,
Gewissheiten, Vermutungen, Wertungen, in denen sich angesichts
des »Absolutismus der Wirklichkeit« die Haltungen, Erwartungen,
Tätigkeiten und Untätigkeiten, Interessen und Gleichgültigkeiten
einer Kultur und einer Epoche, einschließlich ihrer Philosophie, erst
regulieren. Die Wissenschaft und die Philosophie, die auf rational
überprüfbare, von den Bildern entkoppelte Begriffe zielen, müssen
sich von einer philosophisch-anthropologisch fundierten Theorie
der »Unbegrifflichkeit« über die Anmaßung des Begriffs gegenüber
der Anschauung, der Deduktion gegenüber der Beschreibung aufklä-
ren und auf ein Maß zurückführen lassen, das im Anlehnungs-
bedürfnis aller theoretischen Begrifflichkeit an imaginative – mythi-
sche, metaphorische, symbolische und narrative – Orientierungen
besteht 317 – das was Rothacker »anschauliche Abstraktion« genannt
hatte. »Man könnte sagen, die Blickrichtung« der Metaphorologie
»habe sich umgekehrt: sie ist nicht mehr vor allem auf die Konstitu-
tion von Begrifflichkeit bezogen, sondern auch auf die rückwärtigen
Verbindungen zur Lebenswelt als dem ständigen – obwohl nicht
ständig präsent zu haltenden – Motivierungsrückhalt aller Theo-
rie.« 318
Blumenberg selbst hat die anthropologische Fundierung dieser
These über die konstitutiven Formen der »Indirektheit« und Kunst-
griffe in einer seit den 1970er Jahren mehrfach gehaltenen ›Vor-
lesung zur Möglichkeit einer phänomenologischen Anthropologie‹

316 H. Blumenberg, Anthropologische Annäherungen an die Aktualität der Rhetorik,

a. a. O., S. S. 116 f.
317 D. Adams, Metaphors for mankind. The Developement of Hans Blumenbergs An-

thropological Metaphorology, in: Journal of the History of Ideas, Vol. 52 (1991), S. 152–
166.
318 H. Blumenberg, Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit, a. a. O., S. 77.

Philosophische Anthropologie A 439


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

probiert. 319 In Auseinandersetzung mit der Gegensätzlichkeit von


phänomenologischer Vergewisserung des Erkenntnissubjekts einer-
seits, naturalistischer Beschreibung des Menschen in der »Darwin-
Welt« andererseits variiert Blumenberg bei seiner »Beschreibung
des Menschen« die Grundtheoreme von Alsberg, Scheler und Geh-
len. Seine Anthropogenese rekurriert – wie bereits in ›Arbeit am
Mythos‹ – dabei auf die phylogenetische Urszene des Überganges
vom Urwald zur offenen Savanne, in der das menschliche Lebewesen
die riskante Konfrontation mit der »Weltoffenheit«, mit dem »Abso-
lutismus der Wirklichkeit« erfährt und eigentätig in Distanzierungs-
leistungen verarbeitet. »Vernunft« und die anderen Monopole des
Menschen sind insofern nicht die natürliche letzte Stufe der organi-
schen Evolution, sondern der »verzweifelte Kunstgriff eines organi-
schen Systems, um mit den Widrigkeiten einer ihm entstandenen
lebensbedrohlichen Sackgasse seiner Lebensbedingungen fertig zu
werden.« Damit ergibt sich der Sachverhalt, dass der Mensch – wie
es bereits Alsberg konstatierte – »am Ertrag der Evolution als einer
Optimierung der Anpassung und Reduzierung des physischen Exis-
tenzrisikos nicht mehr teilnimmt.«
Blumenberg hat in der Metapher der »Höhle«, in der Philoso-
phie-Geschichte des Gehäuse-Gleichnisses diesen anthropogeneti-
schen Grundvorgang selbst als Korrelativität des »Höhlenaustritts«
und der Stiftung künstlicher »Höhlen« rekonstruiert – womit er aus-
drücklich eine Philosophie der Institutionen im Anschluss an Arnold
Gehlen gibt: »Naturwesen sind angstfrei. Für jede von ihnen über-
haupt wahrnehmbare und damit reaktionsbedürftige Situation besit-
zen sie das Verhaltenskonzept. Widerfährt einem Organismus das
biologische Unglück, diese Determinanten der Selbstverständlichkeit
seiner Lebensführung einzubüßen, […] so muss Angst aus der Un-
bestimmtheit eines der Signale und Auslöser entbehrenden Zustan-
des, aus der Offenheit des Horizonts für unbekannte Möglichkeiten
[…] hervorgehen. […] Entlastung wird zum Daseinsprogramm die-
ses Wesens, zum Inbegriff der Bedingungen seiner nackten Selbst-
erhaltung, und der geschlossene Raum, das Gehäuse, in zahlreichen
Varianten zur Finalität dessen, was man später im Rückblick seine
›Kultur‹ nennen wird. Der Gattungsbegriff aller Gehäuse, die es sich
setzen und gründen konnte, der materiellen und spirituellen, heißt

319 H. Blumenberg, Beschreibung des Menschen. Aus dem Nachlass, hrsg. v. M. Som-

mer, Frankfurt a. M. 2006.

440 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

Institutionen.« Aber »die Höhle als Institution der Institutionen« 320


– für ein durch ungesichtete »Reizüberflutung« und durch Sichtbar-
keit exponiertes und gefährdetes Lebewesen Voraussetzung von In-
nerlichkeit und Reflexion – enthält in den »Höhlenausgängen« doch
»auch noch, zumindest partiell, den Spielraum exotischer Erfahrung,
des Abenteuers, des Ausbruchs und Ausstiegs, eröffnet durch den
Überschuß an Entlastung, der jederzeit zur Verfügung stehen muss
für unbekannte Herausforderungen, aber nicht jederzeit durch solche
auch abgeschöpft wird.« Gerade seine Metaphern und Mythen, die
ihn vom Absolutismus der Wirklichkeit und der absoluten Termino-
logie des Begriffs entlasten, eröffnen ihm auch den Spielraum exo-
tischer Erfahrung in der Arbeit an ihnen. Aus einer theoriegeschicht-
lichen Perspektive lässt sich somit der Status von Blumenbergs
Philosophie aufklären: Seine als Hermeneutik von Mythen und Me-
taphern gearbeitete Philosophie und seine »phänomenologische An-
thropologie« sind zugleich eine Philosophische Anthropologie der
Hermeneutik und der Phänomenologie – in ihr begründet.

Markant wird in der deutschen Philosophie seit den 60er Jahren au-
ßerdem der Gebrauch der Philosophischen Anthropologie durch Odo
Marquard – der selbst mehrfach Lobreden auf Blumenberg hält.
Anders als bei Blumenberg, wo sie der Hintergrund großer Bücher ist,
entfaltet sie sich bei Marquard in pointieren Aufsätzen und Beiträgen.
Von der kritischen Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule in
Gestalt von Marcuse zunächst beeindruckt, sich aber bewusst als Mit-
glied der von Schelsky entdeckten »skeptischen Generation« begrei-
fend, in der Ritter-Schule praktischer Philosophie geprägt, entdeckt er
Anfang der 60er Jahre in Münster die »philosophische Anthropo-
logie«, indem er deren Begriffsgeschichte nachgeht 321 . Er rekonstru-
iert dabei die ›philosophische Anthropologie‹ als eine philosophische
Denkbewegung, die am Ende des 18. Jahrhunderts gegen die Schul-
metaphysik und gegen die mathematisch-wissenschaftliche Philoso-
phie eine »Wende zur Lebenswelt« vollzieht und dann – angesichts der

320 H. Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt a. M. 1989, S. 816.


321 O. Marquard, Zur Geschichte des philosophischen Begriffs ›Anthropologie‹ seit dem
Ende des achtzehnten Jahrhunderts, in: Ders., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphi-
losophie. Aufsätze, Frankfurt a. M. 1973, S. 122–144. (Vortrag beim Habilitationskollo-
quium Universität Münster 1963; zuerst veröffentlicht in: Collegium philosophicum.
Studien. Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, Basel 1965, S. 209–239. Abschnitt 9 zuerst
veröffentlicht 1973).

Philosophische Anthropologie A 441


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

und gegen die konkurrierende Geschichtsphilosophie, die eine escha-


tologische Transzendierung eben dieser Lebenswelt vorsieht – die
Wende zur Lebenswelt durch eine Wende zur Natur vertieft. Dieser
Doppelimpuls trägt nach Marquard auch noch die moderne philoso-
phische Anthropologie des 20. Jahrhunderts. Diese zunächst im Habi-
litationsvortrag rekonstruierte »philosophische Anthropologie« pass-
te zur (erst viel später veröffentlichten) Habilitationsschrift selbst, die
unter dem Titel Ȇber die Depotenzierung der Transzendental-
philosophie« 322 die Psychoanalyse Freuds als Fortsetzung der bei
Schelling vollzogenen naturphilosophischen Wende des deutschen
Idealismus las, als eine aus dem Geist der romantisch gebrochenen
Transzendentalphilosophie erreichte »Philosophie der Endlichkeit«:
»die Psychoanalyse ist – philosophisch gesehen – die Fortsetzung des
deutschen Idealismus unter Verwendung entzauberter Mittel.« 323
Marquard, der in seiner ersten begriffsgeschichtlichen Rekonstruk-
tion der modernen philosophischen Anthropologie den Schwerpunkt
noch auf Scheler und Gehlen gelegt hatte, lernte Mitte der 1960er
Jahre das Werk von Helmuth Plessner kennen, und zwar durch Ver-
mittlung von Hermann Lübbe, der sich mit Plessner in Zürich
befreundet hatte und aus unmittelbarer Kenntnis von Marquards Ha-
bilitationsvortrag ihn diesem als Kenner der Geschichte der philoso-
phischen Anthropologie empfahl. Von da an wurde Marquard ein in-
spirierter Leser von Plessner, schließlich auch der Mitherausgeber
seiner Gesammelten Schriften.324 Er ist zunächst beeindruckt von
Plessners geistessoziologischer Studie ›Schicksal deutschen Geistes
im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche‹ (unter dem neuen Titel ›Ver-
spätete Nation‹ seit 1959 bekannt), die ihn über die »Selbstunsicher-
heit der Philosophie« in Deutschland aufklärt: dass die Geschichts-
philosophie als Transzendierung der Lebenswelt aus historischen
Gründen eine typische Figur deutscher Philosophiegeschichte sei 325 ,
322 O. Marquard, Über die Depotenzierung der Transzendentalphilosophie. Einige phi-

losophische Motive eines neueren Psychologismus (Habilitationsschrift 1963), ver-


öffentlicht u. d. T.: Transzendentaler Idealismus, romantische Naturphilosophie, Psycho-
analyse, Köln 1987.
323 O. Marquard, Abschied vom Prinzipiellen. Auch eine autobiographische Einleitung,

in: Ders., Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981 S. 9.


324 Außerdem wird Marquard später ein Nachfolger Plessners im Wissenschaftlichen

Beirat der Werner Reimers Stiftung. Zum 90. Geburtstag Plessners hält Marquard 1992
in Göttingen den philosophischen Festvortrag, Hans Paul Bahrdt den soziologischen.
325 O. Marquard, Abschied vom Prinzipiellen. Auch eine autobiographische Einleitung

(1981), in: Ders., Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, a. a. O., S. 4–22.

442 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

nämlich mangels der Tradition pragmatischer Politik zwischen der


»Übererwartung an die Geisteskultur« bzw. absoluter Hoffnung auf
Philosophie (Deutscher Idealismus) und absoluter, sie abschaffen wol-
lender Verzweiflung an ihr (Nietzsche, Marx, Kierkegaard) schwankt.
Gerade auch über die Rezeption der Plessnerschen Schriften 326
vollzieht Marquard gegen den Radikalismus der Geschichtsphiloso-
phie 327 bewusst einen »Abschied vom Prinzipiellen« 328 hin zu einer
im Verzicht auf die Schlüsselattitüde skeptischen »Philosophie der
Endlichkeit«. Sein Ausgangspunkt ist die These, dass »der Kompen-
sationsbegriff ein Schlüsselbegriff der modernen philosophischen
Anthropologie« ist. »Der wirkliche Mensch ist nicht das triumphie-
rende, sondern das kompensierende Lebewesen: das macht – gegen
die revolutionäre Geschichtsphilosophie und gegen die evolutionäre
Biologie – die philosophische Anthropologie geltend.« Menschen
sind nicht disponiert, das von der Natur Vorgegebene zu tun, aber
auch nicht, im Eigentlichen zu existieren, sondern »Menschen sind
in hohem Maße gezwungen und in der Lage, etwas stattdessen zu
tun« 329 – »Philosophische Anthropologie ist Philosophie des Statt-
dessen.« Die Pointe bei Marquard wird, dass er diesen Kompensa-
tionsbegriff (mit seiner Denktradition seit Herder, aber auch der
tiefenpsychologischen Variante bei Adler) als Leitbegriff in der An-
thropologie bei Plessner und Gehlen verknüpft mit dem Kompensa-
tionstheorem als »Bestandteil der Theorie der Moderne« bei Joachim
Ritter. »Nur und gerade weil der Kompensationsbegriff in der moder-
nen philosophischen Anthropologie zentral wird, können zugleich in
den menschlichen Verhältnissen allenthalben Kompensationen ent-
deckt oder gar geplant werden. […] Damit wird Kompensation zur
Kategorie für aktuell diagnostizierte mittelfristige historische Pro-
zesse, etwa durch Thesen Joachim Ritters«, aber eben auch durch die
seiner Schüler Marquard selbst oder Hermann Lübbe seit Mitte der
1960er Jahre: »Der moderne Vorgang der Wirklichkeitsentzauberung
wird kompensiert durch die spezifisch moderne Ausbildung der Er-
satzbezauberung des Ästhetischen; oder: die moderne Artefizialisie-
rung der Welt wird kompensiert durch die spezifisch moderne Ent-

326 O. Marquard, Diesseits der Utopie. Zum Tode von Helmuth Plessner, FAZ

14. 6. 1985.
327 O. Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1973.

328 O. Marquard, Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, a. a. O.

329 O. Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, a. a. O., S. 81.

Philosophische Anthropologie A 443


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

deckung und Apotheose der unberührten Natur als Landschaft und


die Entwicklung des ökologischen Bewußtseins; oder: der moderne
Traditionsverlust durch Versachlichung und durch zunehmende Be-
schleunigung des sozialen Wandels wird kompensiert durch die spe-
zifisch moderne Genese des historischen Sinns, also etwa der Geburt
des Museums und der Geisteswissenschaften.« 330
Seit Mitte der 60er Jahre hat Marquard in diesem Sinne von den
Theoremen der Philosophischen Anthropologie, vor allem der Pless-
ners und Gehlens, einen virtuosen öffentlichen Gebrauch gemacht,
indem er »Kompensationen«, »Polytheismus«, und »Üblichkeiten«
gegen »Letztbegründungen« ins Recht zu setzen suchte. In der prak-
tischen Philosophie führt das zur »Apologie der Üblichkeiten« 331 ,
zum Aufweis, dass (Diskurs-)Ethik im Sinne einer Bemühung um
Normenkritik und -begründung nach Vernunftmaßstäben eingelas-
sen ist in ein Netz von eingelebten, ›entlastenden‹ »Üblichkeiten –
Traditionen, Sitten, Usancen des Wissens und Handelns« – Gehlens
»Institution«, Plessner »Zeremonie«, deren subsidiären, puffernden
und verschonenden Stellenwert eine über ihre eigene Grenze sich
aufklärende rationale Ethik nicht übersehen kann. 332 Marquard hat
schließlich die Vernunft selbst innerhalb einer »Philosophie der End-
lichkeit« neu zu bestimmen versucht: »Vernunft als Grenzreaktion«
in Anknüpfung an Plessners (und Ritters) Bestimmung des Lachens
und Weinens als »Grenzreaktionen«: Menschen reagieren auf Un-
sinn oder Entsetzliches, mit dem sie nicht fertigwerden, mit einem
somatischen Momentanzusammenbruch, im Lachen oder Weinen
mit einer »plötzlichen Lockerung oder Preisgabe der bisherigen Ver-
haltens- und Sichtgrenzen«; indem sie lachen oder weinen, akzeptie-
ren sie momentan oder zeitweise das Ausgrenzte, zumindest im in-
klusiven Lachen und Weinen des Humors und des Mitleids, dass
insofern »familienähnlich« mit der »inklusiven Vernunft« ist: »Die
menschliche Vernunft hat mehr mit Lachen und Weinen zu tun, als
sie normalerweise anzuerkennen bereit ist: mehr mit dem Weinen,

330 O. Marquard, Homo compensator. Zur anthropologischen Karriere eines metaphy-

sischen Begriffs, in: G. Frey/J. Zelger (Hrsg.), Der Mensch und die Wissenschaften vom
Menschen, Bd. 1, Innsbruck 1983, S. 12–14.
331 O. Marquard, Über die Unvermeidlichkeiten von Üblichkeiten (1979), in: Ders.,

Glück im Unglück. Philosophische Überlegungen, München 1995, S. 62–74.


332 O. Marquard, Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Men-

schen, in: Ders., Apologie des Zufälligen, Stuttgart 1986, Philosophische Studien,
S. 117–139.

444 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

als die fundamentale Unerschütterlichkeit einer präzisionspedantisch


methodenkühlen Vernunft, die auf Messen und Berechnen aus ist,
wahrhaben will, und mehr mit dem Lachen, als es der moralischen
Empörung einer anklagenden Vernunft, die mit dem Weltgericht un-
verzüglich ernst und nur noch ernst machen will, lieb sein kann:
Darum ersetze ich […] den Satz, daß die Vernunft nicht lachen und
weinen darf, durch den Satz, daß Lachen und Weinen das paradigma-
tisch Vernünftige sind.« 333
Ohne direkt Schüler zu sein, entfalten Blumenberg und Mar-
quard ihre philosophischen Argumentationen seit den 1960er Jahren
parallel und mit Bezug aufeinander aus Denkmotiven der Philoso-
phischen Anthropologie, der eine mit seiner »Metaphorologie« mehr
im epistemologischen Feld der theoretischen Philosophie, der andere
mit dem »Kompensationstheorem« eher im Feld der praktischen Phi-
losophie. Zu Denkprojekten einer zu vollendenden Moderne, die –
wissenschaftstheoretisch oder politisch-ethisch – unter geschichts-
philosophischen, aber auch sprachkonstruktivistischen Ansprüchen
in diesem Zeitraum vorgetragen werden, bilden beide in der bundes-
deutschen Philosophiegeschichte damit – nach eigenem Verständnis
– ein Korrektiv, dessen gedankliche Herkunft aus der Philosophi-
schen Anthropologie deutlich erkennbar ist. 334

Die Philosophische Anthropologie hat in diesem Zeitraum der


1960er Jahre schließlich auch eine Wirkung in der Theologie bzw.
der Religionswissenschaft gezeitigt – womit ein Schelerscher An-
fangsimpuls des ganzen Denkprojektes eine Ausarbeitung fand.
Schon Scheler war es dezidiert ja nicht um eine theologisch fundierte
Anthropologie gegangen, sondern umgekehrt um die philosophisch-
anthropologische Konstitutionsbasis der Religion oder des »Ber-
gungswissens«. Die weltimmanent aufklärbare ›Stellung des Men-
schen im Kosmos‹ deckt für ihn auch die religiöse Dimension im
Phänomen der spezifisch menschlichen »Weltoffenheit« auf: »Genau
in dem Augenblicke, da das weltoffene Verhalten und die nie ruhende
Sucht entstand, grenzenlos in die entdeckte Weltsphäre vorzudrin-
gen und sich bei keiner Gegebenheit zu beruhigen; […] in eben dem-

333 O. Marquard, Vernunft als Grenzreaktion. Zur Verwandlung der Vernunft durch die

Theodizee, in: Ders., Glück im Unglück. Philosophische Überlegungen, a. a. O., S. 39–61.


334 O. Marquard, Laudatio auf Hans Blumenberg, in: Jahrbuch der Deutschen Akademie

für Sprache und Dichtung (1980), S. 53–56.

Philosophische Anthropologie A 445


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

selben Augenblicke musste der Mensch auch sein Zentrum irgendwie


außerhalb und jenseits der Welt verankern.« Allein auf Grund der
formalen Korrelativität zwischen einem weltoffenen, exzentrisch ge-
stellten Lebewesen und seinem Gegenüber muss es nach Scheler zur
Entdeckung dieses »weltexzentrisch gewordenen Seinskernes« kom-
men, die sich in der Metaphysik, aber ebenso ursprünglich in »dem
unbezwingbaren Drang nach Bergung, nicht nur seines Einzelseins,
sondern zuvörderst seiner ganzen Gruppe« 335 ausdrückt. Hans Jonas
hatte später – in seiner aufschlussreichen Studie zu den drei nicht-
sprachlichen Monopolen – festgehalten, dass »Werkzeug, Bild und
Grab, die lange vor den geschichtlichen Kulturen, vor den großen
Behausungen der Götter und den Schrifttafeln unter den Überresten
der Vergangenheit erscheinen, keinen Zweifel an ihrem mensch-
lichen Ursprung lassen. […] Zusammen liefern sie der Auslegung so
etwas wie die Grundkoordinaten einer philosophischen Anthropo-
logie.« 336 Der Mensch sei das Lebewesen, das gerade so gut bei den
Toten wie bei den Ungeborenen wohnt, und sich auch vorstellen kön-
ne, in der Nähe des Herzens der Welt sein zu können. Und Plessner
hatte 1960 die Erfahrung der »Entkörperung« ausdrücklich als »Con-
ditio humana« behandelt: »Todeserfahrung und Lebenserfahrung
bilden von allem Anfang an eine Einheit, weil in der Verkörperung
die Entkörperung als ihr Gegenzug mit enthalten ist. […] Die Ver-
trautheit mit dem Negativen, die den Tieren fehlt, bildet ihrerseits
die Grundlage für die Todeserfahrung und die Sorge um das eigene
Leben. Sie hat sich seit den frühesten Tagen menschlichen Daseins in
den verschiedenen kulturellen Formen entsprechend gestalten müs-
sen.« Doch die »menschliche Wurzel« religiöser Erfahrung ist formal
zu bestimmen: »Exponiertheit und beschränkte Weltoffenheit als
Kennzeichen menschlicher Grundverfassung geben einer ambivalen-
ten Lage Ausdruck, die bald in Überlegenheit, bald in Schwäche und
Unsicherheit manifestiert wird. Unbehaustheit und planend-gestal-
terisches Können, das die Dinge im Griff hat, begegnet auf Schritt
und Tritt der Chance einer übermächtigen Drohung, den Dingen aus-
geliefert zu sein und ihnen zu erliegen. Jedem Verhalten stellt sich
ein offenes, überschießendes Plus entgegen, das räumlich in der stän-
dig sich verschiebenden Horizontlinie jeweils übersehbarer Umge-

335M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 82 f.


336H. Jonas, Werkzeug, Bild und Grab, in: Ders., Philosophische Untersuchungen und
metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. M./Leipzig 1992, S. 34–49.

446 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

bung, zeitlich als Zukunft, an den Dingen als verborgene Möglich-


keit, überall also als ein Nichtgegebenes in Erscheinung tritt. Dieses
gilt es zu bannen, abzuwehren wie in die Gewalt zu bekommen.«
Und Plessner fährt in seiner philosophisch-anthropologischen Auf-
schließung der Religiosität fort: »Nur ein Äußeres bildet zu dieser
Aufgebrochenheit das Gegengewicht und gibt ihm entsprechenden
Rückhalt, ein Äußerstes an Macht und Hoheit. […] Ohne ein solches
Gegenüber kommt offenbar menschliches Verhalten in seinem am-
bivalenten Verhältnis zu seiner fragmentarischen Welt nicht aus.«
»Wenn die Genesis sagt, Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde,
trifft sie mit der Ebenbildlichkeit genauer das Verhältnis der Korres-
pondenz. Diesseits der Theologie läßt sich nur behaupten, dass beide
füreinander sind und sich die Waage halten.« 337 Wie dieses Gegen-
über gestaltet wird, hänge von der Art der geschichtlichen Daseins-
bewältigung ab, »in der es sich spiegelt und die es wiederum stützt.«
In jedem Fall hält sich durch die historisch verschiedenen Ausdrucks-
formen hindurch »die Angewiesenheit des Menschen auf ein Gegen-
über, mit dem – mag es auch keine personenhafte Züge besitzen – er
sich gleichsetzen kann: als der Macht, durch die er lebt – gleichzuset-
zen nur in dem paradoxen Abstand, der äußerste Ferne und unver-
mittelte Nähe vereint.« Und Plessner schließt, nachdem er die sozio-
kulturellen Variationen der Gestaltung des Numinosen, des
»Äußersten an Macht und Hoheit« bis hin zur sogenannten »gott-
losen, gottfernen Gesellschaft« der Moderne durchgegangen ist, die-
se Reflexion: »Es wäre verkehrt, die menschliche Grundverfassung,
die zu solchen Gestaltungen drängt, für erschöpft zu halten. Sie wird,
unendlicher Transformationen fähig, als machtvolle Konstante auch
in den uns noch verborgenen Weltkonzeptionen weiterwirken.« 338

337 H. Plessner, Die Frage nach der Conditio humana, GS VIII, S. 210–213.
338 Ebd., S. 214. – Zu erinnern ist hier auch an die im Umfeld der Philosophischen
Anthropologie entstandene Religionssoziologie, die ein Erkenntnisinteresse an der Re-
ligion als einem anthropologisch-sozialem Faktum (nicht nur an ihrer geschichtlich-ge-
sellschaftlichen Funktion) ausbildete: Th. Luckmann, Die unsichtbare Religion (1967).
Mit einem Vorwort von H. Knoblauch, Frankfurt a. M. 1991. – H.-G. Soeffner, Das
›Ebenbild‹ in der Bilderwelt – Religiosität und Religion, in: W. Sprondel (Hrsg.), Die
Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion. Für Thomas Luck-
mann, Frankfurt a. M. 1994, S. 291–317. – H. Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt
a. M. 1997, S. 133–162. – H. Popitz, Die Kreativität religiöser Ideen. Zur Anthropologie
der Sinnstiftung, in: C. Honegger/St. Hradil/F. Traxler (Hrsg.), Grenzenlose Gesell-
schaft? Verhandlungen des 16. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie,
Opladen 1999, S. 691–707.

Philosophische Anthropologie A 447


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Alle diese Motive hat der Theologe Wolfhart Pannenberg in sei-


ner großen Studie ›Anthropologie in theologischer Perspektive‹ zu-
sammengeführt. Ende der 1950er Jahre arbeitet er sich in die Philoso-
phische Anthropologie ein, um dann als 34jähriger 1962 in einer
ersten Vorlesungsreihe zur »Anthropologie der Gegenwart im Lichte
der Theologie« 339 den inneren Zusammenhang von »Weltoffenheit
und Gottoffenheit« aufzuweisen, bis er Anfang der 1980er Jahre sein
Opus magnum vorlegt. Pannenberg entwirft ausdrücklich keine An-
thropologie aus theologischer Perspektive, sondern »in theologischer
Perspektive« 340 , d. h. eine Rekonstruktion der Anthropologie als Be-
dingung der Möglichkeit für eine Theologie. Er operiert damit zwi-
schen einer theologisch deduzierten Anthropologie und der anthro-
pologischen Religionskritik, die die Theologie auf die Anthropologie
reduziert und damit zu liquidieren versucht hat. Wenn die Religions-
kritik den Glauben und die Theologie von Feuerbach bis Freud auf
dem Boden einer Anthropologie bestritten hat, welche die Religion
zum Produkt menschlicher Selbstentfremdung erklärt, dann kann
eine (christliche) Theologie (für die Pannenberg steht) das Bewusst-
sein ihrer Wahrheit nur durch ihre Grundlegung auf dem Boden
allgemeiner Anthropologie wiedergewinnen: es geht um »die theo-
logische Interpretation der Implikationen nicht-theologischer an-
thropologischer Forschung«. 341 Den innersten Kern von Pannenbergs
Argumentation bildet die sorgfältige Rekonstruktion der Argumente
der Philosophischen Anthropologie, von Scheler, Plessner, Portmann,
Gehlen, unter Einbeziehung von Herder, um unter dem Titel »Der
Mensch in der Natur und die Natur des Menschen« seine Sonderstel-
lung freizulegen. Als »exzentrische Positionalität« expliziert, erweist
sich die »Weltoffenheit« dieses Lebewesens auch als »Gottoffenheit«.
Pannenberg führt Schelers Ansatz mit Plessner durch. Kraft der ex-
zentrischen Positioniertheit ist der Mensch das handelnde Lebe-
wesen, das sich selbst konstituiert, aber diese Selbstständigkeit als
handelndes Wesen hat Bedingungen, »die nicht ihrerseits noch ein-
mal als Produkte menschlichen Handelns beschrieben werden kön-
nen.« 342 Kraft seiner Gestelltheit ist diesem Lebewesen also zugleich

339 W. Pannenberg, Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte

der Theologie, Göttingen 1962, S. 5.


340 W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983.

341 Ebd., S. 20.

342 Ebd., S. 513.

448 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Driften (1961–1969)

die Öffnung für eine »Sinngegenwart« möglich, »die sich nicht in


menschlicher Sinnsetzung verdankt, sondern umgekehrt der Konsti-
tution der menschlichen Subjektivität und aller menschlichen Sinn-
deutung schon zugrunde liegt.« 343 In der Exzentrizität ist über die
Weltoffenheit die »Gottoffenheit« impliziert, die nun wiederum von
diesem äußersten Gegenüber die Kritik der menschlichen Zentralität
(der Ich-Sucht) als Dauerthema der Religion ermöglicht. Diese
»Gottoffenheit« ist kein anthropologischer Gottesbeweis, sondern
nur ein Aufweis dieses Monopols: »Nur als Problem ist die Gottes-
frage dem Menschsein des Menschen unveräußerlich.« 344

343 Ebd., S. 505.


344 Ebd., S. 70.

Philosophische Anthropologie A 449


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

1.9 R!ckgang (1969–1975)

Trotz relativer Konsolidierung des Denkansatzes in den 1950er Jah-


ren und trotz weiterführender Ausarbeitung und Bewährung seiner
Theoreme durch eine neue Generation in den verschiedenen Diszip-
linen während der 60er kommt es zu keiner Institutionalisierung.
Der Denkansatz wird sich über die Lebenszeit seiner Hauptpro-
tagonisten nicht auf Dauer stellen können, bildet keine Organe wie
Zeitschriften oder Institute oder Vereinigungen aus. Es kommt zu
keiner Gruppenbildung um Forschungsprojekte oder Nachlassausga-
ben (z. B. das Scheler-Werk). Das hat zu tun mit der fehlenden Ver-
ständigung der Hauptprotagonisten, aber auch mit kontingenten
Umständen, wie z. B. dem Fehlen eines philosophischen Lehrstuhls,
der eine gewisse Fortführung oder Pflege der philosophischen Denk-
›Schule‹ erlaubt hätte. Ein kontingenter Umstand war auch, dass
Rothackers großes Projekt einer Enzyklopädie kulturwissenschaft-
licher Schlüsselbegriffe, das von einer anthropologisch fundierten
Geisteswissenschaft her in der reflexiven Begriffsgeschichte »Welt-
anschauungen« und »Lebensstile« aufschlüsseln sollte und das mit
Blumenbergs Idee einer der Begriffsgeschichte vorgängigen »Meta-
phorologie« seine Vertiefung fand, nach dem Tod Rothackers von der
Mainzer Akademie in die Hände von J. Ritter gelegt wurde. Damit
verwandelte sich das ab 1971 erscheinende ›Historische Wörterbuch
der Philosophie‹ in ein Projekt des »anknüpfenden Denkens« einer
hermeneutischen Philosophie unter Ausklammerung des Blumen-
bergschen Vorschlages 1 ; der philosophisch-anthropologische Hinter-

1 Vgl. H. Blumenberg, Nachruf auf Erich Rothacker, in: Jahrbuch der Akademie der
Wissenschaften und Literatur, Jg. 17 (1966), a. a. O., S. 71: »Stolze Befriedigung und
melancholisches Stöhnen vereinten sich, wenn er von dieser Aufgabe seines letzten
Jahrzehnts sprach, die doch nur der Vorspann und das Erprobungsfeld für die große
Enzyklopädie sein sollte, in der nicht nur die philosophische, sondern die – wie er es
nannte – kulturwissenschaftliche Terminologie in ihrer geschichtlichen Dimension dar-
geboten werden sollte. Die Akademie hat dieses Erbe inzwischen in die Hände von Joa-
chim Ritter und Hans-Georg Gadamer unter der redaktionellen Verantwortung von
Karlfried Gründer gelegt«. – J. Ritter, Vorwort, in: Ders. (Hrsg.), Historisches Wörter-
buch der Philosophie, Bd. 1: A–C, Basel/Stuttgart 1971, S. VIII f.: »Der Herausgeber-
kreis hat, nicht leichten Herzens, darauf verzichtet, Metaphern und metaphorische
Wendungen in die Nomenklatur des Wörterbuches aufzunehmen, obwohl ihm klar war,
daß, wie H. Blumenberg gezeigt hat, gerade die der Auflösung in Begrifflichkeit wider-
stehenden Metaphern ›Geschichte in einem radikaleren Sinn als Begriffe haben‹ und an
die ›Substruktur des Denkens‹ heranführen.« Der nachträgliche Impuls zur Einführung

450 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


R!ckgang (1969–1975)

grund des von Rothacker bereits Ende der 20er Jahre angedachten
Vorhabens verblasste.

Innerhalb weniger Jahre erfährt der Denkansatz der Philosophischen


Anthropologie – institutionell ungeschützt – seine Historisierung
und seine Zersetzung in der Kritik.
1972 setzt W. Schulz in seiner ›Philosophie in der veränderten
Welt‹ Scheler, Plessner und Gehlen bereits ein Denkmal, wenn er
ihre Arbeiten zusammen eine eigene »Epoche der nichtspekulativen
Anthropologie« bilden lässt, welche mit ihrer biologischen Orientie-
rung und dem Tier/Mensch-Vergleich die abendländische »metaphy-
sische Anthropologie« mit ihren spekulativen Prinzipien entweder
der »Vergeistigung« oder der »Verleiblichung« abgelöst hätte. Aber
diese »nicht-spekulative« Philosophische Anthropologie sei vor dem
Urteil einer »Philosophie in der veränderten Welt« (Schulz) selbst
schon Epoche geworden, endet – für Schulz – mit der »Aufhebung
der philosophischen Anthropologie« durch die Prinzipien der »Ver-
geschichtlichung« – mit Blick auf die »Menschheit als werdendes
Subjekt« – und der »Verantwortung« – mit Aussicht auf eine »Ethik
mit Fernhorizont«. 2

Dezidiert vorangetrieben wurde diese praxisphilosophische »Auf-


hebung der philosophischen Anthropologie« zum gleichen Zeitpunkt
durch den Soziologen W. Lepenies (einem Claessens-Schüler aus
Münster) und seine Idee der »experimentellen Anthropologie«, in
der im Zuge des soziologisch erneuerten geschichtsphilosophischen
Projekts die Belastbarkeit und Modifizierbarkeit der menschlichen
Natur konsequent ausgetestet werden sollte. Lepenies’ »experimen-
telle Anthropologie« entwickelte gegen die Philosophische Anthro-
pologie »eine Auffassung von Anthropologie […], die es zwar für
richtig erachtet, nach Konstanten der menschlichen Natur zu suchen
und die ›Wissenschaft vom Menschen‹ in die Nähe einer Naturwis-
senschaft zu rücken, gleichzeitig aber darauf beharrt, praktisch, im
›Experiment‹, zu testen, was am Menschen und am menschlichen
Verhalten unveränderlich ist und was durch eine Änderung gesell-

von philosophischen Metaphern auch in das Historische Wörterbuch vermittelt über


R. Konersmann: Die Metapher der Rolle und die Rolle der Metapher, in Archiv für
Begriffsgeschichte, Jg. 30 (1986/87), S. 84–137.
2 W. Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen 1972, S. 419–467.

Philosophische Anthropologie A 451


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

schaftlicher Zustände modifiziert werden kann.« 3 Parallel zu diesem


programmatischen Aktivismus einer »soziologischen Anthropolo-
gie« oder »experimentellen Anthropologie« trieb Lepenies die kultur-
soziologische und kulturpsychologische »Aufhebung der philosophi-
schen Anthropologie« voran, indem er ihre Grundgedanken – am Fall
der »Philosophie Gehlens« – aus dem historischen Habitusbild der
»Melancholie« ableitete: »Melancholisches Klima und anthropologi-
sche Reduktion«. 4 »Handlungshemmung« infolge von Reflexion rufe
Melancholie hervor, die in Gehlens Anthropologie durch die forcierte
Identifikation mit den Institutionen überwunden würde, die Handeln
erst wieder ermögliche. Lepenies betreute Anfang der 70er Jahre auch
die ideologiekritische Dissertation von C. Hagemann-White, deren
subtile Psychologisierungen und Soziologisierungen das Werk Geh-
lens als Ausdruck eines gestörten bürgerlichen Charakters abbauten,
der auf »Legitimation als Anthropologie« angewiesen sei. 5 Neben der
politisch-aktivistischen »experimentellen Anthropologie« und der
»Ideologiekritik« der philosophischen Anthropologie fügte sich die
Wiederkehr der historistischen Einwände als weiteres Moment zu
einer »Kritik der Anthropologie«. Die Prätention jeweils bestimmter
»anthropologischer Konstanten« verkenne die historische Bedingt-
heit jedes menschlichen Verhaltens und Erfahrens, zu jeder als
universell behaupteten menschlichen Eigenschaft lasse sich durch
Studium der Geschichte und Ethnologie (oder eben durch pädago-
gisch-politische Experimente) ein Gegenbeispiel angeben. »Anthro-
pologie«, so Lepenies, »kann daher nicht länger, wie zumal in
Deutschland, mit ›philosophischer Anthropologie‹ assoziiert werden.
Es lässt sich die Herausbildung einer interdisziplinären ›Wissenschaft
vom Menschen‹ prognostizieren, die Ergebnisse und Denkansätze der
biologischen, ethnologischen und philosophischen Anthropologie in
sich vereinigt; sie wird sozialwissenschaftlich orientiert sein.« 6
3 W. Lepenies/H. Nolte, Kritik der Anthropologie. Marx und Freud, Gehlen und Haber-
mas, über Aggression, München 1971, S. 7. – W. Lepenies, Soziologische Anthropologie.
Materialien, München 1971.
4 W. Lepenies, Melancholisches Klima und anthropologische Reduktion – Die Philoso-

phie Arnold Gehlens, in: Ders., Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1969,
S. 229–253. – Eine ausführliche Kritik Gehlens bereits in W. Lepenies, Handlung und
Reflexion – Aspekte der Anthropologie Arnold Gehlens, in: Soziale Welt, Jg. 18 (1967),
S. 41–67.
5 C. Hagemann-White, Legitimation als Anthropologie. Eine Kritik der Philosophie

Arnold Gehlens, Stuttgart 1973.


6 Lepenies/Nolte, Kritik der Anthropologie, a. a. O., S. 1.

452 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


R!ckgang (1969–1975)

Genau in diesem Zeitraum erfuhr die nie verstummte existenzphi-


losophische Kritik 7 an der Philosophischen Anthropologie im Rück-
gang auf Kierkegaard einen neuen Auftrieb. H. Fahrenbach rollte
eine praxisphilosophisch verstandene kritische Theorie der Gesell-
schaft (»Selbstverständigung« und »Selbstverwirklichung« durch
Überschreitung der Gegebenheiten) aus einer von Heidegger her re-
konstruierten »existenzphilosophischen Anthropologie« 8 auf, die er
gegen die Philosophische Anthropologie wandte, vor allem in Aus-
einandersetzung mit Plessner. In einem einschlägigen Handbuch-
artikel von 1973 zum »Menschen« 9 bestimmte er: »Der Begriff des
Menschen als des Seienden, das im Rahmen struktureller und le-
bensgeschichtlicher Daseinsbedingungen zur Selbstverständigung
und Selbstverwirklichung genötigt ist, kann als die Basiskonzeption
gegenwärtiger Anthropologie angesehen werden.« In der Alternative
der Fundierungen, die entweder »das anthropologische Thema fun-
damentalontologisch (Heidegger) oder naturphilosophisch (Plessner)
umgreifen«, hatte nach Fahrenbach die erstere, die existenzphiloso-
phische Anthropologie den Primat, weil »die naturhafte Daseins-
bestimmtheit des Menschen nicht ›an sich‹, sondern stets in einem
sie spezifisch bestimmenden Horizont kulturell vermittelter Verhal-
tens- und Verstehensmöglichkeiten ›gegeben‹ und damit auf ›Selbst-
bestimmung‹ hin strukturiert ist, ohne dadurch aufgehoben zu
sein.« 10 »In diesem Sinne ist der Ansatz existenzphilosophischer An-
thropologie beim ›Verstehendsein‹ (als ›Erschlossenheit‹) bzw. Be-

7 O. Pöggeler, Existentiale Anthropologie, in: H. Rombach (Hrsg.), Die Frage nach dem
Menschen – Aufriß einer philosophischen Anthropologie. Festschrift für Max Müller
zum 60. Geburtstag, Freiburg/München 1966, S. 443–460. – M. Theunissen, Skeptische
Betrachtungen über den anthropologischen Personbegriff, ebd., S. 461–490.
8 H. Fahrenbach, Heidegger und das Problem einer ›philosophischen‹ Anthropologie,

in: V. Klostermann (Hrsg.), Durchblicke. Martin Heidegger zum 80. Geburtstag, Frank-
furt a. M. 1970, S. 97–131.
9 H. Fahrenbach, Mensch, in: H. Krings/H. Baumgartner/Ch. Wild (Hrsg.), Handbuch

philosophischer Grundbegriffe, 3 Bde., München 1970, Bd. II, S. 888–912.


10 Ebd., S. 903. – Ähnlich die Argumentation bei dem Husserl-Schüler Landgrebe, der

seine bereits in den 50er Jahren von der Phänomenologie her repräsentativ formulierte
Kritik an der Philosophischen Anthropologie wieder aufnahm: L. Landgrebe, Philoso-
phische Anthropologie – eine empirische Wissenschaft? (1976), in: Ders., Faktizität und
Individuation. Studien zu den Grundfragen der Phänomenologie, Hamburg 1982, S. 1–
20. Im Unterschied zur Philosophischen Anthropologie, die kein eindeutiges Prinzip
angeben könne, nach dem sie Erfahrungen ordne, erschließe die Phänomenologie Hus-
serls von der unmittelbar gewissen Selbsterfahrung die in ihr enthaltenen Anderen und
die Welt: die Selbsterfahrung »trägt« die Anderen und Welt schon »in sich«.

Philosophische Anthropologie A 453


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

wußtsein anthropologisch und methodisch fundamental. (Und auch


die ›exzentrische Position‹ ist keine bewußtseinsvorgängige oder -un-
abhängige Struktur […])«. 11
D. Kamper radikalisierte 1973 den existenzphilosophischen Vor-
behalt gegen Scheler, Plessner und Gehlen zu einer »Destruktion der
philosophischen Anthropologie«, indem er ihr im Namen einer »Wis-
senschaft vom Menschen als Kritik, als kritischer Anthropologie« den
Zugang zur objektivierenden Wissenschaft abzuhandeln suchte. Die
›Tragweite gegenwärtiger Anthropologiekritik‹ (1973) 12 versuchte er
durchschlagend zu verlängern, indem er vorschlug, an einem Begriff
des Menschen zu arbeiten, »der es erlaubt, die Unmöglichkeit eines
Begriffs vom Menschen begrifflich nachzuweisen.« 13 Vom Existenz-
und Freiheitsphilosophen Max Müller herkommend und von Heideg-
gers Kritik einer wissenschaftsbezogenen, an der ›Vorhandenheit‹ an-
setzenden Philosophischen Anthropologie geprägt, wollte er Anthro-
pologie als Selbstbegrenzung der humanwissenschaftlichen Theorie
durchführen: sie solle »ihren Momentcharakter festhalten und auf
Praxis nicht mehr in der Weise eines totalen Entwurfs wirken, son-
dern sich selbst begrenzend, menschliche Universalität praktisch frei-
gebend und die Reflexivität jedes einzelnen konkreten Individuums
postulierend.« 14 Nur so sei die Einsicht in die Veränderlichkeit der
»menschlichen Natur« bis in den Kern der Anthropologie aufgenom-
men.

Just zu diesem Zeitpunkt verdichtet sich – aus der ganz anderen Rich-
tung eines ›linguistic turn‹ kommend – die schon lange virulente
sprachanalytische und sprachpragmatische Kritik am Denkansatz
der Philosophischen Anthropologie. Man kann »mit der philosophi-
schen Anthropologie nicht beginnen, ohne zugleich damit zu be-
ginnen, ihre Sprache kritisch zu klären.« In seinem Buch ›Philo-

11 H. Fahrenbach, Mensch, a. a. O., S. 906. – Zwanzig Jahre später, also jenseits des hier
behandelten Zeitraumes, wird Fahrenbach diese Rangordnung zugunsten der naturphi-
losophisch begründeten Philosophischen Anthropologie bei Plessner umkehren. Vgl.
H. Fahrenbach, ›Lebensphilosophische‹ oder ›existenzphilosophische‹ Anthropologie?
Plessners Auseinandersetzung mit Heidegger, in: Dilthey-Jahrbuch, Bd. 7 (1990–91),
S. 71–111.
12 D. Kamper, Geschichte und menschliche Natur. Die Tragweite der gegenwärtigen

Anthropologiekritik, München 1973.


13 Ebd., S. 26.

14 Ebd., S. 15.

454 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


R!ckgang (1969–1975)

sophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik‹


(1973) 15 fordert so der Erlanger Philosoph W. Kamlah gegen die na-
turalistische Philosophische Anthropologie, die in die ungeklärte und
ungereinigte »Bildungssprache« verstrickt ist, von der Sprachkritik
und Logik her unter radikalem Verzicht auf die bisherige Bildungs-
sprache den Zugang zur Frage des Menschen neu und unter dem
Gesichtspunkt der Verantwortung aufzurollen – unter Einbeziehung
der Ethik: wie der Mensch vernünftig leben soll und kann. 16
Die Motive sprachlicher Rationalität des Menschen und seiner
geschichtlicher Emanzipation verknüpfen sich nun auch zur prinzi-
piellen Kritik der Philosophischen Anthropologie genau Ende der
60er/Anfang der 70er Jahre in der von Habermas reformulierten Kri-
tischen Theorie der Gesellschaft. Diese Gegenideen von Habermas
arbeiten entscheidend an der »Aufhebung der philosophischen An-
thropologie« mit, weil er – in einer Art doppelter Überwindung –
coram publico sowohl gegen Gehlen wie gegen Plessner vorgeht.
Der Tonfall, mit dem er sich in diesen Jahren gegen Gehlen und
Plessner wendet, ist zwar diametral verschieden – forcierte Vehe-
menz gegen Gehlen, seine »pluralistische Ethik« sei »politischer
Stammtisch eines aus dem Tritt geratenen Rechtsintellektuellen« 17
– Liebenswürdigkeit gegenüber Plessner: »Ihre Grundintention, ver-
ehrter Herr Plessner, zielt auf eine philosophische Rehabilitierung
der Natur« –, aber hört man genau hin, sind die die Philosophische
Anthropologie auszuhebeln versuchenden Argumente dieselben.
Gehlens »pluralistische Ethik«, die These von nicht aufeinander-
rückführbaren verschiedenen Ethosformen, hält Habermas 1970 vor
dem Hintergrund seiner monistisch-universalistischen Ethik (dem

15 W. Kamlah, Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik,


Mannheim 1973, S. 12. – In diesem Sinne einer Verwandlung der »philosophischen
Anthropologie« unter den Direktiven der »Sprachphilosophie, Logik und Wissen-
schaftstheorie« auch E. König, Ist die philosophische Anthropologie tot?, in: J. Mittel-
strass/M. Riedel (Hrsg.), Vernünftiges Denken. Studien zur praktischen Philosophie
und Wissenschaftstheorie, Berlin/New York 1978, S. 329–341.
16 In der Nachfolge dieser sprachrekonstruktiven Anthropologie der Erlanger Schule

steht Kuno Lorenz, Einführung in die philosophische Anthropologie, Darmstadt 1990.


Auch: Th. Rentsch, Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu
den Grundlagen philosophischer Anthropologie (1985), Stuttgart 2003, und ebenfalls
M. Gutmann, Das Erfahren von Erfahrungen. Dialektische Studien zur Grundlegung
einer philosophischen Anthropologie, 2 Bde., Bielefeld 2004.
17 J. Habermas, Nachgeahmte Substantialität. Eine Auseinandersetzung mit Arnold

Gehlen (1970), a. a. O., S. 107–126. – Zuerst in Merkur, Jg. 24 (1970), S. 313–327.

Philosophische Anthropologie A 455


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

»Gegenseitigkeitsethos« unter den Gehlenschen Ethosformen), die


sich in »welthistorischen Stufen des moralischen Bewußtseins« als
»Gattungsgeschichte« evolutionär entfaltet, aus systematischen
Gründen für eine Fehlkonstruktion. Gehlens Ansatz einer »anthro-
pologischen Ethik«, die verschiedene körperleiblich situierte Sozial-
regulationen herausbringt, ist zusätzlich im Ansatz verfehlt, weil die
Sprache als die »Institution der Institutionen« aller Körperleiblich-
keit immer schon vorausgeht. Verletzbarkeit und Verunsicherung
des Menschen ist primär nicht eine Frage seiner körperleiblichen Be-
troffenheit und Irritation, sondern eine der sprachlichen Kommuni-
kationsstrukturen. 18
Gegenüber Plessner – aus Anlass seines 80. Geburtstages 19 –
trägt er 1972 genau dieselben zwei Auflösungsargumente bezogen
auf den Denkansatz Philosophische Anthropologie vor, nicht ohne
ihn – dessen Beharren auf genuin naturphilosophischer Fundierung
der Philosophischen Anthropologie Habermas nicht entgangen ist –
vorher erneut auf seine eigene Stereotypisierung gegenüber Gehlen
zu verpflichten: »Ihre Grundintention, verehrter Herr Plessner, zielt
auf eine philosophische Rehabilitierung der Natur, besonders der bio-
logischen Grundlagen des menschlichen Lebens. […] Sie […] vollzie-
hen sehr energisch die naturalistische Wendung, ohne dafür den Preis
eines philosophischen Naturalismus zu entrichten. Im Bewußtsein
der politischen Folgen, die Sie am eigenen Leibe spüren mußten, sind
Sie gegen den Biologismus alter, sozialdarwinistischer und neuer, hu-
manethologischer Prägung, ebenso immun wie gegenüber dem Beha-
viorismus […]. Sie bringen, wenn ich das à la Nicolai Hartmann sagen

18 In diesen Kontext der Kritik der Philosophischen Anthropologie vom Standpunkt


»diskursiver Rationalität« gehört auch der Beitrag von D. Böhler zu Gehlen, der in
einem als Handbuchartikel zur Philosophie Gehlens gedachten Beitrag dessen Werk
und Aussagen einen Auftritt und Spielraum überhaupt nur noch in einem vernunft-
und sprachkritischen Rahmen einräumt: »Meine Einführung ist kritisch, weil sie die
vernunftethische Frage nach der Rechtfertigung der Institutionen sowie des Handelns
in Institutionen und daher auch das Problem einer Dialektik von Institution und Kritik
im Auge behält.« Gehlens Philosophische Anthropologie kommt in einem solchen Rah-
men nur noch bereits kritisch überwunden zur Sprache. D. Böhler, Arnold Gehlen:
Handlung und Institution, in: J. Speck (Hrsg.), Grundprobleme der großen Philosophen.
Philosophie der Gegenwart II: Scheler, Hönigswald, Cassirer, Plessner, Merleau-Ponty,
Gehlen, Göttingen 1973, 3. durchges. Aufl. 1991, S. 231–284.
19 J. Habermas, Brief an Helmuth Plessner aus Anlaß seines 80. Geburtstages (1972), in:

Ders., Philosophisch-politische Profile, 3. erw. Aufl. Frankfurt a. M. 1981, S. 137–140. –


Zuerst in Merkur, Jg. 26 (1972), S. 944–946.

456 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


R!ckgang (1969–1975)

darf, die niederen Kategorien gegen die höheren zu ihrem Recht, ohne
dabei die soziokulturelle Lebensform so tief anzusetzen, daß das er-
kennende Subjekt […] sich selbst nicht mehr ernst nehmen darf.« 20
Dann kommen die zwei Ärgernisse der Plessnerschen Anthro-
pologie, die strukturell denen der Gehlenschen gleichen. Zunächst
Plessners »sehr bemerkenswerte Abwehr des Evolutionismus«.
Selbst Marx und Freud mit ihren auf Selbstverwirklichung zielenden
Aufklärungsideen gelten Plessner als »Liquidatoren der Vernunft«.
»Woher nehmen Sie, lieber Herr Plessner, die Sicherheit, daß ein
Bildungsprozeß der Gattung nicht stattfindet?« 21 Das andere Ärger-
nis der Plessnerschen Anthropologie ist für Habermas Plessners auch
die Sprache fundierender Begriff ›exzentrische Positionalität‹ : »Sie,
lieber Herr Plessner, halten […] die Sprache für eines unter mehre-
ren Monopolen, die einen Zusammenhang bilden und ihrerseits aus
der zugrundeliegenden Leib-Körper-Struktur erklärt werden müs-
sen: nicht die Struktur der sprachlichen Kommunikation, in welche
die naturgeschichtlichen Potentiale eingearbeitet sind, erklärt die be-
sonderen Kompetenzen des Menschen, sondern seine exzentrische
Position.« Habermas hingegen hält fest, dass die »exzentrische Posi-
tionalität« umgekehrt aus der sprachlichen Intersubjektivität hervor-
geht, wie schon G. H. Mead gelehrt habe, und sich im »System der
sprachlichen Personalpronomina« einübt: »Dann würde sich in dem
Doppelaspekt von Leib und Körper die Doppelstruktur der Sprache
bloß abbilden.« 22 In der Reziprozitätsstruktur der Sprache aber, dem
ausschlaggebenden Monopol des Menschen, sei Vernünftigkeit prä-
supponiert, in deren Medium – reflexiv entfaltet im auf Konsens
zielenden Diskurs – Partikularitäten der Interessen und Bilder kri-
tisch erkennbar und in Perspektive einer evolutionären Emanzipati-
on der menschlichen Gattung praktisch überwunden werden. Haber-
mas setzt damit die fortwirkende kritische Markierung der
Philosophischen Anthropologie als »solipsistisch« (da die Bedeutung
des Leibes und des Körpers nicht aus der intersubjektiven Erfah-
rungsstruktur abgeleitet werde), eine Markierung, die in seinem
Umfeld immer erneut wiederholt und differenziert wird. 23

20 J. Habermas, Brief an Helmuth Plessner, a. a. O., S. 137 f.


21 Ebd., S. 138 f.
22 Ebd., S. 139 f.

23 In diesen zeitgenössischen Zusammenhang der Habermas-Kritik an der Philosophi-

schen Anthropologie gehört auch die von A. Honneth und H. Joas vorgelegte Studie
›Soziales Handeln und menschliche Natur. Anthropologische Grundlagen der Sozialwis-

Philosophische Anthropologie A 457


https://doi.org/10.5771/9783495999899
Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Gegen diese sprachpragmatisch überarbeitete kritische Geschichts-


philosophie unvollendeter Aufklärung formiert sich in diesen Jahren
die Philosophische Hermeneutik neu als Theorie moderater Selbst-
deutung menschlicher Praxis. In anderer Weise als die Kritische
Theorie betreibt auch dieser einflussreiche Ansatz – durch H.-G. Ga-
damer und O. F. Bollnow – die ›Aufhebung der philosophischen An-
thropologie‹, indem er sich als deren Erbin einsetzt. In der Übernah-
me der Erbmasse der Philosophischen Anthropologie hebt die
philosophische Hermeneutik deren Theorie auf, indem sie in der her-
meneutischen Reformulierung des anthropologischen Anliegens die
Spezifik des Denkansatzes von 1928 zum Verschwinden bringt.
Hans-Georg Gadamer übernimmt Ende der 60er Jahre die He-
rausgabe (zus. mit dem Mediziner Paul Vogler) eines repräsentativen
Sammelwerkes, das unter dem Titel ›Neue Anthropologie‹ 24 seit
1972 in sieben Bänden Beiträge zur »Biologischen Anthropologie«,
»Psychologischen Anthropologie«, »Sozialanthropologie«, »Kultur-
anthropologie« und »Philosophischen Anthropologie« zusammen-
führt. In seiner Einleitung ›Die Aufgabe der neuen Anthropologie‹ 25
löst Gadamer den die Biologie systematisch miteinbeziehenden
Denkverbund der Philosophischen Anthropologie behutsam auf, in-
dem er zunächst Plessner von Gehlen und Scheler abtrennt. 26 Die

senschaften‹, Frankfurt a. M./New York 1980. (Dies., Social Action and Human Nature,
Foreword by Ch. Taylor, Cambridge 1988). Die Arbeit von Honneth und Joas bedeutet
den Versuch, unter Belebung der materialistisch-anthropologischen Denktradition von
Feuerbach und Marx verschiedenste moderne Theoriestücke – neomarxistische, prag-
matistische und auch solche der »deutschen Tradition der philosophischen Anthropolo-
gie« (Plessner, Gehlen), allerdings unter Weglassung von Scheler und Rothacker – unter
dem Stern einer historisch-materialistischen Theorie der Gesellschaft zu versammeln
und neu zu formieren. Meads intersubjektivitätstheoretischer Ansatz wird gegen Geh-
lens und auch Plessners sog. ›solipsistische‹ Konstruktion einer philosophischen An-
thropologie ins Spiel gebracht. Vgl. auch: H. Joas, Intersubjektivität bei Mead und Geh-
len, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Jg. 65 (1979), S. 105–121; K.-S.
Rehberg, Die Theorie der Intersubjektivität als eine Lehre vom Menschen. George Her-
bert Mead und die deutsche Tradition der ›Philosophischen Anthropologie‹, in: H. Joas
(Hrsg.), Das Problem der Intersubjektivität. Neuere Beiträge zum Werk George Herbert
Meads, a. a. O., 1985, S. 60–92.
24 H.-G. Gadamer/P. Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie in 7 Bdn., Stuttgart 1972–

1975.
25 H.-G. Gadamer, Theorie, Technik, Praxis – die Aufgabe einer neuen Anthropologie,

in: H.-G. Gadamer/P. Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie, Bd. 1: Biologische Anthro-
pologie I, S. IX–XXXVII.
26 Plessner gehörte mit seiner ›Anthropologie der Sinne‹ (1970) mit zu den Beiträgern

des Teilbandes ›Philosophische Anthropologie 2‹.

458 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


R!ckgang (1969–1975)

Forschung verschiedener Disziplinen stimme darin überein, dass


Schelers Vorstellung, der Mensch werde zum Menschen dadurch,
dass er neben der Natürlichkeit über »zusätzliche Ausstattung ver-
fügt, die ihn auf eine jenseitige Ordnung bezieht (Schelers Begriff
des Geistes)«, sowie Gehlens »Philosophie der Institutionen […] als
Kompensation der biologischen Mangelausstattung des ›nicht fest-
gestellten Tieres‹« bezogen auf den Menschen »nicht genügt, um
seine Auszeichnung zu erklären. Vielmehr scheint es der Reichtum
seiner Fähigkeiten und Ausstattungen für Wahrnehmung und Bewe-
gung, deren Unausgeglichenheit ihn charakterisiert. Plessner […]
hat das seine ›Exzentrizität‹ genannt. Es zeichnet den Menschen aus,
daß er sich zu seinem Körper selber verhält und« – jetzt beginnt
Gadamers fast unmerkliche Verschiebung hin zur hermeneutisch
verstandenen Praxis – »auch sonst die natürlichen Formationen der
Lebendigkeit wollend und handelnd zu überschreiten vermag […].«
In differenzierten Weisen arbeite der Mensch seine »Exzentrizität«
in dem aus, was der Mensch selbst seine »Kultur« nenne, und die
großen Themen von Wirtschaft, Recht, Sprache und Religion, Wis-
senschaft und Kunst legten nicht nur in gegenständlichen Spuren
von ihm Zeugnis ab. Sondern, und damit verschiebt Gadamer das
bioanthropologisch operiende Denkprojekt einen Schritt weiter zum
geisteswissenschaftlichen Pol, den gegenständlichen Spuren des
Menschen »tritt vielmehr die Kunde zur Seite, die er von sich selbst
gewinnt und an sich selbst übermittelt. […] Hier entspringt und er-
gießt sich jene andere Quelle von Menschheitswissen, welche der
Naturwissenschaft bereits vorausliegt […]« 27 .
Nachdem er den Denkansatz der Philosophischen Anthropologie
durch Spaltung zwischen Scheler, Plessner und Gehlen um seinen
Geltungsanspruch gebracht hat, räumt er ein, dass die von ihm her-
beigerufene »neue Anthropologie« »das Bedürfnis des Philosophen,
[…] den Begriff der anthropologischen Aussage in begrifflicher
Schärfe zu fassen« inmitten der verschiedenstartigen Beiträge nicht
erfüllen werde: »Aber dafür bildete sich nun in dem Neben- und Mit-
einander der wissenschaftlichen Aspekte, die das Thema ›Mensch‹
bietet, ein System von Schwerpunkten und Spannungen, das von sich
selbst her auf eine Integration hin gravitiert.« 28 Das Gravitationszen-
trum der »neuen Anthropologie« wird nämlich durch das »herme-

27 Ebd., S. XIX f.
28 Ebd., S. XXIX.

Philosophische Anthropologie A 459


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

neutische Strukturelement aller Forschung« gebildet. Alle Forschun-


gen des Menschen über sich als Gegenstand sind immer schon einge-
bettet in den Bezugsrahmen der Geisteswissenschaften: »All das mo-
difiziert sich nun, sofern das praktische Wissen des Menschen selbst
zum Gegenstand der Wissenschaft wird. Das ist keine Wissenschaft
mehr, die sich den Menschen selbst unmittelbar zum Gegenstand
ihrer Forschung wählt – diese Wissenschaft nimmt sich vielmehr
das Wissen des Menschen von sich selbst zum Gegenstand, das sich
durch die geschichtliche und kulturelle Überlieferung vermittelt. […]
Ihr Gegenstand ist ein anderer – einerseits das Menschliche, das sich
in den Kulturschöpfungen der Menschheit als Wirtschaft, Recht,
Sprache, Kunst und Religion ›objektiv‹ bezeugt, andererseits und in
eins damit das in Texten und sprachlichen Zeugnissen niedergelegte
ausdrückliche Wissen vom Menschen.« Gegenüber der Naturwissen-
schaft, Medizin, Biologie u. a. handelt es sich »um eine ganz andere
Art der Belehrung, die wir durch die Geisteswissenschaften über den
Menschen bekommen. Hier spricht sich die ungeheure Vielfalt des-
sen, was menschlich ist, in überwältigender Breite aus.« Und Ga-
damer schließt das Programm einer von der Hermeneutik her um-
spannten »neuen Anthropologie«, die den Spannungskern der
Philosophischen Anthropologie aufgelöst hat: »Was alles menschlich
ist, meint nicht nur das allgemeine Menschliche im Sinne der Art-
eigentümlichkeit des Menschen gegenüber anderen Arten des Leben-
digen, insbesondere den Tieren, sondern umfaßt den weiten Rund-
blick über die Vielfalt des menschlichen Wesens.« 29

Dieselbe Klugheit der philosophischen Hermeneutiker, in der ver-


ständnisvollen Übernahme des Erbes der Philosophischen Anthro-
pologie deren Ansatz vollständig umzustrukturieren, zeigt sich auch
in einem im selben Jahr 1972 von O. F. Bollnow vorgelegten reprä-
sentativen Aufsatz. Bollnow, von Georg Misch aus der Dilthey-Schu-
le stammend und seit Ende der 20er Jahre noch intimer mit dem
Denkansatz Philosophische Anthropologie vertraut als Gadamer, ver-
fasst den Eröffnungsaufsatz ›Die philosophische Anthropologie und
ihre methodischen Prinzipien‹ 30 für einen Sammelband zur »philoso-

29 Ebd., S. XXXV.
30 O. F. Bollnow, Die philosophische Anthropologie und ihre methodischen Prinzipien,
in: R. Rocek/O. Schatz (Hrsg.), Philosophische Anthropologie heute, München 1972,
S. 19–36.

460 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


R!ckgang (1969–1975)

phischen Anthropologie« 31 , in dem noch einmal neben anderen die


Beiträger Plessner, Gehlen, Hengstenberg und der Rothacker-Psy-
chologe Revers vertreten sind.
Philosophische Anthropologie, so Bollnow, »ist als selbständige
Disziplin erst ein Kind unseres Jahrhunderts. Ja, man kann ihre Ge-
burt fast auf das Jahr genau bestimmen. Es ist das Jahr 1928«, in dem
Max Scheler mit seiner kleinen, ungeheuer einflussreichen Schrift
und Plessner mit seinem größeren, methodisch schrittweise aufbau-
enden, abstrakteren Werk den Einsatz unternommen hätten. Boll-
now ist gleich zu Beginn darum bemüht, entgegen der Auffassung,
Plessner sei ein »Schüler Schelers, der dessen Ansätze systematisch
weiter durchgeführt habe«, Plessners Selbständigkeit gegenüber
Scheler hervorzuheben. Nicht nur reiche seine Gedankenbildung
zur Anthropologie bis in die ›Einheit der Sinne‹ von 1923 zurück,
sondern wichtig für die Einschätzung Plessners sei die Hinzunahme
des Buches von 1931 ›Macht und menschliche Natur‹, denn hier habe
er – und jetzt kommt Bollnows erste Herauslösung Plessners aus dem
Denkverbund – »die zunächst weitgehend in biologischer Perspektive
entwickelte Problematik der philosophischen Anthropologie auch
nach der geistes- und kulturwissenschaftlichen Seite hin ausgeweitet,
wobei er in enge Beziehung zu der in Göttingen gepflegten Dilthey-
schen Richtung, vor allem zu Georg Misch, trat.« 32 Die philosophi-
sche Anthropologie sei insgesamt der richtige Versuch gewesen, die
Kantische Erkenntnistheorie mit den lebensphilosophischen Strö-
mungen ins Verhältnis zu setzen. »Aber«, so leitet Bollnow die Auf-
lösung des Denkansatzes ein, »so, wie sich die philosophische An-
thropologie zunächst entwickelte, kam es trotz vieler inzwischen
dazugekommener neuer Beiträge, vielleicht kann man geradezu sa-
gen: infolge der verschiedenartigen hier zusammenströmenden Ten-
denzen nicht zu einer methodisch klaren Grundlage, die imstande
gewesen wäre, sie als eine selbständige Disziplin zu begründen. Denn
Scheler und entsprechend auch Plessner (wenigstens in seiner frühe-
ren Schrift) gingen von einer kosmologischen Perspektive an die Fra-
ge heran.« 33
Durch die Unterscheidung frühere/spätere Schriften scheint

31 R. Rocek/O. Schatz (Hrsg.), Philosophische Anthropologie heute, München 1972.


32 O. F. Bollnow, Die philosophische Anthropologie und ihre methodischen Prinzipien,
a. a. O., S. 20.
33 Ebd., S. 23.

Philosophische Anthropologie A 461


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Plessner schon ein wenig von der Denkgruppe abgehoben. In jedem


Fall – bei Scheler, beim frühen Plessner der ›Stufen des Organischen‹
und dann auch noch bei Gehlen – sei die Bestimmung des Menschen
im Verhältnis zu einem außermenschlichen Sein – vor allem im Tier/
Mensch-Vergleich – unternommen worden. Diese bei einem gegen-
ständlichen Vergleich mit einer unteren Stufe der Natur ansetzenden
Unternehmungen hätten je zu einem »eindrucksvollem geschlosse-
nen Bild des Menschen« geführt: Mensch als »Asket des Lebens«, als
»exzentrisches Wesen«, als »Wesen, das handelnd seine Welt um-
schafft«, »aber immer nur zu einseitigen und darum auch schon ver-
zerrenden Bildern, niemals zu einer wirklich umfassenden Bestim-
mung des Menschen.«
Außerdem sei es fraglich, ob es seit der Kantischen transzenden-
talphilosophischen Wende überhaupt noch zulässig sei, in objektiver
Einstellung beim Kosmos anzusetzen, um in dessen Rahmen dann
auch den Menschen zu begreifen. Vielmehr, und jetzt schwenkt Boll-
now in eine transzendentalhermeneutische Umstrukturierung der
philosophischen Anthropologie ein, sei es notwendig, »in transzen-
dentaler Erkenntnishaltung grundsätzlich vom Menschen auszuge-
hen, um von diesem Zentrum her neben anderem auch die Welt zu
begreifen.« Nach dieser Vorbereitung vollzieht Bollnow die Trans-
formation des Denkansatzes von Scheler, Plessner und Gehlen in die
philosophische Hermeneutik: »Darum wird eine andere methodische
Begründung der philosophischen Anthropologie erforderlich, näm-
lich eine solche, die 1. ohne Bevorzugung eines bestimmten Aspekts
alle am Menschen vorfindbaren Wesenszüge in grundsätzlicher
Gleichberechtigung aufnimmt und dabei 2. primär vom Menschen
ausgeht, ihn aus sich selber versteht und nicht von einem in gegen-
ständlicher Ebene angesetzten Vergleich des Menschen mit einem
außermenschlichen Sein.« 34
Die Pointe von Bollnows Aufhebung des Denkansatzes von 1928
zugunsten einer richtig verstandenen hermeneutischen Anthropo-
logie ist, dass er Plessner II gegen Plessner I ausspielt: »Es ist wieder-
um Plessner gewesen, der den methodischen Ansatz einer so verstan-
denen philosophischen Anthropologie zuerst entwickelt hat, und
zwar in seinem schon genannten späteren Werk über ›Macht und
menschliche Natur‹. […] Die Ausweitung der ursprünglich naturphi-
losophischen zu einer geschichtlich orientierten Betrachtung und die

34 Ebd., S. 25.

462 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


R!ckgang (1969–1975)

Anknüpfung an die Arbeiten Diltheys und Mischs eröffnen hier eine


neue Möglichkeit, vom Menschen als der bildenden Mitte seiner
Welt auszugehen.« 35 »Ich versuche darum«, so setzt der Hermeneu-
tiker Bollnow seine hermeneutische Auftrennung des Denkansatzes
von 1928 fort, »in enger Anlehnung an Plessner, seine Ansätze auf-
nehmend, deutend und vielleicht auch ein wenig weiterführend, das
Methodenproblem der philosophischen Anthropologie in einer neu-
en, mir angemessener erscheinenden Weise zu entwickeln.«
Dabei gibt er »vier methodische Grundprinzipien einer solchen
noch nicht vorhandenen, sondern erst zu entwickelnden philosophi-
schen Anthropologie«: (1) die »anthropologische Reduktion«, d. i. die
Rückführung aller Kulturbereiche als Schöpfungen auf den Men-
schen als Schöpfer, als produktive Stelle des Hervorgangs einer Kul-
tur; (2) das »Organonprinzip«, insofern alle diese Schöpfungen – als
Organon aufgefasst – rückwirkend etwas über das Wesen des Men-
schen aussagen; (3) das »Prinzip der anthropologischen Interpretation
der Einzelphänomene des menschlichen Lebens«, d. i. der interpreta-
tiven Einfügung aller Einzelzüge – auch psychischer und naturhafter
– in die Ganzheit des Menschen; (4) das Prinzip der »offenen Frage«,
d. h. der Unabschließbarkeit der Bestimmungen des Menschen an-
gesichts neuer, überraschender und nicht vorhersehbarer Antwor-
ten. 36 Damit hat Bollnow, dessen Aufsatz seinen Ausgang vom Denk-
ansatz von 1928 nahm, seine Aufgabe ›Philosophische Anthropologie
und ihre methodischen Prinzipien‹ erfüllt: »vier Grundprinzipien,
die untereinander wiederum eng zusammenhängen, indem sie den
einheitlichen Ansatz nach verschiedenen Seiten hin abwandeln« 37 –
den einheitlichen Ansatz einer nunmehr hermeneutischen Anthro-
pologie, deren Paradigma der deutungsoffene Text und seine Aus-
legung ist. Der Ansatz der Philosophischen Anthropologie ist damit
zugunsten des Primats der Sprache überwunden.

Noch im selben Sammelband von 1972 demonstrierte G. Schiwy un-


ter dem Titel ›Strukturalismus und philosophische Anthropologie‹ 38
die erwünschte Selbstaufhebung der Philosophischen Anthropologie

35 Ebd., 26.
36 Ebd., S. 26–36.
37 Ebd., S. 26.

38 G. Schiwy, Strukturalismus und philosophische Anthropologie, in: R. Rocek/

O. Schatz (Hrsg.), Philosophische Anthropologie heute, a. a. O., S. 164–182.

Philosophische Anthropologie A 463


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

in die ›Strukturale Anthropologie‹ eines Lévi-Strauss: »Vor allem die


philosophische Anthropologie, wie sie von Max Scheler und Hel-
muth Plessner in den zwanziger Jahren begründet worden ist, weist
nicht nur in ihrer Fragestellung und ihren Lösungsversuchen, son-
dern bereits in der Terminologie in Richtung des heutigen Struktura-
lismus.« 39 Die einzelnen Elemente der »strukturalistischen Metho-
de« – die Totalität aller Aspekte, der Übergang zwischen Natur und
Kultur als »Struktur«, die Sublimiertheit bzw. der Systemcharakter
aller menschlichen Materien – fänden sich bereits in Schelers Erwar-
tung, »›den Begriff der Sublimierung auf alles Weltgeschehen zu
formalisieren‹«, und in Plessners »Verbindung apriorischer und em-
pirischer Betrachtung nach dem Prinzip der Unergründlichkeit des
Menschen« ausgesprochen. Diese Elemente habe der Strukturalis-
mus durch seine Verbindung zur »Strukturlinguistik« »rigoroser
systematisiert und […] generalisiert«, denn, und hier zitiert Schiwy
Lévi-Strauss, »die Sprache ist zugleich die kulturelle Tatsache par
excellence (die den Menschen vom Tier unterscheidet) und die, durch
deren Vermittlung alle Formen des sozialen Lebens sich festigen und
weiterbestehen.« 40 Am »Leitfaden der Sprache« wird philosophische
Anthropologie also zur »Strukturalen Anthropologie«. Das deckt
sich nach Schiwy nicht nur mit der säkularen Tendenz, dass »seit
Husserl und Wittgenstein, seit Buber und Heidegger, seit Carnap
und Russell […] die Sprache in ihren verschiedenen Funktionen und
Aspekten bevorzugter Forschungsgegenstand der Philosophie« ge-
worden ist; »auch die philosophische Anthropologie nach Scheler
und Plessner hat mehr und mehr in der Sprache eine der wichtigsten
Äußerungen des Menschen gesehen und sie zum Ausgangspunkt der
Erörterung genommen«. 41 In dieser Umdeutung, die den Ansatz-
punkt der Philosophischen Anthropologie verschiebt, kann Schiwy,
der in diesen Jahren die deutsche Rezeption des französischen Struk-
turalismus anführt, die Spezifik des Denkansatzes im linguistic turn
verschwinden lassen. Damit ist der Boden bereitet für die epistemo-
logische Dekonstruktion der Philosophischen Anthropologie im Zei-
chen der Studien von Michel Foucault, denen sich der deutsche
Sprach- und Denkraum um diese Zeit öffnet. Von Foucault aus ge-
sehen kann die ›Anthropologie‹, gar eine ›Philosophische Anthro-

39 Ebd., S. 165.
40 C. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie, Frankfurt a. M. 1967.
41 G. Schiwy, Strukturalismus und philosophische Anthropologie, a. a. O., S. 181.

464 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


R!ckgang (1969–1975)

pologie‹ nicht mehr Ansatzpunkt eines Denkens der gegebenen Ver-


hältnisse sein, sondern die ›Anthropologie‹ ist nurmehr Thema einer
»Diskursanalyse«, die das immanente historische Apriori von
Sprach- und Machtpraktiken aufklärt, in dem auch – epochal vorü-
bergehend – ›der Mensch‹ als Referenzphänomen konstituiert wird.
Ist so gesehen gegen Ende des 18. Jahrhunderts nach dem »klassi-
schen Denken« eine Disposition emergiert, welche »den Menschen«
als Thema und Regulativ der »Humanwissenschaften« erscheinen
lässt, so ist eine Konstellation erwartbar, in der dieses Phänomen
wieder verschwindet: »Wenn diese Dispositionen verschwänden, so
wie sie erschienen sind, wenn […] diese ins Wanken gerieten, wie an
der Grenze des achtzehnten Jahrhunderts die Grundlage des klassi-
schen Denkens es tat, dann kann man sehr wohl wetten, dass der
Mensch verschwindet wie am Meerufer ein Gesicht im Sand.« 42 Ab-
gesehen von der Dramatik der Formulierung eines »Todes des Men-
schen« – gemeint war der »anthropologische« Begriff des Menschen
– wird wissenschaftsgeschichtlich das Denkverbot einer »Philosophi-
schen Anthropologie« folgenreich, weil im Gefolge der poststruk-
turalistischen Kritik die »Anthropologisierung« als die größte innere
Gefahr gegenwärtiger Wissenschaften begriffen wird. Alle Impulse
einer existentialen, politisch-existentialen Veränderbarkeit des
›Menschen‹ innerhalb der Human- und Sozialwissenschaften bün-
deln sich in diesem Zeitraum zur Verabschiedung der Philosophi-
schen Anthropologie und zur Verschiebung der Aufmerksamkeit
hin zum Projekt einer – auch im Blick auf ethnologisch aufweisbare
Kontingenz – strukturalistisch und poststrukturalistisch informier-
ten soziologischen oder »historischen Anthropologie«.

Neben all dieser Historisierung, Übernahme und Kritik durch andere


Denkansätze 43 arbeitet zeitgleich bereits die Systemtheorie als Ab-
lösung Philosophischer Anthropologie. Der von Husserls Phäno-
menologie, der Philosophischen Anthropologie und Parsons’ Sys-
temtheorie faszinierte Niklas Luhmann stellt seit Ende der 60er
Jahre konsequent sein Konzept vor, die menschliche Sphäre von »so-
zialen Systemen« her zu rekonstruieren, die sich von ihrer Funktion

42 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften,


Frankfurt a. M. 1971, S. 462.
43 Verschiedene Motive der Kritik bündelt P. Probst, Zum Problem der philosophischen

Anthropologie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Jg. 35 (1981), S. 230–246.

Philosophische Anthropologie A 465


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

her – Umweltkomplexität sinn-haft zu »reduzieren« – konstituieren


und stabilisieren; Menschen mit ihren psychischen und organischen
Systemen gehören insofern zur Umweltkomplexität dieser »sozialen
Systeme«. 44 In der selbst initiierten Debatte mit Luhmann 1971 ver-
sucht Habermas in der von ihm gesetzten Alternative »Systemtheo-
rie oder Kritische Theorie der Gesellschaft« Luhmann durch den ge-
zielten Vergleich mit der Philosophischen Anthropologie v. a.
Gehlens zu identifizieren und damit kritisch zu stellen: Neben den
Grundüberzeugungen einer »exisistentialistischen Anthropologie
der Sartreschen Spielart« – die schlechthin »kontingente Welt« –
»teilt Luhmann Grundüberzeugungen einer institutionalistischen
Anthropologie Gehlenscher Herkunft«. »Luhmanns ›Reduktion von
Komplexität‹ deckt sich mit Gehlens ›Entlastung‹« – »darauf macht
H. Schelsky aufmerksam«, wie Habermas seine Markierung zu-
spitzt. 45 »Das Phänomen, das Luhmann vor Augen hat, ist von der
Anthropologie der 20er Jahre als ›Weltoffenheit‹ thematisiert wor-
den«, und schon Gehlen habe den »Zwang zur handelnden Selbst-
stabilisierung in überkomplexer Umgebung« in den Mittelpunkt sei-
ner Zeitkritik der Moderne gerückt. 46 Ausgelöst durch diese von
Habermas so vorbereitete kritische Identifizierung Luhmanns als
neue Variante einer (Gehlenschen) »konservativen« Soziologie – in
Luhmanns Augen eine Fehlcodierung seines Theorieanspruchs – löst
dieser ab diesem Zeitpunkt sich bewusst von dem Theoriehinter-
grund der Philosophischen Anthropologie. In seiner Antwort macht
Luhmann deutlich, inwiefern umgekehrt die Systemtheorie sich tat-
sächlich als Abschied von der Philosophischen Anthropologie, d. h.
als vollständig verschiedener Ansatz verstehen kann: Gehlens Ansatz
sei »noch der alteuropäische Versuch, den Menschen aus seinem Un-
terschied zum Tier zu bestimmen. […] Demgegenüber verschiebt
sich der Denkrahmen, wenn man nicht mehr Mensch und Tier, son-
dern Sinnsysteme und organische Systeme und eventuell auch phy-
sische Systeme und Maschinen als Systeme vergleicht. Es entfallen
dann infolge Abstraktion die Konnotationen von ›Mängelwesen‹ und

44 N. Luhmann, Moderne Systemtheorien als Form gesamtgesellschaftlicher Analyse


(1968), in: J. Habermas/N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie
– Was leistet die Systemforschung?, a. a. O., S. 7–25.
45 J. Habermas, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Eine Auseinanderset-

zung mit Niklas Luhmann, in: J. Habermas/N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder
Sozialtechnologie, a. a. O., S. 157.
46 Ebd., S. 156.

466 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


R!ckgang (1969–1975)

Belastung/Entlastung und übrig bleiben verschiedene Varianten der


Einsicht, daß hohe Freiheitsgrade der Selektion nur bei in spezi-
fischen Richtungen leistungsfähigen Reduktionsweisen entwickelt
werden können.« 47 Um der Gefahr der Kritik durch die Kritische
Theorie zu entgehen, aber auch, um insgesamt freier konzipieren zu
können, entkoppelt sich sein Projekt von der Philosophischen An-
thropologie: »In jedem Fall kann man sagen, dass Luhmann die von
der deutschen philosophischen Anthropologie angepeilte Idee einer
systemischen Einheit des Menschen auflöst«, er geht in der »theo-
retischen Allianz mit der Husserlschen Philosophie« auf Descartes
zurück, auf die strikte Dualität von Bewusstsein und Materie: selbst-
prozessierender »Sinn« (in »psychischen« und »sozialen Systemen«)
wird dualistisch getrennt von Sinnlichkeit und Expressivität physi-
scher (bzw. organischer) Systeme angesetzt, wobei dann in den Be-
griffen der »Interpenetration« und »strukturellen Kopplung« carte-
sianische Lösungsmodelle des Dualismus weitergeführt werden. 48

Inmitten all dieser Historisierungen, Kritiken und Aufhebungen der


Philosophischen Anthropologie durch sich erneuernde und produktiv
neue Ansätze der Existenzphilosophie, der rationalen Ethik, der Kri-
tischen Theorie der Gesellschaft, der Ansätze am »Leitfaden der
Sprache« (Gadamer), im Zeichen der »Struktur« und des »Systems«,
erheben die Protagonisten der Denk-›Schule‹ noch ab und zu das
Haupt und finden zu getrennten Abwehrgesten. 1972 ist Gehlen be-
reits 68, Plessner 80 Jahre alt. 1971 kennzeichnet Gehlen in einem
repräsentativen Lexikon-Artikel für die Neuauflage von Meyers En-
zyklopädie noch einmal deutlich die Philosophische Anthropologie 49
gegenüber den nicht-objektiv ansetzenden, wissenschafts-abweisen-
den Existenzphilosophien (Heidegger und Jaspers), die inzwischen
auch als »philosophische Anthropologie« gelten; er erweist Scheler
als Gründer des Denkansatzes die selbstverständliche Referenz, er-
wähnt Plessner kurz und mokant, würdigt zum ersten Mal von sich
aus den »genialen Außenseiter« P. Alsberg und dessen Prinzip der

47 N. Luhmann, Systemtheoretische Argumentationen. Eine Entgegnung auf Jürgen


Habermas, in: J. Habermas/N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnolo-
gie, a. a. O., S. 308.
48 A. Hahn, Der Mensch in der deutschen Systemtheorie, in. U. Bröckling/A. T. Paul/

St. Kaufmann (Hrsg.,), Vernunft – Entwicklung – Leben. Schlüsselbegriffe der Moder-


ne. Festschrift für Wolfgang Eßbach, München 2004, S. 279–290, S. 288.
49 A. Gehlen, Philosophische Anthropologie (1971), GA 4, S. 236–246.

Philosophische Anthropologie A 467


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

»Körperausschaltung«, auch Mead, Bolk, Portmann, bevor er aus-


führlich zur Selbstdarstellung seines Modells kommt, in das er – so-
weit möglich – tragfähige Resultate der vergleichenden Verhaltens-
forschung, also der Lorenz-Schule einschließt. 1975 wehrt er sich in
einer Rezension 50 noch gegen Gadamers hermeneutisches Projekt
einer »Neuen Anthropologie«, die den Versuch, »den Begriff der
anthropologischen Aussage in begrifflicher Schärfe zu fassen«, preis-
gebe. Von Plessner nehme Gadamer einen Beitrag mit auf und zu-
gleich grenze er seinen – Gehlens – ›Beitrag‹ zur Philosophischen
Anthropologie durch Nichtberücksichtigung aus. In der Durchsicht
dieses von Gadamer organisierten Doppelbandes »Philosophische
Anthropologie« bemerkt Gehlen das konzeptionslose Nebeneinander
verschiedener wissenschaftlicher und philosophischer Bausteine und
vermerkt resigniert, dass hier »die Fahne der ›Philosophischen An-
thropologie‹ völlig zerschlissen wird, und jeder, der will, sich davon
ein Stückchen anheftet.« 51
Plessner hingegen wehrt sich gegen die Umstellung aller neue-
ren philosophischen Untersuchung auf den linguistic turn. 52 Schon
seit 1966, mit seinem – auf dem von Gadamer organisiertem Philo-
sophie-Kongress – zum ›Problem der Sprache‹ vorgelegten Beitrag
zur ›Hermeneutik der nichtsprachlichen Räume‹ 53 , versucht er noch
einmal, dem Totalitätsanspruch des Philosophierens am »Leitfaden
der Sprache« Einhalt zu gebieten, indem er die Aufmerksamkeit auf
geistige Verstehens- und Verhaltenszonen des Menschen lenkt, die
nicht dem Paradigma der Sprache folgen würden: Musik, Geometrie,
Lachen und Weinen. 1973 ergreift er die Gelegenheit eines Fest-
schrift-Beitrages für W. Schulz, um noch einmal – wie schon in den
Briefen an J. König um 1928 herum, diesmal in Antwort auf Fahren-
bachs Behauptung des Primats von Heideggers Existenzphilosophie
vor dem naturphilosophischen Ansatz – den »Aussagewert einer Phi-
losophischen Anthropologie« 54 gegenüber der Heideggerschen Da-
50 A. Gehlen, Besprechung: H.-G. Gadamer/P. Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie,
Bd. 6 u. 7: Philosophische Anthropologie (1975), in: Neue Deutsche Hefte, Nr. 147
(1975), S. 586–591.
51 Ebd., S. 590.

52 H. Plessner, Was bedeutet Untersuchen in der Philosophie? (1968), GS IX, S. 400–402.

53 H. Plessner, Zur Hermeneutik nichtsprachlichen Ausdrucks (1967), GS VII, S. 459–

478. – Zuerst vorgetragen auf dem von H.-G. Gadamer verantworteten 8. Kongreß für
Philosophie ›Zum Problem der Sprache‹ in Heidelberg 1966.
54 H. Plessner, Der Aussagewert einer Philosophischen Anthropologie (1973), GS VIII,

S. 380–399.

468 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


R!ckgang (1969–1975)

seinsanalytik, aber auch der späteren Leibphänomenologie Merleau-


Pontys als überlegen zu verteidigen mit der schichtenontologischen
These: »Leben birgt als eine seiner Möglichkeiten Existenz.« 55 Leben
und Körperlichkeit gehen aus Plessners Sicht der Existenz und der
Leiblichkeitserfahrung vor. Da die Philosophische Anthropologie die
drei Kantischen Fragen des Selbstverhältnisses des Menschen: ›Was
kann ich wissen? Was darf ich tun? Was kann ich hoffen?‹ als selbst-
rückbezügliche Fragen eines Ichs zwar bedenkt, »sie aber in die um-
fassende Lebensperspektive mit einschließt und damit den Anschluß
an die Erfahrung des Menschen gewinnt, halte ich den Aussagewert
einer solchen Anthropologie anderen, auch existenzialphilosophi-
schen, für überlegen.« 56

Sieht man in der Realgeschichte der Philosophischen Anthropolo-


gie die sich um 1969/70 massierende historische Verabschiedung
und zusammenballende Kritik zusammen mit den Abwehrgesten
allein der beiden alten Protagonisten, wird klar, dass der Impuls
der Philosophischen Anthropologie als Denkansatz gebrochen war.
Zwar entfaltet sie sich noch weiter in den Köpfen, die bis Mitte der
60er Jahre Impulse durch sie empfangen haben, aber insgesamt
bricht die Bearbeitung der durch sie eröffneten Felder durch jünge-
re Generationen ab, weil die aktuellen Diskussionen gegen die Fra-
gestellungen der Philosophischen Anthropologie nicht nur gleich-
gültig, sondern gegen die Raffinessen ihrer Lösungsvorschläge
ablehnend werden. In dieser Lage nahmen die Gereiztheiten zwi-
schen den Vertretern der Denkrichtung zu. Es kam zu kleinen Ex-
plosionen im Spannungsgefüge der Philosophischen Anthropologie:
Nach dem Erscheinen und der Diskussion von Gehlens ›Moral und
Hypermoral‹ 1969 zerbrach die langjährige Freundschaft zwischen
ihm und Schelsky 57, Vorwürfe der Illoyalität und der Ausbeutung
seiner (Gehlens) Ideen waren in der Luft. Zehn Jahre später ritt der
alte Schelsky plötzlich eine politische und wissenschaftspolitische
Attacke gegen Plessner – Plessner sei, im Vergleich mit Freyer,
ein »Deutschenhasser«, wissenschaftspolitisch ein »Autokrat« und

55 Ebd., S. 390.
56 Ebd., S. 399.
57 K.-S. Rehberg, Hans Freyer (1887–1969), Arnold Gehlen (1904–1976), Helmut

Schelsky (1912–1984), in: D. Kaesler (Hrsg.), Klassiker der Soziologie, Bd. 2, Von Tal-
cott Parsons bis Pierre Bourdieu, a. a. O., S. 89.

Philosophische Anthropologie A 469


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

habe den wissenschaftlichen Nachwuchs nicht genügend geför-


dert. 58 Das änderte aber faktisch nichts daran, dass Schelsky und
Gehlen über die Jahre als eine produktive Arbeitsgemeinschaft in
der bundesrepublikanischen Soziologie gewirkt hatten 59 , auch
nichts daran, dass Schelsky spätestens seit 1945 die theoretischen
Prämissen von Plessners Philosophischer Anthropologie geteilt und
produktiv in sein Theorem institutionalisierter »Dauerreflexion«
gewendet hatte. 60

In der Abenddämmerung des Denkansatzes haben Gehlen und Pless-


ner dennoch Vorsorge für ein Weiterleben der philosophisch-anthro-
pologischen Ideen getroffen. Immerhin lagen 1975 Schelers ›Gesam-
melte Werke‹ inzwischen in neun Bänden vor, einschließlich der
›Späten Schriften‹ mit der »Stellung des Menschen im Kosmos«,
allerdings noch ohne die erwartete »große Anthropologie« aus dem
Nachlass. Sowohl Gehlen wie Plessner leiteten in diesen Jahren die
Sammlung ihrer Schriften in geschlossenen Werkausgaben ein. Es
war Vittorio Klostermann – derselbe, der Ende der 20er Jahre Pless-
ners ›Zeitschrift für die Zusammenarbeit von Philosophie und Einzel-
wissenschaft‹ eingestellt hatte –, der nun Gehlen eine Gesamtausgabe
anbot 61 , und wenig später, Plessner war inzwischen Suhrkamp-Autor
geworden, erfolgte dort der Entschluss zu einer Plessner-Ausgabe.
Zur Vorsorge gehörte auch, dass Plessner und Gehlen offensichtlich

58 H. Schelsky, Die verschiedenen Weisen, wie man Demokrat sein kann. Erinnerung an
Hans Freyer, Helmuth Plessner und andere, in: Ders., Rückblicke eines ›Anti-Sozio-
logen‹, Opladen 1981, S. 134–159.
59 Aus dieser Grunderfahrung schrieb Schelsky auch den Nachruf auf A. Gehlen in der

FAZ: H. Schelsky, Ein politischer Denker gegen die Zeit. Der Soziologe und Philosoph
Arnold Gehlen. Anthropologie und Institutionenlehre. Ein Nachruf, in: FAZ 2. 2. 1976.
60 Plessner stimmte – schon von seiner ›Kritik des sozialen Radikalismus‹ her – der

Schelsky-Kritik z. B. an Ernst Blochs ›politischen Existentialismus‹ zu (H. Schelsky, Die


Hoffnung Blochs. Kritik der marxistischen Existenzphilosophie eines Jugendbewegten,
Stuttgart 1979), dies nicht zuletzt, weil Schelsky Plessners hellsichtiger Theoriebildung
der ›Grenzen der Gemeinschaft‹ von 1924 zustimmte – so bereits in Schelsky, Die skep-
tische Generation, a. a. O., S. 103.
61 V. Klostermann, der 1929/30 als junger Verlagslektor an der Kolportierung der Sche-

ler-Plessner-Querelen beteiligt gewesen war, zog sich Anfang der 70er Jahre aus der täg-
lichen Verlagsarbeit zurück und konnte »sich ganz auf zwei Unternehmungen konzen-
trieren, denen die Energie seiner letzten Jahre galt: den Gesamtausgaben der Werke
Martin Heideggers und Arnold Gehlens.« Klostermann lernte Gehlen erst Anfang 1975
kennen, also ein Jahr vor dessen Tod. E. Klostermann, Vittorio Klostermann und sein
Verlag, in: Vittorio Klostermann, Verlagskatalog 1930–1980, Frankfurt a. M. 1980, S. XV.

470 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


R!ckgang (1969–1975)

in der Vernichtung ihres Briefwechsels voller wechselseitiger Invek-


tiven übereinkamen. 62

Die reale Bildungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie


klingt aus, wenn Arnold Gehlen, kurz vor seinem Tod, und Helmuth
Plessner, kurz vor seinem öffentlichem Verstummen, in einem Max
Scheler – zum 100. Geburtstag – gewidmeten, von dritter Seite ini-
tiierten Sammelband 63 1975 noch einmal – getrennte – Rückblicke
auf diesen für den Denkansatz zentralen Denker bzw. seine Anthro-
pologie hinterlassen.
Gehlens ›Rückblick auf die Anthropologie Max Schelers‹ 64 kon-
zentriert sich ganz auf das kleine, sehr dicht geschriebene Buch ›Die
Stellung des Menschen im Kosmos‹ aus Schelers Todesjahr – »die
Schrift, in der die Grundsteinlegung der modernen philosophischen
Anthropologie erfolgte«. 65 Gehlen, der seit den 1960er Jahren lan-
ciert hatte, bei Scheler in Köln 1926/27 studiert zu haben (ihn aber
vermutlich nie persönlich kennenlernte), zeigt sich generös wie nie
zuvor darin, dieser Schelerschen Schrift impulsbildende Kraft für sei-
ne eigene Gedankenbildung einzuräumen, und indem er ausdrück-
lich die »hohe philosophiegeschichtliche Bedeutung« 66 dieses Werkes
würdigt, hebt er zugleich beiläufig Zug um Zug den Aussagewert
einer »Philosophischen Anthropologie« gegenüber einer biologi-
schen Anthropologie hervor, wie sie von der Verhaltensforschung
der Lorenzschule betrieben wird.
Um den philosophisch-anthropologischen Kern Schelers frei-
zulegen, klammert er die ihn »ratlos« machenden »kompakten meta-

62 K.-S. Rehberg mit Bezug auf einen von Plessner erwähnten Brief (Ende der 40er
Jahre) an Gehlen: »der erwähnte Brief Plessners an Gehlen befindet sich nicht in dessen
Nachlaß; nach einer Andeutung Plessners ist es wahrscheinlich, daß beide diese Korres-
pondenz vernichtet haben.« K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers, GA 3.2, S. 895.
– Vgl. H. v. Alemann, Interview mit Helmuth Plessner am 7. 4. 1981. Aufzeichnungen
(23 S.), Nachlaß Plessner, S. 18: »Monika Plessner wies darauf hin, daß es heutzutage
keinen Briefwechsel mehr zwischen Plessner und Gehlen gibt. Es hat wohl irgendwann
ein paar Briefe zwischen beiden gegeben, aber die seien nicht mehr vorhanden.«
63 P. Good (Hrsg.), Max Scheler im Gegenwartsgeschehen der Philosophie, Bern/Mün-

chen 1975.
64 A. Gehlen, Rückblick auf die Anthropologie Max Schelers, in: P. Good (Hrsg.), Max

Scheler im Gegenwartsgeschehen der Philosophie, a. a. O., S. 179–188. Zit. n. GA 4,


S. 247–258.
65 Ebd., S. 247.

66 Ebd., S. 258.

Philosophische Anthropologie A 471


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

physischen Behauptungen« Schelers über Seinsgrund und Gott, die


an Spinoza, Schelling, Schopenhauer erinnerten, ein; sie »dienten
zum Versuch der Abstützung seiner anthropologischen Anschau-
ungen, die allerdings eine weit höhere Überzeugungskraft haben.
Im Mittelpunkt steht hier das Verhältnis von Drangfaktor und Geist-
faktor, das man ja unbeschadet der metaphysischen Verlängerung
nur im Menschen abfragen kann.« Der »Geist« solle nach Scheler
das Zentrum des Menschen ausmachen, aber außerhalb und jenseits
der Welt – nach Scheler wörtlich: »Das Zentrum aber, von dem aus
der Mensch die Akte vollzieht, durch welche er seinen Leib und seine
Psyche vergegenständlicht, […] kann nicht selbst ein ›Teil‹ eben die-
ser Welt sein.« Diese Scheler-These vom Geist als »weltexzentrisch
gewordenen Seinskern« 67 rechnet Gehlen nun diesmal nicht mehr als
»Dualismus« ab, sondern er hält jetzt fest: diese These »gewinnt aber
ihre Bedeutsamkeit durch die Magnetwirkung, die sie innerhalb der
Gedankenmassen des Buches ausübt, denn dieser dem Leben exzen-
trisch gestellte Geist findet nun eine Reihe höchst merkwürdiger nä-
herer Bestimmungen.« 68 Der Geist sei bei Scheler – in Modifikation
von Freud, aber auch im Zuspiel an und von Nicolai Hartmann – als
höchste, autonome Kategorie zugleich die energetisch schwächste,
Psyche und Leib als niedere Kategorien die stärkeren. Der Drehpunkt
der Schelerschen Konzeption sei nun, dass der Geist – die höchste
Kategorie – sich nur »indirekt« verwirklichen bzw. nur indirekt Herr
über die machtvollen Drangfaktoren werden könne, indem er den
Trieben idee- und wertbesetzte Vorstellungen gleichsam »wie Köder
vor Augen« stelle, so dass es zur Ausführung geistbesetzter Willens-
projekte komme.
Aus diesem Schelerschen »ingeniösen Ansatz eines exzentrisch
zur Welt liegenden Geistes« 69 lassen sich laut Gehlen alle weiteren
Folgerungen der Schrift begreifen. Er erwähnt hier die »Vergegen-
ständlichung« als wesentliche geistige Funktionsform, »scharf gefaßt
als die menschliche und ganz übertierische Fähigkeit zur ›Trennung
von Wesen und Dasein‹ ; sie macht das ›Grundmerkmal‹ des mensch-
lichen Geistes aus, die alle anderen Merkmale erst fundiert«, und sei
insofern etwas anderes – Gehlen spielt hier abgrenzend auf Pragma-
tismus und Vergleichende Verhaltensforschung an – als »ein Kom-

67 Ebd., S. 248.
68 Ebd., S. 249.
69 Ebd., S. 251.

472 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


R!ckgang (1969–1975)

binations- und Verlagerungsmechanismus im Sinne einer Suchorga-


nisation nach Zielen und Mitteln«. 70 Gehlen erwähnt unter den »gu-
ten Funden« des »ingeniösen Ansatzes« Schelers auch die »Welt-
offenheit«, durch die das menschliche Verhalten unbegrenzt
erweiterungsfähig werde, wobei der hinter dieser geistigen Unruhe
stehende Triebüberschuss das menschliche Lebewesen zugleich zu
einem weltdurchdringenden werden lasse: »Scheler nimmt die Vor-
stellung der unermeßlichen ›Ausgriffsenergie‹ des Menschen, mit
der er das Gesicht der Erde zerwühlt und umgeformt hat, in den
Ausdruck ›Weltoffenheit‹ mit hinein, als dessen dynamischen
Aspekt.« Das erlaubt nach Gehlen, »die Verengung der Weltoffenheit
auf den Begriff ›Neugier‹ zu vermeiden, den die Verhaltensforschung
bevorzugt.« 71 Zwar habe Scheler keine Sprachtheorie gegeben, dafür
allerdings in seiner biopsychischen Aufstufung bereits mit dem Be-
griff der »Rückmeldung« gearbeitet: »Das ist eine in der damaligen
philosophischen Literatur einzigartige Einführung des ›rückgekop-
pelten Systems‹, wozu noch als weiterer Fund ein Instinktbegriff
tritt, wie er besser nicht entworfen werden konnte, bevor Konrad
Lorenz seine Analysen vorlegte. Ganz richtig erfolgt die Definition
vom Verhalten aus. Der kurze Satz ›Wertvoll an dem Begriff (des
Verhaltens) ist gerade dies, daß es ein psychophysisch indifferenter
Begriff ist‹ – diesen Satz hat der Autor dieses ›Rückblicks‹ als Ansatz-
punkt seines Begriffs der Handlung gewählt.« 72 Nach diesem Einge-
ständnis erwähnt Gehlen unter den guten Funden natürlich noch den
kontrastiven Mensch/Tier-Vergleich, der auf Gleichheit und Ent-
gegensetzung zugleich ziele: »Daß entwicklungsgeschichtlich gese-
hen kleine Variationsschritte nicht die Organisation der Arten zu
erklären vermögen, wird heute von K. Lorenz mit dem Begriff der
›Fulguration‹ zugegeben.« 73 Auch der Gedanke des »wesenhaften
menschlichen Überschusses der Triebunbefriedigung über die Trieb-
befriedigung« im Zusammenhang mit der Maßlosigkeit des Men-
schen und seines »mächtigen Phantasieüberschusses« fände sich bei
Scheler: »Wir selbst haben seit 1940 die Kategorie ›Antriebsüber-
schuß‹ aus diesen Vorstellungen übernommen, und erst ganz neuer-

70 Ebd., S. 251 f.
71 Ebd., S. 254.
72 Ebd., S. 255.
73 Ebd., S. 257.

Philosophische Anthropologie A 473


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

dings sieht es so aus, als ob die Verhaltensforschung mit diesem Phä-


nomen zurechtkäme«. 74
Scheler – so Gehlen – hat, »was man ohne Nebengedanken zu-
geben darf, in sich selbst den Konflikt von Geist und Drang ausgestan-
den, hat in Spinoza und Schopenhauer (Die Welt als Wille und Vor-
stellung) eine sozusagen kosmische Projektion dieses Problems
gefunden und hat schließlich die Geisteskraft gehabt, sehr verschie-
dene, schon vorliegende philosophische Motive von dort her zusam-
menzuflechten, sie zu amalgamieren. […] Max Scheler hatte etwas
wie eine Winkelried-Funktion: er zog zahlreiche stachelige Probleme
in sein Herz und bahnte so eine Gasse – als Begründer der philosophi-
schen Anthropologie […].« 75 Gehlen schließt: »Alle gleichzeitigen
und späteren Schriften zur philosophischen Anthropologie, die ir-
gendeinen Rang haben, hingen in Hauptpunkten von ihr ab, und so
wird es bleiben.« 76

Diese Auffassung teilte Plessner ganz und gar nicht, auch nicht im
Rückblick als 83jähriger. Plessners ›Erinnerungen an Max Scheler‹ 77
im selben Band konzentrieren sich ganz auf die Person, und mali-
ziös wie nie zuvor versucht Plessner, Scheler in ein gewisses bio-
graphisches Zwielicht zu rücken. Er hebt damit an, dass er den Na-
men Schelers zum ersten Mal 1911 gehört habe, als Zeitungen von
der Skandalaffäre des jungen Münchener Privatdozenten berichte-
ten, der wegen Frauengeschichten auf die venia legendi verzichten
musste. Und Plessner endet mit der Erinnerung, Scheler habe ihm
unter vier Augen anvertraut, dass er während seiner Münchener
Zeit manchen Freund durch seine Bücher zum Katholizismus be-
kehrt habe: »›Aber wissen Sie: Ich habe meine Dummheiten nie
mitgemacht.‹« Dazwischen erzählt Plessner von Schelers geistiger
Entwicklung und Produktivität, der Wirkung eines progressiven
Katholiken im protestantischen Deutschland, seiner phänomenolo-
gischen Entdeckung der emotionalen Sphäre, seiner Kritik an der
Kantischen preußischen Pflichtmoral als ›Verrat an der Freude‹, sei-
ner Soziologie des Wissens, schließlich seiner Metaphysik oder

74 Ebd., S. 258.
75 Ebd., S. 253.
76 Ebd., S. 258.

77 H. Plessner, Erinnerungen an Max Scheler, in: P. Good (Hrsg.), Max Scheler im Ge-

genwartsgeschehen der Philosophie, a. a. O., S. 19–28.

474 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


R!ckgang (1969–1975)

»Theologie des geschichtlichen Werdens«: »›Gott braucht den phi-


losophierenden Menschen als Mitarbeiter‹«. Aber alle Plessner-
schen Charakterisierungen dieser Ideen sind durchsetzt mit Winken
auf Schelers Unzuverlässigkeit, seine Ankündigungen, die er nicht
einhält, seine Glaubens- und Frauenkonversionen. »Ein brennender
Mensch, […] war Scheler in höchstem Maße impressionabel. Man
wußte nie genau, woran man mit ihm war, je nachdem (oder wie
der Dirigent Otto Klemperer, unser gemeinsamer Freund, verbes-
serte: je nach der).« 78
Plessner spricht auch über »die philosophische Anthropologie,
um die es Scheler in seinen letzten Jahren zu tun war«. Der Punkt
sei die »Natur des Geistes« gewesen. Obwohl der Mensch mit den
Anthropoiden gewisse vitalpsychische Fähigkeiten teilt, sei nach
Scheler das, was wir Vernunft oder Geist nennen, durch sein psycho-
logisches Substrat nicht bedingt. »Zwischen Menschentier und
Mensch gibt es keinen Übergang. Geist ist nach Scheler eine hin-
zunehmende Voraussetzung, kein Kulminationsprodukt etwa der
Zerebralisierung, sondern in jedem Fall ein aus dem empirischen
Rahmen herausfallendes Urphänomen.« Plessner kommentiert:
»Wieder bewährt sich Descartes’ Dualismus (wenn auch unter ande-
ren Vorzeichen). Meinen Versuch, mit Hilfe des Positionalitäts-
begriffes die Lebendigkeit von vorneherein so zu fassen, daß sie als
exzentrische Positionalität dem Geist als einer Art Lebensmöglich-
keit Raum bietet, hätte Scheler nicht akzeptieren können, auch wenn
er von diesem Gedanken, als wir uns das letzte Mal bei Erdbeeren
und Schlagsahne aussprachen, ›beeindruckt‹ war.« 79
Kurz vorm Ende seiner Erinnerungen verknüpft Plessner seine
Abgrenzung von Scheler mit der Reminiszenz der Atmosphäre der
Kölner Jahre vor dem Durchbruch von 1928: »Scheler im Kolleg habe
ich nie erlebt – nur in Gesellschaft, vor allem im Hause von Frau
Louise Koppel in der Marienburg, das Olbrich gebaut hatte und das
den köstlichen Rahmen für eine Geselligkeit bot, wie es sie längst
nicht mehr gibt. Hier konnte Scheler seinen ganzen Charme, seine
Koketterie entfalten, mit der er, sagen wir etwa, den Satz vom aus-
geschlossenen Dritten seinen Zuhörern so nahe zu bringen wußte,
daß sie mit dem Dritten geradezu Mitleid bekamen. Ich habe nie ver-

78 Ebd., S. 27.
79 Ebd., S. 26.

Philosophische Anthropologie A 475


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

standen, warum seine akademische Wirkung auf Schüler vergleichs-


weise gering war.« 80

Mit diesen beiden Rückblicken Gehlens und Plessners, die noch


einmal die ganze vertrackte realgeschichtliche Konstellation des
Denkansatzes spiegeln, schließt die konkrete Bildungsgeschichte der
Philosophischen Anthropologie. Gehlen, der ewige sogenannte »Bio-
logist« unter den Philosophischen Anthropologen, spricht nun frei in
der Nachfolge Schelers als der Philosoph des Ansatzes, ›exzentrische
Positionalität‹ als dessen Kern identifizierend, Plessner hingegen, der
als philosophischer Biologe und Anthropologe inhaltlich Scheler
beim gemeinsamen Durchbruch am nächsten stand, scheint ihm in
schmerzlich-ironischer Erinnerung jetzt am fernsten zu stehen.
Es bleibt noch ein Nachspiel. In demselben Sammelband zu
Scheler von 1975 hatte H.-G. Gadamer von sich als einem an »Sche-
lers Werk Interessierten« gesprochen, »der nun fast ein halbes Jahr-
hundert darauf wartet, daß das oft angekündigte anthropologische
Hauptwerk aus dem Nachlaß an die Öffentlichkeit träte.« 81 1987, als
alle Protagonisten des Denkansatzes verstorben waren, merkwürdi-
gerweise zwei Jahre nach Plessners Tod, als keiner mehr damit rech-
nete und kaum einer mehr damit etwas anfangen konnte, nach fast
sechzig Jahren aufrechterhaltenem Gerücht, erschien, herausgegeben
vom langjährigen Nachlassverwalter M. S. Frings, der sich die Ver-
spätung selbst kaum erklären konnte 82, als Band III der Schelerschen
Nachlassschriften die »Philosophische Anthropologie« Schelers. 83 Es
handelte sich um kombinierte Versatzstücke Schelers zu verschiede-
nen Themen der Anthropologie aus den 20er Jahren, vom Heraus-
geber in eine gewisse Disposition gebracht, in ihrem Ideengehalt
weitgehend aus Schelers Veröffentlichungen zu Lebzeiten vertraut.
Es gab keine hinterlassene »große Anthropologie«. 84 »Seine nach-
80 Ebd., S. 27.
81 H.-G. Gadamer, Max Scheler – der Verschwender, in: P. Good (Hrsg.), Max Scheler
im Gegenwartsgeschehen der Philosophie, a. a. O., S. 18.
82 M. S. Frings, Nachwort des Herausgebers, GW 12, S. 345–348.

83 M. Scheler, Schriften aus dem Nachlaß, Bd. III: Philosophische Anthropologie,

hrsg. v. M. S. Frings, GW 12, Bonn 1987.


84 Es wurden nun Gliederungen der von Scheler geplanten »Anthropologie« bekannt, so

dass sich im Nachhinein Themenkreise und Aufbau in etwa nachvollziehen lassen


(Scheler, Schriften aus dem Nachlaß, GW 12, S. 16–23; vgl. W. Henckmann, Max Sche-
ler, a. a. O., S. 194, 248; Henckmann macht erstmals ausdrücklich auf die im Nachlass
befindliche ausführliche Gliederung der Anthropologie-Vorlesung im WS 1927/28 auf-

476 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer

https://doi.org/10.5771/9783495999899
R!ckgang (1969–1975)

gelassenen Fragmente […] zeigen, dass Scheler 1928 nicht einmal


angefangen hatte, sein großes Werk niederzuschreiben.« 85 Auch an-
dere Schelerforscher räumten nun nach sechzig Jahren freimütig ein,
»daß der Zustand des Nachlaßmaterials in keiner Weise dem ent-
spricht, was Schelers eigene Ankündigungen von fast vollendeten Ar-
beiten zur Geschichtsphilosophie, Anthropologie und Metaphysik er-
warten lassen« 86 , und bestätigten damit nicht nur die gewisse Chuzpe
der Schelerschen Ankündigungen coram publico in den 20er Jahren,
sondern indirekt auch das relative Recht von Plessner, Rothacker,
Gehlen, Portmann u. a., in das von Scheler gesehene »neue Land« 87

merksam). In Konkordanz zur Aufzählung der Themenkreise einer Anthropologie als


»Grundwissenschaft« zu Beginn des Vortrags ›Mensch und Geschichte‹ (1926) und zur
Gliederung von ›Stellung des Menschen im Kosmos‹ (1928) lässt sich folgender Aufbau
von Schelers ungeschriebener ›Anthropologie‹ vermuten: 1. Als Einleitung eine »Ge-
schichte des Selbstbewußtseins des Menschen von sich selbst, eine Geschichte der ideal-
typischen Grundarten, in denen er sich selbst dachte, schaute, fühlte und in die Ordnun-
gen des Seins hineingestellt sah« (GW 9, S. 121); 2. Die Ontologie vom »Wesensaufbau
des Menschen«, die mit einem systematischen Vergleich des Unterschiede von »Anor-
ganisches, Pflanze, Tier« auf der Basis einer Phänomenologie der Lebewesens anfangen
und die »Konstitution des Menschen« erschließen soll; dann zum zeitlichen Ablauf des
Menschenleben zwischen Geburt und Tod übergeht; es werden Körper, Leib, Seele, Geist
behandelt; »das psychophysische Leibseeleproblem und das noetisch-biologische Pro-
blem ist hierin enthalten« (GW 9, S. 121); dann eine Ausdifferenzierung der Monopole
des Menschen; 3. Das Problem des Ursprungs des Menschen (Abstammung des Men-
schen); 4. Die vergleichende Anthropologie (Das Weibliche und Männliche; die Men-
schenrassen); 5. Der Mensch als geschichtliches und soziales Wesen, der Mensch in der
Weltgeschichte; 6. Die Anthropologie als Pfad zur Metaphysik (Metanthropologie), Ver-
hältnis des Menschen zum Weltgrund.
85 W. Henckmann, Max Scheler, a. a. O., S. 194.

86 H. R. Sepp, Das Werk Max Schelers in der gegenwärtigen Edition und Diskussion, in:

Philosophische Rundschau, Jg. 42 (1995), S. 110–128. – W. Henckmann, Die Gesam-


melten Werke Max Schelers, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Jg. 39 (1985),
S. 289–307, hier 289: Man »hatte damit gerechnet, die von Scheler schon seit vielen
Jahren angekündigten großen Werke über die Philosophische Anthropologie, Ge-
schichtsphilosophie und Metaphysik so gut wie druckfertig vorzufinden. Aber im Nach-
laß fand sich nichts dergleichen, statt dessen eine gänzlich ungeordnete, zum Teil zu-
sammenhanglos oder auseinandergerissen überlieferte Ansammlung von über 270
Heften, 60 Notizbüchern und mehr als 1500 losen Blättern.«
87 Gadamers diplomatische Formel für die Bildung des Denkansatzes lautete: »Schelers

letzte Arbeit war die programmatische Abhandlung über ›Die Stellung des Menschen
im Kosmos‹, die im Entwurf einer solchen Anthropologie gipfelte. Ein Ausblick in ein
neues Land, in das hinein schon damals ein Forscher vom Schlage Helmuth Plessners
und später Arnold Gehlen eigene Schritte getan haben.« H.-G. Gadamer, Max Scheler –
Der Verschwender, a. a. O., S. 16.

Philosophische Anthropologie A 477


Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

eigene Schritte getan zu haben, ohne die sich die Bildungsgeschichte


der Philosophischen Anthropologie gar nicht ereignet hätte.

478 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


2 Philosophische Anthropologie.
Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

Max Schelers ›Die Stellung des Menschen im Kosmos‹, Helmuth


Plessners ›Die Stufen des Organischen und der Mensch‹, Arnold
Gehlens ›Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt‹,
Erich Rothackers ›Kulturanthropologie‹ und zusätzlich noch Adolf
Portmanns ›Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen‹ :
es ist üblich, mindestens diese Autoren und Schriften im Zusam-
menhang eines philosophiegeschichtlichen Phänomens des 20. Jahr-
hunderts zu erwähnen – unter dem Namen ›Philosophische Anthro-
pologie‹.
Die Frage ist, ob und inwiefern es dieses philosophiegeschicht-
liche Phänomen überhaupt gibt. Die Angelegenheit der Philosophi-
schen Anthropologie wird also noch einmal aufgerollt: auf der Ebe-
ne der Philosophiegeschichte, als philosophische Bildungsgeschichte.
Gefragt ist dabei nicht, ob der Denkansatz, wenn es ihn gibt, wahr
oder falsch ist, ob er mehr oder weniger als andere Denkansätze
leistet, sondern nur, ob sich Philosophische Anthropologie philoso-
phiegeschichtlich als ein unverwechselbarer Denkansatz antreffen
lässt, als eine spezifische Reflexionsposition, deren Kontur sich
durch das Schrifttum mindestens der genannten Autoren nachwei-
sen lässt. Das Problem ist, was – beim Rückbezug auf die Bestände
und Autoren v. a. des 20. Jahrhunderts, aber auch tiefer in die Denk-
geschichte hinein – unter ›Philosophischer Anthropologie‹ zu ver-
stehen ist. Was ist ›Philosophische Anthropologie‹, woran ist ein
Text als spezifisch philosophisch-anthropologisch argumentierender
erkennbar?
Das ist keine triviale Frage. Wenn man genau hinsieht, ist der
philosophiegeschichtliche Ausgangsbefund eine Ortlosigkeit der Phi-
losophischen Anthropologie. In der philosophischen Topographie des
20. Jahrhunderts hat sie keinen wohldefinierten Ort. Sie ist zwar als
Titel für ein Phänomen bekannt, aber der Denkort hinter dem Titel
trägt Züge eines Phantoms, einer philosophiegeschichtlich unwirk-
lichen Erscheinung.

Philosophische Anthropologie A 479


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

Das Bild der ›Philosophischen Anthropologie‹ bleibt nämlich durch


die verschiedenen verdienstvollen älteren und neueren Überblicks-
darstellungen, Sammelbände, Handbuchartikel hindurch diffus. Das
liegt nicht an den einzelnen Darstellungen, die je für sich klar sind,
sondern an der sich einstellenden Unschärfe des Bildes, wenn man sie
parallel liest. Genau gesehen ist es ein Doppelbefund der Diffusität,
der einen Klärungsbedarf im Feld der Philosophischen Anthropologie
fordert. Zum einen werden neben den Denkern Scheler, Plessner und
Gehlen, die nahezu immer genannt werden, an denen man bei der
Rekonstruktion nicht vorbeikommt, und neben Rothacker und Port-
mann meist weitere Autoren verschiedener Herkunft und Richtung
zu dem Phänomen »philosophische Anthropologie« des 20. Jahrhun-
derts mit dazu genommen, je nachdem z. B. Heidegger, Jaspers,
Bloch 1 , Ortega y Gasset, Otto Friedrich Bollnow 2, Theodor Litt 3 ,
Ernst Cassirer mit seiner ›Philosophie der symbolischen Formen‹ 4 ,
Sigmund Freud 5 , oft auch Merleau-Ponty mit der ›Struktur des Ver-
haltens‹ oder der ›Phänomenologie der Wahrnehmung‹ 6 , Sartre,

1 H. Fahrenbach, Mensch, in: H. Krings/H. Baumgartner/Ch. Wild (Hrsg.), Handbuch


philosophischer Grundbegriffe, 3 Bde., München 1970, Bd. II, S. 888–913. – Heidegger
als ein Typus »philosophischer Anthropologie« bei H. Holzhey, Philosophische Anthro-
pologie, in: Ders./W. Röd, Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhun-
derts, Bd. 2 (Geschichte der Philosophie, hrsg. v. W. Röd, Bd. XII), München 2004,
S. 210.
2 W. Brüning, Philosophische Anthropologie. Historische Voraussetzungen und gegen-

wärtiger Stand, Stuttgart 1960, S. 122 ff., 157 f.; auch dort Heidegger, S. 151 ff., dieser
außerdem mit einbezogen bei R. Weiland (Hrsg.), Philosophische Anthropologie der
Moderne, Weinheim 1995, S. 86–97.
3 K.-S. Rehberg, Philosophische Anthropologie und die ›Soziologisierung‹ des Wissens

vom Menschen. Einige Zusammenhänge zwischen einer philosophischen Denktradition


und der Soziologie in Deutschland, in: M. R. Lepsius (Hrsg.), Soziologie in Deutschland
und Österreich 1918–1945. Sh. 23 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsy-
chologie, Opladen 1981, S. 160–198.
4 H. Paetzold, Der Mensch, in: E. Martens/H. Schnädelbach (Hrsg.), Philosophie. Ein

Grundkurs, Reinbek b. Hamburg 1985, S. 440–479; G. Hartung, Das Maß des Men-
schen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kultur-
philosophie Ernst Cassirers, Weilerswist 2003.
5 In H.-G. Gadamer/P. Vogler (Hrsg.), Philosophische Anthropologie (Neue Anthro-

pologie, Bd. 6. u. 7), Stuttgart/München 1972, der Beitrag von H. Kunz, Die Erweite-
rung des Menschenbildes in der Psychoanalyse Sigmund Freuds, S. 44–113.
6 In R. Weiland, Philosophische Anthropologie der Moderne, a. a. O., der Beitrag von

G. Wormser, Maurice Merleau-Ponty: Phänomenale Leiblichkeit und Rehabilitation der


Erscheinung, S. 130–142.

480 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

häufig auch Mead 7 oder Dewey 8 und der klassische Pragmatismus


insgesamt. 9 Damit geraten viele interessante Köpfe und Texte ins
Bild, aber die Randschärfe der ›Philosophischen Anthropologie‹ an-
gesichts der verschiedenen hinzugezogenen Richtungen wird ins-
gesamt undeutlich.
Die Unschärfe des Bildes der Philosophischen Anthropologie
verdoppelt sich – zweitens – nun geradezu im Fokus selbst, weil hin-
sichtlich der Kerngruppe, die üblicherweise genannt wird – also Sche-
ler, Plessner und Gehlen 10 – die immer schon existierenden Zweifel
hinsichtlich ihrer Kompatibilität neuerdings auf die Frage zugespitzt
werden, inwiefern ihre Schriften – ›Die Stellung des Menschen im
Kosmos‹ (1928), ›Die Stufen des Organischen und der Mensch‹
(1928) und ›Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt‹
(1940) – überhaupt zu einem gemeinsamen theoriegeschichtlichen
Projekt ›Philosophische Anthropologie‹ gehören. Hatten Scheler,
Plessner und Gehlen selbst schon einen gewissen Wert zu Lebzeiten
darauf gelegt, bezogen auf das Phänomen einer ›Philosophischen An-
thropologie‹ theoriesystematisch eher als Solitäre wahrgenommen
zu werden, so hat die je autorenbezogene Forschung – also die Sche-
ler-, Gehlen- und Plessnerforschung – diese Differenz, die Abgren-
zung der Autoren untereinander, das Einzelgängertum, betont fort-
7 A. Honneth/H. Joas, Soziales Handeln und menschliche Natur. Anthropologische
Grundlagen in den Sozialwissenschaften, Frankfurt a. M./New York 1980, S. 59–69.
Vgl. auch: H. Joas, Anthropologie, in: H. Kerber/A. Schmieder (Hrsg.), Handbuch So-
ziologie. Zur Theorie und Praxis sozialer Beziehungen, Reinbek b. Hamburg 1984,
S. 28–32.
8 W. Brüning, Philosophische Anthropologie, a. a. O., S. 138 f.
9 H.-P. Krüger, Zwischen Lachen und Weinen, Bd. II, Der dritte Weg Philosophischer

Anthropologie und die Geschlechterfrage, Berlin 2001, S. 149–246, 312–335.


10 J. Habermas, Anthropologie, in: A. Diemer/I. Frenzel (Hrsg.), Fischer Lexikon Phi-

losophie, mit einem Vorwort v. H. Plessner, Frankfurt a. M. 1958, S. 18–35. – W. Schulz,


Die Epoche der nichtspekulativen Anthropologie, in: Ders., Philosophie in der veränder-
ten Welt, Pfullingen 1972, S. 419–456. – W. Pannenberg, Der Mensch in der Natur und
die Natur des Menschen, in: Ders., Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttin-
gen 1983, S. 25–150. – R. Schacht, Philosophical Anthropology. What, Why and How,
in: Philosophy and Phenomenological Research Vol. L, Supplement, (1990), S. 155–176.
– G. Arlt, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 2001. – W. Eßbach, Rivalen an den
Ufern philosophischer Anthropologie, in: G. Raulet (Hrsg.), Max Scheler. L’anthropolo-
gie philosophique en Allemagne dans l’entre-deux-guerres, Paris 2002, S. 15–47. –
H. Holzhey, Philosophische Anthropologie, in: Ders./W. Röd, Die Philosophie des aus-
gehenden 19. und des 20. Jahrhunderts, a. a. O., S. 209–233. – W. Eßbach, Denkmotive
der Philosophischen Anthropologie, in: J. Stagl/W. Reinhard (Hrsg.), Grenzen des
Menschseins. Probleme einer Definition des Menschlichen, Wien 2005, S. 325–344.

Philosophische Anthropologie A 481


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

gesetzt. 11 Es herrscht heute Unklarheit, inwiefern gerade diese Auto-


ren überhaupt mit ihren Werken zu einer Denkrichtung unter dem
Namen ›Philosophische Anthropologie‹ gehören, ob Scheler, Gehlen,
Plessner insgesamt an deren Begründung beteiligt sind oder ob even-
tuell nur einer von ihnen der »eigentliche Begründer der Philosophi-
schen Anthropologie« 12 sei bzw. als »systematischer Begründer einer
philosophischen Anthropologie« fungieren könne. 13 Es gibt also eine
doppelte Unklarheit: Sowohl durch die zentrifugale Ausweitung des
Titels ›Philosophische Anthropologie‹ auf Autoren verschiedener
geistiger Provenienz, wie durch die Betonung der Differenz zwischen
den Hauptautoren, die als zentripetaler Kern galten, ist die Identität
einer Philosophischen Anthropologie unklar. Der Denkort ›Philo-
sophische Anthropologie‹ in der philosophischen Topographie er-
scheint zersiedelt und fragmentiert.

Die nachfolgenden Überlegungen bieten angesichts dieser Lage auf


der philosophischen Ebene einen doppelten Klärungsvorschlag an.
Zunächst wird vorgeschlagen, ›philosophische Anthropologie‹ als
Disziplin von der ›Philosophischen Anthropologie‹ als einem Denk-
ansatz zu unterscheiden; dann folgt – im Hauptteil der Überlegun-
gen – ein Rekonstruktionsvorschlag zum spezifischen ›Theoriepro-
gramm‹ eben dieses Denkansatzes ›Philosophische Anthropologie‹,
den mindestens Scheler, Plessner, Gehlen, aber auch Rothacker und
Portmann – trotz aller Differenzen – tiefenstrukturell geteilt haben
könnten. Damit wird nicht gesagt, dass es sich bei den bisherigen
Darstellungen zur philosophischen Anthropologie/Philosophischen
Anthropologie um reine Missverständnisse handele – weder was die
Zurechnung verschieden ausgerichteter Autoren noch was die Beto-
nung der Differenzen zwischen den sogenannten Kernautoren han-
delt –, sondern die angestrebte doppelte Klärung ist ein Angebot, mit
dem philosophiegeschichtlichen Bestand der ›philosophischen An-
thropologie‹ / ›Philosophische Anthropologie‹ im 20. Jahrhundert
philosophiesystematisch so umzugehen, dass er für philosophisch-

11 Mit Ausnahmen, z. B. von Rehberg, Philosophische Anthropologie und die ›Soziolo-


gisierung‹ des Wissens vom Menschen, a. a. O., S. 160–197.
12 H. Schnädelbach, Nachwort, in: A. Gehlen, Anthropologische und sozialpsychologi-

sche Untersuchungen, Reinbek b. Hamburg 1986, S. 267–274, hier S. 271.


13 H.-P. Krüger/G. Lindemann (Hrsg.), Philosophische Anthropologie im 21. Jahrhun-

dert, Berlin 2006, S. 11.

482 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

anthropologische Forschungsprojekte des 21. Jahrhunderts über-


haupt anschlussfähig wird.

Um das komplexe Denkfeld zu klären, wird also eine erste Unter-


scheidung vorgeschlagen: die Unterscheidung zwischen ›philosophi-
scher Anthropologie‹ (klein geschrieben) – als einer Disziplin (in der
Philosophie) – und ›Philosophischer Anthropologie‹ (groß geschrie-
ben) – als einem Denkansatz. 14 Das ist eine künstliche Unter-
scheidung (in der Typographie), aber sie ist nicht willkürlich. Es gibt
nämlich für die relative Unklarheit darüber, was ›philosophische An-
thropologie‹ sei, von Beginn an eine philosophiegeschichtliche Ursa-
che im betreffenden Feld selbst. Möglicherweise ist es seit Mitte der
1920er Jahre – der Durchbruchszeit dieses Phänomens – zu einer
zweifachen Emergenz gekommen, zum Auftauchen einer neuen phi-
losophischen Disziplin ›philosophische Anthropologie‹ einerseits,
und damit verflochten, aber doch charakteristisch davon abgehoben,
zur Formierung eines Paradigmas, eines Denkansatzes andererseits
unter demselben Titel der ›Philosophischen Anthropologie‹. Diese
doppelte Emergenz – deren Realgeschichte im ersten Teil der Studie
geschildert wird – war schon für die zeitgenössischen Teilnehmer und
Beobachter des Denkprozesses nicht ganz einfach zu durchschauen
und zu handhaben. 15

Es bildet sich also in jedem Fall eine ›philosophische Anthropologie‹


als eine neue Disziplin, als eine autonom werdende Subdisziplin der
Philosophie, in der angesichts eines bemerkten Problematischwer-
dens von Selbstverständigung und Lebensführung des ›Menschen‹
eine Systematik der Fragen und eine gezielte Reflexionsgeschichte
über »den Menschen« sich zu organisieren beginnt. Die Antwort
auf diese ›Krise‹ ist zunächst vor allem die erstmalige reflexive Auf-
arbeitung der verstreuten Reflexionsgeschichte ›anthropologischer‹

14 J. Fischer, Philosophische Anthropologie. Zur Rekonstruktion ihrer diagnostischen


Kraft, in: J. Friedrich/B. Westermann (Hrsg.), Unter offenem Horizont. Anthropologie
nach Helmuth Plessner, Frankfurt a. M. 1995, S. 249–280, hier S. 250.
15 Es ist noch ein weitere Differenzierung zu berücksichtigen hinsichtlich des Terminus

›Anthropologie‹ in diesem Doppelereignis ›philosophische Anthropologie/Philosophi-


sche Anthropologie‹ : ›Anthropologie‹ meint im Schwerpunkt nicht ›Ethnologie‹ (wie
im englischen und französischen Sprachgebrauch der Kultur- bzw. Sozialanthropologie),
aber es meint auch nicht die ›biologische Anthropologie‹ als Subdisziplin der Zoologie
(später ›Humanbiologie‹).

Philosophische Anthropologie A 483


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

Fragestellungen und Positionen in der Philosophiegeschichte. Bereits


1928 gibt der Dilthey-Schüler Bernhard Groethuysen unter dem Ti-
tel »philosophische Anthropologie« aus der Perspektive einer herme-
neutischen Philosophie einen solchen typisierenden Abriss der phi-
losophischen Wege menschlicher Selbstbesinnung16 von Platon bis
Montaigne. Innerhalb der Philosophie verstetigt sich nun diese Dis-
ziplin »philosophische Anthropologie« in immer neuen Schüben
durch die nachträgliche Rekonstruktion einer Reflexionsgeschichte
über ›den Menschen‹, so dass sich die neue Disziplin durch die Vor-
geschichte der anthropologischen Reflexionen innerhalb der Philoso-
phie von Platon bis Feuerbach herausbildet. 17 Bereits Scheler spricht
in diesem Sinne davon, dass es »eine spezifisch philosophische An-
thropologie von Aristoteles bis Kant und Hegel« gebe und darüber
hinaus. 18 Alle späteren Erzählungen einer »anthropologischen« Re-
flexionsgeschichte sind erst ermöglicht durch das Ereignis dieser Dis-
ziplinformierung Ende der 1920er Jahre. 19 In ihrer Formierungspha-

16 B. Groethuysen, Philosophische Anthropologie, München 1928. Auf seine »aus-


gezeichnete Beschreibung der allgemeinen Entwicklung der philosophischen Anthro-
pologie« bezieht sich auch Cassirer, wenn er 1944 selbst »Entwicklungsstadien« der phi-
losophischen Anthropologie bis in die Gegenwart skizziert: E. Cassirer, Was ist der
Mensch? Versuch einer Philosophie der menschlichen Kultur, Stuttgart 1960 [1944],
S. 11–36, hier 17.
17 Die ›philosophische Anthropologie‹ in diesem Sinn seit 1955 aufbereitet von Michael

Landmann, Philosophische Anthropologie. Menschliche Selbstdarstellung in Geschichte


und Gegenwart, Berlin/New York, 5. Aufl. 1982. – Ders., De Homine. Der Mensch im
Spiegel seines Gedankens (v. M. Landmann unter Mitarbeit v. G. Diem, P. L. Lehmann,
P. Ch. Ludz, E. Tielsch, N. Hinske, M. Theunissen), Freiburg/München 1962. – W. Brü-
ning, Philosophische Anthropologie. Historische Voraussetzungen und gegenwärtiger
Stand, Stuttgart 1960. – H.-G. Gadamer/P. Vogler (Hrsg.), Philosophische Anthropo-
logie, 2 Teile, in: Dies. (Hrsg.), Neue Anthropologie in 7 Bdn., Bd. 6. u. 7, Stuttgart
1972–1975. – Später W. Schulz, Der Mensch. Eine Geschichte der Anthropologie, in:
H. Wendt/N. Loacker (Hrsg.), Kindlers Enzyklopädie Der Mensch, Bd. 4, Zürich 1982,
S. 29–82. – W. Oelmüller/R. Dölle-Oelmüller/C.-F. Geyer, Diskurs: Mensch (Philoso-
phische Arbeitsbücher, Bd. 7), Paderborn/München/Wien/Zürich 1985; auch A. Hon-
neth/H. Joas, Soziales Handeln und menschliche Natur. Anthropologische Grundlagen
in den Sozialwissenschaften, a. a. O., skizzieren eine anthropologische Reflexions-
geschichte von Feuerbach bis Habermas.
18 M. Scheler, Mensch und Geschichte (1926), GW 9, S. 126.

19 In diese reiche Darstellungstradition der »philosophischen Anthropologie« unter

dem Motto »eine Einzeldisziplin wird autonom« gehören auch die neueren differenzier-
ten Darstellungen von G. Arlt, Philosophische Anthropologie, a. a. O., S. 66 und Ch.
Thies, Einführung in die philosophische Anthropologie. Darmstadt 2004. Vgl. für den
englischsprachigen Raum die deutschsprachige Tradition aufbereitet bei O. Pappé, Phi-
losophical Anthropology, in: P. Edwards (ed.), The Encyclopedia of Philosophy, Vol. 6,

484 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

se als einer neuen (Sub-)Disziplin der Philosophie schießen dieser


»philosophischen Anthropologie« aber nun zusätzlich verschiedene
zeitgenössische Denkrichtungen zu, in deren Reflexionspotential –
bei aller Differenz – eine »anthropologische Wende« beobachtet
wird. Bereits 1935 führt eine erste Sichtung für diese neue »Ent-
deckung des Menschen in der Philosophie« die Werke von Jaspers
und Heidegger, von Freud und Jung, von Klages an und zieht damit
die Existenzphilosophie (als »existentiale Anthropologie«), die Le-
bensphilosophie, die psychoanalytischen Richtungen neben den Ar-
beiten von Scheler und Plessner in die Disziplin ›philosophische
Anthropologie‹ hinein. 20 Mit dieser Kombination aus nachträglich
rekonstruierter philosophischer Reflexionsgeschichte über den
»Menschen« und einem Spektrum verschiedener neuer Theorien des
»Menschen« der 1920er Jahre fungiert die ›philosophische Anthro-
pologie‹ als Disziplin 21 nunmehr neben den eingeführten Subdiszip-
linen der Erkenntnistheorie, der Ethik, der Metaphysik, der Ästhetik
– und im Kreis dieser Disziplinen, in dem sie die Frage »Was oder wer
ist der Mensch« in die Mitte rückt, einen Primat erhebend. Kants
Positionierung der »Anthropologie« innerhalb eines Fragen-Gefüges
der Philosophie wird jetzt als Exposition einer solchen Disziplin pro-
minent. 22 Insofern ist es konsequent, wenn sich dieses Fachgebiet
›philosophische Anthropologie‹ im Verlauf des 20. Jahrhunderts um
weitere einschlägige Autoren anreichert, etwa – wie schon erwähnt –
um das kulturphilosophische Projekt von Cassirer (der selbst seine
›Philosophie der symbolischen Formen‹ nachträglich als »philosophi-
sche Anthropologie« reflektiert) 23 , um die phänomenologischen Ar-

New York/London 1965, S. 159–166, und für den italienischen Raum B. Accarino
(Hrsg.), Ratio Imaginis. Uomo e mondo nell’antropologia filosofica, Firenze 1991.
20 F. Seifert, Zum Verständnis der anthropologischen Wende in der Philosophie, in:

Blätter für Deutsche Philosophie, Jg. VIII (1935), S. 393–411.


21 Zu den auf Systematik angelegten Darstellungen dieser Disziplin vgl. G. Haeffner,

Philosophische Anthropologie, Stuttgart 1982; A. Diemer, Elementarkurs Philosophie:


Philosophische Anthropologie, Düsseldorf/Wien 1978; K[uno] Lorenz, Einführung in
die philosophische Anthropologie, Darmstadt 1990; Ch. Thies, Einführung in die phi-
losophische Anthropologie, Darmstadt 2004.
22 »Mein schon seit geraumer Zeit gemachter Plan der mir obliegenden Bearbeitung des

Feldes der reinen Philosophie ging auf die Auflösung der drei Aufgaben: 1) Was kann
ich wissen? (Metaphysik) 2) Was soll ich thun? (Moral) 3) Was kann ich hoffen? (Reli-
gion); welchen zuletzt die vierte folgen soll: Was ist der Mensch?« Kant an C. F. Stäud-
lin, 4. 5. 1793, zit. n. I. Kant, Briefe, hrsg. u. eingel. v. J. Zehbe, Göttingen 1970, S. 216.
23 E. Cassirer, Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. 1, Zur Metaphysik der sym-

Philosophische Anthropologie A 485


https://doi.org/10.5771/9783495999899
Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

beiten von Merleau-Ponty und Eugen Fink, um die existenzphiloso-


phischen Texte von Sartre und Camus, um die Werke des Pragmatis-
mus von Mead und Dewey. Zum Autonomwerden dieser Disziplin
»philosophische Anthropologie« gehört auch das Hineinnehmen der
außereuropäischen Reflexionstraditionen über den ›Menschen‹ 24 ,
und dieses Autonomwerden der Disziplin erweist sich auch dann noch
als fruchtbar, wenn sie die »Anthropologiekritik« 25 des 20. Jahrhun-
derts in die Reflexionsgeschichte des Menschen einholt – die unter
dem Titel einer »negativen Anthropologie« 26 oder später als »post-
moderne Anthropologie« 27 auftretende Anthropologiekritik an allen
Versuchen einer abschließenden Definition »des Menschen«. In die-
ser systematischen Öffnung des Disziplinfeldes können unter dem
Titel einer ›philosophischen Anthropologie‹ in der Auswertung und
Kombination verschiedener Denkrichtungen auch neue Synthesen
versucht werden. 28

bolischen Formen, hrsg. v. J. M. Krois, Hamburg 1995, S. 32–112; G. Hartung, Das Maß
des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der
Kulturphilosophie Ernst Cassirers, a. a. O.
24 So z. B. die Artikel in dem von Gadamer organisierten Sammelband ›Philosophische

Anthropologie‹ über die »Stellung des Menschen« bzw. »Menschenbilder« im Kon-


fuzianismus und Taoismus, in den indischen Religionen, im Islam, in der japanischen
Tradition: H.-G. Gadamer/P. Vogler (Hrsg.), Philosophische Anthropologie. Erster Teil
(Neue Anthropologie, Bd. 6), a. a. O.
25 D. Kamper, Geschichte und menschliche Natur. Die Tragweite der gegenwärtigen

Anthropologiekritik, München 1973.


26 U. Sonnemann, Negative Anthropologie. Vorstudien zur Sabotage des Schicksals,

Reinbek 1969.
27 W. Pircher, Das ›Verschwinden des Menschen‹ : Postmoderne Anthropologie, in:

R. Weiland (Hrsg.), Philosophische Anthropologie der Moderne, a. a. O., S. 205–216.


28 So kombiniert z. B. Th. Rentsch die Existentialanalysen von Heidegger mit den

Sprachanalysen Wittgensteins zur Grundlegung einer »philosophischen Anthropolo-


gie« (Th. Rentsch, Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu
den Grundlagen philosophischer Anthropologie (1985), Stuttgart 2003); G. Böhme be-
zieht Leibphänomenologie (H. Schmitz) und historische Anthropologie aufeinander
(G. Böhme, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Frankfurt a. M. 1985); G. Linde-
mann kombiniert Plessner und Luhmann zu einer forschungsoffenen »reflexiven An-
thropologie« (G. Lindemann, Reflexive Anthropologie und die Analyse des Grenz-
regimes. Zur Aktualität Helmuth Plessners, in: U. Bröckling u. a. (Hrsg.), Disziplinen
des Lebens. Zwischen Anthropologie, Literatur und Politik, Tübingen 2004, S. 23–34);
M. Gutmann prüft phänomenologische, naturalistische, handlungstheoretische und her-
meneutische Erfahrungstheorien, um zu einer sprachrekonstruktivistischen »Grund-
legung einer philosophischen Anthropologie« zu kommen (M. Gutmann, Das Erfahren
von Erfahrungen. Dialektische Studien zur Grundlegung einer philosophischen Anthro-
pologie, 2 Bde., Bielefeld 2004).

486 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

Im weiten Feld einer solchen Disziplin verschwindet ›Philo-


sophische Anthropologie‹ allerdings als ein konturscharfer Denkort.
Von dieser Disziplin ›philosophische Anthropologie‹ lässt sich nun
aber möglicherweise – das gehört noch zum ersten Klärungsvor-
schlag – ein Denkansatz ›Philosophische Anthropologie‹ abheben,
der dann v. a. von Scheler und Plessner mit ihren Initialschriften 1928
eingesetzt hätte. Selbstverständlich gehören beide mit ihren Schrif-
ten auch in die sich ausbildende Disziplin, und sie haben auch an-
fangs mit ihren Schriften auf die Neubildung einer Wissenschaft na-
mens ›philosophische Anthropologie‹ sich bezogen. 29 Aber in der
Perspektive einer solchen Disziplin operierten sie mit einem be-
stimmten Einsatz, sie folgten einem bestimmten Einfall, wie bei der
Durchordnung der Probleme vorzugehen sei, es ging ihnen unter
dem Titel ›Philosophische Anthropologie‹ um einen charakteristi-
schen Zugriff auf die aufgebrochene Thematik des Menschen, sie ar-
beiteten an einem neuen Paradigma, an einer Denkungsart, an einem
Denkansatz. Sie interessierten sich im Schwerpunkt nicht für die
historisch-hermeneutische Vergewisserung bisheriger philosophi-
scher Reflexionen über den Menschen, und von den verschiedenen
anderen Denkrichtungen, deren Reflexionspotential in die neue Dis-
ziplin ›philosophische Anthropologie‹ einging (Existenzphilosophie,
Lebensphilosophie, Psychoanalyse, Hermeneutik), grenzten sie sich
in ihrer Art des Vorgehens gerade entschieden ab. Der Klärungs-
vorschlag, der eine Äquivokation im Terminus ›philosophische An-
thropologie‹ auflöst, würde bedeuten, dass sich die ›philosophische
Anthropologie‹ als Disziplin zum Denkansatz ›Philosophische An-
thropologie‹ verhält wie die Sozialphilosophie als Disziplin zum
Denkansatz der Kritischen Theorie der Gesellschaft – um eine Analo-
gie zu verwenden. Die Sozialphilosophie ist in diesem Fall eine neuere
Disziplin der Philosophie, die – im Kontakt mit den Kultur- und So-
zialwissenschaften – eine eigene Reflexionsgeschichte über ›Gesell-
schaft‹ nachträglich rekonstruiert und innerhalb der Disziplin eine
geordnete Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Ansätzen,
Theorieprogrammen zum Phänomen Sozialität oder Gesellschaft or-
ganisiert; zu diesen Ansätzen gehört auch die ›Kritische Theorie der
Gesellschaft‹, aber sie ist als ein sozialphilosophischer Ansatz oder als

29 Scheler z. B. spricht 1926 hinsichtlich der »philosophischen Aufgabe […] einer »phi-
losophischen Anthropologie« von einer »Grundwissenschaft« (M. Scheler, Mensch und
Geschichte (1926), GW 9, S. 120).

Philosophische Anthropologie A 487


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

eine paradigmatische Denkungsart des Sozialen von der Disziplin


›Sozialphilosophie‹ prägnant unterscheidbar.

Erst mit der Unterscheidung zwischen ›philosophischer Anthropo-


logie‹ als Disziplin oder Wissenschaft und ›Philosophischer Anthro-
pologie‹ als Denkansatz oder Paradigma (als einer prinzipiellen
Möglichkeit), mit diesem ersten Klärungsvorschlag hat man die Vo-
raussetzung erreicht, die ›philosophische Anthropologie‹ nicht nur
als Disziplin unter Disziplinen (Erkenntnistheorie, Ethik, Metaphy-
sik, Ästhetik, Sprachphilosophie, Sozialphilosophie etc.), sondern die
›Philosophische Anthropologie‹ auch als Denkansatz unter Denk-
ansätzen einordnen und beobachten zu können. Der zweite Klä-
rungsvorschlag im philosophisch-anthropologischen Feld richtet sich
nun im Folgenden auf eine einzige Frage: Ist ›Philosophische Anthro-
pologie‹ als ein solches spezifisches Theorieprogramm, als ein identi-
fizierbarer Denkansatz im Schrifttum mindestens der erwähnten
Denker – Scheler, Plessner, Gehlen, Rothacker, Portmann – tatsäch-
lich aufzuweisen? Ein Theorieprogramm in diesem Sinn kann auch
nicht nur einen Bezugsautor haben, sondern muss (gleichzeitig oder
zeitlich versetzt) mehrere unabhängige Köpfe tangieren, die es mit-
einander teilen und mit ihm arbeiten, die es – ob im Konsens oder in
Rivalität – kommunizieren. Gibt es in den einschlägigen Schriften
von Scheler (des späten Scheler), Plessner und Gehlen ein identi-
fizierbares, diese Schriften trotz aller Differenz verbindendes Theo-
rieprogramm, das sich von den Denkansätzen des Neukantianismus,
der Phänomenologie, von dem Paradigma der naturalistischen und
evolutionären Erkenntnis- und Verhaltenstheorie, von der Lebens-
philosophie und der Existenzphilosophie, der sprachanalytischen
Philosophie und der philosophischen Hermeneutik, des kulturalisti-
schen Ansatzes (historische Anthropologie), der Kritischen Theorie,
der Systemtheorie etc. unterscheidet? Auf diese Aufgabe spitzt sich
die folgende Untersuchung zu, ein solcher möglicher Identitätskern
einer ›Philosophischen Anthropologie‹ ist hier im Blick. Von der Lö-
sung dieser Aufgabe könnte abhängen, ob die ›Philosophische An-
thropologie‹ philosophiesystematisch als ein originäres Theoriepro-
gramm in Konkurrenz zu anderen Theorieprogrammen weiterhin
relevant ist, das der Überlieferung lohnt, der Sachverhaltserschlie-
ßung, der kritischen Diskussion oder der modifizierenden Fortset-
zung fähig ist.

488 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

Aber die ›Philosophische Anthropologie‹ als Denkansatz bietet – wie


bereits erwähnt – selbst ein ambivalentes, ja diffuses Bild. Es ist in
der Forschung strittig, wie sich überhaupt diese Theorierichtung adä-
quat bestimmen lässt und ob es die Philosophische Anthropologie
überhaupt als ein mehrere Köpfe gemeinsam okkupierendes Theo-
rieprogramm gegeben hat. Es gibt also auch an diesem philoso-
phisch-anthropologischen Denkort einen Klärungsbedarf. Zum
Phantomcharakter der Philosophischen Anthropologie trägt nun ent-
scheidend bei, dass diejenigen philosophiegeschichtlichen Versuche,
die – ohne Disziplin und Denkansatz heuristisch scharf voneinander
abzuheben – in ihrer Darstellung doch eher auf einen ›Philosophische
Anthropologie‹ zu nennenden Denkansatz zielen, sich in der Orts-
angabe, in der Charakterisierung eines solchen Denkansatzes wider-
sprechen.
J. Habermas erklärt in seinem Überblick, dass die »philosophi-
sche Anthropologie«, die »in den zwanziger Jahren unseres Jahrhun-
derts durch Untersuchungen von Max Scheler und Helmuth Plessner
entstanden« sei, philosophisch keinen Begründungsanspruch mehr
erhebe. Sie trete als Fall einer »›reaktiven‹ philosophischen Diszip-
lin« auf, mit der die Philosophie auf jene heraufgekommenen Wis-
senschaften reagiere, die ihr Gegenstand und Anspruch streitig
machten. Philosophische Anthropologie treibe »nicht mehr das Ge-
schäft der prima philosophia«: sie begründe Wissenschaften nicht
mehr, sondern verarbeite sie. »Philosophische Anthropologie stellt
nicht mehr den Anspruch, ›fundamental‹ zu sein.« 30 Zutreffend ist
hier der systematische Kontakt zur Wissenschaft erfasst; nicht zu-
treffend ist, dass Philosophische Anthropologie den Begründungs-
anspruch preisgibt; immerhin verstand Scheler Philosophische An-
thropologie als Konstitutionstheorie in metaphysischer Absicht, und
der konstruktive Aufbaucharakter der Plessnerschen Grundkategorie
»exzentrische Positionalität« lässt Begründungsabsicht erkennen, die
auch die Bedingungen der Möglichkeiten von Wissenschaft (Geistes-
und Naturwissenschaften) selbst aufweisen will.
O. Marquard hat Habermas’ Kennzeichnung der Philosophi-
schen Anthropologie konterkariert: »›Anthropologie‹ ist und nennt
sich nicht jede, sondern allein diejenige philosophische Theorie des
Menschen, die durch ›Wende zur Lebenswelt‹ des Menschen möglich

30 J. Habermas, Anthropologie, a. a. O., S. 20.

Philosophische Anthropologie A 489


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

und durch ›Wende zur Natur‹ fundamental wird.« 31 Im Gegenzug zu


Habermas besteht er auf dem Fundierungsanspruch des Denkansat-
zes und verschärft zugleich dessen bloß »reaktives Moment« zu einer
profilierten »dreifachen Opposition«. Die Philosophische Anthro-
pologie der 20er Jahre als Abschlussfigur einer seit dem Ende des
18. Jahrhunderts einsetzenden Strömung gehe aus der Abkehr von
traditioneller Schulmetaphysik einerseits, mathematischer Natur-
wissenschaft andererseits hervor als eine gezielte ›Wende zur
Lebenswelt‹ ; und weil sie dort die konkurrierende Geschichtsphi-
losophie antreffe – zu der Marquard auch Marxismus und Existenz-
philosophie rechnet – vollziehe sie in Opposition zu dieser eine noch-
malige ›Wende zur Natur‹. Zusammenfassend seine Kennzeichnung
des Denkansatzes: »›Anthropologie‹ – und das gilt auch noch für
Plessner und die heutige Gegenwartsanthropologie – nennt sich und
ist nicht jede, sondern allein diejenige philosophische Theorie des
Menschen, die durch ›Wende zur Lebenswelt‹ möglich und durch
›Wende zur Natur‹ fundamental wird, folglich insbesondere die – seit
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Opponent der ebendort
und ebendann startenden fortschrittstheoretisch-revolutionären Ge-
schichtsphilosophie agierende – Naturphilosophie des Menschen.« 32
Treffend erkennt Marquard die Absicht des Denkansatzes, fun-
damental zu sein, das kategoriale Interesse an der Lebenswelt und
die Rückbezogenheit auf das Moment der Natur. Seine auf die Funk-
tion konzentrierte Bestimmung lässt aber den »Fund« – die Kons-
truktionsart, die Funktionsweise der Begründung – ungeklärt. Da
seine Definition auf eine Funktionalisierung der Philosophischen
Anthropologie gegen die Geschichtsphilosophie abzielt, verkennt er,
dass Philosophische Anthropologie mit dieser den Durchgang durch
den Idealismus, die Philosophie der Vernunft, teilt und aus deren
Reflexionsfiguren Konstruktionselemente zieht. Deshalb wird in der
Marquardschen Definition nicht sichtbar, dass Philosophische An-
thropologie in der ›Wende zur Natur‹ wegen dieser Prägung durch
den Idealismus konsequent mit der darwinistisch-evolutionstheo-

31 O. Marquard, Zur Geschichte des philosophischen Begriffs ›Anthropologie‹ seit dem


Ende des achtzehnten Jahrhunderts (1965/1973), in: Ders., Schwierigkeiten mit der Ge-
schichtsphilosophie. Aufsätze, Frankfurt a. M.1973, S. 138.
32 O. Marquard, Leben und Leben lassen. Anthropologie und Hermeneutik bei Dilthey,

in: Dilthey-Jahrbuch, Bd. 2 (1984), S. 131.

490 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

retischen Auffassung der Natur mindestens ebenso konkurriert wie


mit der Geschichtsphilosophie. 33
H. Schnädelbach hat sich die Differenzierungsschwäche der
Marquardschen Definition – Philosophische Anthropologie würde
schlicht durch eine ›Wende zur Natur‹ fundamental – für seine pole-
mische Kennzeichnung dieses Ansatzes prompt zunutze gemacht. Für
ihn ist die »Philosophische Anthropologie unseres Jahrhunderts […]
wesentlich bestimmt durch das Zusammenfließen der […] mächtig
verstärkten naturalistischen Anthropologie mit der Metaphysik des
Irrationalen.« 34 Indem bei Gehlen, nach Schnädelbach dem Schlüs-
selautor des Denkansatzes, »Bewußtsein, Sprache, Vernunft, Geist«
biologisch »funktionalistisch umgedeutet« würden, versuche dieser
Denkansatz, »den Abschied vom rationalistischen Selbstbild des
Menschen […] zu vollstrecken.« 35 Philosophische Anthropologie
heißt dann: »Lebensphilosophie und Evolutionstheorie ordnen die
Gattung ›homo sapiens‹ nun mit vereinten Kräften in das Kontinuum
alles Lebendigen ein.« 36 Zutreffend ist von Schnädelbach die Berüh-
rung zwischen Lebensphilosophie und Philosophischer Anthropo-
logie erkannt. Nicht zutreffend bei der Ortsangabe des Denkansatzes
kann die Einrückung aller menschlichen Monopole in das »Konti-
nuum alles Lebendigen« sein. Schelers »Geist«-Begriff, Plessners
»Ex-zentrizität« und Gehlens »Indirektheit« sprechen eher für syste-
matisch betonte Diskontinuierung des Lebensstromes im Menschen.
Da Schnädelbach philosophiegeschichtlich nur drei große Paradigmen
kennt: das »ontologische Paradigma« (der Antike), das »mentalisti-
sche Paradigma« (der Neuzeit) und das »linguistische Paradigma« (des
20. Jahrhunderts) 37 , kann ›Philosophische Anthropologie‹ für ihn
bloß ein »Epilog« sein, ein Nachspiel im philosophiegeschichtlichen
Drama des 19. Jahrhunderts. 38 Das dort irrationalistisch abgebaute
mentalistische Paradigma und sein Vernunftanspruch kann nur durch

33 Schon 1915 argumentiert Scheler in der Wende zur Natur gegen den Darwinismus:
M. Scheler, Zur Idee des Menschen (1915), GW 3, S. 171–195.
34 H. Schnädelbach, Epilog: Der Mensch, in: Ders., Philosophie in Deutschland 1831–

1933, Frankfurt a. M. 1983, S. 264–281, hier S. 277.


35 Ebd., S. 278.
36 Ebd., S. 277.

37 H. Schnädelbach, Philosophie, in: E. Martens/H. Schnädelbach (Hrsg.), Philosophie.

Ein Grundkurs, Reinbek b. Hamburg 1985, S. 37–76.


38 H. Schnädelbach, Epilog: Der Mensch, a. a. O., S. 264–281.

Philosophische Anthropologie A 491


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

»nachanthropologisches Philosophieren« 39 , durch das linguistische


Paradigma einer ›Wende zur Sprache‹, reformuliert und gerettet wer-
den. Wegen dieser eindeutigen Orientierung am »linguistischen Pa-
radigma« kann Schnädelbach – wie viele philosophiegeschichtliche
Darstellungen am Ausgang des 20. Jahrhunderts – den theoriesyste-
matischen Kern der ›Philosophischen Anthropologie‹ nicht so bestim-
men, dass sich die Intentionen und Intuitionen der beteiligten Denker
wiedererkennen lassen.
Um die moderne Denktradition der Philosophischen Anthro-
pologie vor diesem philosophiegeschichtlichen Strudel im Abgrund
des Naturalismus und der Lebensphilosophie zu bewahren, hat sich
noch die kulturphilosophische Erzählung seitens der Cassirer-For-
schung etabliert, die die Denkrichtung der Philosophischen Anthro-
pologie als »Erbin der Transzendentalphilosophie« darstellt – und
zwar von Ernst Cassirers Kulturphilosophie aus oder auf ihn hin gip-
felnd. 40 Nur »Ernst Cassirers Transformation der philosophischen
Anthropologie in eine Philosophie der Kultur« 41 überwinde die
»Aporien der ontologischen Vorprägung (Wesen des Menschen) und
naturalistischen Niveausenkung (Natur des Menschen)«, in die sich
die philosophische Anthropologie bei Scheler, Plessner (und N. Hart-
mann) in der Auseinandersetzung mit dem Darwinismus verstrickt
habe. 42 Bei Cassirer nämlich gebe »es kein Zurück hinter die (kultu-
relle) Vermitteltheit des menschlichen Weltbezuges«. 43 »Der Mensch
lebt in einem symbolischen und nicht mehr in einem bloß natürli-
chen Universum. […] Er lebt so sehr in sprachlichen Formen, in
Kunstwerken, in mythischen Symbolen oder religiösen Riten, dass
er nichts erblicken und erfahren kann – außer durch Zwischenschal-
tung dieser künstlichen Medien.« 44 Die »transzendentalkritische
Kulturphilosophie« der »symbolischen Formen«, deren Mitte die
Sprache bildet, lässt sich dann von der linguistischen Wende her rich-
39 Ebd., S. 279.
40 H. Paetzold, Philosophische Anthropologie und Transzendentalphilosophie, in:
G. Frey/J. Zelger (Hrsg.), Der Mensch und die Wissenschaften vom Menschen. Die Bei-
träge des XII. Deutschen Kongresses für Philosophie in Innsbruck 1981, Bd. 1, Inns-
bruck 1983, S. 203–213. – G. Hartung, Das Maß des Menschen. Aporien der philosophi-
schen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers,
a. a. O.
41 G. Hartung, Das Maß des Menschen, a. a. O., S. 33.

42 Ebd., S. 357–366.

43 Ebd. S. 362.

44 E. Cassirer, Was ist der Mensch?, a. a. O., S. 39.

492 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

tig verstehen und in einer erweiterten transzendentalen Sprachprag-


matik rekonstruieren. In diesen Konzeptionen einer »transformier-
ten Transzendentalphilosophie als Grundlage der philosophischen
Anthropologie« 45 ist zutreffend erkannt, dass die Philosophische An-
thropologie in der Tradition der idealistischen Philosophie steht.
Aber durch die Überführung des Idealismus-Motivs in eine kultur-
oder sprachtranszendentale Wende ist die von Marquard treffend ge-
kennzeichnete »Wende zur Natur« als theorienotwendiges Kennzei-
chen des Denkortes »Philosophische Anthropologie« nicht mehr auf-
findbar, gehören die Hauptautoren Scheler, Plessner und Gehlen
nicht mehr zum Ansatzkern. Wenn man die Denkrichtung der Phi-
losophischen Anthropologie auf Cassirer hin zulaufen lässt 46 , ver-
schwindet die Pointe, denn »Cassirer bekommt Leben als das Andere
des Geistes und die Naturseite des Menschen als die Vorgeschichte
und Kehrseite seiner kulturellen Existenz aufgrund seiner erkennt-
nistheoretischen Prämissen nicht in den Blick. Er denkt den Men-
schen als Kulturwesen immer schon in Distanz zu seinen natürlichen
Lebensbedingungen.« 47
Legt man also die verschiedenen repräsentativen philosophie-
geschichtlichen Darstellungen übereinander, ist der Denkort Philoso-
phische Anthropologie als eines Denkansatzes verwischt; man weiß
in der philosophischen Topographie nicht mehr, wo er anfängt, wo er
aufhört – womit er im Denken anfängt.

Auch die je an Scheler, Plessner und Gehlen interessierte Forschung


hat die Frage der eventuellen Theoriegemeinsamkeit nicht nur nicht
geklärt, sondern in ihrem Fortgang zu einer immer unsichereren La-
ge geführt. Die Schelerforschung hat sich auf seine spektakuläre
Spätschrift als Initialschrift der Philosophischen Anthropologie kon-
zentriert und hat der Veröffentlichung des von ihm selbst noch an-
gekündigten philosophisch-anthropologischen Hauptwerks (das es in
Wirklichkeit nicht gab) aus dem Nachlass geharrt, so dass es zu kei-
ner Investition in die Erforschung der systematischen Bedeutung der

45 H. Paetzold, Der Mensch, in: E. Martens/H. Schnädelbach (Hrsg.), Philosophie. Ein


Grundkurs, Reinbek b. Hamburg 1985, S. 467–474.
46 Vgl. so auch J. Habermas, Symbolischer Ausdruck und rituelles Verhalten. Ein Rück-

blick auf Ernst Cassirer und Arnold Gehlen, in G. Melville (Hrsg.), Institutionalität und
Symbolisierung, Köln/Weimar 2001, S. 53–68, bei seinem Vergleich von Gehlen und
Cassirer.
47 G. Hartung, Das Maß des Menschen, a. a. O., S. 362.

Philosophische Anthropologie A 493


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

beiden anderen Autoren für die Philosophische Anthropologie kam;


insbesondere von einer zu Scheler parallel erbrachten systematischen
Leistung Plessners hat die Scheler-Forschung keinen Begriff ent-
wickelt. 48 Die Vorläuferfunktion von Scheler und Plessner für den
später einsetzenden Gehlen ist von der Gehlenforschung durchaus
gekennzeichnet worden; aber durch die interpretative Konzentration
auf allein seine philosophisch-anthropologischen Hauptwerke und
vor allem mit der Behauptung, erst Gehlen sei der die Philosophische
Anthropologie systematisch durcharbeitende, »der eigentliche Be-
gründer der Philosophischen Anthropologie« 49 bzw. »könne als
Hauptautor und in gewisser Weise als ›Vollender‹« dieser Denker-
gruppe verstanden werden 50 , ist die Frage einer eventuell gemein-
samen Theoriesystematik mit Plessner und mit Scheler aus dem
Blick geraten; vor allem Schelers Beitrag zur Philosophischen An-
thropologie ist dabei auf dem ›metaphysischen‹ Abstellgleis stehen
geblieben. Bleibt so die Frage der eventuellen Theoriegemeinsamkeit
zwischen den üblicherweise genannten Hauptautoren seitens der
Scheler- und Gehlenforschung ungeklärt, so hat eine Tendenz in der
neueren Plessnerforschung diese Frage eindeutig negativ beantwor-
tet. Plessner, der zeit seines Lebens im Schatten von zunächst Scheler,
dann Gehlen stand, erscheint hier nach seiner späten Entdeckung
nun als der eigentliche, einzige Lichtbringer einer paradigmatischen
Philosophischen Anthropologie. Diese Plessnerforschung arbeitet da-
ran, dass »Plessners Stufen (1928) […] aus systematischen Gründen
gegenüber Scheler und auf Grund ihrer Vorläuferschaft gegenüber

48 Eine Ausnahme ist O. Pöggeler, Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos
(1928), in: Interpretationen. Hauptwerke der Philosophie. 20. Jahrhundert, Stuttgart
1992, S. 144–173.
49 H. Schnädelbach, Nachwort, a. a. O., S. 271: »Arnold Gehlen ist der eigentliche Be-

gründer der Philosophischen Anthropologie, als es ihm gelang, die Anthropologie trei-
benden Philosophen vor ihm […] zu seinen Vorläufern zu machen« – »durch die Um-
deutung des gesamten Theorieprogramms, die weitgehend akzeptiert wurde: Die
philosophische Anthropologie sollte keine Philosophie mehr sein, sondern bestenfalls
›empirische Philosophie‹.«
50 K.-S. Rehberg, Arnold Gehlens Beitrag zur ›Philosophischen Anthropologie‹. Einlei-

tung in die Studienausgabe seiner Hauptwerke, in: A. Gehlen, Der Mensch, 13. Aufl.
Wiesbaden 1986, S. I–XVII. Ders., Nachwort des Herausgebers, Seine Natur und seine
Stellung in der Welt. Textkritische Edition unter Einbeziehung des gesamten Textes der
1. Auflage von 1940, 2. Teilbände, Arnold-Gehlen-Gesamtausgabe, hrsg. v. K.-S. Reh-
berg, Frankfurt a. M. 1978 ff., Bd. 3.1 u. 3.2, hrsg. v. K.-S. Rehberg, Frankfurt a. M. 1993,
GA 3.2, S. 754.

494 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

Gehlen (Der Mensch, 1940) allein als Gründungsschrift der philoso-


phischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts gelten kann.« 51 So ge-
sehen kommt Scheler kein systematisches Gewicht für den Ansatz
mehr zu und Gehlen ist aus der Grundlegung der Philosophischen
Anthropologie draußen. 52 Das widerspricht nun aber eindeutig so-
wohl den Intentionen und Ergebnissen der Scheler- wie der Gehlen-
forschung und wohl auch den Intuitionen der Denker selbst, die in
ihrer Rivalität um ihre Theoriegemeinsamkeit wussten.
Diese Lage, dass die je autorenbezogene Forschung keinen sys-
tematischen Begriff einer Theoriegemeinsamkeit hervorbringt, setzt
sich nun in der Umgangsform mit den Einzelautoren seitens ande-
rer Denkrichtungen fort. Zwar wird die Überlieferung hinge-
nommen, dass diese Autoren unter dem Titel ›philosophische An-
thropologie‹ gemeinsam firmieren, aber in der Praxis wird von
interessierter Seite die jeweilige Gedankenbildung dieser Autoren
schwerpunktmäßig anderen Denkansätzen zugeschlagen. Die offen-
sichtliche ›dogmatische‹ Unschärfe der sogenannten Philosophi-
schen Anthropologie und die bekannten Distanznahmen der Auto-
ren zueinander verlocken zur Einordnung ihrer Gedanken nicht nur
in andere Linienführungen, sondern auch in für jeden Autor ver-
schiedene Linien. Scheler bleibt dann eben in seinen Hauptwerken
einer »angewandten Phänomenologie« eine Schlüsselfigur der
»phänomenologischen Bewegung« 53 , der nur spät einen nicht mehr

51 So auch bereits H. Fahrenbach, Artikel ›Mensch‹ (1973), a. a. O., S. 896: »als ›Begrün-
der‹ der neuen (›biologisch‹ ansetzenden) philosophischen Anthropologie muß H. Pless-
ner gelten«; das Zitat in: Ders., ›Lebensphilosophische‹ oder ›existenzphilosophische‹
Anthropologie? Plessners Auseinandersetzung mit Heidegger, in: Dilthey-Jahrbuch,
Bd. 7 (1990–91), S. 74 f., mit Argumenten gegen Schelers Schlüsselrolle S. 72–75.
52 Zustimmend, dass »Plessners Auffassung im Unterschied zu der Schelers und im

Gegensatz zu der Gehlens als die systematisch allein tragfähige Begründung der Phi-
losophischen Anthropologie herausgestellt« wird: H.-P. Krüger, Die Fraglichkeit
menschlicher Lebewesen. Problemgeschichtliche und systematische Dimensionen, in:
H.-P. Krüger/G. Lindemann (Hrsg.), Philosophische Anthropologie im 21. Jahrhundert,
a. a. O., S. 15–41, S. 23. – V. Schürmann, Positionierte Exzentrizität, in: H.-P. Krüger/
G. Lindemann (Hrsg.), Philosophische Anthropologie im 21. Jahrhundert, a. a. O., S. 83–
102, S. 82; G. Lindemann, Soziologie – Anthropologie und die Analyse gesellschaftli-
cher Grenzregimes, ebd., S. 42–62. – M. Schloßberger, Die Ordnung des menschlichen
Gefühlslebens, ebd., S. 254–273, sieht hingegen eine Gemeinsamkeit von Scheler und
Plessner (mit Sinn für die Bedeutsamkeit von Scheler für die Philosophische Anthro-
pologie), während Gehlen definitiv ausgeschlossen wird (S. 254 f.).
53 H. Spiegelberg, The Phenomenological Movement. A Historical Introduction, Dord-

recht/Boston/London, Vol. I and II, 2. Aufl. 1971, S. 228–270.

Philosophische Anthropologie A 495


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

wirklich durchgeführten Versuch skizziert hat, die phänomenologi-


sche Bewusstseinsstellung von ›woanders‹ her zu begründen. 54
Schelers »Personalismus« lässt sich auch in die Linie der »Existenz-
philosophie« einordnen 55 , andererseits bleibt er – als »Geistmeta-
physiker« – im Kern dem Idealismus verbunden. Im Gegenzug lässt
sich aber auch wiederum Schelers Konzeption – gerade die des spä-
ten Scheler – als »Lebensphilosophie« kennzeichnen. 56 Bei Plessner
handelt es sich dann – je nachdem – im Kern um eine »neukantia-
nische« 57 oder eine »lebensphilosophische« 58 oder eine »phänome-
nologisch-transzendentale« Anthropologie 59 oder ein »quasitrans-
zendentales Verfahren« 60 oder eine »dialektische Anthropologie« 61 ,
eine »dialektisch offene Anthropologie« 62 oder eine »hermeneuti-
sche Philosophie der Wirklichkeit« 63 oder eine »transzendental-her-
meneutische« Selbstauslegung 64 der Moderne. 65 Die Inanspruch-

54 W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, a. a. O., S. 99–134.


55 W. Brüning, Philosophische Anthropologie, a. a. O., S. 75–78.
56 E. Cassirer, ›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart, in: Die Neue Rund-

schau, Jg. 41 (1930), S. 244–264.


57 E. Voelmicke, Grundzüge neukantianischen Denkens in den Frühschriften und der

›Philosophischen Anthropologie‹ Helmut Plessners, Alfter 1994.


58 H. Fahrenbach, ›Lebensphilosophische‹ oder ›existenzphilosophische‹ Anthropolo-

gie? Plessners Auseinandersetzung mit Heidegger, in: Dilthey-Jahrbuch, Bd. 7 (1990/


91), S. 71–111.
59 H. Fahrenbach, ›Phänomenologisch-transzendentale‹ oder ›historisch-genetische‹

Anthropologie – eine Alternative?, in: G. Dux/H. Wenzel (Hrsg.), Der Prozeß der Geis-
tesgeschichte. Studien zur ontogenetischen und historischen Entwicklung des Geistes,
Frankfurt a. M. 1994, S. 64–91.
60 H.-P. Krüger, Die Fraglichkeit menschlicher Lebewesen. Problemgeschichtliche und

systematische Dimensionen, a. a. O., S. 197, kennzeichnet Plessners Philosophische An-


thropologie als »quasitranszendentales Verfahren zur quasidialektischen Verschrän-
kung der phänomenologischen Methode mit der hermeneutischen Aufgabe«.
61 H. H. Holz, Mensch – Natur. Helmuth Plessner und das Konzept einer dialektischen

Anthropologie, Bielefeld 2003.


62 H. Fahrenbach, ›Lebensphilosophische‹ oder ›existenzphilosophische‹ Anthropolo-

gie? Plessners Auseinandersetzung mit Heidegger, a. a. O., S. 109.


63 H.-U. Lessing, Hermeneutik der Sinne. Eine Untersuchung zu Helmuth Plessners

Projekt einer ›Ästhesiologie des Geistes‹ nebst einem Plessner-Ineditum, Freiburg/


München 1998, S. 14.
64 E. W. Orth, Philosophische Anthropologie als Erste Philosophie. Ein Vergleich zwi-

schen Ernst Cassirer und Helmuth Plessner, in: Dilthey-Jahrbuch, Bd. 7 (1990–91),
S. 250–274.
65 St. Pietrowicz, Helmuth Plessner. Genese und System seines philosophisch-anthro-

pologischen Denkens, Freiburg/München 1992. – Ders., Philosophische Anthropologie


und Geschichte. Helmuth Plessners Geschichtsverständnis der Moderne und der Begriff

496 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

nahme Plessners durch die rekonstruktive Theorie wiederum, die


ihn als Wegbereiter einer historisch-evolutionären Kognitionstheo-
rie 66 begreift, wird theoriepolitisch durch den Versuch ausgeglichen,
»Plessners Philosophische Anthropologie […] in den Bezugsrahmen
dekonstruktivistischer Theoriediskussion« 67 zu stellen: »Plessner
hat den Weg der Dekonstruktion eingeschlagen« 68 – in ›Macht und
menschliche Natur‹ –, und Plessners »Dekonstruktion« einliniger
Fortschrittsauffassungen, »dieses Relativieren und ›Trotzdem‹ ent-
spricht exakt […] der ›Ausstreichung‹« 69 in Derridas sprachphiloso-
phischem Ansatz der ›Grammatologie‹. Dieses theoriegeschichtliche
Herausholen Plessners aus der Philosophischen Anthropologie in die
dekonstruktive Hermeneutik lässt den Grund der Wahlverwandt-
schaft Plessners mit Scheler und Gehlen, die ihn wissenschafts-
biographisch so okkupierte, unklar werden, zumal wenn in dieser
Lesart Scheler seinen »biologisch-kulturellen Treffpunkt« durch eine
»theistische Überwölbung« abschließt, während Gehlen Anthropolo-
gie auf »duplizierte Biologie« »verkürzt« – also alle etwas ganz Ver-
schiedenes treiben. 70 In jedem Fall bleibt die Philosophische Herme-
neutik seit O. F. Bollnows Übernahmeversuch interessiert, den
Plessner der ›Macht und menschliche Natur‹ in den eigenen Denk-
ansatz einer »Fundamentalhermeneutik« oder einer Lehre vom
»›ganzen Menschen‹« hinüberzuholen. 71
Gehlens Ideenbildung hingegen ordnet sich zunächst der Prag-

der exzentrischen Positionalität, in: G. Dux/U. Wenzel (Hrsg.), Der Prozeß der Geistes-
geschichte, a. a. O., S. 45–63.
66 G. Dux, Für eine Anthropologie in historisch-genetischer Absicht. Kritische Überle-

gungen zur philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners, in: G. Dux/H. Wenzel


(Hrsg.), Der Prozeß der Geistesgeschichte, a. a. O., S. 92–115.
67 W. Eßbach, Der Mittelpunkt außerhalb. Helmuth Plessners philosophische Anthro-

pologie, in: G. Dux/U. Wenzel (Hrsg.), Der Prozeß der Geistesgeschichte, a. a. O., S. 16.
68 Ebd., S. 39.

69 Ebd., S. 40.

70 Ebd., S. 15 f.

71 Vgl. die Bemühungen der Dilthey-Schule um Plessner: O. F. Bollnow, Die philoso-

phische Anthropologie und ihre methodischen Prinzipien, in: R. Rocek/O. Schatz


(Hrsg.), Philosophische Anthropologie heute, München 1972, S. 19–36. – Der Bollnow-
Schüler F. J. Rodi hat zusammen mit seinem Schüler H.-U. Lessing das über Plessner
und König handelnde Dilthey-Jahrbuch herausgegeben: F. Rodi (Hrsg.), Dilthey-Jahr-
buch, Bd. 7/1990–91. Thematischer Schwerpunkt: Josef König und Helmuth Plessner,
Göttingen 1991. – In diesem Band ebenfalls der Versuch, Plessner in der Tradition der
Diltheyschen Philosophie zu verstehen: S. Giammusso, ›Der ganze Mensch‹. Das Pro-
blem einer philosophischen Lehre vom Menschen bei Dilthey und Plessner, ebd., S. 112–

Philosophische Anthropologie A 497


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

matismus ein; für dessen Theoriegeschichtsschreibung ist – schon


von der Leitkategorie der »Handlung« her naheliegend – Gehlens
Anthropologie die deutsche Variante des pragmatischen Denkansat-
zes. 72 Oder Gehlens Denkprojekt wird als ›Naturalismus‹ gekenn-
zeichnet, als »rein empirische konzipierte Anthropologie«, als »bio-
logischer Empirismus« 73 ; »die Fraglichkeit und Antwortlichkeit
Philosophischer Anthropologie wird […] bei Gehlen ersetzt durch
eine bioanthropologische Frage, auf die es auch eine klare, mit der
Autorität des Empirismus entscheidbare bioanthropologische Ant-
wort gebe« 74 ; »Gehlens Anthropologie kippt […] in eine duplizierte
Biologie. Kultur ist zweite Natur«. 75 Ganz im Gegensatz zu dieser
Interpretation als Naturalismus zeigt sich der Konstruktivismus
überzeugt, »Gehlens Anthropologie als kulturalistische Theorie« 76 ,
als »extrem kulturalistisches ›Bild vom Menschen‹« 77 vollständig
aus einer naturphilosophischen Anthropologie herauslösen zu kön-
nen, indem der Akzent der Formel ›Kultur ist zweite Natur‹ auf
»›zweite Natur‹« gelegt wird. »Gehlen war kein Biologist; er ist ein
Kulturalist gewesen, vielleicht sogar ein extremer Kulturalist. Aus
der ›Natur‹ des Menschen wird bei Gehlen Kultur, fast nichts als
Kultur.« Aus der äußeren Natur wird eine Kulturgeschichte variie-

138. Der Versuch, Plessners Philosophie als »Fundamentalhermeneutik« zu verstehen:


H.-U. Lessing, Hermeneutik der Sinne, a. a. O., 14 f., 183–186.
72 F. Gethmann, Vom Bewußtsein zum Handeln. Pragmatische Tendenzen in der Deut-

schen Philosophie der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, in: H. Stachiowiak
(Hrsg.), Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens, Bd. II, Hamburg 1987, S. 202–
232. – W. Brüning, Philosophische Anthropologie, a. a. O., S. 139–146, schlägt mit Geh-
len auch Plessner und Rothacker zur »pragmatistischen Philosophie«.
73 B. Grünewald, Positionalität und die Grundlegung einer philosophischen Anthro-

pologie bei Helmuth Plessner, in: P. Baumanns (Hrsg.), Realität und Begriff. Festschrift
für Jakob Barion zum 95. Geburtstag, Würzburg 1993, S. 273.
74 H.-P. Krüger, Die Fraglichkeit menschlicher Lebewesen. Problemgeschichtliche und

systematische Dimensionen, a. a. O., S. 27.


75 W. Eßbach, Der Mittelpunkt außerhalb. Helmuth Plessners philosophische Anthro-

pologie, a. a. O., S. 16.


76 H. Ottmann, Gehlens Anthropologie als kulturalistische Theorie, in: H. Klages/

H. Quaritsch (Hrsg.), Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Arnold Gehlens. Vor-


träge und Diskussionen des Sonderseminars 1989 der Hochschule für Verwaltungswis-
senschaften Speyer, Berlin 1994, S. 469–481. – Auch bei Rehberg gibt es eine Tendenz
der kulturalistischen Lesart Gehlens: K.-S. Rehberg, Zurück zur Kultur? Arnold Geh-
lens anthropologische Grundlegung der Kulturwissenschaften, in: H. Brackert/F. Wefel-
meyer (Hrsg.), Kultur. Bestimmungen im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1990, S. 277–
316.
77 H. Schnädelbach, Nachwort, a. a. O., S. 269.

498 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

render Naturerfahrung, und bis in die innere Natur spricht Gehlen


»nahezu ausschließlich von Natur als ›zweiter Natur‹«. 78
Natürlich bleibt philosophiegeschichtlich eine Zuordnung der
Autoren zu den verschiedenen genannten Richtungen immer mög-
lich und aufschlussreich. Aber auf diese Weise des Umgangs mit den
Hauptautoren der sogenannten Philosophischen Anthropologie wird
der Denkort, falls es ihn gibt, durch organisierten Wegzug in ver-
schiedenste Richtungen gespenstisch unbewohnt. Indem andere
Denkschulen sich die Beute, das reiche Textkorpus teilen, erscheint
Philosophische Anthropologie als ein Phantom: man weiß nicht, wo
sie anfängt, wo sie endet, und kann deshalb auch nichts mit ihr ins-
gesamt anfangen, nicht mit ihr arbeiten.

Es handelt sich bei dieser Unklarheit oder Unsicherheit über einen


gemeinsamen Theoriekern der Philosophischen Anthropologie nicht
einfach um leicht vermeidbare Missverständnisse. Die bisher sehr
unterschiedlichen Darstellungen der Denkrichtung dieser Autoren-
gruppe und die je autorenbezogenen Forschungsoptionen sind in sich
jeweils wohl überlegt. Die Unklarheit und Unsicherheit hat vielmehr
wissenschaftsgeschichtliche Ursachen in der Sache selber, im wissen-
schaftsbiographischen Phänomen der Philosophischen Anthropo-
logie. Eine Klärungsaufgabe stellt sich überhaupt nur deshalb, weil
es zunächst – im Unterschied zu den anderen oben genannten Theo-
rieprogrammen des 20. Jahrhunderts – ein gepflegt überliefertes
Theorieprogramm »Philosophische Anthropologie« und eine aka-
demische Traditionsbildung dieses Denkzusammenhanges so nicht
gibt. Das hat mindestens drei Ursachen, deren Kontext und Wirkung
im Teil I über die ›Realgeschichte des Denkansatzes‹ ausführlich dar-
gelegt wurden und die hier noch einmal kurz aufzurufen sind:
1. Die enorme, durch institutionelle, persönliche und historische
Umstände geförderte Rivalität innerhalb der Theoretikergruppe von
Anfang an, zunächst zwischen Scheler und Plessner, dann zwischen
Plessner und Gehlen, die jede Art von klassischer Schulbildung ver-
unmöglicht hat. Gehlens Rechtfertigung nach der Remigration Pless-
ners nach Deutschland, er habe Plessner nicht zitiert, weil Scheler ihn
– Plessner – des Plagiats geziehen habe, verknüpfte beide Rivalitäten
in der Theoretikergruppe, ließ den Konflikt zunächst eskalieren und
dann über weitere Schülergenerationen weiter schwelen bis zu Geh-

78 H. Ottmann, Gehlens Anthropologie als kulturalistische Theorie, a. a. O., S. 469 f.

Philosophische Anthropologie A 499


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

lens Tod 1975 und darüber hinaus. Das ist der eine Grund, warum das
Paradigma ›Philosophische Anthropologie‹ institutionell – in einer
Nachfolge, in einer gemeinsamen Schülerschaft – nicht greifbar wer-
den konnte.
2. Ein anderer, ergänzender Grund ist die fortlaufende Störung
der Identifizierbarkeit eines solchen Identitätskerns durch interes-
sierte Dritte, durch konkurrierende Denkansätze, die ihre inhaltliche
Kritik an der Philosophischen Anthropologie mit einer Spaltung der
Denkergruppe verknüpften: zunächst vor allem durch die Existenz-
philosophie, wo Heidegger von Beginn zwischen dem zu würdigen-
den Scheler und dem nicht zu erwähnenden Plessner trennte, dann
durch die Frankfurter Schule, in der Max Horkheimer in seiner kri-
tischen Auseinandersetzung mit der Philosophischen Anthropologie
Plessners Argumente systematisch nicht behandelte 79 ; später ist es
dann Habermas gewesen, der die Rivalität zwischen Plessner und
Gehlen erkannte und interessiert vertiefte 80, indem er akademisch
und öffentlich zwischen dem (wegen seines Exils, nicht wegen seiner
Theorie) guten, liberalen Plessner und dem (wegen seiner NS-Kar-
riere und deshalb auch in seiner Theorie verwerflichen) bösen, kon-
servativen Gehlen unterschied. Auch die Dilthey-Schule (Bollnow,
Gadamer) hat immer wieder zwischen Plessner als einem eigentlich
an Dilthey ausgerichteten hermeneutischen Philosophen (in ›Macht
und menschliche Natur‹) und dem an der Biologie orientierten Na-
turalisten Gehlen unterschieden, so dass die mögliche Identität eines
Denkansatzes zwischen ihnen als ein bloßes Missverständnis er-
schien. Dieses ideenpolitische divide et impera seitens konkurrieren-
der Denkansätze, dem sich weder Plessner noch Gehlen entziehen
wollten oder konnten, bildete mit einen Faktor, dass sich ein Theorie-
programm einer Philosophischen Anthropologie in einem institutio-
nellen Zusammenhang des akademischen Lebens nicht kenntlich ma-
chen konnte.
3. Ein dritter Grund für eine ausgebliebene philosophische
Traditionsbildung ist schließlich der relativ gleichzeitige Übergang

79 M. Horkheimer, Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie (1935), in: Ders.,


Kritische Theorie, Bd. I, Frankfurt a. M. 1968, S. 200–227.
80 J. Habermas, Anthropologie, in: A Diemer/I. Frenzel (Hrsg.), Fischer Lexikon Phi-

losophie, mit einem Vorwort v. H. Plessner, Frankfurt a. M. 1958, S. 18–35. – R. Wei-


land, Das Gerücht über die Philosophische Anthropologie. Über einen Blindfleck ›Kriti-
scher Theorie‹, in: Ders. (Hrsg.), Philosophische Anthropologie der Moderne, a. a. O.,
S. 165–173.

500 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

zweier philosophischer Hauptprotagonisten des Denkansatzes (Pless-


ner, Gehlen) auf neue soziologische Lehrstühle. Damit gewann die
Philosophische Anthropologie zwar eine veritable Wirkungsge-
schichte in der deutschen Soziologie, aber wegen dieses plötzlichen
Fachwechsels (und der später fehlgeschlagenen Versuche, Gehlen
oder Plessner auf den Rothacker-Lehrstuhl für Philosophie zu be-
rufen) kam es innerhalb der deutschsprachigen akademischen Philo-
sophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu keiner institu-
tionell geschützten Pflege, Fortbildung und Exhaustion dieser
Denktradition.

Dieses wissenschaftsgeschichtliche Drama der Theoriebildung ist die


historische Bedingung für die nachträgliche Unklarheit und Un-
sicherheit hinsichtlich eines gemeinsamen Theoriekerns der Philo-
sophischen Anthropologie. Es ist damit auch die Ursache für die
Abwesenheit dieser Denkrichtung in philosophiegeschichtlichen
Standardwerken, in den vergleichenden Überblicksdarstellungen zur
Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts. Als ›Hauptströmungen
der Gegenwartsphilosophie‹ 81 sind bereits in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts Neukantianismus, Lebensphilosophie, Pragmatis-
mus, Phänomenologie, Existenzphilosophie, Hermeneutische Phi-
losophie, Kritische Theorie, Logischer Positivismus, Strukturalismus,
Dekonstruktivismus präsent, aber Philosophische Anthropologie
tritt nicht in Erscheinung – auch das ist eine Folge des realgeschicht-

81 W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Eine kritische Einfüh-


rung, 4. erw. Aufl. Stuttgart 1969. – Der zentrale Überblicksartikel im ›Historischen
Wörterbuch der Philosophie‹ zur »Philosophie« seit der Wende des 19./20. Jahrhunderts
behandelt Neukantianismus, Lebensphilosophie, Phänomenologie, Existenzphilosophie,
Hermeneutische Philosophie, Westlichen Marxismus, Analytische Philosophie, Struk-
turalismus, Dekonstruktivismus: K. Gründer u. a., Philosophie, in: J. Ritter/K. Gründer
(Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7: P-Q, Darmstadt 1989, Sp. 571–
879. – A. Hügli/P. Lübcke (Hrsg.), Philosophie im 20. Jahrhundert, 2 Bde., Reinbek b.
Hamburg 1992, organisieren Artikel über Phänomenologie, Existenzphilosophie, Kriti-
sche Theorie, Pragmatismus, Analytische Philosophie, Kritischen Rationalismus. – In
der Philosophiegeschichte von W. Röd, Der Weg der Philosophie von den Anfängen bis
ins 20. Jahrhundert. 2. Band: 17.–20. Jahrhundert, München 1996, die ausführlich Neu-
kantianismus, Lebensphilosophie, Neomarxismus, Phänomenologie, Existenzphiloso-
phie, Analytische Philosophie, Pragmatismus, Neopositivismus und Kritischen Ratio-
nalismus darstellt, heißt es lapidar als Begründung der Nichtbehandlung der
Philosophischen Anthropologie: »Tatsächlich konnte sich die Philosophische Anthro-
pologie, wie sie neben Scheler von Helmuth Plessner (1892–1985) und Arnold Gehlen
(1904–1976) vertreten wurde, auf die Dauer nicht behaupten.« (S. 459).

Philosophische Anthropologie A 501


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

lich vertrackten Erscheinungsbildes der »Denk-›Schule‹« und ihrer


kontingent unterbliebenen Institutionalisierung in der universitären
Philosophie. Wegen dieser historischen Umstände wird es überhaupt
erst notwendig, zu klären, ob sich philosophiesystematisch ein Theo-
rieprogramm samt Durchführung im Werk der genannten Theoreti-
ker zeigen lässt. Zugleich enthält das realgeschichtliche Drama dieser
Theoriebildung – wie es im Teil 1 der Studie entfaltet wurde – aber
starke Hinweise, dass das möglich ist. Die Umstände der Theorieent-
wicklung, die die Kenntlichkeit des Paradigmas verhinderten, lassen
nämlich zugleich vermuten, dass ein solches als »Mehrfachent-
deckung« vorlag. Die beharrliche Rivalität ist ein Indiz dafür, dass
sich diese Theoretiker in einem gemeinsamen Denkansatz erkannt
haben – sonst hätten sie nicht so rivalisiert. Gegenüber Nicolai Hart-
mann, der die Herausbildung aller dreier Schlüsselwerke aus der Nä-
he beobachtet hatte und dem bis zu seinem Tod 1950 die Theorie-
gemeinsamkeit zwischen Scheler, Plessner und Gehlen vollkommen
durchsichtig war, hat Erich Rothacker von Plessner und Gehlen ein-
mal als den »feindlichen Brüdern« gesprochen. 82 Auch das divide et
impera-Prinzip der Existenzphilosophie wie der Kritischen Theorie
wie auch der Philosophischen Hermeneutik – als Theorieschulen –
gegenüber den Philosophischen Anthropologen ist ein Indiz, dass
hier ein gemeinsames Denkpotential zwischen Scheler, Plessner und
Gehlen gewittert wurde, das, wenn es einmal in seiner Prägnanz
kenntlich werden würde, junge Köpfe der zweiten Hälfte des 20. Jahr-
hunderts in einem noch höheren Maße hätte faszinieren und interes-
sieren können, als es das faktisch getan hat.
Hilfreich für diese Aufgabe, den Denkansatz philosophie-
geschichtlich zu verorten, sind zudem drei weitere Hinweise. Erstens
geben die von Plessner und Gehlen bei Gelegenheit unabhängig von-
einander verfassten Handbuchartikel zur »Philosophischen Anthro-
pologie« 83 den Wink, dass – bei aller erwähnten gegenseitigen Dis-

82 Rothacker an Buytendijk, Brief v. 25. 11. 58 (Rothacker-Nachlass): Rothacker spricht


in der philosophischen Szene von seinem Versuch der Transponierung des Uexküllschen
Umweltbegriffes auf den Menschen, »worüber ich mit fast allen Kollegen in der ganzen
Front zwischen den beiden feindlichen Brüdern Plessner und Gehlen seit Jahren streite.«
83 H. Plessner, Artikel: Anthropologie, philosophisch, in: Die Religion in Geschichte

und Gegenwart, Bd. I, 3. Aufl. Tübingen 1957, Sp. 410–414. – Wiederabgedr. in: Ders.,
Politik – Anthropologie – Philosophie. Aufsätze und Vorträge, hrsg. v. S. Giammusso
und H.-U. Lessing, München 2001, S. 184–189 – H. Plessner, Artikel: Anthropologie,
philosophisch, in: Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. I, Göttingen 1956, S. 138 f. –

502 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

tanzierung – doch die Oppositionen zu anderen Denkrichtungen ge-


teilt wurden: Immer wieder wird die Abgrenzung vollzogen gegen
den Cartesianismus, den Neukantianismus Cassirers, die Deszen-
denztheorie bzw. den Naturalismus, den Historismus bzw. die her-
meneutische Lebensphilosophie, die Existenzphilosophie und die
neomarxistische Geschichtsphilosophie. Zweitens wurde für die
wichtigsten Autoren der Denkergruppe in den letzten Jahren jeweils
unabhängig voneinander ihre tiefe philosophische Gebundenheit an
den deutschen Idealismus 84 aufgewiesen – ohne allerdings Kon-
sequenzen für einen autorenübergreifenden Ansatz zu ziehen. Hilf-
reich werden vor diesem Hintergrund zudem die von Autoren aus
dem Kreis der Philosophischen Anthropologie – Scheler 85, Plessner 86
und Löwith 87 – in den 1920er und 30er Jahren selbst vorgelegten
Rekonstruktionen der Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts,
die als ein kaskadenartiger Abbau des bzw. »revolutionärer Bruch«

A. Gehlen, Zur Geschichte der Anthropologie (1957), GA 4, S. 143–164. – A. Gehlen,


Philosophische Anthropologie (1971), GA 4, S. 236–246. – Diese Handbuchartikel las-
sen sich auch als Überblick zur Geschichte der Disziplingeschichte der ›philosophischen
Anthropologie‹ lesen, aber sie sind im Hinblick auf die für Gehlen und Plessner interes-
sante Denkrichtung ›Philosophische Anthropologie‹ geschrieben.
84 Für Scheler: A. Sander, Mensch – Subjekt – Person. Die Dezentrierung des Subjekts

in der Philosophie Max Schelers, Bonn 1996. – Für Plessner: R. Breun, Helmuth Pless-
ners Bestimmung der Idee der Philosophie und deren Ausarbeitung als philosophische
Anthropologie, Diss. Tübingen 1987. – St. Pietrowicz, Helmuth Plessner. Genese und
System seines philosophisch-anthropologischen Denkens, Freiburg/München 1992. –
J. Beaufort, Gesetzte Grenzen, begrenzte Setzungen. Fichte’sche Begrifflichkeit in Hel-
muth Plessners Phänomenologie des Lebendigen, in: Deutsche Zeitschrift für Philoso-
phie Jg. 48 (2000), S. 213–236. – Für Gehlen: L. Samson, Naturteleologie und Freiheit
bei Arnold Gehlen. Systematisch-historische Untersuchungen, Freiburg/München
1976. – P. Fonk, Transformation der Dialektik. Grundzüge der Philosophie Arnold Geh-
lens, Würzburg 1983. – Für Portmann: H. Müller, Philosophische Grundlagen der An-
thropologie Adolf Portmanns, Weinheim 1988.
85 M. Scheler, Mensch und Geschichte (1926), GW 9, S. 120–144. Schelers Vortrag –

Teilstück des ersten Teils der geplanten Philosophischen Anthropologie, der eine »Ge-
schichte des Selbstbewußtseins des Menschen von sich selbst« geben sollte – behandelt
im Schwerpunkt den Übergang im 19. Jh. vom Leitbild des »homo sapiens« zu den
lebensphilosophischen Leitbildern »homo faber« und dem »dionysischen Menschen«.
86 H. Plessner, Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche

(1935), 2. Aufl. 1959 unter dem Titel: Die verspätete Nation, GS VI, S. 7–224. – Die
Kapitel 8–12 enthalten eine Philosophiegeschichte des 19./frühen 20. Jahrhunderts.
87 K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche – Der revolutionäre Bruch im Denken des

19. Jahrhunderts (1941, 2. Aufl. 1949), in: Ders., Sämtliche Schriften, Bd. 4: Von Hegel
zu Nietzsche, hrsg. v. K. Stichweh, Stuttgart 1988, S. 1–490.

Philosophische Anthropologie A 503


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

mit dem Idealismus um 1800 verstanden wurde. 88 Sie enthalten in


der philosophiegeschichtlichen Rekonstruktion Winke auf die Pro-
blemlage, die sich diesen Denkern typischerweise stellte und auf die
zu antworten sie Neigung verspürten.

Vor diesem Hintergrund versteht sich der nachfolgende Versuch,


›Philosophische Anthropologie‹ auf der philosophiegeschichtlichen
Ebene als einen identifizierbaren Denkansatz zu charakterisieren.
War im ersten Teil die Frage, wie es gewesen ist, narrativ mit der
Darstellung der Realgeschichte einer intellektuellen Schicksals-
gemeinschaft beantwortet, wird hier die Frage beantwortet, ob und
inwiefern diese »Denk-›Schule‹« sich zu Recht als eine philosophi-
sche Bildungsgeschichte, als ein Denkansatz, kennzeichnen lässt.
Die Philosophische Anthropologie müsste dann als Philosophie funk-
tioniert haben, als eine charakteristische Denkungsart, eine Art des
kategorialen Griffs, der durch die offensichtlichen Differenzen der
Autoren und zumindest der Haupttexte hindurch identifizierbar
ist.89
Der Versuch der systematischen Bestimmung der Philosophi-
schen Anthropologie als Denkansatz wird nicht nur notwendig, weil
die bisherige einschlägige philosophiegeschichtliche Kennzeichnung
widersprüchlich ist, sondern sie wird überhaupt erst mit diesem Auf-
wand nachträglich notwendig, weil aus realgeschichtlichen Gründen
eine kontinuierliche reflexive Vergewisserung des Identitätskerns
versagt blieb. Und diese theoriesystematische Klärung ist nicht nur
nachträglich notwendig, sondern ist – um das noch einmal zu beto-
nen – wichtig, weil ihre Beantwortung die Voraussetzung für einen
eventuellen Gebrauch der Philosophischen Anthropologie in ihrer
phänomenerschließenden Kraft, für die Kritik des Denkansatzes
durch andere Theorieprogramme und für die Kombinierbarkeit mit
letzteren bildet. Möglicherweise deutet sich ja in den diversen
»turns« 90 nach dem »linguistic turn«, in den verschiedenen Wen-
dungen der Kultur- und Sozialwissenschaften (und der Philosophie)

88 W. Schulz, Die Epoche der nichtspekulativen Anthropologie, in: Ders., Philosophie in


der veränderten Welt, a. a. O., S. 419–456.
89 Damit ›wiederholt‹ Teil 2 Begriffe und Argumentationsfiguren, die bezogen auf die

Hauptautoren und ihre Texte bereits in Teil 1 eingeführt worden sind; allerdings werden
sie nun in strikt systematischer Absicht behandelt.
90 D. Medick-Bachmann, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissen-

schaften, Hamburg 2006.

504 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

am Ende des 20. Jahrhunderts zur »Körperlichkeit«, zur »Räumlich-


keit«, zu den »Artefakten«, zur »Bildlichkeit«, zur »Emotionalität«,
zur »Stimme« und »Artikulation«, zur »Narrativität«, zur »Rhetori-
zität« der Sprache, zur (außersprachlichen) »Medialität«, zu allen
Dimensionen der »Materialität« und des »Lebens« und der »Perfor-
mativität« als Konstituenten der menschlichen Lebenswelt, zur »Vir-
tualität« – und im metaphysical und religious turn – eine Wieder-
kehr des Verdrängten an, das in der Philosophischen Anthropologie
noch systematisch präsent gehalten wurde. Damit ist über die Pro-
duktivität des linguistic turn und über die Art der Erschließbarkeit
der nun in die Theoriebeobachtung zurückkehrenden Phänomene
nicht entschieden. Das Untersuchungsziel dieser Studie, insbesonde-
re des 2. Teils, bleibt hier allerdings eingeschränkt. Es geht nicht um
die Überlegenheit der Philosophischen Anthropologie gegenüber an-
deren Denkansätzen, und es geht nicht um die theoretische Überle-
genheit Schelers, Gehlens, Plessners im Verhältnis zueinander. Ge-
testet werden soll bloß die Hypothese eines Identitätskerns, nämlich
ob sich philosophiesystematisch ein affines Theorieprogramm na-
mens ›Philosophische Anthropologie‹ bei den genannten Autoren re-
konstruieren lässt – so wie man eben auch die originären Paradigmen
z. B. der Kritischen Theorie, der Existenzphilosophie, des evolutions-
theoretischen Naturalismus, der philosophischen Hermeneutik, des
Strukturalismus, der sprachanalytischen Philosophie identifizieren
kann.
Diese Klärungsaufgabe soll in folgenden Schritten geleistet wer-
den: Zunächst gilt es also, Philosophische Anthropologie philoso-
phisch zu identifizieren als spezifische Antwort auf eine philosophie-
geschichtliche Lage (2.1). Die Denkergruppe soll hier gleichsam
enggeführt werden bezogen auf ein internes Problem der Philoso-
phiegeschichte, das sie gemeinsam als Herausforderung angenom-
men haben. Die Hypothese (2.2) ist dann, dass die betreffenden Den-
ker in der Antwort, die sie sich vornahmen, tatsächlich einen
kategorialen Griff gefunden haben, einen Fund gemacht haben
(2.2.1). Alles Glück, alles Leid der realen Bildungsgeschichte der Phi-
losophischen Anthropologie hat seinen Grund darin, dass diese Den-
ker eine Idee, eine originäre philosophische Funktionsweise entdeck-
ten, die der philosophiegeschichtlichen Lage standhalten sollte. Oder
anders gesagt: Die Bildungsgeschichte der Philosophischen Anthro-
pologie in ihrer Realität erzählt zu haben macht nur Sinn, wenn da-
bei ein Bildungsprinzip des Denkens gefunden wurde, das als Identi-

Philosophische Anthropologie A 505


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

tätskern trotz aller Differenzen der Themen und Temperamente eine


tiefenstrukturelle Denkgemeinsamkeit zwischen den Autoren in der
Art der Kategorienbildung stiftete (2.2.2) und das die tatsächlich er-
heblichen Differenzen, die thematisch und im Duktus zwischen
ihnen bestanden, zugleich über diesen philosophischen Identitäts-
kern explizierbar macht (2.2.3). Schließlich erlaubt dieses Prinzip
der Kategorienbildung, die spezifische Operation der Philosophi-
schen Anthropologie, ihre Originalität kontrastiv von anderen Denk-
optionen und Theorierichtungen abzuheben (2.2.4).

506 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Philosophiegeschichtliche Lage

2.1 Philosophiegeschichtliche Lage

Zunächst gilt es die philosophiegeschichtliche Lage zu verstehen, auf


die hin Philosophische Anthropologie als Antwort hervortritt. Diese
Denkrichtung entspringt einer philosophiegeschichtlichen Denklage
zwischen 1900 und 1925, die entscheidend geprägt ist von einem
»revolutionären Bruch« (Löwith) in der Philosophie der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts. Philosophische Anthropologie als Denk-
ansatz bildet sich im Aufsichnehmen einer Aufgabe, die sich dadurch
ergibt, dass die beteiligten Denker sowohl jenseits, auf der Seite des
Idealismus vor dem »Bruch« stehen – wie diesseits des Bruches, auf
der Seite der Lebensphilosophie, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts
kontinentaleuropäisch maßgeblichen Denkströmung, die ein Resul-
tat des Bruches darstellt. Die Philosophische Anthropologie wäre
dann die spezifische Antwort auf diese komplexe philosophie-
geschichtliche Frage, die als Antwort diese konkrete Frage über-
dauert.

Hundert Jahre zuvor, um 1800 herum, setzt die Philosophie mit den
Kategorien der »Vernunft« oder des »Geistes« bei der Kraft des den-
kenden »Ich« an. In der Philosophie des Idealismus spitzt sich das von
Descartes artikulierte Bewusstsein zu, als »Ich« gegenüber dem
Schöpfer, dem »Er« (Gott), aber auch gegenüber seiner Schöpfung,
dem Bann des Lebens, der Abhängigkeit von der Natur, gerade auch
gegenüber der Natur des eigenen Körpers, eine unverrückbare Frei-
heit, eine Selbstbestimmung zu besitzen: »Ich denke, also bin ich.
[…] Daraus erkannte ich, daß ich eine Substanz bin, deren ganzes
Wesen oder deren Natur nur darin besteht, zu denken und die zum
Sein keines Ortes bedarf, noch von irgendeinem materiellen Dinge
abhängt […].« 1 Das seit der griechischen Philosophie freigesetzte
Selbstbild des autonomen »homo sapiens« 2 steigert sich hier zur
idealistischen Erhabenheit eines dualistischen Lebensgefühls, das die
körperfreie Autonomie seines denkenden Ich einerseits, die wissen-
schaftlich durch das denkende Ich feststellbare Welt der Körper ande-
rerseits entdeckt.
In dieser Figur löst sich die philosophische Selbstvergewisse-

1 R. Descartes, Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissen-
schaftlichen Forschung, übers. u. hrsg. v. L. Gäbe, Hamburg 1980, S. 53 f.
2 M. Scheler, Mensch und Geschichte (1926), GW 9, S. 125.

Philosophische Anthropologie A 507


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

rung äußerst entschieden von der jahrhundertealten religiösen und


mythischen Figur einer »religiösen Anthropologie«, Mensch und
Welt als »Geschöpf Gottes« vorzustellen. 3 Diese neue Figur des on-
tologisch-gnoseologisch allen Welt- und Gotteskräften entzogenen,
ihnen vorgelagerten, nicht nur autonomen, sondern autodynami-
schen Subjekts zeigt sich zunächst in der Kantischen Figur transzen-
dentaler Subjektivität, deren Kategorien und Spontaneität aller Er-
fahrungsbegegnung mit der Welt im sinnlich entgegenstehenden
Material als Bedingungen ihrer Möglichkeit vorausliegen. Noch ra-
dikaler ist der idealistische Ansatzpunkt der Philosophie Fichtes bei
der Kraft des denkenden Ich zu grundlegender »Setzung«: »Das Ich
setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieser Setzung«. 4 Das sich tätig
selbst setzende Ich setzt sich das Nicht-Ich gegenüber, um sich von
der so gesetzten Wirklichkeit her selbst zu limitieren und zu modifi-
zieren. Hegels Idealismus schließlich überwindet den cartesianischen
Dualismus zwischen dem Ich und dem strikt davon getrennten natu-
ralen ›Es‹, indem er die bereits von den Griechen als Welt- und
Selbsterklärung entdeckte Vernunft nach dem Modell des auto-
nomen Subjekts in Gestalt des Geistes als agierende Substanz an-
setzt, der sich nichts entzieht, weil sie auch das Andere ihrer selbst
setzt und aufhebt. Es ist das Prozessprinzip einer die selbstgesetzte
Position durch Entäußerung überschreitenden und aus dieser Ent-
fremdung in das Andere ihrer selbst – die Natur, den Körper – ange-
reichert und korrigiert zu sich selbst zurückkehrenden Subjektivität.
Durch das durchgreifend dynamische Subjekt des Geistes, der in stu-
fenartigen Fortschritten einer Natur- und Weltgeschichte zu sich
selbst gelangt, ist jeder Dualismus als Dialektik auseinandergetrete-
ner Momente – Subjekt und Welt, Individuum und Allgemeinheit,
Natur und Geschichte – »aufgehoben«.
In der Philosophie des Idealismus artikuliert sich philosophie-
geschichtlich wie nie zuvor die Intuition nicht nur von der Selb-
ständigkeit (Autonomie), sondern von der Selbstmächtigkeit (Auto-
dynamik) des Geistes, seiner genuinen Handlungsmächtigkeit,
untrennbar verbunden mit den Eigenschaften objektiver Erkenntnis-
kraft und der Konstanz des Geistes gegenüber dem Variablen, dem
zeitlichen Wandel, der sinnlichen Erscheinung.

3 Ebd., S. 124.
4 J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794), in: Fichtes Werke,
hrsg. v. J. H. Fichte, Bd. 1, Berlin 1971, S. 96.

508 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Philosophiegeschichtliche Lage

Die ganze Philosophiegeschichte seit Mitte des 19. Jahrhunderts


bildet sich nun in einer fortlaufenden, immer neu einsetzenden Kri-
tik dieser in der idealistischen Philosophie der Subjektivität ausfor-
mulierten Selbstbestimmung und Selbstmächtigkeit des denkenden
Ich. Es ist eine Geschichte des »Verdachts« gegen die Idealität, eine
Geschichte ihrer »Demaskierung«. 5 Die im Zuge der cartesianischen
Dualität freigesetzte, feststellbare Körperwelt, die wissenschaftliche
Erforschung ihrer physisch-psychischen Positivität, entdeckt gewis-
sermaßen ein Wirklichkeitsmoment nach dem anderen, das der idea-
listischen Philosophie widerspricht. Eine dementsprechende Idee
nach der anderen tritt auf, welche die Strukturmomente des vernünf-
tigen Ich auf vor- und untervernünftige Basen abbaut. Diese Art der
Kritik der Vernunft ist eine Krisengeschichte der Vernunft, in der
ihre systemartig vermittelnde Kraft zersetzt wird, aber in der Zerset-
zung werden im philosophischen Raum zugleich neuartige Wirklich-
keitserfahrungen akut.
Diese mit der Idealität des Ich brechende Bewegung setzt ein,
wenn die Figur des denkenden Ich nicht als aktiv setzende, allgemei-
ne Subjektivität, sondern als durch und durch leibverhaftet sinnliches
[Sensualität] und durch das konkrete »Du« vermitteltes Ich [Alteri-
tät; Intersubjektivität] begriffen wird. Alles menschliche Selbst- und
Weltverhältnis basiert dann auf sensuell-materieller Verbundenheit
des Ich mit sich selbst und der Welt und auf vor-vertraglicher Ge-
gründetheit des Ich im dem eigenen Bewusstsein vorlaufenden Be-
zug zum Anderen. Vor allem durch Feuerbach, dessen Hauptanliegen
die kritische Reduktion der christlichen Religion (dem ideen-
geschichtlichen Rückhalt des Idealismus) auf das natürliche Wesen
des Menschen ist, übt – disziplinmäßig gesehen – eine im Rekurs
auf die Sinnlichkeit basale »Anthropologie« sowie eine im Rekurs
auf die Intersubjektivität basale Soziologie kognitiven Druck auf
den idealistischen Ansatz aus. 6 Es kommt zu einer ›Anthropologisie-
rung‹ und ›Soziologisierung‹ des Wissens. Diese Abbaubewegung der
Idealität setzt sich fort, wenn der Mensch statt von der denkenden
Subjektivität des Geistes her als ökonomisch-praktisch arbeitendes
Gattungswesen [praktische Produktivität] verstanden wird, welches
die selbst produzierten Widersprüche einer innerweltlichen Selbst-

5 H. Plessner, Die verspätete Nation, GS VI, S. 147–161.


6 K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche – Der revolutionäre Bruch im Denken des
19. Jahrhunderts (1941), a. a. O., S. 94–108.

Philosophische Anthropologie A 509


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

entfremdung nur durch die tätige Eschatologie der Arbeiter konkret


aufzuheben vermag. Vor allem durch Marx übt seit Mitte des
19. Jahrhunderts eine sozial-ökonomisch materialistische Wissen-
schaft kognitiven Druck auf den idealistischen Ansatz aus. 7 Parallel
verstärkt sich die Krisengeschichte der Vernunft in der radikal durch-
geführten Verendlichung aller Allgemeinheit des Geistes in der kon-
kreten ›Existenz‹ des Einzelnen. Im Gegenzug zum Idealismus, für
den das menschliche Wesen des Einzelnen in seiner Vermitteltheit
in die allgemeine Vernunft besteht, gilt der Mensch hier als ein durch
und durch einziges Wesen [Existentialität]. Allein der einzelnen
Existenz, nicht dem subsumierenden oder ›aufhebenden‹ Begriff
kommt ausgezeichnete Wirklichkeit zu. Vor allem bei Stirner und
Kierkegaard beginnt eine existentielle Psychologie kognitiven Druck
auf den idealistischen Ansatz auszuüben. 8 Zeitgleich unterliegt die
Vernunftidee der einen Weltgeschichte, in deren stufenartigen Fort-
schritten der Geist als Subjektivität zu sich selbst gelangt, philo-
sophiegeschichtlich dem Abbau. Dem historisch forschenden Blick
sind die »Manifestationen der objektiven Welt des Geistes« nunmehr
»Ausdruck« des je in seiner Zeitlichkeit situierten (menschlichen)
»Lebens«, das sich im Bannkreis dieser geschichtlichen Kulturobjek-
tivationen zu »verstehen« sucht und als ein durch und durch ge-
schichtliches, in der Vielfalt der Praktiken und Weltauslegungen un-
erschöpflich expressives Wesen findet [Historizität]. Vor allem
durch die Historische Schule und Dilthey üben die Geschichts- und
Kulturwissenschaften einen philosophisch relevanten Druck auf den
idealistischen Ansatz aus. 9 Ein noch einmal anders gelagerter Druck
auf den Idealismus des selbstsetzenden und -mächtigen Ich stellt
sich schließlich ein, als die Naturwissenschaften in Gestalt der avan-
cierten Biologie mit ihrer Erklärung den Lebensprozess, die Orga-
nismen in der Natur, erreichen. Die Vernaturwissenschaftlichung
des Geistes, wie sie bereits durch die reflektierenden Physiker wie
Helmholtz zur materialistischen Weltsicht vorangetrieben wurde,
findet ihre bleibende Exposition in der Evolutionstheorie Darwins,
für die der Geist ein Epiphänomen der Materie sein muss. Für die
Entwicklungstheorie seit Darwin, für die das Lebensgeschehen –

7 H. Plessner, Die verspätete Nation, GS VI, S. 140–145. – K. Löwith, Von Hegel zu


Nietzsche, a. a. O., S. 119–134.
8 Ebd., S. 143–149. – H. Plessner, Die verspätete Nation, GS VI, S. 190–193.

9 Ebd., S. 153–155. – M. Scheler, Mensch und Geschichte (1926), GW 9, S. 71.

510 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Philosophiegeschichtliche Lage

theologie- und teleologiefrei – abstammungstheoretisch aus den


mechanischen Gesetzen der Anpassung, Vererbung und Selektion
erklärbar wird, muss auch das Apriori der transzendentalen Subjek-
tivität und deren Sinn- und Wertsetzung – dieser Stolz der Vorgän-
gigkeit des Geistes vor allen Mächten der Natur – dann selbst nur
als ein spezialisiertes Anpassungsprodukt der evolutionär begriffe-
nen anonymen Naturgeschichte erscheinen; das menschliche Be-
wusstsein hat sich aus einer niedrigeren tierischen Bewusstseins-
form entwickelt [Adaptivität; Evolution]. 10 Viele Motive der
Krisengeschichte der Vernunft im 19. Jahrhundert ziehen sich be-
reits in Nietzsches Ideenbildung zusammen: Alle Erkenntnisleistun-
gen und Wertsetzungen werden relativiert auf die Dienlichkeit für
das Leben (im Menschen), dessen »Willen zur Macht«, dessen
Selbststeigerung sie fördern oder blockieren [Funktionalität]. Einen
letzten Schub erfährt die Entdeckung, dass das autonome Ich nicht
Herr im eigenen Haus ist, durch die Idee, dass das Bewusstsein eine
durch und durch abhängige Größe des »Unbewußten« ist, hervor-
gegangen aus dem »Es« 11 eines Antriebslebens, das mit seiner Plas-
tizität und Verschiebbarkeit von Inhalten zugleich das kontingente
Schicksal des Ich ist [Vitalität]. 12 Vor allem durch Freud übt die de-
maskierende Trieb- und Tiefenpsychologie kognitiven Druck auf den
idealistischen Ansatz aus. 13 Der Mensch wird nicht mehr von ›Gott‹
oder dem ›Geist‹ her abgeleitet, sondern unter die Entwicklung der
Tiere zurückgestellt.

Diese Destruktion des Idealismus während des 19. Jahrhunderts, die-


ser fortwährende, teilweise parallel einsetzende, kaskadenartige Ab-
bau der Vernunftphilosophie, die »Entlarvung« ihrer Strukturele-
mente objektiver Erkenntnis, Selbstmächtigkeit, Konstanz, Teilhabe
am Logos, wurde für die Philosophie selbst zu einer heiklen Angele-

10 Ebd., S. 72–77. – H. Plessner, Die verspätete Nation, GS VI, S. 251 f.


11 S. Freud, Das Ich und das Es (1923), in: Ders., Studienausgabe in 10 Bdn., hrsg. v.
A. Mitscherlich/A. Richards/J. Strachey, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1975, S. 273–330. Freud
übernimmt die Kategorie des »Es« von Georg Groddeck. Vgl. hierzu G. Groddeck, Das
Buch vom Es. Psychoanalytische Briefe an eine Freundin (1923), Frankfurt a. M. 1979.
Groddeck hatte die Kategorie unter dem Eindruck von Schopenhauers und Schellings
Umkehr des Idealismus gefaßt.
12 Die »Anthropologie des dionysischen Menschen«, so M. Scheler, Mensch und Ge-

schichte, GW 9, S. 134–144.
13 H. Plessner, Die verspätete Nation, GS VI, S. 159–161.

Philosophische Anthropologie A 511


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

genheit, weil ihr im Abbau der »Vernunft« das Medium schwand, in


dem sie selbst als Instanz die verschiedenen Größen systemhaft ver-
mittelte. Damit ging auch ihre Zuständigkeit für die Ausdifferenzie-
rung der die materialen Momente entdeckenden verschiedenen Ein-
zelwissenschaften verloren.
Darauf gab es zwei Reaktionen. Entweder die Philosophie – in
Gestalt des Neoidealismus, vor allem des Neukantianismus – resta-
bilisierte die Vernunft gegen alle diese vorrationalen Mächte, indem
sie die Philosophie strikt zuerst an die Natur-, dann auch an die Kul-
tur-Wissenschaft band und philosophische Reflexion systematisch
auf den logischen Aufbau der Wissenschaften beschränkte – bei Ab-
schottung gegen deren materiale Resultate. Oder sie setzte darauf,
dass der Abbau der Vernunftmomente auf prärationale Mächte in
der Sache zu einer Gegenkategorie tendierte – zur Koinzidenz in der
Kategorie »Leben«. Eine in verschiedenen Spielarten sich bildende
Lebensphilosophie führte die in der Zersetzung der Vernunftsysteme
entdeckten Erfahrungen in die »Grenz- und Tiefenschicht aller Ge-
staltung, das Leben«. 14 Gegenüber der Vernunft, dem Prinzip des
autonomen allgemeinen ›Ich‹, bot die Lebensphilosophie, ohne auf
das vor der Philosophie der Subjektivität Geltung heischende per-
sonale ›Er‹ (Gott) als Inbegriff einer transzendenten, schöpferisch-er-
haltenden Instanz der Welt- und Selbstverhältnisse zurückzukom-
men, als neues, immanent vermittelndes Medium »Leben« an – das
Prinzip eines vorgängig-dynamischen ›Es‹, in dem eine dem Be-
wusstsein vorgängige Berührung mit der Welt und dem »Du« bereits
eingeschlossen ist. Diese Wende zur Lebensphilosophie war in der
spätidealistischen Philosophie mit ihrer Verschiebung des Akzents
schon vorbereitet: bei Schelling mit seiner Umakzentuierung vom
Denken zugunsten des Wollens 15 und bei Schopenhauer schon im
Titel seines Hauptwerkes in Form einer programmatisch veränderten
Reihen- und Rangfolge: ›Welt als Wille und Vorstellung‹. 16

14 Ebd., S. 157.
15 »In der Spätphilosophie Schellings ist erstmalig diese Bewegung vollzogen, in der die
sich zu sich ermächtigen wollende Subjektivität gerade durch die Erfahrung ihrer Ohn-
macht zum eigentlichen Verständnis ihrer selbst kommt.« W. Schulz, Die Vollendung
des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, Stuttgart/Köln 1955, S. 6.
16 Die Bedeutung der »Lebensphilosophie« Schopenhauers für die späteren Philosophi-

schen Anthropologen Scheler, Plessner und Gehlen ist verschiedentlich aufgeklärt:


K. Lenk, Schopenhauer und Scheler, in: Schopenhauer-Jahrbuch, Jg. 36 (1956), S. 55–
66; J. Beaufort, Dialektische Lebensphilosophie. Schopenhauers und Plessners Lebens-

512 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer

https://doi.org/10.5771/9783495999899
Philosophiegeschichtliche Lage

In der Kategorie des »Lebens« als einem bereits vor- und unter-
menschlichen Medium sammelte die Lebensphilosophie sozusagen
die verschiedensten Abbau-Basen der Krisengeschichte der Vernunft
ein, die neu entdeckten Momente der Faktizität, dabei neue Vermitt-
lungen versprechend: das organische Leben, das sensual-leibliche Le-
ben, das Triebleben, das begegnende andere Leben, das in der Leib-
gebundenheit des Geistes kreatürlicher Angst sich erfahrende
singuläre Leben, die Psychologie des inneren Erlebens und der Zeit-
lichkeit, und das sich zu immer neuen Ausdrucksformen wandelnde
geschichtliche Leben. In die durch Destruktion freigewordene Leer-
stelle des »Homo sapiens« rückten lebensphilosophisch der »Homo
faber« oder der »dionysische Mensch«. 17 Die avancierte Lebensphi-
losophie entfaltete sich in prägnanten Spielarten, von der pragmati-
schen, bioevolutionären Variante, in denen der Geist als Intelligenz
und funktionale Größe des auf Fortpflanzungs-, Macht- und Er-
werbstrieben geeichten Lebens verstanden wurde (Spencer), über
die intuitive Lebensphilosophie (Bergson), in der der Geist im Leben
weilt, wenn er sich in der intuitiv schauenden Hingabe zum Lebens-
strom öffnet, bis hin zu der radikal a-rationalen Spielart, in der der
Geist als raum-zeitlose, lebens- und seelenzerstörende Macht von
außen ins Leben hereinbricht (Klages): »Wie ein metaphysischer Pa-
rasit erscheint hier der Geist, der sich in Leben und Seele einbohrt,
um sie zu zerstören.« 18 Vom Ansatz dieser Lebensphilosophie aus
war der Idealismus, der die Lossprechung des intellektuellen Geistes
vom Leben zum produktiven Prinzip des menschlichen Selbst- und
Weltverhältnisses erhoben hatte, nicht nur eine Überdehnung des
Menschen (wie für die pragmatische Variante) oder seine Hemmung,
sondern Ausdruck seiner Erkrankung, denn er hatte zum philosophi-
schen Prinzip werden lassen, was der Geist als Faktum bereits bedeu-
tete: die störende Unterbrochenheit der Leibseele-Einheit, die Unter-
brechung der Einsfühlung mit der schaffenden Natur, das Abdrängen
von den schaffenden Kräften der Natur und der Geschichte. In der
Lebensphilosophie in ihren verschiedenen Strömungen ist die Zen-
tralität des Ich zugunsten des Untergrundes einer eigendynamischen

philosophie im Vergleich, in: Schopenhauer-Jahrbuch, Jg. 84 (2003), S. 57–73. A. Geh-


len hat diese Bedeutung selbst kenntlich gemacht: Die Resultate Schopenhauers (1938),
GA 4, S. 25–49.
17 Vgl. dazu vor allem M. Scheler, Mensch und Geschichte (1926), GW 9, S. 72–84.

18 M. Scheler, Mensch und Geschichte, GW 9, S. 81.

Philosophische Anthropologie A 513


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

Kraft des »Es« geschwunden, auf der das Ich eine tanzende, getanzte
Größe ist. Lebensphilosophie bedeutete eine Aufladung, eine Ver-
zauberung der Kategorie des »Lebens«. 19

19 Zu dieser »Zauberformel« einer »Philosophie des Lebens« im ersten Drittel des


20. Jahrhunderts – nach dem »erlösenden Wort« der »Vernunft« im 18. und der »Zau-
berformel« der »Entwicklung« im 19. Jahrhundert – vgl. H. Plessner, Die Stufen des
Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 3 f. – W. Eßbach., Vernunft, Entwicklung, Le-
ben. Schlüsselbegriffe der Moderne, in: U. Bröckling/A. T. Paul/St. Kaufmann (Hrsg.),
Vernunft, Entwicklung, Leben. Festschrift für Wolfgang Eßbach, München 2004, S. 13–
22.

514 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

2.2 Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

Die Denkungsart der Philosophischen Anthropologie bildet sich aus


der Erwartungsspannung der beteiligten Autoren, auf diese philoso-
phiegeschichtliche Lage eine Antwort finden zu können. Die Den-
kungsart entspringt einer Doppelfindung: dem Finden einer Aufgabe
und dem Finden einer Lösung.
Eine eigenartige Herausforderung bildete diese philosophiege-
schichtliche Lage für die Denker, die – obwohl philosophiegeschicht-
lich die Lebensphilosophie die Vernunftphilosophie zu überholen
schien – beide Selbstbeobachtungen und -beschreibungen des Men-
schen in sich präsent hielten: das Ich als die das Es setzende Kraft,
aber auch das Es als lebendige Kraft mit dem Ich als funktionaler
Größe. Sie mussten erschrocken sein über den Zusammenbruch des
Idealismus, weil sie an dessen Impuls, im Selbstausweis die innere
Kraft der Vernunft systematisch vorzuführen, festhielten, und waren
zugleich fasziniert von den gegen den Idealismus freigesetzten Wirk-
lichkeitsentdeckungen. Sie waren fasziniert von den Wissenschaften,
und zwar nicht nur hinsichtlich deren Forschungslogik, sondern von
der empirischen Forschung, von deren Resultaten, der ›Positivität‹
von Psychologie, Ethnologie, Philologie, Soziologie, Biologie. In der
Kategorie des ›Lebens‹ führte die Lebensphilosophie mit den von den
ausdifferenzierten positiven Wissenschaften entdeckten Wirklich-
keitsmomenten ganze, von der dualistischen Grundoperation des
Idealismus (Vernunft/Sinnlichkeit; Vernunft/Gefühl, Vernunft/Trie-
be, Vernunft/Zeitlichkeit) ausgeschlossene, Phänomengruppen an
die Schwelle der Philosophie zurück: die Naturalität, Sensualität, In-
dividualität, Kollektivität, Historizität, Aktivität, Dynamizität, Vita-
lität – allerdings zum Schaden, zumindest zur Irritation des Geistes,
der sich selbst keine Einheit der Wirklichkeit und keine Einheit der
Wissenschaften mehr zeigen konnte.

Im Entschluss, ›Geist‹ im ›Leben‹ aufzubauen, den Spieß des 19. Jahr-


hunderts mit seiner Leidenschaft des Abbauens, der Demaskierung,
umzudrehen, wird die Denkungsart der unter dem Titel einer Phi-
losophischen Anthropologie sich einfindenden, einander erkennen-
den Denker sichtbar. Die Bedingungen und Konsequenzen eines
nachmetaphysischen Denkens in Gestalt des Historismus und des
Naturalismus waren ihnen allen klar und deutlich. Ihr Denken kreis-
te um eine Philosophie, die die Kategorie des Geistes in der Kategorie

Philosophische Anthropologie A 515


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

Leben restabilisieren konnte, so dass die Erfahrungsgewinne aus der


Lebensphilosophie für die philosophische Forschung erhalten blie-
ben. Oder anders gesagt: Es ging um die Wiederherstellung der rich-
tigen Intuitionen der Vernunftphilosophie im Medium der richtigen
Entdeckungen der Vernunftkritik, was eine Veränderung der Ver-
nunfttheorie, eine ›Transformation der Philosophie‹ bedeutete. Inso-
fern teilten sie mit anderen sich bildenden Richtungen – vor allem
der Existenzphilosophie, dem Pragmatismus, der hermeneutischen
Philosophie, dem westlichen Marxismus – die Suchbewegung einer
»Konkretisierung des transzendentalen Subjekts« 1 als Antwort auf
das 19. Jahrhundert. Als zu einem spezifischen Denkansatz zugehö-
rig konnten sie sich aber an der gemeinsamen Hypothese erkennen,
dass die Lösung durch eine spezielle Operation in der Kategorie ›Le-
ben‹ gesucht werden musste, also am tiefstmöglichen Punkt. In der
Kategorie ›Leben‹ liefen alle Problemlinien der auf prärationale Be-
dingungen abgebauten Vernunft zusammen, und zugleich war im
Begriff ›Leben‹ eine Kontaktstelle zwischen getrennten Größen –
zwischen Innen und Außen – per se eingebaut, die als Umkehrpunkt
die Bedingung der Möglichkeit bot, von prärationalen Momenten
aus eine Fundierung des Geistes aufzubauen.
Bei der Suchbewegung nach einem neuen Konstruktionsprinzip
räumen diese Denker philosophiegeschichtlich der Tradition keine
große Rolle ein. Sie finden die Lösung eher in einem Abdrängen der
Traditionslinien, die sich dem philosophiegeschichtlichen Blick erst
nach dem Lösungsfund und seiner Ausarbeitung als gewisse Vorläu-
fer aufdrängen. Die Hauptträger des Ansatzes sind alle keine Phi-
losophiehistoriker, keine Hermeneutiker der Philosophie. Sie sahen
sich keiner Tradition verpflichtet, haben sich in keine gewählt, nicht
zitiert, sondern sich eher bestimmte Motive anverwandelt. Das Wis-
sen um Aristoteles und Thomas von Aquin und ihre Stufenmodelle
des Organischen wirkte im Hintergrund. Kants Platzierung einer
»Anthropologie« (»Was ist der Mensch«) im Fragen-Gefüge der Phi-
losophie spielte für keinen der Denker eine prominente Rolle. In
ihrer Auseinandersetzung mit dem Idealismus waren die Denker si-
cher beeindruckt von den idealismusskeptischen Figuren und Auto-
ren, die zeitgleich zur Hochzeit der Transzendentalphilosophie und

1 M. Brelage, Transzendentalphilosophie und konkrete Subjektivität. Eine Studie zur


Geschichte der Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert, in: Ders., Studien zur Transzen-
dentalphilosophie, Berlin 1965, S. 72–253.

516 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

ihrer Distanzierung der Materialität a-rationale Größen – Sinn-


lichkeit, Ästhetik, Sprache – ins Recht gesetzt hatten – wie Herder,
Schiller, Humboldt. Es gab diese anthropologischen Versuche einer
Metakritik der Transzendentalphilosophie: die produktive Einbil-
dungskraft als Konstitutiv der die Vernunft vermittelnden mensch-
lichen Sprache (Humboldt), die ›Kritik der Sinne‹ und eine ästhesio-
logischen Begründung der Sprache im Schnittfeld von Sehen und
Hören als Organon der Vernunft (Herder) oder ›Anmut und Würde‹
als mitspielende oder opponierende Erscheinungen des Geistes im
Körper (Schiller). Das sind hier und da in die Texte der Philosophi-
schen Anthropologen eingeschossene Fäden, aber konstitutiv für das
Gewebe der Philosophischen Anthropologie waren sie nicht. Auch
die Bezugnahme Gehlens auf Herder als seinen Referenzautor hat
eher geschickt – weil nicht falsch gewählt – Plessner und Scheler ver-
decken wollende, also wissenschaftstaktische, als systematische
Gründe. Auch Feuerbach, Schelling, Schopenhauer oder Nietzsche
dienen eher als Problem-Pfadfinder, denn als Lösungsgefährten. 2
Wichtiger für den Lösungsfund einer Philosophischen Anthro-
pologie war, wie sich die einander unvereinbar gegenüberstehenden
zeitgenössischen philosophischen Richtungen von Neukantianismus
und Lebensphilosophie in ihren Protagonisten doch immerhin im
Abstand von Brückenköpfen annäherten: Der Neukantianer Emil
Lask, der innerhalb der Werte- und Geltungsphilosophie des Kritizis-
mus ein Eigenrecht des Objektiven, des Materials, gegenüber der
apriorischen Form soweit einräumt, dass Linien im Material der
Form entgegenkommen; die Lebensphilosophie des späten Simmel,
der mit der Idee, Leben (mit seiner Eigenschaft des »Mehr-Leben«
(Dynamik, Wachstum)) begrenze sich notwendig in der Form (im
»Mehr-als-Leben«), ein Eigenrecht der Form gegenüber dem dyna-
mischen Material konstatiert und damit einen kritizistischen Umbau
der Lebensphilosophie einleitet. Hier deutete sich eine Theorie der
Wert- und Sinngenese aus dem Leben an, ein »Umschlag der Form
aus ihrer vitalen Geltung in ihre ideale Geltung.« 3 Stärker als von der
philosophischen Tradition zehrte die zur Philosophischen Anthro-

2 Zu dieser Art der Hintergrundwirkung: M. Schloßberger, Über Nietzsche und die


Philosophische Anthropologie, in: Nietzscheforschung. Ein Jahrbuch, Bd. 4 (1998),
S. 147–167.
3 G. Simmel, Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, München/Leipzig 1918,

S. 39.

Philosophische Anthropologie A 517


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

pologie führende Gedankenbildung von einer doppelten Abstoßung


ihr gegenüber: Sie war anti-cartesianisch und zugleich anti-rousse-
auistisch gesonnen, d. h. sie wollte systematisch den Dualismus des
von der Wirklichkeit abgesperrten Subjekts ebenso vermeiden wie
die Idee expressiver Authentizität desselben, wobei die Abstoßung
weniger gegen die genannten Denker, sondern gegen die ihnen zuge-
ordneten Ansätzen der Dualität oder der Authentizität menschlicher
Natur ging.

Ihren Ansatz entdecken sie, weil sie keine ›anknüpfenden‹ Denker


waren, sondern sich in einer philosophiegeschichtlich offenen Situa-
tion konstruktiv frei fühlten. Wichtig für die philosophische Bil-
dungsgeschichte der Lösung sind Denkelemente, die in der Luft la-
gen, frisch eingeübte, noch nicht ausgeschöpfte Denkfiguren, die
Brückenköpfe zwischen Lebensphilosophie und Idealismus bildeten:
die Phänomenologie, weil sie den Kontakt des Bewusstseins zum in-
tentional gegenüberliegenden Phänomen rehabilitiert hatte; ein neu-
er Erkenntnisrealismus, der die Erkenntnisrelation als Seinsrelation
»von außen« zu betrachten gestattete, bei Hartmann; außerdem des-
sen verfeinertes ontologisches Schichten- oder Stufenmodell; das
Modell des Funktionskreises bei Uexküll und überhaupt proto-kyber-
netische Denkfiguren 4 ; das Prinzip der »Körperausschaltung« bei
Alsberg als eine Idee zur Unterbrechung der Evolution beim Men-
schen ohne Ausstieg aus der Natur, Palágyis Theorie der Phantasie als
Theorie des Sich-Versetzens des ›Lebens‹ ; gewisse empirische Befun-
de der Tierpsychologie bzw. Primatenforschung (Köhler) und der An-
thropomorphologie (Bolk), also darunter auch Resultate von Natur-
wissenschaftlern, die dem Versuch einer neuen philosophischen
Refiguration biologischer Empirie entgegenkamen. Aber das sind al-
les unverknüpfte Elemente. Um sie bei der Suche nach der Restabili-
sierung des ›Geistes‹ im ›Leben‹, des ›Ich‹ im ›Es‹, zu verknüpfen, war
in jedem Fall die Vertrautheit mit den Reflexionsfiguren des Deut-
schen Idealismus (Negation, Indirektheit, Vermittlung) wichtig; sie
erlaubten, die niederen Kategorien gegen die höheren zu ihrem

4 Zum Theorem des »Funktionskreises«, »Handlungskreises«, »Gestaltkreises« inner-


halb der Philosophischen Anthropologie vgl. auch Rehberg, Anmerkungen des Heraus-
gebers in: A. Gehlen, Der Mensch, GA 3.2, S. 908. Dazu im Zusammenhang der Ge-
schichte einer »kybernetischen Anthropologie« auch St. Rieger, Kybernetische
Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität, Frankfurt a. M. 2003.

518 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

Recht zu bringen, ohne dabei die menschlichen Verhältnisse so tief


anzusetzen, dass sich die reflektierenden Subjekte nicht mehr ernst
nehmen können.

2.2.1 Identitätskern

Die Frage nach dem möglichen Identitätskern der Philosophischen


Anthropologie als Denkansatz zielt auf eine nichttriviale Gemein-
samkeit im Denken der Autoren. Die Frage ist, ob sich durch die in
der Literatur üblicherweise erwähnten ›flachen‹ Kriterien (Tier/
Mensch-Vergleich, gemeinsame Referenzautoren wie Köhler und
Uexküll, Weltoffenheit des Menschen) hindurch eine tiefenstruktu-
relle Identität in der Differenz der Autoren zeigen lässt. Dabei kon-
zentriert sich die Hypothese eines solchen Kerns auf den einen
Punkt, ob sich in dem »Wie« ihrer Kategorienbildung eine charakte-
ristische Gemeinsamkeit identifizieren lässt. Diese Art der Katego-
rienbildung könnte dieselbe sein, jedenfalls in den Schriften, die sich
als »philosophisch-anthropologische« im engeren Sinn bezeichnen
lassen.

Ein gemeinsamer Kern könnte – in einem ersten Vorgriff – in folgen-


der Bewegungsfigur des Denkens liegen. In den einschlägigen Texten
aller Autoren bildet die Selbstgewissheit des »Geistes« den unbestrit-
tenen Ausgangspunkt, aber die Reflexionsbewegung setzt gerade
nicht dort bei den Leistungen der Subjektivität an, sondern von »wo-
anders« her, »indirekt« an, beim Tatbestand des Lebendigen. Noch
einmal formuliert: Der Geist in seiner inneren Selbstausweisungs-
fähigkeit oder seiner sprachlichen Vergewisserung wird voraus-
gesetzt, aber diese Vergewisserung genügt sich nicht, sondern der
Blick wird nach außen, auf das Lebendige gerichtet. Der Theorieblick
richtet sich auf das ›Leben‹, nicht auf die Materie überhaupt (oder die
Natur überhaupt) oder auf die Materie nur insoweit, als in Abhebung
zur anorganischen Materie das Organische zu charakterisieren ist.
Der Blick (der Theoriebewegung) ist auch nicht »intuitiv« auf den
»Lebensstrom« (elan vital) gerichtet (als spekulatives Prinzip allen
Seins), sondern auf das konkrete, empirisch Lebendige. Dieses kon-
krete, erfahrbare Lebendige wird nun aber gerade nicht am Leitfaden
der eigenen Leiblichkeit (des denkenden, fühlenden, sich im Medium
des Leibes selbst spürenden Subjekts) erreicht, sondern in der Blick-

Philosophische Anthropologie A 519


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

distanz auf das Objekt »Leben« (zu dem auch der eigene ›Leib‹ zu
rechnen ist, insofern er ›Körper‹ ist). Nicht die (Phänomenologie der)
Leiblichkeit ist der Ausgangspunkt, sondern reflexionsentscheidend
ist der distanzierte, dem Biologen folgende kritisch-konstruktive
Blick auf den (subhumanen) Organismus, auf den lebendigen Körper
inmitten seines Mediums oder seiner Umwelt. Die Denkbewegung
bei allen einschlägigen Autoren setzt beim Blick auf den ferngestell-
ten lebendigen Körper-in-seiner-Umwelt an, um dann in einem kate-
gorialen Durchgang durch Typen des Lebens (Pflanzen, Tiere) den
Ausgangspunkt – Geist – zu erreichen – ohne nun eine Teleologik
des Lebendigen zum Geist hin zu postulieren (wie im Deutschen
Idealismus) und ohne die Phänomene des Geistes auf eine evolutio-
näre Kontinuität des Lebens zu reduzieren (wie das evolutionsbiolo-
gische Paradigma seit Darwin).

Soweit ein erster Nachvollzug der behaupteten typischen Denk-


bewegung in den Schlüsseltexten der Autoren. Die kurze Rekon-
struktion enthält auch mögliche, aber eben nicht gewählte
Weggabelungen der Reflexionsbewegung. Andere Optionen an den
Weggabelungen bedeuten andere Theorieprogramme. Die Art der
Kategorienbildung, die für die Philosophische Anthropologie als ty-
pisch behauptet werden soll, lässt sich nun näher in sieben Zügen
präzisieren.

1. Innerhalb der Subjekt-Objekt-Relation setzt die Reflexionsbil-


dung nicht beim Subjektpol an, hebt also nicht gleichsam in der
Selbstreflexion des Beobachtens und Denkens an, sondern konzen-
triert sich auf »etwas« gegenüber, auf das Objekt. Man muss zwi-
schen der Ausgangserfahrung und dem Ansatzpunkt unterscheiden.
Die philosophisch-anthropologische Kategorienbildung setzt die Er-
fahrung des Selbstbewusstseins, der menschlichen Lebenswelt, auch
die Erfahrung der Verschiedenheit der Kulturen voraus (Vorausset-
zungen, die sie einholen will), aber sie setzt nicht damit, sondern am
Gegenstandspol, beim Vorhandenen an. Das philosophisch-anthro-
pologische Verfahren ist ein »Umweg«-Verfahren, die Kategorienbil-
dung bezogen auf den ›Menschen‹ verfährt indirekt. »Etwas« gegen-
über – ein Ding im Kosmos, ein Lebendiges in seiner Umwelt – fällt
so in den Blick von jemand, der jedermann sein könnte. Ferngestellt
öffnet sich das Objekt gleichsam einem gemeinsamen Anschauungs-
raum, einem öffentlichen Blick des common sense (nicht zu verwech-

520 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

seln mit common language, einer vorhergehenden sprachlichen Ver-


mitteltheit der Anschauung; vielmehr wird die Sprache an dem ge-
prüft, was jeder sehen könnte).

2. Der Aufforderung: Machen Sie eine typische Denkbewegung der


Philosophischen Anthropologie – folgt also immer eine am Objektpol
ansetzende und sich dort vertiefende Reflexion. Für alles Weitere
entscheidend ist nun, dass diese am Objektpol ansetzende Reflexion
bewusst nicht auf der Höhe des Menschen ansetzt – etwa dem an-
deren Menschen gegenüber oder dem menschlichen Körper (des
Anderen) gegenüber – sondern von unten her. Das ist der in die phi-
losophisch-anthropologische Kategorienbildung eingebaute natur-
philosophische Zug. Natur und Naturgeschichte sind (gerade auch
in einem ontologischen Sinn) älter als der Mensch. Die Pointe der
Philosophischen Anthropologie ist deshalb, dass sie am Gegenstands-
pol wider die Erwartung nicht auf der Höhe des Menschen ansetzt,
sondern von unten, aber nicht zu tief, bei der Materie, sondern im
Zwischenreich des Lebendigen – zwischen Materie und Mensch. Die
Kategorienbildung fokussiert eine eigene Zone zwischen »Etwas«
und »Jemand«, nämlich das ›lebendige Etwas‹, also das psycho-phy-
sisch indifferente Phänomen, das für die Erfahrung hinsichtlich der
Unterscheidung physisch oder psychisch »neutral« ist. Der Ansatz
unterscheidet also Etwas, belebtes Ding, Jemand oder Ding, Organis-
mus, Person – und die Fokussierung auf das Lebendige zwischen un-
belebter Materie und Geist in seinem anonymen Es-Charakter und
seiner heteronomen Eigendynamik leitet die weitere Kategorien-
konstruktion der Philosophischen Anthropologie. Insofern ist Biolo-
gie die Referenzwissenschaft der Philosophischen Anthropologie.
Nicht der Vergleich zur anorganischen Materie – Stein/Mensch –,
sondern der vergleichende Blick innerhalb des Lebendigen – Pflan-
ze/Tier/Mensch, minimal aber der konstrastive Tier/Mensch-Ver-
gleich – ist konstitutiv für die Begriffsbildung dieses Ansatzes.

3. Was der Ansatz, die Denkbewegung am Objektpol unten auf der


Ebene des Lebendigen sieht, gleichgültig ob nun Pflanze oder Tier, ist
nicht allein der Organismus, sondern der »Funktionskreis« oder »Le-
benskreis«, in dem ein Organismus mit seiner Umwelt korreliert ist.
Am Objektpol selbst beobachtet der Theorieblick also eine eigentüm-
liche Beziehungsmöglichkeit zwischen Lebendigem und Dingen, ein
Entsprechungsverhältnis zwischen Organismus und Umwelt. Anders

Philosophische Anthropologie A 521


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

gesagt: Am Gegenstandspol selbst emergiert für den Theorieblick ei-


ne »Korrelativität«, die nicht dasselbe ist wie die Kausalverhältnisse
in der Materie (zwischen Dingen oder Elementen) und etwas anderes
ist als das Intentionalitätsverhältnis des Geistes zum Gegebenen. In
dieser Korrelativität sind Lebendiges und Umwelt aufeinander hin-
geordnet und aneinander verwiesen. In dieser ›Korrelativität‹ zwi-
schen Lebensform und Lebenssphäre liegt – so gesehen – bereits bei
Pflanzen und Tieren ein elementarer Kontakt im Kosmos vor, eine
Art präfigurierte Verklammertheit von subjektiv-objektiven Mo-
menten, ein Ineinandereingepasstsein von [Subjekt] und [Objekt],
eine »Umweltintentionalität« lebendiger Körper.

4. Damit wird am Objektpol selbst, in der konstitutiven Ausdifferen-


zierung von Organismus und entsprechender Umwelt, ein Sehe-
punkt, ein Blickpunkt mit ausdifferenziert, der von der Flanke aus
das Verhältnis beobachtet. Der flankierende Blick führt nun die Ka-
tegorienbildung, indem er gleichsam entlang des Funktionskreises
(von Pflanzen mit ihrer Umgebung, von Tieren mit ihrer Umwelt)
hin- und herwandert. Die Kategorien der Philosophischen Anthro-
pologie werden also so gebildet, dass grundsätzlich ein flankierender
Blick, ein seitlich versetzter Blick auf die Subjekt-Objekt-Relation
für möglich gehalten wird. Anders gesagt, der Blickpunkt, der im
›Geist‹ von innen her – intentional – die Subjekt-Objekt-Relation
ermöglicht, wird seitlich herausgesetzt, so dass von außen – von der
Flanke her – ein Blickansatz auf die Erkenntnisrelation genommen
wird – von einer Position des Dritten aus. Noch einmal anders: Diese
Art der Kategorienbildung hält die binnenartige Subjekt-Objekt-Re-
lation des Geistes prinzipiell einer flankierenden Beobachtung von
außen her für fähig. Das ist entscheidend für das weitere Vorgehen,
denn von der Flanke aus betrachtet erscheint die Subjekt-Objekt-Re-
lation auch als eine Seinsrelation, die Erkenntnisrelation erscheint
auch als eine Relation im Sein, als eine ins Sein versenkte oder im
Sein auftauchende Relation.

5. Um nun die Sphäre des Menschen zu erreichen, setzt die Katego-


rienbildung vom seitlichen Beobachtungspunkt mindestens auf dem
Niveau subhumaner lebendiger Körper (also der Tiere) an, die in
einer Umwelt-Relation beobachtbar sind, um nun von dort aus –
von unten nach oben hin – Korrelationstypen zwischen Organismen
und Umwelten durchzudenken. Die Art der Kategorienbildung der

522 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

Philosophischen Anthropologie impliziert also immer die Emergenz


(nicht die Teleologie) einer gewissen Stufung der Korrelativität zwi-
schen lebendigem Ding und Umwelt, die mindestens die Stufe tieri-
scher Korrelativität von der Stufe menschlicher Korrelativität unter-
scheidet. Durch dieses Stufungs- oder Schichtentheorem vollzieht
die Philosophische Anthropologie systematisch eine Abkehr vom
cartesianischen Dualismus, der alternativ nur die Sphären der me-
chanistisch verstandenen Materie oder des Geistes postuliert. In der
Rekonstruktion der Stufung der Korrelationsverhältnisse achtet die
philosophisch-anthropologische Kategorienbildung auf die Berück-
sichtigung der Schichtung (wie sie von Nicolai Hartmann onto-
logisch präzisiert worden war): die niederen Kategorien (für das an-
organische Sein) sind die stärkeren gegenüber der jeweils höheren
Schicht, sie sind indifferent gegenüber den höheren, sie fungieren
diesen gegenüber als Material der Überformung oder Umwandlung;
die höhere Schicht ist mit ihren neuen Kategorien gegenüber den
niederen autonom, kann nicht auf die unteren reduziert werden,
setzt aber andererseits diese in ihrem Sein und Funktionieren vo-
raus.

6. Die typische Denkbewegung der Philosophischen Anthropologie


läuft im beim Gegenstandspol und von unten ansetzenden Durch-
gang durch die Stufung bzw. den kontrastiven Vergleich von Organi-
sationsniveaus des Organischen darauf zu, auf der Höhe des mensch-
lichen Lebewesens, seiner Lebensform und Lebenssphäre, eine
Unterbrochenheit im »Lebenskreis« des Lebendigen zu konstatieren.
Unterbrochenheit meint nicht Abgebrochenheit, sondern hinsicht-
lich der Instinkte, der Triebe, der Sinnesorgane, der Bewegungen (al-
les was das Organische impliziert) eine Aufgebrochenheit. Im Fak-
tum des menschlichen lebendigen Körpers und seiner Lebenssphäre
reißt die Lücke auf, der ›Hiatus‹, die Dualität, die das Eine von sich
selbst trennt und in dem das, was als »Geist« ansprechbar ist (von
ihm selbst her, im Selbstausweis) überbrückend seinen Ort nimmt.
Die philosophisch-anthropologischen Begriffe des Menschen evozie-
ren deshalb geradezu bildhaft immer die aufgebrochene Ganzheit,
die unterbrochene ›gute‹ Gestalt des Lebens im Menschen (»Welt-
offenheit«, »exzentrische Positionalität«, »Mängelwesen«, »extra-
uterines Frühjahr«). Der ›Geist‹ ist notwendig, um die Not der Unter-
brechung des Lebens zu wenden, aber er ist dabei notwendig auf
Figuren des Organischen angewiesen. Wendungen wie »Versinn-

Philosophische Anthropologie A 523


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

lichung des Geistigen, Vergeistigung des Sinnlichen« 5 (Plessner)


oder »Vergeistigung des Lebens, Verlebendigung des Geistes« (Sche-
ler) markieren diese doppelte gegensinnige Drehbewegung, die Phi-
losophische Anthropologie in ihren Kategorien vorschlägt oder ver-
folgt. Die im kontrastiv-vergleichenden Durchgang von unten nach
oben geführte Drehbewegung, die den ›Geist‹ (in dem, was er von
sich aus kennt) im Lebendigen heraufführt oder einführt, ist von
vornherein eine gegensinnige Drehbewegung: Im selben Atemzug,
in dem die Kategorienbildung den ›Geist‹ aus dem Organischen he-
rauf- und herausführt, versenkt sie ihn auch ins Lebendige. Die
Sphäre des Menschen ist dann dadurch gekennzeichnet, dass in ihr
die Lebenskreisläufe des Lebendigen in bestimmter Hinsicht gebro-
chen und indirekt neu vermittelt, aber zugleich durch das Leben ge-
tragen bleiben. Man kann auch sagen: Alle prägnanten Begriffe der
Philosophischen Anthropologie für den Menschen sind gebrochene
und künstlich neu vermittelte Lebenskreisbegriffe.
In dieser Grundeinstellung verarbeitet der Denkansatz die »Em-
pirien« von Biologie, Psychologie, Soziologie und Kulturwissenschaf-
ten. Die »Sonderstellung« des Menschen ist eine in der Natur: Der
Mensch ist von Natur aus ein Kulturwesen – in der Natur. In diesem
Doppelaspekt, in dieser Inkongruenz von Binnenperspektive (der
Subjekt-Objekt-Relation) und der Außenperspektive (Umweg über
den Gegenstandspol) vermuten die beteiligten Denker dieser Denk-
bewegung zugleich das neue Erschließungspotential des Denkansat-
zes. Wo die philosophische Demaskierung des Idealismus, die Abbau-
bewegung die Strukturmomente des Geistes auf nicht-rationale
Momente zurücksetzte, werden diese Momente seitens der Philoso-
phischen Anthropologie umgekehrt als prärationale Bedingungen des
Geistes heraufgeführt. Indem die Reflexionsfiguren des Idealismus in
den Körperleib hinabgesenkt werden, tauchen dessen Umweltkorre-
lationen (Sinne, Bewegungen, Gefühle, Antriebe, Ausdruck) in ihrer
Gebrochenheit als Weltkonstituenten der menschlichen Sphäre auf –
als ermöglichende und begrenzende Konstitutionsmomente. Denn
durch den systematischen Einbezug der Vitalsphäre können nicht
nur die scheinbar verkörperungsneutralen Vermögen der Vernunft
und der Sprache als Monopole des Menschen, sondern Leidenschaf-
ten, Gefühle, die verschiedenen Sinne des Sehens, Hörens, Tastens,
die Körperhaltungen, das Werkzeug und die Bilderzeugung, das Mu-

5 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 33.

524 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

sizieren und das Tanzen, Lachen und Weinen, die orgiastische Ekstase
und das Begraben, alle Bewegungsarten und Ausdrucksbewegungen
als welterschließende und menschenweltstiftende Konstituenten ent-
falten werden. Diese verschiedensten menschlichen »Monopole«
werden dabei von der Philosophischen Anthropologie nicht als die
Hierarchie eines Momentes gegen die anderen, sondern in ihrer
»Gleichursprünglichkeit« begriffen: homo ludens, homo sapiens, ho-
mo divinans, homo faber, homo necans, homo creator, homo pictor,
homo loquens, homo politicus – diese sonst alternativ oder hierar-
chisch verstandenen Spezifika werden als ein gleichursprüngliches
Geflecht von Monopolen verstanden. Die ›anthropologischen Kate-
gorien‹ der Philosophischen Anthropologie sind also so gebaut, dass
sie zwischen dem (abgeschlossenen Bestand der) ›Vitalkategorien‹
(den Kategorien des Lebendigen) und (dem offenen Bestand) der ›her-
meneutischen oder historischen Kategorien‹ (die die Differenzen der
Kulturen ausdrücken) vermitteln. Als Umbruchbegriffe des Vitalen,
in denen die Charakteristika des Lebendigen mitlaufen, drücken die
›anthropologischen Kategorien‹ zugleich die Öffnung des Vitalen für
das Potential der geschichtlichen oder kulturellen Differenz aus. 6 So
ermöglichen sie es, die Verschiedenheit und die Gleichheit der
menschlichen Lebensformen zugleich zu beobachten.

7. Diese Denkbewegung, diese Art der Kategorienbildung weiß sich


zugleich als Philosophische Anthropologie, sie weiß sich als eigen-
tümliches Denkprojekt der Philosophie. Als Philosophie ist sie keine
Geistphilosophie, sondern philosophische Vergewisserung des ›Geis-
tes‹ unter Rückbezug auf die Anthropologie, d. h. die verschiedenen
Erfahrungswissenschaften über den Menschen (Biologie, Psycho-
logie, Soziologie, Kulturwissenschaften). Daher das »indirekte Ver-
fahren«, der Umweg über den Gegenstandspol, um im Durchgang
durch die verschiedenen Erfahrungszugänge zum Menschen deren
Verknüpfung zu leisten. Zugleich gehört aber zur philosophisch-an-

6 Anders gesagt: Die Philosophische Anthropologie vermittelt zwischen den Bonobos


und den Bororos. In der Kulturanthropologie bzw. Ethnologie gilt als Standardspruch,
wenn jemand eine Universalie bezogen auf den Menschen behauptet: ›Bei den »Boro-
ros« (dem Indianer-Stamm im brasilianischen Mato Grosso) ist das aber ganz anders‹. In
Abwandlung dessen würde man als das entgegengesetzte Credo der Primatalogen, Etho-
logen oder Soziobiologen formulieren, wenn jemand ein Monopol des Menschen be-
hauptet: Bei den »Bonobos« (den afrikanischen Zwergschimpansen) verhält sich doch
schon sehr vieles menschenähnlich.

Philosophische Anthropologie A 525


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

thropologischen Kategorienbildung das Bewusstsein der Philosophie,


nämlich das reflexive Begleitbewusstsein, dass diese Kategorien, die
die verschiedenen anthropologischen wissenschaftlichen Erfahrungs-
zugänge ineinander übersetzen, nicht selbst aus den Einzelwissen-
schaften (Biologie, Psychologie, Sozial- und Kulturwissenschaften)
mit ihrem jeweiligen Spezialvokabular stammen können, sondern
als freier Entwurf eine Leistung der Philosophie sind, die ihr keine
Einzeldisziplin abnehmen kann. Obwohl sie sich in der Interpretation
an die inhaltlichen Resultate der empirischen Wissenschaften bindet,
leistet die Philosophie zugleich – in ihrem konstruktiven Entwurf der
Kategorien – auch eine Grundlegung der Kultur- und Naturwissen-
schaften als Formen menschlicher Erkenntnis. Die philosophische
Konstruktion in der Philosophischen Anthropologie soll zwei Forde-
rungen in der Anschauung genügen, die anderes Wissen nicht leisten
kann: Einheit und Freiheit begreifbar zu machen. Wenn die konstru-
ierten Kategorien die ausdifferenzierten Empirien so interpretieren,
dass sie die verschiedenen Erfahrungswissenschaften untereinander
und zugleich mit dem Common Sense vermitteln können, dann ha-
ben sie »Einheit« in der Verschiedenheit bei Aufrechterhaltung des
Verschiedenen gezeigt und damit der »Würde« des Menschen ent-
sprochen. Und wenn sie ›Geist‹ im Durchgang durch die lebendige
Körperlichkeit, Autonomie im Durchgang durch die Heteronomie
zeigt, dann haben sie »Freiheit« in der Anschauung aufgewiesen –
und zwar im indirekten Durchgangsverfahren durch die Natur.

2.2.2 Identitätskern trotz Differenz

Ein Denkansatz wird erst dann paradigmatisch, wenn er nicht nur die
Denkungsart eines Autors benennt, sondern wenn er übergreift,
wenn zwei oder mehrere Autoren mit ihren Texten an ihm teilhaben.
Ein Beweis dafür, dass es die Philosophische Anthropologie philoso-
phiegeschichtlich gegeben hat, würde darin bestehen, dass trotz aller
behaupteten, ausgelebten und tatsächlichen Verschiedenheit zwi-
schen Scheler, Plessner, Rothacker, Gehlen, Portmann die Art der
Kategorienbildung ihre Arbeiten zu einem Textkorpus koinzidieren
lässt. 7 Es ist zu zeigen, dass sie im Konstruktionsmodus der Katego-

7 Die Untersuchung zum philosophiegeschichtlichen Identitätskern beschränkt sich


hier auf diese fünf Hauptprotagonisten.

526 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

rienbildung übereinstimmen, gleich ob die Schlüsselbegriffe alltags-


sprachlich (»Handlung«), anschauungsnah (»Weltoffenheit«) oder
äußerst konstruiert (»exzentrische Positionalität«) auftreten; sie sol-
len genau entlang des konstruktiven Prinzips des Identitätskerns
identifizierbar sein. Es kommt hier also zu einem zweiten Durchgang
durch die (bereits in Teil 1 behandelten) Haupttexte, aber mit syste-
matischem Blick auf die Kategorienbildung.

Schelers Schlüsselbegriffe für die ›Stellung des Menschen im Kosmos‹


sind »Gegenstand-Sein«, »Weltoffenheit«, »Neinsagenkönner«. 8
Den Strukturzug des Geistes, den dieser in seiner Selbstauswei-
sung festhält – Sachlichkeit, Selbstbewusstsein –, setzt Scheler vo-
raus. Er setzt aber seine Theorie-Blickführung von unten im »Kos-
mos« an, als objektive Lehre von der objektiven Natur. »Der Kräfte-
und Wirkstrom […] läuft in der Welt, in der wir wohnen, nicht von
oben nach unten, sondern von unten nach oben.« 9 Ansatzpunkt für
die philosophisch-anthropologischen Kategorien ist nicht das Zuhan-
dene, sondern das Vorhandene, das belebte Phänomen in der Außen-
welt, das von blinden sinnfreien Kraftzentren der anorganischen
Welt unterschieden werden kann, insofern es sich bereits als ein Ver-
hältnis, eine Korrelativität zu Anderem begrifflich mit- und nach-
erzeugen lässt. Schelers Kategorienbildung setzt also mit einem na-
turphilosophischen Grundzug ein. Er ordnet hier – in der Schrift von
1928 – methodisch die Außenweltsphäre (den organischen Körper)
einer Innenweltsphäre und damit dem inneren Leibbewusstsein des
Menschen wie auch der Mitweltsphäre vor. Indem er beim »biopsy-
chischen Aufbau« des Lebendigen einsetzt, wechselt er systematisch
von einer früher von ihm betriebenen Leibphänomenologie (in der er

8 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 60–65. Zu Schelers Phi-


losophischer Anthropologie M. S. Frings, Max Scheler: Drang und Geist, in: J. Speck
(Hrsg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophen der Gegenwart II: Sche-
ler, Hönigswald, Cassirer, Plessner, Merleau-Ponty, Gehlen, 2. erg. Auf. Göttingen, S. 9–
43. – O. Pöggeler, Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), in: Inter-
pretationen. Hauptwerke der Philosophie. 20. Jahrhundert, Stuttgart, S. 144–173. –
Ders., Scheler und die heutigen anthropologischen Ansätze zur Metaphysik, in: Heidel-
berger Jahrbücher, Jg. 33 (1989), S. 175–192. – A. Sander, Mensch – Subjekt – Person.
Die Dezentrierung des Subjekts in der Philosophie Max Schelers, Bonn 1996. –
W. Henckmann, Max Scheler, München 1998, S. 191–212. – D. M. Weiss, Max Scheler
and Philosophical Anthropology, in: Philosophy Today (1998), Vol. 42, S. 235–249.
9 M. Scheler, Schriften aus dem Nachlaß, Bd. III: Philosophische Anthropologie,

GW 12, S. 111.

Philosophische Anthropologie A 527


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

das originäre Leibbewusstsein von der Innenweltperspektive her frei-


gelegt hatte) zur Philosophischen Anthropologie, zur »philosophi-
schen Sach-Anthropologie« 10 , wie er sagt, die mit einer eigenen
philosophischen Biologie operiert.
Elementar Lebendiges in der Außenwelt – die Pflanze – rührt an
Anderes, das es selbst nicht ist, ›es‹ verkehrt über eine Grenze, es
nimmt Ausdruck an. Diese Es-Dynamik nennt Scheler »Gefühls-
drang«. Im Vergleichsdurchgang durch das »biopsychisch« Lebendige
konstatiert Scheler Stufen der Korrelativität zwischen Lebendigem
und Umfeld, Stufen der Entsprechung von interner Differenzierung
und Umwelterschließung. Im Tier ist triebhafter Drang als um-
weltgebundende Widerstandserfahrung gegeben. Wenn diese Wi-
derstandserfahrung selbst prinzipiell negierbar wird, liegt eine Unter-
brochenheit des Lebenskreises vor. Dieses Phänomen des Lebendigen,
in dem Widerstandserfahrung negierbar ist, ist das Phänomen des
menschlichen Lebewesens. ›Geist‹ als Prinzip der Negation, der Ent-
gegnung, der Aufhebung, ist der Spannungszustand der Lebenskreis-
unterbrechung. Der ›Geist‹ erreicht sein Prädikat: Sachlichkeit, d. h.
sich vom Sosein der Sachen bestimmen zu lassen. Aber eben diese
Wirklichkeit als »Gegenstand-Sein« erreicht der Geist nicht durch
sich allein, durch Eigenmacht, sondern »indirekt«, nur im Modus
der Lebensunterbrochenheit des Funktionskreises; denn die »Ver-
gegenständlichung« von Umweltbezügen ereignet sich zwar durch
den Akt der Negierung von lebendiger Widerstandserfahrung, aber
doch als Gegenständlichkeit nur im Material vital widerständlicher
Drangerfahrung (durch deren »Dasein« das »Sosein« der Sache he-
reinsteht). Durch die anthropologische Drehbewegung ist Gegen-
standsfähigkeit – das Prädikat des Geistes – im Zusammenhang mit
dem ursprünglich vitalen Triebwiderstand gewonnen. Durch Negie-
rung als Einklammerung des Widerstandsdranges öffnet sich das Wi-
derstehende auf der Höhe des menschlichen Lebewesens als »Sache«:
dieses Lebewesen kann die Phänomene als eigensinnige Sachen und
damit in ihrem Wesen an sich herankommen lassen, anstatt verhal-
tensbezogen an ihnen nur Tönungen eines energetischen Geflechts
von Kraft und Gegenkraft situativ wahrzunehmen. Die Erkenntnis-
haltung der Phänomenologie – die Wesensschau entlang der Inten-
tionalität zwischen Subjekt und Objekt – hat damit durch Schelers

10 Ebd.

528 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

Konstruktion selbst noch einmal eine eigenartige biologisch-anthro-


pologische Einordnung bzw. Fundierung erfahren.
Gerade in seiner spezifisch philosophisch-anthropologischen
Kategorienbildung zeigt sich, dass Schelers Ansatz nicht dualistisch
verfährt. »Weltoffenheit« – als Transformation von »Umweltgebun-
denheit« – ist weder ein Prädikat des Geistes noch des Vitalen, son-
dern resultiert aus der genuinen Verschränktheit von »Drang« (Wi-
derstand) und »Geist« (Negation) im menschlichen Lebewesen.
»Geist und Leben sind aufeinander hingeordnet.« 11 Diese typisch
anthropologische Drehbewegung, in der die dem Geist von innen
her vertrauten Prädikate von unten her, aber a-teleologisch, erreicht
und modifiziert werden, ist auch Schelers kategorialer Formel – der
Mensch sei ein »Neinsagenkönner« – eingespeichert. Das ›Nein‹ ist
das reine Prinzip des Geistes, des Entgegen; der Geist für sich ist aber
machtlos. ›Gesagt‹ werden im Sinne des Be-hauptens, der Geltung
heischenden Setzung, des Verhaltens, der Durch-setzung, kann ein
›Nein‹ nur durch einen Geist, der sich die Macht zur Entgegen-set-
zung – zum Sprech-Akt – vom Lebendigen leiht, und dieses Borgen,
Abzweigen der Energie ist nur möglich, weil der Energiezirkel von
Drang und Triebwiderstand durch das reine Prinzip des Geistes zu-
gleich unterbrochen ist. Der Mensch als »Neinsagenkönner« ist als
Lebewesen eine aufgebrochene Ganzheit. In der Stufung des Organi-
schen wird von Scheler auf der Höhe des Menschen ein »Um-
schwung« markiert. 12 »Der Mensch als Idee ist der Punkt, die Phase,
der Ort im Kosmos, in dem das eine sich durch alle Familien, Gattun-
gen, Arten hindurch entfaltende organische ›Leben‹ (indifferent ge-
genüber Psychischen und Physischen) seine unbedingte Herrschaft
verliert und einem Prinzip dienend wird – Geist –, für das und für
dessen mögliche Wirksamkeit und Ziel- und Wertsetzung das Orga-
nische den Spalt, die Durchbruchstelle geöffnet hat.« 13 Die Pointe
Schelers ist, dass alle biopsychischen Funktionen (Gefühlsdrang, In-
stinkt, assoziatives Lernen, praktische Intelligen), die auch im Men-
schen wirksam sind, nicht etwa neben Sachlichkeit und Selbst-
bewusstsein weiter gelten, sondern dass sie durch das neue Prinzip –
»Geist« – in einen neuen Zusammenhang treten, transformiert auf-

11 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 67.


12 M. Scheler, Schriften aus dem Nachlaß, Bd. III: Philosophische Anthropologie,
GW 12, S. 128–132.
13 Ebd., S. 129.

Philosophische Anthropologie A 529


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

treten (eben als Sachlichkeit, als Weltoffenheit, als Selbstbewusst-


sein), weil das neue Prinzip, das nicht aus dem psychovitalen Zusam-
menhang selbst stammt, zu seiner Verwirklichung eben auf diese
biopsychischen Funktionen angewiesen ist. Auf diese Weise lassen
sich mit Scheler auf der anthropologischen Ebene die gegensätzlichen
Prinzipien von Leben und Geist strukturell einsichtig machen. Seine
Kategorien sind so gebaut, dass die »Sonderstellung des Menschen«
ausgedrückt wird, »seine Gleichstellung mit dem Lebendigen wie sei-
ne Gegenstellung zu ihm durch den ›Geist‹«. 14
Diesen Umbruch der (pflanzlichen, tierischen) Lebensqualitä-
ten durch das Prinzip des ›Geistes‹ kann Scheler entlang der philo-
sophisch-anthropologischen Kategorien der »Weltoffenheit«, des
»Neinsagenkönners« nunmehr in den verschiedensten Feldern an-
sprechen. Dabei wird – typisch für die Philosophische Anthropo-
logie, anders als im Cartesianismus – dem Tier viel eingeräumt,
so dass gerade dadurch innerhalb des Lebendigen kontrastiv die
Sonderstellung des Menschen umso deutlicher heraustritt: »Das
Tier hat Lust und Unlust am Schönen […], aber es hat weder freies
Produzieren noch Genießen schöner Dinge […]. Es hat Einsgefühl
mit der Herde […] und Ansteckung, es wird von fremden Gefüh-
len angesteckt, aber es hat kein freies Mitgefühl, keine geistige
Liebe und Güte gegen und unabhängig von den eigenen Vitalinte-
ressen des Individuums und der Art – nur geschlechtlicher Appetit,
Zärtlichkeit ist ihm eigen. Es hat Angst und vielleicht noch Furcht
vor Nahem, Schaubaren (beziehungsweise Liebe dazu), aber z. B.
keine Todesfurcht, keine Ehrfurcht. Es hat Erinnern an Strafe und
Furcht, aber keine Reue. Es stutzt, wenn es Neues, Ungewohntes
erfasst (z. B. im Spiegel), aber […] intentionale Verwunderung hat
es ebenso wenig wie freie Bewunderung des Vollkommenen, die
ihm nichts an Gewinn eintragen. Ein Tier hat Schmerz und Lust,
aber Dulden, Ertragen, seelisches Leiden des Schmerzes für Höhe-
res (Martyrium), Genießen des Schmerzes kennt es nicht. Noch
weniger ein freies Opfer des Lebens. Es wählt okkasionell vielleicht
noch (Abwechslung mehrerer gleichzeitiger Triebimpulse), aber
nicht nach einer objektiven festen Vorzugsordnung der Werte und
Güter.« 15

M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 46.


14

M. Scheler, Schriften aus dem Nachlaß, Bd. III, Philosophische Anthropologie,


15

GW 12, S. 131 f.

530 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

Plessners Schlüsselbegriff für den Menschen in den ›Stufen des Or-


ganischen‹ ist »exzentrische Positionalität«. 16 Es ist die artifiziellste
Kategorie, die die Philosophische Anthropologie hervorgebracht hat.
Die Grundstruktur dieser Kategorienbildung ist nicht nur die tiefste
ideelle Gemeinsamkeit zwischen Scheler und Plessner gewesen, son-
dern auf ihre von Plessner elaborierte Strukturierungsqualität haben
sich auch alle anderen Hauptbeiträger bezogen. Diese Kategorie lässt
am deutlichsten den konstruktiven Charakter des Ansatzes hervor-
treten. Deshalb soll ein ausführlicher Kommentar erläutern, an wel-
chen Weggabelungen und warum Plessner die fünf skrupulösen Be-
griffsentscheidungen trifft, die in diese Kategorie eingefaltet sind:
»Doppelaspekt«, »Grenze«, »Positionalität«, »zentrische Positionali-
tät« und »Exzentrizität«.
Ausgangsproblem ist das als Folge des Idealismus fehlende con-
junctum in der gegensätzlichen Doppelnatur des Menschen: freie
Subjektivität und zugleich körperliche Natur zu sein. Das fehlende
conjunctum beeinträchtigt nicht seine Freiheit und Autonomie, aber
seine Einheit und Würde. Diese unvermittelte Doppelnatur ist eine
Konsequenz bereits der dualistischen Innen/Außen-Grundoperation
des Idealismus bei Descartes: indem der Mensch sich radikal als Re-
flexionssubjekt – res cogitans – gewinnt, ›entleibt‹ er sich zugleich,

16 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philoso-
phische Anthropologie, a. a. O., S. 288–293. Zu Plessners Kategorienbildung einer Phi-
losophischen Anthropologie: H. Redeker, Helmuth Plessner oder Die verkörperte Phi-
losophie, Berlin 1993. – F. Hammer, Die exzentrische Position des Menschen. Methode
und Grundlinien der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners, Bonn 1967. –
H. U. Asemissen, Helmuth Plessner: Die exzentrische Position des Menschen, in:
J. Speck (Hrsg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophen der Gegenwart
II: Scheler, Hönigswald, Cassirer, Plessner, Merleau-Ponty, Gehlen, 2. erg. Aufl. Göttin-
gen 1981, S. 146–180. – St. Pietrowicz, Helmuth Plessner. Genese und System seines
philosophisch-anthropologischen Denkens, Freiburg/München 1992. – E. W. Orth, Phi-
losophische Anthropologie als Erste Philosophie. Ein Vergleich zwischen Ernst Cassirer
und Helmuth Plessner, in: Dilthey-Jahrbuch Bd. 7, (1990/91), S. 250–274; – W. Eßbach,
Der Mittelpunkt außerhalb. Helmuth Plessners philosophische Anthropologie, in:
G. Dux/U. Wenzel (Hrsg.), Der Prozeß der Geistesgeschichte. Studien zur ontogeneti-
schen und historischen Entwicklung des Geistes, Frankfurt a. M. 1994, S. 15–44. – –
H.-P. Krüger, Zwischen Lachen und Weinen, Bd. I, Das Spektrum menschlicher Phäno-
mene, Berlin 1999; ders., Zwischen Lachen und Weinen, Bd. II, Der dritte Weg Philoso-
phischer Anthropologie und die Geschlechterfrage, Berlin 2001. – J. Beaufort, Die ge-
sellschaftliche Konstitution der Natur. Helmuth Plessners kritisch-phänomenologische
Grundlegung einer hermeneutischen Naturphilosophie, Würzburg 2000. – K. Haucke,
Plessner zur Einführung, Hamburg 2000.

Philosophische Anthropologie A 531


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

wird den Leib los, indem er ihn in der dualistischen Operation ver-
dinglicht, weil er ihn der anderen Seite der Opposition, dem Ding –
der res extensa – zuschlagen muss.
1. Schon der erste Schritt in Plessners Begriffskonstruktion, die
durch »Herstellung des einen Grundaspekts« die Dualität vermitteln
soll, ist charakteristisch für die Denkungsart der Philosophischen An-
thropologie. Die erste Weggabelung oder Begriffsentscheidung, die
der Kategorie »exzentrische Positionalität« zugrundeliegt, ist die,
dass Plessner innerhalb der Subjekt-Objekt-Relation nicht beim Leib,
in der Nähe des Subjektpols, den »Doppelaspekt« 17 aufklärt, sondern
mit dem »Wahrnehmungsding« am fernen Objektpol anfängt. Pless-
ners Kategorienbildung setzt mit der phänomenologischen Ver-
gewisserung nicht beim ›nahen‹ eigenen Leib an, um ihn als welt-
kontakthaltendes Konstitutionszentrum des Subjekts und damit als
gesuchtes conjunctum freizulegen, sondern mit der phänomeno-
logisch-konstruktiven Vergewisserung eines fernen »Dinges«, wie
es der anschaulichen Wahrnehmung gegeben ist. Er operiert also
mit ›Elementen der Metaphysik‹, einer minimalistischen Ontologie
(Was ist das materielle ›Ding‹, was ist das lebendige ›Ding‹ ?). Als
Bedingung der Gegenständlichkeit überhaupt, um für die Wahrneh-
mung als Gegenstand zu erscheinen, lässt sich der Doppelaspekt von
einerseits räumlichem Außen, andererseits von unräumlichem Innen
aufweisen. Der Kranz von Eigenschaften, der am Wahrnehmungs-
ding gegeben ist, verweist auf einen inneren Substanzkern, durch
den sie zusammengehalten, mit dem sie aber nicht deckungsgleich
sind. Dieser unüberführbare Doppelaspekt des »Wahrnehmungsdin-
ges« erweist sich als Bedingung der Gegenständlichkeit. Plessner
setzt also ausdrücklich innerhalb der Subjekt-Objekt-Relation an, al-
lerdings nicht mit Zentrierung auf das Subjekt, sondern mit Blick auf
den ferngestellten Objektpol, auf außermenschliches Sein.
2. Plessners zweite Begriffsentscheidung »Grenze« 18 , die er in
die Kategorie »exzentrische Positionalität« einfaltet, entscheidet be-
reits über das Ausgangsproblem des conjunctums. 19 Indem er »Gren-

17 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 81–85.
18 Ebd., S. 100–105.
19 Vgl. W. Eßbach, Der Mittelpunkt außerhalb. Helmuth Plessners philosophische An-

thropologie, a. a. O., S. 17–21, bezogen auf die »Strukturlogik« von Plessners »biosophi-
scher« Grundkategorie »Grenze«: »Organische Körper haben eine Grenze wie eine Fal-
tung des Seins. […] Bezogen auf die Grenzthematik stellt die Pflanze eine einfache
Faltung, das Tier eine Doppelfaltung als Distanz nach Innen und Außen, der Mensch

532 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

ze« als das Charakteristikum »lebendiger Dinge« setzt, sie als


»grenzrealisierende Dinge« bestimmt, hat er – auf der Ebene der
Theorie des Lebendigen – das gesuchte conjunctum zwischen dem
Innenaspekt und dem Außenaspekt gefunden.
Um den widersprechenden Ansätzen bezüglich des Menschen,
dem dualistischen Idealismus einerseits, der Bewusstsein und Körper
strikt trennt, und der monistischen Lebensphilosophie andererseits,
die Leben spekulativ als unauflösbare Einheit von Innen und Außen
behauptet, gerecht zu werden, will Plessner den Streit bereits von
unten her, im Sachfeld des Lebendigen selbst entscheiden. Er be-
stimmt Lebendiges durch die »Grenze«, die Inneres vom Äußeren
abschließt und zugleich Inneres und Äußeres gegeneinander auf-
schließt. Indem »Grenze« gegenstandskonstitutiv ist für ›lebendige
Dinge‹, entkräftet er auf der Ebene des Lebendigen, für die der Dua-
lismus cartesianischer Prägung keine adäquate Beschreibung geben
kann, das cartesianische Alternativprinzip – entweder Innen oder
Außen – und führt zugleich die metaphysische Lebensphilosophie
aus ihrer spekulativen »Verzauberung«: Leben ist nicht der einheit-
liche Strom, der sich nur am Dinglichen bricht, am Nichtlebendigen,
am Erstarrten und Verdinglichten, sondern Leben selbst ist der Sache
nach nur möglich durch Unterbrechung, in Form von Grenzrealisie-
rung.
Die Kategorienbildung in Plessners Grundlegung der Philoso-
phischen Anthropologie läuft also so, dass das Problematische für
eine Theorie der menschlichen Sphäre von unten, von einer philoso-
phischen Biologie her, entschieden wird. Der Begriff der »exzentri-
schen Positionalität« ist vom Ansatz her mit einer »Kosmologie der
lebendigen Form« 20 grundiert. Mit der Charakterisierung des leben-
digen Dinges als Grenzbeziehung, in der sein Inneres in einer be-
stimmten Entsprechungsbeziehung zu einem bestimmten Außenfeld
steht, führt Plessner grundsätzlich den Korrelationskontakt zwischen
Organismus und Umwelt ein. Er beobachtet sozusagen am Wahrneh-
mungsding, am Gegenstandspol, auf den sein Blick als Wahrneh-
mungssubjekt im ersten Schritt entlang der Intentionalitätsachse ge-
richtet war, im Phänomen des ›lebendigen Etwas‹ ein Aufbrechen des

eine Dreifaltigkeit dar, deren Drittes nicht auf dem Niveau des Selbst oder der Selb-
ständigkeit liegt, sondern als Stellung in der Grenze reflektiert wird.«
20 So Plessners erste Formel für sein philosophisch-anthropologisches Denkprojekt:

H. Plessner, Grenzen der Gemeinschaft, GS V, S. 12.

Philosophische Anthropologie A 533


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

Gegenstandes in eine Korrelationsbeziehung zum Anderem seiner


(selbst), eine »Transgredienz«, und wird ab jetzt von einem seitlich
verschobenen Blickpunkt aus, von der Flanke her, die Entfaltung und
Entfaltungsstufen dieses Korrelationsverhältnisses zwischen Lebens-
formen und Lebenssphären als reale Verhältnisse in der Welt beob-
achten, bis die Figur der »exzentrischen Positionalität« die Bedin-
gung der Möglichkeit für eine solche Blickstellung einholt. Zugleich
verklammern sich im Begriff »Grenze« zum ersten Mal zwei Schich-
ten, die anorganische Schicht der Dinglichkeit mit der vitalen Schicht
des Organischen, denn durch »Grenze« ist »Ganzheit« (als Charak-
teristikum der vitalen Schicht) in »Gestalt« (als Charakteristikum
der physischen Schicht) verschränkt.
3. Plessners dritte Begriffsentscheidung ist es, »grenzrealisie-
rende Dinge« als »positional« zu explizieren. »Positionalität« 21
meint, wie er sagt, »Gesetzt- oder Gestelltsein des lebendigen Kör-
pers«. Zwei Motive führen zu dieser für die Kategorie »exzentrische
Positionalität« folgenreichen Begriffsprägung.
Das erste Motiv wird dadurch deutlich, dass Plessner »Positio-
nalität oder Gesetztheit« ausdrücklich mit einer kurzen Anspielung
auf Fichte und damit auf den Schlüsselbegriff des Deutschen Idealis-
mus – »Setzen«, »Setzung« – einführt. Plessner wendet den sub-
jektivitätsphilosophischen Begriff der Setzung in eine naturphilo-
sophische Kehre: »Gesetztheit«. Wenn der Akt des »Setzens«, des
Positionierens, im idealistischen Sinn die entscheidende Leistung
des denkenden Subjekts bezeichnet, etwas als etwas zu setzen, als
gültig zu behaupten, dann ist mit »Gesetztheit« umgekehrt eine zu-
nächst passivisch getönte Struktur angesprochen. Lebendiges als
»Gesetztheit«, wie Plessner sagt, ist »angehoben, in der Schwebe«,
dadurch die eigene Zone überschreitend, und zugleich in sich zurück-
gesetzt, »aufruhend«, »fest«. Während »Setzung« im idealistischen
Denkansatz meint, ein Bewusstsein behaupte einen Sachverhalt, leis-
te die Behauptung eines Sachverhaltes, beziehe die »Position« (im
Unterschied zur Negation), dann ist durch die naturphilosophische
Umkehrung – »Positionalität« – angesprochen, dass ein Sachverhalt
in sich (noch vor jedem Bewusstsein) zur Behauptung hingesetzt, zur
Behauptung ausgesetzt ist. Mit dieser Kehre gibt Plessner dem Wahr-
heitsmoment der Lebensphilosophie nach: Leben ist getragenes Ge-

21 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 129.

534 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

tragensein, ist Abhebung und Aufruhen, ist die Erfahrung von nicht
selbst gesetzter Gesetztheit, von nicht selbst gesetzten Impulsen und
Rhythmen, ist geschehender Vollzug. »Positional« sind also spezielle
Dinge, die in und gegen ein Umgebungsfeld »gesetzt« sind, in eine
Lage gestellt, zu der sie sich präreflexiv stellen müssen. »Positionali-
tät« meint nicht dasselbe wie (später) »Autopoiesis«, auch wenn bei-
de Begriffe um den adäquaten Ausdruck für das Spezifikum des Le-
bendigen kreisen. Man darf die naturphilosophische Wendung des
Idealismus in der Philosophischen Anthropologie nicht »idealistisch«
missverstehen in der Weise, dass das »grenzrealisierende Ding« sich
selbst erzeugt (auto-poietisch), sich selbst setzt, seine Grenzen selbst
setzt. »Positional« akzentuiert vielmehr den ›Es-Charakter‹ des
grenzrealisierenden Dinges: »es« ist in seine »Grenzrealisierung«
eingesetzt, die es allerdings aktiv vollzieht.
In die naturphilosophische Wendung bleibt nun aber das Refle-
xivitätspotential der idealistischen Kategorie »Setzung« eingespei-
chert. »Setzen« ist für Fichte ja nicht nur das Vermögen des Ich,
durch Denken etwas als Sein hinzustellen, sondern auch das Ver-
mögen (in einer nächsten Reflexionsstufe), sich als das setzende Mo-
ment und (in einer weiteren Reflexionsstufe) sich als die Instanz zu
identifizieren, die sich selber setzt. Indem Plessner also das lebendige
Ding als »Positionalität« oder »Gesetztheit« charakterisiert, bereitet
er durch das implizit enthaltene Reflexionspotential der Kategorie
die Möglichkeit vor, Lebensformen als strukturelle Steigerungen zu
charakterisieren. Durch die Kategorie »Positionalität« ist eine ge-
samtkategoriale Erreichbarkeit der Sphäre des Geistes in einer Mög-
lichkeitslogik disponiert.
Plessner zweites Denkmotiv bei der Begriffsentscheidung für
»Positionalität« lässt sich an einer Weggabelung als philosophisch-
anthropologische Option gegen den Begriff des »Systems« erläutern.
Mit der kategorialen Bestimmung von Lebendigem als grenzrealisie-
rendem Körper ist Plessner durchaus an der biophilosophischen Ur-
szene der Systemtheorie beteiligt. Der Wiener Spezialist für Theo-
retische Biologe L. v. Bertalanffy definiert um dieselbe Zeit den
Organismus als »offenes System«, das sich auf Grund seiner System-
bedingungen im Austausch der Bestandteile in einer Umwelt durch-
hält. Durch die Abstraktion vom Organismus-Umwelt-Bezug und
die Übertragung dieser Relation als »System-Umwelt«-Beziehung
auf technische, psychische und soziale Verhältnisse gelingt Berta-
lanffy wenige Jahre später die folgenreiche Formulierung der »All-

Philosophische Anthropologie A 535


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

gemeinen Systemtheorie« als für alle Ebenen und Schichten ver-


wendbares Denkmodell.
Plessner, obwohl mit dem »grenzrealisierenden Ding« an der
Urszene des System-Umweltgedankens beteiligt, wird im Hinblick
auf die menschliche Sphäre kein Systemtheoretiker, für den die Ebe-
nen des Körperlichen, Psychischen, des Sozialen, Kulturellen jeweils
für sich offene System-Umwelt-Beziehungen darstellen, die nach-
träglich als vernetzt vorgestellt werden. Indem Plessner grenzreali-
sierende Körper als »Positionalität« expliziert, optiert er typisch phi-
losophisch-anthropologisch für die genuine Verklammertheit der
Schichten, für das modifizierte Durchlaufen der Kategorien durch
verschiedene voneinander abgehobene Ebenen im Hinblick auf die
Phänomene. »Positionalität« drückt kategorial nicht nur das Sich-
Verklammern von Materialität und Vitalität aus, sondern disponiert
auch für die Dimension der Idealität. »Leben birgt als eine seiner
Möglichkeiten Existenz.« 22
Die Verklammerung in der Kategorie meint: Erstens ist in »Po-
sitionalität« immer »Position« mit angesprochen, im Sinne raum-
zeitlich bestimmbarer, materiell-physischer Körper; Positionalität
meint also immer auch die ausgefüllte Raumzeitstelle als Vorausset-
zung empirischer Bestimmbarkeit durch Messung: den Standort von
bewegten Körpern angeben können. Damit ist die mechanische Na-
tur, der entsprechende naturwissenschaftlich feststellende Blick, also
die Darstellung qualitativer Differenzen nach quantitativen Funktio-
nen, kategorial mit eingebaut. Zweitens ist aber durch »Positionali-
tät« kategorial die physische Schicht mit der Vitalschicht des Körpers
ins Verhältnis gesetzt, indem durch »positional« darüber hinaus et-
was angesprochen ist, das sich grenzrealisierend in Raum und Zeit als
Raum und als Zeit, als Eigenraum und Eigenzeit behaupten muss.
Drittens schließlich impliziert Positionalität/Gesetztheit – wie er-
wähnt – strukturelles Reflexivitätspotential, eben eine Theorie der
»Stufen des Organischen« oder der »Korrelationsstufen von Lebens-
form und Lebenssphäre«, wobei dieses Reflexivitätspotential in sei-
ner Entfaltung durch diese Begriffsoption der »Positionalität« immer
mit der Vitalschicht und Materieschicht verklammert bleibt.

22 H. Plessner, Der Aussagewert einer Philosophischen Anthropologie (1973), GS VIII,


S. 390.

536 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

4. Plessners vierte Begriffsentscheidung ist »zentrische Positio-


nalität« 23 als Kennzeichnung für die Sphäre des Tieres. Im Unter-
schied zur »offenen Positionsform« der Pflanze lässt sich das Tier
als »geschlossene« Positionalitätsform begreifen. Dadurch, dass
einem Teil seines Körpers der ganze Körper noch einmal (neuronal)
gegeben ist, repräsentiert ist, steht dieses Lebewesen im doppelten
Aspekt von Körper und Leib, ohne dies als Doppelaspekt, als doppelte
Blickstellung, bemerken zu können. Es vollzieht die Überbrückung
des Doppelaspekts fraglos aus seiner (instinktiven) Mitte heraus, in
seine Mitte hinein, in spontanen, zur entsprechenden Umgebung ge-
hörenden, frontal gerichteten Bewegungsaktionen.
Es ist klar, dass Plessner mit dem Ausdruck »zentrische Positio-
nalität« oder »frontale Positionalität« die seelische Schicht oder die
Schicht des Bewusstseins in die vitale und die materielle Schicht ver-
schränkt, und zwar so, dass das Korrelationsverhältnis zwischen Le-
bensform und Lebenssphäre zum ersten Mal als ein Verhältnis des
Habens von Welt und als ein Verhältnis der Entäußerung in die Welt
erscheint. Zentrische Positionalität, die der Umwelt »frontal« gegen-
übersteht, also »Zentralität« und »Frontalität« dieser »Positionali-
tät« sind Plessners Substitute für das, was der phänomenologische
Ansatz als »Intentionalität« charakterisiert: das Bewusstsein ist als
Bewusstsein auf Welt gerichtet, hat Welt, die sich im Bewusstsein
darstellt. Zugleich ist diese Begriffsfügung Substitut für das, was der
pragmatische Ansatz als Verhalten charakterisiert: durch Verhalten
nimmt das agierende Lebewesen in der Welt zu ihr Stellung, es stellt
sich in ihr dar. Durch »zentrische Positionalität« neutralisiert Pless-
ner den Primat von Bewusstseins- oder von Verhaltenstheorie. »Zen-
trische Positionalität« meint, Äußeres erscheint tatsächlich im Inne-
ren, und das Innere erscheint im Äußeren, und diese zentrische oder
intentionale Positionalität ist der adäquate Ausdruck bereits für die
Stufe des Tieres.
5. Plessners fünfte Begriffsfügung ist »Exzentrische Positionali-
tät« 24 für die Sphäre des Menschen. Die kleine Silbe »ex« enthält
eine bedeutsame Option, eine für die Philosophische Anthropologie
entscheidende Option, die im Kontrast zu anderen Möglichkeiten
deutlich wird.
Zu erinnern ist, dass der Streit zwischen den aus dem cartesia-

23 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 237–244.
24 Ebd., S. 288–293.

Philosophische Anthropologie A 537


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

nischen Alternativprinzip hervorgegangenen Ansätzen des Idealis-


mus einerseits, des Empirismus andererseits, und der beide unterlau-
fenden Lebensphilosophie dritterseits, ein Streit um den Stellenwert
des ›Geistes‹ war, um den Ort und Rang des Geistes in der Selbst-
thematisierung des Menschen. Die Kategorie »ex-zentrische Positio-
nalität« ist so angelegt, dass sie in der Art der Einheit der Dualität,
die sie zeigt, drei andere Einheitsvorschläge, Dualität zu überwinden,
konterkariert.
Erstens meint exzentrische Positionalität nicht – um hier zur
Kontrastschärfe eine künstliche Begriffsalternative zu benutzen –
»suprazentrische Positionalität«, die als ein naturgeschichtliches
Faktum aufzufassen wäre. Der Naturalismus kann in Gestalt der bio-
logischen Evolutionstheorie vom Primat der Natur her das Auftreten
einer zweiten Steuerungsinstanz oberhalb der bereits lebensevolu-
tionär ausgebildeten, erfolgreichen Hirnareale, eine suprazentrische
Positionalität als Selektionsvorteil erklären, die durch Selbstbeobach-
tung und -steuerung die Anpassungsleistung steigert. Damit werden
alle Monopole des Menschen, die klassisch-idealistisch im Begriff
›Geist‹ angesprochen sind, als naturgeschichtliche Fakten, als gra-
duelle Selbststeigerungen der Lebensevolution erklärbar. Dem-
gegenüber soll die philosophisch-anthropologische Kategorie ›ex-/
zentrisch‹ den tatsächlichen Bruch in der Naturgeschichte kennzeich-
nen. ›Exzentrizität‹ ist Ausstieg und Durchbruch, ohne die Positiona-
lität verlassen zu können.
Zweitens meint exzentrische Positionalität nicht »Exzentrizität
der Seele«, wie L. Klages 1920 lebensphilosophisch den Begriff »ex-
zentrisch« verwandte; exzentrische Positionalität ist keine »Hinaus-
verlagerung des Lebens an den exzentrischen Ort des Geistes« (Kla-
ges), keine Störung des Lebens durch Einbruch des machtvollen
Geistes von außen. 25 Plessner nimmt den Begriff der Exzentrizität
von Klages, um ihn gegen diese Lebensphilosophie zu verwenden.
Gegen deren Option, vom Primat des Lebens her Geist als Einbruch
von außen in die in sich intakte Lebenskugel zu verstehen, als »Er-
krankung«, kennzeichnet Plessner im philosophisch-anthropologi-
schen Begriff »exzentrische Positionalität« die geistdurchsetzte Le-
bensform als eine lebensfähige Lebensform: Exzentrizität ist eine
Ausdifferenzierung des Lebens, innerhalb einer Möglichkeitslogik

25 L. Klages, Vom Wesen des Bewußtseins. Aus einer lebenswissenschaftlichen Vor-


lesung (1921), Bonn 1974, S. 289.

538 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

des Lebens, und folgt als Unterbrechung des Lebens – Ex/zentrizität –


der Logik bereits des Lebens, als »Grenzrealisierung« Unterbrechung
in sich selbst zu sein.
Drittens meint exzentrische Positionalität auch nicht »autozen-
trische Positionalität« – eine weitere künstliche Begriffsalternative
als Kontrast –, ist kein dialektisches Zusichselbstkommen des Geistes
in der Natur, keine Identität der Identität und Nichtidentität. Gegen
die Option des Idealismus, wo vom Primat des Geistes her die Wider-
sprüche zwischen Natur und Geist vermittelt und aufgehoben sind in
einem abschließenden System des Wissens, das die Geschichte als
Bedingung seiner Realisierung erkennt, kennzeichnet die philoso-
phisch-anthropologische Kategorie der »exzentrischen Positionali-
tät« eine strukturelle Nichtidentität, die in der Position durch künst-
lichen Vollzug geschlossen, vital überbrückt und kompensiert, zum
lebendigen Ausgleich gebracht werden muss, die durch immer neue
Geschichte und Geschichten »verkörpert« wird.
Plessners Begriff für den Menschen ist genau genommen nicht
»Exzentrizität«, auch nicht »exzentrische Position«, sondern »ex-
zentrische Positionalität«. Nur in dieser strengen Formulierung
wird die Verklammertheit der Schichten – des anorganischen Dinges
in seiner Raum-Zeit-Position, des organischen Dinges mit der Ge-
setztheit (Positionalität) in eine Grenzrealisierung, der tierischen
Lebensform mit ihrer Intentionalität des Bewusstseins und Verhal-
tens und der Exzentrizität – ganz durchsichtig. Es ist diese »Grenz-
gesetztheit des Mensch genannten Dinges«, die dieser Begriff ohne
Preisgabe des naturphilosophischen Einstiegs in seiner philoso-
phisch-anthropologischen Kategorienbildung explizieren will. In
der Exzentrizität wird die Positionalität gleichursprünglich zur »Au-
ßenwelt«, zur »Innenwelt« und zur »Mitwelt« geöffnet. Die Durch-
brochenheit, die Exzentrizität des Lebendigen ist kein Durchbruch
des Geistes, der jetzt wesentlich für sich wäre, sondern reiner
Durchgangspunkt des Abstandes des zuschauenden Blicks. Oder an-
ders gesagt: Plessner interpretiert die klassische trichotomische For-
mel von Körper, Seele, Geist neu, indem er Positionalität, zentrische
Positionalität und – außerhalb der Positionalität und ihr entgegen-
gesetzt – »Exzentrizität« (»außer aller Bindung in Raum und
Zeit«) 26 einführt. Er bringt also in der Kategorie »exzentrische Po-
sitionalität« einen Dualismus zweier Prinzipien – Positionalität

26 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 363.

Philosophische Anthropologie A 539


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

(psychophysisch) und Exzentrizität (Geist), von (passivischer) »Ge-


setztheit« und (aktiver) »Setzung« – zur Entfaltung, der zugleich als
stufenförmiger Strukturzusammenhang vorgestellt wird. Denn der
reine Durchgangspunkt des Abstandes, der zuschauende exzentrische
Blick lebt nicht ohne die Energie des zentrisch positionierten Körper-
Leibes, dessen Zuständigkeitsbereich er zugleich entzogen bleibt. In
dieser Entgegensetzung zweier Prinzipien ist der Mensch das zur Set-
zung, zur Satzung (oder Konstruktion) positionierte, d. h. gesetzte,
ausgesetzte, herausgesetzte Lebewesen. Alles, was der Geist von sich
her kennt als seine Möglichkeiten – Selbstverhältnis, Sachlichkeit
oder Weltbewusstsein, Gottesbewusstsein, »Zweifel gegen die gött-
liche Existenz« – ist nun im unhintergehbaren Rückbezug auf den
unterbrochen-überbrückten Lebenskreis qualifizierbar. »Exzentri-
sche Positionalität« ist auch ein Bildbegriff für eine aufgebrochene
Lebensganzheit, die ihren Bruch überbrückt. Plessners anthropologi-
sche Gesetze der »natürlichen Künstlichkeit«, »vermittelten Unmit-
telbarkeit« und des »utopischen Standortes« sind Strukturformeln
von »aufschließend-exponierendem Wert« 27 . Diese philosophisch-
anthropologischen Kategorien fungieren zwischen den abgeschlosse-
nen-theoretischen Kategorien des Positionalen (den Vitalkategorien)
und den unabschließbaren Formen der Expressivität kultureller Sat-
zung. Damit können die philosophisch-anthropologischen Katego-
rien das »Wesen des Menschen« erschließen, und zwar der »Homini-
tas als Conditio sine qua non für Humanitas«, »Bedingungen der
Möglichkeit des Menschseins, ohne auf einen Sinn von Sein oder eine
bestimmtes Menschlichkeitsideal notwendig zu verweisen.« 28

Wie bei Scheler und Plessner lässt sich der Identitätskern der Phi-
losophischen Anthropologie auch bei Erich Rothacker zeigen. Seine
Schlüsselbegriffe »Lebensstil« und »Weltanschauung« für die
menschliche Sphäre sind zwar geläufige Begriffe, aber als tragende
Kategorien sind sie bei ihm im Kern genau entsprechend der philoso-
phisch-anthropologischen Denkungsart gebaut. 29

27 Plessner, Die Aufgabe der philosophischen Anthropologie, GS VIII, S. 39.


28 Plessner, Artikel: Anthropologie, philosophisch, a. a. O., S. 188.
29 Beobachtungen zur Systematik von Rothacker: W. Perpeet, Erich Rothacker. Philoso-

phie des Geistes aus dem Geist der Deutschen Historischen Schule, Bonn 1968; A. Bu-
cher, Anthropologie in Metaphysik-Distanz. Erich Rothackers Anthropologie als empi-
rische Philosophie zur 10. Wiederkehr seines Todestages im August d. J., in: Zeitschrift
für philosophische Forschung, Bd. 29 (1975), S. 349–360.

540 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

Die Freiheit des menschlichen Geistes, hier v. a. in seiner ästhe-


tischen Setzungskraft, ist vorausgesetzt. Auch Rothackers Begriffs-
bildung setzt aber von außen, beim Blick auf das außermenschliche
Sein an. Rothacker gewinnt die Kategorie »Lebensstil« für die
menschliche Sphäre im vergleichenden Verhältnis zum biologischen
»Bauplan« oder zur »Lebensform«. 30 Er konstruiert den Begriff Le-
bensstil so, dass er an die Stelle der ›Form‹ im ›Lebensform‹-Begriff,
der in der Uexküllschen Biologie artgemäße Typen von Organismus-
Umwelt-Relationen kennzeichnet, den aus der Kunstgeschichte stam-
menden ›Stilbegriff‹ implantiert, der je entdeckt-erfundene, nicht
aufeinander rückführbare Linienführungen für ganze ästhetische Ge-
bilde meint.
›Lebens-/stil‹ fungiert also als philosophisch-anthropologische
Kategorie, indem sie zwischen den Vitalbegriff »Lebensform« und
den Geistbegriff »Kunststil« geschoben wird. »Bauplan« oder »Le-
bensform« des Organismus bedeutet in der Uexküllschen Umwelt-
lehre: Jedem Lebewesen ordnet sich eine bestimmte ›Welt‹ zu, eine
Lebenssphäre. Das tierische Lebenssubjekt (und bei Uexküll auch der
Mensch) baut sich diese je bestimmte ›Welt‹ aus den Funktionen, die
es selbst lebt. Der Bauplan gibt vor, was ›wichtig‹ ist in der Welt. Jede
›Umwelt‹ bildet eine geschlossene Einheit, die in allen ihren Teilen
durch die ›Bedeutung‹ für das Lebenssubjekt beherrscht wird. Der
»Bauplan« des Lebenssubjekts und die Bedeutungsträger der Umwelt
sind streng korreliert. Die Lebensaufgabe des Lebewesens besteht
darin, die Bedeutungsträger bzw. -faktoren gemäß seinem Bauplan
zu verwerten. Rothacker setzt also philosophisch-biologisch diese
Korrelativität von Lebensform und Lebenssphäre voraus. In der Ka-
tegorie »Lebensstil« erschließt er, vergleichend von unten nach oben
durchdenkend, für die menschliche Sphäre die Aufgebrochenheit der
tierischen ›Lebensform‹ und zugleich die darin einspringende ›geist-
volle‹ Überbrückung des »Stils«: Die vorgegebene »Form« der (tieri-
schen) Lebensform mit ihrer triebgeleiteten selektiven Anteilnahme
am Weltausschnitt setzt aus und wird im gleichen Zug durch einen
interessierten schöpferischen Einfall, eine Setzung oder »Haltung«
überbrückt, die als »Stil« festgehalten und zur Linie der Weltwahr-
nehmung und -behandlung verstetigt wird.
Dem ›Lebens-/stil‹, der die Verhaltens- und Wahrnehmungs-
weisen der Individuen und Gruppen charakteristisch ausrichtet, der

30 E. Rothacker, Philosophische Anthropologie, a. a. O., S. 82.

Philosophische Anthropologie A 541


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

als Lebensführung, als strukturierende Praxis, als öffentliches Ver-


halten fungiert, entspricht eine spezifisch »bedeutsame« Welt, eine
»Weltanschauung«, in der die unermessliche und unerschöpfliche
Wirklichkeit ein Gesicht gewinnt. Rothacker transformiert also auch
den lebensphilosophischen Begriff der »Weltanschauung« (bei Dilt-
hey) in eine philosophisch-anthropologische Kategorie, die analog zu
der des ›Lebensstils‹ gebaut ist: »Weltanschauung« schiebt sich zwi-
schen die Vitalkategorie der (tierischen) ›Umweltanschauung‹ und
die Geistkategorie des ›Weltbegriffs‹. Das zur Welt geöffnete Lebe-
wesen ist konstitutionell gezwungen, die Komplexität, Unheimlich-
keit, Fremdheit der offenen Welt der anschauungsgebundenen Kör-
perleibperspektive anzunähern, das Abstrakte an das Konkrete
anzuknüpfen bzw. umgekehrt die Muster des Konkreten in die offene
Welt zu übertragen, um sie sich selektiv zu erschließen. Insofern ist
in Rothackers Begriff der ›Welt-/anschauung‹ die »Metapher«, der
Mensch als »metaphorologisches« Lebewesen philosophisch-anthro-
pologisch rekonstruiert.
»Lebensform und Lebenssphäre« des organischen Lebens sind
damit zu ›Lebensstil und Weltanschauung‹ des spezifisch mensch-
lichen Lebens transformiert. Obwohl sie es von den verwendeten Be-
griffen her suggerieren, sind Rothackers Kategorien gerade nicht le-
bensphilosophisch gebaut, sondern philosophisch-anthropologisch:
»Lebens-stil« meint nicht, im menschlichen Leben kommt das »Le-
ben« (an und für sich) von sich aus (je verschieden) zum »Ausdruck«
(Dilthey), sondern es kommt als menschliches Lebens gebrochen im
»Stil« zum Ausdruck. Kategorial ist in »Lebensstil« keine lebensphi-
losophische Tragik des in der Form notwendig erstarrenden (Simmel)
– und sie wieder sprengenden – (irrationalen) Lebensstromes ange-
sprochen. Im »Stil«, den das menschliche Lebewesen im Erfinden
entdeckt, durch den es seinen unterbrochenen Lebenskreis künstlich
schließt, kommt Leben notwendig gebrochen bzw. vermittelt zum
Ausdruck. Im Wandel der »Lebensstile«, in der Konfrontation mit
anderen Kulturen erfährt sich das menschliche Lebewesen ex-zen-
trisch gestellt zum eigenen Stil, aus dem heraus es immer schon lebt.
Das Wissen um die Beschränktheit des eigenen Lebensstils, um die
notwendige Einseitigkeit im Vergleich der Lebensstile, enthebt nach
Rothacker menschliche Lebewesen, die als Organismen rückbezogen
bleiben auf das Gesetz von Lebensform und Lebenssphäre, nicht der
Notwendigkeit, ihr Leben doch jeweils in einer charakteristischen
Lebensstil-Kultur-Korrelation führen zu müssen.

542 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

Gehlens Schlüsselbegriffe »Mängelwesen«, »Handlung« und »In-


stitution«, mit denen er den Menschen, »seine Natur und seine
Stellung in der Welt« bestimmt, unterliegen, obwohl noch näher all-
tagssprachlich gewählt, der gleichen Art der philosophisch-anthro-
pologischen Kategorienbildung. 31 Das wird deutlicher, wenn man
seine die Kategorie »Handlungskreis« konstellierenden Begriffe
»Entsicherung« und »Entlastung« hinzunimmt.
Gehlen stellt die Möglichkeiten, die der menschliche Geist aus
sich selbst her kennt und im Idealismus ausweist, nicht in Frage. Aber
seine Blickführung setzt indirekt ein, beim außermenschlichen Sein
im Kosmos, beim Organismus-Umwelt-Verhältnis an, das er im
Tier/Mensch-Vergleich von unten zur menschlichen Sphäre katego-
rienbildend durchläuft. Naturphilosophisch gibt es ein objektives
Subjekt-Objekt-Verhältnis in der Welt, das sich von der Seite aus
beobachten lässt. Bei Gehlen ist der Stufungscharakter des Lebens
mit dem Funktionskreismotiv am deutlichsten verknüpft. Das tieri-
sche Lebewesen, morphologisch und antriebsdynamisch mit allem
spezialisiert ausgestattet, was es für die korrespondierenden Um-
weltanforderungen braucht, vollzieht den Lebenskreislauf in in-
stinktsicherer Koppelung von Wahrnehmungen und Bewegungen.
Daneben und dagegen lässt sich auf der Ebene des menschlichen Or-
ganismus nicht nur morphologisch eine fehlende eindeutige Zuord-
nung von Körpergestalt und passender Umwelt – »Mängelwesen« –
konstatieren, sondern der Funktionskreis ist antriebsdynamisch un-
terbrochen durch den »Hiatus« zwischen Trieb und Erfüllung: der
dynamische Wechselbezug zwischen Innen und Außen, Wahrneh-
men und Verhalten ist durch »Instinktentdifferenzierung« »entsi-
chert«. Durch die Unterbrochenheit des Lebenskreises, durch die re-
lative »Instinktarmut« ist »ein so organmangelhaftes Wesen« 32 in

31 A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940), 4. ver-
änd. Aufl., Bonn 1950, S. 36–41. Zu Gehlens philosophisch-anthropologischer Katego-
rienbildung: N. Hartmann, Neue Anthropologie in Deutschland. Betrachtungen zu Ar-
nold Gehlens Werk ›Der Mensch‹, in: Blätter für Deutsche Philosophie, Jg. 15 (1941/42),
S. 159–177. – F. Jonas, Die Institutionenlehre Arnold Gehlens, Tübingen 1966. – P. Jan-
sen, Arnold Gehlen. Die anthropologische Kategorienlehre, Bonn 1975. – L. Samson,
Naturteleologie und Freiheit bei Arnold Gehlen. Systematisch-historische Unter-
suchungen, Freiburg/München 1976. – P. Fonk, Transformationen der Dialektik.
Grundzüge der Philosophie Arnold Gehlens, Würzburg 1983. – K.-S. Rehberg, Nach-
wort des Herausgebers, in: Gehlen, Der Mensch, GA 3.2, S. 751–786. – Ch. Thies, Geh-
len zur Einführung, Hamburg 2000.
32 A. Gehlen, Anthropologische Forschung, a. a. O., S. 69 f.

Philosophische Anthropologie A 543


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

seinem »Verhalten« der ungesteuerten Komplexität der Außenwelt-


reize und Innenweltantriebe ausgesetzt, und auf der anderen Seite
mangelt es an vorgegebenen Bewegungskoordinationen. Als Bild-
begriff ist Gehlens Begriff des »Mängelwesens« geradezu eine dras-
tische Steigerung der Bildlichkeit des Begriffs »exzentrische Posi-
tionalität«, insofern eben die funktionierende »Ganzheit« des
Organischen und die geschlossene »Gestalt« des dinglichen Körpers
beim menschlichen Lebewesen als gesprengt, als enthierarchisiert,
als dekoordiniert vorgestellt werden.
In diese Lücke des Lebendigen greift ordnende »Handlung« als
Geistes-Akt, aber »entlasten« vom Druck der Situation kann diese
Handlung nur zugleich wegen der Lücke, nur indem sie das in der
»Entsicherung« aufgebrochene Material des Vitalen (also die ver-
schiebbaren Triebe, die Wahrnehmungsflexibilität, der Bewegungs-
spielraum) borgt und gegen den doppelten Druck von aufgebrochener
Außen- und Innenwelt in diesem Aufbau einer eigenen künstlichen
Welt als Kultur den Kontakt des vitalen Kreislaufes wieder schließt.
Was sich auf der tierischen Ebene noch passiv-dynamisch im Funk-
tionskreis vollzieht (›Es‹), muss auf der Ebene des menschlichen Le-
bewesens »eigentätig« durch Setzung »kompensiert« werden. Plas-
tisch wird diese Naturgeschichte der Naturdistanzierung im
»Handlungskreis« an der sich in der Werkzeugbildung bildenden
»Hand« selber: Dieses instinktentsicherte »Organ« des »Mängelwe-
sens« entdeckt die Griffseite von Dingen und zugleich deren Wirk-
seite hin zu den Objekten, so dass es das Ding (als Werkzeug) zwi-
schen die Hand und die Objekte einschieben kann und dieses
›entsicherte‹ Organ dabei rückwirkend zugleich stabilisiert und »ent-
lastet«. Wo im tierischen Lebenskreis sich Bedürfnis, instinktive
Zuwendung zum passenden Umweltaspekt und reale Erfüllung je
fallweise erschließen, spielt sich im künstlich kompensierten Lebens-
kreis des »Mängelwesens« eine »Hintergrundserfüllung« ein: Erfül-
lungslagen für chronische Bedürfnisse werden durch Werkzeug, Vor-
rat, Kleidung im Hintergrund selbst stabilisiert, so dass sich die
Aufmerksamkeit im Vordergrund neuen Aspekten zuwenden kann.
Gehlen erschließt den Begriff der »Handlung« als eine philoso-
phisch-anthropologische Kategorie, in dem er in ihr Lebensphiloso-
phie und Idealismus verschränkt. Handeln ist einerseits ein vitales
Geschehen und ein Naturvorgang, andererseits ist sie zugleich eine
freie, selbstvollzogene Tat, ein Vollzug, in dem das menschliche Le-
benssubjekt sein Leben führt. In diesem Handlungsbegriff sind die

544 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

Momente verschiedener Seinsstufen – die Bewegbarkeit des physi-


schen Dinges, die Taxis der Pflanze, die Bewegungsreaktion des sen-
somotorischen Tieres, das intelligente Verhalten der Primaten – ein-
geschachtelt, die nun durch das Novum der Entsicherung und
Entlastung überformt werden, wobei die schichtenontologisch vo-
rausgesetzten Momente die »Handlung« zugleich tragen. Dieser
Handlungsbegriff wendet also die klassische trichotomische Formel
von Körper, Seele und Geist in die Verschachtelungstheorie der
Seins- und Daseinsschichten, wie sie für die philosophisch-anthro-
pologische Kategorienbildung typisch ist. Damit kann der noologi-
sche Zug im Bios des Menschen, nicht abgetrennt von ihm, demons-
triert werden. Auf der durch den »Handlungskreis« überbrückten
Basis eines neugesicherten Wahrnehmungs- und Bewegungslebens
kann Sprache z. B. als höhergelegte Funktion den selbstgeordneten
Funktionskreis abschließen, indem sie zugleich vom Druck des Hier
und Jetzt entlastet und Verweise in die geöffnete Welt geordnet of-
fenhält. 33
Derselben nichtnaturalistischen Art der Kategorienbildung folgt
bei Gehlen der Begriff der »Institution«, der vor allem das Sozial-
verhältnis der menschlichen Lebewesen untereinander in seiner Be-
sonderheit kennzeichnen soll. Sind die Wahrnehmungen und Ver-
haltensweisen zwischen jeweiligen Tieren, die überhaupt etwas
miteinander anfangen, instinkthaft aufeinander abgestimmt, so ver-
langt die Begegnung instinkthaft entsicherter Funktionskreisläufe
nach einem Stattdessen, nach einem neuartigen Äquivalent der
wechselseitigen Koordination im Vitalen. Dafür schlägt Gehlen die
Kategorie »Institution« vor, die wechselseitige Ritualisierungen von

33 Gehlen hatte 1940 in der Erstausgabe von ›Der Mensch‹ sich zunächst vom Schich-
ten- und Stufenmodell (bei Scheler) distanziert, bis er durch Hartmanns schichtentheo-
retische Interpretation seiner – Gehlens – Argumentation so überzeugt wurde, dass er
fortan seit 1950 sich gegen idealistische und naturalistische Kritik mit der Schichtung
niederer und höherer Kategorien verteidigte: »Um in den Begriffen von N. Hartmann
zu sprechen: es kommt uns darauf an, unbeschadet der von vornherein zugestandenen
Unmöglichkeit, den ›Geist‹ auf das ›Leben‹ zurückzuführen, diejenigen Kategorien zu
finden, die »durchlaufen«, die also das Zusammenbestehen dieser Schichten möglich
machen.« Und er spricht von seinen Ausführungen als »der hier untersuchten Schich-
tung des Funktionskreises von Hand, Auge und Sprache, in dem alle Geistesentwicklung
entspringt und in den sie auch wieder zurückzulaufen bestimmt ist.« A. Gehlen, Der
Mensch, a. a. O., S. 12 und S. 201. Vgl. zur Anlehnung der Gehlenschen Kategorienlehre
an Hartmann P. Jansen, Arnold Gehlen. Die anthropologische Kategorienlehre, a. a. O.,
S. 38–47.

Philosophische Anthropologie A 545


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

Verhaltensweisen als Basis erschließt, an deren vitale künstliche Sta-


bilisierungsfunktion sich dann Zwecksetzungen der menschlichen
Lebensführung sekundär anlagern können. »Institution« ist also ka-
tegorial ein Äquivalent für »Instinkt« und zugleich ein Novum ge-
genüber der (instinktiv gesteuerten) Natur, eine »natürliche Künst-
lichkeit« (Plessner). Gehlens Kategorien einer Konstitutionstheorie
des Menschen sind also ebenfalls so gebaut, dass die »Sonderstellung
des Menschen« ausgedrückt wird, »seine Gleichstellung mit dem
Lebendigen wie seine Gegenstellung zu ihm durch den Geist.«
(Scheler).

Schließlich funktionieren auch Adolf Portmanns Schlüsselbegriffe


»extrauterine Frühzeit« und »sekundärer Nesthocker« ebenfalls
nach der charakteristisch philosophisch-anthropologischen Art der
Kategorienbildung. 34
Portmann entwickelt seine ›Biologischen Fragmente zu einer
Lehre vom Menschen‹ explizit mit dem Ziel, die biologisch fundierte
Kategorienbildung mit der Selbsterfahrung des Menschen als geist-
fähiges Wesen vereinbar zu halten. 35 Sein Theorieblick setzt unten
an, bei der relativen Autonomie der Lebewesen in der Natur: Bezo-
gen auf diese Autonomie sind »Weltbeziehung und Selbstdarstellung
in der Erscheinung […] die zwei obersten Kennzeichen des Organis-
mus, denen der Stoffwechsel, die Erhaltung, Regulation, Fortpflan-
zung und Entwicklung als Glieder der Verwirklichung sich unterord-
nen.« 36 Jedes Lebewesen hat nicht nur einen Eigenraum, sondern
auch eine Eigenzeit: »Jede Lebensform ist vor uns als eine Gestalt,
die nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit ihre artgemäße
Entfaltung erfährt. Lebendige Wesen sind in gewisser Weise geform-
te Zeit, wie Melodien; das Leben äußert sich in ›Zeitgestalten‹«. 37
Portmanns philosophisch-anthropologische Kategorien ergeben sich

34 H.-E. Hengstenberg, Philosophische Anthropologie und Einzelwissenschaften unter


interdisziplinärem Gesichtspunkt, in: Internationales Jahrbuch für interdisziplinäre For-
schung, Bd. 1 (1974), S. 285–310. – Zu Portmann auch: R. Kugler, Philosophische
Aspekte der Biologie Adolf Portmanns, Zürich 1967. – H. Müller, Philosophische
Grundlagen der Anthropologie Adolf Portmanns, Weinheim 1988.
35 A. Portmann, Zoologie und das neue Bild vom Menschen. Biologische Fragmente zu

einer Lehre vom Menschen, Reinbek b. Hamburg 1956, S. 11.


36 A. Portmann, Aufbruch der Lebensforschung, Zürich 1965, S. 185.

37 A. Portmann, Die Zeit im Leben der Organismen, in: Ders., Biologie und Geist, Zü-

rich 1956, S. 156.

546 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

aus einer Stufung dieser Funktionskreise als ›Zeitgestalten‹, genauer


aus einem von unten geführten Stufenvergleich der Ontogenesen
von lebendigen Funktionskreisen. Er unterscheidet unter den Wir-
beltieren die Ontogenese des »Nesthockers« (z. B. der Vögel), wo
der relativ niedrig organisierte Funktionskreis durch vergleichsweise
frühe Geburt außerhalb des Mutterleibes erst zur Ausbildung ge-
langt, von der Ontogenese höher organisierter Funktionskreise, die
– durch erheblich verlängerte Tragzeiten im Mutterleib – durch diese
intrauterine Ausreifungszeit des artgemäßen Typus der Körperhal-
tung, Bewegungsart und Kommunikationsweise gekennzeichnet
sind: bei der Geburt springen sie bald auf die Beine und sind wegen
weitgereifter instinktkoordinierter Gliedergelenkigkeit im Prinzip
»Nestflüchter«.
Vor dem Hintergrund dieser Kategorienkonstruktion einer bei
höheren Säugern ›intrauterinen‹ Normalzeit (in der sie im Mutter-
leib eine Nestflüchterausbildung erhalten), lässt sich auf dem Niveau
des menschlichen Lebewesens eine normwerdende Unterbrechung
des ontogenetischen Funktionskreises beobachten. »Physiologische
Frühgeburt« meint das Phänomen biologisch normaler Frühgeburt.
Vorzeitig, vor der (evolutionär für die Fitness erwartbaren) art-
gemäßen Ausreifung der Körpergestalt, Bewegungsart und Kom-
munikationsweise, aus dem Mutterleib entlassen und zur Welt
herausgesetzt, unterliegt das menschliche Lebewesen in seiner Ent-
wicklung zum voll artgemäßen Organismus einer ›extra-/uterinen
Frühzeit‹. Dieser ontogenetisch unterbrochene Funktionskreis (mit
seiner Lebenstendenz der Herausbildung einer ›Innerlichkeit‹, Welt-
beziehung und Selbstdarstellung) muss künstlich überbrückt wer-
den, und diese Notwendigkeit bietet zugleich Möglichkeiten. Der
menschliche Säugling, mit seinen lebhaften Bewegungen eigentlich
der Typ des »Nestflüchters«, ist so gesehen ein »sekundärer Nest-
hocker«. Das frühzeitig extra-uterin sich entwickelnde Lebewesen
überbrückt die Unterbrochenheit des Lebenskreises im reicheren,
umwegigen Sozial-Uterus durch Hilfestellung einer Mitwelt. Der
Funktionskreis wird künstlich geschlossen, indem der Neuankömm-
ling während dieser hohen Prägesensibilität der embryonalen Phase,
die außerhalb des organischen Uterus in der Welt verläuft, eigen-
aktiv, nachahmend seinen werdenden Körper mitformt durch Akte
der Selbstaufrichtung, der artikulierten Sprachanfänge, durch Han-
tieren und durch Übertragen von in ›Aha‹-Erlebnissen gemachten
Entdeckungen auf weitere Fälle. Dabei sind diese künstlichen Über-

Philosophische Anthropologie A 547


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

brückungen der ontogenetisch natürlichen Unterbrochenheit nicht


nur möglich durch Rückhalt am gegebenen Körper, sondern während
der Entwicklung der Überbrückungen in der extra-uterinen Welt lau-
fen die Wachstumsprozesse weiter, in denen sich der Körper in auf-
fälligen Verschiebungen des Wachstums seiner Teile fortwährend
ausformt. Evolutionär gesehen ist im signifikanten Vergleich mit
der tierischen Entwicklung das einzelne menschliche Hirn von seiner
Natur aus zu seiner Entwicklung auf Kommunikation, auf die kultu-
relle Sozialisierung verwiesen. Das menschliche Hirn ist genuin ein
soziales Organ. Zugleich entfaltet sich eine eigenste Welterschlie-
ßung durch das Lebenssubjekt, ein eigenster Raum der Innerlichkeit
in ihm. Damit verwandelt sich das evolutionäre Reproduktions-
geschehen in Kindheitsereignisse und die Kinder rücken ins Auf-
merksamkeitszentrum von Sozietäten; die sozio-kulturelle »zweite
Geburt« (Claessens) ihrer Hirne ist auf deren Potenzial eines origi-
nären Weltzuganges und originärer Innerlichkeit verwiesen, die da-
mit wiederum zur Quelle sozio-kultureller Originalität der Gruppe
werden.
Erfolgten die Reifungsprozesse des menschlichen Lebewesens –
entsprechend dem normalen Ausreifungsgrad der Anthropoiden – in
der geschlossenen Welt des Mutterschoßes, bliebe das Erleben eines
solchen – fiktiven – »Tiermenschen« im Banne des ›Subjektiven‹ be-
fangen. Nur als normalisierte Frühgeburt, nur im durch die »extra-
uterine Frühzeit« notwendigen und zugleich möglichen Bildungspro-
zess entwickelt der Mensch – wie Portmann sagt – die »eigenartige
Fähigkeit, gleichsam einen Standpunkt außer sich einzunehmen, so-
wohl konzentrisch wie exzentrisch zu leben, sowohl subjektiv wie
objektiv.« 38 In der Evolution – als dem Inbegriff der Entwicklung
von Funktionskreisläufen –, in der Evolution der Ontogenesen hin
zu einer Ontogenese der »extrauterinen Frühzeit« ist das Evolutions-
geschehen selbst unterbrochen, um durch ein Novum, die Geschichte,
überbrückt zu werden, die zugleich auf alle Kräfte und Strukturen der
Evolution angewiesen bleibt.

Mindestens in der Art der Kategorienbildung – das war zu demons-


trieren – koinzidieren also die fünf Denker. Jeweils vom mensch-
lichen Geist ausgehend, aber mit dem Blick auf den lebendigen Kör-
per ansetzend, wird im vergleichenden Durchgang durch Typen des

38 Ebd., S. 66.

548 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

Lebendigen – kontrastiv mindestens zum Tier – eine Gebrochenheit


des Lebendigen auf dem Organisationsniveau des menschlichen Kör-
pers aufgewiesen, in der nun die Phänomene des Geistes als Neuver-
mittlungen des Lebenskreislaufes zum Zuge kommen. Kategorial
wird immer die »Sonderstellung des Menschen« erreicht, indem
»seine Gleichstellung mit dem Lebendigen wie seine Gegenstellung
zu ihm durch den Geist« (Scheler) rekonstruiert wird.
Hat man einmal beobachtet, dass die verschiedenen Schlüssel-
begriffe der Autoren ähnlich aufgebaut sind, lässt sich der Identitäts-
kern des philosophisch-anthropologischen Denkortes noch deutlicher
konturieren. Nimmt man die Philosophische Anthropologie als
Denkansatz, verlangt sie primär notwendig einen internen Bezug zu
einer Biophilosophie, sekundär zur Kulturphilosophie. Es ist zwar
richtig festgestellt worden, dass die Philosophische Anthropologie
thematisch sich gleichermaßen auf zwei Vergleichsreihen bezieht –
auf die ›vertikale‹ des Vergleichs der menschlichen Lebensform mit
anderen organischen Lebensformen und auf die ›horizontale‹ des
Vergleichs verschiedener differenter Soziokulturen untereinander.39
Methodisch aber, vom Ansatzpunkt her gibt es – bei allen fünf Auto-
ren – einen Primat der vertikalen Untersuchungsrichtung gegenüber
der horizontalen Richtung der Differenz der Kulturen. Deshalb wird
zum springenden Punkt der Philosophischen Anthropologie bei allen
fünf Autoren der theorieinterne Bezug zur Biologie. Schlüsselpunkt
ist die philosophische Interpretation der Resultate der empirischen
Biologie, die diesen Resultaten nicht widerspricht und zugleich in
der kategorialen Interpretation einen Spielraum öffnet, der für die
genuinen Selbsterfahrungen des Menschen als sacherschließendes
und freihandelndes und selbstbewusstes Wesen passt. Bei allen Au-
toren differenziert das Theorieprogramm eine Biophilosophie aus 40,

39 H.-P. Krüger, Die Fraglichkeit menschlicher Lebewesen. Problemgeschichtliche und


systematische Dimensionen, a. a. O., S. 18. – Bei Plessner selbst bezieht sich der Termi-
nus »horizontaler« Vergleich allerdings nicht auf den Vergleich differenter Kulturen,
sondern verschiedener »kultureller« (ästhesiologisch fundierter) Formen in einer Kultur
– in gewisser Analogie zu Cassirers Vergleich »symbolischer Formen«. Vgl. H. Delitz,
Spannweiten des Symbolischen. Helmuth Plessners Ästhesiologie des Geistes und Ernst
Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, in: Deutsche Zeitschrift für Philoso-
phie, Jg. 53 (2005), S. 917–936, 936.
40 Die von der Philosophischen Anthropologie selbst ausdifferenzierte »philosophische

Biologie« als Kern des Theorieprogramms mit den wichtigen Bezugsautoren zusam-
mengestellt bei M. Grene, Approaches to a philosophical biology, New York/London
1968. Vgl. auch J. Fischer, Biophilosophie als Kern des Theorieprogramms der Philoso-

Philosophische Anthropologie A 549


https://doi.org/10.5771/9783495999899
Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

über die sie – die Philosophische Anthropologie – eine Theorie des


Selbst-, Welt- und Sozialverhältnisses expliziert. Die Differenz der
Kulturen ist eine Voraussetzung, die vom Ansatz der Philosophi-
schen Anthropologie eingeholt werden soll, aber sie ist nicht der
Ansatzpunkt der Denkbewegung selbst. Das gilt auch für Plessner,
dessen Schrift ›Macht und menschliche Natur‹ von 1931 eine »An-
thropologie der geschichtlichen Weltansicht« (so der Untertitel), also
eine Anthropologie der Kulturendifferenz ausführt – aber chrono-
logisch und systematisch nach der Grundlegung in den ›Stufen des
Organischen und der Mensch‹ von 1928, die nicht preisgegeben wird.
Und dieser Ansatz bei einer Biophilosophie in dem eben erläuterten
Sinn gilt gerade auch für Rothacker, der von Haus als der Kulturphi-
losoph unter dieser Denkergruppe gelten kann.

Man kann den gemeinsamen Identitätskern bei den verschiedenen


Autoren noch schärfer fassen bezogen auf das Verhältnis von Sozial-
philosophie und Naturphilosophie, von Mitwelt und Außenwelt. Al-
le Autoren (hier bezogen auf Scheler, Plessner und Gehlen demons-
triert) setzen einen komplexen, ja sogar einen universalen Begriff
von »Mitwelt« oder Ausdrucksempathie oder Kommunikation vo-
raus, aber sie setzen in ihrer Kategorienbildung nicht bei ihm an,
sondern mit der Beobachtung der »Außenwelt« bei der Dinghaftig-
keit der Natur. Im Ansatz der Philosophischen Anthropologie geht
eben die Naturphilosophie der Sozialphilosophie voraus.41 Dabei
wird die universelle Mitwelt, die Alterität als fundamental voraus-
gesetzt: Die Gegebenheit des Anderen (die Alterität) beruht nicht
etwa auf einer Analogieerfahrung des eigenen Ich, sondern umge-
kehrt werden laut Scheler, Plessner und Gehlen ursprünglich und

phischen Anthropologie. Zur Kritik des wissenschaftlichen Radikalismus, in: G. Gamm/


A. Manzei/M. Gutmann (Hrsg.), Zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie.
Zur Renaissance Helmuth Plessners im Kontext der modernen Lebenswissenschaften,
Bielefeld 2005, S. 159–182. – Dieser Vorrang der Biophilosophie in der Philosophischen
Anthropologie auch betont von V. Gerhardt, Die rationale Wendung zum Leben. Hel-
muth Plessners ›Die Stufen des Organischen und der Mensch, in: J. Fischer/H. Joas
(Hrsg.), Kunst, Macht und Institution. Studien zur Philosophischen Anthropologie, so-
ziologischen Theorie und Kultursoziologie der Moderne. Festschrift für Karl-Siegbert
Rehberg, Frankfurt a. M. 2003, S. 35–40.
41 Umgekehrt verfährt eine »reflexive Anthropologie«, d. h. eine »auf Soziologie orien-

tierte reflexive Anthropologie«: G. Lindemann, Reflexive Anthropologie und die Ana-


lyse des Grenzregimes. Zur Aktualität Helmuth Plessners, in: U. Bröckling u. a. (Hrsg.),
Disziplinen des Lebens, a. a. O., S. 23–34.

550 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

universell (so von Kleinkindern) nicht nur andere Menschen, son-


dern andere Gegenstände als Du-Subjekte aufgefasst, die in einer
»Art sensomotorischer ›Unterhaltung‹« ausgewertet werden: »In die
Rolle dieses Du« – sagt Gehlen – »rückt jedes beliebige Ding […]
dann ein, wenn wir es ›in Erfahrung ziehen‹« Den Grundgedanken
dieser universellen Mitwelt, dieses »kommunikativen Charakters«
aller Erfahrung (Gehlen) 42 , die erst nachträglich eine Limitierung
auf eine »menschliche« Sozialwelt erfährt, hatte bereits Scheler for-
muliert: »Primär ist alles überhaupt Gegebene ›Ausdruck‹ und das,
was wir Entwicklung durch ›Lernen‹ nennen, ist nicht eine nachträg-
liche Hinzufügung von psychischen Komponenten zu einer vorher
schon gegebenen ›toten‹, dinglich gegliederten Körperwelt, sondern
eine fortgesetzte Enttäuschung darüber, dass sich nur einige sinnliche
Erscheinungen als Darstellungsfunktionen von Ausdruck bewähren,
andere aber nicht.« 43 Plessner teilt diesen Schelerschen Grundgedan-
ken zur ursprünglichen »personalen Welt« oder »Wir-Sphäre« oder
»Mitwelt«, deren Empathieüberschüssigkeit sich erst durch die Er-
fahrung einer dinglichen »Außenwelt« und einer unergründlichen
»Innenwelt« auf die menschliche Sozialität limitiert: »Bei der An-
nahme der Existenz anderer Iche handelt es sich nicht um Übertra-
gung der eigenen Daseinsweise, in der ein Mensch für sich lebt, auf
andere ihm nur körperhaft gegenwärtige Dinge, also um eine Aus-
dehnung des personalen Seinskreises, sondern um eine Einengung
und Beschränkung dieses ursprünglich eben gerade nicht lokalisier-
ten und seiner Lokalisierung Widerstände entgegensetzenden Seins-
kreises auf die ›Menschen‹. Das Verfahren der Beschränkung, wie es
sich in der Deutung leibhaft erscheinender fremder Lebenszentren
abspielt, muß streng getrennt werden von der Voraussetzung, daß
fremde Personen möglich sind, daß es eine personale Welt überhaupt
gibt.« 44 Trotz dieser Voraussetzung einer universellen, ja emphati-
schen Sozialtheorie der Empathie bei allen drei Autoren setzt ihre
philosophisch-anthropologische Kategorienbildung jedoch nicht so-
zialphilosophisch ein, sondern im Umweg über die Naturphilosophie
beim Ding in der Außenwelt an, um von dort aus über die Charakte-
risierung des Organischen und eine Stufentheorie des Lebendigen
das menschliche Lebewesen in seiner »Weltoffenheit«, »Exzentrizi-

42 A. Gehlen, Der Mensch, a. a. O., S. 185–188.


43 M. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, GW 7, S. 257.
44 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 301.

Philosophische Anthropologie A 551


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

tät« zu erreichen und damit begründet sein Potential der universel-


len Empathie auszuzeichnen, aus deren Limitierung erst menschliche
Sozialität begreifbar werden soll. Die Naturphilosophie geht im phi-
losophisch-anthropologischen Denkansatz der Sozialphilosophie vo-
raus, um diese als vorausgesetzte einzuholen, die Außenwelt wird in
der Denkoperation (nicht in der Sache) der Innenwelt wie der Mit-
welt vorgeordnet. Die Funktion dieser Denkoperation im Identitäts-
kern der Philosophischen Anthropologie ist offensichtlich: Wenn der
universelle Ausdruckscharakter, der »Mitwelt«-Charakter alles Ge-
gebene ursprünglich dominiert, geht es im Ausgleichsverfahren der
Theorie darum, die Eigenwirklichkeit der Außenwelt (und auch der
Innenwelt) der Mitweltüberschüssigkeit gegenüber zu garantieren.
Es geht darum, die Gleichursprünglichkeit und Irreduzibilität der
Welten, von Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt aufzuweisen. Pless-
ner hat dieses philosophisch-anthropologische Umwegverfahren der
Wirklichkeitsvergewisserung so begründet: Geist (oder Mitwelt) ist
»als Wir-Sphäre die Voraussetzung einer Konstitution der Wirklich-
keit, die wiederum nur dann Wirklichkeit darstellt und ausmacht,
wenn sie auch unabhängig von den Prinzipien ihrer Konstitution in
einem Bewußtseinsaspekt für sich konstitutiert bleibt.« 45

Der Identitätskern des Denkansatzes wird schließlich noch prägnan-


ter, wenn man zwei skeptische Einwände (aus der Plessner-For-
schung) hinsichtlich einer eventuellen Theoriegemeinsamkeit der
einschlägigen Denker einbezieht und aufklärt: Eine Gemeinsamkeit
zwischen den Autoren Scheler, Plessner, Gehlen bezogen auf die Phi-
losophische Anthropologie, also die Theorie des Menschen im enge-
ren Sinn, sei nicht erkennbar, weil (im Unterschied zu Plessners)
Schelers Theorie des Menschen »dualistisch« gebaut sei (erster Ein-
wand), Gehlens hingegen (im Unterschied zu Schelers und Plessners)
»naturalistisch« (zweiter Einwand).
Wenn man die Kategorienbildung bei Scheler und Plessner be-
zogen auf den Menschen aber genau beobachtet, sind sie doch ähn-
licher als der erste Anschein der Begriffe vermuten lässt. Scheler ver-
wendet zwar zwei Begriffe (»Drang« und »Geist«) für die
Kennzeichnung des Menschen, aber sie werden als zwei unabhängige
Prinzipien von vornherein (im Menschen) als einander verschränkt
vorgestellt. Plessner hingegen findet einen Kombinationsbegriff »ex-

45 Ebd., S. 378.

552 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

zentrische Positionalität« für den Menschen, trennt dabei aber ge-


danklich systematisch das Prinzip »Exzentrizität« vom Prinzip »Po-
sitionalität«: »Exzentrizität« ist das formal der »Positionalität« ent-
zogene Prinzip (d. i. das Schelersche »Aktzentrum«), wobei es aber
auf die Positionalität (als Prinzip des Lebens) material bezogen bleibt.
Die Verhältnisbestimmung zwischen »Geist« und »Drang« ist bei
Scheler genauso vorgestellt wie bei Plessner das duale Verhältnis
zwischen (nicht zu vergegenständlichender) »Exzentrizität« und
(dinglicher) »Positionalität«, so z. B. in Schelers Formulierung: »Der
Mensch allein – sofern er Person ist – vermag sich über sich – als
Lebewesen – emporzuschwingen und von einem Zentrum gleichsam
jenseits der raumzeitlichen Welt aus alles, darunter auch sich selbst,
zum Gegenstande seiner Erkenntnis zu machen.« 46 Und Scheler for-
muliert auch die These der gegenseitigen Ergänzung von ›Positiona-
lität‹ und ›Exzentrizität‹ und ihrer Hinordnung aufeinander in seinen
Termini: »So wesensverschieden aber auch ›Leben‹ und ›Geist‹ sind,
so sind doch beide Prinzipien im Menschen aufeinander angewiesen:
der Geist ideiert das Leben – den Geist aber von seiner einfachsten
Aktregung an bis zur Leistung eines Werkes, dem wir geistigen Sinn-
gehalt zuschreiben, in Tätigkeit zu setzen und zu verwirklichen ver-
mag das Leben allein.« 47
Mit dieser Klärung der Theorieaffinität zwischen Scheler und
Plessner lässt sich auch der zweite Einwand aufklären, Gehlens Theo-
rie des Menschen sei wiederum bloß »naturalistisch«, »bioanthro-
pologisch« geschlossen, Plessners hingegen »kulturalistisch« oder
sozial- und gesellschaftstheoretisch offen. Der Eindruck entsteht
möglicherweise dadurch, dass Gehlen das Prinzip des Geistes im
Kontext der virtuellen Bewegungsphantasie tatsächlich äußerst nah
in spezifischen Körperbewegungen, bereits in der senso-motorischen
Koordination des Menschen aufsucht und demonstriert. Gleichwohl
argumentiert Gehlen genauso »dualistisch« (oder genauso wenig in
dem eben erläuterten Sinn der dualen Verschränkung) wie Scheler
(oder eben auch Plessner), da er von der Autonomie des »Geistes«
als eigenes Prinzip gegenüber dem »Leben« ausgeht: »Um in den
Begriffen der neuen Ontologie N. Hartmanns zu sprechen: es kommt
uns darauf an, unbeschadet der vornherein zugestanden Unmöglich-
keit, den ›Geist‹ auf das ›Leben‹ zurückzuführen, diejenigen Katego-

46 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 38.


47 Ebd., S. 62.

Philosophische Anthropologie A 553


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

rien zu finden, die ›durchlaufen‹, die also das Zusammenbestehen


dieser Schichten möglich machen.« 48 So lässt sich festhalten: »Um
den Hiatus zwischen der Exzentrierung der Verhaltungsform in Welt
hinaus und deren Rezentrierung auf die zentrische Organisations-
form des lebendigen Körpers zurück« 49 geht es bei der Kategorien-
bildung aller hier behandelten Autoren, aber sie ist in ihrer Verhält-
nisbestimmung von ›Geist‹ und ›Drang‹ (Scheler) möglicherweise
nirgends so anschauungsnah geführt wie bei Gehlen. Allerdings gibt
es diese Naturnähe, diese bioanthropologische Nähe zur mensch-
lichen Körpernatur gerade auch in Plessners Theorie des Geistes, der
mit seiner These zu ›Lachen und Weinen‹ nicht kulturalistisch ver-
standen werden kann: Plessners philosophisch-anthropologische
Analyse zeigt, dass Lachen und Weinen – diese physiologisch ver-
selbständigten Grenzreaktionen – Monopole des Menschen und
zugleich selbst gerade keine kulturellen Künstlichkeiten oder Kons-
truktionen des Ausdrucks sind (wohl aber sozio-kulturell modifizier-
bar), sondern von der ›Natur‹ in die spezifische Körpergestalt des
Menschen eingefügte Reaktionsweisen, also gleichsam bioanthro-
pologische Krisenreaktionen – auf die Krisen seines Geistes, also nur
dem menschlichen Lebewesen mögliche Krisen und damit eben doch
nur spezifisch philosophisch-anthropologisch erschließbar.

Wenn man die Kategorienbildung der Autoren so beobachtet, wird


schließlich auch der ähnliche Begriff der Philosophie der Philosophi-
schen Anthropologie bei allen Autoren präziser bestimmbar. Bezwei-
felt wird in der Forschung eine mögliche Gemeinsamkeit z. B. von
Scheler, Plessner und Gehlen in letzter Hinsicht bezogen auf den
mitgeführten Philosophie-Begriff: Scheler sei in der Philosophischen
Anthropologie im Unterschied zu Plessner als »Metaphysiker«
(»Geistmetaphysiker«) aufgetreten (erstes Argument), Gehlen habe
hingegen im Postulat einer »empirischen Philosophie« die Philo-
sophie (anders als Plessner und Scheler) zugunsten der Erfahrungs-
wissenschaften preisgegeben (zweites Argument).
Doch wenn man sich die Art der Kategorienbildung ansieht, lie-
gen Scheler, Plessner und Gehlen hinsichtlich des Philosophie-Ver-
ständnisses im Titel »Philosophische Anthropologie« näher bei-

48 A. Gehlen, Der Mensch, a. a. O., S. 12.


49 H.-P. Krüger, Die Fraglichkeit menschlicher Lebewesen. Problemgeschichtliche und
systematische Dimensionen, a. a. O., S. 26, hier allein für Plessner reserviert.

554 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

einander als es ihre eigene Rhetorik vermuten lässt. Scheler hat zwar
durchaus Interessen gehabt an einer Metaphysik, an einer »moder-
nen Metaphysik«, an einer modernen »Metaphysik des Absoluten«,
aber er hat die »philosophische Anthropologie« nicht nur ausdrück-
lich von dieser »Metaphysik des Absoluten« getrennt, sondern sie
sogar als (transzendentale) Voraussetzung einer solchen Metaphysik
betrachtet. Mithin liegt bei Scheler nicht immer schon eine ›meta-
physische Anthropologie‹ vor, in der »philosophische Anthropolo-
gie« selbst abhängig gedacht wäre von der Metaphysik des Absolu-
ten, sondern philosophische Anthropologie fungiert umgekehrt als
›quasitranszendentale‹ Voraussetzung, als »Sprungbrett« einer sol-
chen Metaphysik. Nur diese Fundierungsordnung erklärt, warum
Scheler von »moderner Metaphysik« spricht. Nach der Kantischen
Philosophie kann eine Metaphysik keine »Gegenstandsmetaphysik«
mehr sein, sagt Scheler, sondern nur »Metanthropologie«. 50 Die
»Strukturformeln« der »philosophischen Anthropologie« – so könn-
te man mit Plessner interpolieren – »dürfen keinen abschließend-
theoretischen, sondern nur einen aufschließend-exponierenden Wert
beanspruchen« 51 – auch in der Perspektive einer solchen »modernen
Metaphysik«.
Philosophisch ist aber – um nun zum zweiten Gegenargument
zu kommen – diese »Philosophische Anthropologie« (in dieser Be-
gründungsfunktion) bei Scheler dezidiert und notorisch auf den Kon-
takt mit den Erfahrungswissenschaften eingestellt – ganz so wie bei
Plessner und eben auch bei Gehlen. Dass die Philosophie des Men-
schen – wie Gehlen sagt – »sich sorgfältig im Umkreis der Erfahrun-
gen, der Analyse von Tatsachen oder Vollzügen, die jedermann er-
reichbar oder für jedermann nachvollziehbar sind«, bewegen solle,
ist das Credo aller drei Autoren. Philosophische Anthropologie ist
mit dieser Verarbeitung der verschiedenen positiven Wissenschaften
auch bei Scheler und Plessner wie bei Gehlen »empirische Philoso-
phie«. Zugleich darf man aber im Terminus »empirische Philoso-
phie« nicht die irreduzible Funktion der Philosophie überhören, wie
gerade Gehlen selbst ausführt: Philosophische Anthropologie »ist
eine philosophische und wissenschaftliche« Unternehmung. 52 Um
zwischen den verschiedenen »Empirien«, den verschiedenen Erfah-

50 M. Scheler, Philosophische Weltanschauung (1928), GW 9, S. 82 f.


51 H. Plessner, Die Aufgabe der philosophischen Anthropologie, GS VIII, S. 39.
52 A. Gehlen, Der Mensch, a. a. O., S. 5.

Philosophische Anthropologie A 555


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

rungswissenschaften, die sich auf den Menschen beziehen, grenz-


übergreifende Kategorien zu finden, bedarf es der Philosophie als
eigener Wissensform. Um also zu einer Gesamtauffassung des Men-
schen zu gelangen, bedarf es eines leitenden Gesichtspunktes – so
Gehlen –, »der wieder aus keiner beteiligten Einzelwissenschaft ge-
nommen werden konnte, sondern ein philosophischer ist.« 53 In die-
sem Sinn ist »empirische Philosophie ein Denken in Modellen […],
die nicht aus der Einzelwissenschaft genommen sind, jedoch die In-
tegration von Ergebnissen mehrerer Wissenschaften gestatten, und
die Ableitung konkreter Fragen erlauben, die auf anderem Wege
nicht entstehen würden.« 54 In dieser originären Ableitung konkreter
Fragen, die sonst (innerhalb der Fachwissenschaften) nicht möglich
wären, ist die »Philosophie« in der »empirischen Philosophie« be-
gründend, nicht etwa nur reaktiv. Plessner hat der Philosophie der
Philosophischen Anthropologie – hier an seine ›Untersuchungen zur
philosophischen Urteilskraft‹ anschließend – dieselbe Funktion wie
Scheler und Gehlen zugeordnet, wenn er sie auf »Grenzforschung«
zwischen den »Gebieten« der verschiedenen Wissenschaften orien-
tiert, die diese von sich selbst aus – als auf ihr Spezialvokabular not-
wendig festgelegte Fach-Disziplinen – nicht überbrücken können. 55
Philosophisch in »Philosophische Anthropologie« zeigt also bei Geh-
len, Plessner und Scheler an, dass sie – obwohl offen für die Einzel-
wissenschaften und ihren Erkenntnisfortschritt – keine einzelwissen-
schaftliche Erklärung suchen oder akzeptieren, also weder eine
naturwissenschaftliche, insbesondere biologische, noch auch eine
kultur- oder sozialwissenschaftliche im Sinne z. B. einer ›historischen
Anthropologie‹ oder ›soziologischen Anthropologie‹. Im gleichen
Maße, wie die Philosophische Anthropologie das Wissen des Men-
schen für eine »Soziologisierung« freigibt, schließt sie es auch für
eine Biologisierung, für eine Psychologisierung des Wissens vom
Menschen auf, für eine Kulturalisierung und Historisierung, für eine
Technisierung oder Kybernetisierung dieses Wissens. Insofern zeigt
sich der Identitätskern des Ansatzes gerade auch im Philosophie-

53 Ebd., S. 13.
54 A. Gehlen, Besprechung: H.-G. Gadamer/P. Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie,
Bd. 6 u. 7: Philosophische Anthropologie (1975), in: Neue Deutsche Hefte, Nr. 147
(1975), S. 586–591.
55 H. Plessner, Über einige Motive der Philosophischen Anthropologie, GS VIII, S. 117–

135.

556 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

begriff, wie er von diesen drei Autoren mit Bezug auf die Philosophi-
sche Anthropologie verwendet wird.

Philosophiegeschichtlich vermuteten die Philosophischen Anthro-


pologen in dieser ihrer Art der Kategorienbildung, die in der Katego-
rie »exzentrische Positionalität« kristallisiert, eine doppelte Antwort-
findung. Nimmt man Kants klassische Definition der Anthropologie,
die den Dualismus von Naturalismus (»physiologisch«) und Idealis-
mus (»pragmatisch«) enthält, wird das deutlich. Kants Bestimmung
lautet: »Die physiologische Menschenkenntnis geht auf die Erfor-
schung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragma-
tische auf das, was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht
oder machen kann und soll.« 56 Die Philosophische Anthropologie als
Denkansatz transformiert, so könnte man interpolieren, diese dualis-
tische Definition von der Art ihrer Kategorienbildung her durch zwei
einander entgegenkommende Verschränkungen, die sich so reformu-
lieren lassen: Die ›physiologische (oder biologische) Anthropologie‹
geht dann darauf, wie die Natur den Menschen so macht, dass er
etwas aus sich selber machen muss und kann; die ›pragmatische‹ An-
thropologie untersucht nun umgekehrt, was er als freihandelndes
Wesen aus seiner Natur in der Natur macht – als Kultur und Ge-
schichte. Oder wenn man es als Denkbewegung in der spezifisch phi-
losophiegeschichtlichen Herausforderungssituation nachzeichnet:
Wo immer eine Denkrichtung die Idee des Menschen ›abbaute‹, he-
runterführte auf Elemente und Materien, zog ihr die Philosophische
Anthropologie von unten aufbauend entgegen und verwandelte die
›Materien‹ (Sinne, Anschauungen, Gefühle, Verhalten usw.) in ein
›materiales Apriori‹, eine Konstitutionsform im Material, eine Bedin-
gung der spezifischen Möglichkeit der menschlichen Welt. Und im-
mer, wenn eine Denkrichtung die Idee des Menschen durch die mate-
rial gegebenen Verhältnisse teleologisch hochzog, zur Vollendung,
zur Selbstverwirklichung, zur ›Aufhebung‹ aller Zwischenstufen hin,
setzten Philosophische Anthropologen den Fuß kategorial einen
Schritt zurück zur Unaufhebbarkeit der Stufung überhaupt als koprä-
senter Bedingung des Menschen – der Gebundenheit an den lebendi-
gen Körper. Die ›Natur‹ ist sogesehen nicht nur eine Ausgangslage,
die von der Bewusstseins- und Zeichengeschichte überschritten, ne-

56I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, hrsg. v. K. Vorländer, Hamburg


1980, S. 3.

Philosophische Anthropologie A 557


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

giert und aufgehoben wird, sondern die ›Natur‹ ist in allen soziokul-
turellen, historischen und modernen Ausdrucksformen präsent und
aktuell, mit ihr muss dauernd umgegangen werden.

2.2.3 Differenz im Identitätskern

Insofern die Hauptautoren in der Art der Kategorienbildung koinzi-


dieren, gehören sie einem Denkansatz an. Andererseits gibt es in
ihren Aussagen unübersehbare Differenzen. Zunächst ist nach der
ersten Klärung festzuhalten, wo die systematischen Differenzen
nicht liegen: Es ist nicht die Differenz zwischen Philosophie und em-
pirischer Forschung, die die Denker trennt, und es ist auch nicht – wie
gesehen – die Differenz zwischen Naturalismus und Kulturalismus,
die sie systematisch unterscheidbar macht. In Frage steht, ob sich die
unbestreitbare Heterogenität zwischen den Autoren als Differenz
systematisch vom Identitätskern her explizieren lässt. Das wäre –
nach der Zugehörigkeitsprobe – eine weitere Probe auf den Identi-
tätskern der Philosophischen Anthropologie.
Die jeweiligen Leitbegriffe der Autoren für den Weltbezug, den
Selbstbezug und den Sozialbezug des Menschen unterscheiden sich
erheblich. Geht man ihre Aussagen zum Weltverhältnis des Men-
schen durch, so spricht Scheler vom »Weltgrund«, Plessner aber von
der Erscheinung der Welt durch das Polster der Sinnesqualitäten,
Rothacker von verschiedenen »Weltbildern«, Gehlen von »fest-
gestellter« Welt, Portmann vom »Mediokosmos«. Das Selbstverhält-
nis des Einzelmenschen begreift Scheler im Begriff der »Person«,
Plessner in dem des »Schauspielers«, Rothacker sieht das »Individu-
um«, Gehlen den »Charakter«, Portmann kennzeichnet es als »On-
togenie«. Das Sozialverhältnis zeichnet Scheler grundlegend von den
»sympathetischen Gefühlen« her aus, Plessner hingegen als distanz-
wahrende »Öffentlichkeit«, Rothacker im Begriff vertrauter und
fremder »Kulturen«, Gehlen im Begriff der »Institution«, Portmann
im Begriff des »sekundären Nestes« der »Generationen«.
Der Vorschlag ist, die systematischen Differenzen zwischen
Scheler, Plessner, Gehlen, Rothacker und Portmann an dem gemein-
samen Denkort zu suchen, den sie vom Ansatz her teilen. Wenn Phi-
losophische Anthropologie als Denkansatz notwendig die Vorausset-
zung einer philosophischen Biologie impliziert, könnten sich die
Differenzen über den »Funktionskreis des Lebendigen« aufklären

558 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

lassen. Die These ist: Wenn alle genannten Denker in der Art der
Kategorienbildung prinzipiell koinzidieren, dann käme die »erkennt-
nispolitische Differenz« 57 zwischen ihnen dadurch zustande, welchen
Aspekt des Lebendigen sie im Pflanze/Tier/Mensch-Vergleich beto-
nen bzw. an welchem Aspekt des Lebendigen sie die Gebrochenheit
und Überbrückung des Funktionskreises in die Sphäre des Menschen
hinein verfolgen.
Systematisch ausgedrückt, lassen sich am Korrelationsverhält-
nis zwischen Organismus und Umwelt mindestens folgende Akzente
unterscheiden. Erstens lässt sich betonen, dass im Funktionskreis Le-
bendiges über den Wahrnehmungs- und Bewegungszirkel tatsächlich
in einem real-intentionalen Kontakt mit Anderem seiner selbst steht;
über die materielle Verknüpfung hinaus ist dem Organismus tatsäch-
lich Umwelt als Ausschnitt der Wirklichkeit gegeben, und in seiner
Zuwendung erreicht der Organismus tatsächlich unmittelbare Teil-
habe an der Wirklichkeit. Zweitens lässt sich der Akzent darauf set-
zen, dass – was unüber-sehbar und unüber-hörbar ist – dem Organis-
mus das gegebene Wirkliche immer nur erscheint, dass es also nur
vermittelt über die Sinnesqualitäten an ihn herankommt und er an-
dererseits immer nur vermittelt, über die Ausdrucksfläche seines
Körpers in der Welt erscheint. Drittens kann die Betonung aber auch
darauf liegen, dass – nimmt man die Artverschiedenheit der Orga-
nismen in den Blick – Wirklichkeit je nach Funktionskreis verschie-
den sich darbietet bzw. die Funktionskreise verschieden, in bunter
Mannigfaltigkeit in der Wirklichkeit auftreten. Viertens lässt sich
bemerkenswert finden, dass der Funktionskreis im Wahrnehmungs-
und Bewegungskontakt mit seiner Umwelt überhaupt funktioniert,
und schließlich kann man fünftens darüber erstaunt sein, dass der
Funktionskreis nicht sofort da ist, als der, der er ist, sondern erst in
der Zeitgestalt einer individuellen Entwicklung auftritt; Wirklichkeit
entwickelt sich in das Lebewesen hinein und es entwickelt sich in die
Wirklichkeit hinaus.
So vorbereitet, lässt sich die wesentliche Differenz zwischen den
Autoren als eine Differenz innerhalb des Denkansatzes der Philoso-
phischen Anthropologie darstellen. Wenn gilt: »Als Ganzer ist der
Organismus […] nur die Hälfte seines Lebens« 58 , dann bedeutet die

57 W. Eßbach, Der Mittelpunkt außerhalb. Helmuth Plessners philosophische Anthro-


pologie, a. a. O., S. 16.
58 Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 194.

Philosophische Anthropologie A 559


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

»Stellung des Menschen im Kosmos« für alle, dass mit der Aufgebro-
chenheit des lebendigen Funktionskreises für den menschlichen Or-
ganismus eine neue Begegnungslage mit neuartigen Korrelationsver-
hältnissen da ist: tierische Umwelt wird Außen-»welt«, tierisches
Erleben wird Innen-»welt«, Artgenossen werden Mit-»welt«.
Dann wird klar: Schelers Schwerpunkt auf der Ebene des unter-
brochenen Lebenskreises ist, ob und inwiefern das so gestellte
Lebenssubjekt im aufgebrochenen Korrelationsverhältnis seine Kor-
relatkerne – die äußere Welt, die Innenwelt, den Anderen – tatsäch-
lich erreicht. Ihn interessiert, ob und inwiefern ein Lebewesen, wenn
sein »Mittelpunkt außerhalb« 59 liegt, dadurch eine mögliche reale
Teilhabe-Chance an der Unmittelbarkeit von Welt, eigener Seele
und Mitmenschen gewinnt. Plessner hingegen verfolgt auf der Ebene
des unterbrochenen Lebenskreises den sinnlichen Erscheinungscha-
rakter von Welt in diesem Lebenssubjekt und den sinnlichen Erschei-
nungscharakter dieses Lebenssubjektes in der Welt und vor den An-
deren. Vom Mittelpunkt außerhalb seines Leibkörpers sieht das
Lebewesen auf die unaufhebbaren »Grenz-flächen«, an denen es
selbst erscheint, an denen Welt ihm erscheint; Plessners Vorzugsthe-
ma ist, dass und inwiefern die aufgebrochenen Korrelatkerne – Welt,
Innenzone und Anderer – in der vermittelnden Erscheinung nur dann
unmittelbar offenbar werden, indem sie sich in ihr zugleich verhül-
len. Rothacker hingegen erforscht in seinen Arbeiten systematisch,
dass und wie der aufgebrochene Funktionskreis des Lebens auf der
Ebene des Menschen notwendig je verschieden überbrückt und ge-
schlossen wird. Der Mittelpunkt außerhalb erzwingt, aber ermöglicht
auch immer andere Vermittlungen; Rothacker sammelt gleichsam die
im Prinzip unerschöpflich verschieden kulturell vermittelten Korre-
lationskontakte zur Welt, zum Selbst, zum Anderen. Gehlen aber legt
den Finger darauf, ob und inwiefern die Unterbrochenheit des Funk-
tionskreises durch künstliche Überbrückung überhaupt neu funktio-
nieren kann. Der Mittelpunkt außerhalb ermöglicht, aber erzwingt
auch eine neue Stabilisierung – akrobatengleich; er verfolgt, wie das
Lebenssubjekt das Verhältnis zu den aufgebrochenen Korrelations-
kernen – der Welt, des Selbst, des Anderen – künstlich sichern und
halten kann. Portmanns Denken schließlich kreist schwerpunktmäßig
um die Frage, wie unter der Voraussetzung, dass jedes Lebewesen eine
»Zeitgestalt« ist, der ›aufgebrochene‹ Lebenskreis in der Zeit sich ent-

59 Zu dieser Formel vgl. W. Eßbach, Der Mittelpunkt außerhalb, a. a. O., S. 16.

560 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

wickelt und nur durch eine ideographische Entwicklung, durch Sein


in Zeit das Verhältnis zu Welt, Selbst und Anderen überbrückt.

Aus dem je gewählten Akzent, unter dem die Autoren die Aufgebro-
chenheit und Überbrückung des lebendigen Funktionskreises unter-
suchen, resultiert wesentlich die Differenz, in der sie die Phänomene
der menschlichen Sphäre ansprechen. Deshalb findet man in ihren
Texten je verschiedene Leitbegriffe für das Welt-, Selbst- und Mit-
verhältnis.

Weil Scheler über den Realkontakt des Lebendigen erstaunt ist, ver-
folgt er hinsichtlich des Weltverhältnisses die unhintergehbare, ge-
tastet »fühlbare« Widerstandserfahrung des Lebendigen (Inbegriff
des Realkontaktes) im Auf- und Umbruch zur Gegenständlichkeits-
fähigkeit des menschlichen Lebewesens (Inbegriff der Wesens-
erschließung) und folgt dieser Spur konsequent zur möglichen Er-
reichbarkeit eines »Weltgrundes«. Durch die Negation des Geistes,
für deren Vollzug dieser sich die Macht vom Leben anverwandelt,
verwandeln sich die Widerstandserlebnisse der Wirklichkeit zum
»intentionalen Fühlen« 60 , in das die Welt offen hineinsteht. Anders
gesagt: Schelers Philosophische Anthropologie weist zunächst über-
haupt den Ursprung von Hintergrundfragen, von Metaphysik auf.
Die Aufstufung des »biopsychischen Aufbaus« führt – im »Um-
schwung« des Geistes – im menschlichen Lebewesen – zur Erfahrung
der Ortlosigkeit und damit notwendig in die Bodenlosigkeit des
»Weltgrundes« – zum »weltexzentrisch gewordenen Seinskern«.
Der philosophisch-anthropologisch konstruierte Rückstieg des Sub-
jekts ins konkrete Lebenssubjekt (die Konkretisierung des Transzen-
dentalsubjekts) rekonstruiert die Bedingung der Möglichkeit der
Transzendenz, des Überstiegs dieses Lebewesens in den Seinsgrund,
zu »›Fenstern ins Absolute‹« (Hegel). 61
Dementsprechend spricht Scheler das Selbstverhältnis als »le-
bendiges Aktzentrum« an, durch das die »Person« 62 in der Fülle ihres

60 Vgl. den 1933 herausgegebenen Nachlaßtext von M. Scheler, Ordo amoris, in: Ders.,
Schriften aus dem Nachlaß, Bd. 1: Zur Ethik und Erkenntnislehre, GW 10, S. 345–376.
61 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 82–83. – F. Hammer,

Theonome Anthropologie? Max Schelers Menschenbild und seine Grenzen, Den Haag
1972.
62 M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913/1916),

GW 2, S. 397–411.

Philosophische Anthropologie A 561


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

»intentionalen Fühlens« durch Mitvollzug inmitten des Weltverhält-


nisses den Selbstkontakt erreicht. Schelers Interesse ist ganz den
»Gefühlen« wie »Scham« oder »Reue« zugewandt, in denen das
menschliche Lebewesen sich in einer Weise selbst berührt, wie es
keinem Tier und keinem Engel möglich ist: »Etwas wie eine Unaus-
geglichenheit und eine Disharmonie des Menschen zwischen dem
Sinn und dem Anspruch seiner geistigen Person und seiner leiblichen
Bedürftigkeit gehört also zur Grundbedingung des Ursprungs dieses
Gefühls.« »In aller Scham […] findet ein Actus statt, den ich ›Rück-
wendung auf ein Selbst‹ nennen möchte« – eine Individuierung der
Person. »Nur weil zum Wesen des Menschen ein Leib gehört, kann er
in die Lage kommen, sich schämen zu müssen; und nur weil er sein
geistiges Personsein als wesensunabhängig von einem solchen ›Lei-
be‹ erlebt […], ist es möglich, daß er in die Lage kommt, sich schä-
men zu können. – Darum berühren sich in der Scham auf merk-
würdige und dunkle Weise ›Geist‹ und ›Fleisch‹, Ewigkeit und
Zeitlichkeit, Wesen und Existenz.« 63
Das Sozialverhältnis der Menschen gründet folgerichtig für ihn
ebenfalls in den »Sinngesetzen des emotionalen Lebens«: in den Ge-
fühlen der »Sympathie«, des »Stolzes«, des »Ehrgefühls«, der
»Angst«, des Sich-Schämens vor einem Anderen oder für einen An-
deren. Ausgeführt hat Scheler das im Medium der »Sympathie«: hier
in der menschlichen Sphäre ist die Miterregung, in der tierische
Lebewesen untereinander stehen, umgebrochen in »sympathetische
Gefühle« 64 : In »Einsfühlung« und »Gefühlsansteckung« sind
menschliche Lebewesen füreinander erschlossen, ohne dass sie sich
in ihrer Andersheit erfahren; »Nachfühlen« und »Mitgefühl« (Mit-
freude, Mitleid) entfalten nun als fühlender Mit-Vollzug der Gefühle
des Anderen (in seiner Andersheit) die Teilhabe am nicht gegen-
standsfähigen Kern des Anderen. Das Schamgefühl ist die – nur
dem Menschen mögliche – schützende Teilnahme am Personenkern,
die im Sichschämen vor einem Anderen das eigene Selbst, im Sich-
schämen für einen Anderen dessen Selbst schützt: »Scham ist also
ein Schutzgefühl für das individuelle Selbst überhaupt – nicht not-
wendig für mein individuelles Selbst, sondern für ein solches, wo
immer es gegeben ist, an mir oder an anderen.« 65 Aber noch in die-
63 M. Scheler, Über Scham und Schamgefühl, in: Ders., Schriften aus dem Nachlaß,
Bd. 1: Zur Ethik und Erkenntnislehre, GW 10, S. 65–154, S. 69.
64 M. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie (1913/16), GW 7, S. 112–124.

65 M. Scheler, Über Scham und Schamgefühl, GW 10, S. 81.

562 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

sem Schutz des Personkerns – z. B. im geschlechtlichen Körperleib –


ist die Scham, also v. a. die geschlechtliche Scham, eine Steigerungs-
bedingung der ekstatischen Liebes-Teilhabe von Menschen aneinan-
der: Die Scham ist, »wie sie einerseits genährt ist vom Geschlechts-
trieb, auch nur im Maße der Liebesfähigkeit vorhanden, und weigert
nicht etwa der Liebe, sondern der Regung des Geschlechtstriebes bis
zur Entschiedenheit der Liebe ihren Ausdruck.« 66
Der thematische Schwerpunkt der Philosophischen Anthropolo-
gie bei Scheler liegt also – um es zusammenzufassen – auf dem Auf-
weis der Bedingung der Möglichkeit von Metaphysik und dann auf
der Entfaltung dieser Chance des menschlichen Lebewesens auf
»Teilhabe« am Sein, die »sich selbst und sein eigenes Sein transzen-
dierende Teil-nahme […], die wir im formalsten Sinne Liebe nen-
nen.« Voraussetzung für dieses »metaphysische« Potential ist aber
der Lebensfunktionskreis, in dem das Organische, das sich auf seinen
Grenzabschluss kapriziert, selbst bereits im Antriebsleben an Ande-
res seiner selbst rührt. Die Theoriekonstruktion zielt statt auf Abbau
auf Triebe auf Aufbau als »Liebe« – im formalsten Sinn. Die »Sonder-
stellung des Menschen« im Kosmos bedeutet für dieses lebendige
Seiende dann »gleichsam Sprengung der Grenzen des eigenen Seins
und Soseins«, die Tendenz in diesem »Seienden […] aus sich hervor-
und herauszugehen zur Teilhabe an anderem Seienden«. Schelers
Grundgedanke in der ›Stellung des Menschen im Kosmos‹ ist gerade
für seine Begründung einer »modernen Metaphysik« zentral (inso-
fern ist diese Schrift für seine gesamte eigene Philosophie eine
Schlüsselschrift). Die exzentrische Stellung dieses Lebewesens führt
zum »ekstatischen Wissen« 67 , das selbst erst durch einen reflexiven
Akt zur Gegebenheit kommt und reguliert werden kann. Dieser bio-
philosophische und philosophisch-anthropologische Aufweis der Ex-
zentrizität eines Dinges im Kosmos ist die Bedingung für das, was
Scheler schon früher – vor der philosophisch-anthropologischen
Kehre – als »kosmovitale Einsfühlung« angesprochen hat: dass der
Mensch als Mikrokosmos »auch selber kosmomorph ist und als kos-
misches Wesen auch Quellen des Erkennens für alles besitzt, was das
Wesen des Kosmos ausmacht.« 68 Doch erst durch die Philosophische
Anthropologie erschließt sich nach Scheler die »metaphysische Son-

66 Ebd., S. 101.
67 M. Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft, GW 8, S. 204.
68 M. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, GW 7, S. 113.

Philosophische Anthropologie A 563


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

derstellung des Menschen« 69 : er erfährt, dass »das Ganze der Welt im


Menschen als einem Teil der Welt voll enthalten« ist. 70 In ihm, als
der »Komplexion und Totalität« aller »Strukturen des Seins« 71 »be-
gegnen und schneiden« 72 sich alle erkennbaren und bekannten
Wesensformen: das anorganische Sein, alle Formen des psycho-
physischen Seins (der das Wirklichkeitserlebnis ermöglichende Ge-
fühlsdrang, der Instinkt, das assoziative Gedächtnis, die praktische
Intelligenz) und der allen Stufen des biopsychischen Lebens ent-
gegenstehende, nicht zu vergegenständlichende Geist, der diesem
komplexen Lebewesen Welthabe oder »Weltoffenheit« ermöglicht.
So gesehen ist Schelers philosophisch-anthropologische Kategorie
»Weltoffenheit« von zwei Seiten aus zu verstehen: dieses Lebewesen
ist zur Welt hin geöffnet, und zugleich öffnet sich – im jeweiligen
»ordo amoris« einer Kultur oder einer Biographie – die »Welt«, der
Kosmos mit seinen »Liebenswürdigkeiten« 73 in die Aufgebrochen-
heit des »intentionalen Fühlens« dieses Lebewesen hinein. Da diese
Öffnung der Welt mit ihren Sach- und Wertqualitäten in das Lebens-
subjekt hinein nur durch das »Neinsagenkönnen« ermöglicht wird,
gehört zur »Sonderstellung des Menschen« komplementär das Jasa-
genkönnen, die Affirmation der Welt in einer Weise, wie sie keinem
anderen Lebewesen möglich ist. Insofern kann Scheler von seinem
thematischen Schwerpunkt her vermuten, dass der Mensch »Mitbild-
ner, Mitstifter und Mitvollzieher einer im Weltprozess und mit ihm
selbst werdenden […] Werdefolge« des Kosmos ist: »In seinem
Menschsein, das ein Sein der Entscheidung ist, trägt der Mensch die
höhere Würde eines Mitstreiters, ja Mitwirkers Gottes, der die Fahne
der Gottheit, die Fahne der erst mit dem Weltprozeß sich verwirk-
lichenden ›Deitas‹, allen Dinge vorzutragen hat im Wettersturm der
Welt.« 74

Plessners Philosophische Anthropologie ist von einem ganz anderen


Leitthema durchzogen: dass die Welt dem Menschen in Erscheinun-
gen gegeben ist und dass er umgekehrt in der Welt als Ausdruck
erscheint. Nur dem »Engel« ist Welt als »Inbegriff des Wirklichen

69 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 11.


70 M. Scheler, Die Formen des Wissens und der Bildung (1925), GW 9, S. 90.
71 M. Scheler, Zu ›Idealismus-Realismus‹, GW 9, S. 275.
72 M. Scheler, Philosophische Weltanschauung (1928), GW 9, S. 83.
73 M. Scheler, Ordo amoris, GW 10, S. 351.
74 M. Scheler, Philosophische Weltanschauung (1928), GW 9, S. 83 f.

564 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

in seiner Unverhülltheit« gegeben – »unsere Welt ist dagegen in Er-


scheinungen gegeben, in denen sich das Wirkliche gebrochen durch
das Medium unserer Wahrnehmungsweisen und Aktionsrichtungen
manifestiert, […] ohne jedoch an dieser Vermittlung die unmittel-
bare Manifestationskraft [der] Wirklichkeit einzubüßen.« 75 Weil
Plessner vom sinnlichen Erscheinungsverhältnis der Organismus-
Umwelt-Korrelation ausgeht, verfolgt er im Hinblick auf das Welt-
verhältnis konsequent das differenzierte Erscheinen der Welt an den
»Grenzflächen« des senso-motorischen Organismus. Der Umbruch
der sinnlichen Modalitäten des Tieres (Auge, Ohr, Tastsinn usw.)
führt beim Menschen zu einer »Durchbrechung der Grenzschicht
zwischen Innen und Außen«, in der die Welt in ihrer Ferne, Nähe
und Fernnähe im Menschen in strukturell differenten Erscheinungs-
modalitäten erscheint, die diesem Lebewesen zugleich je bestimmte
Spielräume (Distanz, Resonanz, Selbstkontakt) in der Welt eröff-
nen. 76 In der Musik als Vergeistigung des resonanzbildenden Gehörs
gelangt Welt ins Lebewesen als unmittelbar vermittelt eindringend
Vernehmbares, zum tanzenden Mitvollzug Motivierendes, in der
Geometrie als Vergeistigung der Blickdistanz des Sehsinns erscheint
Welt im Modus beherrschbaren Zugriffs. 77
Vom sinnlichen Erscheinungsverhältnis her spricht Plessner
dementsprechend das Selbstverhältnis als »Futteralsituation« 78 an:
das Selbst, das sich im Leib spürt und zugleich, vom exzentrischen
Punkt aus, Zuschauer dieses Leibes als eines Körpers ist, hinter des-
sen Überzug (Futteral) es sich selbst immer verborgen bleibt 79 , er-
fährt sich selbst nur als »Schauspieler« 80 , der in dieser brüchigen
Lage eine sinnhafte »Verkörperung« vollbringt; nur in dieser zur

75 H. Plessner, Die Frage nach der Conditio humana, GS VIII, S. 187 f.


76 H. Plessner, Zur Anthropologie der Musik, GS VII, S. 187.
77 H. Plessner, Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes,

GS III, S. 7–315.
78 H. Plessner, Der Mensch als Lebewesen. Adolf Portmann zum 70. Geburtstag,

GS VIII, S. 321.
79 H. Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, GS V,

S. 7–133.
80 H. Plessner, Zur Anthropologie des Schauspielers (1948), GS VII, S. 399–418. –

Ders., Zur Anthropologie der Nachahmung (1948), GS VII, S. 389–398. – Bezeichnen-


derweise verfolgt Plessner dieses schauspielerisch-beherrschte Selbstverhältnis bis in
die Krisen hinein: In geistigen Krisen unbedrohlicher, aber mehrdeutiger oder unver-
mittelter Lagen überbrückt der unartikulierte, verselbständigte Körperausdruck des La-
chens oder Weinens ›stattdessen‹ die Situation.

Philosophische Anthropologie A 565


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

Schau gestellten Verkörperung erscheint das Selbst, das in ihr


zugleich verhüllt bleibt. Gemeint ist »ein Wesenszusammenhang
zwischen exzentrischer Positionalität und Ausdrücklichkeit als Le-
bensmodus des Menschen, […] ein Bedürfnis nach mimischer Dar-
stellung, überhaupt nach Darstellung bzw. Wiedergabe erlebter Din-
ge, beunruhigender Gefühle, Phantasien, Gedanken, das nicht mit
dem gleichen Recht auf die Sozialität zurückführbar ist.« Von dieser
»Ausdrücklichkeit als Lebensmodus« »hängen Grad und Art der Ent-
faltung künstlerischer Leistungen ab.« 81
Hinsichtlich des Sozialverhältnisses verfolgt Plessner vom Ak-
zent sinnlichen Erscheinens den Umbruch der wechselseitigen Be-
merkbarkeit und Miterregbarkeit (im Ausdrucksverhalten der Tiere)
zur wechselseitigen Durchschaubarkeit in der menschlichen Sphäre
erscheinender Körper: Menschliche Lebewesen streben nach Aner-
kennung ihrer Besonderheit und schämen sich voreinander, fürchten
in ihrer Unergründlichkeit durch den Blick des Anderen festgelegt zu
werden. Zur exzentrischen »Positionalität« gehört sozialtheoretisch
deshalb – unter dem zentralen Gesichtspunkt des Erscheinens – die
Notwendigkeit der »Pose«, des Posierens vor den Anderen. »Die Phi-
losophie der Kleider ist die Philosophie des Menschen«, zitiert er
zustimmend den niederländischen Philosophen G. v. d. Leeuw, »im
Kleid steckt die ganze Anthropologie.« 82 Deshalb beschäftigt Plessner
das Sozialverhältnis als »Öffentlichkeit« 83 , nicht als Sphäre rückhalt-
loser »Offenheit«, sondern als ein zwischen den Menschen fingiertes
Erscheinungsverhältnis der »Masken« und »Rollen«, in deren typi-
sierten Repräsentationsformen vermittelter Unmittelbarkeit die Ex-
treme des Gesehenwerdenwollens und Verhülltbleibenwollens ba-
lanciert sind.
Der thematische Schwerpunkt der Plessnerschen Philosophi-
schen Anthropologie liegt – zusammengefasst – also darin, dass
menschliches Lebewesen und die Welt füreinander »erscheinen« –
in »vermittelter Unmittelbarkeit«. Deshalb dominieren die Themen
der »Aisthesis« (der sinnlichen Eindrücklichkeit der Welt) und der
»Expressivität« (des Ausdrucks in der Welt), die »Ästhesiologie«
und die »Ausdruckslehre« innerhalb seiner Philosophischen Anthro-
pologie. Voraussetzung für dieses Erscheinungspotential aber ist der

81 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 323.
82 H. Plessner, Zur Anthropologie des Schauspielers, GS VII, S. 413.
83 H. Plessner, Grenzen der Gemeinschaft, GS V, S. 79–112.

566 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

Lebensfunktionskreis, in dem das Organische, indem es sich auf


seinen Grenzabschluss konzentriert, selbst bereits in dieser Grenz-
schicht für den sinnlichen Empfang der Phänomenalität (der Um-
welt) angelegt ist und zugleich auf Sichtbarkeit angelegte Eigenphä-
nomenalität und Vernehmbarkeit zielende Verlautung in dieser
Umwelt disponiert ist. In Plessners »Kosmologie der lebendigen
Form« (»Pflanze, Tier, Mensch«) 84 besteht die Sonderstellung des
Menschen im Kosmos darin, dass sich ihm der Kosmos im Wege der
Sinnesqualitäten (Farben, Töne, Tastempfindungen) zugleich in sei-
nem Kern offenbart und verbirgt (hinter dem Polster der Sinnesqua-
litäten). Und die Sonderstellung besteht zugleich darin, dass umge-
kehrt das menschliche Lebewesen in den künstlich entworfenen
Grenzflächen seiner Existenz sein ›unmittelbares‹ Wesen zur »Dar-
stellung« bringt – allerdings »vermittelt«, so dass dessen Ausdruck es
(ihm selbst) zugleich auch verbirgt. Die menschliche Lebensform ist
ein Ausdrucksphänomen sui generis im Kosmos, so wie umgekehrt
der Kosmos in ihr wie in keiner anderen Lebensform »erscheint«.
Das Lächeln ist für Plessner der reflexive Ausdruck dieser einmaligen
Ausdruckslage, weil es »Abstand im Ausdruck zum Ausdruck« ver-
körpert. Von dieser philosophisch-anthropologischen Erscheinungs-
lehre her spricht Plessner auch vom menschlichen Lebewesen als
»homo absconditus«.

Wiederum einen anderen roten Faden verfolgt Rothackers Philo-


sophische Anthropologie: den der Verschiedenheit oder der Differenz
der Kulturen. Weil Rothacker auf die Notwendigkeit je verschiedener
Überbrückung des im Menschen aufgebrochenen Lebenskreises ab-
hebt (die Art der Überbrückung ist unvorhersehbar), verfolgt er be-
zogen auf das Weltverhältnis die Verschiedenheit nicht aufeinander
rückführbarer »Weltbilder«. Korrelativ zu den »Lebensstilen« tritt
die Wirklichkeit in verschiedenen Welten als verschieden »bedeut-
sam« auf. Rothackers Lieblingsbeispiel für das menschliche Weltver-
hältnis ist der Wald, der seinen Besuchern ganz verschieden er-
scheint: »Dasselbe geheimnisvolle Waldstück, die geheimnisvolle
Wirklichkeit, ist dem Bauern ein ›Gehölz‹, für den Förster ein ›Forst‹,
für den Jäger ein ›Jagdgebiet‹ […], für den Wanderer ›kühler Waldes-
schatten‹, für den Verfolgten ›Unterschlupf‹, für den Dichter ›Wal-

84 Ebd., S. 12.

Philosophische Anthropologie A 567


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

desweben‹ […]«. 85 In diesem Sinne brechen Menschen den durch den


aufgebrochenen Funktionskreis hereinbrechenden Weltstoff im je-
weiligen künstlichen »Lebensstil« zu ganz verschiedenen Aspekten,
Ansichten, Anschauungsseiten um, und Milieus, Völker und Kultu-
ren erheben derartige »Bedeutsamkeiten« und »Blickeinsenkungen«
zu jeweiligen »Welthorizonten« mit öffentlicher Geltung.
Dementsprechend ist für Rothacker das Selbstverhältnis des
menschlichen Lebewesens prinzipiell das der »Individualität« oder
»Persönlichkeit«: das menschliche Lebewesen führt und erdeutet sich
sein Leben in einem nicht ableitbaren Aspekt. 86 Unter dem Gesichts-
punkt der »Lebensstile« ordnet sich für Rothacker das Sozialverhält-
nis zentral um Vertrautheits- und Fremdheitszonen. Der Mensch ist
sozial nicht nur ein Kulturwesen, sondern ein »Kulturenwesen«, das
notwendig Andere kennt, mit denen es eine vertraute Welt teilt, und
Andere, die eine andere »erkämpfte Welt«, einen anderen »Lebens-
stil« repräsentieren. 87
Der Schwerpunkt Rothackers in der Philosophischen Anthro-
pologie liegt also in der kreativen Verschiedenheit des menschlichen
Lebewesens. Dominierend ist bei ihm das Thema der jeweiligen »Be-
wältigung einer Lage durch einen schöpferischen Einfall« 88 , der zur
Differenzbildung von Kulturen führt. Vorausgesetzt ist dabei aber
die Beobachtung der Verschiedenheit der Lebensfunktionskreise der
pflanzlichen und tierischen Organismen, die – sich auf ihre jeweils
ihnen vorausgesetzten Grenzrealisierungen kaprizierend – bereits
die Natur in je verschiedenen »Umwelten« erschließen. Seine Son-
derstellung, die das menschliche Lebewesen durch alle natürlich vor-
gegebenen Umwelten hindurch zur Welt öffnet, ermöglicht ihm –
und nötigt es zugleich – durch die kreative Setzung einer jeweiligen
»Bedeutsamkeit« eine »Weltanschauung« und einen »Lebensstil«
auszubilden, innerhalb von dessen »Wichtigkeits«-Akzenten und
Relevanzen die Lebensführung möglich wird. Für Rothacker stehen

85 E. Rothacker, Philosophische Anthropologie (Vorlesung WS 1953/54) (1964), 2. verb.


Aufl. Bonn 1966, S. 73–75.
86 E. Rothacker, Die Schichten der Persönlichkeit, Leipzig 1938, S. 54–59. Zunächst ist

jeder einzelne Mensch tief geprägt durch den »Kulturstil«, aber die Wandlungen der
Stile gehen aus neuen, von einzelnen Menschen in ihrer unhintergehbaren »Individua-
lität« situativ gefundenen Antworten hervor.
87 E. Rothacker, Probleme der Kulturanthropologie (1942), Bonn 1948, S. 185–190.

88 E. Rothacker, Das Wesen des Schöpferischen, in: Blätter für Deutsche Philosophie,

Jg. 10 (1937), S. 407–429.

568 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

»Richtigkeit« und »Wichtigkeit« im Verhältnis von »Weiß« und


»Farben«, und er interessiert sich für die hervorgebrachten »Farben«,
für die Spektralität und Differenz der verschiedenen Kulturen als
Ausdeutungen der Wirklichkeit.

Gehlen setzt in seiner philosophisch-anthropologischen Ausarbei-


tung den Akzent auf die »Riskiertheit« und »Stabilisierung« des
menschlichen Lebewesens. Weil Gehlen das Funktionieren des le-
bendigen Funktionskreislaufes im Auge behält, verfolgt er hinsicht-
lich des Weltverhältnisses, wie angesichts der Unterbrochenheit des
fraglosen Lebenskreises auf der Höhe des Menschen die leistungs-
fähige Ordnung überhaupt neu »fest-gestellt« werden kann. Die Un-
wahrscheinlichkeit von Ordnung ist sein Thema. Ihn interessiert,
wie das Lebenssubjekt angesichts einer reizüberfluteten offenen
Wirklichkeit und im unkoordiniertem Bewegungsspiel »handelnd«
durch Wahrnehmungs- und Bewegungsschleifen Wirklichkeitsmo-
mente durcharbeitet und als ȟbersehbare, andeutungsreiche und
dahingestellt-verfügbare Welt« 89 , als »wohltätige und sichernde«
»Hintergrundserfüllung« 90 sichernd aufbaut.
»Nietzsche sprach einmal vom Menschen als dem nicht fest-
gestellten Tier – das ist ein drohendes Wort. Es meint nicht nur das-
jenige sonderbare Tier, über das es keine endgültigen Feststellungen
gibt, sondern es meint auch das in sich nicht festgestellte, zur Chao-
tik, zur Ausartung bereite Tier.« 91 Das Selbstverhältnis spricht Geh-
len dementsprechend unter dem Leitbegriff des »Charakters« 92 an:
wie das Lebenssubjekt die als Innenwelt aufgebrochene, verschieb-
bare Antriebsdynamik in die »Zucht« nimmt und sich als »Charak-
ter« verstetigt. Das Sozialverhältnis schließlich, das im Lichte des
Funktionierens bei aufgebrochenen dynamischen Funktionskreisläu-
fen der Zustand wechselseitig belastender Erwartungs- und Verhal-
tensunsicherheit ist, thematisiert Gehlen folgerichtig in den Leit-
begriffen des »Rituals« und der »Institution«. 93 Die Institution hält
durch ihre künstlich gesetzte, um das rituelle Darstellungshandeln

89 A. Gehlen, Der Mensch. a. a. O., S. 47.


90 A. Gehlen, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Frankfurt a. M./Bonn
1969, S. 97 f.
91 A. Gehlen, Zur Geschichte der Anthropologie, GA 4, S. 23.

92 A. Gehlen, Der Mensch, a. a. O., S. 438–452.

93 A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen,

a. a. O., S. 33–64.

Philosophische Anthropologie A 569


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

sich bildende, verselbständigte, »entfremdete« Vermittlung den Kon-


takt zwischen den Lebewesen für einander aufrecht, indem sie sie
zugleich von spontanen Verhaltensanwandlungen und Verhaltens-
zumutungen »entlastet«, eine »Hintergrundserfüllung« bietet, so
dass sie nun als relativ problemlos interagierende Lebenssubjekte an-
schlussfähiger Handlungen auftauchen können.
Der Schwerpunkt der Gehlenschen Philosophischen Anthro-
pologie liegt also in dem Motiv der »Haltung« als Bedingung der
Möglichkeit der Freiheit; »Metaphern des Standhaltens« 94 domi-
nieren die Themenwahl (Technik, Institution). Voraussetzung ist,
dass sich bereits jeder Lebensfunktionskreis von Natur aus auf die
stabile Grenzrealisierung in einer Umwelt konzentriert – eben um
den Funktionskreis durchzuhalten. Exzentrizität eines solchen Le-
benskreises bedeutet »Riskiertheit« und damit den Zwang, künstlich
die Position dieser Positionalität durchzuhalten: »Wie ist es einem
instinktentbundenen, dabei aber antriebsüberschüssigen, umwelt-
befreiten und weltoffenen Wesen möglich, sein Dasein zu stabilisie-
ren?« 95 Gerade Gehlen ist hinsichtlich der überschießenden Erwar-
tungen einer Intellektualisierung der Weltoffenheit (wie sie sich in
der rationalen Bewusstseinsphilosophie reflektiert) skeptisch, bei
ihm klingt hinsichtlich der Riskiertheit dieses Lebewesens eine ›skep-
tische Anthropologie‹ an. Dieses Hintergrundmotiv steuert Gehlens
Suche nach institutionellen und charakterlichen Stabilisierungen des
konstitutionell von Natur aus stets fragil bleibenden Lebewesens
Mensch. Aus dem Nietzsche-Wort, der Mensch sei »das nichtfest-
gestellte Tier«, zieht Gehlen die Konsequenz, der Mensch sei in ers-
ter Linie das zur künstlichen Fest-Stellung, zum Auf-Dauer-Stellen
veranlasste Lebewesen, z. B. eine Linie des Verwandtschaftssystem
artifiziell »zu erzeugen und festzuhalten« 96 , um im Verhältnis zur
Welt, zu sich und zu Anderen einen Spielraum zu gewinnen.

94 K.-S. Rehberg, Metaphern des Standhaltens. In memoriam Arnold Gehlen, in: Kölner
Zeitschrift für Sozioloige und Sozialpsychologie, Jg. 28 (1976), S. 389–398. Vgl. auch zu
Gehlens Vorzugsthema: Ders., Existentielle Motive im Werk Arnold Gehlens. ›Persön-
lichkeit‹ als Schlüsselkategorie der Gehlenschen Anthropologie und Sozialtheorie, in:
H. Klages/H. Quaritsch (Hrsg.), Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Arnold Geh-
lens, a. a. O. S. 491–530.
95 A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur, a. a. O., S. 21.

96 Ebd., S. 204.

570 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

Das Hauptinteresse von Portmanns Philosophischer Anthropologie


schließlich ist die »Evolution der Ontogenese«, die spezifische Zeit-
lichkeit des menschlichen Lebewesens. Weil Portmann schwerpunkt-
mäßig die Unterbrochenheit des Funktionskreises im Werden verfolgt
– die Überbrückung der Unterbrochenheit als Bildungsprozess –, ist
seine Philosophische Anthropologie bezogen auf das Weltverhältnis
als Theorie des »Mediokosmos« 97 ausgearbeitet. So viele »koper-
nikanische« Wenden das menschliche Weltverhältnis im Lauf der Zeit
auch vollzieht, wie tief der Mensch auch in den Makrokosmos und
Mikrokosmos vordringt: wegen der extra-uterin herausgesetzten
Neuankömmlinge auf der Erde bleibt die menschliche Sphäre im
Weltbezug angewiesen auf die »ptolemäische« Welt, auf die von den
erwachsenen und alten, erfahrenen Lebewesen tradierte Sphäre der
Alltagswelt, durch deren soziokulturellen Uterus sich die Neu-
ankömmlinge in die Weltoffenheit hineinbilden.
Hinsichtlich des Selbstverhältnisses verfolgt die Philosophische
Anthropologie des Biologen Portmann, wie wegen der »extra-uteri-
nen Frühzeit«, aber auch wegen weiterer spezifischer Verzeitlichung
der Überbrückung des unterbrochenen Funktionskreises (in der Pu-
bertät und in der langen Altersphase) der Bio-logos, das Artgemäße,
beim Menschen strukturell notwendig zum Artgemäßen der Bio-
graphie verwandelt ist. »So steht bereits im ersten Lebensjahr das
Leben des Menschenkindes unter dem Aspekt der ›Geschichtlich-
keit‹«. 98 Wegen der Extra-Uterinität nimmt die Ontogenese des
menschlichen Funktionskreises in ihrem Eigenhaut-Kontakt und im
spezifischen Kontakt mit den reicheren Feldern von Außen- und
Sozialwelt kontingente Verläufe, so dass für die »Selbstdarstellung«
des Organischen, die der Mensch mit allem Lebendigen teilt, im Fall
des Menschen nicht mehr der typisierende Begriff, sondern die
individuierende, ideographische Erzählung der sich bildenden
»Selbstdarstellung« passend ist. Portmann lenkt hinsichtlich des
Selbstverhältnisses die Aufmerksamkeit ausdrücklich auch auf das
menschenspezifische Altern mit seiner eigenen Plastizität, den bis
zum Ende für Wandel- und Gestaltbarkeit offenen Biographie-Pha-
sen. 99 Hinsichtlich des Sozialverhältnisses schließlich rückt Port-
97 A. Portmann, Die Sprache im Schaffen des Naturforschers, in: Ders., Entläßt die Na-
tur den Menschen? Gesammelte Aufsätze zur Biologie und Anthropologie, München
1970, S. 139–153.
98 A. Portmann, Zoologie und das neue Bild vom Menschen, a. a. O., S. 76.

99 Ebd., S. 100–105.

Philosophische Anthropologie A 571


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

manns Philosophische Anthropologie das »sekundäre Nest«, die


spezifische »Insulation« (Claessens) des Mutter-Kind-Verhältnisses
in das Zentrum: komplementär zum vorzeitigen »sekundären Nest-
hocker«, dessen embryonale Plastizität auf einen sozio-kulturellen
Bildungsprozess verwiesen ist, hocken am Nest alle Generationen
der Gruppe einschließlich »alter« menschlicher Lebewesen mit einer
weit über die Generativität hinausreichenden Lebensphase, welche
die übernommenen und in ihrer Komplexität eingeübten Traditio-
nen bereithalten. 100
Der Schwerpunkt der Philosophischen Anthropologie Port-
manns liegt also in der Auswertung der naturgeschichtlich struktu-
rellen Vorverlegung des Geburtszeitpunktes, im Moratorium der Er-
wachsenenwerdung und in der vom Potential her ausgedehnten
Alterung beim menschlichen Lebewesen. Vorausgesetzt bei dieser
Beobachtung ist aber, dass jeder Funktionskreislauf des Lebendigen
überhaupt eine Ontogenese, eine individuelle Ausbildung der Grenz-
realisierung erfährt. Unter dem Aspekt der »Zeitgestalt« ist die ex-
zentrische Positionalität dann die Ontogenese intrauteriner Formen
in einer extrauterinen Konstellation. Damit ist für den Biologen
Portmann die »Natalität« (Arendt) und das Sein in Zeit, die Entwick-
lungsgeschichte jedes einzelnen Lebewesens von der Eizelle bis zur
Geschlechtsreife und der Zeit des Seins danach – die Biografie – der
interessanteste Punkt der Philosophischen Anthropologie.

Der Denkansatz ist so gesehen immer derselbe, die thematischen


Schwerpunkte aber sind signifikant verschieden. Wenn alle Denker
der im ersten Beweisschritt aufgewiesenen Art der Kategorienbil-
dung folgen und insofern einen Ansatz bilden, der sich Philosophi-
sche Anthropologie nennt, dann lässt sich die werkspezifische, we-
sentliche Differenz zwischen ihnen über den jeweiligen Aspekt des
Lebendigen explizieren, den sie in seiner Aufgebrochenheit und
Überbrückung in die menschliche Sphäre hinein verfolgen. Alle kon-
statieren in der Aufgebrochenheit des lebendigen Funktionskreises
eine schlechthin neue Begegnungslage des Lebendigen, die als Sphäre
des Menschen ansprechbar ist. Aber Schelers Forschung richtet sich
auf das intentionale Korrelat der neuen Begegnung: das Wesen der
Sache, das Sein. Plessners Forschung ist konzentriert auf die Modali-

100 A. Portmann, Um eine basale Anthropologie, in: Ders., Entläßt die Natur den Men-

schen? Gesammelte Aufsätze zur Biologie und Anthropologie, a. a. O., S. 155–167.

572 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

täten der Begegnung – die sinnlichen Erscheinungsweisen zwischen


den Korrelaten. Rothackers Interesse geht auf die immer anderen,
verschiedenen Begegnungsweisen, während Gehlens Forschung an
der haltgebenden Form der Begegnung haftet: der Sicherstellung
der Begegnung. Portmanns Forschung ist an der Entwicklung der
Begegnung interessiert und überhaupt an dem Faktum, dass in der
Evolution, in der Phylogenie dieser spezifischen Ontogenese mit ih-
rer Freisetzung einer individuell eigenzeitlichen Entwicklung des Le-
bendigen, eine Unterbrochenheit, eine Umwegigkeit des Lebenspro-
zesses sich ereignet.

Diese Differenzen sind nicht differente, andersartige Ansätze, son-


dern Schwerpunktbildungen im Identitätskern – was durchaus zu
polemischen Abgrenzungen zwischen den Autoren Anlass gibt. Aber
tiefenstrukturell bleibt in den differenten Kategorien der Ansatz der-
selbe, je nur anders akzentuiert. Plessners Prinzip der »Unergründ-
lichkeit«, Gehlens »Chaotik«, Schelers »Leere des Herzens« sind Ter-
mini für dieselbe philosophisch-anthropologische Struktur der
»Offenheit« des menschlichen Lebewesens, aber als Termini je schon
auf den jeweils fokussierten Aspekt ausgelegt: Die Plessnersche »Un-
ergründlichkeit« evoziert den immer erneuten »Ausdruck« in der
vermittelten Unmittelbarkeit, Gehlens »Chaotik« verlangt nach
»Stabilität und Ordnung«, während Schelers »Leere des Herzens«
den Raum umreißt, in den die Fülle der Welt und der »Weltgrund«
selbst einströmen kann. Plessner und Gehlen teilen nicht Schelers
Interesse, von der Konstitutionsbasis der Philosophischen Anthro-
pologie aus eine »moderne Metaphysik« zu eröffnen. Aber sie haben
beide sehr klar gesehen (und Gehlen hat es ausgesprochen), dass
Scheler die Philosophische Anthropologie des Mensch-Welt-Verhält-
nisses selbst nicht von »Gott« oder dem »Absoluten« her anlegt. Die
Autoren haben durch die verschiedenen thematischen Schwerpunkt-
bildungen letztlich die Gemeinsamkeit des Ansatzes erkannt.
Dazu hat auch beigetragen, dass den beteiligten Autoren nicht
völlig unverständlich gewesen ist, was der jeweils andere verfolgt, es
gibt Berührungen mit dem Schwerpunkt des jeweils anderen. Man
kann das z. B. an Plessner sehen, der – wenn es drauf ankommt –
durchaus Motive von Scheler oder Gehlen, Rothacker oder Portmann
teilt. Schelers Schwerpunkt, die Begegnung mit dem »Absoluten«,
taucht z. B. in Plessners Gefühlstheorie auf, wenn er Gefühle als
Möglichkeiten der exzentrischen Positionalität charakterisiert, von

Philosophische Anthropologie A 573


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

»Sachqualitäten« (des Kosmos) »durchgestimmt« zu werden. Das


»Weinen« als spezifische Ausdrucksweise des Menschen ist für ihn
geradezu die adäquate Antwort auf die nur dem Menschen mögliche
Begegnung mit dem »Losgelösten« (wie Plessner sagt), also mit dem
»Absoluten« (wie Scheler sagen würde), das in einer Situation durch
keinerlei Sinnverweisungen mehr abgefiltert wird; der ›Geist‹ gibt in
dieser für ihn fassungslosen Situation an den Körper ab, fällt ins
Weinen. 101 Für Plessner destruiert Philosophische Anthropologie
nicht die Möglichkeit der Metaphysik – im Gegenteil, sie kann sogar
in der spezifischen körperlichen Verhaltensgestalt des Weinens eine
Resonanz des »Absoluten«, des sinnfrei »Losgelösten« erkennen –
gleichsam eine ›negative Metaphysik‹ im Grenzfall des Körperaus-
drucks. Aber die (metaphysische oder religiöse) Gestaltung dieser
Begegnung mit dem Unbestimmten, Unendlichen, Unbedingten, die
eine Möglichkeit der exzentrischen Positionalität bildet, ist nicht
Plessners Schwerpunkt.
Und das Gehlensche Motiv der »Stabilisierung« ist Plessner na-
türlich bereits vor Gehlen vertraut – im Gesetz der »natürlichen
Künstlichkeit«. Plessner bestimmt den Menschen explizit als ein
von Natur aus gleichgewichtsloses Lebewesen, das »künstlich« und
nur durch das Eigengewicht der geschaffenen Einrichtungen eine
»zweite Natur« erlangen muss – um seiner Restabilisierung wil-
len. 102 Gehlens »Metaphern des Standhaltens«, das Motiv des Hal-
tens und der Haltung gehören zum Plessnerschen Begriffskern der
»Positionalität«, die die durchzuhaltende Grenzrealisierung der »Po-
sition« fordert. Die Nötigung der exzentrischen Positionalität zur
»Wiederherstellung« der zentrischen Positionalität durch künstliche
Kompensation ist ein Plessnertheorem, und die Kultur hat bei Pless-
ner immer auch ›Entlastungsfunktion‹. Dieses von Gehlen pro-
minent gemachte Motiv wird von Plessner also geteilt, aber es ist
nicht sein Schwerpunkt. Auch Rothackers Bestimmung der »Kultu-
ren« als »Lebensstile«, innerhalb derer die offene Komplexität der
Welt nur durch die geschichtlichen Horizonte einer je bestimmten
kulturellen Gesamtverfassung bewältigt wird, wird von Plessner ge-
teilt: Er spricht von der »Kultur« als »künstlicher Horizontver-
engung, die wie eine Umwelt das Ganze menschlichen Lebens ein-

101 H. Plessner, Lachen und Weinen, GS VII, S. 201–388.


102 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 321.

574 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

schließt, aber gerade nicht abschließt.« 103 Plessner muss dieses Roth-
acker-Motiv der notwendigen Schließung der Weltoffenheit und der
damit verknüpften Differenz der Kulturen teilen, weil er selbst be-
reits vor diesem die Unhintergehbarkeit von selbst geschaffenen, je-
weiligen »Vertrautheitszonen« für das »unergründliche« mensch-
liche Lebewesen aufgewiesen hat, also für ein Lebewesen, das nicht
im Status der Offenheit sein Leben führen kann. Aber diese Diffe-
renzen der Kulturen, das Spektrum der Farben, ist nicht das Leit-
thema von Plessner im Unterschied zu Rothacker, wo es kultur-
anthropologisch die philosophisch-anthropologische Ausarbeitung
dominiert. Und selbstverständlich teilt Portmann mit Plessner das
Interesse an einer Philosophie der »Erscheinung«; Portmann selbst
ist der Philosoph des »Erscheinungscharakters« bereits des subhuma-
nen Lebens und stützt damit das Plessnersche Expressivitäts-Prinzip
der »exzentrischen Positionalität«; aber Portmanns Schwerpunkt
Leitthema bezogen auf die Ebene des Menschen ist der kultur-soziale
Bildungsprozess der »extra-uterinen« Frühgeburt.

Die bemerkenswerte Differenz zwischen den Autoren ist also über


den Identitätskern der Philosophischen Anthropologie explizierbar.
Diese Differenzen sind erheblich, Schwerpunkte sind eben gravie-
rend. Und damit ist nicht gesagt, dass es nicht noch weitere Differen-
zen zwischen den Autoren gibt. Behauptet ist nur, dass ihre hier auf-
gerufene Verschiedenheit nicht gegen einen Identitätskern der
Philosophischen Anthropologie als Denkansatz spricht. Sonst wäre
es so, als ob Fichte, der die Wirklichkeit des objektiven Geistes aus
der Tathandlung der Subjektivität denkt, Schelling, der ihn aus der
Entfaltung der Natur denkt, und Hegel, der ihn als Geschichtslogik
der Selbstentfaltung eines absoluten Geistes denkt, nicht mehr ge-
meinsam zum Identitätskern des ›Deutschen Idealismus‹ gehörten,
aus deren eigentümlich dialektischen Art der Kategorienbildung sie
doch in ihrem Fall allemal ihre Schlüsselbegriffe ziehen. Das gleiche
gilt für die Kritische Theorie, wo die erheblichen Differenzen z. B.
zwischen Horkheimer, Adorno und Marcuse aus dem Identitätskern
einer materialistisch arbeitenden »negativen Dialektik« explizierbar
wären.

103 H. Plessner, Die Frage nach der Conditio humana, GS VIII, S. 189.

Philosophische Anthropologie A 575


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

2.2.4 Differenz zu anderen Denkansätzen

Soweit der Vorschlag, den Identitätskern der Philosophischen An-


thropologie in der Differenz der Autoren und umgekehrt deren of-
fensichtliche Differenz im Identitätskern selbst aufzuweisen. Die
letzte Probe auf den Identitätskern der Philosophischen Anthropolo-
gie ist ganz einfach. Konturscharf tritt der Denkansatz philosophie-
systematisch erst im Vergleich mit anderen Denkrichtungen hervor.
Im kategorial geführten Theorievergleich kann die unverwechselbare
Art der Philosophischen Anthropologie, Sachverhalte anzugehen
und durchzuordnen, kenntlich werden. Im Ansatzpunkt, im katego-
rialen Griff wird eine Denkrichtung eingeschlagen, die alternativen
Denkansätzen von ihren Grundbegriffen aus so nicht möglich ist. Die
Eigentümlichkeit der Philosophischen Anthropologie lässt sich frei-
legen also auch im Vergleich mit anderen Denkansätzen und ihren
Grundbegriffen – mit Neukantianismus, Logischem Empirismus,
Idealismus, Evolutionsparadigma, Lebensphilosophie, Phänomenolo-
gie, Existenzphilosophie, Pragmatismus, Philosophischer Hermeneu-
tik, Kritischer Theorie, Intersubjektivitäts- oder Alteritätstheorie,
Strukturalismus oder Systemtheorie. Der nachfolgende, abschließen-
de Durchgang durch die konkurrienden Paradigmen ist sich der An-
greifbarkeit der jeweiligen Charakterisierung bewusst, aber er muss
versucht werden, um den vermuteten und behaupteten Identitäts-
kern der Philosophischen Anthropologie so prägnant wie möglich
hervortreten zu lassen.

1. Philosophische Anthropologie unterscheidet sich vom transzen-


dentalen Idealismus; ›exzentrische Positionalität‹104 meint etwas an-
deres als reflexive Subjektivität. Im kritischen Idealismus setzt das
Bewusstsein zur Selbstvergewisserung seiner Möglichkeiten und
Grenzen bei seinen Leistungen, seinen Produktionen, an, und fragt
reflexiv von ihnen aus nach den inneren Bedingungen der Möglich-
keit, dem Apriori dieser Produktion. Das Bewusstseinssubjekt ent-
deckt sich als die erzeugende Instanz, die nach dem Maß ihrer Kons-

104 Plessners Begriff »exzentrische Positionalität« als Bezugsbegriff des kategorialen

Theorienvergleichs zu verwenden, bedeutet nicht, diesen Autor den anderen Denkern


der Philosophischen Anthropologie insgesamt vorzuziehen; sein Begriff, in dem sich –
wie gezeigt – die anderen Hauptautoren wiedererkannten, bringt den Denkansatz auf
den Punkt und ist deshalb für den Vergleich geeignet.

576 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

truktion zwischen sich und dem materialen Anderen durch Selbst-


rückbezug unterscheidet. Vom Anderen seiner selbst ist es strikt ge-
trennt, insofern es sich auf es nur nach der apriorischen Form der
eigenen Operationen, der Selbsterzeugung, bezieht. Natur, Körper
und Seele, erscheinen dann nach Maßgabe der Kategorien des pro-
duzierenden Bewusstseins, seiner Immanenz. Der Idealismus als
»Philosophie des Geistes« verlangt deshalb im Ansatz: »Jede Theorie,
die sich die Aufgabe stellt, das Wesen von Sprache, Denken, Erken-
nen, Begreifen usw. zu bestimmen, muß ihren Ausgang nehmen von
sich selbst: von der Aufklärung der Funktionen, die die so benannten
Tätigkeiten im Aufbau der Theorie selbst ausüben. Grundlage für die
Lösung ihrer Aufgabe ist und muß sein die Selbstvergewisserung.« 105
Demgegenüber setzt »exzentrische Positionalität« bei der Natur
als dem Nichtproduzierten an, dem Anderen der Produktion, und
untersucht die Natur als die Bedingung der Möglichkeit produzie-
render Subjektivität. Selbst im Vergleich zur kulturphilosophischen
Fassung des transzendentalen Idealismus bei Cassirer zeigt sich diese
Andersartigkeit der Philosophischen Anthropologie, weil sie – in Ge-
stalt einer philosophischen Biologie – mit einer »kritisch gesinnten
und kritisch fundierten Naturphilosophie« 106 operiert. Den Neukan-
tianismus erweiternd, fragt Cassirer von allen Produktionen der Kul-
tur her, nicht nur den Leistungen der Wissenschaft, auf die Bedin-
gungen leistender Subjektivität zurück, und entdeckt dabei die
menschliche Subjektivität als »symbolischer Formen« fähige produk-
tive Instanz. Für Cassirer gibt es keine genuin sinnliche Anschauung,
sondern jede sinnliche Anschauung ist immer schon mit über-
anschaulichem Sinn imprägniert. Dabei bleibt diese »symbolische
Prägnanz« durch das leistende Subjekt geprägt. Die Kulturtheorie
der ›symbolischen Formen‹ entdeckt verschiedene Formen der Sinn-
gebung, dem Material Sinn zu geben kraft Subjektivität. Die ›Ästhe-
siologie des Geistes‹ (z. B. bei Plessner) entdeckt hingegen durch
verschiedene Sinnproduktionen hindurch (Musik, Wissenschaft) ver-
schiedene Modi des sinnlichen Materials – der Natur – selbst (Farben,
Linien, Töne) – der Geist zieht also in der Produktion seine Bahnun-

105 Th. Litt, Mensch und Welt. Grundlinien einer Philosophie des Geistes, München

1948, S. 294.
106 So Cassirer Kennzeichnung 1928 für die Unternehmungen von Plessner und Sche-

ler: E. Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hrsg. v. J. Krois, in: Ders.,
Nachgelassene Manuskripte und Texte, hrsg. v. J. Krois/O. Schwemmer, Bd. 1, Ham-
burg 1995, S. 60.

Philosophische Anthropologie A 577


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

gen aus den nicht-produzierten Modalitäten des Körperleibes (Auge-


Hand-Distanzfeld, Stimme-Gehör-Zirkel). Exzentrische Positionali-
tät ist somit die Bedingung der Möglichkeit von Welt- und Selbst-
thematisierung eines Lebewesens, dem zugleich die Schranken seiner
Selbst- und Weltthematisierung (in der Scham, im Lachen und Wei-
nen) widerfahren. Die »Absperrung« des Idealismus, der mentalisti-
schen Setzung gegenüber dem Stoff, die alle Philosophischen An-
thropologen durchkreuzten, ist hier durchbrochen. Insofern ist
Philosophische Anthropologie etwas anderes als kritizistische oder
neukantianische Subjekt- oder Kulturtheorie. 107

2. Philosophische Anthropologie ist auch verschieden vom Logischen


Positivismus; ›exzentrische Positionalität‹ meint etwas anderes als
logischer Aufbau der Positivität. Vom Leitfaden des sinnlich Erfah-
rungsgegebenen, gleichsam auf der anderen Seite der cartesianischen
Alternative, von der empirischen Positivität her, sucht der logische
Empirismus in einer Kombination von exakter Beobachtungssprache,
deren Sätze durch Sinnesdaten verifizierbar sein sollen, und einer
Theoriesprache, deren Sätze widerspruchsfrei sein sollen, eine ein-
heitliche Beschreibung und Erklärung der Welt einschließlich des
Menschen – den »logischen Aufbau der Welt« (Carnap). Dem Vorbild
der Physik und Mathematik bildet die Philosophie eine »Einheitswis-
senschaft« nach und erzeugt durch sie hindurch eine »wissenschaftli-
che Weltauffassung«, die eindeutig zwischen wissenschaftlich halt-
baren, sinnlich verifizierbaren, und unhaltbaren, metaphysischen
oder auch religiösen Sätzen zu unterscheiden vermag. Durch empiri-
sche Sicherung und sprachanalytische Reinigung soll diese wissen-
schaftliche Weltauffassung das Alltagsbewusstsein vor metaphysi-
scher Desorientierung schützen.
Zwar setzt ›exzentrische Positionalität‹ auch bei der Natur an,
aber gegenüber dem Logischen Positivismus verharrt die Wahrneh-
mung nicht bei der sinnlichen Positivität des Dinges, sondern kreist
um die Positionalität des lebendigen Dinges, wie es der Anschauung

107 Plessners späte Charakterisierung von Cassirers ›Philosophie der symbolischen For-

men‹ als »anthropologische Philosophie« grenzt diese vom biophilosophisch fundierten


Projekt der »Philosophischen Anthropologie« in einer bündigen Formulierung ab (der
vermutlich auch Scheler und Plessner zugestimmt hätten): »Cassirer weiß zwar auch,
dass der Mensch ein Lebewesen ist, aber er macht philosophisch davon keinen Ge-
brauch.« H. Plessner, Immer noch philosophische Anthropologie? (1963), GS VIII,
S. 235–246, S. 243.

578 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

gegeben ist. Nicht die Physik, sondern die Biologie ist die Referenz-
wissenschaft der Philosophischen Anthropologie, weil bereits die
Biologie als Naturwissenschaft wegen des spezifischen, nicht auf Sin-
nesdaten reduzierbaren Erscheinungscharakters der Schichtenfülle
ihres Gegenstandes eigene Kategorien ausbilden muss. Am deut-
lichsten wird die Differenz der Philosophischen Anthropologie zum
neopositivistischen Denkansatz in Gehlens Programmatik einer
»empirischen Philosophie« 108 , die etwas anderes intendiert als der
philosophische Empirismus. »Empirische Philosophie« ist weder
empirische Wissenschaft noch eine auf einfache beobachtbare Sach-
verhalte rekurrierende »Einheitswissenschaft«, sondern ein philo-
sophisches Programm, das im Kontakt mit den verschiedensten wis-
senschaftlich-empirischen Erfahrungszonen philosophisch solche
»durchlaufenden« Kategorien setzen soll, die die verschiedensten
Schichten und Aspekte mit einander verbinden und darin auch mit
der Perspektive des Alltagsbewusstseins zusammenstimmen. Kraft
seiner positionalen Natur auf Orientierung, auf Bilder und Bildung
angewiesen, ist das Alltagsbewusstsein durch wissenschaftliche Phi-
losophie wohl zu korrigieren, aber nicht außer Kraft zu setzen.
»Grenzforschung« (Plessner) durch philosophische Kategorienfin-
dung zwischen den notwendig unverbundenen tatsachenorientierten
Resultaten der Einzelwissenschaften ist etwas anderes als Rückfüh-
rung aller Resultate auf empirische Letztelemente. Konsequent un-
terscheidet sich exzentrische Positionalität vom logischen Aufbau der
Positivität in der Theorie des Wissens: Wo der Positivismus seit
Comte drei Stadien des Wissens nacheinander vorstellt, in der das
fortgeschrittene dritte Stadium des positiven Wissens die vorher-
gehenden überwindet, ordnet Philosophische Anthropologie seit
Scheler drei irreduzible Wissensformen nebeneinander in einer
strukturellen Gleichzeitigkeit: Leistungswissen, Bildungswissen, Er-
lösungswissen. Der Kontrast der Philosophischen Anthropologie ge-
genüber philosophischen Programmen einer rationalistischen oder
»wissenschaftlichen Weltauffassung« wird auch darin kenntlich, dass
sie für das »jedem Leben überhaupt, auch dem Leben entgegen-
gesetzte Prinzip« statt »Vernunft« ein »umfassenderes Wort […] ge-
brauchen, ein Wort, das wohl den Begriff ›Vernunft‹ mit umfasst,
aber neben dem ›Ideendenken‹ auch eine bestimmte Art der ›An-
schauung‹ […], ferner eine bestimmte Klasse volitiver und emotio-

108 A. Gehlen, Studien zur Anthropologie und Soziologie, Neuwied 1963, S. 9.

Philosophische Anthropologie A 579


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

naler Akte wie Güte, Liebe, Reue, Ehrfurcht, geistige Verwunderung,


Seligkeit und Verzweiflung, die freie Entscheidung mitumfasst – das
Wort ›Geist‹.« 109 Insofern ist Philosophische Anthropologie vom Phi-
losophieprogramm der »wissenschaftlichen Weltauffassung« oder
des Logischen Positivismus verschieden.

3. Philosophische Anthropologie ist ebenfalls verschieden vom abso-


luten Idealismus; ›exzentrische Positionalität‹ bezeichnet etwas ande-
res als Identität der Identität und Nichtidentität. Im Versuch, den
Dualismus Natur/Geist aufzuheben, ordnet der dialektische Identi-
tätsansatz mit dieser Leitformel alle Phänomene als Prozess der auto-
nomen, autodynamischen Entäußerung und Rückkehr des Geistes zu
sich selbst. Sich nicht nur durch Selbstbezug vom Anderen abset-
zend, sondern in der Vergewisserung des Selbstbezuges das Andere
setzend, erreicht der Geist in der Rückkehr aus dem selbstproduzier-
ten Anderen seiner selbst (der Natur) das angereicherte Selbst-
bewusstsein seiner selbst, in dem das Andere erfahren, überwunden,
aufbewahrt und gesteigert – kurz: »aufgehoben« – ist. Damit ist jeder
Dualismus durch die Verwandlung in Position/Behauptung/Setzung
und Negation/Widerspruch/Entgegensetzung dialektisch integriert.
Der Mensch als »existierender Begriff« ist eine Durchgangsstufe in
dieser Prozesslogik des Geistes.
Gegenüber dieser gleichsam ›auto-zentrischen Positionierung‹
des dialektischen Geistes erkennt die Kategorie ›exzentrische Positio-
nalität‹ die Natur (Positionalität) als das dem Geist vorgegebene Fak-
tum an. Ex-zentrizität – Autonomie des Geistes – als Distanz zur
Faktizität ist eine Möglichkeit des Lebens, enthält aber selbst keine
Autodynamik, sondern bleibt zur Realisierung der »Negation« ange-
wiesen auf die Dynamik der Positionalität (Natur), die nicht »auf-
gehoben« werden kann. »Der Kraft- und Wirkstrom, der allein Da-
sein und zufälliges Sosein zu setzen vermag, läuft in der Welt, die wir
bewohnen, nicht von oben nach unten, sondern von unten nach
oben.« 110 Es gibt eine Kontingenz des Anfanges und keine Finalität
des Abschlusses. Für alle philosophisch-anthropologischen Katego-
rien, die eine Vermittlung in der Dualität der Aspekte aufweisen sol-
len, gilt Plessners Formel: »Die Einheit überdeckt […] nicht den Dop-
pelaspekt, sie läßt ihn nicht aus sich hervorgehen, sie ist nicht das den

109 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 32.


110 Ebd. S. 65.

580 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

Gegensatz versöhnende Dritte, das in die entgegengesetzten Sphären


überleitet, sie bildet keine selbstständige Sphäre. Sie ist der Bruch,
der Hiatus, das leere Hindurch der Vermittlung.« 111 Philosophische
Anthropologie verfährt »aufschließend-exponierend«, nicht »ab-
schließend-theoretisch«, sie konstatiert »Ausgleich«, nicht »Aufhe-
bung«, »Verkörperung«, nicht »Versöhnung«. Insofern ist Philoso-
phische Anthropologie etwas anderes als Dialektischer Idealismus.

4. Philosophische Anthropologie divergiert auch von evolutionärer


Verhaltens- und Erkenntnistheorie; ›exzentrische Positionalität‹
meint etwas anderes als evolutionäre Adaptivität. Für eine vom
Bioevolutionismus inspirierte, antimetaphysisch gesonnene, natura-
listische Philosophie ist es nicht nur nicht möglich, den Geist vom
Gehirn zu trennen, sondern auch nicht möglich, das Gehirn vom
Körper zu separieren. Der bioevolutionäre Blick des Naturalismus
sieht in einer »evolutionären Anthropologie« den Menschen natur-
gemäß als Körper (einschließlich des Gehirns) und in seiner psycho-
physischen Natur als Stück der Erdgeschichte. Von diesem Aus-
gangspunkt verfolgt die naturalistische Theorie als evolutionäre
Erkenntnis- und Verhaltenstheorie das phylogenetische Evolutions-
kontinuum auch im menschlichen Lebewesen. Es lässt sich so nicht
nur die Entstehung und Entwicklung der Pflanzen- und Tierpopula-
tionen, sondern auch die Genese von Menschenpopulationen ein-
schließlich der kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten
von Natur aus begreifen. Der bioevolutionäre Blick erkennt die In-
telligenzhaftigkeit bereits der tierischen Sphäre und verfolgt ihre
Gradsteigerung in der menschlichen Existenz. Wegen ihrer Natur-
verhaftetheit ist die menschliche Lebensform von den sonstigen tie-
rischen Formen nur graduell durch eine höhere Kompliziertheit,
nicht aber durch ein anderes Prinzip unterschieden. Die menschliche
Sphäre erweist sich als Resultat einer über die Mechanismen Varia-
tion, Selektion und Stabilisierung erfolgenden evolutionären Steige-
rung, eines funktional angepassten Körpers oder einer Biologik.
Demgegenüber setzt die Kategorie ›exzentrische Positionalität‹
bei der Thematisierung des Menschen zwar ebenfalls beim von ihm
Nicht-Produzierten, dem Körper, an, aber sie achtet im Begriff (Ex-
zentrik der Positionalität) systematisch auf die Diskontinuität des
Lebendigen im Tier/Mensch-Vergleich. Ex-zentrische Positionalität

111 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 292.

Philosophische Anthropologie A 581


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

ist nicht gleichsam ›supra-zentrische Positionalität‹, ein die Zentrik


überlagerndes zweites, adaptiveres Zentrum, auch wenn das Groß-
hirn das Stammhirn als Schicht hierarchisch überlagert; Exzentrizität
ist eine Sprengmetapher für den Schichtungsaufbau, ein Bruch oder
Hiatus der Positionalität. Der Mensch ist für die Philosophischen
Anthropologen das natürliche Phänomen einer Durchbrechung der
natürlichen Anpassung, nur vom Prinzip der »Körperausschaltung«
in der Natur im Unterschied zur tierischen »Körperanpassung« zu
begreifen. 112 Die Loslösung vom Körper als Regulationsinstanz der
Anpassung ist keine Loslösung von der Natur, auch nicht vom Kör-
per. Durch die Distanz im Körper zum Körper ist der Mensch die zur
künstlichen Setzung gezwungene »Gesetztheit«, er passt sich der
Umwelt an, indem er sich mit Werkzeugen, Begriffen und Zeichen
die Umwelt anpasst, bildet künstliche Milieus in der Natur aus dem
Stoff der Natur, und lebt deshalb »auf der Erde« (inmitten der Natur)
»in der Welt« (in der sozio-kulturellen Konstruktion). Insofern ist
Philosophische Anthropologie systematisch verschieden von einer
nataturalistisch ansetzenden Evolutionsphilosophie.

5. Philosophische Anthropologie ist auch nicht zu verwechseln mit


Lebensphilosophie; ›exzentrische Positionalität‹ kontrastiert der In-
tuition in den elan vital. Entlang dieses Leitfadens versucht die Phi-
losophie des Lebens die denkende Orientierung des Menschen, die in
den erstarrenden und beharrenden Formen und Schemata des Ver-
standes festhängt, in die Beweglichkeit des Vitalen zurückzuverflüs-
sigen. In seiner instrumentalen, an Gesetzmäßigkeiten ausgerichte-
ten Orientierung – so die Lebensphilosophie – erfasst der begriffliche
Verstand nur die tote, erstarrte Natur und blockiert – noch in der die
mechanische Adaptivität beobachtenden Evolutionstheorie – den
schöpferischen Lebensdrang. Erst im Zerbrechen der rationalen For-
men und Schemata, in der Anschmiegung der schauenden Intuition
(Bergson), gewinnt das Denken Erlebniskontakt mit dem Lebens-
strom. Leben erscheint als etwas, das sich von anderem abhebt und
unterscheidet, wobei ihm diese Abhebung und Unterscheidung durch
ein »Es« widerfährt, und als ein solches Phänomen des Lebens ver-
mag sich der Mensch selbst als einen Wurf der »schöpferischen Ent-

112 P. Alsberg, Das Menschheitsrätsel. Versuch einer prinzipiellen Lösung, Dresden

1922.

582 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

wicklung« des »elan vital«, des Lebensdranges als der beherrschen-


den Kraft des Universums, anzuschauen und zu vernehmen.
»Exzentrische Positionalität« teilt mit dem lebensphilosophi-
schen Konzept des elan vital das Prinzip der schöpferischen Entwick-
lung des Organischen: die Fülle der »Gesetztheiten«, die je grenzrea-
lisierend korrelativ zu ihren Umwelten existieren. Aber anders als
der ›lebensphilosophisch‹ ansetzenden Philosophie des Lebens zer-
fällt der Philosophischen Anthropologie das menschliche Leben nicht
in die Polarität von Mechanismus und Vitalität, von starrer Behar-
rung der geistigen Form und fließendem Wandel des Lebens. Leben
ist vielmehr in sich selbst »dinghaft«, es ist ein »grenzrealisierendes
Ding«, und wegen seines Grenzcharakters selbst ist Leben bereits ein
in sich gebrochenes Phänomen. Auf dem Niveau des menschlichen
Lebens sind instrumentale Neutralität (Exzentrizität) und vitale
Konkretion (Positionalität) weder koinzidierende noch inkompatible
Ordnungen. Menschliches Leben ist konstitutionell »Abstand im
Ausdruck zum Ausdruck«, Inbegriff des eigenartig gebrochenen Le-
bensphänomens, dass sich etwas von einem Anderen unterscheidet
kraft Selbstbezug/Eigenoperation auf der Basis einer Lebenskraft,
die in ihm geschieht. Insofern unterscheidet sich Philosophische An-
thropologie von der Philosophie des Lebensstromes.

6. Philosophische Anthropologie unterscheidet sich auch von der


Phänomenologie; ›exzentrische Positionalität‹ kennzeichnet etwas
anderes als Intentionalität. Im Zeichen dieser Schlüsselkategorie
wird die idealistische Subjekt-Objekt-Relation aufrechterhalten und
zugleich revidiert. Im phänomenologischen Philosophieren ver-
gewissert sich das Bewusstsein seiner selbst nicht über seine Produk-
tion des Anderen. Vielmehr nimmt es an, dass das Andere seiner
selbst dem Bewusstsein entlang seines Intentionalitätsstrahls als
Phänomen von diesem selbst her – von dort her – gegeben ist. Das
Bewusstsein vermag dann alles in der intentio recta außen und innen
Gegebene phänomeno-logisch entlang dieser Blickachse der Intentio-
nalität zu erfassen und vom intern seitlich gelegenen Punkt der in-
tentio obliqua auf die Bewusstseins-, Wahrnehmungs- oder Gefühls-
akte hin, in denen das Phänomen sich gibt, zu erforschen.
Mit der Kategorie der »exzentrischen Positionalität« setzt Phi-
losophische Anthropologie zwar ebenfalls beim Gegebenen als
Nichtproduziertem ein. Aber indem sie am Objektpol außen und
von unten her ansetzend eine Transgredienz am Objekt selbst, einen

Philosophische Anthropologie A 583


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

aufbrechenden Grenzcharakter konstatiert, der auf der Höhe des Tie-


res eine Art »Umweltintentionalität« etabliert, begreift sie diesen
Grenzcharakter des dem Bewusstsein gegenübergestellten lebendi-
gen Dinges überhaupt erst als Bedingung der Möglichkeit für die
Intentionalität des (menschlichen) Bewusstseins. Dieser Grenzcha-
rakter des lebendigen Dinges ist die Bedingung der Möglichkeit da-
für, dass (auch nichtbelebtes) Seiendes im Kosmos überhaupt in sei-
ner Phänomenalität, als »Erscheinung« erscheint, durch die hindurch
dieses Seiende dem lebendigen Etwas »gegeben« ist. Wo die Phäno-
menologie »Lebenswelt« als einen prototheoretischen, intersubjektiv
eingelebten und sich praktisch bewährenden sinnhaften Weltzusam-
menhang der Bewusstseins- oder Gefühlsintentionalität rekonstru-
iert, fundiert Philosophische Anthropologie diese »Lebenswelt« erst
in einer Welt des Lebendigen, in einer »Lebewelt« (Scheler). Gerade
Schelers späte Schrift ›Die Stellung des Menschen im Kosmos‹ doku-
mentiert diese theorieprogrammatische Ablösung der Philosophi-
schen Anthropologie von der Phänomenologie, insofern sie den Ur-
sprung der »Intentionalität« als Phänomen selbst noch einmal »im
Kosmos« kritisch nacherzeugt. Exzentrische Positionalität ist der
programmatische Ausdruck dafür, Intentionalität von »woanders«
her, außerhalb ihrer selbst zu fundieren. Insofern gibt es einen syste-
matischen Unterschied zwischen Philosophischer Anthropologie und
Phänomenologie.

7. Philosophische Anthropologie differiert folgerichtig auch von


Existenzphilosophie; ›exzentrische Positionalität‹ meint etwas ande-
res als Existentialität. Exzentrische Positionalität und Existentialität
entstehen gleichzeitig als Charakterisierungsvorschläge zum Phäno-
men des Menschen, und durch ihre gemeinsame Frontstellung gegen
Idealismus und Naturalismus liegen sie dicht beieinander. In der Pa-
rallelität von »Geworfenheit« (Heidegger) und »Gesetztheit« (Pless-
ner) wird die Ähnlichkeit vernehmbar. Und doch sind die Blick-
führungen grundsätzlich verschieden. Der existenzphilosophische
Ansatz bildet sich durch Herabsenkung der Intentionalitätsbezie-
hung des Bewusstseins in die Gestimmtheit und in die Leiblichkeit
als dessen Sorgebeziehung in der Welt (Heidegger). Was immer er
erschließen will, der existenzphilosophische Ansatz setzt – mit dieser
Vertiefung – beim Fragenden, beim »existierenden Selbst«, selbst an.
Leitend ist eine von der Verengung der Bewusstseinspsychologie los-
gelöste Existenz-psychologie, auch wenn der Wissenschaftscharakter

584 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

(einer Psychologie) wegen seiner generalisierenden Tendenz vom


existentiell gleichsam privaten Bewusstsein zurückgewiesen werden
muss. Der ›Mensch‹ als Existenz, als ›Jemeinigkeit‹, entdeckt sich so
von innen heraus an der eigenen Gestimmtheit – am eigenen Leib,
bevorzugt an dessen Endlichkeit. Der Mensch ist so gesehen das Ver-
hältnis, das sich zu sich selbst verhält, eine »Existenz«, die reflektie-
rend und entscheidend sich zu sich und in und zu Verhältnissen sich
verhält. Später weitet sich diese Existenzerhellung im Medium der
Existenzphänomenologie zum »eigenleiblichen Spüren« des »Selbst
im Leib« (Merleau-Ponty, Sartre, Schmitz, Waldenfels u. a.). Inten-
tionalität existiert insofern nur als inkarnierte Leibhaftigkeit. Es gibt
Existenzanalysen der »Leiblichkeit« und im Medium der Leiblich-
keit. Jedenfalls bedeutet Existentialität alles in allem kategorial: erst
Leib (corps propre), dann Körper als sekundäres Distanzphänomen.
Genau umgekehrt ordnet methodisch die Kategorie der ›exzen-
trischen Positionalität‹ als Leitkategorie der Philosophischen Anthro-
pologie: erst Körper, dann Leib, erst Ding und Außenwelt, dann In-
nenwelt. Die philosophisch-anthropologische Leitfrage lautet: ›Was
ist der Mensch?‹, und ihre Beantwortung ist als Denkoperation vor
die existenzphilosophische Frage: ›Wer ist der Mensch?‹ geschaltet.
Der gleichsam öffentliche, die Wissenschaft inkludierende Blick auf
den ferngestellten, nicht-menschlichen Körper als das »grenzrealisie-
rende Ding« denkt über die Stufung des organischen Körpers die Vo-
raussetzung für Leiblichkeit, also für die gespürte Erfahrung des für
sich privaten Daseins. »Leben birgt Existenz als eine seiner Möglich-
keiten.« 113 Ansatzpunkt aber bleibt der Mensch »als Ding und in
einem – Ding«. 114 Insofern ist Philosophische Anthropologie grund-
sätzlich von der Existenzphilosophie als Denkansatz unterschieden.

8. Philosophische Anthropologie differiert allerdings auch vom Prag-


matismus; ›exzentrische Positionalität‹ ist nicht zu verwechseln mit
semiotischer Pragmatizität. Mit dieser Leitlinie sieht die pragmati-
sche Philosophie die Menschen als bedürftige Lebewesen in einer
Organismus-Umwelt-Relation innerhalb einer riskanten, äußeren
Natur, semiotisch probehandelnd und miteinander koordiniert vitale
Verunsicherungen überwinden. Alle Wissensformen funktionieren
im Hinblick auf die gemeinsame praktische Überwindung dieser Irri-

113 H. Plessner, Der Aussagewert einer philosophischen Anthropologie, GS VIII, S. 390.


114 H. Plessner, Lachen und Weinen, GS VII, S. 246.

Philosophische Anthropologie A 585


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

tation, als Lösung von Problemen, und angesichts dieser Unruhe ge-
staltet sich das menschliche Leben in der optimierenden Zirkulation
zwischen Fürwahrhalten (belief), fallbezogenem Zweifel (doubt) und
neu gewonnener Überzeugung (belief). Aufgrund ihrer Leistung, das
Handeln zu instrumentieren, gilt experimentelle Wissenschaft – als
eine Wissensform der Kultur – zugleich als ihre prägnanteste. Erfah-
rungswissenschaften sind das Bezugsmodell des Pragmatismus. Inso-
fern die passenden Überzeugungen das Handeln instrumentieren,
Problemlösungen anbieten, bildet sich die menschliche Sphäre als
die interaktive Zeichenverwendung und experimentelle Praxis der
Lernbereiten aus, die in diesem Hantieren Natur und Gesellschaft
intelligent und zweckmäßig verändern.
Philosophische Anthropologie lässt wie der Pragmatismus eben-
falls die Struktur der menschlichen Sphäre vor dem Hintergrund der
subhumanen Organismus-Umwelt-Relation auftauchen, aber auf
der Ebene des menschlichen Lebewesens konstatiert die Kategorie
›exzentrische Positionalität‹ – anders als der Pragmatismus – eine
dramatische Wendung, einen »Umschwung«: Ex-zentrizität der Po-
sition bedeutet eine Leere des Zentrums, eine Lebensexistenz als »of-
fene Frage«, als »Unergründlichkeit«, als »homo absconditus«. Diese
Ex-zentrierung, diese »Leere des Herzens« oder Offenheit für die
Welt, gilt den Philosophischen Anthropologen als strukturelle Vor-
aussetzung dafür, dass die Welt durch die Umweltphänomene hin-
durch gegenständlich in diese Leere hineinsteht, und diese ontische
Teilhaftigkeit des menschlichen Lebewesens am Sein gilt als Be-
dingung dafür, dass seine Überzeugungen als Erkenntnisse praktisch
tatsächlich funktionieren können. Durch die strukturelle »Uner-
gründlichkeit« ist dieses Lebewesen, das sich in seiner »Antriebsüber-
schüssigkeit« selbst eine »offene Frage« ist, über die problemlösende
Handlung hinaus zu einer eigentümlichen Expressivität genötigt, zu
einer künstlichen Ausdruckskontur, in der es sich überhaupt erst
kenntlich und verstehbar wird und wegen der Vermitteltheit des Aus-
drucks zugleich notwendig sich auch verkennt (»Spricht, ach die See-
le, so spricht, ach die Seele nicht mehr« (Schiller)). Die Erfahrungs-
wissenschaften sind demzufolge ein konstitutiver Bestandteil, aber
ein die menschliche Erfahrung nicht erschöpfender Teil des Wissens.
Philosophische Anthropologie formiert ihren Ansatz auch ko-variant
zur Kunsterfahrung und zur Religionserfahrung des Menschen, die –
anders als die Wissenschaft – im Kern keine Optimierungsgeschich-
ten sind, noch nicht einmal im Dienst einer pragmatischen Problem-

586 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

Lösungsgeschichte stehen, sondern eine Geschichte immer erneut


einsetzender expressiver Kristallisationen oder Stilisierungen der
»Unergründlichkeit« bildet. Am deutlichsten ist die kategoriale Dif-
ferenz zum Pragmatismus bei Gehlen in der Kategorie der »Phanta-
sie« und des »Rituals« – trotz der wissenschaftsbiographisch strategi-
schen Nähe zum Pragmatismus. Die Unergründlichkeit ist
Voraussetzung dafür, dass das menschliche Lebewesen eine fingierte
Antwort setzt, sich mit einem fremden Dritten seiner selbst (dem
Totem) identifiziert, bevor eine konkrete Frage oder praktische Funk-
tion überhaupt auftaucht. Das Ritual ist im Sinne Gehlens keine zu-
nächst instrumentell geplante und experimentell sich bewährende
Einrichtung, kein Pragma, sondern eine Stiftung der Ur-Phantasie,
diesem Vermögen des Sich-Versetzens, eine leere, aber sichtbare
Norm, die – von allen gemeinsam gesehen und verkörpert – erst se-
kundär Zwecke und praktische Funktionen auf sich zieht und damit
Unruhe oder Spannung stabilisieren kann. Es gibt eine arationale,
nicht wissenschaftsanaloge und nicht direkt kontrollierbare »Erfah-
rung«, die nur dem Menschen möglich ist. Insofern hebt sich Philoso-
phische Anthropologie vom Pragmatismus ab.

9. Philosophische Anthropologie unterscheidet sich auch von herme-


neutischer Philosophie; die Formel ›exzentrische Positionalität‹ setzt
anders an als der hermeneutische Zirkel des Verstehens. Ausgangs-
punkt der hermeneutischen Grundfigur ist die sprachliche Verfasst-
heit des Menschen, in deren Expressivität er sich immer schon mehr
oder weniger verstanden hat. Modell ist die stimmliche Verlautung
als Inbegriff der Produktion des Produkts, in dem sich der Produzie-
rende selbst vernimmt. Die Bezugswissenschaft der hermeneuti-
schen Philosophie ist die Kulturwissenschaft mit der Vico-Formel,
der Mensch könne nur das verstehen, was Menschen gemacht haben
bzw. das erkennen, was er selbst gemacht hat. Das Hineinspringen in
den anfangs- und abschlusslosen Zirkel sprachlicher Verständigung
und kulturell produzierter und rezipierter Objektivationen ist das
Organon der hermeneutischen Philosophie des Menschen, jeder
Selbstvergewisserung im wirkungsgeschichtlichen Bewusstsein und
jeder ›historischen Anthropologie‹, die die Pluralität historisch und
sozial durchgesetzter Selbst- und Weltauslegungen aufdeckt.
»Exzentrische Positionalität« hingegen setzt kategorial bei einer
nicht menschlich produzierten Objektivation an, dem Organischen,
um über deren Stufung die Bedingungen menschlicher Expressivität

Philosophische Anthropologie A 587


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

einschließlich der Sprache erst zu begreifen. Philosophische Anthro-


pologie verwandelt die körperliche Dimension von einem bloß empi-
rischen Faktum in ein Organon der Philosophie, auch der Philosophie
der Sprache. Dieser von außen, umweghaft geführte Blick auch auf
die Sprache, der sie in die Möglichkeiten und Grenzen »nichtsprach-
lichen Ausdrucks« einbettet, ist charakteristisch für die Philosophi-
sche Anthropologie im Unterschied zur hermeneutischen Philo-
sophie. Am deutlichsten ist die Differenz der Philosophischen
Anthropologie zur Hermeneutik bei Rothacker, dem einzigen der
Hermeneutiker, der mit dem für die Philosophische Anthropologie
charakteristischen Blick von außen auf das Verhalten des Lebewesens
ansetzt – weshalb ihn die hermeneutische Philosophie zu Recht auch
nicht zentral zu ihren Ideenträgern zählt. Erst vor dem Hintergrund
der ›Ästhesiologie des Geistes‹, der sensomotorisch durch die Modi
des Sehens, Hörens und Tastens gestifteten »nichtsprachlichen Räu-
me« des Menschen tritt für die Philosophischen Anthropologen die
Spezifik der Sprache, »etwas« verdichtend und verschiebend zu sa-
gen, hervor. Vom Theorieblick der Philosophischen Anthropologie ist
nicht primär Sprache der Schlüssel aller Phänomene, sondern das
selbst zu erschließende Phänomen. Die fünf »Sprachwurzeln«, deren
Konstellation Gehlen rekonstruiert, meinen ›nichtsprachliche‹ »Wur-
zeln der Sprache«. Zugleich bleibt die Sprache in ihren Schranken auf
die ›nichtsprachlichen« Expressionen des ›Lachens und Weinens‹ ver-
wiesen. Überhaupt erschließt die Philosophische Anthropologie, weil
sie nicht in der Sprache ansetzt, neben der Sprachmäßigkeit des
menschlichen Lebens auch die Bildmäßigkeit, daneben auch die Mu-
sikmäßigkeit, also insgesamt die »nichtsprachlichen Räume« der
menschlichen Lebensform. Mit ihrer »philosophischen Biologie« bil-
det Philosophische Anthropologie somit das »Substrat […] einer
allgemeinen Hermeneutik« 115 , d. i. ihre Grundlegung, kann also
selbst keine Hermeneutik des Lebens sein, und ist insofern philoso-
phiesystematisch von einer hermeneutischen Philosophie verschie-
den.

10. Philosophische Anthropologie ist auch etwas anderes als Kritische


Theorie der Gesellschaft; ›exzentrische Positionalität‹ ist nicht das-
selbe wie negative Dialektik. In materialistischer Wendung der idea-
listischen Dialektik setzt die Selbstvergewisserung hier mit der Kritik

115 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 28.

588 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

der selbstentfremdeten Subjektivität an. Die kritische Dialektik be-


absichtigt, die prätendierte Selbständigkeit des aufgeklärten Ich als
gefangen im Bannkreis selbstproduzierter, aber verdinglichter Ver-
mittlungen aufzuklären. Der Zugang des Ich zu sich selbst, zur Natur
und zu anderen ist verstellt durch »Selbstentfremdung«, durch die
Erzeugung konkret historischer, losgelöster, entfremdender Produk-
tionsverhältnisse, die ›verdinglicht‹ Herrschaft über das Subjekt aus-
üben und es in falscher, ideologischer Identifizierung festhalten. In
der ideologiekritischen Durchleuchtung und Auflösung der bisherig
verkehrten menschlichen Position hält »negative Dialektik« als
Platzhalter des Nichtidentischen den Platz für die Heimkehr aus der
Selbstentfremdung, für die Richtigstellung der menschlichen Positi-
on offen: bis sich »die wahre Resurrektion der Natur, der durch-
geführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Huma-
nismus der Natur« 116 ereignet.
Die Differenz zur Philosophischen Anthropologie liegt in der
Grundfigur der Selbstentfremdung. »Exzentrische Positionalität«
schlägt kategorial nicht nur im Ansatz vor, die Autonomie des Men-
schen durch die Heteronomie der Natur hindurch vermittelt zu be-
greifen – durch das »lebendige Ding«, also eine tiefgelegte Kategorie
der ›Verdinglichung‹, sondern begreift »Entfremdung« als konstitu-
tiv für die menschliche Lebensführung. Nur durch »Verdinglichung
und Verdrängung« 117 des eigenen Leibes, nur im Umweg über Ande-
res, losgelöst Fremdes stabilisiert sich die menschliche Gleichge-
wichtslosigkeit, und nur im Schatten der entfremdeten »Institutio-
nen« und »Masken« erfasst sich das menschliche Lebewesen – über
Anderes als es selbst und anders als sein Selbst. Philosophische An-
thropologie ist insofern grundverschieden von Kritischer Theorie der
Gesellschaft.

11. Philosophische Anthropologie meint auch grundlegend anderes


als der sozialontologische Denkansatz; die Kategorie ›exzentrische
Positionalität‹ koinzidiert nicht mit Intersubjektivität, Kommunika-
tivität oder Alterität, ist nicht kongruent mit der Position oder Per-

116 K. Marx, Nationalökonomie und Philosophie (1844), in: Ders., Die Frühschriften,

hrsg. v. S. Landshut, Stuttgart 1971, S. 237: Dann ist »die Gesellschaft […] die voll-
endete Wesenheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der
durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der
Natur.«
117 H. Plessner, Die Frage nach der Conditio humana, GS VIII, S. 190.

Philosophische Anthropologie A 589


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

spektivität des anderen Menschen. Ansatzpunkt des Intersubjektivi-


tätsdenkens (ob in der Variante der dialogischen Philosophie, der Al-
teritätstheorie, der kommunikativ umgestellten Transzendentalphi-
losophie) ist dabei, das Ich des Menschen als grundsätzlich gestiftet
und vermittelt zu denken über das »Du«, über die »Veranderung« im
Umweg über das alter ego. Subjektivität gilt dann als intersubjektiv
konstituiert, das Selbstverhältnis, das Verhältnis zum Körper und das
Verhältnis zur Außenwelt sind so gesehen Produkt des eingeübten
sprachlichen Systems der Personalpronomen (Habermas), exzentri-
sche Positionalität wäre demnach immer schon symbolisch vermittel-
te Position, Identität durch Alterität gebrochen und vermittelt.
»Exzentrische Positionalität« setzt demgegenüber das »Verhält-
nis des Menschen zu seinem Körper« (Plessner) als Bedingung der
Möglichkeit von Intersubjektivität an. Da Philosophische Anthro-
pologie vom Ansatz her keine intersubjektivistische Theorie ist, ist
sie im Ansatz auch keine Theorie der intersubjektiven oder gesell-
schaftlichen Konstitution der Natur. Kraft ihres Ansatzes gelangt
die Philosophische Anthropologie zu einer anderen Problemanord-
nung. Sie knüpft die Selbstvergewisserung des Menschen genuin an
das Fremde, das Andere seiner selbst – die Natur, nicht an den Frem-
den, den Mitmenschen. Ex-zentrizität der Positionalität, »Abstand
im Ausdruck zum Ausdruck« ist die Strukturbedingung für ein Hin-
aus- und Hinübergehenkönnen überhaupt, die Position des Anderen
als andere Position realisieren zu können, und zugleich den Anderen
bei sich einzulassen. Das System der Personalpronomen als sprach-
kommunikatives System der Platzvertauschung und Perspektiven-
übernahme aktiviert diese Disposition der Ex-zentrierung, aber es
ist nicht der Grund dieser Disposition. Zugleich ist die vitale Positio-
nalität des Körpers und der Seele auch die Schranke intersubjektiver
Vermittelbarkeit. Die Phänomene der ›Scham‹ oder des ›Lächelns‹
werden von Scheler oder Plessner als spezifisch menschliche, aber
gerade nicht als intersubjektiv konstituierte rekonstruiert. Insofern
Philosophische Anthropologie nun aber den gleichursprünglichen
Aufweis von Weltverhältnis, Selbstverhältnis und Sozialverhältnis,
von Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt leistet, leistet sie eben auch
den Aufweis von Intersubjektivität. Daher ist es nicht erstaunlich,
dass alle Hauptautoren über eine Sozialtheorie verfügen (z. B. Sche-
lers Theorie des »Mitfühlens«, Plessners Theorie der »Mitwelt«,
Gehlens elementarer Begriff der »Kommunikation«), aber die Phi-
losophische Anthropologie ist selbst kein ›intersubjektivistischer‹

590 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

Ansatz, der Intersubjektivität zum Ansatzpunkt der philosophischen


Konstruktion wählt. Insofern ist Philosophische Anthropologie nicht
zu verwechseln mit der Philosophie der intersubjektiven Konstituti-
on des Menschen.

12. Philosophische Anthropologie ist auch verschieden vom Struk-


turalismus; ›exzentrische Positionalität‹ deckt sich nicht mit der
strukturellen Dezentrierung des Subjekts. Gegen die transzendentale
Selbstvergewisserung setzt hier das Denken des Menschen bei den
anonym produzierten, unbewusst wirkenden »Medien« an, als deren
Struktureffekt er erscheint. Das Leitmodell ist diesmal nicht die ge-
sprochene Sprache, die Stimme, sondern die Sprache als Struktur, als
Schrift. Leitwissenschaft des Ansatzes ist die Linguistik. Was der
Mensch ist, blitzt zwischen den Stäben der Sprachgitter auf, den
buchstäblichen Ordnungen arbiträr gesetzter und nur relational zu
anderen Zeichen bedeutender Zeichen. Naturmomente des Men-
schen jenseits der sich ordnenden und oktroyierenden Diskurse und
Einschreibungen sind für eine solche differentielle Anthropologie
nicht beobachtbar: ›Natur‹, ›Leben‹, ›Mensch‹ fungieren selbst als
diskursive Terme, die für den strukturalistischen Blick der »Histo-
rischen Anthropologie« den Körpern je historisch und sozial ein-
geschrieben sind: der Körper, die Seele und das Ich sind sozial und
kulturell anonym produzierte historische Konstruktionen. Die Ge-
schichte bricht in geschichtlich einmalige »historische Aprioris«
(»episteme«) auseinander, in die »Geschichtlichkeit«.
Philosophische Anthropologie denkt demgegenüber in den For-
meln der »natürlichen Künstlichkeit« und der »vermittelten Unmit-
telbarkeit« die Möglichkeit für »Struktur« und »Medialität« des
Menschen. Bildet Exzentrizität die Bedingung der Möglichkeit, Zei-
chenelemente arbiträr durch Gegenüberstellungen und Wechselbe-
ziehungen differentiell zu ordnen, so funktioniert wegen des »posi-
tionalen« Momentes keine solche »Struktur« ohne »Verkörperung«
als Einverleibung der differentiellen Ordnung in den Körper, wo sie
die »Motiviertheiten« und Motivierungspotentiale des natur-
geschichtlich ur-alten menschlichen Körpers aufnehmen in die Fahrt,
und zwar so, dass die »Strukturen« in dieser naturalen, ›positionalen‹
Anlehnung getragen werden und funktionieren. Die Natur des Men-
schen ist nicht etwa nur die Ausgangslage der Geschichte, der Ge-
schichte der Strukturen, die als Natur von diesen negiert und auf-
gehoben wird; Natur (als Positionalität) ist vielmehr in allen

Philosophische Anthropologie A 591


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

Strukturen ständig präsent und aktuell, läuft mit und muss ständig
verarbeitet werden. Gehlens Satz, dass »der Mensch von Natur aus
ein Kulturwesen ist«, artikuliert so wenig eine kulturalistische Posi-
tion wie Plessners »natürliche Künstlichkeit«. Der Mensch ist von
Natur aus ein Kulturwesen – in der Natur, in seiner Natur: er muss
»Struktur« unter Aktivierung des Organismus »verkörpern«. Phi-
losophische Anthropologie geht also systematisch auf die Verknüp-
fung des Sinnes mit dem Sinnlichen, auf die Verschränkung von »Ar-
bitrarität« und »Motiviertheit«. Keine »Schrift« ohne Rückbezug auf
die »Stimme«, die sie verlauten lässt, artikuliert, verkörpert. Das
»Ritual«, das Schema, muss getanzt werden und erscheint sogleich
als gestaltete Idee des bewegten Lebens, das es zum Ausdruck bringt;
bis dieser Ausdruck als bloße Zuschreibung abgeschüttelt wird, weil
vom exzentrischen Blickpunkt aus einsichtig wird, dass in der je spe-
zifischen, selektiven »Struktur« die intendierte adäquate »Expressi-
on« des Lebens aufgrund der »Vermitteltheit« nicht (oder nur selek-
tiv) erreicht werden konnte; eine neue Strukturierungsinitiative hebt
an als neue Geschichte. Insofern sie Strukturgenese und Struktur-
wandel aus der exzentrischen Positionalität selbst zu begründen
sucht, ist Philosophische Anthropologie grundsätzlich verschieden
von Strukturalismus und »Historischer Anthropologie«.

13. Philosophische Anthropologie ist schließlich auch verschieden


von der Theorie sozialer Systeme; exzentrische Positionalität ist
deutlich unterscheidbar von der Autopoiesis kommunikativer Syste-
me, in denen sich die menschlichen Angelegenheiten ordnen. Be-
zugswissenschaft der Systemtheorie ist die Soziologie, mit der sie in
konsequenter Deanthropologisierung der menschlichen Welt den
Schwerpunkt hin zur Medialität verschiebt. Demzufolge sind soziale
Systeme emergente Kommunikationszusammenhänge, die, sich
selbst beobachtend, das Problem »doppelter Kontingenz« (der Un-
absehbarkeit offener Erwartungserwartungen zwischen z. B. psychi-
schen Systemen), dem sie entspringen, lösen, indem sie es »margina-
lisieren« und die »Menschen« zur Umwelt ihrer ausschnitthaften
Kommunikationssysteme machen. Auf die so jenseits der Sinn-
Grenze hockenden Körper (organisches System) und Seelen (psy-
chisches System) greifen die sozialen Systeme via ausgebildeter
Kommunikations-Medien, je passend zu ihren Selektionsofferten,
von Fall zu Fall in Form »symbiotischer Mechanismen« zurück:
Wahrnehmungen, Gefühle, Sexualität, Gewalt.

592 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

Gegenüber diesem cartesianischen Zug der systemtheoretischen


Kategorien, die mit einem Dualismus von »Sinn« und »Sinnlichkeit«
arbeiten, setzt »exzentrische Positionalität« vom Aufbau einer phi-
losophisch-anthropologischen Kategorie her mit der Ebenenver-
klammerung ein: So wie gilt: »Leben birgt Existenz als eine seiner
Möglichkeiten« (Plessner), so enthält exzentrische Positionalität das
sich beobachtende kommunikative System als eine ihrer Möglichkei-
ten. Von der Art der Kategorienbildung her kann exzentrische Posi-
tionalität nicht durch kommunikative Systeme erzeugt oder zuge-
schrieben werden, sondern soziale Systeme finden exzentrische
Positionalität als Befund in Phänomenen vor, bringen sie zur Entfal-
tung und finden in den positionalen Potentialen (z. B. Wahrneh-
mung, Beweglichkeit, Gefühlen, Sexualität, Gewalt) ihre Deckung
und Grenzen. Exzentrische Positionalität birgt kommunikative Au-
topoiesis als eine ihrer Möglichkeiten. Deutlich wird die Differenz
von Philosophischer Anthropologie und Systemtheorie im Kate-
gorienkontrast von »Institution« und »System«. Das (psychische,
soziale) »System« der Systemtheorie operiert allein mit »Sinn«,
währen die »Institution« philosophisch-anthropologisch als Sich-
Verklammern von Sinnoperation und Sinnlichkeit vorgestellt wird.
Die Institution, obwohl von Menschen gemacht, greift nur als von
ihnen Losgelöstes, mit materiellem Eigengewicht, das in seiner sinn-
lichen Sichtbarkeit, in seiner symbolischen Repräsentanz von dort
drüben sie verpflichtet und bindet. Insofern ist Philosophische An-
thropologie von Systemtheorie verschieden.

Diese systematische Abgrenzung der Philosophischen Anthropologie


von anderen Denkansätzen und ihren Grundbegriffen heißt nicht,
dass alle Kernautoren gleichermaßen sich auf die Unterscheidung
von allen anderen Theorien konzentriert haben (soweit sie überhaupt
zeitlich in ihren Denkhorizont kamen). Sie hatten jeweils Schwer-
punkte der Abgrenzung gegenüber anderen Paradigmen, wie man z. B.
bei Plessner und Gehlen sehen kann. Bei Plessner liegt der Schwer-
punkt in der immer erneuten Präzisierung der Philosophischen An-
thropologie im Kontrast zur Hermeneutik/Historismus (Dilthey,
Misch), zur Lebensphilosophie (Bergson, Spengler), zur Existenzphi-
losophie (Heidegger, Jaspers). Gehlen reibt Philosophische Anthro-
pologie immer erneut mit dem Idealismus (Th. Litt) und mit Varia-
nten des naturalistischen bioanthropologischen Ansatzes (Lorenz,
Eibl-Eibesfeldt). Da lagen für Plessner und Gehlen jeweils die Auf-

Philosophische Anthropologie A 593


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

merksamkeit fordernden Auseinandersetzungen, die für sie je auch


lernenden Charakter hatten. Das heißt aber nicht, dass nicht Plessner
Gehlens Argumentation mit Bezug auf den Idealismus und Naturalis-
mus, Gehlen umgekehrt Plessners Argumente gegen die Hermeneu-
tik und die Existenzphilosophie alles in allem geteilt hätten. Insofern
funktionierten die Abgrenzungen gegenüber Dritten indirekt wie eine
Arbeitsteilung. Die systematische Abgrenzung der Philosophischen
Anthropologie von anderen Denkansätzen und ihren Grundbegriffen
heißt zudem nicht, dass es nicht auch gemeinsame Denkmotive zwi-
schen Denkern verschiedener Denkansätze geben kann. Insofern
bleibt es immer möglich und auch informativ, hinsichtlich der philoso-
phisch-anthropologischen Hauptautoren Denkaffinitäten z. B. zwi-
schen Scheler und Bergson, Scheler und Heidegger 118, Plessner und
Josef König 119 , Plessner und Cassirer 120, Gehlen und Dewey 121, Gehlen
und Adorno 122 , Rothacker und Gadamer, Portmann und Teilhard de
Chardin aufzudecken. Die These heißt nur: Wenn die hier behandel-
ten Denker philosophisch-anthropologisch argumentieren, dann
wählen sie einen spezifischen Griff und folgen notwendig einer Rich-
tung, die sich von anderen Denkansätzen (des 20. Jahrhunderts) un-
terscheidet. Die These ist so gemeint: Man schlage einen Text aus dem
genannten Textkorpus von Scheler, Plessner, Gehlen, Rothacker oder
Portmann auf, und man kann erkennen, dass es sich bei aller internen
Verschiedenheit von Thematik und Duktus in jedem Fall nicht um
einen Text des Neukantianismus, Logischen Empirismus, Idealismus,
des Evolutionsparadigmas, der Lebensphilosophie, Phänomenologie,
Existenzphilosophie, des Pragmatismus, der Philosophischen Herme-
neutik, Kritischen Theorie, Intersubjektivitäts- oder Alteritätstheorie,
des Strukturalismus oder der Systemtheorie handelt. Es handelt sich
vielmehr um den Denkansatz, dessen Eigenart mit Gründen, die sich
plausibel machen lassen, von den Autoren selbst als »Philosophische
Anthropologie« gekennzeichnet wurde.

118 O. Pöggeler, Scheler und die heutigen anthropologischen Ansätze zur Metaphysik,

a. a. O., S. 175–192.
119 V. Schürmann, Positionierte Exzentrizität, a. a. O., S. 83–102.

120 E. W. Orth, Philosophische Anthropologie als Erste Philosophie. Ein Vergleich zwi-

schen Ernst Cassirer und Helmuth Plessner, a. a. O., S. 250–274.


121 H. Joas, Anthropologie, a. a. O., S. 28–32. – H.-P. Krüger, Zwischen Lachen und Wei-

nen, Bd. II., a. a. O., S. 214–247.


122 Ch. Thies, Die Krise des Individuums. Zur Kritik der Moderne bei Adorno und Geh-

len, Reinbek 1997.

594 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkort der Philosophischen Anthropologie

2.3 Denkort der Philosophischen Anthropologie

Damit ist für die doppelte Klärungsaufgabe hinsichtlich des diffusen,


irrlichternden philosophiegeschichtlichen Phänomens einer ›philoso-
phischen Anthropologie‹ im 20. Jahrhundert ein Angebot gemacht.
Es erweist sich erstens als sinnvoll, zwischen einer »philosophischen
Anthropologie« als Disziplin und einer »Philosophischen Anthro-
pologie« als Theorieprogramm zu unterscheiden. Die Disziplin unter
Disziplinen (wie Erkenntnistheorie, Ethik, Ästhetik, Sprachphiloso-
phie) bildet eine Wissenschaft der »philosophischen Anthropologie«,
innerhalb derer eine nachträgliche Reflexionsgeschichte über den
›Menschen‹ organisiert wird und innerhalb derer von verschiedenen
Denkansätzen aus und in ihrer Kombination Grundlegungen der
Philosophie und der Kultur- und Sozialwissenschaften von dieser
Teildisziplin aus möglich werden.
Neben diesem Faktum einer ›philosophischen Anthropologie‹
als einer Disziplin erweist sich darüber hinaus »Philosophische An-
thropologie« als ein originäres, unverwechselbares Theoriepro-
gramm in der Theoriegeschichte des 20. Jahrhundert. Es lässt sich
ein Identitätskern des Denkansatzes angeben, der mindestens glei-
chermaßen in den einschlägigen Texten von Scheler, Plessner und
Gehlen, aber auch von Rothacker und Portmann ausgeprägt vor-
kommt. Die Differenz zwischen den Autoren lässt sich als eine sys-
tematische Differenz im Identitätskern aufklären, und der Identitäts-
kern bietet damit auch ein eindeutiges Abgrenzungskriterium zu
anderen Denkansätzen. Dieser rekonstruierte Identitätskern gibt
dem Terminus ›Philosophische Anthropologie‹ seine Prägnanz als
Bezeichnung eines eigentümlichen Denkansatzes. Und es lässt sich
dann eine Konsequenz ziehen: Wenn ›Philosophische Anthropologie‹
– als Denkrichtung – von der ›philosophischen Anthropologie‹ – als
Disziplin – in dieser Weise unterschieden werden kann, dann ist ers-
tere notwendig eine Theorie innerhalb der Disziplin ›philosophische
Anthropologie‹ (neben anderen Paradigmen) – und sie ist zugleich
darüber hinaus eine charakteristische Denkrichtung in der Erkennt-
nis- und Wissenschaftsphilosophie, in der Sprachphilosophie, in der
Kulturphilosophie, der Sozialphilosophie, der Technikphilosophie –
also in allen weiteren Disziplinen der Philosophie wie Ethik, Natur-
philosophie und Religionsphilosophie; sie ist dann auch eine Theorie-
option in der »modernen Metaphysik« (Scheler).

Philosophische Anthropologie A 595


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

Damit ist die Aufgabe vorerst erfüllt, der Philosophischen Anthro-


pologie als Denkrichtung durch Rekonstruktion ihrer Bildungs-
geschichte einen Ort in der geistigen Topographie des 20. Jahrhun-
derts zu geben. Wenn die realgeschichtliche Untersuchung (Teil 1)
einen reichen, bestimmten Bestand von Texten und Beiträgern bis
zu Filiationen hin zu einem Korpus versammelt hat, so hat sich durch
die philosophiegeschichtliche Untersuchung (Teil 2) systematisch ge-
zeigt, dass sich diese Versammlung um eine Denkungsart herum er-
eignete, die von den Kernautoren erfunden und entdeckt wurde und
Erfahrungen neu organisieren sollte. Immer dann, wenn solche auf
den lebendigen Funktionskreis bezogenen Bruch- und Nahtstellen-
kategorien vorliegen, ist das ein Hinweis auf Philosophische Anthro-
pologie. In dieser Art der Kategorienbildung, in diesem Bildungs-
prinzip, vermuteten die Teilhaber des Denkansatzes eine Antwort
auf die philosophiegeschichtliche Lage. Sie arbeiteten so mit den po-
sitiv-empirischen Erfahrungen und so in den Impulsen der Lebens-
philosophie, dass sich der Kern des Idealismus nicht als unwahr he-
rausstellte, und umgekehrt fundierten sie den Idealismus der Freiheit
in der realistischen Anlehnung an die Dimension des Körperleibes.
Die Philosophische Anthropologie ist Kritik der Wissenschaften von
der menschlichen Natur im materialen Untersuchungsfeld dieser
Wissenschaften. Sie versucht, die von Kant eingeleitete Wende von
der Theorie der Wirklichkeit zur Theorie der Wirklichkeitserkennt-
nis noch einmal in einer Theorie der Wirklichkeit zu situieren, in-
dem sie in einer kritisch gesonnenen Naturphilosophie die »Grenze«
des lebendigen Dinges als Bedingung der Möglichkeit für Phäno-
menalität überhaupt freilegt. Diese neue Denkungsart konnte im
20. Jahrhundert, in der Moderne, Funktionen übernehmen, weil sie
auf die Vereinbarkeit mit der transzendentalkritischen Richtung des
Denkens Wert legte. Die Frage, unter welchen Bedingungen etwas
für uns überhaupt zum Objekt werden kann, sucht sie durch ein in-
direktes Verfahren am Objekt selbst aufzuklären, und sie entgeht der
Gefahr intuitiver privativer Schau, indem sie am öffentlichen Schau-
en des Objekts ansetzt und die Teilhabe an diesem Blick argumenta-
tiv entfaltet. Die Autoren der Philosophischen Anthropologie begrei-
fen in allen ihren Schlüsselkategorien nicht die Vernunft, nicht die
Sprache, nicht die Struktur, nicht die (leibliche) Existenz, nicht die
Kommunikation, nicht das System, nicht die Natur, nicht das Leben,
sondern das jedermann bemerkbare »Verhältnis des Menschen zu
seinem Körper« als ontologisch dichteste Figur. Diesen menschlichen

596 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkort der Philosophischen Anthropologie

Körperleib, diesen Ort des Sich-Verklammerns von Schichten, diesen


›Abstand zum Körper im Körper‹ – oder »exzentrische Positionalität«
– als ontologisch komplexesten Ort methodisch zu erschließen und
von ihm aus zu operieren, darüber haben die Hauptbeiträger einan-
der erkannt und sind aneinander gebunden geblieben. Darin liegt die
Identifizierbarkeit, die Grenze und Begrenztheit des Denkansatzes.

Denkansätze sind wie gute Melodien, sie haben eine gewisse Klar-
heit, eine Unausweichlichkeit, wenn sie von einem einmal gewählten
Ansatzpunkt aus fortschreiten, eine Einprägsamkeit. Es ist nicht aus-
sichtsreich, einen der Gründungsautoren dieses Paradigmas (im
Nachhinein) systematisch von diesem Denkansatz auszuschließen.
Das widerspräche der Intuition der Autoren selber, die (schmerzlich)
wussten, dass sie eine gemeinsame Denkbewegung teilten. Die Den-
ker selbst haben sich nicht getäuscht. Gerade im Augenblick des Ab-
schieds (im doppelten Sinn: des persönlichen Verstummens und der
Marginalisierung des Ansatzes) waren sie sich sicher, alles in allem in
einem Denkansatz verbunden gewesen zu sein. 1 Philosophische An-
thropologie als Denkrichtung im 20. Jahrhundert ist bereits ein er-
heblicher Befund, weil eben die im Theorieprogramm miteinander
verbundenen Denker – mindestens Scheler, Plessner und Gehlen –
je für sich schon gewichtige Figuren der deutschen Philosophie-
geschichte des 20. Jahrhunderts sind. Zudem lassen sich weitere Den-
ker über den Identitätskern des Ansatzes identifizieren – wofür
Rothacker und Portmann exemplarisch stehen. Gezeigt wurde nur:
Es gibt in der deutschsprachigen Geistesgeschichte des 20. Jahrhun-
derts ein Denken, das – einigermaßen raffiniert und reflexiv – durch-
aus für Forschungen fruchtbar und mit gewissem Orientierungswert
in der modernen Welt versehen, vollkommen unabhängig von
sprachanalytischen Richtungen, von der Kritischen Theorie, von
1 Vgl. Plessner, der am Ende drei Hauptautoren in einem Atemzug nennt: »Um die
Philosophische Anthropologie ist es still geworden. Die lebhaften Diskussionen um
Schelers Schrift ›Die Stellung des Menschen im Kosmos‹ (1928), meine ›Stufen des
Organischen und der Mensch‹ (1928) und Gehlens ›Der Mensch‹ (1940) sind zwar nicht
in Vergessenheit geraten, haben aber – nicht zuletzt dank der Entwicklung der moder-
nen Sprachphilosophie – an Aktualität verloren.« H. Plessner, Das gegenwärtige Inte-
resse der Philosophie an der Sprache, GS IX, S. 403. Vgl. auch Gehlens – bereits zitiertes
– spätes klares Bekenntnis zu Schelers Initialschrift von 1928 im ›Rückblick auf die
Anthropologie Max Schelers‹ (1975), a. a. O., S. 188: »Alle gleichzeitigen und späteren
Schriften zur philosophischen Anthropologie, die irgendeinen Rang haben, hingen in
Hauptpunkten von ihr ab, und so wird es bleiben.«

Philosophische Anthropologie A 597


Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes

(post-)strukturalistischen Ansätzen, von der Existenzphilosophie,


vom kybernetischen Systemansatz, vom evolutionsbiologischen Na-
turalismus als Denken in sich funktioniert hat. Man konnte im
20. Jahrhundert auch anders denken als die erwähnten Denkrahmen
vorgaben – nicht mehr, nicht weniger sollte gezeigt werden. Philoso-
phische Anthropologie war ein geistesgeschichtliches Phänomen sui
generis, sie ist ein Theorieprogramm, ein Paradigma unter anderen
Paradigmen – zumindest im 20. Jahrhundert. Das Feld der Denk-
ansätze im 20. Jahrhundert ordnet sich nachträglich zu Beginn des
21. Jahrhunderts noch einmal neu.

Hat man den Denkort der Philosophischen Anthropologie auf diese


Weise in der geistigen Topographie scharf markiert, ist die Voraus-
setzung geschaffen, ihn wieder durchlässig werden zu lassen und zu
beleben, zu öffnen im Hinblick auf folgende Konsequenzen.
Erstens lässt sich auf Grund der Denkungsart die Zugehörigkeit
von weiteren Autoren und Texten prüfen, auch von solchen Denkern,
die realgeschichtlich nicht an der Ausarbeitung des Denkansatzes
zwischen 1920 und 1975 beteiligt waren. Ideengeschichtliche Vorläu-
fer und Nachfolger lassen sich leichter adressieren. Das Textkorpus
lässt sich anreichern und verdichten.
Zweitens ist es damit nun möglich, die Philosophische Anthro-
pologie – hier zunächst nur als Denkansatz unter andersartigen
Denkansätzen bestimmt – ins kritische und kombinatorische Ver-
hältnis zu anderen Denkschulen zu setzen. Nur insofern sie identifi-
zierbar ist, ist Philosophische Anthropologie auch kritisierbar. Phi-
losophie fordert auf Grund ihres Wissensideals systematisch
entweder Kritik/Verwerfung oder Integration von heterogenen An-
sätzen. Die Frage ist, ob Philosophische Anthropologie die Differenz
der Perspektiven ausweisen und in der Art des Ausweises aufeinan-
der beziehen kann, oder ob andere Denkansätze die für die Philoso-
phische Anthropologie typische Kategorienbildung als ein Moment
integrieren können.
Drittens lässt sich nun die solcherart intern erzählte und zugleich
in ihrer Denkungsart pointierte Bildungsgeschichte der Philosophi-
schen Anthropologie kultursoziologisch und mentalitätsgeschichtlich
stichhaltiger auf geschichtliche Hintergründe »relationieren«. Phi-
losophische Anthropologie lässt sich präziser »historisieren« als Pfad
in Mentalitäten, aber auch in ihrer Beschränktheit durch Mentalitä-
ten. Deutlicher als bisher kann untersucht werden, für welche sozio-

598 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Denkort der Philosophischen Anthropologie

kulturellen Lagen die Denker des Ansatzes eingreifende semantische


Funktionen übernehmen wollten und tatsächlich übernommen ha-
ben.
Schließlich ist es viertens möglich, Philosophische Anthropo-
logie, in Kenntnis ihrer Denkungsart und in Rückgriff auf den rei-
chen Fundus exemplarischer Studien, weiterhin, aber präziser, als
Forschungslinie einzusetzen und an Phänomenen außerhalb des An-
satzes zu bewähren. Die Art der Kategorienbildung enthält metho-
dische Hinweise, wie sich Fragen der Forschung bezogen auf be-
stimmte Phänomene in Fragen der Philosophischen Anthropologie
transformieren lassen. Die Kategorienbildung gibt nicht bloß den
Bruchpunkt, wo der Geist (und seine Prädikate) im lebendigen Kör-
per auftritt und heraus-rückt, sondern führt diesen Bruchpunkt als
Linie, als sozusagen gebrochene und überbrückte Linie durch aus-
nahmslos alle von ihr in der Folge angesprochenen Seelen-, Kultur-
und Sozialphänomene. Logos und Polis entspringen nach der Idee der
Philosophischen Anthropologie dem Bios, sind eine Verrückung des
Bios, bleiben aber in ihm. Deshalb bleibt die Philosophische Anthro-
pologie auf die je neue Arbeit an einer philosophischen Biologie ver-
wiesen, auf die jeweils neu einsetzende kategoriale Interpretation der
biologischen Empirie so, dass sie zur Fülle der Erfahrung des Men-
schen stimmt. In jedem Fall knistert in allen Kategorien der Philoso-
phischen Anthropologie die Spannung des Lebendigen, und bis in die
Verästelungen psychologischer, sozial- und kulturwissenschaftlicher
Folgebegriffe läuft der Schatten des lebendigen Körpers – und damit
des Kosmos – mit.

Philosophische Anthropologie A 599


Literatur

Siglen

GA: Gehlen, A., Arnold Gehlen Gesamtausgabe (GA), ab Bd. 3 hrsg. v. K.-S.
Rehberg, Bd. 1, 2 (hrsg. v. L. Samson), Bd. 3.1, 3.2, 4, 6, 7 (hrsg. v. K.-S.
Rehberg), Frankfurt a. M. 1978 ff.
GS: Plessner, H., Gesammelte Schriften (GS), Bd. I–X, hrsg. v. G. Dux, O. Mar-
quard, E. Ströker, Frankfurt a. M. 1980–1985.
GW: Scheler, M., Gesammelte Werke (GW), Bd. 1–15, (bis zu ihrem Tod (1969))
hrsg. v. Maria Scheler, seither v. M. S. Frings, (zuerst) Bern/München, (ab
1986) Bonn 1954–1997.

1. Unver#ffentlichte Quellen

Die Arbeit macht Gebrauch von unveröffentlichten Quellen aus den nachfolgend
aufgeführten Nachlässen und Archiven. Die Zitierungen bzw. Paraphrasierungen
sind nachgewiesen, indem in den Anmerkungen jeweils die Quelle samt Verfasser,
soweit vorhanden das Datum, und – soweit der Nachlass bearbeitet – die Regis-
trierung im jeweiligen Nachlass angegeben sind. Die auszugsweise Zitierung aus
den unveröffentlichten Quellen erfolgt mit freundlicher Genehmigung der jewei-
ligen Handschriftenabteilungen und Archive.

Nachlass Plessner Universiteitsbibliotheek Groningen


Nachlass Scheler Bayerische Staatsbibliothek München
Nachlass Rothacker Universitäts- und Landesbibliothek Bonn
Nachlass Gehlen TU Dresden, Institut für Soziologie
(Kopie Aachener Nachlass)
Nachlass Misch Universitätsbibliothek Göttingen
Nachlass König Universitätsbibliothek Göttingen
Nachlass Horkheimer Archivzentrum Stadt-/Universitätsbibliothek
Frankfurt a. M.
Nachlass Conrad-Martius Bayerische Staatsbibliothek München
Personalakte Plessner Universitätsarchiv Köln
Personalakten Plessner Universitätsarchiv Göttingen
Personalakten Scheler Universitätsarchiv Köln
Personalakten Rothacker Archiv der Universität Bonn
Wiederbesetzung Lehrstuhl
Philosophie 1958 (Martin) Archiv der Universität Bonn

Philosophische Anthropologie A 601


Literatur

Personalakten Gehlen Universitätsarchiv Aachen


Archiv d. Soziolog. Seminars Universität Göttingen

2. Schrifttum

Unterschieden wird zwischen A. Texte der Philosophischen Anthropologie und B.


Texte zur Philosophischen Anthropologie (außerdem C. Andere Autoren und D.
Literatur zu Disziplinen und anderen Denkrichtungen). Mit »Philosophische An-
thropologie« ist die in der Studie erläuterte Denkrichtung gemeint. Der Verfasser
ist sich der Problematik der jeweiligen Klassifikation der Titel unter A. oder B.
bewusst. Auch werden nicht durchweg alle in den Fußnoten erwähnten Titel im
Literaturverzeichnis aufgeführt, um dessen Umfang zu beschränken.

A. Texte der Philosophischen Anthropologie

Alsberg, P., Das Menschheitsrätsel. Versuch einer prinzipiellen Lösung, Dresden


1922.
Alsberg, P., Der Ausbruch aus dem Gefängnis – Zu den Entstehungsbedingungen
des Menschen, hrsg. u. kommentiert v. D. Claessens, Gießen 1975 (Neuauflage
v. ›Das Menschheitsrätsel‹ 1922).
Anders, G. [G. Stern], Une interprétation de l’a posteriori, in: Recherches Philo-
sophiques, IV (1934/35), S. 65–80.
Anders, G. [G. Stern], Pathologie de la Liberté. Essai sur la non-identification, in:
Recherches Philosophiques, VI (1936/37), S. 22–54.
Anders, G., Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. I, Über die Seele im Zeitalter
der zweiten industriellen Revolution, München 1956.
Anders, G., Der Blick vom Mond. Reflexionen über Weltraumflüge, München
1970.
André, H., Pleßners Ästhesiologie des Geistes. Ein neuer Zugang zur Philosophie
der Natur, in: Hochland, Jg. 22 (1925), Bd. 2, S. 605–609.
André, H., Der Wesensunterschied von Pflanze, Tier und Mensch: Eine moderne
Darstellung der Lebensstufen im Geiste Thomas von Aquins (Bücher der neuen
Biologie und Anthropologie, Bd. 1), Habelschwerdt 1924.
André, H., Urbild und Ursache in der Biologie, München/Berlin 1931.
Apel, K.-O., Technognomie: eine erkenntnisanthropologische Kategorie, in:
G. Funke (Hrsg.), Konkrete Vernunft. Festschrift für Erich Rothacker, Bonn
1958, S. 61–79.
Apel, K.-O., Das Leibapriori der Erkenntnis. Eine erkenntnisanthropologische Be-
trachtung im Anschluß an Leibnizens Monadenlehre (1963), in: H.-G. Gada-
mer/P. Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie, Bd. 7: Philosophische Anthropo-
logie 2, Stuttgart 1975, S. 264–288.
Apel, K.-O., Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik. Entwurf einer Wissen-
schaftslehre in erkenntnisanthropologischer Sicht (1968), in: Ders., Transforma-
tion der Philosophie II: Das Apriori der Kommunikationswissenschaft, Frank-
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602 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


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Archiv für Soziologie, Jg. II (1961), S. 1–17.
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triegesellschaft, in: Ders., Umwelterfahrung. Soziologische Betrachtungen über
den Beitrag des Subjekts zur Konstitution von Umwelt, München 1974, S. 92–
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des Subjekts zur Konstitution von Umwelt, München 1974.
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Orientierungsformen beim Betreiben der Soziologie, in: G. Dux/Th. Luckmann,
Sachlichkeit. Festschrift zum achtzigsten Geburtstag von Helmuth Plessner,
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Becker, O., Größe und Grenze der mathematischen Denkweise, Freiburg/Mün-
chen 1959.
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deutschen Ausgabe von Helmuth Plessner. Übersetzt von Monika Plessner,
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Philosophische Anthropologie A 603


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Stuttgart 1981.
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in: Ders., Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart
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604 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


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Philosophische Anthropologie A 605


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606 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


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K.-S. Rehberg (1993) (GA 3.1 u. 3.2). – Bd. 4: Philosophische Anthropologie und
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technischen Zeitalter und andere sozialpsychologische, soziologische und kul-
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Löwith, K., Von Hegel zu Nietzsche – Der revolutionäre Bruch im Denken des
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Plessner, H., Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der
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Plessner, H., Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen
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660 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


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Philosophische Anthropologie A 661


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662 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


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Wien 1994.
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hey-Jahrbuch für Philosophie und Geisteswissenschaften, Bd. 8 (1993), S. 93–
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Philosophische Anthropologie A 663


Zeittafel

1919 Max Scheler (Jg. 1874) Professor für Philosophie und So-
ziologie an der neuen Universität Köln
1920 Helmuth Plessner (Jg.1892) als Privatdozent an der Kölner
Universität
1923 Plessner Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesio-
logie des Geistes
1924 Scheler kündigt seine Philosophische Anthropologie an;
Plessner den Plan eines Buches Pflanze, Tier, Mensch. Ele-
mente einer Kosmologie der lebendigen Form
1925 Nicolai Hartmann, Scheler und Plessner an der Universität
Köln
1925/26 Arnold Gehlen (Jg. 1904) hört bei Hartmann und Plessner
in Köln
1925 Plessners Zeitschrift Philosophischer Anzeiger; seine Zu-
sammenarbeit mit F. J. J. Buytendijk Deutung des mimi-
schen Ausdrucks
1927 Vortrag Scheler Die Sonderstellung des Menschen in
Darmstadt
1928 Plessner Die Stufen des Organischen und der Mensch;
Scheler Die Stellung des Menschen im Kosmos und An-
kündigung der großen Anthropologie; Schelers Tod
1929 Diskussion der Philosophischen Anthropologie bei Cassi-
rer, Heidegger, Horkheimer, Löwith, Schütz, Voegelin,
Misch
1933 Plessners Entlassung; Exil in Groningen
1934 Erich Rothacker (Jg. 1888) in Bonn arbeitet an einer Phi-
losophischen Anthropologie: Geschichtsphilosophie (1934);
Kulturanthropologie (1942)
1940 Gehlen Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der
Welt; Lehrstuhl für Philosophie in Leipzig, dann Königs-
berg und Wien
1941 Plessner Lachen und Weinen

Philosophische Anthropologie A 665


Zeittafel

1941/42 Hartmann Neue Anthropologie in Deutschland (Bespre-


chung von Gehlens Buch)
1942 Beiträge von Gehlen und Rothacker in Hartmanns Syste-
matische Philosophie
1944 Adolf Portmann (Jg. 1897) in Basel: Biologische Fragmente
zu einer Lehre vom Menschen
1947 Gehlen an der Verwaltungshochschule in Speyer, Lehr-
stuhl für Soziologie
1950 Plessner organisiert Philosophie-Kongress in Bremen
Symphilosophein
Gehlen Der Mensch, 4. veränd. Aufl.
1950 Wirkungsgeschichte des Paradigmas in der Psychologie,
Medizin, Soziologie
1952 Rückkehr Plessners nach Deutschland, Lehrstuhl für So-
ziologie (und Philosophie) in Göttingen (bis 1961)
1954 Rothackers Vorlesung Philosophische Anthropologie in
Bonn; Nachfolge Rothacker in Bonn: Gehlen oder Pless-
ner?
1954 Gehlen Urmensch und Spätkultur
1956 Portmanns Beiträge Neue Wege der Biologie in den Fest-
schriften für Plessner und Buytendijk
1958 Habermas’ Lexikonartikel Anthropologie
1960 Plessner Das Problem der Öffentlichkeit und die Idee der
Entfremdung; Conditio humana
1960 Gehlen in Aachen; Plessners Idee: Gehlen als Nachfolger in
Göttingen?
1960 Bis in die 80er Jahre: Wirkungsgeschichte der Philosophi-
schen Anthropologie in der Naturphilosophie/Biologie,
Psychologie, Soziologie, Philosophie, Theologie
1970 Gehlen Moral und Hypermoral; Plessner Anthropologie
der Sinne
Seit 1970 Zeit der Anthropologiekritik
1975 Gleichzeitige Rückbesinnung auf Scheler durch Plessner
(Erinnerungen an Max Scheler) und Gehlen (Rückblick
auf die Anthropologie Max Schelers)

666 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Personenregister

Adorno, Th. W. 148, 221, 226, 258 f., Carnap, R. 104, 114, 464, 578
278 f., 289, 312 ff., 319, 323, 335, Camus, A. 237, 486
340–345, 384 f., 594 Cassirer, E. 34, 94 f., 101–107, 111 f.,
Alsberg, P. 47 f., 162, 176, 211, 213, 130 ff., 336 f., 436 f., 480, 484 ff.,
271, 328, 348, 396, 421 f., 437, 440, 492 f., 549, 577 f., 594
467, 518 Claessens, D. 290, 383, 387, 390, 393 f.,
Anders, G. [auch: G. Stern] 98 f., 220, 419–424, 548, 572
300 f., 367 Cohen, H. 86
André, H. 38, 49, 115, 199 f., 361 Conrad-Martius, H. 111, 217, 360
Apel, K.-O. 254, 340, 430, 433 ff. Curtius, E. R. 40 ff., 59, 145, 288
Arendt, H. 99, 241, 335, 362, 367
Aristoteles 56, 72, 232, 363, 484, Dahrendorf, R. 290, 387–392
516 Dacqué, E. 47, 78
Darwin, Ch. 27, 45 ff., 103, 161 f., 202,
Bahrdt, H. P. 276, 282–291, 383 f., 387– 241, 327, 363, 440, 456, 490 ff., 510,
394, 401–409, 417 ff. 520
Baumgarten, E. 160, 196, 386 Derrida, J. 497
Bäumler, A. 94, 114, 181, 207 Descartes, R. 26, 160, 336, 360, 467,
Becker, O. 43, 254, 314, 429, 433 f. 475, 507, 531
Berger, P. L. 344, 387, 390, 425–428 Dewey, J. 160, 196, 213, 335, 481, 486,
Bergson, H. 26 f., 33, 35 f., 103, 126, 594
211, 327, 354, 367, 428, 513, 582, Dilthey, W. 13, 26, 33, 36 f., 41, 86, 117,
594 136–139, 149 ff., 226 f., 327, 336 f.,
Bertalanffy, L. v. 43, 86, 535 497, 500, 510, 542
Binswanger, L. 232, 248, 251 ff. Dreitzel, H. P. 390, 393 f., 423
Bloch, E. 237, 323, 330, 470, 480 Driesch, H. 23, 31, 35 ff., 50, 76, 87,
Blumenberg, H. 340, 419, 435–441, 106, 152–155, 347, 359, 369
450 Dux, G. 17, 394 f., 428
Bolk, L. 51, 163, 166, 202, 211, 228,
232, 315, 348, 371, 423, 468, 518 Eibl-Eibesfeldt, I. 353, 370 ff., 593
Bollnow, O. F. 104, 118, 121, 209, 226, Eickstedt, E. Frhr. v. 346 f.
320, 458, 460–463, 480, 497 Elias, N. 419 f.
Boutroux, E. 54 Eßbach, W. 10, 17, 409, 481, 497 f., 532
Brüning, W. 237 f., 498
Buber, M. 237, 464 Fahrenbach, H. 453 f., 468
Bürger-Prinz, H. 155, 248, 250 f. Ferber, Ch. v. 282, 290, 369, 394
Buytendijk, F. J. J. 39, 42, 48–52, 87, Feuerbach, L. 28, 98, 113, 269, 448,
106, 129, 135, 161–165, 171 f., 177, 484, 509, 517
183, 186–190, 194–200, 206 f., 240– Fichte, J. G. 66, 87, 92, 154, 182, 259,
249, 326 f., 330, 348, 361, 376–382 269, 508, 534 f., 575

Philosophische Anthropologie A 667


Personen

Freud, S. 29, 45, 66 f., 147, 249, 251 f., Hauriou, M. 230
269, 327, 346, 348, 352, 375 Hegel, G. W. F. 42, 66, 86, 154, 182,
Freyer, H. 94, 118, 133, 141, 155, 209, 221, 259, 284, 360, 411, 484, 508,
212 f., 220, 222, 284, 287, 403, 419, 561, 575
432, 469 Heidegger, M. 20 f., 39, 41 f., 49, 55 ff.,
Fromm, E. 237, 269 f. 60, 72 f., 84, 87, 90–99, 103–121,
129, 154, 183, 185, 194, 209, 221,
Gadamer, H.-G. 430, 450, 458 ff., 467 f., 223, 239, 248, 252, 261, 321, 323,
476 f., 486, 594 345, 363, 375, 428, 453 f., 464, 468,
Gebsattel, V. E. v. 243, 248 ff., 376, 480, 500, 584, 594
380 f. Heimsoeth, H. 41, 54, 110, 116, 152,
Gehlen, A. 11–22, 124 f., 134 f., 152– 182, 235, 340
183, 194–197, 203, 206 ff., 211–214, Hengstenberg, H. E. 38, 260, 461
217–225, 228–232, 235 f., 239 ff., Herder, J. G. 165 f., 176, 193, 195, 211,
250, 255, 260 f., 263–277, 284, 287, 284, 315, 348, 443, 448, 517
292–299, 301 f., 304, 306–319, 321– Honneth, A. 17, 457 f., 484
328, 330–344, 346–359, 370 f., 377, Horkheimer, M. 112 ff., 146, 184, 221,
383, 385 ff., 390, 392, 394–397, 399, 226, 258 f., 278 f., 289, 311 f., 319,
403, 407, 409–421, 423, 425–432, 384, 395, 500, 575
436 f., 440, 442 ff., 448, 451 f., 454– Humboldt, W. v. 94, 517
459, 461 f., 466–474, 476 f., 479– Husserl, E. 24, 31, 44, 55–57, 69, 98,
482, 488, 491, 493 ff., 497–503, 505, 112, 114, 131, 256, 347, 350, 360,
512, 517 f., 526, 543–546, 550–556, 407, 425, 436, 453, 464 f., 467
558, 560, 569 f., 573 f., 579, 587 f.,
590, 592–595, 597 Illies, J. 370
Giese, H. 250 f. Ipsen, G. 94, 284, 403
Goethe, J. W. v. 40, 151, 252, 257,
Goldstein, K. 245, 364 James, W. 213
Grene, M. 363–366, 381, 549 Jaspers, K. 94, 97, 111, 132 f., 154, 183,
Groddeck, G. 511 185, 194, 239–242, 283 f., 320, 355,
Groethuysen, B. 41, 94, 226, 237, 261, 363, 480, 485
484 Joas, H. 457 f., 484
Guardini, R. 87, 237 Jonas, F. 351, 410
Jonas, H. 99, 241, 248, 363, 366 f., 396,
Haas, W. 38 446
Habermas, J. 254, 276 f., 290, 312–321, Jung, C. G. 61, 132, 147 f., 485
325, 330, 332, 356, 389, 406, 409,
416, 421, 423, 427 ff., 430 f., 455 ff., Kamlah, W. 455
466, 489 f., 500, 590 Kamper, D. 17, 454, 486
Hartmann, N. 39, 41 ff., 48, 52–55, Kandinsky, W. 33, 308
59 f., 81–84, 89, 91 f., 110 f., 115 ff., Kant, I. 25 f., 28, 31 ff., 56, 101 f., 104 f.,
135, 147, 152, 159, 164, 175–182, 109, 114, 127, 172, 174, 181, 304 f.,
197, 206 f., 209–217, 222 f., 226–231, 336 f., 360, 386, 461 f., 469, 484 f.,
235 f., 250, 265, 267, 276, 282 ff., 508, 516, 555, 557, 596
306, 314, 332 f., 342, 345, 407, 429, Keller, W. 375 f.
456, 472, 492, 502, 518, 523, 545, Kesting, H. 410
553 Kierkegaard, S. 154, 443, 453, 510
Hartung, G. 492 f. Klaatsch, H. 47

668 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Personen

Klages, L. 45 f., 49, 67, 87, 94, 99, Maturana, H. 368 f., 371, 432
100 ff., 126, 133, 147 f., 164, 170, Marcel, G. 237
183, 185, 194, 205, 255, 314, 327, Marcuse, H. 146, 184, 314, 318, 356,
335, 380, 485, 538 441, 575
Kleist, H. v. 377 Marquard, O. 417, 419, 435 f., 441–
Koehler, O. 370 445, 489 ff., 493
Köhler, W. 40, 50, 64, 76 f., 518 f. Marx, K. 29, 112 f., 120, 122 f., 133,
König, J. 36, 41, 57, 72, 80, 83–86, 88, 141, 146, 182, 223, 236 f., 265 f.,
96, 110, 116, 211, 226 f., 594 268 f., 276, 282–285, 289, 312, 314,
König, R. 240, 277, 384, 417 322 f., 327, 330, 344, 356, 389, 426,
Krieck, E. 174 f., 181, 207, 313 429, 443, 457, 490, 503, 510, 516,
Krockow, Ch. G. v. 282, 325, 394, 417 589
Krüger, H.-P. 495 f., 549, 554 Mead, G. H. 213, 229 f., 315, 330, 390,
Kunz, H. 121, 173 f., 203, 232 f., 375, 392, 425 f., 429 f., 457 f., 468, 481,
381, 383 486
Merleau-Ponty, M. 220, 232, 245 f.,
Landmann, M. 237 f., 260, 484 365, 377, 383, 469, 480, 486, 585
Landsberg, P.-L. 38, 94, 98, 237 Misch, G. 36 f., 41, 59, 74, 76, 86, 91,
Lask, E. 31, 517 108–111, 117 f., 132, 137, 139, 142,
Leeuw, G. v. d. 210, 232, 566 209, 211, 226 ff., 327, 460 f., 463,
Lepenies, W. 451 f. 593
Lersch, Ph. 126, 148, 378 Morin, E. 371 ff.
Lévi-Strauss, C. 213, 294, 464 Mühlmann, W. E. 237, 386
Leyhausen, P. 370 Müller, M. 453 f.
Liebrucks, B. 216, 224 Müller-Armack, A. 38, 122 f., 126, 133
Lindemann, G. 550
Lipp, W. 410, 417 Nietzsche, F. 26, 92, 94, 115, 252, 260 f.,
Lipps, H. 41, 237, 250, 316 443, 511, 517, 569 f.
Litt, Th. 19, 116, 153, 156, 221, 231, Nohl, H. 41, 226
237, 292, 307, 310, 314, 316, 320,
391 f., 426, 480, 577, 593 Ortega y Gasset, J. 237, 480
Lorenz, K. 174, 181, 205, 214, 224, 228,
246, 266 f., 329 f., 348, 353 f., 356, Palágyi, M. 147 f., 163, 170, 177 f.
369, 370 f., 386, 396, 468, 471, 473, Pannenberg, W. 448 f.
593 Pape, I. 216
Löwith, K. 94, 97 f., 130, 132, 146, 184, Pascal, B. 56
252, 260–263, 311 ff., 359 f., 363, Pawlow, J. P. 186, 245, 330
367, 391 f., 503, 507 Peirce, Ch. 213
Lübbe, H. 417 f., 419, 435, 442 f. Piaget, J. 395
Lukács, G. 113, 123, 226, 312 Platon 66, 92, 151, 484
Luckmann, Th. 344, 387, 390, 425–428, Plessner, H. 11–20, 22 f., 31–61, 72–99,
447 101–112, 114–122, 124 ff., 130–135,
Luhmann, N. 342, 399, 410, 417, 429– 137 ff., 142 f., 146, 152, 155, 157 f.,
432, 465 f. 161, 163 f., 176 ff., 182–197, 199–
Lützeler, H. 38, 56, 145, 292 212, 214–220, 222–230, 232–236,
238, 240–248, 250, 252 f., 255 f., 259,
Malinowski, B. 213 f., 414 f. 261–264, 269–271, 275, 277–284,
Mannheim, K. 113 f., 120, 131 286 f., 290 ff., 296, 300–307, 309 ff.,

Philosophische Anthropologie A 669


Personen

314 ff., 319–339, 344–369, 371, 246, 248 ff., 252, 254 ff., 264, 271,
373 f., 376, 380–387, 390–396, 399, 275, 281, 292, 300, 304, 310, 314 f.,
401, 405 f., 408 ff., 414 f., 417, 419 f., 319, 326 f., 331 f., 334 f., 337, 339,
425 f., 428 f., 431–434, 442 ff., 446 ff., 344–348, 350 ff., 358, 361, 366 f.,
453–461, 467–471, 474 ff., 479–503, 373–381, 385, 387, 392, 394, 407,
531–540, 549–556, 564–567, 573– 420 f., 423, 427–429, 431 ff., 445–
576, 578, 584, 590, 593–597 450, 458 f., 461 f., 464, 467, 470–482,
Plügge, H. 249, 377, 383 484 f., 487–497, 499–503, 505, 511 f.,
Popitz, H. 282–291, 383, 394–403, 524, 526–531, 545 f., 550–556, 558,
409 f., 427 560, 561–564, 572 ff., 577–580, 584,
Popper, K. 364 590, 594–597
Portmann, A. 11, 22, 134 f., 197–205, Schelling, F. W. 56, 87, 92, 154, 160,
206, 208, 214, 228, 232, 239–242, 442, 472, 512, 517, 575
246, 255, 261, 314 f., 320, 327, 339, Schelsky, H. 155, 196, 213 f., 219, 251,
345, 348–350, 354, 361–363, 364, 274–277, 282, 290 f., 301, 338 f.,
370 f., 386, 392, 394 f., 420 f., 425 f., 383–387, 390, 394, 399, 401 ff., 410–
448, 468, 477, 479 f., 482, 488, 503, 419, 427, 430–435, 441, 466, 469 f.
526, 546–548, 558, 560, 571–573, Schiller, F. 517, 586
575, 594 f., 597 Schmitt, C. 118–122, 133, 181, 325,
356, 399
Rehberg, K.-S. 10, 17, 19 f., 164, Schmitz, H. 17, 106, 254, 340, 378 ff.,
418 f. 433, 435, 486, 585
Reidemeister, K. 41 Schnädelbach, H. 17, 482, 491–494
Revers, W. J. 250, 379, 461 Schneider, K. 38 f., 43, 250
Ritter, J. 94, 104, 118, 227, 340, 411, Schöffler, H. 38, 132, 187, 209 f., 222,
417, 419, 437, 441–444, 450 226 f., 333
Rosenberg, A. 114, 145, 172 f., 181 Schopenhauer, A. 153, 160, 472, 474,
Rothacker, E. 11, 19, 22, 40, 94, 133– 512, 517
152, 158 f., 175, 177, 180 ff., 197, Schulz, W. 320, 451, 468
206 ff., 215, 217 ff., 224 f., 232, 236 f., Schütz, A. 131, 344, 407, 425 f.
239, 250, 254–260, 276, 284, 292 f., Schwarz, O. 115, 380 f.
305–308, 310–314, 316–320, 339 f., Sedlmayr, H. 307 f.
359, 367, 373, 378 ff., 386, 407, Seidel, A. 47
429 f., 432–439, 450 f., 458, 461, 477, Simmel, G. 86 f., 102, 126, 355, 397,
479–482, 488, 498, 501 f., 526, 425 f., 517, 542
540 ff., 550, 558, 560, 567 ff., 573 ff., Smend, R. 321 f.
588, 594 f., 597 Snell, B. 41, 211
Sombart, W. 40, 160
Sartre, J. P. 220, 232, 237, 244 f., 251, Spaemann, R. 419
363, 377, 380, 407, 426, 466, 480, Spencer, H. 51, 74, 513
486, 585 Spengler, O. 74, 126, 136, 593
Scheler, M. 11–15, 20–31, 33 f., 36, Spinoza, B. 56, 472, 474
38 ff., 42, 44–60, 62–73, 78, 80–95, Spitz, R. A. 400
101–114, 116, 122, 124–135, 137– Spranger, E. 152, 226
141, 144 f., 147, 152, 157 f., 160 f., Stavenhagen, K. 282, 284
164 f., 173, 176 f., 182–185, 191, 193, Stern, G. [s. Anders, G.]
196 f., 199, 203, 205, 208, 211, 213, Stern, W. 187
215, 217 f., 220, 224 f., 236, 238–241, Storch, O. 214, 224 f., 232, 315

670 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Personen

Straus, E. 130, 132, 161, 245–248, 252– Varela, F. 368 f.


255, 327, 363 f., 366, 373, 381 f., 396, Voegelin, E. 120, 122, 124–127, 133

Tellenbach, H. 381, 383 Waldenfels, B. 585


Teilhard de Chardin, P. 237, 242, 345, Weber, M. 39, 397 f., 403
594 Wein, H. 216 f., 222, 235 f., 255, 259,
Thomae, H. 147, 173, 340, 378 f. 314
Thomas, K. 10, 17, 408 Weizsäcker, V. v. 39, 42 f., 130, 151,
173, 246, 248 ff., 373, 376, 380
Uexküll, J. v. 25, 31, 33, 45 f., 103, 106, Wertheimer, M. 40
137, 141 f., 144, 160, 165, 211, 218, Windelband, W. 31, 347
224, 246, 327, 425, 428, 502, 518 f., Worringer, W. 40, 42, 59, 82
541 Wust, P. 38, 40, 44
Uslar, D. v. 375 f.

Philosophische Anthropologie A 671


Sachregister

Absolute, das 26, 31, 67, 80, 151, 555, Anthropologie, philosophische (Dis-
561, 573 f. ziplin) 14, 95, 182, 237 f., 259, 314,
Abstammung s. Phylogenese 461, 482–489, 595
Abstraktes/Konkretes 420–424, 542 Anthropologie, psychologische 146,
Abstraktion, anschauliche 258 329
Aggression s. Gewalt Anthropologie, soziologische 419 f.,
Ästhesiologie 33 ff., 38, 44, 72, 85, 98, 452, 556
161, 199 f., 215, 242, 248, 279 f., 305, Anthropomorphismus 28, 518
315, 382 f., 566, 577, 588 Antriebsrichtung, Umkehr der
Ästhetik 33, 39, 267, 308 f., 333, 485, 295
488, 517 Antriebsüberschuß, konstitutioneller
Allmensch 128, 344 162, 171 f., 296, 352, 473, 570, 586
Allozentrik 400 apollinisch/dionysisch 128, 503, 513
Alter, Altern 205, 571 f. Apriori, materiales 25, 33, 56, 557
Alterität 509, 550, 576, 589 f., 594 Arbeit, Arbeitswelt, Industriearbeit
Analytische Philosophie 13, 114, 227, 29 f., 155 f., 182, 241, 265, 280, 283–
338, 435, 454, 485, 488, 505, 578, 291, 295, 315 f., 318, 322, 328, 352,
597 356 f., 394, 400 ff., 408 f., 411, 424,
Anpassung 27, 45–48, 51, 74, 163, 176, 510
224, 379, 389, 422 f., 436, 539 f., 511, Asket, Askese, asketisch (s. a. Nein-
538, 582 sagenkönner) 65, 67, 265, 326,
Anschauung 32, 87 f., 145, 148, 167, 462
186 f., 190, 199, 205 f., 255 ff., 281, Aspekt, Perspektive 66, 74–79, 102,
295 f., 308, 378, 437, 439, 520 f., 526, 122, 125, 145, 147, 158, 167, 171 f.,
542, 557 232, 261, 264, 283, 304, 329, 352,
Anthropo-Biologie 165, 213, 235, 325, 379, 457, 462 ff., 524, 532
328 f., 331, 349, 370 Aufklärung, Ideologiekritik 224, 325,
Anthropologie, biologische; Human- 435, 457 f., 509
biologie 159, 351, 369 f., 483 Aufrichtung, aufrechte (Körper-)Hal-
Anthropologie, dialektische 221, 469 tung 204, 247 f., 253, 328, 346, 398,
Anthropologie, existentiale 97 547
Anthropologie, historische, Kulturalis- Ausdruck, -sbewegung, Expressivität
mus (s. a. Konstruktivismus; s. a. 34, 49, 139, 195, 240, 246 f., 467, 525,
Hermeneutik) 329, 465, 486, 488, 540, 566, 575, 586 f.
556 Ausgleich s. Gleichgewicht
Anthropologie, medizinische s. Medi- Ausgleich, Weltalter des 127 f., 344,
zin 358
Anthropologie, negative 486 Ausgleichsreaktion 280 f., 307
Anthropologie, phänomenologische Auslöser 191, 267 f., 316 f., 440
251, 441 Außenhalt 391

Philosophische Anthropologie A 673


Sachen

Außen-/Innen-/Mitwelt 26, 79, 127, Cartesianismus 46, 75, 77, 79, 91, 241,
229, 294, 296, 364, 539, 544, 550 ff., 467, 503, 508 f., 518, 523, 530, 533,
590 578, 593
Autorität 317, 398, 402 Charakter 148, 166, 172, 269, 452, 558,
569
Bauen, Wohnen, Architektur s. Stadt, Christliche Philosophie, christliche
Urbanität Anthropologie 62, 120, 157, 236,
Bauplan 46, 144, 247, 327, 541 242, 448
Bedeutsamkeit 144, 149, 256, 364, 379,
433, 568 Darstellung, darstellendes Verhalten
Bedürfnis, Begehren, Leidenschaft 90, 66 f., 70, 88, 161, 168, 201 f., 230,
163, 168 f., 252, 262, 270, 280, 296, 240, 295 f., 308 f., 316, 329, 349, 362,
298, 329, 337, 373 f., 379, 412, 414, 391, 404, 438, 546 f., 551, 566, 569
524, 544 Darwinismus s. Evolutionstheorie
Begriffsgeschichte 436, 441, 450 Dauerreflexion s. Reflexion
Beobachter-/Teilnehmeraspekt-, -per- Dekonstruktivismus 501
spektive 78, 353 Denken, dogmatisches 43, 136, 318,
Bewegung, Motorik 34, 36, 63–66, 78, 434
99, 167–172, 178 f., 187, 195, 216, Dialektik, bestimmte Negation 580
242, 244–247, 257, 267, 271 ff., 279, Dialektik, negative 575, 588 f.
282, 302, 353 f., 373, 377, 523 f., Dialektischer Materialismus 221, 265
543 ff. Ding, Dinghaftigkeit, Gegenstand,
Bewegungsphantasie, virtuelle Be- Objekt 46, 64 ff., 73–78, 88, 96, 119,
wegung 168, 170 f., 177 f., 195, 144, 161, 167 f., 177, 190, 195, 200,
553 224, 247, 268 f., 300, 329, 382, 396,
Bewusstsein 88, 100, 116, 148, 184, 446, 521 ff., 532–536, 539, 544 f.,
196, 255, 318, 360, 390, 434, 454, 550 f.
490, 552 dionysisch s. apollinisch/dionysisch
Bild 46, 66, 100, 144, 147–150, 162, Diplomatie, Takt 35
199, 248, 256, 287 f., 296, 308 ff., Distanz, Distanzierung, Abstand, Ge-
343, 366, 375, 437, 439, 446, 505, genüberstehen, flankierender Blick
524, 540, 588 53, 99, 144, 147, 149 f., 169, 204, 212,
Biographie 378 f., 564, 571 233, 243, 247, 255, 522, 582
Biologie 21, 27, 197 ff., 211, 214, 223, Distanz/Resonanz 191, 216, 565
303, 338, 359, 364, 370, 443, 510, Domestikation (s. a. Selbstdomestikati-
521, 549, 579 on) 205, 228, 329 f.
Biologie, philosophische, Philosophie Doppelaspekt 75–79, 102, 261 ff., 457,
des Organischen, Biophilosophie, 524, 531 f., 537, 580
Theorie des Lebens 27, 35 f., 50, 55, Doppelgänger 323, 391, 396,
73, 76 f., 81 f., 86 f., 89 f., 121, 169, Drang, Gefühlsdrang 63–68, 73, 147,
202, 241, 320, 347, 359–369, 371, 346, 528 f., 564
383, 432, 528, 533, 535, 549 f., 558, Drang und Geist 139, 472, 474, 552 ff.
563, 577, 588 Dualismus, Alternativprinzip, cartesia-
Blick, Blickstrahl, Sehstrahl 33, 150, nisches 75, 467, 472, 475, 508, 518,
189, 243, 245, 247, 392, 422, 492, 523, 533, 538 f., 557, 580, 593
566
Bodenlosigkeit 119, 561 ego/alter ego (s. a. Intersubjektivität)
416, 426, 434

674 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Sachen

Ehe, Familie 156, 274 ff., 294, 323, 341, Ethik 25, 33, 54, 92, 129, 223, 313, 340,
352, 415, 420 356, 358, 366 f., 444, 451, 455 f., 467
Eigengesetzlichkeit 23, 36, 54, 430 Ethischer Pluralismus 355 ff.
Einheit 27, 33, 62–68, 76 f., 100, 102, Ethnologie, Kulturanthropologie 236 f.,
129, 179, 192, 283, 304, 357, 379, 260, 351, 388, 452, 483, 525
446, 467, 515, 526, 531, 533, 538, Ethologie, vergleichende Verhaltens-
541, 578 ff. forschung, Verhaltensbiologie, Tier-
Einheit der Sinne 34, 132, 188, 195, psychologie 224, 228, 266, 268, 350,
215 f., 357, 461 353 f., 369, 376, 419, 468, 471–474
Ekstase, ekstatisch 63, 68, 296, 371 ff., Exogamie, Inzestverbot 294, 296
525, 563 Evolution 47, 51, 62, 74, 174, 179, 198,
Elargierung, Überdehnung, Radikalis- 224, 242, 266, 330, 421 ff., 440, 456,
mus, Hypermoral 355–357, 443, 518, 548, 573
469 f. Evolution/Geschichte 123
Emergenz 423, 426, 483, 523 Evolutionstheorie, Darwinismus 27,
Empirismus 74 f., 114, 498, 538, 579 47, 50 f., 62, 74, 102, 123, 174, 179,
Empirismus, logischer 576, 578, 594 198, 224, 228, 237, 266, 363, 378,
Endlichkeit 104, 442 ff., 585 488, 490 f., 510 ff., 538, 581 f.
Entfremdung, Selbstentfremdung, Existenz 74, 91, 97, 99, 116, 119 f., 123,
Verdinglichung 223, 237, 259, 268 f., 125, 156, 167, 185, 221, 280, 323,
284, 287, 295, 311 f., 322 ff., 330, 336 ff., 375, 390 f., 398, 469, 510,
356 f., 387, 389, 406, 427, 448, 508, 536, 562, 581, 596
589 Existenzphilosophie, Daseinsanalytik,
Entlarvung, Ideologieverdacht 279, Existentialismus 20, 94, 97 ff., 101,
426 f., 511 105, 120 f., 132, 154, 185, 193 f., 251,
Entlastung 159, 168 f., 171, 176, 178, 260 f., 264, 337 f., 350 f., 363, 367,
268, 271 f., 287, 293, 296, 309, 315, 380 ff., 467 ff., 485, 496, 500–505,
335, 408, 431, 440 f., 466, 543, 574 584 f.
Entsicherung 543 ff. Expressivität s. Ausdruck
Erb-/Erwerbsmotorik, -rezeptorik Exzentrische Positionalität, Exzentrizi-
224 tät 15, 74, 78 ff., 87 f., 131, 164,
Erfahrung 64, 77, 136, 139, 158 f., 170, 192 ff., 204, 216, 240, 326, 335, 346,
205, 228, 288, 435, 469, 508, 525 f., 414 f., 422, 424, 226, 449, 459, 531,
551, 596 538 ff., 553, 470, 582 f., 591
Erkennen, Erkenntnis, Erkenntnis-
theorie 26, 29, 31, 53 f., 65, 100, 102, Fakteninnen-, Faktenaußenwelt 296
116, 150, 174, 215, 423, 433 ff., 436, Familie s. Ehe
438, 485, 488, 493, 511, 518, 522, Form, offene/geschlossene 78, 537
553, 581, 586, 595 f. Formierung, Formierungszwang 172
Erleben 27, 36 f., 74 f., 96, 100, 129 f., Fortpflanzung 30, 63, 513, 546
150, 168, 269, 428, 513, 650 Frage, offene, Frage-Antwort 118 f.,
Erscheinung, Phänomen, Oberfläche 586
51, 200 ff., 362 Freiheit, Autonomie 75, 99, 105, 125,
Erscheinung, adressierte/unadressierte 130, 150, 154, 185, 206, 268 f., 298,
201 f., 362 304, 323, 336, 366, 376, 386 f., 389,
Erziehung, Sozialisation 392, 420, 417, 507, 526, 531, 541, 570, 596
425 f., Freund/Feind 119 f.
Es 147, 511 f., 515, 544 Frontalität 78, 537

Philosophische Anthropologie A 675


Sachen

Frühjahr, extra-uterines; physiologi- Geschlecht, Sexualität 18, 30, 46, 243 f.,
sche Frühgeburt 204, 370, 423, 250 ff., 270, 274, 277, 420 f., 530,
547 f., 575 563, 572, 592 f.
Führung, Handlungs-, Lebensführung Gesicht, Antlitz 195, 233, 246, 422, 465
67, 79, 166, 172 f., 177, 179, 189, Gestaltkreis 173, 246, 249, 373, 518
230 f., 249 f., 268, 426, 440, 483, 542, Gestalttheorie, -psychologie s. Ganz-
546, 568, 589 heitstheorie
Führungssysteme, oberste 166, 172 f., Gewalt 281, 297, 353–356, 379, 397,
175, 230 399, 400, 592
Funktionskreis s. Lebenskreis Gewohnheit s. Habitualisierung
Futteralsituation 565 Gleichgewicht, Balance, Ausgleich,
Proportion/konstitutive Gleichge-
Ganzheit, Gestalt 76 f., 88, 148, 205, wichtslosigkeit 47, 79 f., 151, 177,
523, 529, 534, 544 219, 247, 250, 253 f., 336, 357, 360,
Ganzheits-, Gestalttheorie, Gestalt- 379, 405, 432, 566, 574, 589
psychologie 38 Gott 26 ff., 55, 62, 67 f., 80, 128, 151,
Gebrochenheit, Umschwung 50, 79, 185, 221, 261, 269, 334, 346, 356,
225, 329, 420, 447, 523 f., 529, 541, 447 ff., 475, 507 f., 512, 540, 564, 573
549, 559 ff., 564, 572 Grenze, Membran, Begrenzung,
Geburt, Natalität 119, 202, 204, 241, Grenzfläche 32, 46, 52, 63, 77 f., 84 f.,
244, 370, 423, 477, 572 90, 129, 200 f., 348 f., 361 f., 368,
Geburt, zweite, sozio-kulturelle 420 422 ff., 531–534, 565, 567, 596
Gefühl, Emotion, Stimmung 25, 54, 56, Grenzen der Gemeinschaft (s. Elargie-
63–65, 71, 73, 147, 189 ff., 196, 268, rung) 34, 324 f., 355 ff., 469
280, 332, 346, 380 ff., 423, 515, 524, Grenzforschung, empirische Philoso-
528 ff., 567 f., 562, 566, 573, 583 f., phie 264, 303 ff., 494, 555 f., 579
592 Grenzsituation, Krise, Grenzreaktion
Gegenläufige Prozesse 276, 413 97, 189 f., 192, 194, 206, 349, 444,
Gegenstandsein, Vergegenständli- 554,
chung 304, 374, 414, 472, 528 Gruppen, Verbände, archaische 70, 141,
Gehirn, Zerebralisation 197, 203, 346 143, 157, 172, 204, 230, 276 f., 294 f.,
Geisteswissenschaften, Kulturwissen- 330, 421, 422 ff.
schaften 21, 28, 33, 37, 41, 44, 75 f.,
135–139, 143, 206, 258, 260, 280 f., Habitualisierung, Gewohnheit 64, 154,
288, 305, 327, 336, 433 f., 436 f., 444, 157, 159, 172, 196, 273, 286, 298,
450, 459 ff., 504, 510, 524 ff., 587, 316, 414
599 Haltung, Halt 143, 159, 172, 177,
Gemeinschaft/Gesellschaft 34, 420 246 ff., 258, 285, 316, 437, 541, 570,
Generationen 365, 367, 558, 572 574
Geschichte, Geschichtlichkeit 61, 67, Hand 48, 162, 168, 195, 328, 544, 578
74, 79 f., 113, 118, 120, 122 ff., 128, Handlung, Handeln 143, 153 f., 158,
139, 149, 150, 173, 184, 203, 258, 160, 167–176, 194 f., 241, 246, 268,
264, 296, 317, 329, 356, 394, 396, 272, 287, 297, 315, 335, 352 f., 385 f.,
422 f., 452, 456, 510, 539, 544, 548, 431, 439, 498, 527, 543 ff.
557, 571 f., 586 f., 591 f. Handlungshemmung 452
Geschichtsphilosophie 120, 145 f., Handlungskreis 170, 173, 297, 315,
283 f., 319 f., 442 f., 458, 477, 490 352, 518, 543 ff.
Geschichtswissenschaft 42, 335 Haus, Architektur s. Stadt, Urbanität

676 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Sachen

Haut 116, 166, 185, 193, 202, 296, 308, Individualität 276, 335, 379, 389, 392,
362, 571 515, 568
Heautonomie 32, 305 Industrie, Industriegesellschaft 155,
Hemmung 66, 144, 381, 513 220, 244, 274–277, 280–287, 296–
Hermeneutik, Philosophische Herme- 298, 300 f., 308, 322, 341, 390–396,
neutik, hermeneutische Lebensphi- 411 f.
losophie, Dilthey-Bewegung 34, 57, Innenwelt 79, 229, 296 f., 364 f., 375,
75 f., 224, 261, 305, 337, 441, 458, 527 f., 539, 544, 551 f., 560, 569, 585,
460–463, 468, 488, 497, 588, 593 f. 590
Hiatus 171, 177, 252, 296, 523, 543, Innen/Außen 26, 53, 77, 127, 323, 516,
554, 581 f. 533, 543, 565
Hintergrundserfüllung 293, 335, 544, Innerlichkeit 75, 90 f., 201, 242, 283,
569 f. 296, 323, 390, 441, 547 f.
Homo absconditus, Ungrundcharakter Instinkt 50, 64, 157, 165, 174, 267 f.,
35, 304, 356, 567, 586 317, 543, 564
Homo divinans 525 Instinktreduktion 171, 174, 219, 265,
Homo faber 503, 513, 525 271, 295, 315 f., 352 f., 400, 436, 523,
Homo pictor 525 543–547, 570
Homo sapiens, animal rationale 156, Institution 213 f., 230, 265, 270, 276 f.,
371 f., 404, 491, 503, 507, 513, 292–299, 307, 316 f., 320, 320 f.,
525 324 f., 335, 341, 352, 355 f., 545
Homo sociologicus 322, 387–393 Insulation, Gruppe 421 ff., 572
Hören, Vernehmen 216, 279, 285, 424, Intellektuelle 340, 355, 394, 416
517, 524, 588 Intelligenz 50, 60, 64 f., 70, 113 f., 157,
Horizontverengung, künstliche 119, 163, 165–168, 301, 513, 564, 581
329, 574 Intentionalität 25, 49, 53, 116, 191,
Humanitarismus 356 246, 373, 380, 436, 522, 529, 533,
Hypermoral, Elargierung von Sozial- 537, 539, 583 ff.
regulationen, Grenzen der Gemein- intentio recta/intentio obliqua 216, 583
schaft s. Elargierung Intersubjektivität, fremdes Ich, Gegen-
seitigkeit, (s. a. ego/alter ego, Kom-
Ich 157, 508, 514 f., 590 f. munikation) 49, 392, 551, 562
Idealismus 29 f., 44, 54, 60, 75, 87, 94, Inversion, Umkehr der Antriebsrich-
123, 136, 150 f., 154, 156, 182, 221, tung 163, 268, 295
269 f., 310, 322, 363, 442, 490, 493,
503 f., 507–516, 518, 520, 524, 531, Jugend 153, 161, 163, 228, 327, 372
533 ff., 538 f., 543 f., 557, 575–581,
593 f., 596 Kampf, Lebenskämpfe 96, 118, 144,
Identität 400, 426 f., 539, 580, 590 198, 347, 352, 568
Ideologie s. Entlarvung Kind, Kindheit 153, 162, 169, 179,
Imagination (s. Phantasie) 288, 374, 224 f., 246, 329, 372, 422 f., 548, 551,
439 571
Immanenz/Transzendenz 32, 68, 577 Kleidung, Kleidertheorie 295, 404, 544,
Indifferenz; Neutralität, psycho-physi- 566
sche 33, 49, 246, 352, 373, 396, 521 Kommunikation, kommunikativer
Indirektheit, Umweg 157, 177, 182, Umgang 161 f., 167–171, 229 f., 233,
269, 295, 323 f., 330, 391, 396, 432, 400, 404, 416, 429–432, 447–551,
439, 520, 525, 573, 589 f. 589 f., 592 f.

Philosophische Anthropologie A 677


Sachen

Kompensation 177, 272, 281, 413, Kulturwissenschaft s. Geisteswissen-


443 ff., 459, 574 schaften
Konjunktiv, kategorischer 374 Kunst; bildende Kunst, moderne 29,
Konstruktivismus, Kulturalismus 445, 33, 67, 70, 140, 142, 149, 267, 307 ff.,
488, 498, 553, 554, 556, 558, 592 340, 400, 433, 492, 541, 566
Kontakt 32, 37, 116, 167 f., 171 f., 204, Künstlichkeit, natürliche 79, 157, 177,
264, 297, 323, 383, 404, 516, 518, 219, 271, 286, 299, 371, 396, 540,
532 f., 544, 559–565, 570 f. 546, 574, 591 f.
Kopernikanische/Ptolemäische Wende Kybernetik 272, 363, 518
220, 571
Körper/Leib 33, 71, 129, 242, 246, 329, Lächeln 233, 245, 329, 353, 355, 372,
373, 382, 456, 524, 542, 563, 578, 567, 590
596 f. Lachen 135, 163, 188–196, 352–355,
Körper/Seele/Geist 229, 477, 539, 545 372 f., 382, 444 f., 468, 525, 554, 565,
Körperausschaltung, -befreiung, Or- 578, 588
ganausschaltung 48, 162, 176, 271– Landwirtschaft, Tierhege 272, 276,
274, 328, 348, 421 f., 468, 518, 582 295, 296
Körperform, menschliche 162–166, Leben, Organisches 35 f., 51 f., 65, 69,
187, 211, 326 f. 74–77, 87, 96 f., 103, 179, 198,
Körperhaltung (s. a. Haltung) 524, 547 200 ff., 241, 268, 361–364, 368,
Körperbewegung s. Bewegung, Moto- 523 ff., 527, 529, 536, 542, 544, 547,
rik 549, 551, 563, 567, 571, 583, 585,
Korrelation, Korrelativismus 24 f., 590
45 f., 77, 79 f., 138–141, 144, 146 f., Leben als Innerlichkeit/Erscheinung/
200, 373, 428, 439, 440, 446, 522– Erhaltung 198–202, 361 f., 369,
528, 533–537, 5441 f., 559 f., 565, 546
567, 572 f., 583 Lebenskategorien s. Vitalkategorien
Krankheit 249–253, 262, 337, 412 Lebenskreis, Funktionskreis des Le-
Kristallisation, kulturelle 341 bendigen, Organismus-Umwelt, Ge-
Kritische Ontologie 42 staltkreis, Situationskreis, System-
Kritische Theorie, Frankfurter Schule Umwelt, Rückkoppelung,
(s. Marxismus) 13, 113, 312, 314, Kreisprozeß 46, 77, 79, 143 f., 167,
321, 332, 384 ff., 402, 429 f., 441, 169 f., 173, 176 f., 195, 224, 246, 249,
453, 458, 466 f., 487, 500, 575, 588 297, 315, 328, 352, 373, 375, 420,
Kritizismus s. Transzendentalphiloso- 519, 521–524, 528, 540, 542–549,
phie 558 f., 567–572, 596
Kult s. Ritus Lebensphilosophie, Intuitionismus 27,
Kultur 34, 102, 105, 137, 143, 148 f., 137, 582
157, 159, 255, 258 f., 263, 352, 574 Lebensphilosophie, hermeneutische
Kulturalismus s. Anthropologie, his- s. Hermeneutik
torische; Konstruktivismus Lebensstil 141–149, 159, 256 ff., 316,
Kulturen 118 ff., 143, 145, 149, 225, 450, 540 ff., 567 f., 574
230, 254, 258, 372, 520, 525, 542, Lebensstrom, élan vital 27, 74, 491,
549 f., 558, 567 ff., 574 f. 513, 519, 542, 582 f.
Kulturanthropologie 121, 134, 146, Lebenswelt, vorwissenschaftliche Welt
149, 151, 182, 213, 215, 236, 258 ff., 69, 75, 131 f., 246, 256, 261, 300, 307,
301, 306, 317, 414, 419, 437, 458, 318, 379, 402, 425, 427 f., 436 f., 439,
575 441 f., 489, 491 f., 505, 520, 584

678 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Sachen

Leib, Leiblichkeit 33, 79, 243, 251 f., Monopole des Menschen 28, 47, 67–
336 ff., 380, 456, 469, 519 f., 584 f. 72, 79, 89, 188, 194, 233, 264, 315,
Leibidee 125 f. 336, 338, 440, 446, 457, 491, 524 f.,
Leibphänomenologie 220, 232, 245, 538, 554
380, 432, 469, 486, 527 Moral, Sittlichkeit, Normativität, Gel-
Leidenschaft s. Bedürfnis tung s. Ethik; Elargierung
Leitidee 298, 414 Musik 33 f., 39, 53, 98, 107, 161, 468,
Luxurierung 276, 423 565, 577, 588,
Mythos 34, 67, 107, 125 f., 148, 224,
Macht/Ohnmacht 51, 119, 172 f., 191, 424, 435–439, 440 f.
203, 398
Magie 273 Nachahmung 153, 212, 229, 245, 391
Mängelwesen 174, 176, 179, 219, 224, Natur 119, 154, 166, 199, 205, 221, ,
230, 271, 348, 423, 466, 523, 543 f. 232, 262 f., 296, 327, 352, 493, 508,
Marxismus 122, 133, 236, 265, 268, 519, 526, 557, 568, 577, 580, 590
322 f., 356 f., 389, 490, 516 Naturalismus, Materialismus 33, 45,
Maske s. Rolle 47, 54, 123, 125, 136, 142, 162, 241,
Materialismus s. Naturalismus 310, 364, 456, 492, 498, 515, 538,
Mathematik, Geometrie 33, 107, 468, 557 f., 581, 584, 589, 598
565 Naturphilosophie 37, 73, 76, 87, 91, 99,
Medien 299 f., 336, 383, 422, 492, 591 f. 102, 105 f., 111, 117 ff., 121, 130,
Medium 63 f., 98, 151, 170, 204, 206, 138 f., 165, 185 ff., 199, 223, 319,
299, 328, 368, 420, 422, 520, 565 325 f., 337, 359–364, 366 ff., 442,
Medizin, medizinische Anthropologie 490, 521, 527, 534 f., 543, 550 ff.,
39, 43, 115, 248–251, 373 f., 380 ff. 577, 596
Membran, Semipermeabilität s. Gren- Naturwissenschaft 62, 74, 114, 137,
ze 199, 248, 251, 273, 338, 346, 363,
Menschwerdung, Anthropogenese 51, 379, 489 f., 510, 579
167 f., 176 f., 179, 296, 420–424 Natur-/Lebens-/Geisteswissenschaften
Meso-/Mediokosmos 558, 571 29, 41–44, 74, 305, 433, 435, 459 f.,
Metapher 148, 150, 255 f., 258, 328, 526, 556
424, 436–441, 542 Negation, der Sinn fürs Negative, Ver-
Metaphorologie 436–439, 445, 450 neinung, das Nichts 229, 446
Metaphysik 23–31, 38, 53, 56, 61, 67 f., Neinsagenkönner (s. a. Askese) 65, 67,
70, 72, 90, 104 f., 122, 127, 131, 199, 375, 527, 529 f.
231, 239, 304, 315, 336, 446, 496, Neopositivismus, Logischer Empiris-
554 f., 563, 573 f., 595 mus, Wissenschaftliche Weltauffas-
Mikro-/Makrokosmos 571 sung 74 f., 114, 314, 385, 498, 538,
Mitwelt s. Sozialität 576, 578 f.
Modalitäten der Sinne 33 f., 565 Nesthocker, sekundärer/Nestflüchter
Moderne, moderne Gesellschaft (s. In- 203, 546 f., 558, 572
dustriegesellschaft) 16, 30, 127 f., Neukantianismus 24, 31, 34, 53, 97,
155, 183, 220, 273 f., 276, 279 ff., 101, 104–107, 111, 124, 397, 403,
285, 296 ff., 301, 307–310, 323, 333, 436, 496, 503, 512, 517, 577 f.
341–344, 372, 393, 401, 403–409, Neutralität s. Indifferenz, psycho-phy-
414 f., 418 f., 429–432, 443–447, 466, sische
496, 596 f. Nichtfestgestelltheit, nichtfestgestell-
Moderne Kunst s. Kunst tes Tier s. Tier, nichtfestgestelltes

Philosophische Anthropologie A 679


Sachen

Normen, Normativität 79, 329, 388, Phantasie, Vorstellungskraft, Einbil-


393, 396 ff., 435, 444 dungskraft, Bewegungsphantasie 66,
68, 80, 162 f., 168, 170 f., 177 ff., 195,
Offenheit (s. a. Weltoffenheit) 120, 229, 268, 295 f., 343, 374 f., 398, 400,
122, 348, 397, 408, 420, 423, 440, 439, 473, 518, 553, 566, 587
573, 575, 586 Philosophie, empirische 264, 304, 494,
Öffentlichkeit 35, 108, 281, 321–324, 555 f., 579
403–406, 411, 417, 430, 558, 566 Philosophie/Fachwissenschaften s.
Ökologie 370, 444 Wissenschaftsphilosophie
Ökonomie, Wirtschaft, Eigentum 123, Phylogenese, Menschwerdung, Ab-
125, 136, 140, 150, 155, 269 f., 287, stammung, Entstehungsgeschichte
293, 341, 415, 459 f. d. Menschen, Anthropoiden 51, 74,
Ontogenese 203, 205, 420 f., 547 f., 167 f., 176–179, 198, 202, 205, 224,
571 ff. 296, 420–424, 440, 477, 511, 573,
Ontologie 42, 54, 92, 115, 119, , 135, 581
147, 532, 553 Physik 27, 36, 114, 198, 200, 223, 303,
Organ 46, 51, 77, 201 f., 268, 271 f., 363, 369
328, 362, 376, 398, 423, 522 Plastizität 167, 169, 195, 347, 414, 511,
Organersatz, -entlastung, -überbie- 571 f.
tung 271 f. Pluralität 34, 107, 356 ff., 438, 587
Organprimitivismen 166 Politik 118, 133, 184, 296, 406,
Organismus s. Leben 443
Organismus-Umwelt 77, 141, 146, 535, Politische Philosophie, politische An-
541, 543, 565, 585 f. thropologie 115, 118–122, 133, 142,
Orientierung, Welt- 97, 172, 189, 262, 155, 174, 181
293, 398, 437, 439, 579, 582 Positionalität, Gesetztheit 77–80, 87 f.,
Ort, natürlicher/Standort, utopischer 118, 131 f., 192 f., 195, 204, 216, 262,
79 301, 326, 347, 364, 376, 409, 422,
424, 432, 475, 531, 534–540, 553,
Pädagogik, Erziehungswissenschaft 566, 570, 574, 578, 580 ff., 590
420 f. Positionalität, zentrische 78, 537
Person, Personalität 130, 147, 192, 391 Positivismus 29, 114, 290, 305, 313 f.,
Persönlichkeit 30, 146 ff., 153, 298, 385, 388, 578 ff.
378 ff., 568 Pragmatismus 29 f., 160, 176, 182, 196,
Perspektive s. Aspekt 213, 271, 296, 425, 429 f., 472, 481,
Perversionen 250, 374 486, 585 ff.
Pflanze 27, 49, 51 f., 63, 69 f., 78, 99, Prägnanz 577
199, 221, 229, 257, 262, 360 f., 433, Praktische Philosophie s. Ethik
521 f., 528, 545, 568 Primaten, Affe, Schimpanse, Prima-
Phänomenologie, Phänomenologische tenforschung 50 f., 78, 166, 328, 350,
Bewegung 9, 12, 24 ff., 31 ff., 38, 371, 518, 545
42 ff., 56, 69 f., 81, 88, 112, 129, 131, Psychiatrie 43, 251, 373, 381, 383
135, 158 f., 186, 191, 199–202, 220, Psychoanalyse, Tiefenpsychologie 112,
232, 243, 245, 248, 250 ff., 275, 282, 148, 248 f., 268 f., 278 f., 322, 351 f.,
285 f., 313 f., 347, 368, 373, 376 f., 374 f., 442, 485
380 ff., 388, 407, 425–428, 432, Psychologie 21, 23, 27, 45 f., 67, 147 f.,
439 ff., 485, 495 f., 518, 520, 527 f., 186, 242, 250, 270, 296, 303, 373–
532, 583 f. 383, 510, 513, 584

680 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Sachen

Psychopathologie 38, 250–253, 381 Schamanismus 295 f.


Psychosomatik 248 f., 382 Schauspieler 212, 243, 280, 302, 324,
558, 565
Radikalismus s. Elargierung Schicht, Schichtung (s. Stufen) 54, 63,
Rasse 114, 124 ff., 128, 133, 145 f., 148, 66, 110, 147, 179, 304, 469, 518, 523,
156, 165, 174, 181, 184, 212, 311, 536
347 Schlaf 247, 263
Raum, Räumlichkeit 77, 170, 177 f., Schmecken, Geschmack 242, 383, 424
273, 369, 379, 446, 505, 532, 536, Schmerz, Verletzungsoffenheit 191,
539, 546, 553 196, 242, 280, 377, 398, 530
Recht 140, 298, 416 Seele, Psyche 24, 32, 35, 87, 100, 136,
Rechtstheorie, -soziologie 140, 179, 139, 164, 190, 194, 296, 432, 472,
230, 319, 384, 394, 414, 416 ff. 513, 538, 560
Reflexion, Dauerreflexion 413–418, Sehen, Sehstrahl, Blick, Auge s. Blick
430 f., 470 Seinswert, demonstrativer, Selbstdar-
Reizüberflutung 407, 441, 569 stellung, s. Erscheinung
Religion, Heils-, Erlösungswissen 30, Seinswert, Selbstwert im Dasein 293
67 f., 70, 72, 80, 107, 136, 150, 163, Selbstdomestikation 205, 329 f.
400, 423, 427, 445–449, 459, 508 f., Selbstentfremdung s. Entfremdung
579 Selbstorganisation 371
Repräsentation, symbolische 195, 593 Selbstverhältnis, Selbstbewusstsein 46,
Resublimierung 128, 281 98, 170, 354, 469, 512, 540, 558, 561,
Retardation, Fötalisierung 51, 95, 167, 565, 568 f., 571, 590
202, 228, 293, 352 Semiotik 372
Reziprozität der Perspektiven 392, 426 Sensomotorik 167–170, 178, 215, 248,
Rhetorik 438 f. 279, 545, 551, 565, 588, 592
Richtigkeit/Wichtigkeit, Logizität/Be- Setzung, Setzen 32, 87, 153, 508, 529,
deutsamkeit 256 534–540
Riskiertheit 206, 272, 352, 569 f. Sexualität 30, 250 ff., 274
Ritual, Ritus, Zeremonie, Kult 270, Sinne, Sensorik, Sinnlichkeit 33, 104,
294 ff., 342, 353 f., 374, 545, 569, 128, 248, 262, 279, 310, 467, 509,
587, 592 517, 593
Rolle, Maske (s. a. Schauspieler) 35, Sippenverband, Verwandtschaftsstruk-
233, 269 f., 324, 392, 432, 566, 589 turen 294 f.
Situation, Lage 48, 50, 70, 97, 99, 124,
Sache, Realität, Wirklichkeit 21, 44 f., 141, 143, 153, 156, 159, 171, 187,
57, 63, 65, 67, 92, 114, 136, 142, 147, 189 f., 192, 194, 216, 223, 243, 286,
149, 151, 153, 155, 159, 167, 171, 294, 328, 371, 376, 399, 407 ff., 544,
215, 252, 256, 270, 300, 303, 426, 565, 574
439 ff., 509 f., 515, 528, 552, 559, Sonderstellung 47, 51, 62, 69, 71, 87,
561, 567, 569, 596 89
Sachlichkeit, Sachzwang 66, 169, 198, Sozialisation 392, 420, 425 f.
256, 277, 285, 290, 353 f., 432, 527– Sozialität, Mitwelt, Wirsphäre 79, 157,
530, 540 229, 246, 296, 364, 527, 539, 550 ff.,
Sachverhalt/Feldverhalt 24, 534, 579 590
Sanktion 143, 388, 397 Sozialphilosophie 35, 321, 325, 487,
Scham 25, 129, 299 f., 316, 562–566, 550 ff.
578, 590 Soziologie 19, 213, 220, 222, 236, 240,

Philosophische Anthropologie A 681


Sachen

270, 274, 276 f., 280, 282, 285, 307, symbolische Formen 34, 101–107, 111,
320, 322, 341, 358, 371, 383–435, 336 f., 436, 480, 485, 492, 549, 577
470, 501, 509, 592 Sympathie, Nachfühlen, Mitfühlen 25,
Spezialisiert/Unspezialisiert, Entspe- 293, 392, 590
zialisierung, Entdifferenzierung 48, System, offenes 86
70 f., 163, 268, 293, 396, 411, 543 Systemtheorie 86, 432, 465 ff., 535 f.,
Spiel 161 576, 592 ff.
Sport 280–283, 394
Sprache, Wort, Satz 28, 33 f., 47, 50, 67, Tanz (s. a. Ekstase) 34, 216, 525, 565
70 ff., 101, 107, 148, 162, 168 ff., 178, Tasten, Haptik, Auge-Hand-Feld 32,
188 f., 196, 204, 224 f., 229, 232 f., 65, 162, 168, 229, 328, 424, 524, 561,
248, 257, 262, 279, 294, 315 f., 328, 567, 578, 588
339, 348 f., 424, 429 f., 456 f., 464, Technik, Maschine, Werkzeug 28, 35,
468, 505, 517, 524, 545, 577, 588, 47 ff., 67, 70, 157, 219, 272 ff., 285 f.,
591 297, 299, 377, 396, 401, 422, 424,
Sprachmäßigkeit 170, 588 446, 466, 524, 544, 582
Sprachphilosophie, Sprachwissenschaft Technikphilosophie 595
168, 336, 488, 497, 595 Teilhabe am Sein 25, 30, 122, 511, 560,
Staat 67, 124 ff., 136, 156, 184, 265, 563
280, 340, 352, 355 f., 413, 424 Teleologie 36, 364, 511, 520, 529, 557
Stabilität, Stabilisierung, Dauer, Theater, Schauspiel s. Schauspieler
Sicherheit 167, 189, 276 f., 293, Theologie, Religionsphilosophie 21,
297 f., 408 f., 415, 446, 469 f., 573, 28, 68, 237, 242, 304, 359, 445–449,
Stadt, Urbanität 35, 277, 281, 396, 398, 564
403–407, 409 f., 411, 419 Tier 47, 71, 78, 106, 165, 187, 189, 205,
Standort, utopischer s. Ort, natürlicher 215, 225, 233, 243, 249, 296, 299,
Staunen, Verwunderung 30, 378 530, 537, 541, 543
Stellung, Position, Stellungnahme 62, Tier, das nicht festgestellte 171 f., 178,
67, 69, 72, 82, 87, 144, 157, 172, 459, 569
190 f., 243, 253, 563 Tier/Mensch-Vergleich 53, 138, 165,
Stil, Kulturstil s. Lebensstil 181, 225, 242, 247, 249, 473, 523,
Stimme, Laut 195, 328, 505 530, 549
Strukturalismus 294, 296, 463 ff., 501, Tierzucht, -kult, -hege (s. a. Totemis-
591 f. mus) 230, 272
Stufen des Lebendigen (s. Schichten) Tierpsychologie s. Ethologie
63, 77, 157, 165, 179, 224, 302, 326, Tod, Sterben, Sterblichkeit 205, 446
364, 516 Todesursprung des Geistes 375
Subjekt, Subjektivität 26, 75, 153, 191, Töten (Selbst-) 400
212, 268, 270, 380, 415, 508–512, Totemismus, Totemtier 230, 277,
531, 534, 575 ff., 589 f. 294 f., 432, 587
Subjekt-Objekt-Relation 53, 434, 520, Totenbestattung, Grab 446, 525
522, 524, 532, 583 Tradition 64, 156, 204, 244, 316, 444
Subjekts, Konkretisierung des 516, Transzendentalphilosophie, Kritizis-
561 mus 28, 104, 442, 492 f., 516 f., 590
Subjektivismus 73, 293, 297, 351, 374 Transzendenz ins Diesseits 296
Sublimierung, Raffinierung 29, 66, Trieb, Antrieb, Antriebsleben 29 f., 47,
252, 314, 321, 464 64–67, 123 f., 144, 158, 162–168,
Symbol 71, 492 171 ff., 251 f., 293–297, 327, 329,

682 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer


Sachen

352 f., 376, 414, 426 f., 472 f., 511, 403, 406, 413, 416–419, 438 f., 440,
528, 543 f., 563, 569 f., 586 444 f., 455, 456 f., 490 f., 507–511,
512 f., 515–517, 524, 570, 578 f., 582,
Üblichkeit 444 596
Umschwung s. Gebrochenheit Verstiegenheit, Verschrobenheit, Ma-
Umwelt/Welt 64 f., 79, 131, 138, 141– nieriertheit 253
147, 163, 166, 189, 224 f., 241, 254, Vertrautheit/Fremdheit 118 ff., 142,
422, 559 ff., 565, 582, 584 568
Umwelt/Innenwelt 46, 141, 428 Verwandtschaft 294, 424, 570
Umweltintentionalität 49, 246, 373, Virtualität 505
522, 584 Vitalismus, Neovitalismus 35 f., 43, 76,
Unbewusstes 280, 360, 375, 511 86, 369
Unergründlichkeit, Prinzip der 117– Vitalismus-/Mechanismus-Debatte 35,
121, 142, 344, 387, 432, 464, 566, 368
573, 586 f. Vitalkategorien 36, 77, 201, 525, 540 f.
Ungrund s. homo absconditus Völkisch-politischer Realismus, Politi-
Universität 58, 414 sche Philosophie, Völkische Anthro-
Unmittelbarkeit, vermittelte 79 f., 177, pologie, Philosophie des National-
189, 200, 269, 323 ff., 328 f., 352, sozialismus 114 f., 174–183, 325
396, 422, 540, 566, 573, 591 Voluminosität, Resonanz, Atmosphäre
Unsicherheit (s. Riskiertheit) 352, 446, 33, 189 f., 305, 565
569 f. Vor-, Frühgeschichte 295, 493
Unspezialisiertheit 158, 172, 423 Vorstellen, Vorstellung 24, 63, 66 f., 71,
Urteilskraft 32, 283, 305, 556 88, 170, 398, 400, 512

Verdinglichung s. Entfremdung Wahn 252 f., 371, 374, 381


Verdrängung 148, 329, 346, 589 Wahrnehmung (s. a. Sinne) 25, 64, 71,
Vererbung, Anlage 159, 204, 551 76 f., 159, 167 f., 216, 300, 532, 541,
Vergeistigung/Versinnlichung 524 543, 559, 565, 569, 592
Verhalten 48 ff., 64–67, 138, 141, 143, Weinen 135, 163, 188–196, 206, 246,
159, 170, 174, 178, 186–193, 196, 253, 264, 316, 329, 349, 372, 377,
213–217, 224, 230, 232 f., 245–249, 382, 444, 525, 554, 574, 578, 588
253, 266 ff., 279, 316, 348–355, 376– Weltbild, Weltanschauung, vorwissen-
379, 389–393, 397 f., 403 f., 445 f., schaftliches Weltbild 114, 136, 140,
468, 473 f., 529, 537 ff., 541 f., 544 ff., 150, 175, 298, 307, 450, 540 ff., 568
570, 588 Weltgrund 68, 80, 477, 558, 561, 573
Verkörperung 230, 279 f., 287, 294 f., Weltoffenheit 65 f., 88, 142, 163, 168,
329, 357, 393, 446, 565 f., 581, 591 171, 173, 181, 196, 203 ff., 224 f.,
Vermittlung 32, 35, 75, 191, 193, 229, 240, 295, 371, 373, 407, 423, 426,
305, 373, 388, 518, 549, 580 431, 440, 445 f., 448, 519, 523, 527–
Verpflichtung, unbestimmte 295 530, 551, 564, 570 f.,
Verschränkung, kategoriale 29, 66, 79, Weltoffenheit/Umweltgebundenheit
138, 223, 225, 257, 408, 553, 557, 254, 287
592 Weltraumfahrt, Raketentechnik 35, 65,
Vernunft, Rationalität, Intellekt 32, 34, 219, 300
44 f., 64, 71, 101, 105, 114, 127 f., Werkzeug s. Technik
155, 171, 192, 255 ff., 273, 288, 294, Werte 25, 52, 66, 136, 190, 223, 254,
296, 304, 317, 321, 337, 357, 371 f., 358, 381, 420, 530

Philosophische Anthropologie A 683


Sachen

Widerstandserlebnis 65 f., 561 114, 136 f., 155, 222 f., 303 ff., 305,
Wille 66, 128, 147, 149, 150 f., 154, 192, 315, 385, 388, 433 ff., 438, 459 f.,
195 f., 265, 329, 472, 511 f. 578 ff., 595
Wirklichkeit s. Sache Witz, Komik 187 f., 190, 210
Wissen; Leistungs-, Bildungs-, Heils- Würde 74, 517, 526, 531
wissen 30, 107, 423, 579
Wissens-, Kultursoziologie 29 ff., 58 f., Zeit, Zeitlichkeit 27, 56, 65, 77 f., 100,
113 f., 131, 140, 183, 306, 332, 395, 170, 178, 204 f., 407, 422, 510, 513,
427 515, 536, 546 ff., 560 f., 562, 571 ff.
Wissenschaft 18, 33 f., 40 ff., 47, 67, 79, Zeremonie s. Ritual
96 f., 101 f., 150, 163, 256 f., 264, 281, Zoologie 197 f., 223, 239
186, 303 f., 315, 359, 412 f., 489 f., Zucht (Selbst-), Zuchtwesen, Disziplin,
509 f., 515, 518, 525 f., 555 f., 577, Erziehung 145 f., 172 ff., 179, 219,
578 f., 585 ff. 231, 296, 317, 569
Wissenschaftsphilosophie, Einheits- Zucht s. Tierzucht
wissenschaft 33 f., 40 ff., 101 f., 107, Zweckmäßigkeit, sekundäre 296

684 ALBER PHILOSOPHIE Joachim Fischer

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