Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Das Ereignis
Martin Heidegger,
Emmanuel Levinas,
Jean-Luc Marion
KONTEXTE
ALBER PHÄNOMENOLOGIE
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
B
ALBER PHÄNOMENOLOGIE A
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Das Ereignis stellt ein bedeutsames Thema der gegenwärtigen Phi-
losophie dar. Wir alle kennen Ereignisse – sie ereignen sich mit uns.
Doch was ist das Ereignis? Was kennzeichnet es, wie ereignet es sich?
Wie ist es denkerisch zu beschreiben? Es stellt sich heraus, dass die
Ereignisse genau das sind, wovon man nicht fragen kann, was sie
sind, wie sie sind und wie man sie denken kann. So verfolgt das Buch
in der Philosophie Martin Heideggers, Emmanuel Levinas und Jean-
Luc Marions drei – mit Jacques Derridas Worten: »wahnsinnige« –
Versuche, das Undenkbare zu denken.
Die Autorin:
Lasma Pirktina studierte Philosophie an der Universität Lettlands in
Riga und der Technischen Universität Dresden; Promotion an der Ka-
tholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Lasma Pirktina
Das Ereignis
Martin Heidegger,
Emmanuel Levinas,
Jean-Luc Marion
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
PHÄNOMENOLOGIE
Texte und Kontexte
Herausgegeben von
Jean-Luc Marion, Marco M. Olivetti (†) und
Walter Schweidler
KONTEXTE
Band 28
Originalausgabe
Printed in Germany
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Danksagung
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Danksagung
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Inhaltsverzeichnis
Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Inhaltsverzeichnis
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Inhaltsverzeichnis
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Inhaltsverzeichnis
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490
10
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Siglenverzeichnis
11
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Siglenverzeichnis
12
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Siglenverzeichnis
13
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
»Niemand kann auf Dauer dieses Abenteuer wollen, dass
aus der Leere unwahrscheinliche Namen auftauchen.
[…] Selbst dem, der an den Rändern der Ereignisstätten
umherirrt und sein Leben für die Gelegenheit und des
unmittelbaren Eingriffs riskiert, empfiehlt es sich am
Ende, ein Wissenschaftler zu sein.«
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Einleitung
17
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Einleitung
einen würde. Ein solches Unternehmen läuft aber Gefahr, ein gedank-
liches Monstrum zu schaffen, dem nichts entspricht, das sich an
nichts mehr erinnert. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, eine
»Sache« zu untersuchen, die wir Ereignis nennen, und nicht eine
Sache, ausgehend vom Gebrauch des Wortes »Ereignis«, zu konstru-
ieren. Obwohl diese »Sache« noch zu befragen ist, bestimmen wir sie
im Voraus ungefähr als ein Aus-sich-Transzendieren, Mit-dem-An-
deren-Sein. Dies könnte im Allgemeinen das Ereignishafte in seinen
unendlichen Gestalten, wie zum Beispiel: Sinnlichkeit, Liebesbegeg-
nung, Offenbarung, Inspiration etc., charakterisieren.
Wir betonen: Man kann dem Wort »Ereignis« auch andere Be-
deutung geben als wir hier es tun, man kann mit diesem Wort auch
andere Sachen bezeichnen, was auch der Fall ist: In der angelsächsi-
schen Philosophie wird das Ereignis als ein empirischer Prozess ver-
standen; in der Geschichtsschreibung geht es um geschichtliche Er-
eignisse, die datiert und in ihrer Faktizität untersucht werden;
schließlich gibt es auch event management. Auch in der Philosophie
spielt der Begriff des Ereignisses verschiedene Rollen. Das Ereignis
Heideggers ist auf keinen Fall das Ereignis Deleuzes oder Richirs. Es
wäre sehr unvorsichtig zu denken, dass es trotz dieses unterschiedli-
chen Gebrauchs dieses Wortes um ein und dasselbe geht, nämlich um
das Ereignis, das gleichwohl zur Ontologie, Geschichte, Management
und Philosophie von Heidegger, Deleuze und Richir gehören würde.
Es gibt keine Philosophie des Ereignisses, es gibt Philosophien, in
denen das Wort »Ereignis« auftaucht. Die vorliegende Arbeit spricht
nicht von dem unterschiedlichen Gebrauch des Wortes »Ereignis« in
der gegenwärtigen Philosophie und noch weniger versucht sie, aus-
gehend von diesem Gebrauch etwas zu konstruieren, das es gar nicht
gibt. Sie spricht von einer ganz konkreten »Sache«. Sie wählt für
diese »Sache« den Namen »Ereignis« – so wie es viele Denker, zum
Beispiel Heidegger, Derrida, Romano auch tun. Sie berücksichtigt
aber auch Denker, die diese »Sache« nicht Ereignis nennen, und trotz-
dem diese »Sache« behandeln, wie das zum Beispiel bei Levinas der
Fall ist. Sie berücksichtigt nicht die Denker, die dasselbe Wort be-
nutzen, aber von einer ganz anderen Sache sprechen.
Wenn wir hier unter dem Ereignis eine bestimmte »Sache« ver-
stehen und uns von anderem Gebrauch dieses Wortes abgrenzen,
heißt es nicht, dass wir uns um eine, um die richtige Definition und
dementsprechend um den richtigen Gebrauch dieses Wortes be-
mühen. Es geht hier nicht um ein Wort. Es geht ausschließlich um
18
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Einleitung
19
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Einleitung
20
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Einleitung
menologie Husserls der Fall ist), sondern von der Sprache – von der
Sprache als Prozess der Differenzierung, den Derrida in De la gram-
matologie (1967) »Urschrift« (archi-écriture) nennt. Während wir,
wenn wir die Sprache gebrauchen, immer auf den Sinn gerichtet sind,
differenziert die Urschrift nach ihren eigenen und uneinholbaren Ge-
setzen die Elemente des Sinnes. Selbstverständlich bleibt der Prozess
der Urschrift für das Bewusstsein, das den Sinn versteht, uneinholbar
– jeder Denkakt, der versuchen würde, die Urschrift zu denken, wür-
de sie schon voraussetzen. Die différance ist niemals im Bewusstsein
anwesend, sie erscheint niemals in der Präsenz des Bewusstseins:
»Wenn aber die différance das ist (ich streiche auch das »ist« durch),
was die Gegenwärtigung des gegenwärtig Seienden ermöglicht, so
gegenwärtigt sie sich [se présente – L. P.] nie als solche. Sie gibt sich
nie dem Gegenwärtigen hin. Niemandem.« (RG, 34/MPh, 6) Die dif-
férance stellt die Autonomie des Sinnes und damit des Bewusstseins
in Frage – das Bewusstsein ist ein Derivat. In demselben Vortrag
bringt Derrida seinen Denkansatz – und das ist auf den ersten Blick
keine Überraschung – mit dem Denken von Heidegger, Nietzsche,
Freud und Levinas zusammen. Und doch sollte dieser Bezug über-
raschen: Ist das, was Levinas denkt, grundsätzlich mit dem vereinbar,
was Freud denkt? Oder handelt es sich hier um die Nicht-Beachtung
eines kleinen, aber wesentlichen Unterschiedes? Oder vielleicht: Der
Unterschied wird gesehen, aber er scheint nicht wichtig zu sein, so-
dass er besonders hervorgehoben werden sollte. Wie zeigt sich die
Nicht-Beachtung dieser Differenz im Falle des Ereignisdenkens Der-
ridas? So, dass das Ereignis (événement) – wie wir es später ausführ-
licher zeigen werden – nicht im Bewusstsein erscheinen kann, ohne
dadurch aufzuhören das zu sein, was es ist. Kurz: Das Ereignis kann
nicht im Bewusstsein erscheinen. Dies erinnert an die Argumentation
hinsichtlich der différance der Urschrift, und doch ist die différance
und das Ereignis (oder différance im Ereignis) in der Philosophie Der-
ridas auf keinen Fall ein und dasselbe. Wo liegt der Unterschied? Er
wird nicht von Derrida explizit untersucht. Wir können nur beobach-
ten, dass es irgendwann in seiner Philosophie nicht mehr um die
ziemlich strukturalistisch bzw. poststrukturalistisch verstandene Ur-
schrift geht, sondern um Ereignisse: um »Gabe« (don), »Vergebung«
(pardon), »Gastlichkeit« (hospitalité) u. a.
Wird der Unterschied zwischen dem Denken der Bedingtheit des
Subjekts und dem Ereignisdenken nicht untersucht, bleibt die Phi-
losophie des Ereignisses fragmentarisch, zerstreut, unbedeutend; sie
21
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Einleitung
22
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Einleitung
23
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Einleitung
Wir möchten von der Ontologie und nicht schlicht von der Wissen-
schaft sprechen, weil genau das Wort »Ontologie« die Kritik erlaubt,
dass wir mit einem voraus-gesetzten, unbefragt gesetzten Sein zu tun
haben, wenn wir also nicht vorher geklärt haben, was die Setzung
selbst ist, die dann eine fortschreitende Erkenntnis ermöglicht; was
vor der Setzung ist; wer die Setzung vollzieht u. dgl. Wenn wir also
gesagt haben, dass das Denken des Ereignisses sich in der Ontologie
verlieren kann, dann meinten wir damit, dass, wenn man nicht auf-
merksam ist, es das Ereignis bloß als einen Gegenstand der Unter-
suchung setzen kann, was das Ereignis nicht ist. Die vorliegende Ar-
beit möchte also diesem Sich-Verlieren des Ereignisdenkens in der
Ontologie ein wenig entgegensteuern. Es geht darum, das Ereignis
als ein spezifisches Konzept jenseits dieses Diskurses zu etablieren,
wie es zum Beispiel im Denken Heideggers ist. Es geht darum, zu
zeigen, dass das Ereignis jenseits alles Ontischen und deswegen onto-
logisch uneinholbar ist. Es kann nie als ein Sachverhalt, Prozess u.
dgl. beschrieben werden. Noch radikaler verstanden: Das Ereignis
kann nie als ein Gegenstand thematisiert werden, ohne das themati-
sierende Subjekt, ohne die Thematisierung selbst zu befragen. Das
heißt nicht, dass das Ereignisdenken eine transzendentalphilosophi-
sche Erkenntnistheorie darstellt, die das konstituierende Subjekt ins
Zentrum ihrer Betrachtung stellt. Es heißt nur: Das Ereignisdenken
hat nie versucht, das Subjekt aufzulösen und es in einen ontischen
Prozess zu integrieren. Es denkt immer von einem Subjekt aus und
zwar so, dass es sich selbst angesichts eines Anderen verlassen muss.
Es denkt eine Begegnung, ein Aus-sich-Heraustreten. Eine Ontologie
kann niemals eine Begegnung denken, weil sie eine Seite der Begeg-
nung, nämlich den Ontologen selbst immer vergisst – deswegen, weil
sie so sehr auf seinen vorausgesetzten Gegenstand konzentriert ist.
Wenn man das Ereignisdenken als Aus-sich-Heraustreten nicht
klar von den ontologischen Denkansätzen abgrenzt, die die Bedingt-
heit des Subjekts durch die ihm inneren und äußeren Prozesse (auch
Ereignisse genannt) denken, entsteht eine verwirrte Lage, in der sich
die Ereignisforschung heutzutage ständig befindet. Die Verwirrung
besteht vor allem darin, dass vom Ereignis gleichzeitig behauptet
wird, dass es nicht erfahren (weil es ohne Subjekt als seine Bedingung
geschieht) und doch erfahren (weil es ein besonderes Erlebnis für das
Subjekt darstellt) wird. Man könnte denken, dass es genau das Eigen-
tümliche des Ereignisses ist, dass es in sich diesen Widerspruch trägt.
Wir nennen es aber vernachlässigte Unterscheidung, die dazu führt,
24
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Einleitung
2 In die Richtung einer solchen klaren und deutlichen Unterscheidung geht vielleicht
Françoise Dastur, wenn sie in Bezug auch Merleau-Ponty fragt: »Ist jedoch diese Phä-
nomenologie der Ankunft, die eine Ontologie ist, welche im Inneren der Phänomena-
lität selbst bleibt und deren Aufgabe es ist, ihren prozeßhaften und dynamischen
Charakter sichtbar zu machen, in sich schon eine Phänomenologie des Ereignisses?«
(Dastur, 223/165) Sie ahnt also, dass es einen Unterschied zwischen der genetischen
Phänomenologie des Ereignisses und der Phänomenologie der Erfahrung des Ereig-
nisses gibt. Ihre Frage ist aber immer noch nicht radikal genug gestellt und deswegen
bleibt auch eine klare und allgemeine Antwort aus.
25
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Einleitung
3 Dazu erwähnen wir: Caussat, Pierre: L’événement. Paris: Desclée de Brouwer, 1992;
Zourabichvili, François: Deleuze: une philosophie de l’événement. Paris: PUF, 1994;
Marquet, Jean-François: Singularité et événement. Grenoble: Jérôme Millon, 1995;
Agacinski, Sylviane: Critique de l’égocentrisme. L’événement de l’autre. Paris: Gali-
lée, 1996; Rouger, François: L’événement de monde. Essai sur les conditions pures de
la phénoménalité. L’Harmattan, 1997; Dastur, Françoise: Pour une phénoménologie
de l’événement: l’attente et la surprise, in: Études phénoménologiques, 25 (1997),
S. 59–75; Gualandi, Alberto: Le problème de la vérité scientifique dans la philosophie
française contemporaine. La rupture et l’événement. L’Harmattan, 1998; Bongiovan-
ni, Secundo: Identité et Donation. L’événement du »je«. Paris: L’Harmattan, 1999;
Gély, Raphaël: La question de l’événement dans la phénoménologie de Merleau-Pon-
ty. In: Laval théologique et philosophique, 56/2 (2000), S. 353–365; Mehdi, Belhaj
Kacem: Événement et répétition. Auch: Tristram, 2004; Boundja, Claver: Philosophie
de l’événement. Recherches sur Emmanuel Lévinas et la phénoménologie. Paris:
L’Harmattan, 2009. Außerdem weisen wir auf einige ganz bedeutsame Sammelbände
hin: Dire l’événement, est-ce possible? Autoren: Jacques Derrida, Gad Soussana und
Alexis Nouss. Paris: L’Harmattan, 2001; Repenser »événement«. In: Recherches de
26
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Einleitung
27
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Einleitung
28
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Einleitung
Die vorliegende Arbeit spricht vom Ereignis als der Begegnung mit
dem Anderen. Als solches trifft es das Selbst, das Subjekt. Das, was
das Subjekt trifft, kann nicht zum Thema einer Ontologie (weder der
Exteriorität noch der Innerlichkeit) werden, sondern kann nur durch
den Hinweis auf die Betroffenheit des Subjekts angezeigt werden.
Mehr noch: Es geht hier nicht um einen philosophisch-begrifflichen
Hinweis auf die Betroffenheit irgendeines oder formalen Subjektes
überhaupt, sondern auf das »jemeinige« (im Heidegger’schen Sinne)
Betroffen-Werden. Das Ereignis ist nicht das, was betrifft, sondern
was mich betrifft. Und dies ist nicht seine Definition, sondern das,
wie es ist. Es ist nicht in seiner Definition, sondern ausschließlich
nur dort, wo es mich trifft. Wenn das Ereignis auf die Betroffenheit,
auf die Erfahrung des Subjektes hinweist, ist es dann ein Thema der
Phänomenologie, insofern Husserl – der Gründer der Phänomeno-
logie – in seinen Logischen Untersuchungen (1900–1901, 2. um-
gearbeitete Auflage: 1913 und 1921) als Gegenstand der phäno-
menologischen Philosophie die »Erlebnisse« bestimmt hat? 5 Ist das
5
»Ich setze also voraus, daß man sich nicht damit begnügen will, die reine Logik in
der bloßen Art unserer mathematischen Disziplin als ein in naiv-sachlicher Geltung
erwachsende Sätzesystem auszubilden, sondern daß man in eins damit philosophische
Klarheit in betreff dieser Sätze anstrebt, d. i. Einsicht in das Wesen der bei dem Voll-
zug und den ideal-möglichen Anwendungen solcher Sätze ins Spiel tretenden Er-
kenntnisweisen und der mit diesen sich wesensmäßig konstituierende Sinngebungen
und objektiven Geltungen. […] Es handelt sich dabei aber nicht um grammatische
Erörterung im empirischen, auf irgendeine historisch gegebene Sprache bezogenen
Sinn, sondern um Erörterungen jener allgemeinsten Art, die zur weiteren Sphäre
einer objektiven Theorie der Erkenntnis und, was damit innigst zusammenhängt,
einer reinen Phänomenologie der Denk- und Erkenntniserlebnisse gehören. Diese,
wie die sie umspannende reine Phänomenologie der Erlebnisse überhaupt, hat es aus-
29
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Einleitung
»le vif des analyses phénoménologiques« (ET, ix) fordert. Was heißt es für ihn? Fol-
gendes: »Il exige d’abord de comprendre à quel niveau la question elle-même se pose.
Non pas celui d’une analyse objective des phénomènes dans le monde physique ob-
jectif, mais celui d’une expérience des phénomènes tels qu’ils peuvent être décrits en
première personne […].« (ET, ix) Man muss natürlich sehr vorsichtig sein: Ist jede
Beschreibung »in der ersten Person« schon eine phänomenologische im Sinne Hus-
serls? Wenn man die eigenen Erlebnisse als etwas Seiendes voraussetzt und keiner
phänomenologischen Reduktion unterzieht, bedeutet dies – laut Husserl – einen
Rückfall in die Ontologie. Und wenn wir ehrlich sind, wird dann die Philosophie
zum bloßen Quatschen über die eigenen Erlebnisse. Und wer möchte so etwas lange
anhören? Doch eine weitere Frage ist viel wichtiger: Wenn man vermutet, dass das
Ereignis phänomenologisch-subjektiv (mit oder ohne phänomenologische Reduktion)
beschrieben werden könnte, ist diese phänomenologische Vorgehensweise in der Tat
die richtige für die Ereignisse? Das ist eine der Fragen, die die vorliegende Arbeit
stellt.
30
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Einleitung
7 In diesem Werk entwickelt Levinas das Konzept von dem »Ereignis der Hypostase«
(événement de l’hypostase). Es ist ein ontologisches Geschehnis im Geiste Hegels und
Heideggers, durch das ein Seiendes sich von dem anonymen Prozess des Seins löst
und zu sich selbst wird. Es ist ganz klar, dass dieser Prozess nicht erfahren wird, weil es
sich vor der Erfahrung ereignet, macht es sie erst möglich – das Ereignis der Hypo-
stase bildet die Innerlichkeit erst heraus.
8 Es geht hier um Deleuzes Logik des Sinnes (logique du sens) als Ereignisses (événe-
ment). Der entscheidende Punkt liegt darin, dass der Sinn nicht einem Bewusstsein
gehört, sondern als eine ontologische Einheit definiert wird. Das bedeutet nicht nur,
dass das Bewusstsein den Sinn nicht produziert, sondern auch, dass es selbst ein Sinn-
Effekt ist.
9 Hier denken wir an die schon erwähnte différance, die zwar nicht Ereignis genannt,
wohl aber zum Beispiel als »Operation des Differierens« (opération du différer) (SPh,
118/VPh, 98) gedacht wird. Während das Bewusstsein auf etwas im Bewusstsein Prä-
sentes gerichtet ist, ereignet sich die nicht-präsentierbare différance, die diese Präsenz
auf die Präsenz aufgeschoben hat.
10
Gondek und Tengelyi spezifizieren den Ereignisbegriff und sprechen in Bezug auf
31
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Einleitung
32
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Einleitung
11 Wir nennen hier die grundlegendsten Werke dieser Autoren: das schon erwähnte
Phénoménologie de la perception (1945) von Maurice Merleau-Ponty und: Michel
Henry: L’essence de la manifestation (1963), Marc Richir: Méditations phénoméno-
logiques (1992).
12 Vielleicht hat sich niemand anderer in Deutschland mit dieser Richtung der Phä-
nomenologie so viel auseinandergesetzt wie Rolf Kühn. Das Denken der ursprüng-
lichen und nicht erscheinenden Passivität ist auch das, was für ihn die gegenwärtige
Phänomenologie im Allgemeinen charakterisiert, die deswegen eine »radikalisierte«
gegenüber einer Phänomenologie des aktiven Bewusstseins und der Erscheinung ist.
Dazu siehe zum Beispiel: Kühn, Rolf: Husserls Begriff der Passivität. Zur Kritik der
passiven Synthesis in der Genetischen Phänomenologie. Freiburg/München: Alber,
1998; – Radikalisierte Phänomenologie. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2003; –
(Hrsg.): Epoché und Reduktion. Formen und Praxis der Reduktion in der Phäno-
menologie. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003.
13 Der Grund, warum wir denken, dass das Ereignis durch eine Phänomenologie des
Erfahrbaren zu beschreiben ist, liegt einfach darin, dass wir das Ereignis schon im
Voraus als Betroffenheit bestimmt haben – wir können jetzt nicht ohne Grund von
etwas zu reden anfangen, was wir nicht erfahren.
33
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Einleitung
Die vorliegende Arbeit hat drei Teile. Der erste Teil widmet sich den
zentralsten Denkern des Ereignisses als Begegnung mit dem Ande-
ren. Er soll einerseits als eine Einführung in das jeweilige Ereignis-
denken dienen – er soll aufzeigen, in welchem Kontext und wie das
Ereignis gedacht wird. Er soll andererseits als eine Einführung in die
Problematik des Ereignisses dienen und eine systematische Aus-
einandersetzung mit ihr vorbereiten. Die in diesem Teil behandelten
Autoren sind: Martin Heidegger, Maurice Merleau-Ponty, Emmanuel
Levinas, Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Alain Badiou, Jean-Luc
Marion und Claude Romano. Es mutet wahrscheinlich merkwürdig
an, dass wir in diesen Teil auch Deleuze und Badiou aufnehmen. Dies
ist einerseits dadurch zu erklären, dass für sie der Ereignisbegriff eine
ganz zentrale Rolle spielt. Andererseits sollen ihre ontologischen
Ansätze der Phänomenalisierung des Ereignisses entgegengesetzt
werden.
34
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Einleitung
35
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Einleitung
36
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
I. DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE:
Das gegenwärtige Denken des Ereignisses
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Martin Heidegger (1889–1976)
16 Damit unterstützen wir völlig die Thesen von Ernst Wolfgang Orth: »Im Hinblick
auf Heideggers frühe Vorlesungen von 1919 bis 1923 lassen sich schon jetzt folgende
Thesen bezüglich seines Verhältnisses zum Neukantianismus formulieren: / 1. Hei-
degger ist mit der philosophischen Bewegung des Neukantianismus durchaus ver-
traut. / 2. Der Neukantianismus ist ihm ein Paradigma ernsthaften Philosophierens
der Gegenwart, in welchem sich die wichtigsten philosophischen Probleme der Zeit
39
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
den Weg zu ihm verstehen möchte, sollte man auch wissen, was es
mit dem Denken des Grundes auf sich hat. 17
In seiner frühesten universitären Vorlesung, gehalten in dem
sog. Kriegsnotsemester 1919 mit dem Titel Die Idee der Philosophie
und das Weltanschauungsproblem, setzt sich Heidegger mit dem
Selbstbegründungsproblem der philosophischen Erkenntnis aus-
einander und dies ganz im Geiste des Neukantianismus. In diesem
Text weist Heidegger auf eines der grundlegendsten Probleme des
neukantianischen Diskurses über die Begründung der Geltung der
Philosophie hin, nämlich auf den unendlichen Regress und die
»Zirkelhaftigkeit« (KNS, 95) der Begründungsführung. Die Neukan-
tianer versuchen, die Begriffe der Philosophie, die philosophische
Theorie durch andere Begriffe einer Erkenntnistheorie transzenden-
talphilosophisch zu begründen. Selbstverständlich führt ein solcher
Versuch zur Notwendigkeit, diese Theorie der Begründung auch zu
begründen und dies ad infinitum. Die Erkenntnis kreist so um sich
selbst: »das Erkennen kommt nicht aus sich selbst heraus« (KNS, 96),
und solange das so bleibt, gibt es keine ernste Begründung, keine
ernste »Urwissenschaft«, wie Heidegger sie in dieser Vorlesung
nennt, die alle Erkenntnis letztbegründen könnte. So kommt er zum
Schluss, dass eine Urwissenschaft selbst nicht theoretisch sein darf:
»Soll er [der Zirkel – L. P.] aber aufhebbar sein, dann muß es eine vor-theo-
retische oder übertheoretische, jedenfalls eine nichttheoretische Wissen-
schaft, eine echte Ur-wissenschaft geben, aus der das Theoretische selbst
seinen Ursprung nimmt.« (KNS, 96)
Worin begründet Heidegger das Theoretische bzw. was denkt die Ur-
wissenschaft? Die Antwort lautet: das Leben im Sinne des Erlebnis-
konzentrieren. / 3. Der Neukantianismus ist für Heidegger ein Ausgangsfeld für das,
was er Urwissenschaft nennt (vgl. GA 56/57, 13 ff), die freilich für ihn zunächst im
Phänomenologiebegriff Husserls ihre eigentliche Basis findet. / 4. Die erste Entwick-
lung von Heideggers eigenem Denken vollzieht sich in Auseinandersetzung mit Neu-
kantischen Positionen.« (Orth, 18)
17 Damit widersprechen wir auch ein wenig der verbreiteten Interpretation von Hei-
deggers Werk, die in ihm zuerst einen Denker des Seins sieht. Das ist er in der Tat,
aber er denkt das Sein, weil er – ziemlich neukantianisch – eine begründete Philo-
sophie sucht, also den Grund. Heidegger ist ein Denker des Grundes. Deswegen denkt
er das Sein und deswegen denkt er später das Ereignis. Es ist schwierig das Ereignis-
denken zu verstehen, wenn man von seinem Seinsdenken ausgeht; man kann aber
diesen Schritt zum Ereignisdenken sehr gut nachvollziehen, wenn man die Frage nach
dem Denken des Grundes stellt.
40
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Martin Heidegger (1889–1976)
18 Heidegger würdigt Lasks Denken und bestätigt seinen Einfluss von ihm zum Bei-
spiel in folgender Passage: »Emil Lask, dessen Untersuchungen ich persönlich sehr
viel verdanke […]. […] Er war eine der stärksten philosophischen Persönlichkeiten
der Gegenwart, ein schwerwiegender Mann, der nach meiner Überzeugung auf dem
Weg zur Phänomenologie war, dessen Schriften überreich sind an Anregungen –
allerdings keine Lektüre, die man nur so liest.« (PhtW, 180)
19 Diese Verschiebung von einer Theorie zum verstehenden Erleben des Theoretisie-
41
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
tion« (KNS, 117) und ein wenig später – im Sommersemester 1919 – von ihr als einer
»phänomenologische[n] Hermeneutik« (PhtW, 131).
22 »Das Er-leben geht nicht vor mir vorbei, wie eine Sache, die ich hinstelle, als Ob-
jekt, sondern ich selbst er-eigne es mir, und es er-eignet sich seinem Wesen nach. Und
verstehe ich es darauf hinblickend so, dann verstehe ich es nicht als Vor-gang, als
Sache, Objekt, sondern als ein ganz Neuartiges, ein Ereignis.« (KNS, 75)
23 Eine andere Möglichkeit wäre: Nicht dass aus den Begründungsversuchen das In-
teresse für das Leben erwächst, sondern das Interesse für das Leben ist schon da, muss
aber, weil es die philosophiegeschichtliche Situation fordert, in die erkenntnistheo-
retische Problematik hineingezwungen werden und auf seine Befreiung erst warten.
24
Heideggers philosophisches Interesse widmet sich also dem faktischen Leben. Hei-
42
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Martin Heidegger (1889–1976)
phie ist für Aristoteles die Suche nach dem Grund, dem Prinzip des
Seienden, das das Seiende zu dem macht, was es ist, sie sucht also sein
Sein:
»Was ist das, worauf es beim Seienden als solchem letztlich ankommen
kann? Das Sein, oder bestimmter, im Hinblick auf die Weise, wie solches
»Sein« faßbar ist: der »Seinssinn«. Es ist ausdrücklich im Auge zu behalten:
das Sein, der Seinssinn, ist das philosophisch Prinzipielle jedes Seienden; es
ist aber nicht sein »Allgemeines«, die oberste Gattung, was Seiendes als
besondere Fälle unter sich hätte.« (GA 61, 58)
Wenn man das Leben untersucht, sucht man sein Sein bzw. den
Seinssinn. Die Philosophie ist »die Frage nach dem Seinssinn fak-
tischen Lebens« (GA 61, 172). Die Philosophie fragt, wie das Leben
im Prinzipiellen ist. Des Weiteren ist es zu beobachten, dass Heideg-
ger die Frage nach dem Seinssinn des faktischen Lebens, erstens, ab-
kürzt und schlicht nach dem Sein fragt, wenn er nach dem Sein des
Lebens fragt, und, zweitens, verallgemeinert und nach dem Sein ver-
schiedener Seiender fragt, obwohl es immer die faktische Existenz des
Menschen ist, die im Zentrum der Untersuchung steht und eine aus-
gezeichnete Stellung hat. Wird aber nach dem Sein gefragt, ist die
Philosophie ontologisch: eine Ontologie. In der Tat nennt Heidegger
in der Vorlesung zum Sommersemester 1923 seinen Ansatz »Onto-
logie«. Weil sie aber das faktische Leben auslegt, ist sie »Hermeneutik
der Faktizität«. Eine ganz empfindliche Frage in diesem Kontext ist,
ob diese Auslegung des Wie des Lebens immer noch eine Phäno-
menologie (im Husserl’schen Sinne) ist. Man kann diese Frage nur
zweideutig beantworten. Von einer Seite: Heidegger hat zuerst die
Philosophie zu Untersuchungen der Erlebnisse des Lebens bestimmt
und Phänomenologie genannt, sie ist jetzt keine Phänomenologie
mehr – diese Ontologie spricht nicht vom Bewusstseinsleben, davon
wie wir in uns sind, sondern vom Leben, davon wie wir in der Welt
sind; sie spricht nicht mehr von Bewusstseinsobjekten (Phäno-
degger nennt selbst vier Denker, die ihm geholfen haben, das faktische Leben auf seine
Art und Weise auszulegen: »Begleiter im Suchen war der junge Luther und Vorbild
Aristoteles, den jener haßte. Stöße gab Kierkegaard, und die Augen mir Husserl ein-
gesetzt.« (GA 63, 5) An dieser Stelle wollen wir nur darauf hinweisen, dass bei der
Behandlung vom Leben die Terminologie und die Fragestellung Heidegger im großen
Maß von Aristoteles übernommen hat. So ist die Rede in den Vorlesungen zum Win-
tersemester 1920/1921 und Sommersemester 1921 noch vom »Leben«, aber seit der
Vorlesung zum Wintersemester 1921/1922 mit dem Titel Phänomenologische Inter-
pretationen zu Aristoteles – vom »Sein«.
43
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
menen), sondern von dem, was ist, was in der Welt anwesend ist (vom
Seienden). 25 Von anderer Seite: Zu dieser Zeit hat dies sich noch nicht
herauskristallisiert, aber die Phänomenologie wird für Heidegger in
Sein und Zeit zum »Methodenbegriff« (SZ, 27), die ganz allgemein
Folgendes leisten kann: »Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm
selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen.« (SZ, 34) Damit wird
der Gegenstand der Phänomenologie noch nicht erstmals bestimmt,
sie ist bloß eine Art des Denkens: eine »Möglichkeit des Denkens,
dem Anspruch des zu Denkenden zu entsprechen« (MWPh, 101),
wie Heidegger es 1963 formulieren wird. Bei einem so verstandenen
Begriff der Phänomenologie kann man behaupten, dass Heidegger in
seinem ganzen Denken phänomenologisch bleibt. 26 Eine solche Be-
hauptung hat aber nur dann Sinn, wenn sie die Abgrenzung des Den-
kens gegen jede Philosophie des Bewusstseins macht. In der früheren
Ontologie, in der Fundamentalontologie von Sein und Zeit, und spä-
ter im Denken des Ereignisses geht es nie um die Erscheinungen für
das Bewusstsein, sondern um das, was ist bzw. sich ereignet und wo-
raufhin das Bewusstsein transzendiert. Hier muss man aber wieder
sehr aufmerksam sein: Es geht nicht um eine objektive Ontologie
oder Ereignisphilosophie, die das beschreibt, was ohne das Bewusst-
sein ist bzw. geschieht, sondern um das, was das Denken das Seiende
übersteigen lässt bzw. es (das Denken) das Zu-Denkende (das Sein)
aufdecken läßt.
Das ganz spezifisch Heidegger’sche und Originelle zu dieser frü-
hen Zeit liegt aber nicht darin, dass Heidegger versucht, das Nicht-
25 Es geht also um den Unterschied zwischen Bewusstsein und Sein. In dem kurzen
biographischen Text – Mein Weg in die Phänomenologie (1963) – betont Heidegger
diesen Unterschied: »Woher und wie bestimmt sich, was nach dem Prinzip der Phä-
nomenologie als »die Sache selbst« erfahren werden muß? Ist es das Bewußtsein und
seine Gegenständlichkeit, oder ist es das Sein des Seienden in seiner Unverborgenheit
und Verbergung? / So wurde ich auf den Weg des Seinsfrage gebracht, erleuchtet
durch die phänomenologische Haltung […].« (MWPh, 99). Damit sagt er unter ande-
rem, dass die Phänomenologie ihn zur Seinsfrage gebracht hat, sie ist aber nicht mit
ihr gleich.
26 Dies macht zum Beispiel Günter Figal, wenn er, erstens, von der »Universalisie-
44
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Martin Heidegger (1889–1976)
27 »Das Sein des Seienden »ist« nicht selbst ein Seiendes.« (SZ, 6)
28 In der Vorlesung zum Sommersemester 1927 – Die Grundprobleme der Phäno-
menologie – heißt es: »Wir sagten: Ontologie ist die Wissenschaft vom Sein. Sein aber
ist immer Sein eines Seienden. Sein ist wesensmäßig vom Seienden unterschieden.
[…] Wir bezeichnen sie [die Unterscheidung zwischen Sein und Seiendem – L. P.] als
45
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
tenz des Daseins 29 aus. Die Auslegung des Seins ist Ontologie, die
hier als »Fundamentalontologie« (SZ, 13) fungiert, da sie »eine aprio-
rische Bedingung der Möglichkeit […] der Wissenschaften« und »die
Bedingung der Möglichkeit der vor den ontischen Wissenschaften
liegenden und sie fundierenden Ontologien« (SZ, 11) aufdeckt. Da
die Fundamentalontologie ihre gründende Aufgabe durch die Aus-
legung des Seins des Daseins erfüllt, entspringt sie der »existenzialen
Analytik des Daseins« (SZ, 13), und wegen ihres »auslegenden« Cha-
rakters ist sie »Hermeneutik« (SZ, 37).
Sein und Zeit weist aber noch einige Aspekte auf, die, von einer
Seite, als eine Rückkehr zur neukantianischen Fragestellung betrach-
tet werden können und, von anderer Seite, einen entscheidenden
Schritt in Richtung Ereignisdenken machen. Erstens gibt die Fun-
damentalontologie nicht nur das Fundament für die Wissenschaften
des Seienden, sie arbeitet dazu auch noch transzendentalphiloso-
phisch. Zweitens bemüht sich Heidegger ausdrücklich um die All-
gemeingültigkeit der Aussagen und die Selbstbegründung der Gel-
tung seiner Philosophie. Zum Ersten: Es ist bemerkenswert, dass
schon auf der ersten Seite dieses Werkes die Begründung des Seins-
verständnisses in der Interpretation der Zeit ihren Horizont zuge-
wiesen bekommt:
»Die konkrete Ausarbeitung der Frage nach dem Sinn von »Sein« ist die
Absicht der folgenden Abhandlung. Die Interpretation der Zeit als des mög-
lichen Horizontes eines jeden Seinsverständnisses überhaupt ist ihr vor-
läufiges Ziel.« (SZ, 1)
Wird in der Daseinsanalytik der Sinn des Daseins als »Sorge« 30 be-
stimmt, so ist der zweite Abschnitt des ersten Teiles der Frage gewid-
die ontologische Differenz, d. h. als die Scheidung zwischen Sein und Seiendem.«
(GA 24, 22)
29
Mit dem Konzept »Dasein« grenzt sich Heidegger gegen die Untersuchungen des
»Menschen« ab. Er fragt nämlich nicht nach dem allgemeinen Wesen des Menschen,
sondern nach seinem Wie des Lebens, nach dem Sinn des Seins. So ist das Dasein ist
nicht etwas, sondern »ist« insofern es ist, existiert: »Das »Wesen« des Daseins liegt in
seiner Existenz.« (SZ, 42)
30 »Auf dem Boden der Analyse dieser Fundamentalstruktur wird eine vorläufige
Anzeige des Seins des Daseins möglich. Sein existenzialer Sinn ist die Sorge.« (SZ,
41) Die Charakterisierung des Seins des Daseins als Sorge erscheint schon in den
Vorlesungen vor Sein und Zeit und ist auf Heideggers Auseinandersetzung mit Aris-
toteles zurückzuführen. Die Sorge bedeutet ganz allgemein, dass das Dasein immer
46
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Martin Heidegger (1889–1976)
met, wie die Sorge möglich ist. Ihr Grund liegt in der Zeitlichkeit des
Daseins:
»Der ursprüngliche ontologische Grund der Existenzialität des Daseins aber
ist die Zeitlichkeit. Die gegliederte Strukturganzheit des Seins des Daseins
als Sorge wird erst aus ihr existenzial verständlich.« (SZ, 234)
Das heißt: Das Dasein ist so, wie es ist, weil es zeitlich ist. Es kann
aber auch bedeuten: Das Dasein versteht das Sein, weil es zeitlich ist.
Zum Zweiten: Wie begründet Heidegger die Geltung seiner Phi-
losophie, d. h. wie garantiert er, dass seine Aussagen über das Sein
wahr sind? So, dass er behauptet, dass sie nicht von einer vom Sein
abgehobenen Wissenschaft gemacht, sondern von der Existenz, dem
Dasein selbst erschlossen werden. Die Fundamentalontologie denkt
nichts aus, sie lässt nur das sehen, was sich schon zeigt; sie expliziert
nur das, was schon verstanden ist. Daraus ergibt sich aber eine
Schwierigkeit, mit der Heidegger kämpfen muss. Es ist ihm schon
früher nicht entgangen, dass manche Menschen einfach nur leben,
ihre Existenz vollziehen, während andere mit ihrem Leben mitgehen,
es verstehend vollziehen. Das sind zwei Seinsweisen. Die erste nennt
Heidegger die Alltäglichkeit bzw. Uneigentlichkeit, die andere:
Eigentlichkeit. Das Problem liegt im Folgenden: Wenn Heidegger
das Sein sich selbst zeigen lässt, so zeigt die Uneigentlichkeit nichts,
weil sie nur lebt. Es ist die eigentliche Existenz, die für sich selbst
sichtbar wird und sich selbst auslegt. Wenn wir aber die (uneigent-
liche) Existenz sich zeigen lassen und sie nichts zeigt, wie können wir
dann die Ergebnisse, die aus einer abgehobenen (eigentlichen) Posi-
tion kommen, noch auf diese Uneigentlichkeit anwenden? Streng ge-
nommen ist die Uneigentlichkeit nicht so, wie die eigentliche Existenz
sie auslegt. Nur die eigentliche Existenz kann, weil sie sich selbst ver-
steht, so sein, wie sie sich versteht. Angesichts dieses Problems bietet
sich folgende Lösung an: Man muss annehmen, dass jede Seinsweise
das Sein versteht, auch wenn sie dies tatsächlich nicht tut. 31 Auch die
Uneigentlichkeit trägt das Seinsverständnis in sich:
»[W]ir bewegen uns immer schon in einem Seinsverständnis.« (SZ, 5)
um etwas besorgt ist – um das Leben in seiner nächsten Umwelt (alltägliche Existenz)
oder auch um das Sein selbst (eigentliche Existenz).
31 Dazu siehe die schöne Auslegung dieser Problematik von Günter Figal: (Figal
(2009), 19 f).
47
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
Das Sein ist »je schon verstanden« (SZ, 6), obwohl das Sein für die
Alltäglichkeit das ist, »was sich zunächst und zumeist gerade nicht
zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, ver-
borgen ist« (SZ, 35).
Diese für die Selbstbegründung der Fundamentalontologie not-
wendige ontologische Annahme führt aber zu unbefriedigenden Kon-
sequenzen. Vorher (in den früheren Vorlesungen) war der Seinsinn
des Lebens etwas, was sich im Mit-Vollzug erschließt, etwas, was sich
zeigen oder auch nicht zeigen kann, jetzt ist das Sein dieser Vollzug
selbst: Das Sein ist das »Existenzial Gekonnte« (SZ, 143). 32 Vorher
gab es einen Bezug zum Sein, jetzt ist es schon immer da im bloßen
(uneigentlichen) Existieren. Vorher war das Verstehen ein Bezug,
jetzt ist es ein bloßes Seinkönnen. Das Verstehen des Sinnes muss
nicht unbedingt ausdrücklich und thematisch sein. Wer ist, versteht
schon, wie er ist, weil er eben schon ist. Mit anderen Worten: Die
Möglichkeit, den Sinn des Seins zu verstehen, wird auf das Können
des Daseins nivelliert. Das Dasein hat das Sein immer schon verstan-
den. Es ist nichts Besonderes, dass sich der Sinn des Seins plötzlich
erschließen kann. Es ist nichts Besonderes, dass das Leben, die Welt,
das Seiende plötzlich durchsichtig werden können. Heidegger hat
aber in der Erschließung des Seins immer schon etwas ganz Besonde-
res gesehen. Das Sein ist für ihn nie ein bloßer Vollzug gewesen, der
vom Dasein geleistet wird. Es soll ein Verhältnis zum Sein geben. Die
Eröffnung des Sinnes des Seins soll etwas sein, was mit dem Dasein
geschieht.
Sein und Zeit ist ein zugespitztes Werk, das deswegen viele Pro-
bleme offenlegen kann. In den nächsten Jahren steht für Heidegger
vor allem eine Frage im Zentrum – zwar keine neue, aber ab jetzt eine
radikal neue Herausarbeitung fordernde. Es ist die Frage nach dem
Grund. Konkret: Die Frage nach der Begründung der Wissenschaften
und nach der Selbstbegründung. Worin liegt das Problem, das Sein
und Zeit offengelegt? Es zeigte eine Fundamentalontologie, die das
Fundament – das ursprüngliche Seinsverständnis – aller Wissen-
schaft zurückgibt, und es verortete dieses Seinsverständnis im Da-
48
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Martin Heidegger (1889–1976)
sein, sodass das Sein zum Dasein gehört. Somit ist das Dasein der
Grund des Seins. Jedes Verstehen, Erkenntnis und Wissen ist deswe-
gen möglich, weil das Dasein so ist, wie es ist, und es ist zeitlich. Es ist
aber genau diese Begründung, die Heidegger verdächtig erscheint. In
seinen Vorlesungen zu Kant (Wintersemester 1927/1928), Leibniz
(Sommersemester 1928), zum Deutschen Idealismus (Sommer-
semester 1929) geht es immer wieder um die Frage nach einer Fun-
damentalwissenschaft. Und in dieser Zeit geschieht in Heideggers
Denken eine radikale Verschiebung, was die Frage nach dem Grund
betrifft. Heidegger, als aus der neukantianischen Tradition kommend,
hat schon immer einen letzten Grund gesucht: Er fand ihn zuerst im
Erleben, dann im faktischen Leben, dann im Seinsverständnis, das
wiederum in der Zeitlichkeit begründet war. Ab jetzt fragt er aber
nicht mehr, was der Grund ist, sondern woher der Grund überhaupt
ist, woher die Frage nach dem Grund kommt. Das ist die Frage Hei-
deggers an sich selbst, warum er überhaupt einen Grund sucht. Diese
Verschiebung ist sehr deutlich im Beitrag Vom Wesen des Grundes
(1929) sichtbar. Er fragt nämlich nach der »Ermöglichung der Wa-
rumfrage überhaupt« (WG, 168). 33 Aber es ist genauso bemerkens-
wert, dass Heidegger diesen »Grund des Grundes« wiederum im Da-
sein verortet, nämlich in seiner »Freiheit«:
»Die Freiheit ist der Grund des Grundes.« (WG, 174) 34
49
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
Sein und Zeit hat noch ein Problem offengelegt, nämlich wie das Sein
zu verstehen ist. Ist es das Wie des Seins des Seienden, ist es der
Seinsvollzug des Daseins oder doch etwas ganz anderes? Im Kontext
dieses Fragens ist Heideggers Auseinandersetzung mit der Problema-
tik der Wahrheit zu betrachten. Die Frage nach Wahrheit, die erst-
mals mit dem Vortrag Vom Wesen der Wahrheit (1930) ihre erneu-
te 35 Aktualität in Heideggers Denken bezeugt, ist die Frage danach,
wie das Sein zu verstehen ist. Das, was Heidegger hier fest im Blick
hat, ist die »Offenbarkeit von Seiendem« (WG, 131) – die Möglich-
keit, dass das Seiende seiend, sichtbar in seinem Sein und So-Sein
wird. In Vom Wesen der Wahrheit wird diese Offenbarkeit auf die
»Entbergung« zurückgeführt und »Wahrheit« genannt:
»Wahrheit ist nicht ursprünglich im Satz beheimatet.« (WW, 185)
»[…] die Wahrheit ist die Entbergung des Seienden […].« (WW, 190)
Hier liegt die Aufbruchsstelle des Ereignisdenkens in Heideggers
Philosophie – die sog. Kehre. 36 Am Anfang der 30er Jahre beginnt
des hat keinen Grund, spielt als der Ab-Grund jenes Spiel, das als Geschick uns Sein
und Grund zuspielt.« (SG, 169) Im Ereignisdenken ist das Dasein nicht mehr der
Grund des Seins, sondern das Sein wird dem Dasein durch das Ereignis (»Ab-grund«)
zugespielt.
35 Seine erste Interpretation der Wahrheit findet ihren Abschluss in Sein und Zeit.
Die Wahrheit wird als »Erschlossenheit des Daseins« verstanden, die die »Entdeck-
theit des innerweltlichen Seienden« möglich macht (SZ, 220). Wir werden gleich se-
hen, dass dieses Verhältnis in der Ereignisphilosophie Heideggers umgedreht (obwohl
nicht nur bloß umgedreht) wird. Ist in Sein und Zeit das Dasein der Träger der Wahr-
heit (»Sofern das Dasein wesenhaft seine Erschlossenheit ist […], ist es wesenhaft
»wahr«.« (SZ, 221)), so wird es im Ereignisdenken zum Empfänger der Wahrheit –
es wird zum Dasein, wenn es in die Wahrheit eintritt.
36 Pöggeler hat Recht, wenn er schreibt: »Man kann nicht übersehen, daß Heidegger
50
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Martin Heidegger (1889–1976)
Hilfe der Sprache der Metaphysik nicht durchkam. Der Vortrag Vom Wesen der
Wahrheit, der 1930 gedacht und mitgeteilt, aber erst 1943 gedruckt wurde, gibt einen
gewissen Einblick in das Denken der Kehre von Sein und Zeit zu Zeit und Sein.« (HB,
327 f) Es geht also um die Kehre vom Sein als »Leistung der Subjektivität« zur »Lich-
tung des Seins«, wo das Dasein eingelassen wird. Diese Kehre ist in Sein und Zeit
gedacht, aber nicht gesagt. Sie wird zum ersten Mal in Vom Wesen der Wahrheit 1930
formuliert. Die Kehre, die dem Dasein seine Herrschaftsposition entzieht, dominiert
das Heideggersche Denken seit den 30er Jahren.
37 Diese Abhandlungen sind miteinander verbunden – sie bilden einen Korpus (viel-
leicht mit der Ausnahme von Die Überwindung der Metaphysik). Mehr noch: Es zeigt
sich im Laufe dieser Werke eine gedankliche Entwicklung – vieles wiederholt sich,
aber es gibt auch wichtige Thesen zum Ereignis, die es noch nicht in den Beiträgen
gibt, wohl aber in Das Ereignis. Aus diesem Grund ist es völlig unverständlich, warum
ausgerechnet die Beiträge am meisten gelesen werden, wenn doch gerade die späteren
Schriften zum Ereignis diese Denkrichtung viel entwickelter und klarer darstellen.
38 Es ist sehr wichtig, auf die neue Schreibweise von »Seyn« hinzuweisen. Sie bedeu-
tet nämlich nichts weniger, als dass die ontologische Differenz von Sein und Seienden
aufgegeben wird, um ursprünglicher denken zu können. Das Sein steht nicht mehr in
der Differenz zum Seienden, sondern ist grundsätzlich das Sein des Seienden. Das will
sagen: Das Sein ist das Geschehnis mit dem Seiendem, in dem es seiend wird, also die
Wahrheit. Und dieses Geschehnis geschieht vor der Differenzierung von Sein und
51
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
Seiendem, die die Metaphysik kennt und auf die sie gründet. Das so gedachte Sein
wird nicht mehr metaphysisch gedacht: »Das seynsgeschichtliche Erfragen des Seyns
ist nicht Umkehrung der Metaphysik, sondern Ent-scheidung als Entwurf des Grun-
des jener Unterscheidung, in der sich auch noch die Umkehrung halten muss. Mit
solchem Entwurf kommt dieses Fragen überhaupt ins Außerhalb jener Unterschei-
dung von Seiendem und Sein; und sie schreibt deshalb auch das Sein jetzt als ›Seyn‹.
Dieses soll anzeigen, daß das Sein hier nicht mehr metaphysisch gedacht wird.« (BPh,
436) Siehe auch: ÜM, 78. Wir werden hier und im weiteren Text die übliche Schreib-
weise des Wortes »Sein« beibehalten – als des Wortes für eine Sache des Denkens in
Heideggers Philosophie und in der Philosophie überhaupt, die unterschiedlich gedacht
werden kann. Da wir uns in Heideggers Philosophie des Ereignisses bewegen, ver-
stehen wir unter »Sein« – wenn nicht anders angegeben – immer das Sein als Ereignis
so wie es in Heideggers Philosophie nach der Kehre gedacht wird.
52
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Martin Heidegger (1889–1976)
als eine Bedingung der Möglichkeit verstanden wird, sondern als ein
Anfang – ein geschichtlicher Anfang, der irgendwann angefangen
hat. 39 Er bildet kein ständig anwesendes Fundament, sondern hat sich
vor langer Zeit ereignet und die Möglichkeit zu der Frage nach dem
Grund gegeben. Die Unverborgenheit des Seienden – die Wahrheit
(ἀλήθεια) – ist der Anfang:
»Die ἀλήθεια west als der Anfang.« (E, 9) 40
Das Entscheidende kommt aber erst jetzt: Das Wahrheitsgeschehnis
mit dem Seienden, das das Sein ist, ist ein geschichtlicher Anfang. Es
ist Ermöglichung schlechthin und wird nicht mehr im Dasein be-
gründet. Der Anfang fängt nicht an, weil das Dasein so ist, wie es ist,
sondern er fängt von sich selbst an und macht das Dasein erst zum
Dasein.
»Das ›Seyn‹ ist nicht ein Gemächte des ›Subjekts‹, sondern das Da-sein als
Überwindung aller Subjektivität entspringt der Wesung des Seyns.« (BPh,
303) 41
Modern gesagt, ist das Ereignis das Andere des Daseins. Das Ereignis
bei Heidegger ist eine unvorhersehbare Begegnung mit einem Ande-
ren, die neue Möglichkeiten eröffnet und eine Geschichte anfängt – in
Heideggers Fall die Geschichte der Metaphysik. Diese drei Momente:
[Wahrheits]Ereignis, [geschichtlicher] Anfang und die Andersheit
[des Seins] sind die Säulen, auf denen die Heidegger’sche Ereignisphi-
losophie steht, und sie machen Heidegger zum ersten Ereignisdenker
39 »Demnach erweist sich unser Vorhaben, das Denken aus seinen Grundsätzen zu
erfahren, als ein geschichtliches Wagnis. Dies bleibt weit entfernt von der Anmaßung,
absolut gültige Gesetze ›des‹ Denkens zu verkünden.« (FV, 103) Die Frage nach dem
Grund ist also nicht mehr eine Frage der Logik, die die »Gesetzte des Denkens« fest-
stellt, sondern eine Frage der Geschichte – ein »geschichtliches Wagnis«. Es geht nicht
mehr darum, was der Grund ist, sondern seit wann es Grund gibt und wie es dazu
gekommen ist, dass es einen Grund gibt.
40
Es ist zu beachten, dass dieser Gedanke noch nicht in den ersten Abhandlungen
zum Ereignis (zum Beispiel in den Beiträgen) da ist. Die Idee vom Anfang kommt
ein wenig später. Die ersten Abhandlungen widmen sich mehr der Möglichkeit, das
Sein mit der Wahrheit zu verknüpfen.
41 Schon im Wintersemester 1931/32 bei der Behandlung der Wahrheit heißt es:
»Kann man das Wesen der Wahrheit dem Menschen überlassen? Allzu gut wissen
wir um die Unverläßlichkeit des Menschen, – ein schwankendes Rohr im Winde!
Daran das Wesen der Wahrheit hängen? Wir sperren uns sofort und wehren uns ganz
natürlich gegen das Ansinnen, das Wesen der Wahrheit in ein menschliches Gesche-
hen zu verlegen.« (GA 34, 74)
53
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
– er ist nicht der erste, weil er diesen Begriff einführt, sondern weil er
etwas Ereignishaftes philosophisch beschrieben hat. In den 30er und
40er Jahren des letzten Jahrhunderts hat Heidegger zu einem Thema
gearbeitet, das sich erst später vor allem in der französischen Philoso-
phie herauskristallisierte und noch heute eine Wichtigkeit besitzt.
Doch wahrscheinlich kann hier nicht ein direkter Einfluss von Hei-
deggers systhematischer Ereignisphilosophie – so wie sie im in den
30er und 40er Jahren entstandenen Textkorpus zum Ereignis dar-
gestellt wird 42 – auf das französische Ereignisdenken behauptet wer-
den, da diese Abhandlungen erst später veröffentlicht wurden. 43 Man
muss aber auf jeden Fall von einem indirekten, untergründigen und
eher fragmentarischen Einfluss Heideggers auf das französische Er-
eignisdenken sprechen, und zwar durch seine veröffentlichten Schrif-
ten, da diese von der Ereignisthematik beherrscht und oft ohne diesen
in den 30er und 40er Jahren entstandenen Textkorpus zum Ereignis
nicht verstehbar sind. In der Tat werden wir in den Texten der fran-
zösischen Ereignisdenker einzelne Spuren von Heideggers Über-
legungen zum Ereignis finden, nicht aber eine umfassende Auseinan-
dersetzung mit seinem ganzen systhematischen Werk zum Ereignis –
hier gehen die französischen Denker ihre eigenen Wege. Deswegen
ist es umso interessanter, dass zwischen Heideggers Entwurf einer
allgemeinen Ereignisphilosophie und der französischen Tradition des
Ereignisdenkens so viele Ähnlichkeiten bestehen. Eins der Ziele die-
ser Arbeit ist in der Tat, diese Ähnlichkeiten aufzuweisen.
Während Heidegger bei sich das Ereignis denkt, erreichen vor
allem seine Interpretationen zu Hölderlin und Nietzsche die Öffent-
lichkeit. Dabei geht es nicht nur um diese einzelnen Autoren, sondern
um die Philosophie und Dichtung, Sein und Kunst, Sprache und
Wahrheit, Anfang und Geschichte überhaupt – um die Themen, die
in diesen veröffentlichten Schriften meistens nur im Hintergrund
bleiben, während sie in der Ereignisphilosophie ihren systhematisch
1989 veröffentlicht.
54
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Martin Heidegger (1889–1976)
55
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
Kant, Hegel etc.), aus einem zweifachen Grund. Erstens, weil Nietz-
sche für Heidegger »der letzte Metaphysiker des Abendlandes« (NI,
431) ist. Niemand hat den Anfang so vergessen wie Nietzsche. Wa-
rum? Weil mit seinem »Willen zur Macht« Nietzsche völlig den ge-
benden Anfang, der dem Menschen etwas schenkt, leugnet, stattdes-
sen will er die ganze Macht des Gebens dem Menschen vorbehalten. 45
Es ist auch gleich glasklar, dass diese Einordnung von Nietzsche in die
Philosophiegeschichte auch die gleiche Einordnung jeder Transzen-
dentalphilosophie und seines eigenen Ansatzes der Fundamentalon-
tologie ist. Zweitens ist Nietzsche für Heidegger deswegen interes-
sant, weil er dasselbe tut wie er – Nietzsche versucht nämlich auch,
eine einheitliche Geschichte des ganzen Abendlandes zu verfassen. In
dieser Hinsicht ist Nietzsche für Heidegger ein Gesprächspartner.
Ab der Mitte der 40er Jahre arbeitet Heidegger nicht mehr so
intensiv am Ereignis selbst, doch er bleibt dieser neuen Denkweise
(Wahrheit; Anfang und Geschichte; Unabhängigkeit des Seins vom
Dasein) treu. In der Tat schreibt Heidegger 1949 zur Veröffentlichung
des Humanismusbriefes, der 1946 an Jean Beaufret adressiert wurde:
»Denn ›Ereignis‹ seit 1936 das Leitwort meines Denkens.« (HB, 316)
Und wiederholt dies 1957 im Vortrag Der Satz der Identität:
»Das Wort Ereignis soll jetzt, aus der gewiesenen Sache her gedacht, als
Leitwort im Dienst des Denkens sprechen.« (ID, 45)
Dieses »Leiten« bedeutet auch, dass die Ergebnisse des Gedankenwe-
ges ungefähr 15 Jahre in seinen späteren Werken immer noch präsent
sind, obwohl oft nur thesenhaft oder überhaupt im Hintergrund, wo
sie aber die ganze Weise des Denkens bestimmen und den ganzen
Gedankengang organisieren. Dies bedeutet seinerseits, dass die späte-
ren – seit der Mitte der 40er Jahre entstandenen – Werke Heideggers
ohne diese Abhandlungen zum Ereignis nicht recht verstanden wer-
den können. Die Bestimmung des Humanismus in dem bekannten
Humanismusbrief von 1946, »daß es demzufolge gerade nicht auf
den Menschen, lediglich als solchen, ankommt« (HB, 345), kann nur
in dem Kontext interpretiert werden, wo der Mensch seine Stellung
als Grund verloren hat. Wenn im Humanismus »das Wesen des Men-
56
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Martin Heidegger (1889–1976)
schen als wesentlich genommen sein möchte« (HB, 345), verlangt es,
»das Wesen des Menschen anfänglicher zu erfahren« (HB, 345). Dies
bedeutet, den Menschen so zu erfahren, dass »das Sein den Menschen
als den ex-sistierenden zur Wächterschaft für die Wahrheit des Seins
in diese selbst ereignet« (HB, 345). Das Sein ereignet den Menschen,
sein Wesen ist nicht in ihm selbst begründet, sondern von einem
Anderen ereignet. Das Wesen des Menschen besteht in der Wächter-
schaft dieses Anderen, in der Zugehörigkeit zu ihm. Im Humanismus
kommt es auf dieses Andere an. Wenn Heidegger 1962 in dem be-
kannten Vortrag Zeit und Sein schreibt: »Demnach bezeugt sich das
Es, das gibt, im »Es gibt Sein«, »Es gibt Zeit«, als das Ereignis« (ZS,
24), lässt sich dies auf das Denken des Anfangs, der das Sein und seine
Geschichte schickt, zurückführen. Und wenn er weiter darauf hin-
weist, dass »wir das Ereignis nie vor uns stellen können, weder als
Gegenüber, noch als das alles Umfassende« (ZS, 28), wiederholt er
das schon vor 30 Jahren Gesagte – das Ereignis ist kein Gegenüber,
es ist das, was ein Gegenüber erst möglich macht, es ist das »Bezie-
hen, das die Bezogenen erst zu ihnen selbst bringt« (BPh, 470 f). Wird
in den Beiträgen das Ereignis als solches als anfängliches Beziehen
bestimmt, so wird auch der Satz aus dem Vortrag Der Satz der Iden-
tität (1957) verständlich: »Das Ereignis vereignet Mensch und Sein in
ihr wesenhaftes Zusammen.« (ID, 47) Der Mensch kann dem Sein
nur zugehören, weil das Ereignis sie zusammengehören ließ, weil es
das Sein dem Menschen gegeben hat und umgekehrt. Durch ein sol-
ches Geben ist die Möglichkeit für die Metaphysik gegeben, die sich
statt der Zugehörigkeit zum Sein als ein Denken über das Sein als
einen ihr gegenüberstehenden Gegenstand vollzieht.
Andererseits sollte man nicht denken, dass mit dem großen
Textkorpus zur Ereignisthematik auch die Entwicklung dieses Gedan-
kenweges aufhört. Die Notizen zum Ereignis hat Heidegger bis zum
Anfang der 70er Jahre gemacht. 46 In den veröffentlichten Schriften
46 Die Notizen sowohl zum früheren Ereignisdenken als auch die ganz späten sind im
Band 73 der Gesamtausgabe unter dem Titel Zum Ereignis-Denken von Peter Trawny
herausgegeben. Was verwunderlich ist, ist, dass diese Notizen nicht chronologisch,
sondern thematisch geordnet sind! Man kann zwar vermuten, dass innerhalb einer
Thematik die Zitate chronologisch geordnet sind, es werden aber keine Angaben zum
Jahr des jeweiligen Textabschnittes gemacht. Es wäre aber unendlich interessanter, die
Entwicklung und Veränderung des Ereignisdenken Heideggers in einem Band (genau-
er gesagt: in zwei Bänden, da Band 73 aus zwei Bänden besteht) zu beobachten – auch
was die Veränderung der Thematik betrifft.
57
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
findet man Sätze, die klarer und deutlicher eine These über das Er-
eignis als die früheren Ereignis-Texte ausdrücken, was bedeuten
könnte, dass in ihnen bestimmte Gedanken zumindest vorläufig
zum Abschluss gekommen sind. Aber in einer Hinsicht erlebt das
Ereignisdenken Heideggers in der Mitte der 40er Jahre sogar eine
bedeutsame Wandlung. Es geht um das Denken des Ortes. 47 Dieser
Ort ist aber grundsätzlich als Ort des Ereignisses der Wahrheit zu
verstehen. In dem Denken des Ortes wird das Ereignis verortet. Wo?
Nicht mehr nur am Anfang einer Geschichte, nicht mehr nur im Ver-
borgenen dieser Geschichte, nicht nur überall, wo ein Seiendes für das
Dasein aufleuchtet (wenn auch unbedacht), sondern hier und jetzt.
Das Ereignis ereignet sich dort, wo ein Krug (Das Ding, 1950), eine
Brücke (Bauen Wohnen Denken, 1951) oder ein Kunstwerk (Die
Kunst und der Raum, 1969) sind; oder wo ein Dichter in der Nähe
des Ursprungs dichtet und ein Denker anfänglich denkt. Das Dasein
wird seinerseits zum Eingelassen-Werden an einen Ort. Mit der Ver-
ortung des Ereignisses an einem konkreten Ort wird es auch selbst
konkreter, »weltlicher«.
Das Ereignis muss in der Tat immer nur als ein konkretes Ereig-
nis verstanden werden. Es ist nicht etwas, es gibt keine allgemeine
Definition von ihm: »Was bleibt zu sagen? Nur dies: Das Ereignis
ereignet.« (ZS, 29)
47
Im Seminar in Le Thor 1969 teilt Heidegger seinen Denkweg in drei Abschnitte ein:
»Drei Worte, die, indem sie einander ablösen, gleichzeitig drei Schritte auf dem Weg
des Denkens bezeichnen: SINN – WAHRHEIT – ORT (τόπος).« (S, 344) Nach seiner
Auseinandersetzung mit dem Sinn (des Seins), der Wahrheit (als Ereignis) folgt das
Denken des Ortes. Die Frage bleibt allerdings, wann genau diese Wandlung zum
Denken des Ortes geschieht. Man könnte nämlich vermuten, dass sie dann geschieht,
wenn Heidegger die Wahrheit als Lichtung bestimmt und er macht dies schon in der
Mitte der 30er Jahre (zum Beispiel in den Beiträgen). Wir vertreten hier aber die
Meinung (die wir später begründen werden), dass das eigentliche Denken des Ortes
dann beginnt, wenn Heidegger nicht mehr die Lichtung der Wahrheit, die überall
west, denkt, sondern dann, wenn er einen konkreten Ort zu denken beginnt, und dies
geschieht in der Mitte der 40er Jahre.
58
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Maurice Merleau-Ponty (1908–1961)
Wenn wir jetzt, was das Ereignis betrifft, aus der Philosophie Heideg-
gers heraus in die französische Tradition des Ereignisdenkens hinein-
springen, dann nicht deswegen, weil sein Denkansatz genau hier eine
direkte Fortsetzung finden würde. Die Beiträge als die erste große,
dem Ereignis gewidmete Abhandlung werden erst 1989 veröffentlicht
und sind immer noch weder in Deutschland noch in Frankreich hin-
reichend rezipiert. Diese Tatsache mindert natürlich nicht den enor-
men Einfluss Heideggers auf die französische Philosophie seit dem
Zweiten Weltkrieg, nur ist das nicht der Einfluss seiner systhemati-
schen Ereignisphilosophie – zumindest nicht ein direkter. Man könn-
te natürlich versuchen, die flüchtigen Linien einer indirekten Einwir-
kung von Heideggers Ereignisdenken durch seine veröffentlichten
und in Frankreich sehr wohl bekannten Schriften auf das dort all-
mählich und zerstreut entstehende Ereignisdenken aufzudecken. 48
Ein solches Unternehmen könnte aber auch zu falschen Vorstellun-
gen führen. Es könnte zum Beispiel den Eindruck erwecken, dass es
eine philosophische Richtung namens Ereignisphilosophie in Frank-
reich gibt und dass sie ihre Quelle im Heidegger’schen Konzept des
Ereignisses hat. Es gibt aber keine solche philosophische Richtung 49.
48 Man könnte zum Beispiel aufzeigen, wie Heideggers Denken der Differenz das
Ereignisdenken von Deleuze und Derrida inspiriert hat; oder wie seine Nietzsche-
Bände, die eine besondere Art der Geschichtsschreibung darstellen, das Ereignisden-
ken von Deleuze und Foucault beeinflusst haben; oder wie seine Bestimmung des
Menschen ihre, zwar veränderte, Fortsetzung im Ereignisdenken der französischen
Phänomenologie (Merleau-Ponty, Levinas, Marion) findet; oder wie seine Überlegun-
gen zur Gabe die gegenwärtige Gabe-Diskussion (Derrida, Marion), die ein Teil der
Ereignisproblematik ausmacht, maßgeblich bestimmt hat. Jedes dieser Themen for-
dert eine philosophiegeschichtliche Forschungsarbeit für sich. Wir beschränken uns
hier wirklich nur auf die ereignisphilosophisch systhematischen Aspekte dieser Zu-
sammenhänge.
49 Wie Bernhard Waldenfels dies ausdrückt: »Einen ›Eventismus‹ hat es meines Wis-
59
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
50
Ted Toadvine schreibt diesbezüglich: »The inclusion of Merleau-Ponty in a history
of the concept of the event may seem unusual, given that the term événement rarely
occurs as a part of his technical vocabulary.« (Toadvine, 121)
60
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Maurice Merleau-Ponty (1908–1961)
stimmt. Wir leben kein reines geistiges Leben, sondern ein leibliches
Leben bei den Dingen der Welt. Das Verhältnis von Mensch und Welt
wird nicht nur in Phénoménologie de la perception problematisiert –
es ist das Kernproblem der Philosophie Merleau-Pontys. Noch 1942 –
in La structure du comportement – bestimmt Merleau-Ponty dieses
Verhältnis als »Verhalten«, später als Wahrnehmung, deren Ver-
ständnis ändert sich aber im Laufe seiner Philosophie. Wird sie in
Phénoménologie de la perception noch phänomenologisch (also in
Hinsicht auf ein Bewusstseinsleben) interpretiert, verwandelt sie sich
zu einer ontologischen Kategorie in seinem späteren Werk: zum Bei-
spiel in Le visible et l’invisible (unvollendet, postum erschienen
1964).
Bei der Beschreibung der Wahrnehmung in Phénoménologie de
la perception setzt sich Merleau-Ponty von zwei anderen Denk-
ansätzen, die die Wahrnehmung zum Thema machen, ab: vom Empi-
rismus und Intellektualismus. Eine empiristische Theorie der Wahr-
nehmung behandelt die Wahrnehmung als einen physiologischen
Prozess, wo die äußerlichen Reize im Inneren des Körpers bearbeitet
werden. Sie kommt ohne jeden individuellen Wahrnehmenden aus,
d. h. sie schließt das Bewusstseinsleben von ihren Betrachtungen aus,
mehr noch: Sie reduziert das Bewusstsein auf physiologische Prozesse,
indem sie glaubt, es empirisch vollständig beschreiben zu können.
Eine intellektualistische Theorie der Wahrnehmung glaubt dagegen
nicht, das Bewusstsein und seine Objekte auf die Bearbeitung physi-
scher Daten reduzieren zu können. Stattdessen setzt sie ein reines Be-
wusstsein voraus, das die Funktion hat, die Objekte erst zu konstituie-
ren. Diese Funktion wird allerdings als eine erkennende, d. h. als
begriffliche und logisch schließende bestimmt. Die Wahrnehmung
wird somit zu einem Akt der Erkenntnis. Für die empiristische Posi-
tion ist es charakteristisch, dass sie nur den physisch-physiologischen
Körper sieht, für die intellektualistische Position: das Fokussieren auf
die innere Tätigkeit und das Leben eines erkennenden Wesens, das sich
von der Welt und seinem eigenen Körper distanzieren kann. Jede
Theorie der Wahrnehmung verbirgt also in sich eine bestimmte Vor-
stellung vom Menschen und seiner Existenz. So ist für Merleau-Ponty
die Phänomenologie der Wahrnehmung der Ort, wo der Streit um die
Bestimmung des Menschen und seiner Seinsweise ausgetragen wird.
Gegen den Empirismus behauptet Merleau-Ponty, dass die
Wahrnehmung nicht die Aufnahme von physisch bestimmbaren
Daten ist:
61
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
51In Le visible et l’invisible wird Merleau-Ponty von der »Öffnung zur Welt« (ou-
verture au monde) (SU, 57/VI, 57) sprechen.
62
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Maurice Merleau-Ponty (1908–1961)
63
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
64
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Maurice Merleau-Ponty (1908–1961)
(PhW, 7/PhP, V). Als leibliches ist das Subjekt immer zur Welt, und
sogar dann, wenn es bei sich ist, ist es auch bei der Welt: »Alles Be-
wußtsein ist in irgendeinem Grade Wahrnehmungsbewußtsein.«
(PhW, 450/PhP, 452). Und das inkarnierte Subjekt ist zuerst zur Welt,
und nur deswegen kann es auch bei sich sein: »»Ich bin zu mir«,
indem ich zur Welt bin.« (PhW, 463/PhP, 466). Das Denken ist somit
eine Möglichkeit des Zur-Welt-Seins, es ist nicht von der Welt abge-
hoben, es betrachtet sie nicht von außen und noch weniger konstitu-
iert es sie. Die Welt ist »das Milieu [milieu – L. P.] und gleichsam die
Heimat [patrie – L. P.] all unseres Denkens« (PhW, 44/PhP, 32). Wir
denken in einer Welt und zu einer Welt, die uns durch die Wahrneh-
mung gegeben ist, und in diesem Sinne ist das denkende Subjekt pas-
siv empfangend gegenüber der Wahrnehmung, die das Subjekt in
seinem Bewusstsein überhaupt erweckt und belebt: »Jedes Bewußt-
sein ist in der Welt geboren, und jede Wahrnehmung ist eine Neu-
geburt des Bewußtseins.« (PhW, 25Anm.4/PhP, 13n.20)
Hinsichtlich der Zeit entsteht bei einer solchen Betrachtung eine
interessante Situation. Erstens ist die Zeit der Wahrnehmung, d. h.
des tieferen und ursprünglicheren Bewusstseins, nicht die bewusste
Zeit, die Zeit des Selbstbewusstseins, sondern die leibliche Gegen-
wart, wo das Sein und das Bewusstsein »eins sind«:
»Doch dieses letzte Bewußtsein ist kein ewiges Subjekt, das seiner selbst in
absoluter Durchsichtigkeit gewahr würde, denn ein solches Subjekt wäre
auch schon für immer unfähig, je in die Zeit herabzusteigen, und hätte also
mit unserer Erfahrung nichts gemein; jenes letzte Bewußtsein ist vielmehr
das Bewußtsein der Gegenwart. In der Gegenwart, in der Wahrnehmung,
sind mein Sein und mein Bewußtsein gänzlich eins […]. (PhW, 482/PhP,
485)
Das bedeutet: Im Moment der Wahrnehmung stehe ich nicht einem
Objekt gegenüber, sondern bin das, dessen ich mir bewusst bin:
»Ich, der ich das Blau des Himmels betrachte, stehe nicht ihm gegenüber als
ein weltloses Subjekt […]; ich überlasse mich ihm, ich versenke mich in
dieses Geheimnis, es »denkt sich in mir«, ich bin der Himmel selbst [je suis
le ciel même – L. P.] […].« (PhW, 252/PhP, 248)
Zweitens bleibt für die bewusste Zeit die leibliche Gegenwart unein-
holbar, weil sie »älter ist als alles Denken« (plus vieille que la pensée)
(PhW, 296/PhP, 294). Sie ist älter als alles Denken nicht in dem Sinne,
dass sie lange zurückliegt, sondern im Sinne, dass das Denken sie in
ihrer Ursprünglichkeit überhaupt nie erreicht hat – es geht um »eine
65
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
52 »[L]e présent qu’il nous apporte n’est jamais présent pour de bon, puisqu’il est déjà
passé quand il paraît […].« Noch mehr: Es ist nicht nur so, dass das, was das Bewusst-
sein erreicht, nicht mehr das ist, was es war. Das Bewusstsein hat die Tendenz, zu
denken, dass das Erscheinende das ist, was es war, weil es überzeugt ist, dass es schon
immer – bei allen seinen Bezügen zur Welt – dabei war und sich nur daran erinnern
muss. Merleau-Ponty nennt diese Überzeugung »der Gipfel der Täuschung« (illusion
des illusions) (SU, 58/VI, 59). Dieser Gedanke wird zum Kerngedanken Derridas wer-
den.
53 Husserls Idee von der passiven Synthesis ist sehr bedeutend für die gegenwärtige
französische Philosophie, die unter anderem oder sogar wesentlich das Denken der
Passivität, der Ausgesetztheit dem Anderen gegenüber, des Ereignisses ist. Unter
Kenntnis davon hat Rolf Kühn – ein Fachmann für die französische Philosophie –
ein Buch veröffentlicht: Husserls Begriff der Passivität. Zur Kritik der passiven Syn-
thesis in der Genetischen Phänomenologie. Freiburg/München: Alber, 1998. Als An-
hang enthält es auch den Einblick in den Einflussbereich dieses Gedankens in der
französischen Phänomenologie.
66
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Maurice Merleau-Ponty (1908–1961)
54 Es geht hier also um einen Prozess, der weder vom Bewusstsein eingeholt werden
kann noch sich ohne jedes Bewusstsein abspielt. Die Rede ist vom Transzendieren des
Bewusstseins. Genau an diesem Punkt liegt Merleau-Pontys Kritik an Sartre. Sartre
konnte den Bezug zum äußeren Sein nicht bestimmen, weil er das Bewusstsein, in-
dem er es als ein Nichts bestimmen hat (während der Intellektualismus es als alles
bestimmt hat), im Sein aufgelöst hat: »Eine Philosophie des Denkens und unserer
immanenten Gedanken verfügt über keine Offenheit für das Sein – aber einer Phi-
losophie des Nichts und des Seins geht es nicht besser, denn in diesem Falle wie auch
im anderen ist das Sein nicht ernstlich fern, in Distanz. Das Denken ist zu sehr in sich
selbst abgeschlossen, doch das Nichts ist zu sehr außer sich, als daß man von einer
Offenheit für das Sein sprechen könnte, und in dieser Hinsicht unterscheiden Imma-
nenz und Transzendenz sich nicht.« (SU, 122/VI, 122) Denken wir ein »Über-Sein«
(sur-être) (SU, 104/VI, 105), wo das Sein und Nichts unterschiedlos werden, können
wir die Wahrnehmung nicht verstehen. Das Ereignis geschieht nicht mit einem Man
oder sogar mit einem Nichts, sondern immer mit jemandem.
67
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
68
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Maurice Merleau-Ponty (1908–1961)
Subjekt, so wie es bei sich ist, »sich ganz und gar aus dem empfängt,
was es empfängt«, und dass es in Bezug auf das Ereignis, das es emp-
fängt, in einer »Verspätung« steht. Genauso wird Claude Romano die
Gegenwart des Ereignisses von der bewussten Gegenwart unterschei-
den und von der »Verspätung« der Letzteren gegenüber der Ersteren
sprechen.
Das Ereignis des Seins bei Heidegger ist der Einbruch des Ande-
ren, des Neuen in das Bestehende, es verwandelt den Betroffenen ins
Dasein, es ist das Transzendieren des Daseins auf das Andere hin. Und
es ist nie als ein Objekt für ein Subjekt denkbar – schon deswegen
nicht, weil es der Anfang, die Möglichkeit eines Subjekt-Objekt-Ver-
hältnisses ist. So ist das Ereignis an sich schon die Kritik des vorstel-
lenden und begrifflichen Denkens: es ist das, was sich diesem Denken
entzieht; es ist das, was mit dem Dasein geschieht und nie sein Gegen-
stand sein kann. Für die französische Philosophie des Ereignisses gibt
Merleau-Ponty unter dem Einfluss von Husserls Analysen der passi-
ven Synthesis die Möglichkeit, das Ereignis auf der Ebene des Leibes
zu beschreiben. Das Ereignis ist leiblich, das Andere trifft unseren
Leib, der Leib transzendiert auf das Andere hin, das Ereignis ist den-
kerisch uneinholbar, weil sich vor dem Denken ereignend, weil das
Denken überschreitend. Aber eine Philosophie des Ereignisses muss
nicht unbedingt mit dem Konzept des Leibes arbeiten – weder Hei-
degger noch später Deleuze oder Derrida tun das. Doch – mit dem
Leib oder ohne ihn – geht es im Falle des Ereignisses immer noch
um die Uneinholbarkeit eines Anderen durch das gegenständliche
Denken, zu dem dieses Ereignis in einer niemals auflösbaren Diffe-
renz steht.
69
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Emmanuel Levinas (1906–1995)
70
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Emmanuel Levinas (1906–1995)
und Zeit). Das müssen wir ganz radikal verstehen: Levinas distan-
ziert sich von jeder Philosophie, die das Andere als Objekt für das
Subjekt setzt; er distanziert sich weiter von jeder Philosophie, die im
Anderen vielleicht kein Objekt sieht, aber es in einer Philosophie des
Subjekts als einen Teil seiner Seinsweise betrachtet; und damit dis-
tanziert er sich eigentlich von jeder Philosophie, die das Andere the-
matisiert, weil jede Philosophie, die das Andere thematisiert, es zum
Objekt des Denkers macht und so seine Andersheit verliert. Das An-
dere ist nicht denkbar. Man kann mit einem Anderen nur in eine
Beziehung treten, nicht aber es denken. Mehr noch: Das Denken zer-
stört das Andere. Und genau wegen dieser These gilt Levinas als Er-
eignisdenker. Aber das heißt auch: Nicht jeder Philosoph, der das An-
dere denkt, kann als Ereignisdenker gelten. Es ist eigentlich ganz im
Gegenteil: Jeder, der sagt, dass er das Andere denkt, ist ganz bestimmt
kein Ereignisphilosoph, obwohl es ganz richtig ist, dass eine Ereignis-
philosophie das Andere, die Begegnung mit dem Anderen denkt. Man
könnte in der Tat fragen, warum sind Hegel mit seinem Denken des
Anderen und Kojèves Hegelianer in Frankreich von den 30er bis 60er
Jahren des letzten Jahrhunderts (darunter auch Sartre oder Lacan)
und sogar Levinas selbst in seinen früheren Werken und teilweise
sogar noch in Totalité et infini (1961) keine Ereignisdenker, da sie
doch ganz explizit das Andere zum Thema machen. Genau deswegen,
weil sie eine Ontologie treiben, die die Seinsweise eines Subjekts, in
der auch das/der Andere vorkommt, beschreiben. Es ist Levinas (und
Derrida und vor ihnen Heidegger in seinem Ereignisdenken), die die
Unmöglichkeit, das Andere in einem vorstellenden Denken zu den-
ken, behaupten. Das Ereignisdenken denkt das Andere in dem Sinne,
dass es unmöglich ist, es zu denken. Sie behaupten eine Differenz
nicht zwischen dem Ich und dem Anderen (im Denken), sondern zwi-
schen dem Denker und dem Ereignis des Anderen. Dies unterscheidet
das Denken des Ereignisses von jedem Denken des Anderen, sei dies
das Denken Hegels oder seines Kritikers Buber; sei dies die Phäno-
menologie oder Soziologie, Psychoanalyse oder Theologie. Die Phi-
losophie Levinas’ ist eine Philosophie der absoluten Andersheit des
Anderen, d. h. seiner Undenkbarkeit. Das Denken kann eine Bezie-
hung mit dem Anderen sein, aber es kann das Andere nicht denke-
risch erreichen.
Das Andere ist also kein Produkt des Selben und für es un-
erreichbar – transzendent. Das Von-Angesicht-zu-Angesicht ist eine
Beziehung, in der ihre Mitglieder absolut getrennt voneinander blei-
71
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
ben. Damit ist es für diese Beziehung charakteristisch, dass das Ande-
re unerwartet in die Welt des Selben einbricht, dass das Selbe nicht
bei sich selbst bleiben kann und aus sich selbst transzendieren muss.
Dieses Sich-Verlassen ist das Verlassen des Bewusstseins, des refle-
xiven Denkens – dadurch tritt das zerstörte Selbe in die sinnliche
»Nähe« (proximité) zum Anderen, das nicht mehr als ein bestimmtes
Objekt erfasst, sondern als niemals erreichbare Andersheit erfahren
wird. Diese Begegnung und Beziehung zu dem Anderen wird von
Levinas nicht mit dem Wort »Ereignis« bezeichnet, doch mit ihrer
Beschreibung charakterisiert er etwas, was im gegenwärtigen kon-
tinental-philosophischen Raum als Ereignis verstanden wird. Eine
Philosophie des Ereignisses ist immer eine Philosophie der Begeg-
nung mit dem nicht auf das Subjekt reduzierbaren Anderen. Des-
wegen wird die von Levinas aufgedeckte Logik der Beziehung zum
Anderen in vielen Punkten von solchen Philosophen übernommen,
die sich explizit mit dem Ereignis beschäftigen. Die heutige Philoso-
phie des Ereignisses ist ohne Levinas nicht denkbar. Auch in diesem
Sinne ist er ein Denker des Ereignisses. In der Tat finden wir Ver-
suche, ihn als einen Philosophen des Ereignisses auszulegen – hier
muss insbesondere das Buch von Claver Boundja – Philosophie de
l’événement. Recherches sur Emmanuel Lévinas et la phénoméno-
logie (2009) – erwähnt werden.
Zweitens: In dem Punkt, wo die interpersonale Beziehung zu der
Transzendenz, die ursprünglich die menschliche Existenz prägt, be-
hauptet wird, treffen sich die Philosophie Levinas’ und das Judentum.
Als die Philosophie eines Denkers jüdischer Herkunft trägt die Phi-
losophie Levinas’ die Spur des Erbes des Judentums in sich. Es heißt
nicht, dass diese Philosophie eine konfessionelle Theologie darstellt.
Eher stellt das Judentum eine neuartige Quelle des Denkens dar, die,
philosophisch ausgelegt, einen neuen Horizont für das bisherige Den-
ken – die Transzendentalphilosophie, den Idealismus, die Phänome-
nologie – eröffnen kann. 56 Als einer, der aus der Quelle der jüdischen
Weltanschauung schöpft und sich aktiv mit dem Judentum und spe-
56Eine schöne Formulierung über den Einfluss des Judentums auf die Philosophie in
Bezug auf das Werk Levinas’ finden wir bei Rachid Boutayeb: »Sie [die Philosophie
Levinas’ – L. P.] hat dazu maßgeblich beigetragen, weil es ihr gelungen ist, ihre
Grundwerte bzw. religiösen Intuitionen in eine philosophische Sprache zu übersetzen,
mehr noch, der Philosophie ein anderes Gesicht zu geben, eine andere Frage oder eine
andere Sprache, nämlich die des Anderen.« (Boutayeb 2013, 9)
72
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Emmanuel Levinas (1906–1995)
ziell Talmud beschäftigt 57, steht Levinas in der Reihe mit anderen
bedeutsamen Denkern jüdischer Herkunft des 20. Jahrhunderts: Her-
mann Cohen, Martin Buber und Franz Rosenzweig, von denen vor
allem die letzten zwei mit ihrer Philosophie des Dialogs Levinas be-
deutend beeinflusst haben.
Drittens denkt Levinas gegen Heidegger. Nach dem zweiten
Weltkrieg, als Levinas seinen eigenen philosophischen Weg ein-
zuschlagen beginnt, wird Heideggers Seinsphilosophie von Sein und
Zeit für den jüdischen Denker zum Inbegriff des Denkens, das das
Andere nicht kennt, nicht denken kann und das es im solipsistischen
und totalen Subjekt auflöst und vernichtet. Ein solches Denken nennt
Levinas ganz allgemein »Ontologie« und er ist der Ansicht, dass die
ganze bisherige Philosophie ontologisch gewesen sei. 58 Die Heideg-
ger’sche These aus Sein und Zeit: »Das Dasein ist Seiendes, dem es
in seinem Sein um dieses selbst geht« (SZ, 191) wird für Levinas zur
Formel des ontologischen Egoismus, der durch die Beziehung zum
Anderen überwunden werden muss. Die Ontologie denkt das Sein,
das immer das Sein des Subjekts ist. Levinas denkt das Andere dieses
Seins: das Jenseits des Seins, die Relation mit dem Anderen. Interes-
santerweise bedeutet der Versuch Levinas’, gegen Heidegger zu den-
ken, nicht, dass seine Philosophie des Anderen keine Gemeinsam-
keiten mit Heideggers Ereignisdenken aufweist. Wie dies in der
französischen Philosophie üblich ist, bezieht sich Levinas vor allem
auf Heideggers Sein und Zeit, das in der Tat von Levinas’ Kritik ge-
troffen werden könnte, doch er lässt Heideggers späteres Ereignis-
denken außer Acht, das im Vergleich zu Sein und Zeit zu einem Den-
ken des Anderen geworden ist. Wir werden in der Tat sehen, dass
Levinas’ Denken des absoluten Anderen und Heideggers Ereignis-
57
Levinas’ Werke zum Judentum sind vor allem: Difficile liberté. Essais sur le juda-
ïsme (1963 und erweitert 1976. Gekürzte deutsche Fassung: Schwierige Freiheit. Ver-
such über das Judentum. Frankfurt am Main: Jüdischer Verl., 1992. Die neueste Auf-
lage: 2017), Quatre lectures talmudiques (1968, dt.: Vier Talmud-Lesungen. Frankfurt
am Main: Neue Kritik, 1993), Du sacré au saint: cinq nouvelles lectures talmudiques
(1977, dt.: Vom Sakralen zum Heiligen: Fünf neue Talmud-Lesungen. Frankfurt am
Main: Neue Kritik, 1998), L’Au-delà du verset: lectures et discours talmudiques
(1982, dt.: Jenseits des Buchstabens. Frankfurt am Main: Neue Kritik, 1996), À l’heure
des nations (1988, dt.: Stunde der Nationen. München: Fink, 1994), Nouvelles lec-
tures talmudiques (1996, dt.: Neue Talmud-Lesungen. Frankfurt am Main: Neue Kri-
tik, 2001).
58
»Die Ontologie bringt das Andere auf das Selbe zurück […].« (TU, 50/TI, 13)
73
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
59 Von diesen beiden Büchern als Werken seiner frühen Philosophie spricht Levinas
im Interview mit Philippe Nemo: EU, 34–56/EI, 34–66.
60 Es ist richtig, dass schon frühere Überlegungen Levinas’ dem Heraustreten aus dem
Sein, das immer das immanente, das Selbst-Sein ist, gewidmet sind. Hier ist insbeson-
dere De l’évasion (1935) zu nennen. Doch der Kontext, in dem diese Schrift, oder zum
Beispiel noch früher Théorie de l’intuition dans la phénoménologie de Husserl (1930),
entsteht, ist grundsätzlich anders. Levinas denkt zu dieser Zeit ausgehend von Husserl
und Heidegger, er ist kritisch gegenüber Husserl und Heidegger, aber er denkt noch
nicht das Andere, er denkt noch nicht die Ethik. Die Ontologie ist noch nicht zur
Unmöglichkeit des Ethischen geworden. Dies passiert nach dem Zweiten Weltkrieg.
61 Der Gebrauch von »être«, »existence« und »l’exister« ist in Levinas’ Texten nicht
eindeutig. In den meisten Fällen schreibt er »être«, wenn es um das Sein im Allgemei-
nen geht, und »existence«, »l’exister«, wenn es um den individuellen Vollzug des
Seins geht. Doch diese Bedeutungen können sich auch abweichen – zum Beispiel das
Wort »existence« kann in manchen Kontexten auch das Sein im Allgemeinen bedeu-
ten. Genauso kann »être« das Sein des Subjekts bezeichnen.
74
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Emmanuel Levinas (1906–1995)
in seinem Sein: Es kennt nur sich selbst. Wenn es auch in der Er-
kenntnis der Außenobjekte aus seinem Sein heraustritt, so kehrt es
wieder zu sich zurück. Die Erkenntnis ist die Eroberung der Objekte
und die Verwandlung des Anderen zum Selben des Subjekts. Gibt es
einen Ausweg aus diesem Sein bei sich selbst? Das nächste Werk – Le
temps et l’autre – versucht, diese Frage zu beantworten. In diesem
Buch stellt sich heraus, dass die Zeit, die »Zukunft« (avenir) das Sub-
jekt von ihm selbst lösen kann. Die Zukunft ist etwas, was das Subjekt
nicht ergreifen kann, was auf es zukommt, was das radikal Andere ist:
»[D]ie Zukunft ist das, was nicht ergriffen wird, was uns überfällt und sich
unser bemächtigt. Die Zukunft, das ist das andere. Das Verhältnis zur Zu-
kunft, das ist das eigentliche Verhältnis zum anderen.« (ZA, 48/TA, 64)
Die Zukunft ist das Andere, und das Andere ist wie diese auf es zu-
kommende Zukunft strukturiert. Levinas unterscheidet drei Gestal-
ten des Zukünftigen, d. h. des Anderen: den Tod (im Sein), das Weib-
liche (im Eros) und das Kind (in der Vaterschaft). Der Tod, das
Weibliche und das Kind sind die Möglichkeiten des Zerbrechens der
Vereinzelung im eigenen Sein. 62
Totalité et Infini (1961) – das große erste Hauptwerk Levinas’ –
korrigiert, führt weiter, systematisiert und vollendet seine frühere
62 Auch Derrida wird später (in La voix et le phénomène (1967)) in der Zeit die Mög-
lichkeit des Einbruchs des Anderen sehen. Die Zeit – die präsente Zeit der »lebendigen
Gegenwart« – ist das, was man hat, was man ist. Die Zeit ist aber auch das, was man
nicht hat, was man nicht selbst ist, nämlich die vergangene und die zukünftige Zeit.
Die Zeit ist deswegen ausgedehnt, sie ist »Verräumlichung« (espacement), sie ist die
Richtung vom Selben zum Anderen, von innen nach außen. Die ausgedehnte Zeit
trägt eine Differenz zwischen Selbstheit (Präsenz) und Andersheit (Nicht-Präsenz)
in sich: »Da die Spur der Bezug der innigen Vertrautheit der lebendigen Gegenwart
zu ihrem Draußen, die Offenheit für die Äußerlichkeit im allgemeinen, für das Nicht-
Eigene usw. ist, ist die Zeitigung des Sinns von Beginn an »Verräumlichung«. Sobald
man die Verräumlichung zugleich als »Intervall« oder Differenz und als Öffnung
nach draußen zugesteht, gibt es keine absolute Innerlichkeit mehr, hat sich das »Drau-
ßen« in die Bewegung eingeschlichen, durch die das Drinnen des Nicht-Raumes, das,
was den Namen »Zeit« hat, sich erscheint, sich konstituiert, sich »gegenwärtigt«. Der
Raum ist »in« der Zeit, er ist das reine Aus-sich-herausgehen der Zeit, er ist das
Außer-sich als Selbstbeziehung der Zeit. Die Äußerlichkeit des Raumes, die Äußer-
lichkeit als Raum, überfällt nicht unversehens die Zeit; sie eröffnet sich als reines
»Draußen« »in« der Bewegung der Zeitigung.« (SPh, 116/VPh, 96) Die Zeit kann
allerdings – und dies zeigt Derrida blendend – nur dann als das Aus-sich-Heraustreten
beschrieben werden, wenn sie nicht mehr ausgehend von ihrem Präsenz-Modus ver-
standen wird, wenn die Vergangenheit und die Zukunft nicht mehr als Teile (Reten-
tion und Protention) der Gegenwart angesehen werden.
75
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
63 Für die Religionsphilosophie ist sehr bedeutend, dass das Antlitz des Anderen der
Ort ist, wo sich Gott offenbart. Die Begegnung mit dem Anderen ist die Erfahrung
einer Andersheit, eines anderen Menschen, die das Verbot, diesen anderen Menschen
zu töten, und Gebot, sich für ihn einzusetzen, mit sich bringt. Diese ethischen An-
forderungen, die im Antlitz des Nächsten eingeschrieben sind, ist für Levinas die
Weise, wie Gott sich in der Welt zeigt, wie er hier anwesend ist. »Im Nächsten ist
reale Anwesenheit Gottes.« (»[…] en autrui il y a présence réelle de Dieu.«) (ZU,
140/EN, 128) Gott selbst ist absolut transzendent, das Ethische ist aber seine Spur,
die er auf Erden hinterlassen hat.
76
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Emmanuel Levinas (1906–1995)
Nicht das Subjekt geschieht zuerst, sondern die Relation mit dem
Anderen. Daraus folgt die fundamentale These der Philosophie
Levinas’:
»Die Erste Philosophie ist eine Ethik.« (EU, 59/EI, 71)
Sucht die Philosophie das Ursprünglichste, das Grundlegende, muss
sie zuerst die Verantwortung des Selben gegenüber dem Anderen
untersuchen. Das Subjekt ist nicht das Erste und Alles. Noch früher
gibt es das Andere, das nicht im Subjekt ist, sondern ihm begegnet.
Als das Andere bleibt es für immer das Andere – es wird nie zum
Selben. Es wird nie zum einen bestimmten Objekt des Subjekts – es
ist deswegen das »Unendliche« (l’infini):
»Die Gegenwart eines Seienden, das nicht in die Sphäre des Selben eintritt,
eine Gegenwart, die überfließt über diese Sphäre hinaus, fixiert den »Sta-
tus« dieses Seienden als den eines Unendlichen.« (TU, 280/TI, 169 f)
Nicht das Subjekt, nicht ausgehend vom Subjekt, sondern das Andere
des Subjekts zu thematisieren – dies ist die Umkehrung, die Levinas
vollzieht. Doch das Denken stellt hier unmerklich eine Falle auf.
Wenn eine Philosophie das Andere thematisiert, macht sie es nicht
zu seinem Denk-Objekt, also zum Selben? Das ist übrigens die Frage,
die Derrida in seinem Levinas gewidmeten Aufsatz Violence et méta-
physique. Essai sur la pensée d’Emmanuel Levinas (1964) stellt. 64 In
der Tat verliert die Thematisierung das Andere, sobald sie es setzt.
Wenn nicht das Schweigen hier als eine Lösung sich anbieten will,
wie kann dann noch eine Philosophie dem Anderen näher kommen?
Wie kann man über das Andere sprechen, ohne es zu setzen? In sei-
nem zweiten Hauptwerk – Autrement qu’être ou au-delà de l’essence
(1974) – findet Levinas eine andere Möglichkeit einer Philosophie des
Anderen, weswegen wir in Bezug auf die Philosophie nach Totalité et
Infini von einer »Radikalisierung« des ontologiekritischen Ansatzes
sprechen können. 65 In Autrement qu’être spricht Levinas nicht mehr
rung, die Levinas’ Philosophie zwischen Totalité et infini und Autrement qu’être er-
lebt, zu bezeichnen ist. In der deutschsprachigen Forschung hat zum Beispiel Strasser
von der »Kehre« (Strasser(1978), 219), Krewani von der »Wende« (Krewani, 38),
Wiemer vom »Alternieren« (Wiemer, 66) und Taureck von der »sprachbezogenen
77
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
vom Anderen, sondern davon, was mit dem Selben geschieht, wenn
es dem Anderen begegnet. 66 Es spricht nicht mehr vom Selben und
dem Anderen, sondern von der »Subjektivität« (subjectivité), die als
»der Andere im Selben« (l’autre dans le même) definiert wird. Es
heißt aber nicht, dass damit das Andere wieder ausgehend von einem
totalen Subjekt untersucht wird. Die Subjektivität ist durch das An-
dere betroffen, durch seine Betroffenheit antwortet sie ihm, aber sie
kann es nie zu einem Objekt konstituieren. Diese Radikalisierung der
ontologiekritischen Philosophie, die jetzt versucht, das Andere nicht
einmal zu thematisieren und nur sein Wirken auf die Subjektivität,
das grundsätzlich ein Transzendieren aus sich heraus ist, zu beschrei-
ben, formuliert Levinas im Jahre 1976 folgenderweise:
»Die ontologische Sprache, deren sich noch Totalität und Unendlichkeit
bedient hatte, um die rein psychologische Bedeutung der vorgebrachten
Analyse auszuschließen, wird von nun an vermieden. Und die Analysen
selbst verweisen nicht etwa auf Erfahrung, in der ein Subjekt stets nur das
thematisiert, dem es gleicht, sondern auf die Transzendenz, in der es ant-
wortet auf das, was über das Maß seiner Intentionen hinausgeht.« (EN, 114/
DL, 379)
Autrement qu’être und spätere Aufsatzsammlungen, von denen ins-
besondere De Dieu qui vient à l’idée (1982) und Entre nous (1991) zu
erwähnen sind, geben uns eine Beschreibung davon, was mit der Sub-
jektivität passiert, wenn sie das Sein verlässt 67 und vom Anderen be-
Wende« (Taureck, 62) gesprochen. Stegmeier bezeichnet diese Wandlung als »Revisi-
on« (Stegmeier, 122). Wir – und dabei beziehen wir uns unter anderem auf Adriaan
Peperzak in seiner Rezension zu Autrement qu’être (Peperzak, 95) und Rudolf Funk
(Funk, 57 f, 60) – bevorzugen das Wort »Radikalisierung«, weil die hier beobachtbare
Veränderung eigentlich keine Veränderung darstellt, als ob Levinas etwa Neues er-
proben würde, sondern ist eine konsequentere Durchführung des ontologiekritischen
Ansatzes, der schon in Totalité et infini Levinas’ Anliegen ist.
66 Darauf weist schon Peperzak in seiner Rezension zu Autrement qu’être hin: »In
Totalité et Infini nahm der Andere und sein Antlitz die zentrale Stelle ein; in Autre-
ment qu’être besinnt Lévinas sich auf die »Position« und die Bedeutung des Subjekts:
Ich, der ich dem Anderen begegne.« (Peperzak, 95) Dass es eine solche Verschiebung
gibt, ist auch durch Levinas’ Text belegbar: »Seine Transzendenz – seine Exteriorität,
die weiter außen, extremer anders ist als alle Exteriorität des Seins – vollzieht sich
allein durch das Subjekt, das sie bekennt oder sie bestreitet. Umkehrung der Ordnung:
die Offenbarung geschieht durch denjenigen, der sie empfängt, durch das inspirierte
Subjekt […].« (JS, 341/AQE, 199)
67 Autrement qu’être ou au-delà de l’essence – der Titel dieses Werkes spricht wieder
vom Verlassen des Seins. Es geht um »anders als Sein«, um das Andere des solipsisti-
78
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Emmanuel Levinas (1906–1995)
troffen wird. Das ist die Beschreibung eines Ereignisses, das grund-
sätzlich der Einbruch des Anderen ist, das ist die Herausarbeitung
einer Logik des Ereignisses. Und diese Beschreibung enthält Ideen,
die spätere Ereignisdenker (zum Beispiel Marion oder Romano) in
ihr Denken aufnehmen. Diese ganz zentralen Gedanken, die wir spä-
ter systematisch und ausführlich analysieren werden, sind vor allem:
1) die »Passivität« (passivité), die besagt, dass in der Beziehung mit
dem Anderen das Selbe ihn nicht aktiv konstituiert, sondern passiv
empfängt. Die Ebene der Passivität wird nicht im Bewusstsein ge-
sucht, sondern in der Leiblichkeit, weswegen die Passivität von Levi-
nas auch »Sensibilität« (sensibilité) genannt wird. Das Ereignis ver-
setzt den Betroffenen in die leibliche Passivität, in die Nähe zum
Anderen; 2) die »unvordenkliche Vergangenheit« (passé immémo-
rial) – das, was sich im Ereignis der Begegnung mit dem Anderen
ereignet, kann nie im die Vergangenheit vergegenwärtigenden Be-
wusstsein, in der Präsenz eingeholt werden. Das Ereignis ist ein Au-
genblick, der für das Bewusstsein immer schon vergangen ist; 3) die
»Spur« (trace), die das uneinholbare Ereignis hinterlässt und die
nicht zu ihm zurückführt. Es handelt sich darum, dass das uneinhol-
bare Ereignis sich manifestiert und etwas in der Welt, zu der es selbst
nicht gehört, hinterlässt – es verändert die Welt, ohne dass es in der
Welt als ein Sachverhalt auffindbar wäre; 4) das »Überschreiten«
(débordement) des Denkens, was bedeutet, dass das Andere unbe-
greiflich bleibt. Das Ereignis ist nie etwas im Denken Gedachtes.
79
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Gilles Deleuze (1925–1995)
80
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Gilles Deleuze (1925–1995)
81
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
82
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Gilles Deleuze (1925–1995)
83
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
68Oder umgekehrt: »Der Sinn ist dasselbe wie das Ereignis, diesmal aber auf die Sätze
bezogen.« (LS, 209/195)
84
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Gilles Deleuze (1925–1995)
sein Effekt verkörpern könnte. So wie, wenn vor der Entdeckung der
Moleküle im heutigen Sinne, dem Ereignis des Grünen des Baumes,
etwas gefehlt hätte, das erlaubt hätte, in ihm eine Zusammensetzung
und Bewegung der Moleküle zu sehen. Dieses Fehlen muss nicht so
verstanden werden, dass es früher eine falsche Interpretation des
Baumes gab und dass die Wissenschaft es später richtig beschrieben
hat, sondern als die Möglichkeit, in der gegebenen Welt einen neuen
Sinn hineinzubringen. Die Serie der Ereignisse des Körperlichen ent-
hält eine leere Stelle, einen »Platz ohne Besetzer« (place sans occu-
pant) (LS, 73/65), die die Möglichkeit, dieses Körperliche neu zu deu-
ten, ist – nämlich durch einen Sinn, der sich in der anderen Serie der
Struktur ereignet. Und umgekehrt: Jeder Sinn muss als Überschuss
über das schon Ausgesagte, das dem im Ding verkörperten Ereignis
entspricht, verstanden werden, und wenn er einmal hinter dem Ge-
sagten gedacht wird, dann erlebt er eine Verkörperung, die darin be-
steht, dass in der Welt ein neues Ding geschaffen wird, was natürlich
nicht immer bedeutet, dass ein noch nie dagewesenes Ding hergestellt
wird – auch die Interpretation des Grünen des Baumes durch die Mo-
leküle ist das Schaffen eines neuen Dinges. Dieser Überschuss reali-
siert sich so, dass man den Sinn des Satzes hinterfragt, zum Beispiel
so: »Der Baum grünt, aber was bedeutet das, dass der Baum grünt?«
Und dann antwortet man irgendwann: »Er grünt, weil solche und
solche chemische Prozesse sich dort abspielen.« Es geht nicht darum,
ob diese Antwort wahr oder falsch ist, sondern nur darum, dass aus-
gehend von einem Sinn ein neuer Sinn geschaffen wird, und dieser
kann wieder zu einen neuen führen. 69 Deleuze nennt dies »unbe-
grenzte Regression« (régression indéfinie) (LS, 57/50). Ein neuer
Sinn muss nicht immer durch explizite und ausgeklügelte Fragen
und Antworten geschaffen werden: Der Baum grünt, aber was wird
danach sein? Bunte Blätter werden fallen. Durch einfaches Hinsehen
kommt man von einem Ereignis (das ein »Fehlen« aufweist) zum
anderen (das diesen leeren Platz sofort einnimmt): Grünen, Blätter,
Schnee, Frühling, Jahr, Leben, Ewigkeit. Oder anders: Grünen des
Baumes, Flattern der Blätter, Wehen des Windes, Sonne, Wiese, Erde,
69Genauer gesagt: Nicht der Sinn schafft einen neuen Sinn, sondern der »Unsinn«
(non-sense). Der Unsinn ist die Instanz, durch die der Sinn zum Sinn wird: »Der
Unsinn ist zugleich das, was keinen Sinn hat, sich aber als solcher der Abwesenheit
des Sinns entgegensetzt, indem er die Sinnstiftung vornimmt. Und genau das hat man
unter nonsense zu verstehen.« (LS, 98/89) Dies bedeutet auch: Jeder neue Sinn ist
zuerst unsinnig, weil er neu ist.
85
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
86
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Gilles Deleuze (1925–1995)
nicht des Selben) denkt 72, fasst Logique du sens die Singularität selbst
als Geschichte, nämlich als Ereignis auf. Die in Logique du sens ge-
dachte Sinnstiftung ist nicht einfach ein geschichtlicher Übergang
von einem Sinn zum nächsten. So zu denken würde immer heißen,
dass man einen identischen (obwohl differenten) Sinn denkt, der
dann in einen anderen übergeht. Nein, der Sinn ist schon Geschichte.
Nichts hält je an. Das Ereignis ist eine ständige Dynamik. Es ereignet
sich nur, er west nie an.
Das paradoxe Element, das sich sowohl auf der Oberfläche des
Körperlichen als auch auf der Oberfläche des Satzes als ihrer Grenze
befindet, sorgt also dafür, dass ständig ein neuer Sinn produziert, d. h.
verkörpert wird. Ein neuer Sinn entsteht aber in Verbindung mit dem
Vorherigen, und aus einem Sinn können mehrere neue Sinne gestif-
tet werden. Das ganze Feld verzweigt sich ins Unendliche. Durch das
paradoxe Element, also im Moment der Sinnstiftung (also ständig),
werden alle Verteilungen, Verzweigungen, die ganze Geschichte
durchlaufen. In diesem Sinne gibt es nur »das Eine Einzige Ereignis«
(l’Unique événement):
»Die Verwandlung oder Neuverteilung der Singularitäten stellen eine Ge-
schichte dar; jede Kombination, jede Verteilung ist ein Ereignis; die parado-
xe Instanz aber ist das Ereignis überhaupt, in dem alle Ereignisse kommuni-
zieren und sich verteilen, das Eine Einzige Ereignis; alle anderen sind nur
dessen Fragmente und Fetzen.« (LS, 81/72)
Man könnte vermuten, dass jede Singularität in die Funktion der pa-
radoxen Instanz gesetzt werden kann, von der ausgehend die unend-
liche Verteilung beginnt. An einem (an jedem) Punkt entfaltet sich
die ganze Vergangenheit und die unendliche Zukunft des Sinn-Ereig-
nisses. Diese Zeit des Ereignisses, die nicht die Gegenwart (einen be-
stimmten vielleicht sogar zur absoluten Wahrheit erstarrten Sinn,
der sich auf das Ding bezieht) hervorhebt, um sie dann gegen eine
andere gleicht zu ersetzen, sondern in die Richtung der unendlichen
Vergangenheit und Zukunft startet, nennt Deleuze – wiederum in
87
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
Anschuss an den Griechen – »Äon« (LS, 86/77). Die Zeit des Ereig-
nisses ist Äon, nicht »Chronos«, der den Zeitlauf verkörpert, wo die
Gegenwart in der Mitte steht. 73 Das Ereignis ist die ganze Zeit, die
ganze Geschichte. Die Verteilung des Sinn-Ereignisses ist natürlich
nicht nur zeitlich zu verstehen: Es verzweigt sich auch räumlich. In
einem Moment ist eine unendliche Verzweigung der Sinn-Ereignisse
gegeben. Deleuze nennt sie »nomadische Verteilung« (distribution
nomade), die bedeutet: »sich in einem offenen Raum aufteilen« (LS,
101 f/93). Eine Verzweigung ohne eine gerade Hauptlinie, unauflös-
bar, Rhizom 74. Das Sinn-Ereignis kennt also kein Anhalten, es zieht
immer weiter und sein Weg ist kein gerader Weg – es gibt kleinere
Pfade, die unerwartet im Nirgendwo aufhören, es gibt große Auto-
bahnen, mit vielen kleineren Auffahrten und Ausfahrten, die aber der
Autobahn zugehörig bleiben, es gibt parallele Strecken, die unter-
schiedlich verlaufen, aber das gleiche Ziel erreichen etc. »Der gesunde
Menschenverstand« (le bon sens) hat die Tendenz, sesshaft zu wer-
den, also bei einem konkreten Sinn zu bleiben, seine Geschichte und
Produktion auszuschalten, ihn zu einer Bedeutung zu verwandeln
und so an einem Ding festzumachen, sodass er in dieser Verkörpe-
rung, in dieser Identität verhaftet bleibt. 75 So wie man denkt, mit der
Erklärung des Grünens des Baumes durch die Bewegung der Molekü-
le die Wahrheit erreicht zu haben. Der Satz »Das Grünen des Baumes
ist die Bewegung der Moleküle« wird als Aussage über die körper-
liche Wirklichkeit aufgefasst, die ihrerseits diese Aussage wahr oder
falsch macht. Ist sie wahr, wird sie sesshaft. Es ist gleichgültig, woher
sie kommt, weil die Vergangenheit keine Wahrheit besaß und deswe-
gen ignoriert werden kann; oder sie wird geradlinig dargestellt, sodass
es scheint, dass alles dazu geführt hat, zu dieser Wahrheit zu gelan-
gen. Die Zukunft ist genauso ausgeschlossen, weil die Wahrheit sich
nicht ändern wird. So wird, zumindest scheinbar, der Sinn angehal-
ten. Es ist der Philosoph, der für Deleuze in das Ereignis des Sinnes
einspringt. Er sieht das ganze Ereignis, die ganze Zeit, er verfolgt die
Entstehung des Sinnes und ahnt seine Veränderung. Er weiß um die
Verzweigungen. Er sucht nicht das Identische, sondern fragt nach
73 Zu dem Chronos (und Äon) siehe insbesondere: LS, 203 ff/190 ff.
74 »Rhizom« ist ein von Deleuze und Guattari gebrauchtes Wort, um die Verteilung
der Singularitäten einer Struktur zu charakterisieren. Sie haben auch ein gleichnami-
ges Buch – Rhizome (1976) – verfasst.
75
Zu den Charakteristika des gesunden Menschenverstandes siehe: LS, 102 ff/93 ff.
88
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Gilles Deleuze (1925–1995)
dem Sinn und ihrer Geschichte – so wie das Heidegger oder Foucault
machen. Weil der Philosoph nach dem Sinn-Ereignis fragt und es
nicht an eine körperlichen Wirklichkeit bindet, die seine Aussagen
bestätigen würde, ist die Philosophie »Gegen-Verwirklichung«
(contre-effectuation) 76. In der Tat bestimmen Deleuze und Guattari
im Buch Qu’est-ce que la philosophie? die Aufgabe der Philosophie
als Befreiung des Ereignisses vom Körperlichen:
»Stets ein Ereignis aus den Dingen und Wesen freisetzen [dégager – L. P.] –
das ist die Aufgabe der Philosophie […].« (WPh, 40/QPh, 36)
Das Ereignis zu verfolgen, heißt, einen »Begriff« (concept) zu haben.
»Die Philosophie beginnt mit der Schöpfung der Begriffe« (WPh, 48/
QPh, 43), »Begriff sagt [dit – L. P.] das Ereignis« (WPh, 27/QPh, 26).
Zu dem Begriff zu gelangen, bedeutet aber, ihn zu gegen-verwirk-
lichen:
»Man aktualisiert oder verwirklicht das Ereignis immer dann, wenn man es
wohl oder übel auf einen Sachverhalt verpflichtet, aber man gegen-verwirk-
licht [contre-effectue – L. P.] es immer dann, wenn man von den Sachver-
halten abstrahiert, um aus ihnen den Begriff zu gewinnen.« (WPh, 186/
QPh, 150)
Wir haben gesehen, wie Deleuze das Ereignis als eine spezifisch on-
tologische Kategorie bestimmt und ihre Eigenschaften (zwei Serien,
paradoxe Instanz, Regression, Geschichte, unendliche Verteilung in
zeitlicher und räumlicher Hinsicht) beschreibt. Wir können uns jetzt
allmählich zur Frage bewegen, was dies alles mit unserem Ereignis zu
tun hat, das wir als die Betroffenheit des Ich durch das Andere, als das
Transzendieren aus sich heraus umgeschrieben haben. Dieser Zusam-
menhang ist in der Tat nicht leicht aufzudecken, da wir in der Phi-
losophie Deleuzes kein Ich finden werden. Wir haben hier mit einer
Ontologie zu tun, die fragt, wie etwas ist bzw. wie sich etwas ereignet.
Und das, was Deleuze uns hier darstellt, ist ein Bild vom Ganzen, das
an sich ein unendliches Ereignis ein »Chaosmos« (chaosmos) »und
keine Welt mehr« (LS, 219/206) ist. Das Ich ist nur ein Punkt in
diesem rhizomartigen Raum, wo sich das Ereignis verkörpern kann.
Eine solche – wir können sagen: strukturalistisch-poststrukturalisti-
sche – Betrachtungsweise würde nie von einem Ich als Zentrum aus-
gehen. Nein, es ist sogar nicht entscheidend, dass sie nicht von einem
76
Zur »Gegen-Verwirklichung« siehe zum Beispiel: LS, 189/176, 202/188.
89
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
77 Darin, dass der Strukturalismus die Subjektivität des Subjekts in den Strukturen
auflöst, liegt auch die Kritik von Levinas (und er ist hier nicht der einzige) gegenüber
dem Strukturalismus: »Die neue Erkenntnistheorie mißt der menschlichen Subjekti-
vität keinerlei transzendentale Bedeutung mehr zu. Die wissenschaftliche Aktivität
des Subjekts wird interpretiert als ein Umweg, über welchen sich die verschiedenen
Strukturen, auf die sich die Wirklichkeit reduziert, in ein System verstauen lassen
und sich zeigen. Was man früher erfinderisches Streben eines Verstandes nannte,
wäre demnach nichts anderes als ein objektives Ereignis des Verstehbaren selbst und
in gewisser Weise eine rein logische Verknüpfung. Die wirkliche Vernunft wäre, im
Widerspruch zu den Lehren Kants, bedeutungslos. Der Strukturalismus ist der Primat
der theoretischen Vernunft.« (GE, 29/DI, 23)
90
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Gilles Deleuze (1925–1995)
Passivität. Damit wird klar gesagt, dass seine Philosophie des Ereig-
nisses nicht das Bewusstsein (aktive oder passive) untersucht, son-
dern etwas, was es überschreitet. Nicht das, was außerhalb des Be-
wusstseins als sein Objekt ist, sondern das, was vor dem Bewusstsein
ist und es noch hervortreten lässt. 78 Das, was Deleuzes Denken des
Ereignisses aufdeckt ist, das »Transzendentale«:
»Nur eine Theorie singulärer Punkte ist in der Lage, sie Synthese der Per-
son und die Analyse des Individuums, wie sie im Bewusstsein vorhanden
sind (oder sich bilden) zu überschreiten. […] Wenn sich die von namenlo-
sen und nomadischen, unpersönlichen und präindividuellen Singularitäten
wimmelnde Welt öffnet, betreten wir endlich das Feld des Transzendenta-
len.« (LS, 135/125)
Dieses »transzendentale Feld« (champ transcendental) (LS, 130/120)
ist transzendental, weil es nur jenseits der Erfahrung gedacht werden
kann: Es ist nicht etwas, was das Subjekt hat und es ist nicht ein
Objekt, das immer ein Objekt eines Subjekts ist, wenn auch ein trans-
zendentes:
»Was ist ein transzendentales Feld? Es unterscheidet sich von der Erfah-
rung, sofern es nicht auf ein Objekt verweist und nicht einem Subjekt zu-
gehört (empirische Vorstellung).« (IL, 29/IV, 3)
Weil das transzendentale Feld sich weder in etwas (Subjekt, Welt etc.)
noch außerhalb von etwas befindet und überhaupt keine Verhältnisse
von Innen und Außen zulässt, ist es »absolute Immanenz« (imma-
nence absolue):
»Mangels Bewußtsein muß sich das transzendentale Feld als eine reine Im-
manenzebene definieren, da es sich jeder Transzendenz des Subjekts wie des
Objekts entzieht. Die absolute Immanenz ist in sich selbst: Sie ist nicht in
etwas, nicht einer Sache immanent, sie hängt von keinem Objekt ab und
gehört zu keinem Subjekt.« (IL, 29 f/VI, 3 f) 79
78
Oder wie Marc Rölli schreibt: »In diesem Sinne ist es ein primärer und ichloser
Bewusstseinsstrom, ein »unpersönliches transzendentales Feld«, das die prozessuale
Voraussetzung jedes faktischen Bewusstseins ausmacht. (Deleuze/Guattari 1991: 56–
57 [bei uns ist es: WPh, 56 f/QPh, 48 ff – L. P.]) Diese Faktizität ist somit ein sekun-
däres Phänomen.« (Rölli(2011), 66)
79 »Interessiert man sich im Detail für eine Begriffsgeschichte der Immanenz, so wird
man sich den Arbeiten von Gilles Deleuze zuwenden. Wie kein anderer Begriff steht
›Immanenz‹ im Mittelpunkt seiner Philosophie – und zwar nicht nur in den Entwür-
fen seines ›eigenen‹, z. B. als empiristisch, strukturalistisch, nomadologisch oder auch
differenztheoretisch bezeichneten Philosophierens, sondern auch in den anderen
91
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
81
Siehe auch: IL, 29/IV, 3).
92
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Gilles Deleuze (1925–1995)
82Oder wie Friedrich Balke dies formuliert: »Der Empirismus ist transzendental,
wenn er das Sinnliche aus seiner komplementären Beziehung zum Intelligiblen he-
rauslöst und aus ihm kein neues erstes Prinzip macht.« (Balke(1998), 31) Siehe auch
Marc Röllis Buch: Gilles Deleuze: Philosophie des transzendentalen Empirismus.
Wien: Turia + Kant, 2003.
93
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
83
Dazu siehe: EM, 40 ff.
94
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Gilles Deleuze (1925–1995)
95
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
gegen ihre Schönheit, der Blick, die Liebe dem Bewusstsein zugehö-
ren. Diese Unterscheidung wird mit der Einführung des Virtuellen
ungültig gemacht. Sie alle sind Sinn-Ereignisse – unkörperlich, prä-
subjektiv. 84 Sie ereignen sich im Zwischen des Körpers (außen) und
Geistes (innen), im Zwischen des Objektiven (Feststellbaren) und
Subjektiven (Erlebbaren), auf der Oberfläche. Das Vorübergehen
eines geliebten Menschen kann man nicht sehen und die Schönheit
kann man nicht erleben – sie beide ereignen sich im Virtuellen als
bestimmte Realitäten an sich. Und kann man nicht in der Tat die Er-
eignisse genau als das Virtuelle beschreiben? Dies würde vor allem
bedeuten, dass man das Ereignis nicht als ein Gegenüber bestimmt
und die Möglichkeit gewinnt, die Einbezogenheit des Subjekts ins
Ereignis zu denken, was absolut entscheidend für das Ereignisdenken
ist.
84 In der Tat sieht Foucault in der Vermeidung dieses Dualismus von Ereignis als
Sachverhalt und Sinn und der Einführung eines körperlosen Ereignisses einen der
Erfolge des Ereignisdenken Deleuzes: »Die Phänomenologie hat das Ereignis und
den Sinn gegeneinander versetzt; entweder setzte sie das nackte Ereignis (den Felsen
der Faktizität, die stumme Trägheit des Geschehenden) an den Anfang, um es dann
der gewandten und durchdringenden Arbeit des Sinnes auszusetzen; oder sie setzte
eine vorgängige Sinngebung voraus, das um das ich herum die Welt immer schon
entworfen hat und dem Ereignis die Wege bahnt, die Plätze zuweist und die Gestalten
vorgibt. Entweder geht die Katze mit gesundem Hausverstand dem Lächeln voraus
oder der gemeine Menschenverstand des Lächelns greift auf die Katze vor. Entweder
Sartre oder Merleau-Ponty. Für sie war das Ereignis niemals auf der Höhe des Sinnes.
Die Folge ist eine Logik der Sinngebung oder Bedeutung, eine Grammatik der ersten
Person, eine Metaphysik des Bewußtseins.« (ThPh, 32/892 f) Was bietet stattdessen
Deleuze an? »Eine Metaphysik des körperlosen Ereignisses (das darum nicht auf eine
Physik der Welt zu reduzieren ist); eine Logik des anonymen Sinnes (statt einer Phä-
nomenologie der Bedeutungen und des Subjekts) […].« (ThPh, 33/893)
96
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Jacques Derrida (1930–2004)
»Immer wird man so tun können, als mache dies keinen Unterschied aus.«
(RG, 31/MPh, 3) 85
Man wird nicht nur »so tun können«, sondern man wird es ganz be-
stimmt tun – so wie man es schon immer getan hat. Was wird man
ganz bestimmt tun? Man wird so tun, als ob »dies keinen Unterschied
ausmacht«. Was macht hier einen bzw. keinen Unterschied aus? Der
Buchstabe a im Wort »différance«. Man hat hier zwei differente Wör-
ter: ein bekanntes – différence –, das den Unterschied bedeutet, und
eine von Derrida eingeführte Zusammensetzung von Buchstaben –
différance –, die, streng genommen, »weder ein Wort noch ein Be-
griff« (ni un mot ni un concept) (RG, 32/MPh, 3) ist. Différance be-
deutet nichts, man kann nicht fragen, was dieses Wort bezeichnet,
was mit ihm gemeint ist. Weil es so ist, wegen diesem Unterschied
»übersteigt« (passe) die différance »die Ebene des Verstandes« (ordre
de l’entendement):
»[E]r [der Unterschied – das a an der Stelle des e – L. P.] läßt sich schreiben
oder lesen, aber er läßt sich nicht vernehmen. Er läßt sich nicht vernehmen,
und wir werden sehen, worin er gleichfalls die Ebene des Verstandes über-
steigt.« (RG, 32/MPh, 4)
Wozu braucht man ein anders geschriebenes Wort différence, wenn
damit nichts gemeint wird? Um zu zeigen, dass man zwischen diffé-
rence und différance keinen Unterschied sieht, sehen kann und will,
und dies möglicherweise deswegen, weil différance nichts bedeutet.
Würde différance etwas bedeuten, würde sie auf ein Seiendes hinwei-
sen (sie ist aber »kein gegenwärtiges Seiendes« (étant-présent) (RG,
34/MP, 6)), müsste man sie nicht als différence auffassen, was sie
nicht ist. Gilt also Derrida als ein Denker der Differenz, so könnte
man vielleicht präzisieren: Er ist weniger ein Denker der Differenz
85
»On pourra toujours faire comme si cela ne faisait pas de différence.«
97
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
86
»Man ahnt bereits, daß der Phonozentrismus mit der historischen Sinn-Bestim-
mung der Seins überhaupt als Präsenz verschmilzt.« (G, 26/23)
87
Siehe Husserls Ideen I: Hua III, 52.
98
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Jacques Derrida (1930–2004)
88»[…] »conscience« ne voulant rien dire d’autre que la possibilité de la présence à soi
du présent dans le présent vivant.«
99
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
wort auf diese Frage äußert gleichzeitig einen der zentralsten Gedan-
ken in Derridas Philosophie:
»Doch da sein Ideal-Sein nichts ist außerhalb der Welt, muß es in einem
Medium konstituiert, wiederholt und ausgedrückt werden, das die Gegen-
wärtigkeit und die Selbstgegenwart der Akte, die es meinen, nicht antastet:
ein Medium, das sowohl die Gegenwärtigkeit des Gegenstandes im Ange-
sicht der Anschauung als auch die Selbstgegenwart, die absolute Nähe der
Akte zu sich selbst, wahrt. Wenn die Idealität des Gegenstandes nur sein
Sein-für ein nicht empirisches Bewußtsein ist, dann kann sie nur in einem
Element ausgedrückt werden, dessen Phänomenalität nicht die Form der
Weltlichkeit hat. Die Stimme ist der Name für dieses Element. Die Stimme
hört sich, versteht sich (s’entend).« (SPh, 102 f/VPh, 84 f)
Die Bedeutung ist unvermittelt und ideal da durch die Stimme, die
gleichzeitig spricht und hört, dass und was sie spricht. Dieses »Sich-
sprechen-hören« (s’entendre-parler), diese »Selbstaffektion« (auto-
affection) (SPh, 106/VPh, 88) ist das Bewusstsein – »Die Stimme ist
das Bewußtsein«. (SPh, 108/VPh, 89) 89
Idealität-Geist-Stimme gegen Materialität-Körper-Schrift: die-
ser Dualismus und der Vorrang des Ersteren sind zwei wesentliche
Aspekte, die – nach Derrida – nicht nur den Husserl’schen Ansatz
charakterisieren – sie sind typisch für die ganze Metaphysik. Durch
das Beispiel von Husserl zeigt Derrida in La voix et le phénomène,
wie die Metaphysik, die für ihn genauso wie für Heidegger die ganze
bisherige Philosophie ist, im Allgemeinen denkt. Heidegger hat in
seiner Metaphysikkritik besonders den »Idealismus« in Frage gestellt,
er hat nämlich gefragt, ob wirklich alles, was es zu denken gibt, auf
einen Begriff und seinen idealen Gehalt zu reduzieren ist. Nun, das
Sein (schon in Sein und Zeit und später als Ereignis) war für ihn
außerhalb der Begrifflichkeit und damit Idealität, außerhalb des vor-
stellenden und sich selbst vorstellenden Denkens. Levinas war derje-
nige, der auf die Einsamkeit des metaphysischen Geistes hingewiesen
hat, auf sein Nicht-Wollen und auf seine Unfähigkeit, das Andere zu
denken. 90 Derrida fügt der Diagnose über die Metaphysik noch ein
89 Weil die Bedeutung in der Metaphysik eine tiefe Verbindung mit der Stimme hat,
schlägt Derrida in La voix et le phénomène vor, das deutsche Wort »Bedeutung« als
»vouloir-dire« zu übersetzten – die Bedeutung ist das, was ich sagen will, was ich
meine (SPh, 29/VPh, 18).
90
Auch Derrida weist darauf hin, dass die Metaphysik, insofern sie das Ideale sucht,
jede Andersheit ausschließen muss: »Die Beziehung zum Anderen als Nicht-Gegen-
wärtigkeit ist also die Unreinheit des Ausdrucks. Um die Anzeige in der Sprache zu
100
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Jacques Derrida (1930–2004)
reduzieren und endlich die reine Ausdrücklichkeit zurückzugewinnen, muß man also
die Beziehung zum Anderen außer Kraft setzen.« (SPh, 57/VPh, 44)
101
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
Jede Metaphysik ist der Vorrang der Stimme, des gesprochenen Wor-
tes, das gleichzeitig spricht, also ein Zeichen gebraucht (Signifikant)
und gleichzeitig hört, was es sagt (Signifikat). Diese Selbstaffektion
ist die Gleichzeitigkeit und damit die Gleichheit von Signifikant und
Signifikat. Es ist für die Metaphysik also unvermeidlich, dass sie
letztendlich dazu kommt, dass es kein Außerhalb der Sprache gibt.
Man könnte denken, dass diese postmoderne Ansicht, dass alles Zei-
chen ist, mit der Metaphysik bricht, aber für Derrida ist sie nur eine
wesentliche Konsequenz der Metaphysik. Es geht um die Verlage-
rung jeder Gegebenheit in den Geist – in seiner lebendigen Gegen-
wart, in der er spricht und hört und auf diese Weise lebt – und um
maximale Reduktion und sogar Erniedrigung des Nicht-Geistigen. 91
Die Reduktion des Zeichens auf die Präsentation des Gegen-
wärtigen im Bewusstsein, die Reduktion aller Gegebenheit auf die
Gegebenheit für das Bewusstsein in seiner lebendigen Gegenwart –
ist dieser Totalitarismus der Präsenz und die Bestimmung dieser Prä-
senz als »Quelle«, als Anfang (alles hat schon immer gesprochen) und
Ende (alles kann und muss zum Sprechen gebracht werden) das letzte
Wort? Kann man diese indifferente Totalität brechen? Das ist die Fra-
ge Derridas. Es ist die Frage danach, ob sich etwas der Präsenz im
Geist entzieht; es ist die Frage nach der Schrift; es ist die Frage nach
dem Anderen; und es ist die Frage nach dem Ereignis. Der Totalität
kann man nur das entziehen, was sich von ihr unterscheiden kann.
Die Dekonstruktion der Totalität ist die Frage nach der Differenz; es
ist die Frage nach der Macht der Totalität, immer und überall, die
Differenz abzuschaffen; es ist die Frage, ob die Philosophie sich dieser
Macht entziehen kann, um die Differenz zu bewahren.
Die reine Sphäre der »Gegenwärtigkeit des Sinns« und die Re-
duktion von allem Unreinen und Nicht-Gegenwärtigen –heißt so zu
tun, als ob es keine Differenz gäbe. Gibt es aber Differenz in der Prä-
91 In der Tat ist für Derrida nicht alles Zeichen als die Anwesenheit der (abwesenden)
Sache, die gelesen werden kann. Das Zeichen selbst ist nämlich kein Zeichen – es ist,
wie wir später sehen werden, »Urschrift«. Und genauso wenig ist alles Metapher.
Entzieht die Urschrift der Präsentation im Zeichen, entzieht der Begriff der Metapher
seiner Bestimmung als Metapher: »Wollte man alle metaphorischen Möglichkeiten
der Philosophie erfassen und klassifizieren, so bleibe mindestens eine Metapher
immer ausgeschlossen, bliebe außerhalb des Systems: Zumindest diese, ohne die der
Begriff der Metapher nicht konstruiert werden könnte, oder, um eine ganze Kette zu
synkopieren, die Metapher der Metapher.« (RG, 240/MPh, 261) Es geht darum, dass
immer ein Rest von der Präsenz übrig bleibt, der nicht in der Gegenwart des Bewusst-
seins angeschaut werden kann.
102
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Jacques Derrida (1930–2004)
senz? Oder ist sie in der Tat eine »ungeteilte Einheit« (unité indivise)
(SPh, 83/VPh, 67), also nicht zusammengesetzt und so unabgeleitet,
voraussetzungslos und ursprünglich? Man könnte einen Jetzt-Punkt
annehmen, der nicht weiter geteilt werden kann, doch er wird immer
als ein Punkt einer Zeitlinie gedacht, also als ein Teil eines Ganzen,
wo er in Beziehung mit anderen Teilen tritt. Nur so kann auch die
Präsenz der Bedeutung und die Selbst-Präsenz des Bewusstseins
gedacht werden – als ein ausgedehnter Augenblick, wo das Jetzt das
vergangene und zukünftige Jetzt in sich trägt:
»Man wird dann sehr schnell gewahr, daß die Gegenwärtigkeit der wahr-
genommenen Gegenwart als solche nur in dem Maße erscheinen kann, wie
sie kontinuierlich mit einer Nicht-Wahrnehmung, nämlich der primären
Erinnerung und der primären Erwartung (Retention und Protention), Ver-
bindungen eingeht.« (SPh, 88/VPh, 72)
Trotzdem – und hier kommt die Nicht-Beachtung der Differenz zum
Vorschein – wird diese zusammengesetzte Gegenwart als ein Jetzt
gedacht:
»Nichtsdestoweniger bleibt diese Extension von der Selbstidentität des Jetzt
als Punkt – als »Quellpunkt« – her gedacht und beschrieben.« (SPh, 85/
VPh, 69) 92
103
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
Damit entsteht eine verkehrte Lage: Ist das Jetzt der Wahrnehmung
als originär, ursprünglich, und gleichzeitig als nicht einfach, nicht
originär, nicht identisch mit sich selbst bestimmt, so wird diese in sich
ausgedehnte Gegenwart »originärer« als die phänomenologische Ori-
ginarität selbst|«| (SPh, 92/VPh, 75). So fragt Derrida:
»Daß diese Falte in der Gegenwärtigkeit oder in der Selbstgegenwart irre-
duzibel ist, daß diese Spur oder diese différance stets älter ist als die Gegen-
wärtigkeit und ihr ihre Offenheit verschafft, verbietet das nicht, von einer
einfachen Identität-mit-sich »im selben Augenblick« zu sprechen?« (SPh,
93/VPh, 76)
Ist also die Präsenz eine einfache in sich abgeschlossene Totalität, der
Ursprung ihrer selbst, die Identität, die Gleichzeitigkeit mit sich
selbst? In der Tat nicht: Die Gegenwärtigkeit verbirgt in sich eine
»Falte« (pli), die man nicht entfalten und zur Gegenwart machen
kann. Sie ist »Nicht-Identität mit sich« (non-identité à soi) und als
solche die »Spur« (trace) der Differenzierung, der différance:
»Die lebendige Gegenwart geht aus ihrer Nicht-Identität mit sich und aus
der Möglichkeit der retentionalen Spur hervor. Sie ist immer schon eine
Spur.« (SPh, 115/VPh, 95)
Die Gegenwart selbst ist also abgeleitet, sie ist »Spur« (trace) von
dem, was immer, also irreduzibel, »älter« (plus vieille) als sie ist und
aus dem sie hervorgeht (jaillit). Somit hat die Gegenwart ein »Sup-
plement« (supplément), oder, genauer gesagt: Sie hat ein Supple-
ment, das ihr fehlt, das sie nicht erreichen kann und das auch ihr
Sich-selbst-Fehlen bedeutet. Die différance ist aber nicht nur die Tei-
lung der Gegenwart, sondern auch ihre Verzögerung; sie bedeutet,
dass die Präsenz »aufgeschoben« ist – sie ist das, was danach kommt,
irgendwann später:
»So verstanden, ist die Supplementarität sehr wohl die différance, die Ope-
ration des Differierens 93, die in einem die Gegenwärtigkeit zerspaltet und
93 Zur Différance als »Operation des Differierens« (opération du différer): Die Diffé-
rance ist ein komplexes Konzept. Für uns ist es in dem Kontext von Bedeutung, wo es
die Differenz von Präsenz und Nicht-Präsenz und die Nicht-Beachtung dieser Diffe-
renz beschreibt; wo es nicht eine definierbare Differenz vom Präsenten und Nicht-
Präsenten bedeutet, sondern nur das, dass das Präsente sich differenziert bzw. diffe-
renziert wird. Nun erinnert der Ausdruck opération du différer an Deleuzes Philoso-
phie der Differenz. Der Ausdruck opération du différer erscheint 1967 in La voix et le
phénomène. Différence et répétition von Deleuze erscheint 1968 und sagt Folgendes:
»Von der Differenz muß also gesagt werden, daß man sie macht [fait – L. P.] oder daß
104
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Jacques Derrida (1930–2004)
verzögert und sie so im selben Zug der ursprünglichen Teilung und dem
ursprünglichen Aufschub unterwirft. Die différance ist vor der Trennung
zwischen dem Differieren als Aufschub und dem Differieren als aktiver
Arbeit der Differenz zu denken. […] Die supplementäre Differenz vertritt
die Gegenwärtigkeit in ihrem originären Sich-selbst-fehlen.« (SPh, 118/
VPh, 98)
Insofern die différance »Aufschub« (délai) 94 ist, macht sie in der Ge-
genwart ein »Intervall« (intervalle) auf; sie ist »Verräumlichung«
(espacement).
Nun ist die différance nicht als ein »Ursprung« (origine) zu
denken:
sie sich macht, entsprechend des Ausdrucks »einen Unterschied machen«.« (DW, 49/
DR, 43). Außerdem spricht Deleuze vom »Prozess« (procès) der »Differentiation«
(différentiation) und »Differenzierung« (différenciation) (DW, 262/DR, 267) von der
»Differenzierungszeit« (temps de différenciation) (DW, 267/DR, 272) o. Ä. Derrida
und Deleuze fassen also beide die Differenz als einen Prozess auf, man könnte viel-
leicht sogar sagen: als Ereignis, obwohl das Ereignis sowohl für Derrida als auch für
Deleuze etwas anderes bedeutet. Deswegen wäre es auch nicht richtig, zu sagen, dass
jede Philosophie, die die Prozessualität, die Genese o. Ä. thematisiert, gleich eine Er-
eignisphilosophie in unserem Sinne ist. Die Philosophie des Ereignisses ist die Phi-
losophie des Anderen, der Differenz zum Anderen, nicht die Philosophie des Prozes-
ses, der Differenzierung o. Ä. Genauso wenig ist jede Philosophie der Differenz eine
Philosophie des Ereignisses – man kann die Differenz sehr unterschiedlich auslegen.
So ist das Denken der Differenz bei Derrida ein Denken des Ereignisses, aber das
Denken der Differenz bei Deleuze ist es nicht. Aus folgendem Grund: Für Deleuze
ist die Differenz das Sich-von-einander-Unterscheiden – in einer Struktur, topo-
logisch, auf der Oberfläche ohne Tiefe; sie ist Verteilung auf einer Ebene und nicht
Abfall von einem Ursprung. Eine der Hauptaufgaben von Différence et répétition ist
es, die Differenz von ihrer Interpretation als Negation (Abfall) vom Identischen (Ur-
sprung) zu befreien. Es gibt kein Identisches mehr, von dem sich etwas differenzieren
würde. Differenz ist einfach Sich-von-einander-Unterscheiden – ohne das ursprüng-
liche Identische – und deswegen eine »negationslose Differenz« (différence sans né-
gation) (DW, 12/DR, 2) Eine solche negationslose Differenz ist horizontal ausgerich-
tet. Sie ist aber vertikal ausgerichtet bei Derrida, genauso wie bei Heidegger oder
Levinas. Deswegen, weil wir es hier nicht mit auf einer Ebene strukturierten differen-
ten Elementen zu tun haben, sondern mit zwei Ebenen, von deren eine präsent sein
kann, die andere dagegen nicht – sie ist das absolut Andere. Für Deleuze gibt es nicht
das absolut Andere. Noch mehr: Das absolut Andere (absolute Negation) ist nur ein
positiver Sinn auf derselben Ebene wie jeder andere Sinn. Die différance, die »Opera-
tion des Differierens«, die »die Gegenwärtigkeit zerspaltet und verzögert« ist aber
genau die Einführung des absolut Differenten (der Präsenz), das nie positiv begriffen
werden kann.
94
Bei der Bestimmung der différance sowohl als der »aktiven Arbeit der Differenz«
(travail actif de la différence) als auch des »Aufschubs« beruft sich Derrida auf die
zwei Bedeutungen des Wortes différer (RG, 36/MPh, 8).
105
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
»Die différance, die diese Differenzen hervorbringt, geht ihnen nicht etwa
in einer einfachen und an sich unmodifizierten, in-differenten Gegenwart
voraus. Die différance ist der nicht-volle, nicht-einfache Ursprung der Dif-
ferenzen. Folglich kommt ihr Name ›Ursprung‹ nicht mehr zu.« (RG, 40/
MPh, 12)
Einen Ursprung zu denken, hieße, ihn als ein präsentes Seiendes zu
setzen. Die Präsenz aber, wie es festgestellt wurde, ist nicht einfach,
sondern eine in sich differenzierte und aufgeschobene Spur. Eine
Spur ist aber kein Ursprung. Insofern also der Ursprung in der Prä-
senz (wo denn sonst?) gedacht wird, muss er als eine Spur gedacht
werden – als eine in sich differenzierende Spur. Insofern aber diese
Spur nicht als bloße indifferente Präsenz gedacht wird, sondern als
die Differenzierung der Präsenz und damit ihre Ermöglichung, ist
die différance nicht bloß Spur, sondern »Urspur« (archi-trace):
»Und ich schlage vor, diese Konstitution der Gegenwart, als »originäre«,
und in irreduzibler Weise nicht-einfache, also, stricto sensu, nicht-orginäre
Synthese von Merkmalen (marques) […], Urschrift, Urspur zu nennen.«
(RG, 42/MPh, 14) 95
Die différance ist somit nicht nur die Differenzierung und Aufschub
der Präsenz, sondern sie – sofern sie in einem philosophischen Dis-
kurs erscheint – differenziert sich von sich selbst und wird zur Spur.
Die différance als Ursprung zu denken, wäre eine Nicht-Beachtung
der Differenz, nämlich der Differenz zwischen der Präsenz und dem
Ursprung; sie wäre die Totalität der Präsenz.
Die différance in der Präsenz ist aber auch eine différance im
Zeichen, insofern Zeichen vorzugsweise als Phonem, als gesproche-
nes Wort und nicht als schriftliches Zeichen gesehen wird; insofern
das Zeichen auf das reduziert wird, was es bedeutet, was es zu sagen
hat, insofern es die Anwesenheit der bezeichneten Sache in ihrer Ab-
wesenheit ist. 96 Es geht um die différance in der Sprache (langage),
insofern sie vorzugsweise als die gesprochen Sprache, als Jemandem-
95 In der Übersetzung fehlen hier die letzten zwei Wörter dieses Satzes. Im Original
heißt es: »Et c’est cette constitution du présent, comme synthèse »originaire« et irré-
ductiblement non-simple, donc, stricto sensu, non-originaire, de marques […] que je
propose d’appeler archi-écriture, archi-trace ou différance.«
96 »Das Zeichen, so sagt man gewöhnlich, setzt sich an die Stelle der Sache selbst, der
gegenwärtigen Sache, wobei »Sache« hier sowohl für die Bedeutung als auch für den
Referenten gilt. Das Zeichen stellt das Gegenwärtige in seiner Abwesenheit dar. Es
nimmt dessen Stelle ein.« (RG, 37/MPh, 9)
106
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Jacques Derrida (1930–2004)
97
Im Original: différance.
107
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
und trotzdem übersieht es sie. Es sieht sehr wohl, dass die vergegen-
wärtigte Vergangenheit keine Vergangenheit mehr ist, trotzdem will
sie die Differenz nicht wahrhaben – es macht aus dem »a« ein »e«. Sie
sieht sehr wohl, dass die Schrift ein merkwürdiges, an sich selbst sei-
endes System bildet, trotzdem versteht sie es bloß als Mittel für die
Präsentation des Sinnes. Wird aber das Andere durch das Zeichen im
Denken präsentiert, hat das Denken es schon verfehlt. So heißt es in
Marges – de la philosophie (1972):
»Indem man es [das Andere – L. P.] als solches denkt, indem man es als
solches (an)erkannt, verfehlt man es. Man eignet es sich wieder an, man
verfügt darüber, man verfehlt es – oder man droht es zu verfehlen, man
versäumt, es zu verfehlen – was, im Hinblick auf das Andere, immer auf
dasselbe hinausläuft.« (RG, 14 f/MPh, II)
Derrida stellt diese Indifferenz, diesen Versuch, die Grenze zu über-
schreiten, in Frage:
»[…] wird es in diesem Buch fast ständig darum gehen, die Aufhebung
(relevance) der Grenze einer Befragung zu unterziehen.« (RG, 14/MPh, II)
Nun ist das, was das Andere des Denkens bildet, nicht Eines. Das
Denken stößt überall auf verschiedene Grenzen. Der Aufschub der
Gegenwart, die urschriftliche Genese des Zeichens sind nur zwei Bei-
spiele. Die Aufsatzsammlung (1967) L’écriture et la différence gibt
noch andere Beispiele: den Wahnsinn (in Bezug auf Foucault), den
anderen Menschen (in Bezug auf Levinas), das Leben (in Bezug auf
Antonin Artaud), das Subjekt (in Bezug auf Freud) u. a. Will Foucault
in seinem Buch Folie et déraison. Histoire de la folie à l’âge Classique
(1961) die Geschichte des Wahnsinns »von seiner eigenen Instanz
ausgehend« (SD, 58/EeD, 56) schreiben, so ist ein solcher Versuch
»unmöglich« und »wahnsinnig«:
»Indem er eine Geschichte des Wahnsinns schrieb, hat Foucault – und das
ist der ganze Wert, aber auch die Unmöglichkeit seines Buches – eine Ge-
schichte des Wahnsinns selbst schreiben wollen. Selbst. Des Wahnsinns
selbst. Das heißt, indem er ihm das Wort gibt. Foucault hat den Wahnsinn
zum Subjekt seines Buches machen wollen […].« (SD, 57 f/EeD, 55 f)
»Es handelt sich also darum, der Falle oder der Naivität zu entgehen, die
beide objektivistisch wären und darin bestünden, in der Sprache der klassi-
schen Vernunft unter der Benutzung der Begriffe […] eine Geschichte des
ungebändigten Wahnsinns selbst zu schreiben, so wie er besteht und atmet,
bevor er in den Netzen eben jener klassischen Vernunft gefangen und pa-
108
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Jacques Derrida (1930–2004)
ralysiert wird. Der Wille, dieser Falle zu entgehen, besteht bei Foucault
fortwährend. Er ist das Kühnste und Bestechendste an diesem Versuch. Er
gibt ihm auch die bewundernswerte Spannung. Es ist aber auch, und hier
handelt es sich nicht um ein Wortspiel, das Wahnsinnigste an seinem Vor-
haben.« (SD, 58/EeD, 56)
Ein Buch des Wahnsinns selbst ist eine »Unmöglichkeit« (impossibi-
lité), weil ein Buch immer ein Buch der Vernunft ist. »Ein Buch des
Wahnsinns« heißt die Differenz zwischen der Vernunft und dem
Wahnsinn nicht sehen, es heißt, den Wahnsinn für die Vernunft zu
halten. Und ist dies nicht genau die Definition des Wahnsinns, näm-
lich etwas für etwas anderes zu halten als es ist? Und ist es nicht das
»Wahnsinnigste« 98 überhaupt, dass sogar dann, wenn man den Unter-
schied anerkannt und der »Naivität entgehen« will, trotzdem den
Unterschied nicht sieht?
Eine ähnliche Frage stellt Derrida an Artaud und sein Projekt des
»Theaters der Grausamkeit«. Will Artaud das Theater vom Autor,
vom vorgeschriebenen Text, also vom führenden Geist, der das Leben
von sich selbst entfremdet, befreien, kann er dies doch unmöglich
durch eine Inszenierung, ein »Werk« (œuvre) tun:
»Selbst wenn Artaud das Werk und das geschriebene Werk, wie er es getan
hat, nicht wieder in ihre Rechte gesetzt hätte, weist sein Vorhaben über-
haupt (die Reduzierung des Werks und der Differenz, der Geschichtlichkeit
also) nicht auf das Wesen des Wahnsinns [folie – L. P.] hin?« (SD, 298/DeE,
289 f)
Das Wahnsinnige liegt darin, dass man das im Werk vollzogene Leben
für ein nicht entfremdetes Leben hält – eben weil das Werk den re-
flexiven Geist angeblich reduziert hat. Aber hat es dies? In der Tat
nicht. Der Wahnsinn ist die Nicht-Beachtung der Differenz; wenn
man also »a« für »e« hält.
Das Ereignis in der Philosophie Derridas stellt eine weitere
Grenze der Präsenz, des Zeichens, des Denkens dar. Die Angaben
Derridas zum Ereignis sind zwar in seiner ganzen Schaffensperiode
zu finden (dabei mehr in der späteren Philosophie), sind aber eher
knapp und hinweisend als ausführlich, eher in verschiedene Richtun-
gen zeigend als definitorisch und systematisch, eher marginal als zen-
tral; und dort, wo es um Ereignisse geht, geht es eher um bestimmte
98 Der volle Satz lautet im Original: »Mais c’est aussi, je le dis sans jouer, ce qu’il y a
de plus fou dans son projet.«
109
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
99 Man kann auch Thomas Khurana zustimmen: »Das Wort »Ereignis« (événement)
fungiert in den Texten Derridas von Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der
Geometrie (Derrida 1987; frz. Orig.: 1962) bis hin zu seinen jüngsten Texten (vgl. z. B.
Derrida 2001a [Derrida: Une certaine possibilité impossible de dire l’événement –
L. P.]) in sehr unterschiedlicher Weise, mal beiläufig, mal mit Gewicht, mal als atta-
ckierte, mal als heranzitierte oder auch deutlich in Anspruch genommene Kategorie.«
(Khurana, 236)
100 Wir stimmen hier Khurana zu: »Ein erster Zug, der das Denken des Ereignisses in
der Dekonstruktion zu situieren erlaubt, liegt darin, auf eine der beständigsten und
elementarsten Bewegungen dieser Dekonstruktion zurückzukommen: die Dekon-
struktion der Metaphysik der Präsenz und damit einhergehende Infragestellung der
Werte der Gegenwart, der Präsenz, der Fülle und der Anwesenheit. Aus diesem Mo-
vens, das Derrida Philosophie bestimmt, rührt eine wesentliche Bestimmung des Er-
eignisbegriffs. Wenn dekonstruktive Unternehmungen diese Kategorie affirmativ in
Anspruch nehmen, dann nur in dem Maße wie »Ereignis« gerade nicht die pure Prä-
senz einer erfüllten Gegenwart meint.« (Khurana, 236)
101 Auch hier können wir Khurana zustimmen: »Die Bestimmungsstücke, die man in
den Texten Derridas finden kann, bilden ein unabgeschlossenes Geflecht von Elemen-
ten, die alle aufeinander bezogen sind. Sie stützen sich wechselseitig und lassen sich
nicht in einen einfachen Ableitungszusammenhang einordnen.« (Khurana, 243)
110
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Jacques Derrida (1930–2004)
102
Vgl.: SPh, 13/VPh, 4.
111
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
tum. Kurz: Das Ereignis ist das, was sich dem Zeichen entzieht, die
»Einmaligkeit« (unicité):
»Ein Zeichen ist niemals ein Ereignis, wenn Ereignis unersetzliche und un-
umkehrbare empirische Einmaligkeit bedeutet. Ein Zeichen, das nur »ein-
mal« stattfände, wäre kein Zeichen.« (SPh, 69/VPh, 55)
Dieses Zitat stammt aus 1967, aber noch 1997 im Vortrag Une certai-
ne possibilité impossible de dire l’événement sagt Derrida:
»Da das Sprechen an die Struktur der Sprache gebunden ist, ist es anderer-
seits einer gewissen Allgemeinheit, einer gewissen Iterierbarkeit, einer ge-
wissen Wiederholbarkeit unterworfen und muss schon deswegen die Sin-
gularität [singularité – L. P.] des Ereignisses verfehlen.« (UES, 21/IDE, 89)
Man kann viele Schlussfolgerungen daraus ziehen, zum Beispiel: Ist
das Denken sprachlich, also denkt es einen idealen Sinn, ist das Er-
eignis undenkbar; ist das Zeichen die Repräsentation des Wiederhol-
baren, ist das Ereignis nicht präsentierbar – es kann nicht in der Prä-
senz des Denkens erscheinen, ohne seine Ereignishaftigkeit zu
verlieren etc.
Wir haben gesagt, dass das Ereignis nicht das Zeichen ist, son-
dern die Produktion des Zeichens. Dies wäre wahrscheinlich eine un-
berechtigte Einschränkung dieses Konzepts. Man kann zwar durch
dieses Beispiel sehr gut demonstrieren, was die Singularität des Er-
eignisses bedeutet, damit schöpft man aber nicht alle Möglichkeiten
des Ereignishaften aus. Es wäre vielleicht richtiger zu sagen, dass das
Ereignis ganz allgemein das ist, was sich dem Zeichen entzieht. Es ist
aber interessant, dass die Bestimmung des Ereignisses als der Akt des
Sagens 103, des Schreibens Derrida in der Nähe zu Austins Sprechakt-
theorie bringt. In der Tat setzt sich Derrida mit Austin und später mit
Searle auseinander. 104 Und 1997 sagt Derrida:
103 Wir möchten in diesem Zusammenhang auf das Werk von Dieter Mersch hinwei-
sen, dessen Ereigniskonzept sehr nah zu dieser Idee von Derrida steht. Mersch ver-
steht unter dem Ereignis das Auftauchen der Materialität des Zeichens (nicht des
Sinnes), seine materielle Gegenwärtigkeit (nicht die ideelle Gegenwärtigkeit des Sin-
nes). Siehe zum Beispiel sein Buch: Was sich zeigt: Materialität, Präsenz, Ereignis.
München: Fink, 2002.
104 Zu Austin äußerste sich Derrida im Vortrag Signature événement contexte (1971,
112
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Jacques Derrida (1930–2004)
»Wenn ich zum Beispiel etwas verspreche, spreche ich nicht über ein Ereig-
nis, sondern mein Sprechakt ist das Ereignis, ich verspreche, indem ich spre-
che. Ich sage »ja«, ich habe vorhin mit diesem »Ja« begonnen: Das »Ja« ist
performativ. Das ist das Beispiel der Eheschließung, das immer bemüht
wird, wenn man vom Performativen spricht: »Wollen Sie X zum Mann/
zur Frau nehmen? – Ja.« Das »Ja« bezeichnet nicht das Ereignis, es ist oder
konstituiert das Ereignis. Es ist ein Sprech-Ereignis, ein Rede-Ereignis.«
(UES, 20/IDE, 88) 105
Wenn wir aber sagen, dass die Bestimmung des Ereignisses als der
Akt des Sagens, des Schreibens Derrida in die Nähe zu Austins
Sprechakttheorie bringt, dann meinen wir nur »in die Nähe«. Austins
Sprechakt ist immer noch ein empirisches Ereignis, das zum Gegen-
stand einer Theorie werden kann. Eher als ein Wesen für eine Unter-
suchung zu sein, ist »Sprech-Ereignis« (parole-événement), ein Re-
de-Ereignis (dire-événement) für Derrida das, was eben diesem
Wesen als sein »Symptom« (symptôme) existiert und nicht ver-
gegenständlicht werden kann. 106
Wenn es also um die Singularität des Ereignisses geht, muss man
unterscheiden: Es ist unmöglich, ein Ereignis zu sagen, ohne seine
Singularität zu verfehlen, aber das Ereignis ist als ein Sprech-Ereig-
nis, ein Rede-Ereignis möglich. Es ist möglich, aber es ist unmöglich,
dieses Ereignis durch das Zeichen in der Präsenz des Bewusstseins,
das nur das Identische, Ideale und Wiederholbare besitzen kann, zu
repräsentieren. Wir haben aber schon darauf hingewiesen, dass es
nicht richtig wäre zu behaupten, dass Derrida das singuläre Ereignis,
das unmöglich für das Zeichen ist, ausschließlich in einem »Sprech-
sammlung Limited Inc, die neben der Antwort auf Searle auch Derridas früheres
Essay zu Austin und ein Interview enthält).
105 Diese Übersetzung ist leider alles andere als präzise, insbesondere der erste Satz,
der im Original lautet: »Quand je promets, par exemple, je ne dis pas un événement, je
fais l’événement par mon engagement, je promets ou je dis.« Es geht hier also nir-
gendwo um einen »Sprechakt«, der ein philosophischer Begriff ist, sondern nur da-
rum, dass »ich nicht ein Ereignis sage«, sondern »das Ereignis durch mein Verspre-
chen schaffe«. Der letzte Satz bestätigt dies: »Le »oui« ne dit pas l’événement, il fait
l’événement, il constitue l’événement.« Außerdem wird im ersten Satz des Originals
kein Wort hervorgehoben, während in der Übersetzung »ist« hervorgehoben wird.
106 Das Ereignis ist das, »das sich weder in Form einer Feststellung, einer theoreti-
schen Aussage oder einer Beschreibung vollzieht, noch in Form einer performativen
Produktion, sondern nach Art eines Symptoms. Ich schlage dieses Wort als dritten
Term vor, jenseits der wahrheitsfähigen Aussage und der Performativität, die das Er-
eignis hervorbringt.« (UES, 48/IDE, 104 f)
113
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
107 Im Original: »[…] en tout cas, le don n’existe pas et ne se présente pas. S’il se
114
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Jacques Derrida (1930–2004)
Buches, das den Wahnsinn sprechen lässt, wir mehr von ihm entfernt
sind als vor dem Erscheinen? Mit dem Buch des Wahnsinns gibt es
keinen Wahnsinn mehr. In dem Moment, wo ein singuläres Ereignis
im Bewusstsein reflektiert wird, verschwindet es.
Es ist sehr wichtig zu beachten, dass die Unmöglichkeit nicht
heißt, dass es etwas nicht gibt bzw. nicht geben kann. Es geht nämlich
nicht um die Unmöglichkeit (logische, physische etc.), sondern um
das Unmögliche. Das Unmögliche ist nicht einfach unmöglich:
»Nicht unmöglich, sondern das Unmögliche, die Figur des Unmöglichen
selber.« (FG, 17/FM, 19) 108
Das Unmögliche ist nicht unmöglich schon in dem Sinne, dass die
Bestimmung von etwas als »unmöglich« schon die Klassifizierung
und damit die Präsenz des Klassifizierten im Bewusstsein voraussetzt.
Die Unmöglichkeit des Unmöglichen ist genau diese Unmöglichkeit
der Präsenz – streng verstanden als die Gegenwart des Gegenwärti-
gen (des Sinnes) in der Selbstgegenwart des Bewusstseins, die wieder-
um durch die Vergegenwärtigung (Versammlung) des Vergangenen
und des Zukünftigen in einem Jetzt möglich ist. Aber diese Unmög-
lichkeit zerstört auf keinen Fall das Ereignis selbst:
»Doch das Unmögliche ist nicht nichts.« (Sch, 199Anm.37/V, 204n.1) 109
Das Unmögliche ist das, was unmöglich wird, wenn es in der Präsenz
erscheint – nur in der Präsenz hört es auf zu existieren, nicht über-
haupt. Es ist auch klar, dass damit jede Phänomenologie der Gabe und
des Ereignisses überhaupt völlig unmöglich wird. Und sie wird nur
dann möglich, wenn sie gerade unmöglich wird.
Das Unmögliche der Präsenz muss in Derridas Fall nicht unbe-
dingt wie bei Merleau-Ponty oder Levinas als eine Vergangenheit, die
niemals Gegenwart war, gedacht werden, also als das, bezüglich des-
sen man immer mit der Verspätung kommt, bezüglich dessen man
immer nur mit einer Spur (Spur wird ja als die Anwesenheit eines
Weggegangenen verstanden) zu tun hat. 110 In anderen Hinweisen
zum Ereignis – so zum Beispiel in Échographies – de la télévision
(1996) oder Une certaine possibilité impossible de dire l’événement
108 Im Original: »Non pas impossible mais l’impossible. La figure même de l’im-
possible.«
109
Im Original: »Mais l’impossible n’est pas rien.«
110 Obwohl in Derridas Texten auch das Motiv des Zu-spät-Kommens bezüglich des
115
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
111 Aus irgendwelchem Grund sind in dieser Übersetzung einige wichtige Wörter
116
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Jacques Derrida (1930–2004)
Nach dem Eintreffen bleibt das Ereignis immer noch unmöglich, weil
das in der Präsenz Erscheinende (das für das Bewusstsein Angekom-
mene) es nicht ist. Das, was sich ereignet und sich ereignet hat, ist
unbegreiflich.
Das Singuläre kann nicht durch eine mit sich selbst identische
Idealität repräsentiert werden und bleibt in diesem Sinne unmöglich
– unmöglich für das Bewusstsein, unmöglich für die Sprache; unmög-
lich – das, was immer nur im Kommen ist, selbst dann, wenn es ange-
kommen ist. Derridas Ereignisbegriff enthält aber noch einen wesent-
lichen Aspekt, der oft in den von Derrida beschriebenen Ereignis-
Beispielen (Gabe, Vergebung, Gastfreundschaft etc.) auftaucht. Es
geht darum, dass das Ereignis sich außerhalb der »Ökonomie« (éco-
nomie) ereignet. Um diesen Aspekt zu verstehen, muss zuerst geklärt
werden, wie Derrida das Ökonomische versteht. Nach der Aufklä-
rung dieser Frage, werden wir auch sehen, dass die Bestimmung des
Ereignisses als außerhalb der Ökonomie seiend, sehr wohl zu den
anderen Bestimmungen des Ereignishaften passt.
Es wundert nicht, dass es um die Ökonomie ausdrücklich und
ausführlich dort geht, wo die Gabe thematisiert wird – es ist intuitiv
verständlich, dass die Gabe etwas mit Geben, Dank, Erwiderung, Wa-
ren, Wert, Schuld, Schulden etc. zu tun hat. In der Tat wird es in La
fausse monnaie sogar ganz explizit gefragt: »Was ist die Ökonomie?«
(FG, 16/FM, 17). Sie hat laut Derrida drei wesentliche Merkmale:
»Gesetz (nomos), »Haus (oikos)« und »die Idee des Tausches, der Zir-
kulation, der Rückkehr« (ebd./FM, 17 f), wobei das ganz wesentliche
Charakteristikum das des »Kreises« (cercle), der »Zirkulation« (circu-
lation) ist:
»Ganz offensichtlich steht dabei, wenn man das von einem Kreis denn sagen
darf, die Figur des Kreises im Zentrum. Sie steht im Zentrum jeder Pro-
blematik der oikonomia, ist zentral für den gesamten ökonomischen Be-
reich: zirkulärer Austausch, Zirkulation der Güter […].« (FG, 16/FM, 18)
Die Gabe als Ereignis hat Bezug zum Ökonomischen, indem sie es
»unterbricht« (interrompt), außerhalb des Gesetzes und ohne die
Rückkehr nach Hause ist:
»Die Gabe jedoch, wenn es sie gibt, bezöge sich ohne Zweifel auf die Öko-
nomie. […] Aber ist die Gabe, wenn es sie gibt, nicht auch gerade das, was
die Ökonomie unterbricht?« (FG, 16 f/FM, 18)
117
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
»Gabe gibt es nur, wenn keine Reziprozität gibt, keine Rückkehr, keinen
Tausch, weder Gegengabe noch Schuld.« (FG, 22 f/FM, 24) 112
Auch dies ist immer noch intuitiv verständlich: Die Gabe gibt es dann,
wenn man sich mit der Gegengabe nicht rechnet; wenn man sie nicht
erwartet oder sogar auffordert. Man spricht von der Gabe, wenn man
gibt, ohne sich selbst dafür zu loben; wenn man den Anderen nicht
sich schuldig fühlen lässt. Man gibt, wenn man den Wert der Gabe
nicht kalkuliert, sondern großzügig gibt etc. Dies alles würde die Un-
terbrechung der Ökonomie bedeuten. Nun gehören solche Behaup-
tungen zum üblichen, normalen, alltäglichen Gabe-Diskurs, und was
dieser Diskurs hinterfragt, ist das Bewusstsein des Gebers (oder auch
des Empfängers). Das heißt: Um die Reinheit – die Bedingungslosig-
keit – der Gabe einzuschätzen, befragt man den Geber. Wenn er nicht
gerechnet hat, wenn er keine Gegengabe fordert, dann hat er außer-
halb des Ökonomischen gegeben. Man kann genauso gut auch den
Empfänger befragen: Wenn er durch die Gabe sich nicht schuldig
fühlt, hat es eine Gabe gegeben. Der übliche Gabe-Diskurs ist somit
durch und durch phänomenologisch – es wird ausgehend vom Be-
wusstsein gedacht. Es gibt das Ereignis (der Gabe), wenn das Be-
wusstsein sagt, dass es diese und jene Bedingungen für ein Ereignis
erfüllt sind; es gibt entsprechend keine Gabe (als Ereignis), wenn et-
was diesbezüglich nicht stimmt. Das Ökonomische und auch das
Nicht-Ökonomische werden ausgehend vom Bewusstsein definiert.
Ganz kurz gesagt: Das Ereignis ereignet sich dann, wenn das Be-
wusstsein unter bestimmten Bedingungen etwas als Ereignis be-
stimmt. Hier kommt aber der entscheidende Punkt: Derrida bestimmt
das Ökonomische und damit das Nicht-Ökonomische nicht aus-
gehend vom Bewusstsein als dessen Modi in dem Sinne, dass das Be-
wusstsein entweder kalkulierend oder selbstlos agieren kann; er be-
stimmt die Ökonomie (und damit auch die Gabe, die die Ökonomie
112
Oder in Bezug auf die Gastfreundschaft: »[D]ie absolute und unbedingte Gast-
freundschaft, die ich ihm [dem absolut Anderen – L. P.] gewähren möchte, setzt einen
Bruch mit der Gastfreundschaft im gängigen Sinne, der bedingten Gastfreundschaft,
dem Recht auf Gastfreundschaft oder dem Gastfreundschaftspakt voraus.« (GF, 26 f/
H, 29) Dies bedeutet nichts anderes, als dass man den Fremden ohne jedwede Kalku-
lation, ohne jedwedes Gesetzte bedingungslos aufnimmt. Und bezüglich der Verzei-
hung gilt dasselbe: »Nur da, wo die Vergebung unmöglich bleibt, weil nur die Ver-
gebung des nicht Vergebungsfähigen Sinn hat, nur da kann Vergebung statt haben,
wenn sie überhaupt statt hat.« (UES, 46/IDE, 103 f) Die Verzeihung ist entweder
bedingungslos (also unmöglich) oder es gibt nur das ökonomische Kalkül.
118
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Jacques Derrida (1930–2004)
119
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
113 Im Original: »[…] en tout cas, le don n’existe pas et ne se présente pas. S’il se
120
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Jacques Derrida (1930–2004)
121
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Alain Badiou (1937)
Die »Sache« der vorliegenden Untersuchung ist das Ereignis als Be-
troffenheit im Sinne des Aus-sich-Heraustretens. Wir haben es in der
Einleitung vorweggenommen und wir werden am Schluss die These
aufstellen, dass dieses Ereignis kein Gegenstand der Phänomenologie
(welche Erscheinungen sie auch immer behandeln würde) sein kann –
obwohl es die Betroffenheit ist und kein Gegenstand der Ontologie
(welches Seiende oder welches Sein sie auch immer behandeln würde)
– obwohl es das Aus-der-Erfahrung-Heraustreten ist. Und wir be-
haupten – mit Levinas – schon im Voraus, dass dieses »Aus-der-Er-
fahrung-Heraustreten« keine Erfahrung des »Aus-der-Erfahrung-
Heraustretens« ist, sondern das, was geschieht. Was der Erfahrung
gegeben worden ist, ist das Zu-spät-Kommen als Spur und Sehnsucht.
Deleuze als ein strukturalistischer Ereignisdenker gab uns die
Möglichkeit, das Ereignis jenseits der Phänomenologie zu denken.
Genauso wie Heideggers Ereignisdenken bietet er eine Topologie an:
Man erfährt nicht das Ereignis, man ist im Ereignis, das wesentlich
eine topologische Verteilung der Elemente (als Sinneseinheiten) ist
(diese Elemente sind zum Beispiel: Ich und Er und Ort der Begeg-
nung; Worte, die wir einander sagen, Auftauchen eines Gefühls etc.).
Obwohl Deleuze, in unseren Augen, zu ontologisch vorgeht, weil er –
durch sein Konzept des »transzendentalen Feldes« – das Bewusstsein
völlig ausschließt, behält er einen Anknüpfungspunkt zur Erfahr-
barkeit des Ereignisses, nämlich weil er es als Sinn sieht. In diesem
Kontext können wir einen weiteren nicht-phänomenologischen Er-
eignisdenker – Alain Badiou – einordnen. Um seiner spannenden
Konzeption des Ereignisses näher zu kommen, ist es hilfreich, sie
mit der von Deleuze zu vergleichen. Dies bereitet keine Schwierig-
keiten, denn Badiou hat einen solchen Vergleich schon vielerorts 116
116Dazu siehe insbesondere sein Buch: Deleuze. La clameur de l’être (1997) und das
Kapitel »L’événement selon Deleuze« in Logiques des mondes (2006).
122
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Alain Badiou (1937)
selbst gemacht. Wir möchten davon einige für uns wichtige Punkte
hervorheben. Erstens hat Deleuze versucht, »das Eine Einzige Ereig-
nis« zu denken, das sich zwar in allen Richtungen und ins Unendliche
erstreckt, aber trotzdem das Ziel der Philosophie ist. Für Badiou heißt
es: »Das Eins ist nicht.« (l’un n’est pas) (SE, 37/EeE, 31) Oder:
»Es gibt nicht »das Eine Einzige Ereignis, von dem alle anderen nur Frag-
mente und Fetzen sind«, und es kann es nicht geben.« (LW, 412/LM, 408)
Es gibt nur Vielheiten. Es gibt kein Ein Einziges Sein. Zweitens un-
terscheidet Deleuze zwar das Ereignis vom körperlichen Sein (darun-
ter auch vom »körperlichen« Sein des Satzes), aber es hat trotzdem
ein »Mindestmaß an Sein«. Das Ereignis bleibt also eine Seinsart oder
– radikal formuliert – alles ist Ereignis, das Sein ist das Ereignis, wäh-
rend für Badiou das Ereignis genau das »Was-nicht-das-Sein-als-Sein
ist« (ce-qui-n’est-pas-l’être-en-tant-qu’être) (SE, 28/EeE, 20) be-
deutet. 117 Drittens ist das Ereignis für Deleuze wesentlich ein Sinn-
Ereignis, während es für Badiou in Verbindung mit der Wahrheit
steht, und sie ist keine geistige, ideelle, sprachliche, verstandene Ge-
stalt, sondern ein unendlicher Bearbeitungsprozess von dem, was aus
dem Nichts – aus dem Ereignis – kommt:
»Als lokalisierte Dysfunktion des Transzendentals einer Welt hat das Ereig-
nis nicht den mindesten Sinn, noch ist es der Sinn. Wenn es nur als Spur
bleibt, heißt das keineswegs, dass es auf die Seite der Sprache kippen muss.
Es eröffnet nur einen Raum von Konsequenzen, in dem sich der Körper
einer Wahrheit zusammensetzt.« (LW, 412/LM, 408)
Viertens gibt es aber eine wesentliche Gemeinsamkeit zwischen bei-
den Denkern, nämlich dass sie beide das Ereignis im Rahmen des Un-
persönlichen untersuchen. Über seine Philosophie schreibt Badiou,
dass
»[…] das Motiv eines unpersönlichen transzendentalen Felds in meiner
ganzen Großen Logik dominiert und darin bis ins feinste technische Detail
als Logik des Erscheinens oder der Welten durchgeführt ist.« (LW, 407/
LM, 403)
117 Diesen Aspekt hat sehr schön Bruno Besana herausgearbeitet. Er schreibt in Bezug
auf Deleuze: »Sein und Ereignis haben eine Bedeutung (Univozität).« (Besana, 323)
Und in Bezug auf Badiou: »Badiou begreift das Sein und das Ereignis als getrennte
Instanzen, als Sein und Außer-Sein (extra-être) […].« (Besana, 326)
123
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
Das will sagen, dass Badiou eine Philosophie (an dieser Stelle die
»Logik des Erscheinens« (logique de l’apparaître)) ohne das Subjekt
(verstanden als Innerlichkeit) anstrebt. In der Tat schreibt er:
»Man versucht hier eine kalkulierte Phänomenologie. Die in diesen Bei-
spielen angewandte Methode steht in der Tat einer Phänomenologie nahe,
aber einer objektiven. Darunter ist zu verstehen, dass man die Konsistenz
dessen, wovon man spricht […], kommen lässt, aber nicht etwa, indem man
wie Husserl seine reale Existenz, sondern ganz im Gegenteil seine inten-
tionale oder gelebte Dimension neutralisiert. Man erprobt die Äquivalenz
zwischen dem Erscheinen und der Logik durch eine reine Beschreibung,
eine Beschreibung ohne Subjekt.« (LW, 56/LM, 48) 118
Damit haben wir die ersten Hinweise darauf gewonnen, wie das Er-
eignis bei Badiou zu verstehen ist: Es gehört nicht zum reinen Sein
und es hat ein wesentliches Verhältnis zu der Wahrheit als einem
vom Ereignis ausgelösten Prozess in der Welt, die als eine konkrete
Erscheinung zu verstehen ist. Um dem Konzept des Ereignisses bei
Badiou näherzukommen, müssen wir von seinem hier bereits mehr-
fach zitierten Werk – Logiques des mondes (2006) –, das die Wahrheit
thematisiert, zu seinem Werk L’être et l’événement (1988) zurück-
kehren.
Wir haben bereits gesehen, dass das Eins nicht ist. Das Sein,
nämlich das, was ist – »das, was (sich) präsentiert« (SE, 38/EeE, 32) 119
– ist immer eine »Vielheit« (multiple), eine »Mannigfaltigkeit« (mul-
tiplicité), wobei gilt, dass »jede Vielheit […] eine Vielheit von Viel-
heiten ist« (SE, 43/EeE, 37) 120. Es gibt also nur Vielheiten, und jede
solche Vielheit, die als eine Vielheit verstanden wird, nennt Badiou
»Situation« (situation):
»Ich nenne Situation jede präsentierte Vielheit. (SE, 38/EeE, 32)
Es gibt überall Situationen: alltägliche, geschichtliche, kleinere, kom-
plexere, traurige, besondere etc. Eine Situation ist, so könnte man
sagen, eine kleine konkrete Welt, etwas, was sich gerade in dem
Moment gibt, sich präsentiert. Es ist wichtig, zu bemerken, dass die
118 In unserer Terminologie würden wir eine solche Phänomenologie bzw. Logik des
Erscheinens »Ontologie« nennen, weil sie das Subjekt ausschließt. Wir weisen aber
darauf hin, dass in der Philosophie Badious die Ontologie fest definiert ist – die On-
tologie als Lehre vom Sein als Sein ist das, was die Mathematik tut: »die Mathematik
ist die Ontologie«, da »die Mathematik das Sein-als-Sein bewacht« (SE, 29/EeE, 21 f).
119 »[…] l’être est ce qui (se) présente […].«
120
»[…] tout multiple est un multiple de multiples.«
124
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Alain Badiou (1937)
Situation als eine Situation existiert – sie bildet eine Einheit, sie hat
ihre Elemente, die in einem Verhältnis zueinander stehen. Mit ande-
ren Worten: »jede Situation [ist] strukturiert« (SE, 38/EeE, 32) 121.
Jede Situation ist eine Vielheit, und jede Vielheit ist wiederum
eine Vielheit. Trotzdem ist jede Situation eine Situation: Sie wird als
eine »gezählt« (compter). Diese Eins, wie wir schon gesehen haben,
ist nicht, präsentiert sich nicht, gehört nicht zur Situation, ist nicht
ihr Element; es ermöglicht, die Situation als eine zu zählen, wird aber
selbst nicht gezählt. Damit ist es in der Situation »das Nichts« (le
rien). Uns wird also gesagt:
»[…] dass das Nichts die Operation der Zählung ist, welche als Quelle des
Eins selbst nicht gezählt wird […].« (SE, 72/EeE, 68)
Das Nichts nennt Badiou »Leere« (le vide). In terminologischer Hin-
sicht ist Folgendes wichtig: Das Eins zählt eine Vielheit zu einer
Vielheit. Damit, so könnte man vielleicht sagen, umfasst es eine Viel-
heit. Wegen dieser Funktion nennt Badiou es »Sein«: das Sein der
vielen Seienden. Aber das Eins ist nicht und damit ist auch das Sein
nicht. Und genau in diesem Kontext müssen wir den folgenden Satz
Badious interpretieren:
»Die Leere ist der Name des Seins […].« (SE, 73/EeE, 69) 122
Wir befinden uns an diesem Moment mitten in einem ontologischen
Unternehmen. Badious Beschreibung der gegebenen Lage ist onto-
logisch-mathematisch. Wenn wir aber diese formalen Analysen ein
wenig veranschaulichen, können wir uns Folgendes vorstellen: Es ist
eine konkrete Situation gegeben, zum Beispiel ein Zimmer. Hier gibt
es einen Tisch, einen Stuhl, ein Fenster, einen Sonnenstrahl, der
durch das Fenster einbricht etc. Wenn man im Zimmer steht, sieht
man dieses Zimmer und alle diese Sachen, aber man sieht nicht das
Eine dieses Zimmers – es ist nirgendwo, es wird nicht präsentiert.
Wirft man den Blick auf den Tisch, so sieht man wiederum vieles:
die Beine, die Oberfläche, die Sachen, die auf ihm liegen, aber nicht
das Eine des Tisches. Es gibt Vielheiten aber nicht das Eine. Dieses
Eine gehört nicht zum Sein, insofern das Sein nur als Vielheit ist,
das Sein-als-Sein aber nicht ist. Und meistens bleibt es auch so. 123
niemals eine fassbare Begegnung mit der Leere gibt.« (SE, 73/EeE, 69)
125
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
Jetzt können wir fragen, wie diese Analysen zum Konzept des
Ereignisses führen? Auf folgende Weise: Es wird gezeigt, dass jede 124
präsentierte Vielheit die Leere an sich hat, die nicht präsentiert ist 125,
die aber genau der Ort ist, an dem ein Ereignis als Überschuss (excès)
über das präsentierte Sein einbrechen kann. Wenn man dies ver-
anschaulicht: Durch das Fenster, das sich durch seinen weißen Rah-
men, durch den Ausblick auf die Straße, durch das Licht der Sonne
präsentiert, kann plötzlich eine leere Stelle auftauchen, durch die eine
Handgranate ins Zimmer geworfen wird und mit einer gewaltigen
Explosion alles zerstört. Nicht das Fenster selbst ist diese Stelle, son-
dern ein Punkt (point) 126 ohne Dimensionen in der Situation selbst.
Er kann überall auftauchen: Deswegen spricht Badiou von seinem
»Umherirren« (errance) (SE, 76/EeE, 70). Er kann auch im Türrah-
men auftauchen und durch ihn kann ein Polizist eintreten und sagen,
dass ich endlich für einen Mord verhaftet werde, den ich vor 11 Jah-
ren begangen habe.
Jede Situation enthält also die Leere, die nicht präsentiert ist – es
gibt nur die Vielheiten. Die Vielheit wird bei Badiou nicht nur einmal
als Eins, sondern doppelt gezählt:
»Aus der Tatsache, dass das Chaos nicht die Form der Seinsgegebenheit ist,
folgt notwendig, dass es eine Verdoppelung der Zählung-als-Eins [rédupli-
cation du compte-pour-un – L. P.] gibt.« (SE, 113/EeE, 110)
Das Resultat dieser Verdoppelung nennt Badiou »Repräsentation«
(représentation) (SE, 114/EeE, 110) oder »Verfassung« (état) (SE,
115/EeE, 111). Was bedeutet das für das Denken des Ereignisses?
Dass die Elemente einer Situation nicht nur da sind, sondern auch
als Elemente dieser Situation erfasst werden. In jeder Situation – in-
sofern sie zum ersten Mal als Eins gezählt wird – irrt unmerklich die
Leere herum. Insofern die Situation zum zweiten Mal gezählt wird,
stellt sich heraus, dass es in ihr Elemente – »Terme« (terme) – gibt,
die da sind, die präsentiert sind, aber nicht repräsentiert werden:
124 Es ist wichtig zu betonen, »dass jede [von mir hervorgehoben – L. P.] existierende
Vielheit ohne Einschränkung die Leere als Teilmenge zulässt« (SE, 108/EeE, 102).
Dies heißt nichts anderes, als dass das Ereignis überall – überall ohne Ausnahme –
auftauchen kann.
125 Badiou schreibt, dass »die Leere in einer Situation das Nichtpräsentierbare der
»Die Leere ist der unpräsentierbare Seinspunkt jeder Präsentation.« (SE, 97/EeE, 92)
126
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Alain Badiou (1937)
»Es gibt immer Teilmengen, die, obwohl sie in der Situation als Zusammen-
setzung von Vielheiten eingeschlossen sind, nicht als Terme gezählt werden
können und also nicht existieren.« (SE, 117/EeE, 113)
Wenn wir also zu unserem Beispiel mit der Handgranate zurückkeh-
ren: In der Situation des Zimmers wandert eine Leere herum. Das
besagt die ontologische Beschreibung der Situation. Die Leere hat
keine bestimme Verortung. Wenn aber die Situation nach der Explo-
sion der Granate erfasst wird, stellt sich heraus, dass sich in ihr vorher
viele Elemente präsentiert haben und repräsentiert waren (Tisch,
Stuhl, Fenster), aber einige (zum Beispiel die Granate) nur in der
Situation da waren, ohne mitgezählt zu werden (jemand hat sich mei-
nem Fenster mit der Granate in der Hand genähert, ich wusste das
aber nicht). Die Granate gehörte nicht zur Verfassung, war unsicht-
bar. Und natürlich ist genau dieser nicht-existierende Term der kon-
krete Ort 127, durch die sich die Leere der Situation öffnet und durch
die das Ereignis einbrechen kann:
»Ein inexistenter Teil ist der mögliche Stützpunkt dessen, was die Struktur
zerstören könnte […].« (SE, 117/EeE, 113)
Einen solchen inexistenten Term nennt Badiou »singulär« (singulier)
(SE, 119/EeE, 115). Er unterscheidet einen solchen Term von einem
»normalen« (normal) Term und einem »Auswuchs«:
»Ich nenne normal einen Term, der zugleich präsentiert und repräsentiert
wird. Ich nenne Auswuchs [excroissance] einen Term, der repräsentiert,
aber nicht präsentiert wird. Ich nenne besonders (singulär) einen Term,
der präsentiert, aber nicht repräsentiert wird.« (SE, 119/EeE, 115)
Und, wie schon darauf hingewiesen, ist ein solches singuläres, d. h.
»anormales« (a-normal) Element einer Vielheit, das wiederum eine
Vielheit ist, der Ort des Ereignisses, die »Ereignisstätte«:
»Ich werde eine solche vollkommen anormale Vielheit, das heißt eine Viel-
heit, die so beschaffen ist, dass keines ihrer Elemente in der Situation prä-
sentiert wird, eine Ereignisstätte [site événementiel] nennen. Die Stätte
selbst ist präsentiert, doch »unter« ihr wird nichts von dem, was sie zusam-
mensetzt, präsentiert, so dass sie kein Teil der Situation ist. Ich werde von
einer solchen Vielheit – der Ereignisstätte – auch sagen, dass sie am Rand
der Leere liegt bzw. dass sie grundlegend ist.« (SE, 200 f/EeE, 195)
127
Die Leere ist dagegen »Nicht-Ort des Ortes« (non-lieu du lieu) (SE, 130/EeE, 128).
127
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
Achten wir darauf, dass dieses Zitat nicht nur eine Vielheit als Ereig-
nisstätte definiert, sondern auch sagt, dass die Stätte selbst präsentiert
ist, während ihre Elemente es nicht sind. Wir werden gleich sehen,
inwiefern das sehr wichtig für das Verständnis des Ereignisses ist.
Vorausgreifend können wir sagen: Die ins Zimmer eingeworfene
Handgranate ist eine Ereignisstätte, aber sie bringt mit sich eine Viel-
heit, die völlig unsichtbar ist und sich erst entfalten muss. Diese Viel-
heit wird sich als Aussagen darüber entfalten, was eigentlich ge-
schehen ist, warum es geschehen ist, was kann dies für die Zukunft
bedeutet etc. Zuerst hat man nur ereignishafte Terme, die »die abso-
lut ersten Terme sind« (termes absolument premiers) (SE, 201/EeE,
196) und »die Fragen nach der zusammenstellenden Herkunft unter-
brechen.« (interrompent le questionnement selon la provenance
combinatoire) (SE, 201/EeE, 196).
In einer Situation taucht also eine Stätte auf. Es taucht entspre-
chend dem Gesetz der Leere, die umherirrt und ein »Nicht-Ort« ist,
auf, also irgendwo – zufällig, unvorhersehbar. Sie taucht auf, wäh-
rend ihre Elemente nicht präsentiert sind. Diese Stätte in einer Situa-
tion ist »Seinsbedingung des Ereignisses« (condition d’être de l’évé-
nement) (SE, 206/EeE, 200) – ohne die Stätte, die aus Nichts
auftaucht, gibt es kein Ereignis. Aber sie ist »nur« (SE, 206/EeE, 200)
eine Seinsbedingung, trotz der Stätte:
»Es kann immer noch sein, dass keines [kein Ereignis – L. P.] stattfindet.«
(SE, 206/EeE, 201)
Was ist das Ereignis für Badiou? Er gibt ihm klare und deutliche
Definition:
»Ich nenne Ereignis der Stätte X eine Vielheit, die sich zum einen aus den
Elementen der Stätte und zum anderen aus sich selbst zusammensetzt.«
(SE, 206/EeE, 201)
Man muss diese Definition sehr genau lesen. Wir haben in einer Si-
tuation eine Vielheit, die die Stätte des Ereignisses ist. Diese Stätte
wird in der Situation präsentiert, sie ist ein Teil der Situation:
»Eine Vielheit ist allein in-der-Situation eine Stätte.« (SE, 202/EeE, 196)
Das heißt: Wenn das Ereignis geschieht, haben wir es eigentlich mit
nichts anderem zu tun als mit einer Situation – wir sind nicht irgend-
wo anders als in der Welt. Aber wir sind natürlich nicht in einer nor-
malen Situation, sondern in einer Situation, die eine Stätte – einen
128
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Alain Badiou (1937)
singulären Term – aufgewiesen hat. Diese Stätte ist erstmal nur eine
Stätte, sie ist noch kein Ereignis – sie muss erst Ereignis genannt
werden:
»Der Akt der Benennung [acte de nomination – L. P.] des Ereignisses ist das,
was das Ereignis herstellt [constitue – L. P.] […].« (SE, 231/EeE, 225)
Genau dies heißt, dass das Ereignis »aus den Elementen der Stätte
und […] aus sich selbst zusammensetzt« ist. Das Ereignis ist einer-
seits nur, insofern etwas ist, etwas präsentiert ist:
»Das Ereignis gehört zur Situation. Vom Standpunkt der Situation aus ge-
sehen, ist es, insofern es präsentiert wird.« (SE, 208/EeE, 202)
Das Ereignis ereignet sich nicht an sich selbst. Es gibt keine Ereignis-
se, es gibt nur Situationen, Stätten in den Situationen, die präsentiert
werden, sodass man bezüglich des Ereignisses sagen muss, dass:
»außer der Stätte nichts stattgefunden hat« (SE, 209/EeE, 203). 128
Andererseits:
»Ein Ereignis ist keine Ereignisstätte (es stimmt mit ihr nicht überein). Es
»mobilisiert« die Elemente seiner Stätte, aber es fügt seine eigene Präsen-
tation hinzu.« (SE, 209/EeE, 203)
Das Ereignis präsentiert also eine Stätte als ein Ereignis. Aber diese
Ereignishaftigkeit bleibt nichtpräsentiert. Das bedeutet, dass man
immer sagen kann, dass sich nichts ereignet hat. Man kann immer
sagen: Es war nichts zwischen uns, das war nur Spaß. 129 Oder mit
Badious Beispiel:
»Und tatsächlich, sollten Sie behaupten, dass die »Französische Revolution«
nur ein bloßes Wort ist, so werden Sie ohne Mühe beweisen, dass – im
Hinblick auf die Unendlichkeit der präsentierten oder nicht präsentierten
Tatsachen – nichts dergleichen jemals stattgefunden hat.« (SE, 209/EeE,
203)
Das Ereignis ist nicht, es ist Überschuss über das Sein. Deswegen
bleibt es immer fraglich, ob sich in einer Situation etwas ereignet
hat oder nicht – es ist »unentscheidbar« (indécidable) (SE, 229/EeE,
223), ob eine Vielheit als Ereignis zu benennen ist oder nicht. Man
128
Dieser Satz steht in Badious Text in Anführungszeichen, weil er hier – wie es sich
später herausstellt (SE, 222/EeE, 215) – Mallarmé paraphrasiert.
129
Mit Badiou: »Am nihilistischen Felsen kann alles scheitern.« (SE, 252/EeE, 244)
129
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
kann nur – hier bezieht sich Badiou auf Pascal und Mallarmé – darauf
»wetten« (parier) (SE, 226/EeE, 219), dass ein Ereignis stattgefunden
hat. Oder mit anderen Worten: Man muss eine »Entscheidung« (dé-
cision) treffen. Man kann nicht wissen, man kann sich nur entschei-
den und diese Entscheidung stellt eine »Wette« dar, die natürlich auch
verloren werden kann, weil diese Entscheidung (wie wir gleich sehen
werden) das Ereignis nicht produzieren kann, sodass es ab dem Punkt
der Entscheidung sicher wäre:
»Da das Ereignis in seinem Wesen eine Vielheit ist, deren Zugehörigkeit zur
Situation unentscheidbar ist, stellt die Entscheidung darüber, ob es ihr zu-
gehört, eine Wette dar, auf deren Gesetzmäßigkeit man nie hoffen kann,
insofern jede Gesetzmäßigkeit auf die Struktur der Situation zurückver-
weist.« (SE, 229/EeE, 223)
Die »Prozedur« (procédure), durch die eine Entscheidung über die
Ereignishaftigkeit einer Vielheit gefällt wird, nennt Badiou »Eingriff«
(intervention) (SE, 230/EeE, 224). Es ist aber sehr wichtig, zu verste-
hen, dass der Eingriff, der eine Situation mit der Ereignisstätte Ereig-
nis nennt, sie nicht wirklich herstellt. Ohne Eingriff, der eine Stätte
als ereignishaft qualifiziert, bleibt das Ereignis unsichtbar: Es gibt es
nicht. Wenn aber die Entscheidung das Ereignis wirklich entscheiden
könnte, wäre das Ereignis nicht unentscheidbar, es wäre Sein und
nicht Überschuss über das Sein. Das Ereignis muss immer unent-
scheidbar bleiben:
»Denn wenn es das Wesen des Ereignisses ist, unentscheidbar zu sein, dann
annulliert die Entscheidung dessen Ereignishaftigkeit.« (SE, 230/EeE, 224)
Wie müssen wir dann das Verhältnis von Ereignis und Benennung/
Eingriff/Entscheidung denken? Sodass die Benennung das Ereignis
zwar konstituiert, aber nicht als »tatsächliches« (réel) – sie ist dem
Realen »hinzugekommen« (advenu) und lässt es bloß als solches se-
hen, was eine Entscheidung fördern/fordern würde:
»Der Akt der Benennung des Ereignisses ist das, was das Ereignis herstellt,
und zwar nicht als tatsächliches – wir werden stets behaupten, dass diese
Vielheit hinzugekommen ist – sondern als eines, das für eine Entscheidung
bezüglich seiner Zugehörigkeit zur Situation empfänglich ist.« (SE, 231/
EeE, 225) 130
130
Wir haben also mit Folgendem zu tun: Einerseits gibt es tatsächliches ein Ereignis,
das es eigentlich nicht gibt (es gibt nur die Situation), andererseits wird das Ereignis
erst durch die Benennung seiend (obwohl er auch dann immer noch unentscheidbar
130
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Alain Badiou (1937)
bleibt). Damit ist das Ereignis »die Zwei« (le Deux) (SE, 239/EeE, 233). Es ist vor dem
Eingriff, aber eigentlich nur nach dem Eingriff. Es ist zwischen sich selbst und dem
Eingriff. Es ist also »eher ein Intervall als ein Term« (un intervalle plutôt qu’un
terme) (SE, 235/EeE, 228). Der Eingriff steht somit zwischen dem Ereignis und seiner
Benennung, durch die das Ereignis erst ist, und als solcher konstituiert er die Zeit:
»Die Zeit ist […] der Eingriff selbst, als Abstand zwischen zwei Ereignissen gedacht.«
(SE, 238/EeE, 232) Dass genau das Ereignis die Zeit konstituiert, mag vielleicht auf
den ersten Blick seltsam wirken, der Gedanke geht aber schon auf Heidegger (in Sein
und Zeit) zurück, wird von Levinas gedacht (zum Beispiel in Le temps et l’autre) und
gründlich von Claude Romano in seinem Werk L’événement et le temps herausge-
arbeitet. Für Heidegger bringt das Verstehen des Todes das Verstehen der Zeit, der
Zeitlichkeit, der Lebenszeit. Die Erfahrung des Anderen ist für Levinas die Erfahrung
des Zukünftigen – wir erfahren, wie die Zeit (die Zukunft) einbricht, indem wir den
Einbruch des Anderen erfahren. Zu Romanos Konzeption von Ereignis und Zeit wer-
den wir noch kommen. Vorläufig sagen wir nur, dass für ihn genau das Ereignis alle
Modi der Zeit konstituiert.
131
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
131
»Il faut se confier à l’événement […].«
132
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Alain Badiou (1937)
132
Obwohl Badiou genauso auch von der »Wahrheitsprozedur« (procédure de vérité)
spricht. Siehe zum Beispiel: Badiou/Tarby, 17/19, 58/60. Es ist wichtig zu beachten,
dass Badiou grundsätzlich vier Wahrheitsprozeduren zulässt: »Es gibt vier von mir so
genannte generische Prozeduren: die Liebe, die Kunst, die Wissenschaft und die Poli-
tik.« (SE, 31/EeE, 23) Die Philosophie selbst stellt für Badiou keine Wahrheitspro-
zedur dar, sondern beschäftigt sich mit diesen vier in der Welt sich ereignenden Pro-
zeduren. Deswegen sind sie für die Philosophie ihre »Bedingungen« (conditions).
Dazu siehe Badious Werk: Conditions (1992) und die Gespräche mit Fabien Tarby:
La philosophie et l’événement. Entretiens. Suivis d’une courte introduction à la phi-
losophie d’Alain Badiou (2010).
133
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
sagt werden müssen. Erstens: Die Wahrheit beschreibt nicht die Ele-
mente der Situation, sondern fügt verschiedene Elemente zu einer
Vielheit zusammen. Damit produziert sie nicht wahre Aussagen über
die einzelnen Elemente, sondern über die ganze Situation (sie gibt
einer Situation den Namen):
»Denn was die Treueprozedur auf diese Weise erreicht, ist nichts anderes als
die Wahrheit der Situation insgesamt.« (SE, 382/EeE, 374)
Zweitens: Da die Wahrheit über das Ununterscheidbare spricht, kann
ihr Prozess der Unterscheidung nie abgeschlossen werden. Sie wird
unendlich lange die ereignishafte Situation ermitteln, ohne zu einem
endgültigen Ergebnis zu kommen. Sie ist also »unendlich« (infinie):
»Zu sagen, eine Wahrheit sei unendlich, heißt zu sagen, dass ihre Prozedur
eine Unendlichkeit von Ermittlungen enthält.« (SE, 376/EeE, 368)
Diese Eigenschaft der Wahrheit hängt natürlich direkt damit zusam-
men, dass der Konstruktivismus abgewiesen wird: Wenn die Aus-
legung die Situation konstruieren würde, könnte sie nie unendlich
sein. Und eigentlich könnte die Tatsache, dass keine Auslegung end-
gültig ist, zur Überzeugung führen, dass nicht alles, was gegeben ist,
konstruiert ist. Man würde also dann nicht mit der hermeneutisch-
konstruktivistischen These anfangen, sondern – wie Marion – mit der
These über die Gegebenheit des Anderen. Es gibt das Andere – das
sollte die erste These jedes Denkens sein. Mit anderen Worten: Es gibt
das Andere des Denkens. Noch mit anderen Worten: Es gibt das Er-
eignis als die Gegebenheit des Anderen für das Denken und nicht als
das Andere des Denkens.
Die Wahrheit befindet sich also in einem unendlichen Prozess.
Sie entfaltet sich erstmals als nicht-existenter Überschuss über die
präsentierte Situation und kann nicht in Wissen übersetzt werden.
Es gibt aber einen Prozess der Integration der Wahrheit in Wissen
(oder umgekehrt), sodass die wahren Aussagen die neue Situation
als gültige Aussagen beschreiben. 133 In diesem Zusammenhang
133 Die muss man sich folgendermaßen vorstellen: Die Wahrheit schöpft ihre Namen,
ihre Beschreibungen einer ereignishaften Situation aus der Leere, sie bezeichnen im
Sein dementsprechend nichts – diese Namen sind »leer« (vides) (SE, 446/EeE, 436).
Aber sie können allmählich eine Bedeutung gewinnen. Durch den Einbruch des Er-
eignisses ändert sich die Situation, und das, was vorher in ihr nicht präsentiert war,
kann jetzt präsentiert werden: »Der Glaube stützt darauf, dass ein Subjekt mit den
Mitteln der Situation – ihren Vielheiten und ihrer Sprache – Namen generiert, deren
134
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Alain Badiou (1937)
Referent im Futur II steht. Diese Namen werden mit einem Referenten oder einer
Bedeutung »versehen worden sein«, wenn die Situation vorkommt, in der das Un-
unterscheidbare, das nur repräsentiert worden ist, schließlich als eine Wahrheit der
ersten Situation präsentiert wird.« (SE, 446/EeE, 436)
135
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
An dieser Stelle weisen wir darauf hin, dass das Konzept des Subjek-
tes, seine Gebundenheit an die Wahrheitsprozedur und die Logik die-
ser Prozedur das zentrale Thema in Badious Philosophie ist. Dazu
sind – neben L’être et l’événement und Logiques des mondes – solche
bedeutende Werke zu nennen, wie zum Beispiel Théorie du sujet
(1982) oder Conditions (1992). In dem 2010 von Fabien Tarby geführ-
ten Interview sagt Badiou, dass er an einem weiteren Buch in diese
Richtung arbeitet, das L’immanence des vérités heißen soll (Badiou/
Tarby, 119/125).
Wir können jetzt die Frage stellen, inwiefern Badious Konzep-
tion des Ereignisses mit unserer, die eine der Betroffenheit ist, sich
überkreuzen. In Bezug auf Deleuze haben wir insbesondere seinen
ontologisch-topologischen Ansatz hervorgehoben, der erlaubt, das
Ereignis nicht als ein Gegenüber eines Subjekts (egal ob es als aktiv
oder passiv bestimmt wird) zu sehen, sondern als eine Verteilung.
Das, was in Badious Ansatz faszinieren kann, ist die Herausarbeitung
der Logik des Ereignisses. Er gibt eine sehr klare Definition des Ereig-
nisses und beschreibt es sehr überzeugend (in phänomenologischer
Hinsicht, d. h. seine Beschreibung der Logik des Ereignisses ent-
spricht unseren Erfahrungen des Ereignisses), wie das Ereignis ge-
schieht. Man kann in der Tat zustimmen, dass es eine Ereignisstätte
gibt, die plötzlich irgendwo auftauchen kann; dass das Ereignis eine
Vielheit von Elementen ist, die zu einem Zeitpunkt inexistent ist, um
dann sich selbst den Namen des Ereignisses zu geben. Und es ist rich-
tig, von der Ungewissheit des geschehenen Ereignisses zu sprechen,
von Entscheidung, Treue, Wahrheit und Inkorporation des Ereignis-
ses in die Welt, die die Veränderung der gegebenen Welt bedeutet.
Das sind Punkte, die auch eine phänomenologische Ereignisphilo-
sophie nicht umgehen kann. Es ist etwas, das zur Logik des Ereig-
nisses gehört. Was aber in Frage steht, sind die Vor-Entscheidungen,
die Badious Ereignisphilosophie trifft. Und die weitere Frage ist, ob –
hinsichtlich dieser Vor-Entscheidungen – wir annehmen könnten,
dass Badious »Sache« namens »Ereignis« auch unsere »Sache« ist.
Von welchen Vor-Entscheidungen ist hier die Rede? Vor allem davon,
dass der Name »Ontologie« der Mathematik vorbehalten ist und dass
die Wissenschaften dementsprechend die konkreten Seinsregionen
untersuchen. Unter einer solchen Voraussetzung wird das Ereignis
als Überschuss über das Sein (über eine Situation), als inexistent be-
stimmt. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass das Ereignis eigentlich
doch als eine Vielheit (wenn auch als besondere) definiert wird und
136
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Alain Badiou (1937)
nur vorläufig inexistent ist, da das Ziel des Ereignisses die Inkorpora-
tion in die Welt ist. In unserer Terminologie heißt dies nichts anderes
als dass das Ereignis als etwas Seiendes untersucht wird und deswe-
gen der Gegenstand einer Ontologie ist, oder, wenn man so will: einer
phänomenologischen Ontologie, insofern die Bestimmungen des Er-
eignisses ihre Quelle in der Erfahrung haben, auch wenn sie danach
mathematisch-ontologisch darstellbar sind. Ein solches seiendes Er-
eignis ist genau das, wonach wir nicht fragen, auch wenn es Über-
schneidungspunkte gibt. Wir fragen auch nach dem, was ein Heraus-
tritt aus dem Sein ist, aber es kann unmöglich – und das ist unsere
These – eine Vielheit (als Objekt für ein Wahrheitssubjekt) sein, son-
dern eher die Zugehörigkeit zu einer Vielheit. Wir stimmen den von
Badiou herausgearbeiteten Bestimmungen des Ereignisses (Entschei-
dung, Treue, Wahrheit etc.) zu, behaupten aber gleichzeitig, dass die-
se nur insofern stimmen, als das Ereignis schon zu einem Gegenstand
geworden ist und damit eigentlich nicht mehr das ist, was es war,
nämlich ein Ereignis.
137
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Jean-Luc Marion (1946)
Der französische Philosoph Jean-Luc Marion gilt heute vor allem als
Phänomenologe und phänomenologischer Religionsphilosoph. Zu
seinem Werk gehören aber nicht nur phänomenologische Abhand-
lungen – in Frankreich wurde Marion zuerst als Descartes-Forscher
bekannt und hat bisher zahlreiche Bücher zu dessen Philosophie ver-
öffentlicht. 134 Außerhalb von Frankreich, darunter auch in Deutsch-
land, hat Marion zuerst mit seinen theologischen und religionsphi-
losophischen Ideen Ansehen erlangt.
Marions Weg in die Phänomenologie führt über seine Über-
legungen zur Theologie und Religionsphilosophie, in deren Kontext
er eine Phänomenologie entwickelt, die durch zwei Konzepte geprägt
ist – »die Gegebenheit« (donation) und »das gesättigte Phänomen«
(le phénomène saturé), wobei die Idee des gesättigten Phänomens
ganz im Zentrum steht, während die Gegebenheit ihr vorausgeht
und sie erst verständlich macht.
Marion ist ursprünglich kein Ereignis-Philosoph – zumindest
nicht explizit. Das Wort »Ereignis« erlangt den Status eines philoso-
phischen Konzeptes erst in Marions phänomenologischem Haupt-
werk Étant donné (1997). Es spielt dort allerdings noch keine zentrale
Rolle und ist mehrdeutig. Es charakterisiert die Gegebenheit, inso-
fern sie als Prozess der Erscheinung des Phänomens als Gegebenem
– sein »Anbruchsgeschehen« (processus d’avénement) (GS, 124/ED,
96) – verstanden wird. Es charakterisiert aber auch das Gegebene,
134 Schon seine Dissertation ist der Philosophie Descartes’ gewidmet: Sur l’ontologie
grise de Descartes. Science cartésienne et savoir aristotélicien dans les Regulae (1974,
veröffentlicht 1975). Weitere Werke zu Descartes: Sur la théologie blanche de Des-
cartes. Analogie, création des vérités éternelles, fondement (1981), Sur le prisme mé-
taphysique de Descartes. Constitution et limites de l’onto-théo-logie cartésienne
(1986), Questions cartésiennes I. Méthode et métaphysique (1991), Questions carté-
siennes II. L’ego et Dieu (1996) und schließlich Sur la pensée passive de Descartes
(2013).
138
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Jean-Luc Marion (1946)
insofern es sich selbst ohne einen anderen Geber außer sich selbst gibt
– seine »Nicht-Ursächlichkeit« (incausabilité) (GS, 280/ED, 227).
Schließlich bedeutet es auch das historische Ereignis als eine Art ge-
sättigten Phänomens (GS, 383/ED, 318), das grundsätzlich als etwas
Unbegreifliches definiert wird – als das, was mehr »Anschauung«
(intuition) gibt als der »Begriff« (concept) begreifen kann; als das,
bei dem »die Anschauung mehr, ja unermesslich mehr geben würde
als das, was die Intention jemals angezielt oder vorhergesehen hätte«
(GS, 336/ED, 276 f). Das gesättigte Phänomen ist aber genauso auch
ohne Ursache, das, was deswegen unvorhersehbar eintritt und vor
seinem Anbruch unmöglich ist. Das Konzept des Ereignisses gelangt
aber in Marions späteren Werken – dies ist besonders in Certitudes
négatives (2010) sichtbar – zur Selbstständigkeit und wird faktisch als
Synonym zum »gesättigten Phänomen« gebraucht. Das heißt: Das
Wort »Ereignis« wird nicht mehr als ein Charakteristikum für etwas
gebraucht, sondern erschließt selbst eine Dichte philosophischer Ide-
en, die sich mit der des gesättigten Phänomens im großen Maße über-
lappt. Deswegen kann Marion rückblickend behaupten, dass seine
Philosophie »letztlich von der Frage nach dem Ereignis beherrscht
wird« (RC, 11). Das Ereignis bezeichnet ein Phänomen, das unvorher-
sehbar, ohne Ursache eintrifft, das etwas vorher Unmögliches mög-
lich macht und unbegreiflich für den Menschen bleibt. Und solche
Phänomene sind das Hauptanliegen seiner ganzen Philosophie, auch
wenn sie anfänglich nicht so genannt werden.
In der Tat macht Marion schon in seinen frühren Schriften auf
außergewöhnliche Erfahrungen – zum Beispiel die der Offenbarung –
aufmerksam, allerdings noch ohne sie als gesättigte Phänomene bzw.
Ereignisse zu bezeichnen. Die Möglichkeit, sie als Phänomene zu ana-
lysieren, entsteht erst, wenn Marion sich mit der Phänomenologie
auseinanderzusetzen beginnt, während seine ersten originell-phi-
losophischen Ansätze (außerhalb der Descartes-Forschung) theo-
logisch geprägt sind, wobei es Hans Urs von Balthasar ist, von dem
Marion stark beeinflusst ist. In diesem Kontext müssen vor allem
zwei seiner Werke genannt werden – L’idole et la distance (1977) 135
135 Dieses Werk – im Gegensatz zu Dieu sans l’être – ist noch nicht in deutscher
Sprache erschienen, wohl aber ein Aufsatz Marion zu diesem Thema: Idol und Bild.
In: Phänomenologie des Idols, hrsg. von Bernhard Casper. Freiburg/München: Alber,
1981, S. 107–132. Der Aufsatz erschien ursprünglich 1979: Fragments sur l’idole et
l’icône. Revue de Métaphysique et de Moral, 84 (1979), S. 433–445. In der deutschen
Fassung, wie es hier zu sehen ist, wird »icône« als »Bild« übersetzt.
139
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
und Dieu sans l’être (1982). In L’idole et la distance zeigt Marion zwei
grundsätzliche Weisen des Bezuges zum Göttlichen: Entweder ist das
Göttliche für uns als ein »Idol« (idole) oder als eine »Ikone« (icône)
da. Die Erfahrung eines Idols bedeutet, dass der Mensch nur das er-
fährt, was er selbst ins Idol hineingelegt hat. Also streng genommen
erfährt er gar nicht die Andersheit des Göttlichen, sondern nur sich
selbst: »nous nous éprouvons en situation dans le divin« (IeD, 22).
Das Idol funktioniert so wie ein »Spiegel« (miroir). Die idolatrische
Erfahrung wird Marion später als die Erfahrung charakterisieren, wo
die Anschauung den menschlichen Begriff nicht übertrifft, sondern
ihm entspricht – es wird das gesehen, was der Mensch begreifen kann.
Es gibt hier nichts Unsichtbares als Unbegreifliches. Die Ikone da-
gegen eröffnet im Sichtbaren »Tiefe« (profondeur), die in das Un-
sichtbare und Uneinholbare führt. Sie lässt sich nicht begreifen, ver-
menschlichen – sie hält den »Abstand« (écart), die »Distanz«
(distance) zwischen dem Menschlichen und Göttlichen aufrecht:
»De quoi l’icône offre-t-elle le visage? »Icône du Dieu invisible« (Colos-
siens, I, 15), dit du Christ saint Paul. […] La profondeur du visage visible
du Fils livre au regard l’invisibilité du Père comme telle. […] L’icône recèle
et décèle ce sur quoi elle repose: l’écart en elle du divin et de son visage.«
(IeD, 25)
Die Ikone wird später als die Erfahrung eines Phänomens beschrie-
ben, das sich nicht auf das vom Bewusstsein Konstituierte reduzieren
lässt, sondern als das Andere erscheint und einen »Überschuss« (ex-
cès, surcroît) an das Unsichtbare, eine »Sättigung« (saturation) des
Unbegreiflichen über das Objekthafte bietet.
Dieu sans l’être wird 1982 veröffentlicht und setzt einerseits den
Gedankengang von L’idole et la distance fort. Doch das Hauptanlie-
gen dieses Werkes ist – wie das schon der Titel verrät – die Befreiung
des Göttlichen vom Sein. Diese Problematik ist eng mit dem Idol- und
Ikonebegriff verbunden – das Absolute durch das Sein, gemäß dem
Sein und in den Seinsbegriffen zu denken, heißt Idolatrie. Die Frage
ist also, wie das Göttliche anders als durch das Sein gedacht werden
kann? Zuerst muss aber geklärt werden, wie Marion das Sein ver-
steht. Er versteht das Sein so, wie es in der Metaphysik gedacht wird
– als das Sein des Seienden, als die Weise, wie das Seiende als das
Seiende ist. Und das Seiende ist immer als ein präsentes und ständi-
ges, distinktes und bestimmtes, zugängliches und griffbereites Ding
der Welt. Dementsprechend ist das Sein die Präsenz (Anwesenheit),
140
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Jean-Luc Marion (1946)
136
Die Liebe ist ein ganz besonderes Thema in Marions Philosophie, sodass Kevin
Hart sogar behaupten kann: »Jean-Luc Marion is above all a philosopher of love […].«
(EW, 359) Neben Marions Schriften zu Descartes, Theologie und Phänomenologie
bilden seine Schriften zur Liebe einen vierten Teil seines Gesamtwerks. Zu diesen
Schriften gehören vor allem: Dieu sans l’être (1982), Prolégomènes à la charité (1986)
und Le phénomène érotique (2003). Einen fünften Tätigkeitsbereich Marions bildet
die Thematik der Gabe, die Marion vor allen in der Auseinandersetzung mit Derrida
aufnimmt. Marion hat mehrere Texte zur Gabethematik verfasst. Einige davon sind:
Buch II in Étant donné – Le don – und Kapitel III und IV in Certitudes négatives –
L’inconditionné ou la force du don und L’inconditionné et les variations du don.
141
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
137 Die Forderung nach einer weiteren Reduktion entspringt einem von Marion for-
142
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Jean-Luc Marion (1946)
ausschöpft, wie dies zum Beispiel bei den mathematischen und logi-
schen Objekten der Fall ist (GS, 374 f/ED, 310 f.); oder »geläufiges
Phänomen« (phénomène commun), wenn das, was angeschaut wird,
einen Begriff erfüllt, aber nicht über seine Grenzen hinausgeht (wenn
das, was ich sehe, ein Tisch ist und nichts mehr und nichts anderes)
(GS, 375 f/ED, 311 f).
In dem Moment der Begegnung mit dem Phänomen, bevor es
zum Bewusstsein wird, ist das Ich nicht aktiv konstituierend, sondern
passiv empfangend, sich dem Anderen hingebend. Diesem Empfänger
gibt Marion den Namen »adonné«. Der adonné ist nicht nur einfach
empfangend, sondern »derjenige, der sich ganz und gar aus dem emp-
fängt, was er empfängt« (GS, 442/ED, 369). Der adonné empfängt
sich selbst vom Ereignis, weil die Erfahrung der Andersheit ihn ver-
ändert – das Ereignis konstituiert den adonné, statt von ihm konsti-
tuiert zu werden. So ist das, was mit dem adonné geschieht, das, was
er »hervorbringt« nur als »Antwort« (répons) auf den »Ruf« (appel)
(Étant donné § 28) des Ereignisses zu verstehen. Da aber das Ereignis
gesättigt ist, kann die Antwort dem Ruf nie vollständig entsprechen.
Sie vollzieht sich deswegen als eine endlose Serie von Antworten,
d. h. Auslegungsversuchen. Dementsprechend spricht Marion von
einer »endlosen Hermeneutik« (herméneutique sans fin) (DS, 142)
des Ereignisses.
Es ist wichtig zu beachten, dass Marion genauso wie Heidegger
und Levinas mit der Auslegung eines konkreten Ereignisses beginnt –
in seinem Fall mit der Offenbarung Gottes. Aber im Gegensatz zu
diesen beiden Philosophien entwickelt er schließlich einen Rahmen,
in dem man viele und verschiedene Ereignisse beschreiben kann. Die
Idee vom gesättigten Phänomen erlaubt, eine allgemeine und syste-
matische Philosophie des Ereignisses herauszuarbeiten, ohne auf ein
bestimmtes Ereignis fixiert zu bleiben. In der Tat schon in Etant
donné unterscheidet Marion fünf Arten einer möglichen Sättigung,
und zu jeder Art beschreibt er einen beispielhaften Fall des Ereignis-
ses (ED, § 23). So wird gezeigt, wie durch die Phänomenologie des
Ereignisses geschichtliche Ereignisse, Kunstwerke, besondere leib-
liche Erlebnisse, Begegnung mit einem anderen Menschen oder der
Offenbarung begriffen werden können. Auch das Buch De surcroît ist
diesen fünf Beispielen des gesättigten Phänomens gewidmet. Le phé-
nomène érotique (2003) behandelt das Ereignis der Liebe, Le Visible
et le révélé (2005) und Le croire pour le voir (2010) die Offenbarung,
Courbet ou la peinture à l’œil (2014) das Kunstwerk.
143
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
144
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Claude Romano (1967)
138 »L’herméneutique événementiale« ist nicht leicht zu übersetzen. Zuerst muss man
Ereignis oder Kann es eine Phänomenologie des Ereignisses geben? – ist im Sammel-
band Erscheinung und Ereignis (hrsg. von Emmanuel Alloa. München: Fink, 2013)
erschienen. Dieser Text bildet das erste Essay im Buch L’aventure temporelle – L’évé-
nement et sa phénoménalité.
145
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
einander. Doch – und dies ist ein wesentlicher Nachteil seines An-
satzes – zieht sie nicht Heideggers grundlegende Werke zum Ereignis
in Betracht. So entsteht die Situation (wie oft in Frankreich), dass
Heidegger nur in Gestalt seiner Philosophie vor der Kehre auftritt
und zum Ziel einer unberechtigten Kritik wird.
Die eventiale Hermeneutik arbeitet in mehreren Richtungen:
»Or, cette herméneutique est, premièrement, une phénoménologie; deuxiè-
mement, une interprétation de l’advenant, qui se distingue décisivement du
concept classique de »sujet«; troisièmement, une herméneutique de la tem-
poralité.« (EM, 69)
Diese Hermeneutik ist eine Phänomenologie, insofern sie das Ereig-
nis als ein Phänomen untersucht. Sie ist eine Interpretation des Be-
troffenen durch das Ereignis – des advenant –, insofern sie die Be-
troffenheit durch das Ereignis untersucht. Und schließlich ist sie
eine Hermeneutik der Zeitlichkeit, insofern sie untersucht, wie das
Ereignis den Betroffenen zeitigt. Das Werk L’événement et le monde
ist vor allem den ersten zwei Themen gewidmet, während L’événe-
ment et le temps die Zeit und die Zeitlichkeit behandelt. Hinsichtlich
einer systematischen Logik des Ereignisses sind die Erkenntnisse aller
dieser Richtungen der Untersuchung von Bedeutung. Wir werden
versuchen, sie kurz zusammenzufassen.
Im ersten Schritt seiner Phänomenologie des Ereignisses unter-
scheidet Romano das Ereignis von einem Objekt, wobei das Ereignis
nicht nur kein Objekt, sondern auch keine Bewegung oder Verände-
rung eines Objekts ist. Das Ereignis ist ein reines Geschehnis: »pure
»mobilité« – sans rien qui se meuve« (EM, 1). »Es regnet« oder »es
dämmert« sind Beispiele für das Ereignis. Im zweiten Schritt unter-
scheidet Romano »innerweltliche Tatsachen« (fait intramondain) als
Ereignisse von »Ereignissen im eigentlich eventialen Sinne« (l’événe-
ment au sens proprement événemential) (EM, 40). Der Tod eines
nahen Menschen oder eine Begegnung sind Ereignisse im eigentli-
chen Sinne. Sie unterscheiden sich von innerweltlichen Tatsachen in
vier Punkten. Erstens, im Gegensatz zu einem innerweltlichen Fak-
tum, betrifft das Ereignis jemanden bzw. mich:
»Tandis que le fait intramondain, en effet, ne s’adresse à personne en par-
ticulier et se produit indifféremment pour tout témoin, l’événement est
toujours adressé, des sorte que celui à qui il advient est impliqué lui-même
dans ce qui lui arrive.« (EM, 44)
146
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Claude Romano (1967)
147
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
141 Die Eventialien sind mit Heideggers Existenzialen vergleichbar, weil sie sich von
ihnen absetzen. Sie setzen sich von ihnen aber dadurch ab, dass sie im Gegensatz zu
den Existenzialien nicht als Strukturen des Subjekts verstanden werden dürfen, weil
dann die Möglichkeit eines Ereignisses in einem transzendentalen Subjekt begründet
wäre. Stattdessen sind sie die »Modalitäten der Antwort des advenant auf den, was
sich mit ihm ereignet« (modalités de réponse de l’advenant à ce qui lui arrive) (ET,
267). Die Eventialien sind also nicht im advenant, sondern geschehen mit ihm als
seine Antwort auf ein Ereignis, wenn es sich ereignet.
142
»Car »je« ne m’adviens comme tel qu’en tant que quelque chose m’arrive, et quel-
que chose ne m’arrive qu’en tant que je deviens moi-même, dans l’épreuve de l’évé-
nement.« (EM, 124)
148
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Claude Romano (1967)
143 »L’advenant est originairement temporalisé, de telle manière qu’il ne peut jamais
149
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
150
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Claude Romano (1967)
151
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
152
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
II. DIE LOGIK DES EREIGNISSES:
Martin Heidegger, Emmanuel Levinas,
Jean-Luc Marion
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie
Martin Heideggers
Wenn man den Ort und die Bedeutung des Ereignisses in der Phi-
losophie Heideggers bestimmen will, ist es nützlich, in der ersten
Annährung zur Aufklärung dieser Frage darauf aufmerksam zu wer-
den, wie Heidegger seinen Weg des Denkens des Seins in drei Schritte
einteilt. Im Seminar in Le Thor 1969 sagt Heidegger:
»Drei Worte, die, indem sie einander ablösen, gleichzeitig drei Schritte auf
dem Weg des Denkens bezeichnen: SINN – WAHRHEIT – ORT (τόπος).«
(S, 344)
In dieser Aufzählung finden wir zunächst nicht das Wort »Ereignis«.
Wo es auftaucht, zeigt sich aber, wenn wir Heideggers Erörterung
seines Weges folgen. Der erste Schritt ist bekanntlich die Frage nach
dem »Sinn von Sein« (S, 334) in Sein und Zeit, also danach, wie das
Dasein im Vollzug seines Seins das Sein versteht. Nach diesem
grundlegenden Werk, am Ende der 20er Jahre und Anfang der 30er
Jahre, findet in Heideggers Denken eine »Kehre« statt, wird die
Seinsfrage anders gestellt. Es wird nicht mehr danach gefragt, wie
das Dasein in seinem Sein ist, sondern wie das Sein selbst »ist«. Das
Schlüsselwort zum Seinsverständnis wird »Wahrheit«. 144 Das Ent-
scheidende ist, wie Wahrheit verstanden wird. Die Kehre in Heideg-
gers Denken bedeutet – nicht nur, aber auch –, dass Wahrheit auf eine
ganz bestimmte Art ausgelegt wird. Es ist die Wahrheit als »ἀλή-
θεια«, als »Unverborgenheit«. 145 Sie ist das, durch das Seiendes (das
144 In den Beiträgen heißt es: »Die Seinsfrage ist die Frage nach der Wahrheit des
Seyns.« (BPh, 6)
145 Im Vortrag Vom Wesen der Wahrheit 1930 heißt es: »Die so verstandene Freiheit
als das Sein-lassen des Seienden erfüllt und vollzieht das Wesen der Wahrheit im
Sinne der Entbergung von Seiendem. Die ›Wahrheit‹ ist kein Merkmal des richtigen
Satzes, der durch ein menschliches ›Subjekt‹ von einem ›Objekt‹ ausgesagt wird und
155
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Beständige) anwest, ist. Weil in ihr das Seiende ist, weil in ihr das
Sein des Seienden offengelegt wird, ist sie grundsätzlich die Unver-
borgenheit des Seins:
»Die ›Wahrheit‹ ist des Seyns.« (A, 18) 146
Die Wahrheit ist immer die Unverborgenheit des Seins des Seienden.
Wenn die Wahrheit ist, ist das Sein. Aber auch die Gegenrichtung –
die Kehre – gilt: ist das Sein, so ist die Wahrheit. 147 Das Sein ist die
Wahrheit, es ist dann, wenn Wahrheit ist:
»Das Sein ist die Wahrheit […].« (A, 54) 148
dann irgendwo, man weiß nicht in welchem Bereich, ›gilt‹, sondern die Wahrheit ist
die Entbergung des Seienden, durch die eine Offenheit west.« (VW, 190)
146 Was die Zitate von Heideggers Werken zum Ereignis betrifft, ist Folgendes zu
Sein und Wahrheit im folgenden Sinne: »Die Wahrheit des Seyns ist das Seyn der
Wahrheit.« (BPh, 95) Dies zeigt die grundsätzliche Zugehörigkeit und faktische (d. h.
ereignishafte, nicht begriffliche) Selbigkeit von Sein und Wahrheit – das Sein ist die
Wahrheit und die Wahrheit ist das Sein. Dazu siehe zum Beispiel: BPh, 20, 95, 185,
189, 258; B, 118; A, 43, 53, 59; E, 3, 9, 10, 19, 76, 139, 140, 150.
148
Siehe auch: ÜM, 22.
156
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
Damit sind wir aber unmerklich zum Konzept des Ereignisses ge-
langt. Weil die Wahrheit für Heidegger nicht wie ein Seiendes »ist«,
sondern »west«, sich ereignet, ist sie ein (oder eher das) Ereignis:
»Die Wahrheit des Seyns […] ist das Ereignis.« (BPh, 258) 149
Und damit ist auch das Sein das Ereignis:
»Das Seyn west als das Ereignis.« (BPh, 260) 150
Die Frage nach der Wahrheit ist also die Frage nach dem Ereignis als
dem, wie die Wahrheit und das Sein sind.
Dazu weiter: Die Kehre in Heideggers Denken lässt ihn nicht
mehr die grundlegenden Strukturen des Seins des Daseins – also die
transzendentalen Gründe – für eine Metaphysik suchen, sondern den
Grund der Metaphysik selbst. Heidegger findet diesen Grund der
Metaphysik im ursprünglichen Ereignis der Wahrheit des Seins. Es
handelt sich hier aber um keinen ontologischen oder transzenden-
talen Grund, sondern um einen geschichtlichen Grund als den An-
fang einer Geschichte. Die Wahrheit des Seins als Ereignis ist der
»Anfang«:
»Die ἀλήθεια west als der Anfang.« (E, 9) 151
Die Frage nach der Wahrheit ist also einmal die Frage nach dem Er-
eignis als Geschehnis der Unverborgenheit des Seins (weil die Wahr-
heit sich ereignet) und ein andernmal nach dem Ereignis als dem
Anfang (weil die Wahrheit als Ereignis der Anfang ist). Diese Zwei-
deutigkeit des Ereignisbegriffes deutet, wie wir später sehen werden,
nicht auf eine ungenaue Terminologie hin, sondern liegt in der Logik
des Ereignisses selbst. Das heißt: Man kann nicht anders über das
Ereignis sprechen als nur zweideutig, nämlich so, dass es ein Ge-
schehnis, eine »Wesung« und der Anfang ist.
Der dritte Schritt des Weges Heideggers ist die Frage nach dem
Ort. Diese Verschiebung erklärt er dadurch, dass die Wahrheit nicht
als »Richtigkeit« verstanden werden darf, sondern als »Örtlichkeit
des Seins« (S, 335). Das bedeutet, dass der späte Heidegger den Ort
der Wahrheit nicht im Urteil, wo die Wahrheit (oder Unwahrheit)
über etwas ausgesagt wird, sieht, 152 sondern an einem Ort, wo die
157
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Was für ein Ort die Lichtung ist, muss allerdings zuerst noch erklärt
werden. Eines muss man aber festhalten: Das Ereignis der Wahrheit
geschieht an einem Ort. Noch genauer: Es ist ein Ort. Und dies ist
faktisch das wichtigste Strukturmoment der Logik des Ereignisses.
Damit sehen wir, dass wir auch vom Ort aus zum Ereignis ge-
langt sind. Der Ort ist der des Ereignisses der Wahrheit des Seins. In
den letzten zwei Etappen auf dem Denkweg Heideggers wird also das
Ereignis gedacht: das Ereignis der Wahrheit und diese Wahrheit als
Ort. Deswegen kann man Friedrich-Wilhelm von Herrmann nur zu-
stimmen, wenn er, Heidegger folgend, schreibt:
»›Ereignis‹ ist seit 1936 das Leitwort für das Denken Heideggers. Das in
diesem von ihm selbst gegebenen Hinweis angeführte Datum bezieht sich
auf die Beiträge zur Philosophie, deren andere, wesentliche Überschrift
Vom Ereignis lautet. […] Seit dem Durchbruch des Ereignis-Denkens be-
wegen sich alle Wege Heideggers in dieser neu gewonnenen Blickbahn,
auch wenn diese in ihren Wesensbezügen und -zusammenhängen nicht
Kehre entstanden ist, nämlich in Vom Wesen der Wahrheit: »Wahrheit ist nicht ur-
sprünglich im Satz beheimatet.« (VW, 185) Oder noch früher in Sein und Zeit, wo die
Wahrheit nicht als »Übereinstimmung zwischen Erkennen und Gegenstand« (SZ,
218), sondern primär als »Entdeckend-sein« und im zweiten Sinne als »Entdeckt-
sein« verstanden wird (SZ, 220). Die Wahrheit ist also dann, wenn das Dasein ein
innerweltliches Seiendes entdeckt, sieht. Und die Wahrheit ist dann, wenn das inner-
weltliche Seiende entdeckt und sichtbar geworden ist. Ohne Zweifel gibt es eine Pa-
rallelität zwischen dieser Auslegung der Wahrheit in Sein und Zeit und dem späteren,
nach der Kehre entstandenen, Verständnis der Wahrheit. Aber es besteht auch eine
Kluft zwischen diesen beiden Ansätzen, weil in Sein und Zeit die Wahrheit im Dasein
– in seiner »Erschlossenheit« (SZ, 220 f) – gegründet ist, während nach der Kehre die
Wahrheit der Grund ist, der das Dasein gründet.
153 Zur Wahrheit als Lichtung siehe zum Beispiel: BPh, 29, 350; ÜM, 22, 30 f, 63; E,
280; und später: S, 345. Zur Wahrheit als Ort des Ereignisses siehe auch: »Wo aber hat
diese Begegnung zwischen dem, was anwest und dem Seienden, dessen Weise der
Anwesenheit das Sichöffnen für den Empfang dieser Anwesenheit ist, ihren Ort?
Wo, wenn nicht in der ἀλήθεια? Darum kann ἀλήθεια nicht durch »Wahrheit« über-
setzt werden.« (S, 297)
158
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
154 Herrmann bezieht sich hier auf zwei von Heidegger 1949 gemachte Anmerkungen
zum Brief über den Humanismus. Die erste sagt: »Das hier Gesagte ist nicht erst zur
Zeit der Niederschrift ausgedacht, sondern beruht auf dem Gang eines Weges, der
1936 begonnen wurde, im ›Augenblick‹ eines Versuches, die Wahrheit des Seins ein-
fach zu sagen.« (HB, 313) Die zweite lautet: »Denn ›Ereignis‹ seit 1936 das Leitwort
meines Denkens.« (HB, 316) Siehe auch: Herrmann (1994b), 512. Man muss hier
darauf achten, dass diese Anmerkungen 1949 gemacht werden und sich nicht ohne
Weiteres auf Heideggers ganze spätere Philosophie beziehen lassen. Man kann aber
hinzufügen, dass er 1957 nochmals vom Ereignis als seinem »Leitwort« spricht: »Das
Wort Ereignis soll jetzt, aus der gewiesenen Sache her gedacht, als Leitwort im Dienst
des Denkens sprechen.« (ID, 45)
155 In den Beiträgen – nach der Kehre also – schreibt Heidegger: »Die Frage nach dem
›Sinn‹ […], kurz nach der Wahrheit des Seyns ist und bleibt meine Frage und ist
meine einzige, denn sie gilt ja dem Einzigsten.« (BPh, 10) Es ist immer die Frage nach
dem Sein, nur unterschiedlich gestellt: zuerst als die Frage nach dem Sinn, dann nach
der Wahrheit des Seins, d. h. nach dem Ereignis.
156
Der tiefste Grund dieser »Verwobenheit« liegt darin, dass es für Heidegger nur ein
159
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
einziges Ereignis gibt, nämlich das des Seins. Vom Ereignis zu sprechen, ist dasselbe,
wie vom Sein zu sprechen. Allerdings stellt Heidegger eine solche These nicht explizit
auf. Sie stellt eher eine Vor-Entscheidung dar. Man kann diesbezüglich vermuten, dass
für ihn alle anderen Ereignisse (Offenbarung, Liebe etc.) nur als Ereignisse innerhalb
des Horizonts des Seienden geschehen und nicht den Titel des eigentlichen Ereignis-
ses – des Seinsereignisses – verdienen. Dass Heidegger nur »ein einziges Ereignis des
Seins« (un unique événement d’être) setzt, darauf weist auch Claude Romano hin
(EM, 29). Jedes andere Ereignis wird in Heideggers Philosophie »zum Rang des blo-
ßen innerweltlichen Faktums herabgesetzt« (ravalé au rang de simple fait intramon-
dain) (EM, 29). Für eine Philosophie des Ereignisses gibt es selbstverständlich viele
Ereignisse: »Si l’être peut bien être pensé, à la manière de Heidegger, comme un
événement, tout événement n’est pas événement d’être (existence).« (EM, 32)
160
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
vom Sein Separates, nämlich der Anfang als Einbruch des Seins. Was
die »Entwicklung« des Ereignisdenkens Heideggers betrifft, so finden
wir die erste Bedeutung des Ereignisses als Wesung des Seins in sei-
nen ersten seinsgeschichtlichen Abhandlungen (zum Beispiel in den
Beiträgen). Das Ereignis wird vom Sein im späteren Ereignisdenken
(zum Beispiel schon in Über den Anfang) unterschieden, wo es als
Anfang der Wesung des Seins gedacht wird. 157 Man könnte fragen:
Wenn wir sagen, dass das Ereignis als Anfang vom Sein unterschie-
den wird, wie können wir immer noch behaupten, dass das Ereignis
nur im Zusammenhang mit dem Sein gedacht wird? Das Ereignis als
Anfang muss immer zusammen mit dem Sein gedacht werden, weil
der Anfang immer ein Anfang von etwas ist. Die Mehrdeutigkeit des
Ereignisses bedeutet nicht einfach, dass das Wort »Ereignis« zwei Be-
deutungen hat, sondern dass es an sich ein Vieles ist, nämlich der
Anfang und das, was anfängt.
Wir sagen also, dass das Ereignis die Wesung des Seins ist. Doch
was bedeutet »Wesung«? Die »Wesung« ist zwar kein zentrales Wort
in Heideggers Denken, kann aber helfen, das Ereignis zu verstehen.
Das Wort taucht – besonders in den Beiträgen – auf, um das Sein
gegen alle Vergegenständlichungsversuche abzugrenzen. Das Sein
ist nämlich kein Gegenstand, kein Seiendes:
»Doch Da-sein hat alle Subjektivität überwunden, und Seyn ist niemals
Objekt und Gegenstand, Vor-stellbares; gegenstandsfähig ist immer nur
Seiendes und auch hier nicht jedes.« (BPh, 252) 158
157 Auf diese Verschiebung weist Heidegger selbst im Seminar Le Thor 1969 hin: »Es
wird einem nicht gelingen, das Ereignis mit den Begriffen von Sein und Geschichte
des Seins zu denken; ebenso wenig mit Hilfe des Griechischen (über das vielmehr
gerade ›hinauszugehen‹ ist).« Und weiter: »Mit dem Ereignis wird überhaupt nicht
mehr griechisch gedacht.« (S, 366) Noch ein wenig später sagt er: »Sicherlich kann
man sagen: das Ereignis ereignet das Sein […].« (S, 367) Es ist folgendermaßen zu
interpretieren: Das ursprüngliche griechische Denken hat die Wahrheit als Unverbor-
genheit des Seins gedacht. Sie ist ein konkretes Geschehnis, das das Denken in Gang
bringt und so eine Geschichte des Denkens auslöst. Aber das Ereignis ist nicht dieses
Geschehnis und seine Umformungen in der Geschichte, sondern der Anfang dieses
Geschehnisses und dieser Geschichte. Es ist das, was sich ereignet und in diesem Er-
eignen das Sein hervortreten lässt. Das Ereignis wird also als etwas vom Sein Unter-
schiedliches gedacht. Rudolf Wansing formuliert dies folgendermaßen: »Nun wird das
›Ereignis als Ereignis‹ ausdrücklich als etwas vom Sein Unterschiedenes prädiziert.«
(Wansing(2004), 96).
158
Dass das Sein kein Seiendes, kein Gegenstand, nichts Vorstellbares etc. ist, besagt
schon die ontologische Differenz in Sein und Zeit. Man muss aber merken, dass, ob-
wohl die ontologische Differenz nach der Kehre aufgelöst wird und das Sein zum Sein
161
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
des Seienden wird, die Bestimmung des Seins als Nichts-Seiendes intakt bleibt: BPh,
29, 252, 263, 480; B, 199; A, 9 f, E, 214, 128 ff, 263.
159 Zum Begriff der Beständigkeit siehe auch: BPh, 192, 272; E, 56.
161 Das Sein ist nicht, Sein west: BPh, 7, 74, 254, 260, 286, 342, 344.
162
Zur Wesung des Seins als Ereignis siehe auch: BPh, 8, 26, 30, 108, 183, 230, 247,
254, 260, 344; B, 91, 92, 98, 100, 268.
163
Zum »isten« siehe auch: A, 69; E, 263.
162
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
164 Die Wesung gegen das Wesen: BPh, 66, 287, 289, 354 f; ÜM, 23.
165 Das Wesen ist erstarrte, verhärtete Wesung: BPh, 342, B, 203, E, 107.
166 Hier muss man darauf achten, dass Heidegger im seinsgeschichtlichen Denken
nicht immer »Wesung« schreibt, sondern auch »Wesen«, meint aber genau die ereig-
nishafte Wesung des Anfänglichen: »Der Grundsatz des anfänglichen Denkens lautet
daher gedoppelt: alles Wesen ist Wesung. Alle Wesung bestimmt sich aus dem We-
sentlichen im Sinne des Ursprünglich-Einzigen« (BPh, 66).
167
Siehe auch: A, 110.
163
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Wesung. Heißt das, dass das Ereignis ein Prozess, eine Bewegung,
eine Veränderung u. Ä. ist? Nein, insofern auch ein Prozess etwas
Andauerndes, Für-sich-Seiendes, Bestimmtes und Vor-stellbares ist.
Dies alles ist das Ereignishafte nicht. Es ist stattdessen nicht bestän-
dig, augenblicklich, nur dieser Augenblick und, wie uns das oben an-
geführte Zitat sagt, etwas Erfahrbares. Die Wesung und somit das
Ereignis ist kein beständiger, gegenüber uns stehender und in ihrem
Wesen erkennbarer Gegenstand, sondern etwas Erfahrbares. Damit
wird zuerst noch nicht viel gesagt, weil wir noch nicht wissen, was
hier »einfahren«, »Erfahrung«, »in ihr stehen« und »ausstehen« in
einem Dieses heißen. Trotzdem ist uns damit ein weiterer Hinweis
gegeben, was das Sein und somit auch das Ereignis ist: Das Ereignis
ist ein erfahrbares Dieses. Um dieser »Seinsweise« des Ereignisses ein
wenig näher zu kommen, können wir uns vielleicht ein Beispiel er-
lauben. Der Schmerz oder auch das Todesverständnis sind keine Sei-
enden. Und sie werden grundsätzlich als Diese hier und jetzt erfah-
ren. Der Schmerz besteht im Schmerzen, das ich jetzt erfahre, und ist
nicht mir gegenüber als etwas von mir Separates und Gegenständli-
ches, von dem ich das Wesen kennen kann. Aus diesem Grund wäre es
vielleicht nicht ganz falsch, von der Wesung und somit dem Ereignis
des Schmerzes zu sprechen, nämlich in dem Sinne, dass der Schmerz
nicht ist, sondern schmerzt. Allerdings muss man bei diesem Ver-
gleich von der Wesung des Seins und der Wesung des Schmerzes
beachten, dass Heidegger das Ereignis von jedem Erlebnis abgrenzt. 168
Und diese Abgrenzung ist äußerst wichtig für sein Verständnis des
Ereignisses. Eher müssten wir sagen: Das Ereignis ist ein Dieses, in
dem man steht.
168 Bekanntlich spricht der junge Heidegger in der KNS-Vorlesung 1919 über die
Erlebnisse als Ereignisse: »Die Erlebnisse sind Er-eignisse, insofern sie aus dem Eige-
nen leben und Leben nur so lebt.« (KNS, 75) Doch der Kontext, in dem diese Aussage
entsteht, und auch der hier verwendete Begriff des Ereignisses, hat mit Heideggers
späterer Ereignisphilosophie nichts zu tun. In der KNS-Vorlesung wird das Wort »Er-
eignis« gebraucht, um den Gegenstand der »Urwissenschaft« zu bestimmen. Das, was
die Urwissenschaft untersucht, sind nämlich nicht psychische »Vorgänge«, die als
Objekte dem unbeteiligten Untersuchenden gegenüberstehen, sondern »Ereignisse«
als thematisierte Erlebnisse, die man nicht als Objekte beschreibt, sondern auch wei-
terhin lebt: »Das »Er-leben geht nicht vor mir vorbei, wie eine Sache, die ich hinstelle,
als Objekt, sondern ich selbst er-eigne es mir, und es er-eignet sich seinem Wesen
nach. Und verstehe ich es darauf hinblickend so, dann verstehe ich es nicht als Vor-
gang, als Sache, Objekt, sondern als ein ganz Neuartiges, ein Ereignis.« (KNS, 75)
164
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
169 Das Ereignis der Wahrheit des Seins als Anfang: Beiträge, 17; Besinnung, 192, 313,
349, 405; A, 9, 11, 30, 54, 15, 16, Ereignis, 9, 14, 15, 16, 17, 18 f, 46, 56, 59, 67, 68, 69.
170 Es muss schon gefragt werden, warum die Wesung als Ereignis auch der Anfang
ist, wobei der Anfang des Ereignisses als etwas anderes als die Wesung gedacht wer-
den muss, obwohl er doch gleichzeitig unzertrennlich zum Ereignis gehört, sodass
man sagen kann, dass der Anfang das Ereignis ist. Heidegger gibt keine Erklärung
dafür. Er schreibt sogar: »Befremdlich muß es langehin sein, daß Ereignis und Anfang
innig dasselbe ›sind‹.« (E, 227). Zur Selbigkeit vom Ereignis und Anfang siehe auch:
A, 10 f, E: 147, 150.
171 Zum Ereignis, das gibt, siehe auch: S, 365. 1957 sagt Heidegger »Reichen« (FV,
168).
165
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
immer ein »Etwas« setzen, wir würden ein Seiendes, das ist, ein
Wesen denken, doch:
»Indes: Das Ereignis ist weder, noch gibt es das Ereignis.« (ZS, 29)
Wir können also dem Ereignis nicht als einem Seienden begegnen
und es uns vorstellen. 172 Hier wird aber noch mehr gesagt: Wir kön-
nen es auch nicht erfahren, so wie wir das Sein erfahren und ver-
stehen können – das Ereignis »gibt es nicht«. Das Sein ist nicht, weil
nur das Seiende ist, was das Sein nicht ist, doch es gibt es. 173 Aber das
Ereignis gibt es nicht. Das Sein ist nicht, doch es west, aber das Er-
eignis west nicht: »Das Ereignis »ist« aber selbst nicht mehr in der
Weise eines sonstwie noch wesenden Seins.« (A, 83) Wie »ist« der
Anfang, wenn er nicht ist und nicht west? Vorausgreifend können
wir sagen: Er ist Untergang. Das Fundamentalste des Anfangs ist,
dass er nur anfängt. Er bleibt nicht. Er vergeht:
»Der Anfang muß Untergang sein.« (A, 84)
Wenn der Anfang bleiben würde, wäre er kein Anfang. Wenn man
den Anfang, nur ein kleines bisschen von ihm, behalten könnte, wenn
man ihn nur ein wenig andauern lassen könnte, wäre das kein Anfang
mehr, sondern ein Seiendes. Er »ist« aber nur, insofern er »sich
immer entziehend« (BPh, 57) »ist«. Das Ereignis ist nicht, ist nichts,
west nicht, sondern ereignet sich nur, indem es anfängt und gleich
untergeht. Aber trotzdem – und dies ist wieder ein entscheidender
Moment – fängt der Anfang an, er fängt etwas an.
Wir stellen also fest, dass das Ereignis für Heidegger ein Zwei-
faches bedeutet: die Wesung als die Seinsweise des Nicht-Seienden
und den Anfang als Untergang. Wir können auch noch genauer
sagen, dass die erste Bedeutung das Wort »Ereignis« in den früheren
seinsgeschichtlichen Abhandlungen hat und die zweite in den späte-
ren. Doch weiter: Das gerade Gesagte betrifft das Wort »Ereignis«
und seinen Gebrauch. Und es ist nichts Ungewöhnliches, dass man
ein Wort benutzt, um zwei Sachen zu bezeichnen. Die Situation die-
ses Mal ist aber anders, wenn nicht umgekehrt. Eigentlich geht es um
das Selbe (das Ereignis), das mit zwei Worten – nämlich Wesung und
Anfang – bezeichnet wird. Das Wort »Ereignis« ist zweideutig, aber
172
Siehe auch: »Freilich darf das Ereignis nie unmittelbar gegenständlich vorgestellt
werden.« (BPh, 263)
173
»Wir sagen nicht: Sein ist, Zeit ist, sondern: Es gibt Sein und es gibt Zeit.« (ZS, 9)
166
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
wir wollen hier nicht den Gebrauch dieses Wortes untersuchen, son-
dern das Ereignis selbst. Und dann müssen wir feststellen, dass es von
Anfang an das ist, was zuerst als die Wesung und dann als Anfang der
Wesung beschrieben wird, aber doch immer dasselbe bleibt, was
durch diese beiden Aspekte beschrieben werden kann. Kurz gesagt:
Das Ereignis ist beides – die Wesung und der Anfang der Wesung.
Deswegen kann man auch sagen, dass die Wesung der Anfang ist
und umgekehrt. Das Wort »Ereignis« ist zweideutig, aber es bezeich-
net nicht zwei unterschiedliche Sachen, sondern das, was an sich
zweideutig ist. Wir sagen »zweideutig« und nicht »zweifaltig«, weil
dieses Eins nicht aus zwei Aspekten besteht, sondern man kann nur
im Denken, im Sprechen, im Deuten zwei Aspekte in ihm unterschei-
den. Diese zwei unterschiedenen Aspekte – die Wesung und der An-
fang – sind aber im Ereignis dasselbe. Sie bedeuten nicht dasselbe (die
Sprache über das Ereignis ist immer »zweideutig«), sie sind im Ereig-
nis dasselbe. Das Ereignis, der Anfang, ist das Ereignis der Wesung:
»Hier ist nicht Beginn von etwas innerhalb einer und für eine Folgeordnung
von etwas. / Anfang ist nicht die Art eines Anhebens von etwas, was es
eigentlich gilt. / Der Anfang selbst ist das wesende Sein – Dieses ist An-
fang.« (A, 109) 174
Im Anfang, im Ereignis als Anfang, gibt es nicht den Anfang und
auch noch das, was anfängt. Dann hätten wir ein typisches metaphy-
sisches Schema, wo etwas ein anderes etwas verursacht oder anderes
ermöglicht:
174 Wir bitten um die Beachtung dieser grundsätzlichen Struktur des Ereignisses. Sie
findet man nämlich nicht nur bei Heidegger, sondern auch zum Beispiel bei Levinas
(bei ihm ereignet sich das immer schon entzogene Unendliche als seine Spur im Ant-
litz des Anderen) und Marion (bei ihm ereignet sich die begrifflich uneinholbare Ge-
gebenheit als das Gegebene hier und jetzt). Das Ereignis ist zweidimensional. Darauf
weist auch zum Beispiel Claver Boundja hin, wenn er über das Ereignis bei Levinas
spricht, obwohl er, wie es aussieht, nicht die enorme Bedeutung dieser Aussage für
eine Philosophie des Ereignisses richtig einschätzt. Er schreibt also in Bezug auf den
Ursprung, den er als Ereignis versteht: »Mais l’origine est le lieu où procède quelque
chose. On peut donc distinguer deux dimensions dans l’origine: le pur jaillissement
distinct de toute cause (événement) et le quelque chose qui procède de l’origine.«
(Boundja, 109) Achten wir auf seinen Sprachgebrauch: Er sagt nicht, dass es zwei
Sachen – den Ursprung und das, was entspringt – gibt, sondern dass diese zwei
»Sachen« im Ursprung sind.
167
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
»Und der Anfang ist nicht Anfang von etwas Anderem, als er selbst ist; der
Anfang ist auch nicht der Anfang seiner selbst, als wäre da an ein Herstellen
und Verursachen gedacht.« (A, 18)
»Denn überall regt sich die Frage: ›Was‹ fängt da an? ›Was‹ ereignet sich? /
Gibt es denn einen ›Anfang‹, ein Ereignis, da ›nichts‹ anfängt und nichts sich
ereignet? / Diese scheinbar berechtigten Fragen gleiten unversehens in die
Metaphysik zurück; genauer gesagt: sie kommen noch aus ihr her.« (A, 17)
Doch diese innere Logik der Zweideutigkeit impliziert noch einen
Aspekt. Die Frage Heideggers ist die Frage nach dem Sein. Er kommt
zum Gedanken, dass das Sein als Ereignis zu beschreiben wäre: als
Wesung und Anfang. Der Anfang ist der der Wesung. Sie sind ereig-
nishaft dasselbe, doch begrifflich lassen sie sich gegenseitig erklären
(genau deswegen, weil sie im Ereignis dasselbe sind), sodass die We-
sung etwas über den Anfang sagt und der Anfang über die Wesung
aufklärt. Wenn die Wesung ein Geschehnis ist (als Ereignis also und
nicht als irgendein seiendhafter Prozess, ein Seiendes), dann ist auch
der Anfang eine Wesung, etwas, was geschieht: Der Anfang fängt an,
er ist, mit Heideggers Worten, »Anfängnis des Anfangs«:
»Die Anfängnis bestimmt und ›ist‹ die Wesung des Anfangs.« (A, 13) 175
Der Anfang erstarrt nicht zu einem Wesen. Und wenn die Wesung
ein Dieses ist, so ist auch der Anfang ein Dieses: »das wesende Sein –
Dieses ist Anfang«. Wenn aber der Anfang Anfang und Untergang
ist, so ist auch die Wesung – anfänglich und untergänglich. In wel-
chem Sinne ist die Wesung anfänglich? Wenn man die Wesung als
Wesung der Wahrheit versteht, dann in dem Sinne, dass sie ein Sei-
endes ins Sein hervortreten lässt – das Seiende fängt an zu sein.
Wenn wir vom konkreten Ereignis der Wahrheit abstrahieren, kön-
nen wir sagen, dass jedes Ereignis etwas, was noch nicht war, hervor-
treten lässt (wir werden zu diesem Thema noch zurückkehren, wenn
wir das Verhältnis von Ereignis und Geschichte behandeln werden).
Und die Wesung ist untergänglich, weil sie hinter dem verschwindet,
was sie hervortreten lässt (diesen Aspekt der Logik des Ereignisses
werden wir unter dem Stichwort »Verweigerung« behandeln).
175
Die Anfängnis des Anfangs. Siehe zum Beispiel: A, 16, 37; E, 147.
168
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
Das Ereignis ist also die Wesung eines Dieses, auf die wir uns nicht,
sie vorstellend, beziehen. Das heißt: Diese Wesung als Ereignis ist
nicht ein Wesen, das man als etwas Beständiges – in der Welt oder
im Denken – jederzeit finden bzw. vergegenwärtigen und immer wie-
der finden und vergegenwärtigen kann. Der Bezug zur Wesung, also
zum Ereignis, ist anders, wenn überhaupt von einem Bezug die Rede
sein kann. Aber wie ereignet sich das Ereignis mit dem Betroffenen,
wie verhält sich der Betroffene zum Ereignis? Wir haben Heidegger
zitiert und schon kurz darauf hingewiesen, dass das Ereignis für Hei-
degger »erfahrbar« ist. Doch wie ist das zu verstehen? Und darf man
überhaupt eine These mit nur einem Zitat begründen? In der Tat
nicht. Doch, wie schon erwähnt, war dies nur ein Hinweis auf den
weiteren Gedankengang Heideggers.
Das Ereignis wird also nicht gegenständlich erfahren und vor-
gestellt oder allgemein gedacht, wobei auch die Allgemeinheiten ei-
gentlich Denkgegenstände sind. Es wird stattdessen »ausgetragen« 176,
»erfahren« 177, »ausgestanden« 178, »ertragen« 179, »ausgehalten« 180,
»erharrt« 181, »erlitten« 182 – bis zum Schmerz 183. Mehr noch: Das Er-
eignis ist nicht etwas, was dann ausgetragen, erfahren etc. wird, son-
dern es ist dieser Austrag, diese Erfahrung:
»Seyn ist Er-eignis, austragsames Ereignis: Aus-trag.« (B, 15)
Heidegger denkt das Sein als Ereignis und das Ereignis als Austrag.
Das ist ähnlich, wenn wir zum Beispiel das Brot nicht als ein Objekt,
sondern als das Riechen und Schmecken des Brotes denken würden.
Dann würden wir nicht sagen: Das Brot ist ein Nahrungsmittel, son-
176 Das Austragen, der Austrag des Ereignisses: BPh, 30; B, 61, 83, 84, 88, 93,
115Anm.a, 121, 167, 203, 307, 308, 350; E, 28, 49, 79, 132, 169, 233, 247, 255 ff, 330.
177 Das Erfahren, die Erfahrung des Ereignisses: BPh, 27, 37, 248, 309; B, 248; A, 118;
E, 10, 28, 29, 30, 42, 49, 78, 92, 105, 122Anm.b, 123, 128, 129, 131, 132, 137, 144, 161,
169, 184, 194, 196, 214, 240, 248, 288.
178 Das Ereignis ausstehen: BPh, 27, 31, 44, 45, 61, 64, 227, 255, 256, 260, 301, 309,
318, 321, 331, 342, 352, 384, 390; B, 50, 121, 136, 210, 217, 238; E, 129, 278, 281.
179 Das Ereignis ertragen: BPh, 31, 298, 329, 331; B, 70; E, 68.
181 Das Ereignis erharren, ausharren: BPh, 31, 370, 384; B, 121, 237, 245; A, 53.
182
Das Ereignis erleiden: BPh, 260; B, 64; E, 123.
183 Der Schmerz in der Erfahrung des Ereignisses: E, 49, 68, 78, 105, 129, 137, 144,
169, 181, 184, 190, 194, 210, 211, 218 ff, 233 ff, 242, 248, 250, 275, 276.
169
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
dern: Das Brot ist das Schmecken des Brotes. Und: Das Brot ist nicht
das Schmecken des Brotes (als ob es hier zwei Sachen gäbe, nämlich
das Brot und das Schmecken) und nicht das Schmecken überhaupt,
sondern dieses Schmecken hier und jetzt. Dieser Vergleich hat natür-
lich den Nachteil, dass das Sein nicht mit einem Objekt, das erlebt
wird, gleichzusetzen ist, trotzdem kann dieses Beispiel ein wenig die
Richtung, in die Heidegger denkt, aufklären – zuerst schon in dem
Sinne, dass das Sein außerhalb des gegenständlichen Denkens ver-
ortet wird.
Dass das Ereignis der Austrag, nämlich eine konkrete Erfahrung
vom hier und jetzt, ist, richtet sich vor allem gegen zwei falsche Deu-
tungen des Ereignisses – gegen die Deutung, dass das Ereignis ein
Denken des Ereignisses als eines Objektes ist, und gegen die Gleich-
setzung des Ereignisses mit dem Erlebnis. Versteht man also das Sein
nicht seiendhaft, sondern als Austrag, muss noch klar gemacht wer-
den, dass der Austrag weder ein Denkprozess ist, in dem das Sein als
ein Denkobjekt gesetzt wird, noch ein innerliches Erlebnis.
»Wenn der Unterschied des Seins und des Seienden von der vorstellungs-
mäßig verstandenen ›Unterscheidung‹ her als deren Gegenstand genom-
men und wenn ›das Seiende‹ als das Wirkliche und dieses als das sinnlich
Wahrgenommene verstanden wird, dann erscheint das Sein sogleich als das
Unwirkliche, und dieses wird, da es nicht völlig ein Nichts ist, als ens ratio-
nis dem ›bloßen‹ Denken und Vorstellen als ›Gegenstand‹ zugewiesen; das
Sein ist so ein bloßer ›Gedanke‹ oder nur ein ›Begriff‹, der Begriff des
Unwirklichen. Und man versteht dann auch nicht recht, was dieses Unwirk-
liche noch ›im Unterschied‹ zum Wirklichen soll; man überläßt es ›der Phi-
losophie‹. / Wenn man von diesem geläufigen Meinen aus das Seinsver-
ständnis ›erklärt‹, dann ist das Sein der Gegenstand des Verstandes; es ist
bloß im ›Verstand‹ – gedacht; und da ja ›das Denken‹ als die Tätigkeit des
›Subjekts‹ gilt, das von den Objekten und dem Objektiven unterschieden
bleibt, ist das Sein etwas nur ›Subjektives‹.« (E, 126 f)
Schon in Sein und Zeit versucht Heidegger, das Seinsdenken vom
setzenden, vorstellenden, auf die Wahrheit als Übereinstimmung
von Erkenntnis und Gegenstand und als Richtigkeit des Schließens
gerichteten Denken abzugrenzen. Eine solche Abgrenzung ist not-
wendig, da das Sein als nicht-gegenständliches in einem vorstellen-
170
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
den Denken nicht gedacht werden kann. Sein ist doch kein Seiendes!
Doch achten wir auf das gerade angeführte Zitat: Es geht nicht bloß
um den Unterschied zwischen dem Sein und dem Seienden und auch
nicht bloß darum, dass ein Denken (nämlich das setzende) etwas
(nämlich das Sein) nicht denken könnte, sondern um die Verortung
des Seins und damit gewissermaßen auch um die Verortung des Den-
kens des Seins. Was wird hier gesagt? Es wird indirekt gesagt, dass das
Sein nicht »bloß im Verstand ist«. 184 So wie wir dem Schmerz nicht
näher kommen können, indem wir uns den Schmerz nur vorstellen,
indem wir den Begriff vom Schmerz analysieren oder den Schmerz
wissenschaftlich erforschen, so können wir nicht »wissen«, was das
Sein ist, wenn wir es bloß im Denken setzen und etwas darüber aus-
sagen. Das Sein ist Ereignis und Ereignis ist Austrag, Ausstehen, Er-
fahrung und nicht das Denken und Aussagen über etwas:
»Die Grunderfahrung ist nicht die Aussage, der Satz, und demzufolge der
Grundsatz, sei es ›mathematisch‹ oder ›dialektisch‹, sondern das Ansichhal-
ten der Verhaltenheit gegen das zögernde Sichversagen in der Wahrheit
(Lichtung der Verbergung) der Not, der die Notwendigkeit der Entschei-
dung entspringt […].« (BPh, 80)
Dass in Bezug auf das Ereignis des Seins als Austrag das Wort »Den-
ken« verwendet wird, darf nicht zur Missdeutung führen, dass sich
das Ereignis des Seins in unserem Denken ereignen würde, wenn wir
das Sein setzen würden. Der Austrag ist Denken, aber Denken ist
Erfahren:
»Der Austrag ist Denken.« (E, 237)
Aber:
»Das denkerische Denken ist Er-fahrung und zwar er-eignete Erfahrung des
Ereignisses.« (E, 255)
Und:
»Diese Er-fahrung ist das Wesen des seynsgeschichtlichen Denkens, das
selbst wieder die Erfahrenheit gründet, in der das seynsgeschichtliche We-
sen des Menschen das Un-heimische bewahrt, das die Ortschaft des Ab-
grundes ist für den Menschen.« (E, 235) 185
184 »Das Er-denken des Seyns ist niemals ein ›Erzeugen‹ des Seins, so daß dieses gar
255 f.
171
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Der Austrag wird aber nicht als der Austrag überhaupt verstanden,
als ob wir einen Begriff vom Austrag hätten und dann durch diesen
Begriff das Ereignis definieren würden. Wenn man im Ereignisden-
ken so vorgehen würde, würde man nie das vorstellende und begriff-
liche Denken verlassen. Deswegen geht Heidegger anders vor. Wenn
das Ereignis Austrag ist, fragen wir natürlich, was der Austrag oder
die Erfahrung oder das Ausstehen ist? Heideggers Antwort lautet
aber, dass der Austrag das Ereignis ist:
»Der Austrag ist Er-eignis.« (B, 84)
Wenn wir das Ereignis als Austrag definieren und den Austrag als
Ereignis, befinden wir uns natürlich in einem Kreis. Und dies ist nicht
der einzige Kreis, den wir im Ereignisdenken Heideggers finden. Das
Sein ist Ereignis und das Ereignis ist das Sein. Die Wesung ist der
Anfang und der Anfang ist die Wesung. Zeigt dieses »Kreisen« eine
Verwirrtheit des Denkens, oder gehört es zur Logik des Ereignisden-
kens? Vielleicht wird dadurch ein Hinweis gegeben, dass es gar nicht
so wichtig ist, aus diesem Kreis herauszukommen, weil das, was wir
suchen, nämlich das Ereignis, sich hier – in den Definitionen, in den
Bestimmungen von etwas als etwas – gar nicht befindet. Das Ereignis
ist kein Wesen, das Ereignis ereignet sich. Wir können das Brot den-
ken und definieren und Zitate über das Brot sammeln und ein Buch
darüber schreiben, doch das Brot ereignet sich außerhalb solcher Un-
ternehmen: Es ist im Riechen, Anfassen und Schmecken. Im Denken
gibt es aber nur Wesen, Definitionen und Kreise. Denkend und spre-
chend kann man nur höchstens das Brot anzeigen, indem man aus-
zudrücken versucht, wie das Brot schmeckt, wie das Brot ertragen
wird. Daraus folgt: Will das Denken das Ereignis nur annähernd be-
greifen, kann es nicht eine Definition des Ereignisses geben – es muss
das Ereignis als eine konkrete Erfahrung, einen konkreten Austrag
beschreiben. Mit anderen Worten: Es gibt kein allgemeines Ereignis.
Dann wäre es ein Wesen und keine Wesung. Das Ereignis ist immer
ein konkretes Ereignis. Deswegen gibt das Denken des Ereignisses
keine Definition des Ereignisses, sondern beschreibt immer konkrete
Ereignisse. Und deswegen ist die einzige »Definition« des Austrages,
die wir bei Heidegger finden, der Ausdruck einer konkreten Erfah-
rung, die oft, aber nicht immer, als die Erfahrung des Abgrundes ver-
standen wird:
172
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
»Der Austrag ist der Schmerz (Schrecken und Wonne) der Erfahrung, die
ausständig in die Anfängnis (Gewesenes – Kommendes) inständet im Ab-
grund.« (E, 246)
Damit ist gesagt: Ereignis ist Austrag, Erfahrung, doch der Austrag,
die Erfahrung ist Dieses, »was« ausgetragen, erfahren wird. Das Sein
ist kein Wesen, sondern Ereignis. Ereignis ist Austrag, aber Austrag
ist Austrag des Seins (als der Anfängnis, des Abgrundes etc.). Das
Ereignisdenken »definiert« alle »Begriffe« durch das Konkrete. Das
Denken des Ereignisses fordert, zu einer Singularität, Einzigkeit zu
kommen. 186 Wir können einen Schritt ins Ereignisdenken Heideggers
gehen, um zu sehen, wie eine solche Weise des Philosophierens ver-
läuft. Das Ereignis ist also Austrag. Was ist Austrag? Es gibt keine
allgemeine Definition vom Austrag. Wenn man eine solche geben
würde, würde man das Ereignis verlassen und es als ein Denkobjekt
setzen. Stattdessen lautet eine von vielen Antworten: Austrag ist
Austrag des Abgrundes:
»Er-eignis ist Austrag. / Der Aus-trag trägt den Ab-grund.« (B, 307) 187
186 Es ist äußerst interessant, dass Derrida in seinem Levinas gewidmeten Aufsatz
173
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
65, 66, 83, 84, 87, 88, 101, 229, 237, 270, 395; ÜM: 62; A, 11, 13; E, 49, 68, 124, 169,
237, 244.
188 »In der Metaphysik wurde das Seiende durch einen Grund (Ursache – Bedingung
für das erklärende Vorstellen) bestimmt.« (B, 275) Siehe auch: B, 343, 388.
189 Mit anderen Worten: Das Ereignisdenken als Austrag des Abgrundes ist keine
192 Die Stützenlosigkeit und Schutzlosigkeit im Austrag des Abgrundes: BPh, 300,
194
Die Anhaltslosigkeit und Zufluchtslosigkeit: B, 129, 131, 350; E, 68.
174
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
Doch es wäre falsch, das Ereignis mit der Erfahrung, die, nicht zu
leugnen, zum Ereignis gehört – da das Ereignis grundsätzlich die Be-
troffenheit ist – mit dem Ereignis gleichzusetzen. Das, was sich ereig-
net, ist nicht bloß ein Austragen. Ohne den Austrag kommt man
nicht ins Ereignis, aber es ist nicht das ganze Ereignis. Das Brot brotet
im Schmecken, aber es ist nicht ganz so, dass das Brot nur dieses
Schmecken ist. Das Brot bleibt immer noch auch das Brot. Wir wer-
den diesen wesentlichen Aspekt des Ereignisses noch in den späteren
Abschnitten behandeln. Hier wollen wir nur kurz durch das Konzept
des Abgrundes, so wie Heidegger es entwickelt, zeigen, dass das Er-
eignis nicht nur eine Erfahrung ist, sondern auch ein Geschehnis.
Nichts Seiendes und trotzdem Geschehnis. Etwas ereignet sich im
Ereignis. Etwas geschieht da. Doch was geschieht im Ereignis? Im
Austrag des Abgrundes west die Wahrheit:
»Der Ab-grund ist aber auch zuvor das ursprüngliche Wesen des Grundes,
seines Gründens, des Wesens der Wahrheit.« (BPh, 379)
Der Abgrund ist das Wesen des Wesens der Wahrheit. In welchem
Sinne? Wenn man das Seiende verlässt, wenn man das Ausbleiben
des Grundes austrägt, eröffnet sich ein Offenes:
»Im Sichversagen bringt der Grund in einer ausgezeichneten Weise in das
Offene […].« (BPh, 379 f)
Dieses Offene, die Lichtung, ist der Ort, wo die Wahrheit des Seins
west. Die Wahrheit des Seins ist aber das Kommen des Seienden (das
allerdings vorher noch nicht »ist«) in die Lichtung, wo es seiend wird.
Das Ereignis ist das »Kommen in die Lichtung«, »Aufgehen«:
»Wie aber kommt dann das Seiende zu diesem Namen des Seins (d. h. der
Seiendheit)? / Weil es (was ›ist‹ es denn?) in den Umkreis der Lichtung des
195 Der Austrag von Fragwürdigkeit, Geheimnis, Rätsel: BPh, 78, 278, 347, 362; B, 77,
78, 219, 229, 269, 275, 358, 359, 361; E, 121, 132, 209, 237, 244, 249.
175
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Seyns kommt, die Lichtung aber nur als das Offene der Er-eignung west. /
Dieses ›Kommen‹ in die Lichtung geschieht mit dem Er-eignis.« (B, 202) 196
Dieses Kommen und Aufgehen ist natürlich kein beobachtbarer Pro-
zess, aber nur im Sinne, dass man darauf nicht zeigen kann und dass
man es nicht jemandem anderen zeigen kann. Trotzdem wäre es nicht
ganz falsch zu sagen, dass man es sehen kann – man kann es den
Abgrund austragend sehen.
Heidegger sagt auch, dass im Ereignis der Unterschied geschieht,
in dem die Unterscheidung möglich wird:
»Die Unterscheidung west im Unterschied. / Der Unterschied ist die We-
sung des Seyns.« (A, 100)
Welcher Unterschied? Welche Unterscheidung? Es geht um die Un-
terscheidung, Differenzierung von Sein, das zur Seiendheit in der
Metaphysik wird, und Seienden. Diese Unterscheidung geschieht im
Unterschied als Ereignis, als Ereignis des vor der Differenzierung von
Sein als Seiendheit und Seienden ursprünglicheren Seins. Der Unter-
schied heißt, dass das Ereignis des Seins das Seiende sein lässt, indem
es sich vom Seienden unterscheidet, verabschiedet, entzieht:
»Die Unterscheidung als Wesung des Seyns selbst, das sich unterscheidet
und so das Seiende aufkommen läßt im Aufgang. Die Unterscheidung ist
anfänglich der Unterschied.« (E, 127) 197
Der Unterschied im Gegensatz zur Unterscheidung ist aber nicht eine
Operation des Denkens, sondern das Ereignis des Seins des Seienden.
Mehr noch: Das Denken könnte keinen Gegenstand setzen, wenn mit
dem Seienden die Wahrheit des Seins sich nicht ereignen würde:
»Das Seiende ist nur möglicher Gegen-stand und Objekt (ἀντί) gegenüber,
weil es im Offenen des Seins west. Gerade wo ein »Gegenüber« ist, da west
Ursprünglicheres, die Lichtung des Inzwischen.« (E, 17) 198
Das Ereignis der Wahrheit des Seins kann man sich schon deswegen
nicht als einen Prozess vorstellen, weil es sich vor jeder Setzung und
jedem Vorstellen ereignet. Ist man auf ein Seiendes gerichtet, hat
man schon das Ereignis verlassen. Es ist der Anfang der Möglichkeit
196 Das Ereignis des Seins als das Aufgehen des Seienden: BPh, 258, 260; A, 119.
197 Das Ereignis des Unterschiedes: A, 68, 71, 72 f, 76; E, 122 ff, 127 ff, 132, 147, 195,
247.
198 Die Gegenständlichkeit setzt das Ereignis des Seins voraus: Siehe auch: BPh, 197,
255, 264, 339, 344, 345, 360; B, 199, 235 f, 314; E, 175.
176
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
der Setzung. Da es sich vor und mit dem Seienden als seine Ermögli-
chung ereignet, spricht Heidegger manchmal vom Ereignis des Seins
als dem »Grund« oder, noch genauer, als dem »Grund des Grundes« 199
in dem Sinne, dass das Sein die Ermöglichung des metaphysischen
Denkens ist, das wesentlich der Grund (als Seiendes) denkt:
»Aber die Metaphysik wäre nicht die Metaphysik, d. h. die Wahrheit des
Seienden als solchen, wenn sie nicht aus dem Seyn weste, da ja auch die
Seiendheit noch vom Wesen des Seyns bleibt. Und deshalb sind in der Me-
taphysik, wenn wir einmal erfahrener geworden, überall doch Anklänge des
Anfangs.« (E, 104) 200
Weil aber dieser Grund des Grundes kein Seiendes ist, ist er Abgrund
– das Sein ist der »ab-gründige Grund« (B, 84) 201. Damit schließt sich
wieder ein Kreis: Das Ereignis des Seins ist der Austrag, Austrag trägt
den Abgrund, Abgrund ist das Ereignis des Seins.
199
Das Sein als Grund: B, 99. Das Sein als Grund des Grundes: B, 267, 274.
200 Ohne die Wesung der Wahrheit gäbe es kein Seiendes und so auch keine Meta-
physik: BPh, 145, E, 31. Folglich: Wenn die Metaphysik da ist, west auch das Sein,
obwohl unmerklich: A, 160; E, 200.
201 Hier sehen wir, wie Heideggers Denken des Ereignisses mit der Suche nach dem
177
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Das Wichtigste ist hier aber etwas anderes: Wenn wir das Ereig-
nis verstehen wollen, nähern wir uns ihm zuerst dadurch, dass wir es
aus dem Denken ausschließen. Jedes Ereignis muss nicht das Ereignis
des Seins sein, aber kein Ereignis ist ein Seiendes, dass uns – wirklich
oder denkerisch – gegenübersteht. Ein Ereignis ist grundsätzlich ein
Ereignis mit uns, etwas, was uns – unser Denken, unsere Existenz –
bewegt, was wir austragen. Und trotzdem ist es auch nicht auf den
Austrag zu reduzieren. Jedes Ereignis ist nicht das Ereignis der Wahr-
heit des Seins, aber jedes Ereignis ist ein Geschehnis – sei es Gott, der
zu dem Menschen spricht, sei es eine Passantin, die vorübergeht
(Charles Baudelaire). Ein Geschehnis allerdings, das nie auf einen be-
obachtbaren, d. h. wirklichen Prozess zu reduzieren ist. Und es ist
nicht auf einen beobachtbaren, d. h. wirklichen Prozess reduzierbar,
weil es eine besondere Bedeutung für uns hätte, die subjektiv statt
objektiv wäre, sondern weil es das ist, worauf wir nicht intentional
gerichtet sein können – weder beobachtend, noch fühlend. Das Ereig-
nis ist das, worin wir sind.
Das Ereignis ist Austrag. Es ist nicht etwas (ein Wesen), dass dann
noch zusätzlich ausgetragen wird, sondern der Austrag. Die Sterb-
lichkeit des Menschen oder die Fragwürdigkeit der Welt sind keine
bloße Ideen, sondern »etwas«, was nur insofern »ist«, als es tief er-
fahren, ertragen, ausgestanden, erlitten wird. Es sind Ereignisse. Der
Abgrund des Ab-bleibens des Grundes ist keine Sache in der Welt,
sondern Austrag dessen. Das Ereignis ereignet sich dann, wenn es
ausgetragen wird. Es entzieht sich, wenn man es begrifflich fasst.
Doch man könnte jetzt denken, dass das Ereignis so etwas wie ein
Erlebnis vom etwas ist: ein Gefühl, ein innerer Zustand, der jeman-
den ergreifen kann. Doch das ist nicht der Fall. Ein erster Hinweis:
»Man beruft sich auf die flachen Wasserlachen der ›Erlebnisse‹, unfähig, das
weite Gefüge des denkerischen Raumes auszumessen und in solcher Eröff-
nung die Tiefe und Höhe des Seyns zu denken.« (BPh, 19)
»Deuten wir aber die Stimmung nach unserer Vorstellung vom ›Gefühl‹,
dann möchte man hier leicht sagen: das Sein werde statt auf das ›Denken‹
jetzt auf das ›Gefühl‹ bezogen. Aber wie gefühlsmäßig und äußerlich den-
ken wir da über die ›Gefühle‹ als ›Vermögen‹ und ›Erscheinungen‹ einer
178
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
›Seele‹ ; wie fern stehen wir dem Wesen der Stimmung, will sagen: dem Da-
sein.« (BPh, 256) 202
Das Ereignis besteht also nicht in einem Erlebnis oder einem Ge-
fühl. 203 Doch es wird auch nicht ganz klar, was ein Erlebnis oder ein
Gefühl ist. Vermutlich versteht Heidegger darunter einen Seelen-
zustand, eine innerliche, nicht-gegenständliche Erfahrung, so wie
zum Beispiel Wärmeempfindung, Müdigkeit, Schmerz, Lust, Hoff-
nungslosigkeit etc. Wir sehen, dass Heidegger Abgrenzung von sol-
chen Seelenzuständen sucht und einen Ausweg im Begriff von
»Stimmung« 204 findet. Doch was ist »Stimmung« als die rechte Er-
fahrung des Ereignisses?
»Ereignishaft ist die ›Stimmung‹ nicht ein Gefühlszustand des Menschen,
sondern das Ereignis des Wortes als sich zueignende Aneignung.« (E, 171)
»›Die Stimmung‹ als Wesung des Ereignisses – nicht ›Stimmungen‹ als Zu-
stände.« (E, 217)
Die Stimmung ist also kein subjektives Erlebnis, sondern die »We-
sung des Ereignisses«, obwohl sie irgendwie auch zur Innerlichkeit
des Menschen gehört. Die Stimmung ist in Heideggers Denken nicht
nur etwas, was eine gewisse Verwandtschaft mit Erlebnissen, Gefüh-
len etc. haben könnte, sondern »Stimmung« heißt auch »das ekstati-
sche Sich-be-finden im Da als der Ortschaft des unheimischen Zeit-
tums des Da-seins«:
»Sofern »die Stimmung« in »Sein und Zeit« als »Befindlichkeit« begriffen
ist, sagt das, sie muß aus dem Da-sein erfahren werden. »Befindlichkeit«
meint hier nicht das psychologisch-zuständliche »Wohl«- und »Schlecht«-
befinden. »Befinden« sagt hier das ekstatische Sich-be-finden im Da als der
202
Heideggers Kritik gegen Gefühle, Erlebnisse, seelische Zustände: BPh, 21, 33, 495;
B, 100, 147, 249, 252 f, 274, 320; A, 72, 109; E, 218 f, 220, 221, 234; ID, 8 f.
203
Auch Romano macht klar, dass das Ereignis, das er von einem beobachtbaren Fak-
tum unterscheidet, kein innerer Zustand ist: »[I]l [événement – L. P.] n’est pas dav-
antage une simple »expérience subjective« relevant de la sphère d’une intériorité psy-
chologique.« (EM, 45)
204 Es kann der Eindruck entstehen, dass die Auseinandersetzung mit dem Konzept
von Stimmung bei Heidegger hier zu kurz kommt. Die Stimmung ist schließlich einer
der zentralen Begriffe in Heideggers Philosophie schon seit Sein und Zeit. Wir be-
absichtigen aber nicht, dieses Konzept eingehend zu behandeln, da es nicht direkt mit
der Logik des Ereignisses zu tun hat. Wir benutzen es nur, um auf die Spur der
Räumlichkeit des Ereignisses zu kommen.
179
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Ortschaft des unheimischen Zeit-tums des Da-seins. Zeit als Zeit-tum ist
das Wesen der »Zeitlichkeit« des Da-seins.« (E, 218) 205
Das »Sich-befinden-in …« eröffnet eine neue Dimension der Erfah-
rung des Ereignisses. Ohne diese Dimension ist das Ereignis als er-
fahrbare Wesung nicht verständlich. Das Ereignis ist kein Denk-
objekt, sondern eine Erfahrung. Diese Erfahrung ist kein seelischer
Zustand, sondern Stimmung. Die Stimmung ist aber unter anderem
ein »Sich-befinden-in …«. Worin? In der Wesung des Ereignisses, das
geschieht. In der Tat sehen wir, dass es bei Heidegger konsequent um
den »Aufenthalt in …« 206, die »Inständigkeit in …« 207, »Innigkeit
in« 208, das »Innestehen« 209, »Stehen in …« 210, »Sichhalten in …« 211,
»Innebleiben in …« 212, den »Sprung in …« 213 geht. Und so ist auch
die Erfahrung, die uns als die Erfahrung des Ereignisses schon be-
schäftigt hat, »Einstand«:
»Er fahrung / nicht bloße Kenntnisnahme, / sondern Einstand.« (E, 42)
Dieses In-Sein im Ereignis bedeutet allerdings ein Zweifaches, was
sich auch in der Mehrdeutigkeit der von Heidegger ausgewählten
Wörter zeigt. Es geht darum, dass jemand sich in das Ereignis ein-
bezogen hat, dass er von ihm betroffen ist und sich bleibend zu ihm
verhält. Der Betroffene bewahrt durch sich selbst das Ereignis in sei-
nem Geschehen. Das Ereignis ist kein neutrales Denkobjekt, sondern
etwas, was mit ihm geschieht. Es ist in diesem Sinne innerlich. Es ist
Austrag von Schmerz, Abgrund, Fragwürdigkeit etc. Das Ereignis ist
nicht das Denken von Schmerz, Abgrund und Fragwürdigkeit, son-
205 Schon 1930 schreibt Heidegger: »Die Gestimmtheit (Stimmung) läßt sich jedoch
nie als ›Erlebnis‹ und ›Gefühl‹ fassen […]. Eine Gestimmtheit, d. h. eine ek-sistente
Ausgesetztheit in das Seiende im Ganzen […].« (VW, 192) 1938/39: »Die Rolle der
Stimmung – Gestimmtheit – als (inständliche) Zugewiesenheit in die Wahrheit des
Seyns.« (ÜM, 65) Siehe auch: ID, 25.
206 Der Aufenthalt in …, sich aufhalten in … : B, 78; A, 54, 78; Ereignis, 128, 263.
207
Die Inständigkeit in …, inständig in …, inständen: BPh, 158, 230; B, 78, 85, 88,
103, 113, 117, 118, 119, 120, 131, 135, 145, 210, 219, 229, 237, 276, 362; ÜM, 31, 59,
62, 81; GdS, 24, 61, 87; A, 14, 54, 71, 108, 112, 129; E, 4, 43, 55, 57, 78, 86, 102, 108,
183, 184, 195, 196, 197, 206, 234, 254, 310, 318.
208 Die Innigkeit in … : Ereignis, 275.
209 Das Innestehen: BPh, 34; B, 120, 121, 173; A, 54, 125; E, 28, 306, 312.
210 Stehen in … : BPh, 303, 341, 346, 352, 363; GdS, 37; Hereinstand: BPh, 413.
211
Sichhalten in … : BPh, 369; A, 70; E, 156.
212 Innebleiben in … : E, 213.
213
»Vor-sprung in …«: BPh, 75; »Einsprung in …«: BPh, 76, 80.
180
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
dern deren Geschehen mit uns hier und jetzt. Doch das ist nur eine
Seite. Das »Sich-befinden-in …« ist auch räumlich gemeint. Es geht
nie nur um das Befinden des Betroffenen, sondern immer auch um
das Sich-Befinden. Der vom Ereignis Betroffene befindet sich mitten
drin, er ist zwischen denen, die sich auch an dem Ereignis beteiligen.
Ein Beispiel aus dem alltäglichen Leben könnte das veranschaulichen.
Stellen wir uns folgende Situation vor: Jemand geht die Straße ent-
lang. Er ist in seinen Gedanken versunken, ganz bei sich selbst. Er
überquert die Straße und übersieht dabei ein Auto. Plötzlich hört er
das Hupen und dieses Hupen reißt ihn aus seiner Welt heraus. Er ist
überrascht, verwirrt, er befindet sich wieder in der Außenwelt, mit-
tendrin in diesem Geschehnis, das auf ihn wirkt und von ihm eine
Reaktion erwartet. Jetzt sehen wir, dass das Ereignis nicht seine Über-
raschung ist, seine Angst oder ähnliche Gefühle. Das Ereignis ist aber
auch nicht dieses Geschehen, insofern es von einem Außerstehenden
beobachtet werden könnte. Nein, es ist ein Geschehen, das ihn trifft,
ein Geschehen, das um ihn ist, in dem er ist und das ihn zwingt, aus
sich herauszutreten. Weil das Ereignis so schwierig zu verorten ist,
sagt Heidegger, dass es sich weder innen, noch draußen, noch über
oder um einen herum ereignet:
»Das Seyn aber ›ist‹ weder über uns, noch in uns, noch um uns herum,
sondern wir sind ›in‹ ihm als dem Ereignis. Die einfallende Dazwischen-
kunft des Seyns. Und wir sind nur eigentlich (dem Er-eignis ereignet) ›in‹
ihm als Inständige des Da-seins.« (GdS, 55)
»Das Wesen des Menschen ist eingelassen in das Seyn. Das Seyn ist weder
außerhalb noch innerhalb des Menschen. Eingelassenheit des Wesens des
Menschen in das Seyn in der Weise der Er-eignung des Stimmens.«
(E, 200) 214
Das Dasein ist im Sein, aber Sein war nicht vorher da als ein objekti-
ver Ort in einem objektiven Raum. Doch es ist auch kein Inneres des
Daseins. 215 Das Ereignis der Wahrheit geschieht nicht im Dasein, son-
dern das Dasein ist dort, wo das Ereignis geschieht. Doch dieser Ort
wird durch das In-Sein des Betroffenen erst »konstituiert«. Diese
Konstitution geschieht durch die Erfahrung, durch den Austrag. Oder
214 Siehe auch: »›Innen‹ und ›Außen‹ (des Menschen) sind gleichwenig der ›Ort‹ des
Seyns, das doch wieder einzig den Menschen sich er-eignet, ohne ihm je zu gehören.«
(SG, 60)
215 »Doch der Raum ist kein Gegenüber für den Menschen. Er ist weder ein äußerer
181
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
eher: Der Ort des Ereignisesses in seinem Raum wird nicht durch die
Erfahrung konstituiert, sondern man wird in den Raum eingelas-
sen 216, wenn man auf gewisse Weise gestimmt ist. Und trotzdem sind
der Raum und seine Orte nicht vorher da. Der Ort schlägt ein und der
Raum schlägt sich auf, wenn sich das Ereignis ereignet. Und absolut
gleichzeitig wird man für es gestimmt – weder das Sein noch das
Dasein ist früher (im transzendentalphilosophischen Sinne). Wir ha-
ben es hier nicht mehr mit einer Transzendentalphilosophie oder
transzendentalphilosophisch ausgerichteten Phänomenologie, die die
Bedingungen der Konstitution vom Gegebenen untersucht, sondern
mit einer Topologie 217 zu tun.
216 Oder wir kehren ins Ereignis ein – Heidegger spricht von ›Einkehr‹ (ID, 41; auch:
vertritt die äußerst interessante These, dass die Phänomenologie mit Notwendigkeit
zur Topologie (wörtlich: die Lehre vom Ort) kommen muss: »Doch der Zusammen-
hang der Topologie mit der Phänomenologie, den ich in meiner Studie verfolge, zielt
anderswohin. Im Denken zweier erstrangiger Phänomenologen kommt nämlich das
Motiv des Ortes (griechisch topos) nicht nur im Kontext der Auslegung der topischen
und räumlichen Hinsichten der alltäglichen menschlichen Erfahrungen vor, sondern
auch als ein Mittel des präzisen Ausdrucks von ontologischen Konsequenzen der Phä-
nomenologie. Konkret wird sowohl im Spätwerk von Martin Heidegger als auch von
Maurice Merleau-Ponty auf eine ähnliche Weise die Notwendigkeit der Verkoppe-
lung von Ontologie und Topologie proklamiert.« (Nitsche, 10) Wir sehen, dass es hier
nicht darum geht, dass die Phänomenologie irgendwann dazu kommen muss, dass sie
den Ort beschreibt, sondern darum, dass die ganze Phänomenologie zur Topologie
wird! In welchem Sinne? Sodass durch die Topologie die Phänomenologie die Meta-
physik überwindet, was auch ihr Ziel ist: »Eine Besonderheit des Heideggerschen
Nachdenken über die Ortschaft und seiner Topologie ist, dass sie als Überwindung
der Metaphysik konzipiert wurden.« (Nitsche, 95) »Topologie ersetzt die Ontologie.«
(Nitsche, 91) Wie überwindet die Topologie die Metaphysik? Sodass sie nicht mehr
ein Gegenüber denkt, sondern den Ort, den Boden, wo die konkrete und bodenhaftige
Begegnung mit einem Gegenüber geschehen kann: »Im Blickfeld der Ontologie sind
somit das Sein, das Seiende und ihr […] Verhältnis […]. Die Ortschaft ist nicht nur
das Verhältnis von Sein und Seiendem, welches durch und als das Durchdringen
strukturiert ist. Die Topologie betrachtet die Ortschaft methodisch als ursprünglichen
Boden der Begegnung mit dem, was erst nachträglich als das Sein und das Seiende
unterschieden werden kann (aber auch nicht unterschieden werden muss).« (Nitsche,
97) Und wenn der Ort der Begegnung gedacht wird, wird auch die Begegnung selbst
nicht mehr als Subjekt-Objekt-Beziehung beschrieben, sondern als »Durchdringen«.
Es ist also kein Zufall, dass das Denken des Ereignisses, das die Gegenständlichkeit
und somit die Metaphysik zu überwinden versucht, zum Denken des Ortes kommt.
Das, wem wir nicht gegenüber sind, ist das, worin wir sind und von woher wir ein
eventuelles Gegenüber gewinnen können.
182
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
Durch die Analyse von Sein als Ereignis sind wir also zum Pro-
blem von Ort und Raum gekommen. Das Ereignis steht uns nicht
gegenüber und ist auch nicht innerlich, sondern das, worin wir sind.
Es ist richtig, dass schon Sein und Zeit den Raum und Ort (»Platz«)
behandelt, aber dieser Raum ist »Räumlichkeit des Zeugganzen« (SZ,
104) und der Platz ist »›Dort‹ und ›Da‹ des Hingehörens eines Zeugs«
(SZ, 102). Das bedeutet, dass wir hier mit dem alltäglichen Raum und
seinen Plätzen zu tun haben. Und das Dasein ist in diesem Raum »im
Sinne des besorgend-vertrauten Umgangs mit dem innerweltlich be-
gegnenden Seienden.« (SZ, 104) Im Kontext des Ereignisdenkens
sprechen wir aber von einem ganz besonderen Raum und von ganz
besonderen Orten. Die Besonderheit dieses Raumes liegt darin, dass
er ein ursprünglicher Raum ist, ohne den die anderen Räume (der
alltägliche, mathematische, virtuelle etc.) nicht möglich wären. 218
Das Ereignis ist grundsätzlich die Schaffung eines Raumes und somit
unseres In-Seins in ihm. 219 Es mag sein, dass wir schon immer in der
Welt sind, an ihren Orten und Plätzen, doch erst das Ereignis lässt
dies erfahren.
218 Der ursprüngliche Raum (das Offene) ist also »vor-räumlich« und ohne ihn gäbe
es keinen uns bekannten Raum. Dazu siehe auch: BPh, 372, 383, 385, 386 f. Später
heißt es: »Erst dieses Offene und nur es räumt dem uns gewöhnlich bekannten Raum
seine mögliche Ausbreitung ein. Das lichtende Einander-sich-reichen von Zukunft,
Gewesenheit und Gegenwart ist selber vor-räumlich; nur deshalb kann es Raum ein-
räumen, d. h. geben.« (ZS, 19)
219 Wir haben darauf hingewiesen, dass zum Beispiel auch Romano das Ereignis nicht
mit einem Gefühl gleichsetzt. Weil er aber, im Gegensatz zu Heidegger, nicht das In-
Sein im Ereignis denkt, kann er nur bei der Bestimmung des Ereignisses als etwas
Äußerem stecken bleiben. Er behauptet zwar, dass das Ereignis kein »innerweltliches
Faktum« ist, das dem Betroffenen gegenübersteht, sondern etwas, was ihn trifft, doch,
wenn er nicht das In-Sein aufdeckt, bleibt er beim Gegensatz vom Innen und Außen
und muss dann das Ereignis zu etwas Äußerem machen. Dass es so ist, zeigt sich auch
darin, dass für Romano das Ereignis ein Phänomen darstellt – seine Philosophie des
Ereignisses ist eine Phänomenologie.
183
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
220 Die Jähe des Ereignisses zum Beispiel: »Jeder Anfang ist ein Jähes.« (GdS, 27 f)
Oder später: »Steil aus seinem eigenen Wesen der Verborgenheit ereignet sich Seyn
in seine Epoche. Darum müssen wir beachten: Die Kehre der Gefahr ereignet sich
jäh.« (BV, 73)
221 Der Sturm und das Erblitzen des Seins: BPh, 300, 315, 409, 412; B, 64; BV, 74; ID,
120 ff.
222 Siehe auch: Der Anfall des Seins: BPh, 118, 260, 280, 375, 400.
223
Die Augenblicklichkeit des Seins: BPh, 118, 252, 260, 349, 384, 415.
184
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
Seienden? Wir können ja auch in Bezug auf das Seiende von einem
Augenblick sprechen – jedes Seiende ist in der Zeit und im Augen-
blick, es geht von einem Augenblick in den nächsten über. Aber das ist
genau der entscheidende Punkt: Der Augenblick des Seienden ist ein
Punkt auf der Zeitlinie, er ist nie allein, weil noch viele andere da sind,
er ist nie beendet in dem Sinne, dass nach ihm immer noch weitere
Augenblicke kommen. Der Augenblick des Ereignisses, von dem wir
hier sprechen, ist dagegen »vollendet«: Nichts ist vor ihm, nichts ist
nach ihm. Er ist grundsätzlich allein – das Ereignis ist wesentlich
durch, »Einzigkeit« 224 und »Einmaligkeit« 225 ausgezeichnet:
»Die Einzigkeit und Einmaligkeit des Seyns sind nicht angetragene Eigen-
schaften oder gar Folgebestimmungen, die sich aus dem Verhältnis des
Seins zur ›Zeit‹ ergeben könnten, sondern das Seyn selbst ist Einzigkeit,
Einmaligkeit, die je ihre Zeit, d. h. den Zeit-spiel-raum ihrer Wahrheit ent-
springen läßt.« (B, 128)
»Das Wort [›Ereignis‹ – L. P.] ist jetzt als Singulare tantum gebraucht. Was
es nennt, ereignet sich nur in der Einzahl, nein, nicht einmal mehr in einer
Zahl, sondern einzig.« (ID, 45) 226
Weil das Ereignis alleinig ist, weil es nur es selbst ist, ist es durch die
»Unvergleichlichkeit« 227 gekennzeichnet. Mit anderen Worten: Ein-
zig ist das, »was als dieses kein Anderes seinsgleichen kennt« (B,
328 f). Das Ereignis ist also »losgelöst« von allen Bezügen zu anderen
Dingen, und ist in diesem Sinne »absolut«. Es ist unvergleichlich und
deswegen absolut:
224 Die Einzigkeit des Ereignisses: BPh, 6, 62, 74, 77, 91, 97, 118, 122, 151, 177, 206,
221, 228, 249, 252, 255, 260, 314, 347, 375, 382, 385; B, 12, 50, 69, 96, 98, 113, 120,
128, 130, 235, 236, 241, 347; A, 123, 142; E, 48, 67, 88, 149, 150, 160, 161, 170, 177,
215, 285, 286, 302, 304, 318.
225
Die Einmaligkeit des Ereignisses: BPh, 151, 228, 385.
226 Um die Zeit des Ereignisses von einem individuellen Zeitpunkt in der Geschichte
zu distanzieren, unterscheidet Heidegger in einer Passage die Einzigkeit von der Ein-
maligkeit: »Das Einmalige ist nicht schon das Einzige im Sinne des Wesenhaften eines
Anfangs. / Das Einmalige gehört in das Vielmalige, wo von Mal zu Mal schon der
Bogen der Berechnung und Rechnung und Erkundung gespannt ist. / Das Einmalige
ist Gegenstand der Historie. Das Einzige aber ist die Einheit der Selbigkeit des je
anfangenden Anfangs.« (A, 188) Der Zeitpunkt ist einmalig, aber einmalig unter vie-
len. Das Ereignis ist dagegen einzig im Sinne von »alleinig«. Es gibt nicht dieses be-
sondere und dann noch dieses und jenes besondere Ereignis, sondern nur dieses Er-
eignis – nur es selbst.
227
Die Unvergleichlichkeit des Ereignisses: BPh, 252; E, 215.
185
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
228 Wir werden später sehen, dass auch Marion das Ereignis als losgelöst und absolut
charakterisiert.
229 Zur Seltenheit siehe auch: BPh, 118, 122, 231, 236, 255, 342, 347, 414; B, 99, 203,
233 Zum Inzwischen und Zwischen siehe: BPh, 26, 28, 86, 223, 263, 267, 285, 311, 312,
317, 322, 368, 371, 387, 415, 428; B, 22, 59, 83, 88, 94, 102, 108, 112, 117, 270; ÜM, 22,
30 f; A, 17, 76, 126; E, 79, 85, 133, 144, 183, 192, 210, 215, 222, 288, 331.
234 Die Mitte: BPh, 73, 223, 280, 289, 311, 312, 322, 331, 413, 414; B, 148.
235
Die Eröffnung: B, 109.
236 Das Offene, die Offenheit: BPh, 242, 259, 297, 306, 310, 333, 338 ff, 380; B, 109,
202; E, 13.
186
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
»Riß« 237 oder »Da« 238. Die Lichtung ist der Ort, wo das Ereignis der
Wahrheit des Seins geschieht:
»Die Lichtung ist die Wesung des Offenen, das Offene ist der Durchlaß des
Entgegen und Ankommen (Seienden) aus dem Seinslosen. / Die Lichtung
ist dann doch »leer«; so scheint es, wenn wir vergessen und nie bedacht
haben, daß die Lichtung lichtet und die Helle gibt und daß der Durchlaß
als Lassen eine, ja die Gewahr der Wahrheit ist. Die Ge-wahr gehört zum
Wesen der Wahrheit, sie ist ereignishaft.« (E, 208)
Die Wesung der Wahrheit schafft aber den ursprünglichen »Zeit-
Raum« bzw. »Zeit-Spiel-Raum« 239:
»Der Zeit-Raum als entspringend aus dem und gehörig zu dem Wesen der
Wahrheit«. (BPh, 371) 240
Dieses Entspringen geschieht so, dass die Wahrheit als das Aufkom-
men des Seienden verstanden wird. Sie ist die Erfahrung des Erschei-
nens, Verweilens und Verschwindens des Seienden, also gleichfalls
die Erfahrung der Zeit. Die Zeit gehört zur Wesung der Wahrheit:
»Zeit ist hier verhüllt erfahren als Zeitigung, als Entrückung und somit
Eröffnung; und sie west als solche im Wesen der Wahrheit für die Seiend-
heit.« (BPh, 191 f)
Mit seiner Dreidimensionalität eröffnet die Zeit den Raum:
»Die Zeit als entrückende-eröffnende ist in sich damit zugleich einräu-
mend, sie schafft »Raum«. Dieser ist nicht gleichen Wesens mit ihr, aber
ihr zugehörig, wie sie ihm.« (BPh, 192) 241
271, 272.
240 Der Zeit-Raum entspringt der Wesung der Wahrheit: BPh, 372, 375, 376, 377, 379,
dankengang in Zeit und Sein. Dort heißt es zuerst: »Zeit-Raum nennt jetzt das Of-
fene, das im Einander-sich-reichen von Ankunft, Gewesenheit und Gegenwart sich
lichtet.« (ZS, 18 f) Die Lichtung, das Offene ist also auch die Erfahrung des Zeit-Rau-
mes – man erfährt die Zeit in seiner Länge. Und dies gründet den Raum: »Erst dieses
Offene und nur es räumt dem uns gewöhnlich bekannten Raum seine mögliche Aus-
breitung ein. Das lichtende Einander-sich-reichen von Zukunft, Gewesenheit und
Gegenwart ist selber vor-räumlich; nur deshalb kann es Raum einräumen, d. h. ge-
ben.« (ZS, 19)
187
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Das Ereignis ist also seine eigene, nicht messbare Zeit; es schlägt an
einem nicht in der Welt auffindbaren Ort seinen eigenen Ort ein und
eröffnet einen Zeit-Raum, einen Raum, wo es geschieht und in den
man hineingeworfen wird, wenn man aus sich heraustritt. Es macht
durchaus einen Sinn, diese von Heidegger im Ereignis des Seins auf-
gedeckte Struktur auf andere mögliche Ereignisse zu übertragen. Es
geht also um den Anfang, Einschlag eines Ortes und Eröffnung eines
Raumes. Nehmen wir zum Beispiel die Liebe auf den ersten Blick.
Wenn der Liebende die geliebte Person sieht, eröffnet sich an dem
ansonsten üblichen Ort (sei es die Straße, der Hörsaal etc.) ein Riss,
durch den die geliebte Person eintritt. Dieser Ort des Eintritts wird
zur Mitte der Welt. Und es bricht ein anderer Zeit-Raum mit seinen
eigenen »Gesetzen« ein. Die geliebte Person steht im Zentrum, das
ganze Licht fällt auf sie, die anderen Menschen rücken von diesem
Zentrum ab in den Schatten, man selbst rückt aber näher, ohne sich
zu bewegen; aus sich selbst transzendieren, ohne jegliche Bewegung,
Intentionalität. Die Geräusche werden leise. Die Zeit steht still, ein
Augenblick dauert länger, diese Länge kann aber nicht ausgemessen
werden. Ewigkeit. In diesem vom Ereignis der Liebe verzerrten Zeit-
Raum geschieht die Begegnung der Liebenden. Doch es ist falsch, hier
von der »Verzerrung« zu sprechen – es ist einfach der Zeit-Raum des
Ereignisses, so wie er vom Ereignis in den alltäglichen Zeit-Raum
eingeschlagen wird. Es gibt keinen Grund, ihn mit dem physika-
lischen, geographischen, lebensweltlichen Zeit-Raum zu vergleichen
und dann als Verzerrung zu bezeichnen; er ist keine subjektive Illu-
sion oder Einbildung – er ist das Ereignis selbst. Das Ereignis ge-
schieht genau dann, wenn sich die Welt plötzlich anders strukturiert.
Das Ereignis geschieht nicht in der Zeit, sondern ist die Zeit – seine
Zeit. Das Ereignis geschieht nicht an einem Ort, sondern es ist sein
Ort, sein Zeit-Raum.
Wir stellen also fest, dass zur Logik des Ereignisses der Ort, der
Zeit-Raum und das In-Sein gehören. So lautet die These. In Bezug
darauf müssen aber einige zusätzliche Hinweise gemacht werden.
Erstens: Im letzten Abschnitt haben wir schon darauf hinge-
wiesen, dass Ort und Raum schon in Sein und Zeit thematisiert
werden, allerdings in einem ganz anderen Kontext. Sein und Zeit
behandelt die alltägliche Räumlichkeit des Zeugganzen und die all-
täglichen Plätze des Zeuges als im Dasein begründet – es gibt Raum,
weil das Dasein räumlich (weltlich) und, schließlich, weil es zeitlich
188
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
ist. 242 Es gibt Plätze, weil das Dasein sie einteilt. 243 Der Ansatz nach
Heideggers Kehre ist wesentlich anders – es geht hier nicht mehr um
die Begründetheit des Raumes im Dasein, sondern darum, dass das
Dasein in einen (ursprünglichen) Raum eingelassen wird. Aber genau
darin liegt ja die Heidegger’sche Kehre, dass der letzte Grund nicht im
Subjekt (und auch nicht im Objekt) zu finden ist, sondern im Ereig-
nis, wo sie beide erst möglich werden. Im Denken des Raumes spie-
gelt sich die Heidegger’sche Kehre wider. 244
Zweitens: Für die Logik des Ereignisses ist das Bedeutendste in
diesem Fall nicht die Verwandlung des Daseins vom Grund der
Räumlichkeit zum Gegründeten im Raum des Ereignisses, sondern,
dass das Ereignis als nicht Seiendes ein In-Sein fordert. Wir haben
absichtlich zuerst von Nicht-Seiendhaftigkeit des Ereignis gespro-
chen und danach vom In-Sein und von der Schaffung des Raumes.
Das Ereignis ist kein Gegenüber – es ist räumlich. Dies ist der ent-
scheidende Punkt. Weil es räumlich ist, befindet man sich an einem
Ort in ihm. Man kann auch sagen, dass das Ereignis ein Ort ist. Es ist
auf jedem Fall ein Wo. 245
242 »[…] das ontologisch wohlverstandene »Subjekt«, das Dasein, ist in einem ur-
sprünglichen Sinn räumlich. Und weil das Dasein in der beschriebenen Weise räum-
lich ist, zeigt sich der Raum als Apriori. Dieser Titel besagt nicht so etwas wie vor-
gängige Zugehörigkeit zu einem zunächst noch weltlosen Subjekt, das einen Raum
aus sich hinauswirft. Apriorität besagt hier: Vorgängigkeit des Begegnens von Raum
(als Gegend) im jeweiligen umweltlichen Begegnen des Zuhandenen.« (SZ, 111) Und:
»Dann muß aber auch die spezifische Räumlichkeit des Daseins in der Zeitlichkeit
gründen.« (SZ, 367)
243 »Die Plätze selbst werden dem Zuhandenen angewiesen in der Umsicht des Besor-
gens oder sie werden als solche vorgefunden. Ständig Zuhandenes, dem das umsich-
tige In-der-Welt-sein im vorhinein Rechnung trägt, hat deshalb seinen Platz.« (SZ,
103)
244 »Raum muß aber auch hier ursprünglich als Räumung begriffen sein (wie sich
diese in der Räumlichkeit des Da-seins anzeigen, aber nicht vollursprünglich begrei-
fen läßt).« (BPh, 192)
245
Man darf auf keinen Fall versuchen, diese Radikalität des Heidegger’schen Den-
kens, die die Philosophie zur Topologie werden lässt, indem sie den Ort denkt, zu
neutralisieren. Was zum Beispiel Pöggeler tut, wenn er schreibt: »Auch Heideggers
späte Denkversuche sind Topologie, d. h. sie sind eine Ortbestimmung, ein Sagen des
Ortes der Wahrheit des Seins anhand einer Stellen-Lese, einer Sammlung der Leit-
worte und Leitsätze abendländischen Denkens.« (Pöggeler(1983), 134) Das Denken
des Ortes (des Ereignisses als Ort) ist nicht »Sammlung der Leitworte und Leitsätze«,
es ist Verortung der Sammlung der Leitworte und Leitsätze, Verortung des Denkens,
radikales Verlassen eines intentionalen Denkens, das irgendwelche Leitworte und
Leitsätze denkt. Oder wenn Pöggeler schreibt: »Vielleicht ist das, was Heidegger die
189
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
»Lichtung« nennt, für das Denken, eine spekulative Mitte, die nur von den einzelnen
Punkten einer Peripherie her angegangen werden kann (von den unterschiedlichen
Sphären her, die sich aus der Lichtung ausgliedern), die sich zudem von jedem Punkt
der Peripherie her anders zeigt und sich in ihrer Dynamik immer auch entzieht.«
(Pöggeler(1983), 170) Die Lichtung ist nicht etwas, was »für das Denken« »sich zeigt«
und »sich entzieht«, sondern das, worin das Denken ist. Die Lichtung ist nicht ein
Thema der Philosophie, sondern ihr Ort. Deswegen ist sie undenkbar, und nicht des-
wegen, weil sie »abgründig« und »ungründig« ist: »Sofern das philosophische Fragen
ein Ausfragen nach einem verfügbaren Grund ist, die Lichtung oder Ortschaft der
Wahrheit des Seins aber als abgründig und ungründig erfahren wird, kann die Lich-
tung überhaupt nicht ›erfragt‹ werden.« (Pöggeler(1983), 162) Den Abgrund aber
kann man immer noch denken, nur nicht mehr, wenn er als Ort verstanden wird.
190
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
Wird aber die Lichtung wirklich als ein Ort verstanden bezie-
hungsweise wird die Lichtung von Anfang an als ein Ort verstanden?
Mit anderen Worten: Denkt Heidegger den Ort schon dann, wenn er
die Lichtung zu denken anfängt? Interessanterweise lässt sich daran
zweifeln. Es ist nicht ausgeschlossen, dass im späteren Ereignisden-
ken (d. h. am Ende der 40er Jahre und am Anfang der 50er Jahre) die
Lichtung als ein Ort gedacht wird, doch man muss ganz genau be-
obachten, wie die Lichtung im früheren Ereignisdenken Heideggers
gedacht wird – und dies eher implizit, nicht ausdrücklich. Die Lich-
tung als ein Ort und damit auch der Zeit-Raum, der um ihn schwebt,
befinden sich »nirgendwo«, oder auch »überall« 246 – überall in dem
Sinne, dass die Wahrheit überall dort wesen muss, wo ein Seiendes
ist. Wo auch immer ein Seiendes wahrgenommen, gezeichnet, ge-
dacht etc. wird, dort geschieht auch die Lichtung, wenn auch völlig
unbedacht. 247 Die so gedachte Lichtung ist noch kein Ort. Die ent-
scheidende Zuwendung zum Ort geschieht erst am Ende der 40er
Jahre – wenn Heidegger das Ereignis an einem bestimmten Ort bin-
det, der zwar auch erst vom Ereignis geschaffen wird und nicht ein
»realer« Ort ist, der aber konkret wird. Erst mit der Bestimmung der
Ortschaft des Ereignisses kann von einem Denken des Ortes die Rede
sein. Und man kann dann – zusammen mit Nitsche – in der Tat sagen,
dass mit so gedachtem Ort die Metaphysik überwunden ist. Wie?
Indem das Ereignis als eine Singularität gedacht wird – es ist das,
was hier und jetzt geschieht. Es ist eine singuläre Situation, in die
wir eingelassen sind und die uns nicht gegenübersteht. Hier gibt es
246 Noch 1949 sagt Heidegger: »Insofern die Gefahr das Seyn selber ist, ist sie nir-
gendwo und überall. Sie hat keinen Ort. Sie ist selbst die ortlose Ortschaft alles An-
wesens.« (BV, 72)
247 Auch Nitsche weist auf diese Eigentümlichkeit des frühen Begriffes der Lichtung
hin: »Die Betonung in dieser Bestimmung liegt darin, dass die Lichtung kein Raum
ist, in den das Seiende als etwas Anwesendes oder Erfahrbares hineintritt, sondern ein
Raum, der zwischen ihnen (quasi ›überall‹) west.« (Nitsche, 56; siehe auch: Nitsche,
57) Nitsche stellt auch fest, obwohl zum Beispiel in den Beiträgen von der Lichtung
die Rede ist, es – begrifflich gesehen – nicht um den Ort geht: »Im Text der Beiträge
wird von der Topologie gar nicht gesprochen, und auch das Wort ›Ort‹ fällt nur sel-
ten.« (Nitsche, 55) Damit ist uns gesagt, dass das Denken der Lichtung nicht gleich das
Denken des Ortes (Topologie) ist, wie das zum Beispiel Pöggeler versteht, wenn er
Heideggers Denkweg interpretiert: »Heidegger selber hat schließlich von drei ent-
scheidenden Phasen seines Denkens gesprochen: der Frage nach dem Sinn von Sein,
nach der Wahrheit als Geschichte oder der Seinsgeschichte, nach der Lichtung.« (Pög-
geler(1992), 139)
191
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
248 Es ist bemerkenswert, dass das Orts-Denken bei Heidegger mit der Konkretisie-
rung dessen, was sich ereignet, zusammenfällt. Es geht darum, dass das schlichte Er-
eignis der Wahrheit inhaltlich neue und vor allem viele Dimensionen gewinnt. Be-
sonders bekannt ist diesbezüglich das Denken des Gevierts, dessen Gefüge die Erde,
der Himmel, die Götter und die Sterblichen bilden. Das Ereignis der Wahrheit und das
Ereignis des Gevierts sind in der Tat dasselbe Ereignis: »Das noch verborgene Spiegel-
Spiel im Geviert von Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen weltet als Welt.
Die Welt ist die Wahrheit des Wesens von Sein.« (BV, 48) Doch als Geviert ausgelegt
ist das Ereignis der Wahrheit inhaltlich konkreter geworden. Ist das nur ein Zufall,
dass die Verortung des Ereignisses mit der Fülle dessen einhergeht? Wir vermuten
hier, dass dies kein Zufall, sondern eine Konsequenz ist.
192
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
Das Ereignis bricht als ein Augenblick ein. Es lässt etwas ankommen,
was davor nicht war. Es ist der Anfang. Doch als der Anfang kann es
grundsätzlich nur anfangen, es kann nur für einen Augenblick da
sein. Dieser Augenblick ist natürlich nicht feststellbar und er wird
nie zur Präsenz im Geist gebracht. Er ist ohne Ausdehnung, reine
Gegenwart, ohne Retention und Protention, bloße Vergänglichkeit.
Sehr viele ereignisphilosophische Überlegungen Heideggers sind ge-
nau diesem Aspekt des Ereignisses gewidmet.
So heißt es zum Beispiel, dass das »Wesen des Seyns« »Verwei-
gerung« (B, 57) ist. Während das Seiende als beständig Anwesendes
immer (relativ) da ist und sich sehen und begegnen lässt, verweigert
das Sein sich selbst. Während das Seiende sein Wesen zur Schau
stellt, nimmt das Sein sein Wesen zurück. Das Sein ist ursprünglich
– es ist für einen Augenblick da, dann nimmt es sich zurück und ver-
weigert sich:
»Das Seyn ist nie ein Seiendes; dieses Nicht-Seiende ist gegenüber allem
Seienden die Verweigerung, worin das Seyn sich in sein eigenstes Wesen
zurücknimmt und sich als den Ur-sprung anwinkt […].« (B, 58) 249
Die Verweigerung »ist etwas wesentlich anderes als bloße Abwesen-
heit« (BPh, 411) – sie ist die Weise, wie sich das Sein als ein Nicht-
Seiendes erfahren lässt. Das Sein lässt sich nämlich als das »Sichent-
ziehende« 250 erfahren. Es lässt sich nicht als das beständige Wesen
erfahren, sondern als solches, das sich solcher Erfahrbarkeit entzieht.
Jedes Ereignis lässt sich nur so erfahren, dass es sich dem Versuch, ein
Wesen in Bezug auf es zu denken, entzieht. Die Erfahrung des Ereig-
nisses besteht genau in der Spannung zwischen dem Begehren, es
einzufangen (weil sich etwas ereignet, weil doch etwas da ist), und
249 Die Verweigerung des Seins: BPh, 8, 20, 22, 27, 63, 91, 112, 128, 175, 228, 239, 244,
246, 280, 294, 405, 406, 411; B, 83, 84, 93, 96, 97, 112, 120, 130, 131, 135, 200, 203,
255, 277, 308, 311, 312, 313, 349, 358, 367; Ereignis, 227.
250 Das Sichtentziehende und der Entzug des Ereignisses: BPh, 8, 80, 91, 111, 241,
246, 293.
193
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
251 Das abschiedliche Wesen des Ereignisses: A, 15, 16, 18, 20, 25, 26; E, 129, 132,
147 f, 193, 194, 221, 234, 244, 247, 249, 250, 257, 277, 318.
252 Zur Verbergung des Seins siehe: BPh, 12,15, 80, 174, 252, 341, 342, 346, 385; E,
194
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
nis mehr, keinen Anfang mehr – der Anfang hat sich hinter dem Her-
vorgebrachten verborgen:
»Im Beginn des abendländischen Denkens wird das Sein gedacht, aber nicht
das »Es gibt« als solches. Dieses entzieht sich zugunsten der Gabe, die Es
gibt, welche Gabe künftighin ausschließlich als Sein im Hinblick auf das
Seiende gedacht und in einen Begriff gebracht wird.« (ZS, 12) 255
Deswegen sagt Heidegger auch, dass die »Er-eignung« »Ent-eig-
nung« ist (B, 319). Das Ereignis ist Enteignung, weil es sich vom An-
fangenden entzieht. Das Anfangende fängt zwar an, aber verliert sei-
ne Anfänglichkeit, seine Ereignishaftigkeit:
»Die Enteignung entzieht das Seiende der Zuweisung in den Anfang.«
(E, 165) 256
Wird die Ereignishaftigkeit des Anfangenden noch vermutet, dann
nur so, dass sie selbst zum Seienden, zu einem Wesen wird, zum Bei-
spiel in Gestalt einer Ursache, eines Schöpfers o. Ä. Wenn der Anfang
nur als ein (höheres) Wesen, d. h. Seiendheit gedacht wird, hat er sich
völlig entzogen:
»In diesem Wesen der Seiendheit ist erst dem Seienden das Anfängliche
völlig entzogen. Die Enteignung hat die Seinsverlassenheit des Seienden
ereignet.« (E, 166)
Das Einzige also, was nach dem Ereignis zurückbleibt, ist das Seiende,
sei es ein »übliches« Seiendes, sei es die Seiendheit als Grund des
Seienden. Und dieses Seiende erscheint so, als ob es nie durch den
Anfang angefangen hat:
»Was ist wovon verlassen? Das Seiende von dem ihm und nur ihm zugehö-
rigen Seyn. Das Seiende erscheint dann so, es erscheint sich als Gegenstand
und Vor-handenes, als ob Seyn nicht weste.« (BPh, 115) 257
der »Überschattung des Seins durch das Seiende« (B, 391) oder davon, dass das Seien-
de alles andere »übermächtigt« (BPh, 179), dass es den Anfang »verdunkelt« (A, 173).
In den Bremer Vorträgen heißt es: »Dies jedoch so entschieden, daß sogar die ἀλήθεια
selber als solche frühzeitig in die Verborgenheit zurückfällt und zwar zugunsten des
Anwesenden als solchen. Das Anwesende übernimmt den Vorrang gegenüber dem,
worin es einzig west.« (BV, 50)
256 Zur Enteignung siehe auch: B, 311, 367; A, 122; E, 122, 132, 164 ff.
257
Auch Marion in seiner Phänomenologie der Gegebenheit, die grundsätzlich als
Ereignis verstanden wird, weist auf diese Struktur des Ereignisses hin. Die Gabe des
Ereignisses entsteht nur dadurch, dass sie im und durch das Ereignis gegeben wird,
195
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Zur Logik des Ereignisses gehört also grundsätzlich, dass es sich ver-
weigert. Es gibt, fängt etwas an, zieht sich zurück – es »verlässt« das
Gegebene. Damit sind wir zum Begriff der »Seinsverlassenheit« in
Heideggers Philosophie gekommen. Dieses Begriffswort hängt mit
einem anderen, nämlich dem der »Seinsvergessenheit« zusammen.
Die Seinsvergessenheit ist nicht nur ein Begriffswort unter anderen
in Heideggers Philosophie, sondern zugleich auch die Diagnose der
Zeit, des Abendlandes, die Heidegger schon in Sein und Zeit aufstellt.
Laut ihm leben wir im Zeitalter der Seinsvergessenheit – wir interes-
sieren uns nur für das Seiende und erfahren und denken nie das Sein.
Was aber in Heideggers früher Philosophie als ein Fehlverhalten von-
seiten des Menschen gedeutet wird, wird später im Ereignisdenken
umge-kehrt – es kommt zur Seinsvergessenheit, weil es zur Seins-
vergessenheit kommen muss. Das anfängliche Ereignis wird verges-
sen, weil es so vor sich geht, dass das Sein als Ereignis das Seiende im
Ereignis verlässt, damit es seiend wird, damit seine Seiendheit voll
und ganz in den Vordergrund treten kann. Das Ereignis als Augen-
blick des Anfanges entzieht sich zugunsten dessen, was anfängt, und
deswegen wird es vergessen. Kurz:
»Seinsverlassenheit ist der Grund der Seinsvergessenheit.« (BPh, 114) 258
Der tiefste Grund dafür, warum die Geschichte der Philosophie und
des Abendlandes so verlaufen ist, wie sie verlaufen ist, liegt nicht in
der menschlichen Vergesslichkeit, sondern in der Logik des An-
fanges. 259 Diese Logik besagt, dass der Anfang sich entzieht, dass er
aber sie übernimmt die ganze Szene und lässt das Geben (oder den Geber) nicht mehr
hervortreten. Das Geben bleibt somit unsichtbar, und wenn es unsichtbar wird, kann
auch die Gabe nicht mehr als Gabe erscheinen, da sie nur im Geben durch den Geber
die Gabe ist. Die Gabe wird zum Besitz (so wie bei Heidegger das Seiende ohne das
Ereignis des Seins zum Vorhandenen wird): »Die gegebene Gabe als solche (der Ring)
nimmt auf Anhieb die ganze Sichtbarkeit in Beschlag und verurteilt den Geber dazu,
aus dem Bereich des Sichtbaren zu verschwinden. Infolgedessen findet nicht nur der
Bräutigam als Geber keinen Eingang mehr in das Phänomen der Gabe, sondern auch
das, was die Gabe als gegebene kennzeichnet, wird dadurch ausgelöscht: Der Ring
wird zum Besitz […].« (GG, 118 f/CN, 200)
258 Die Seinsvergessenheit aus der Seinsverlassenheit: BPh, 113, 115, 116, 219.
259 Zu dieser These siehe: BPh, 111; B, 219, 311; E, 111. 1949 heißt es: »Die ἀλήθεια
gerät in die Vergessenheit. Diese besteht jedoch keineswegs darin, daß nur ein
menschliches Vorstellen in der Erinnerung etwas nicht festhält, sondern Vergessen-
heit, das Entfallen in die Verborgenheit, ereignet sich mit der ἀλήθεια selbst zuguns-
ten des Wesens des Anwesenden, das innerhalb der Unverborgenheit anwest.« (BV,
50) Und weiter: »Aber menschliches Denken ist nur deshalb in solcher Vergeßlichkeit
196
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
sich nicht fortsetzt, dass er »untergeht« und dass alles, was uns bleibt,
sein Untergang ist, nämlich das verlassene Seiende:
»Das Wesen des Anfangs liegt nicht im Beginn, sondern verbirgt sich als die
unausgefaltete vorgreifende Entschiedenheit des Untergangs. Alles An-
fängliche fängt mit dem Untergang an. […] Was verbirgt der Anfang, in-
dem er sich verbirgt? Seinen – den in ihm als entschieden bereitgehaltenen
– Untergang. […] Der höchste Anfang verschließt in sich und fängt daher
an den tiefsten Untergang.« (B, 253) 260
Es ist die Logik des Ereignisses, die diesen Untergang des Anfanges
und damit den Untergang des Abendlandes »notwendig« und »un-
umgänglich« 261 macht. Es ist die »Notwendigkeit aus der Verweige-
rung des Seyns« selbst (B, 226) 262. Und diese Notwendigkeit ist der
Grund, warum das Sein als Ereignis vergessen wird. Mehr noch: Sie
ist der Grund, warum am (ersten) Anfang das Ereignis des Seins über-
haupt »ungefragt« 263, »unbedacht« 264, »unentschieden« 265 und »un-
gegründet« 266 bleibt:
»Der Ur-sprung des Seyns ist die Er-eignung seiner Wahrheit und die mit
ihr sich öffnende, aber noch unentschiedene Entscheidung zur Gründung
dieser Wahrheit oder gegen sie oder ohne sie. Die Versäumnis der Grün-
dung ist das notwendige Geschick des ersten Anfangs. Die Wahrheit ver-
schwindet nicht und kann nicht verschwinden, solange das Sein west und
Seiendes als ein solches ›ist‹. Aber die Wahrheit verirrt sich in die Irre des
Unwesens als Wahrheit im Sinne der Richtigkeit, und das Sein verliert sei-
nen Ursprung […].« (B, 67)
des Wesens des Seins, weil dieses Wesen selber sich als Vergessenheit, Entfallen in die
Verborgenheit, ereignet hat.« (BV, 50)
260 Der Anfang ist schon der Anfang des Untergangs: B, 12, 96, 223, 273, 397; A, 19,
21, 24, 25, 84; E, 67, 108, 113, 142, 147, 195, 221, 250, 278, 279, 280, 285, 301, 304.
261 Die Notwendigkeit und Unumgänglichkeit des Untergangs: BPh, 186, 297, 313,
263 Der Anfang bleibt ungefragt: BPh, 186, 297, 333; B, 334 ff; A, 141; E, 129.
266
Der Anfang bleibt ungegründet: BPh, 198, 358, 360; B, 95, 96, 110, 135, 154, 184,
323, 391; ÜM, 43, 73; GdS, 9, 24, 62; E, 13, 24, 25, 28, 29, 32, 56, 71, 124, 125, 127, 129,
260; NII, 418.
197
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Das Ereignis als der Anfang ist von Anfang an Untergang seiner
selbst. Gleich nach dem Anfangen zieht er sich zurück und überlässt
den Platz dem, was anfängt. Diese Bewegung des Anfangs in sich
selbst zurück ist der Grund, warum das Ereignis immer von seiten
des Menschen vergessen wird. Die Vergessenheit bedeutet aber den
Untergang einer möglichen Welt, einer Welt nämlich, die das Ereig-
nis bewahren könnte. Auf den ersten Blick scheint es also, dass das
Vergessen des Ereignisses grundsätzlich etwas Negatives an sich hat.
Man könnte denken, dass die Seinsvergessenheit bekämpft werden
muss, was auch Heidegger in seiner Frühphilosophie und dann in
Sein und Zeit versucht. Doch in seiner späteren Philosophie finden
wir einen doppelten Begriff der Seinsvergessenheit, der aus dem Be-
denken des Ereignisses und seiner Logik entsteht und das rechte Ver-
hältnis zum Ereignis thematisiert. Es gibt einerseits die Vergessenheit
im üblichen Sinne des Wortes, wenn etwas ganz einfach außer Acht
gelassen wird. Es geht in diesem Fall um das »Nichtbedenken des
Seyns« (B, 219). Solches Nichtbedenken ist in der ganzen metaphysi-
schen Tradition charakteristisch. Sie denkt nur das Seiende und das
Sein auch als das Seiende – als den Grund des Seienden, nämlich als
die Seiendheit. Für die Vergessenheit des Ereignisses in der Metaphy-
sik ist es wesentlich, dass auch sie selbst vergessen wird – es geht um
die Vergessenheit des Vergessens. 267 Die Metaphysik weiß nichts da-
von, dass sie etwas vergessen hat.
Doch die Vergessenheit des Seins in der Metaphysik, wo etwas
bloß aus der Erinnerung verschwunden ist, gilt als »gleichgültig« und
»oberflächliche« (B, 219). 268 Sie ist gleichgültig und oberflächlich in
dem Sinne, dass ihr das Vergessen und das Vergessene nicht als etwas
Besonderes erscheint. Sie regt sich über ihre Vergesslichkeit nicht
auf: Es ist normal, dass man sich nicht an alles erinnern kann. Und
sie ist oberflächlich, weil es für sie keine große Sache ist, sich an etwas
wieder zu erinnern, es zu vergegenwärtigen und zu denken, wenn es
schon aus der Vergessenheit geholt werden soll. Es scheint leicht zu
sein, etwas wieder zu vergegenwärtigen, was vergessen worden ist,
was sich entzogen hat und nicht festgehalten wurde. Das vorstellende
Denken macht dies schließlich ständig. Es ist an sich die Vergegen-
267 Zur Vergessenheit des Vergessens siehe zum Beispiel: BPh, 114; B, 217; BV, 75.
268
Siehe auch: B, 217, 218.
198
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
wärtigung von dem, was war. Es ist an sich die Erinnerung. Die Frage
ist, ob diese Art Erinnerung dem Ereignis gemäß ist. Und wenn nicht
– welcher ist der richtige Bezug zum Ereignis, welches ist das Denken,
das das Ereignis denken kann? In den vorherigen Abschnitten haben
wir schon gesehen, dass das Ereignis kein vorstellendes Denken, son-
dern der Austrag ist, der seinerseits nicht mit einem Erlebnis zu ver-
wechseln ist. Wir haben gesehen, dass das Ereignis das Sich-Befin-
den-In, das Mitten-Drin in einem Geschehnis ist. Und wir haben
behauptet, dass dieses Geschehnis nicht als vorstellbarer Prozess zu
deuten ist. Und im vorherigen Abschnitt haben wir gesehen, dass
dieses Geschehnis grundsätzlich Verweigerung ist. Die Verweigerung
ist die Verweigerung, zu einem Wesen, zu einem vorstellbaren Seien-
den zu werden. Sie ist nicht Abwesenheit, als ob es nichts gäbe. Es
ereignet sich etwas, bloß weigert es sich, zu einem Wesen zu erstar-
ren. Wir haben es hier also mit einer doppelten Bewegung zu tun,
nämlich mit dem Ereignis als »sich selbst verweigernde[r] Zuwei-
sung« (B, 99) 269 – das Ereignis verweigert sich, aber weist sich auch
zu. Genauer gesagt: Es ist die Zuweisung, die sich verweigert. Diese
sich weigernde Zuweisung ist das, was vergessen wird, weil sie sich
entzieht und untergeht. Aber kann man eine Verweigerung, weil sie
sich auch zuweist, wieder vergegenwärtigen, als ob sie ein Beständi-
ges wäre, dem man immer begegnen kann, das man im Denken als ein
Wesen bewahren kann? Natürlich nicht. Deswegen ist das rechte Ver-
hältnis zum Ereignis nicht die Erinnerung, sondern das Vergessen.
Aber nicht das oberflächliche Vergessen, das nicht um sich selbst
weiß, das nicht versteht, dass die Vergessenheit zur Wesung des Er-
eignisses gehört und das leicht in die Einholung des Vergessenen um-
schlägt, sondern die »ab-gründige Vergessenheit« (B, 217):
»Die Seynsvergessenheit. Sie ist die ab-gründige (d. h. dem Seyn zugekehr-
te) Vergessenheit. Was in ihr vergessen (in einem ausgezeichneten Unbe-
halten behalten) bleibt, ist zunächst Jenes, was ständig im Seinsverständnis
behalten wird und vor allem anderen in einem eigentümlichen Behalt ver-
wahrt bleiben muß […]. Die Zugehörigkeit in die Wahrheit des Seyns und
ihr zufolge die Ausgesetztheit in das Seiende gründet mit in einer Verges-
senheit des Seins.« (B, 217)
Das abgründige Vergessen weiß, dass das Ereignis nicht vorstellbar,
vergegenständlicht und festhaltbar ist, es weiß, dass das Ereignis die
269
Zu diesem Charakteristikum siehe: Besinnung, 237, 248, 295, 312.
199
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
270 Dazu siehe zum Beispiel folgende Stelle: »West aber das Seyn als die Verweige-
rung und soll diese selbst in ihre Lichtung hereinragen und als Verweigerung bewahrt
werden, dann kann die Bereitschaft für die Verweigerung nur als Verzicht bestehen.
Der Verzicht ist hier jedoch nicht das bloße Nichthabenwollen und Auf-der-Seite-
lassen, sondern geschieht als die höchste Form des Besitzes, dessen Hohheit im Frei-
mut der Begeisterung für die unausdenkbare Schenkung der Verweigerung die Ent-
schiedenheit findet.« (BPh, 22 f) Siehe auch: BPh, 62.
271 Zum seinsgeschichtlichen Denken als Erinnerung in den ersten Anfang und Vor-
denken in den anderen Anfang siehe zum Beispiel: A, 97, 174; NII. 448.
200
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
denkt nie ›über‹ den Anfang, als sei die Aussage ›über‹ das Wesen des An-
fangs sein Wesentliches -; die Bereitschaft zur Über-eignung in das Er-eig-
nis ist das Einzige.« (A, 141)
In der seinsgeschichtlichen Erinnerung ist das Ereignis nicht an-
wesend als das Beständige. Die Erinnerung ist die Bereitschaft zum
Kommen und Abschied des Ereignisses. Sie ist somit das Verlassen,
das Vergessen der beständigen Anwesenheit, weil das Ereignis Ver-
weigerung ist. Produziert das vorstellende Denken das Wesen, an
das es sich ständig erinnern kann, besteht das erinnernde Denken
des Ereignisses im Vergessen jedes Wesens, das immer vorhat, sein
eigenes Ereignis zu beschatten. Das Ereignis besteht darin, dass
immer ein Wesen anfängt, von dem es sich verabschiedet, und sich
dem Denken entzieht. Das erinnernde Denken des Ereignisses liegt in
ständiger »Destruktion« des vom Ereignis selbst produzierten We-
sens. 272 Nur so werden Unbehalten, Nichtwissen und Verzicht des
Ereignisses gewährleistet. Die abgründige Seinsvergessenheit be-
wahrt den Abschied des Ereignisses, indem sie jedes Wesen vergisst
und nichts behält. Wir reden von einem Denken, das nichts hat,
nichts.
Wir haben zuerst das Denken des Ereignisses als Austrag und
Austrag als den Abgrund bestimmt, in dem die Unruhe, Fragwürdig-
keit, Schutzlosigkeit erfahren werden. Wir haben darauf hingewie-
sen, dass diese Erfahrungen daraus entstehen, dass man es mit einem
Nicht-Seiendem zu tun hat. Bestimmen wir jetzt das Denken als Ver-
gessen, vergessendes Nichtvergessen, vergessende Erinnerung so sagt
dies: Das Denken ist das Vergessen des Wesens, wenn man nichts hat,
an dem man sich festhalten kann – »nichts Bildhaftes, nichts, was dem
Greifen und Handhaben unmittelbar faßlich sein könnte« (E, 236).
»Dies ist die anfängliche Armut.« (E, 236) Aber genau dieses abgrün-
dige Vergessen bewahrt das abschiedliche Wesen des Ereignisses. Der
Anfang wird im Vergessen ausgetragen. 273
272 »Das seynsgeschichtliche Denken ist das untergängliche Denken. Es denkt aus
aufdeckt. Er bestimmt das Ereignis als »eine Vergangenheit, die niemals Gegenwart
war«. Das heißt, dass das Ereignis nie präsent ist, sondern schon immer vergangen.
Was aber nicht präsent gewesen ist, kann auch nicht in Erinnerung zurückgerufen
werden – es ist absolut vergangen, es ist wesentlich in Vergessenheit geraten. Die
Vergangenheit bzw. die Vergessenheit ist der Modus, in dem das Ereignis als Ereignis
201
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Das Ereignis bricht ein, es schlägt wie ein Blitz ein. Es bricht die Zeit
und räumt seinen eigenen Ort ein, es fängt etwas an. Es scheint, dass
das Ereignis etwas Mächtiges sei. In der Tat spricht Heidegger von der
»Herrschaft« des Ereignisses (oder sogar von seinem »Königtum«
(E, 168)), die er aber der »Macht« entgegensetzt. Genauer gesagt:
Heidegger setzt die Herrschaft dem Verhältniszusammenhang von
Macht und Ohnmacht im Allgemeinen entgegen und spricht statt-
dessen von der »Machtlosigkeit« des Ereignisses des Seins, die eigent-
lich das Jenseits der Machtverhältnisse bedeutet:
»Das Seyn ist in seinem Wesensgrund niemals Macht und daher auch nie
Ohnmacht. Nennen wir es dann das Macht-lose, so kann dies nicht meinen,
das Seyn entbehre die Macht, vielmehr soll der Name andeuten, daß das
Seyn seinem Wesen nach losgelöst bleibt von der Macht. Dieses Macht-lose
ist jedoch Herrschaft, aber Herrschaft im anfänglichen Sinne bedarf nicht
der Macht; sie waltet aus der Würde, jener einfachen Überlegenheit der
wesenhaften Armut, die eines Unter-sich und Gegen-sich nicht bedarf, um
zu sein und jegliche Abschätzung auf ›groß‹ und ›klein‹ hinter sich gelassen
hat.« (B, 192 f) 274
Das Ereignis des Seins ist also »machtlos« und trotzdem herrscht und
»waltet« es – »aus der Würde«, wie Heidegger hier schreibt, wobei die
Würde des Seins mit seiner Frag-würdigkeit in Zusammenhang ge-
bracht wird 275. Das Sein wird gewürdigt, wenn es nicht als ein Ding
behandelt, sondern in seiner Verweigerung gelassen wird. Wenn es
begehrt und nicht besessen wird. Wie ist aber diese machtlose Herr-
schaft zu deuten? Die Macht wird bei Heidegger mit der gewalttäti-
gen Unterbindung zusammengebracht. 276 Als solche ist die Macht
durch die Wirksamkeit möglich – das, was wirksam ist, was etwas
bewirken kann, ist mächtig, hat die Macht:
west. Die Gegenwart bzw. die Erinnerung als Ver-gegenwärtigung ist nie der Modus
des Ereignisses.
274 Zur Unterscheidung von Macht und Herrschaft und zur Machtlosigkeit des Seins
aus seiner Würde siehe: BPh, 47, 76 f, 282; B, 23, 52, 83, 96, 97, 112, 130, 135, 139,
187 f, 192, 193, 200, 219.
275
Die Würde und Fragwürdigkeit des Seins: BPh, 5, 57, 76; B, 276, 338; E, 138, 168,
196, 201, 241 ff, 248, 249, 328.
276
Siehe zum Beispiel: B, 16 f, 19.
202
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
277
Zur Wirkungsunbedürftigkeit des Seins siehe auch: B, 63, 83, 352.
278Zum Zusammenhang von Verweigerung und Machtlosigkeit siehe: B, 101, 136,
200, 203.
203
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
die Struktur, dass es immer noch da ist und wirkt, auch wenn es vergessen worden ist.
Romano schreibt diesbezüglich: »Les événements ayant-eu-lieu, qu’ils soient oubliés
ou non comme faits, n’en continuent pas moins à faire sens pour l’advenant, qu’il
puisse se rapporter à ce sens pour le comprendre ou que celui-ci demeure enfoui se
dérobant à lui et structurant son aventure elle-même à son »insu«. Le sens, en effet,
n’a pas à être thématique […].« (ET, 217)
204
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
des Seins, die, ereignishaft erfahren, als die Enteignung sich offenbart. So
ist die Nähe des Seins unausweichlich. Sie muß daher auch noch in der
Seinsverlassenheit erscheinen und in der Verhüllung sich bekunden.«
(E, 79)
Für das Ereignis des Seins bedeutet die stille Herrschaft, dass auch
dann, wenn der Anfang sich zurückzieht und in die Vergessenheit
geriet und die ganze Macht dem Seienden überlässt, immer noch das
Seiende als Seiendes herrscht – überall, wo das Seiende ist, west sein
Anfang als Aufgehen in die Sichtbarkeit. Überall, wo eine Beziehung
gepflegt wird, west die erste Begegnung. Überall, wo es religiöse
Streitigkeiten gibt, west die Offenbarung Gottes als die anfängliche
Ermöglichung jedes religiösen Streites unter den Menschen.
Das Ereignis ist der Augenblick des Einfalles, der sich sofort entzieht.
Es ist machtlos und behauptet sich nicht gegenüber dem Seienden,
sondern lässt es mächtig werden. Doch das Ereignis ist auch unwider-
ruflich geschehen und etwas mit sich gegeben, etwas ermöglicht, in
dem es als sein Anfang unmerklich herrscht – der anfängliche Augen-
blick gründet eine Geschichte. 282 Diesbezüglich spricht Heidegger
vom Ereignis als »Grund der Geschichte« (B, 92) oder »Augenblick
der Geschichte« (B, 98). Das Ereignis ist das, »dem jede künftige Ge-
schichte entspringt« (BPh, 23), es ist die »ursprüngliche Geschichte
selbst« (BPh, 32):
»Sein ›ist‹ der Anfang und also Geschichte / (die Seynsgeschichte).«
(A, 175) 283
282
Jedes Ereignis gründet eine Geschichte. Die Metaphysik ist die Geschichte des
Ereignisses des Seins. Das Ereignis lässt das Seiende sein. Das Seiende kommt zum
Vorschein. Das Ereignis entzieht sich. Das Seiende übernimmt die ganze Szene. Die
Metaphysik entsteht durch das Aufkommen des Seienden – sie als das Denken des
Seienden wird durch das Ereignis in Gang gesetzt. Durch seinen Entzug setzt das
Ereignis aber noch einen Prozess in Gang, nämlich die Seinsvergessenheit. Die Meta-
physik denkt nur das Seiende und so erhält es seine Machtstellung vor dem Ereignis
aufrecht. Die Metaphysik ist die »Vormacht des Seienden« (NI, 429). »Die Metaphy-
sik denkt das Seiende im Ganzen nach seinem Vorrang vor dem Sein.« (NI, 430)
283
Bereits zitiert im Teil I. Siehe auch: A, 64, 171; NII, 447. Jedes Ereignis eröffnet
wesentlich eine Geschichte. Diesen Strukturmoment der Logik des Ereignisses be-
hauptet auch Romano, wenn er zum Beispiel schreibt: »Ainsi, une rencontre ne serait
205
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Weil das Ereignis der Anfang ist, fängt es etwas an, ist Geschichte.
Dies bedeutet, dass mit dem Einbruch des Ereignisses als dem Anfang
ein Horizont bestimmter nacheinander folgender Möglichkeiten
(»Epochen« 284) eröffnet wird. Es geht darum:
»[…] was der Anfang, vorspringend seiner Geschichte, als Möglichkeiten
setzt und entscheidet.« (B, 223) 285
Das Ereignis gründet also nicht irgendeine Geschichte, sondern seine
– es ist seine Geschichte und die Geschichte ist ihr anfängliches Er-
eignis. 286 Das, was der Anfang gibt, ist von ihm beherrscht, »folgt«
ihm, »ahmt« ihn »nach«:
»Bedenken wir, daß einmal erst in der Geschichte des Seins dieses selbst
Anfang wurde und ist und die Geschichte doch nur eine Nachfolge und
Nachahmung des Anfangs […].« (B, 130)
Im welchen Sinne ahmt die Geschichte den Anfang nach? Indem sie –
welche Gestalt sie auch annehmen würde – an sich das trägt, was sich
am Anfang ereignet hat. Die Geschichte kann (und muss) den Anfang
vergessen, aber trotzdem wiederholt sie die Möglichkeit, die vom An-
fang geschaffen worden ist:
pas une rencontre si elle n’ouvrait un destin ultérieur, si elle ne trouvait son prolon-
gement dans une histoire et s’épuisait dans l’initial face-à-face.« (ET, 178) Man kann
wirklich soweit gehen, dass man behauptet, dass das, was keine Geschichte hat, kein
Ereignis gewesen ist. Die »Geschichte« muss hier aber im breiten Sinne verstanden
werden. Eine Begegnung zum Beispiel hat die Geschichte nicht nur dann, wenn sie zu
einer langjährigen Beziehung wird, aber auch dann, wenn sie den Begegnenden einen
besonderen Moment ihres Lebens ausmacht – eine solche Begegnung ist dann ein
Ereignis, weil sie das Leben der Betroffenen verändert, mitkonstituiert und deswegen
nicht aus dem Leben wegzudenken ist. Wenn sie aber in der Zukunft nach der augen-
blicklichen Begegnung nicht mehr wegzudenken ist, ist sie eine Geschichte – sie ver-
längert sich in die Zukunft, lebt weiter in der Auseinandersetzung der Betroffenen
mit diesem Moment.
284
»Inwiefern ist dann Entbergung Geschichte? Weil die Lichtung des Seyns das We-
sen der Geschichte erfüllt, die dem Er-eignis entstammt und als dieses je das Wesen
der Wahrheit entscheidet und mit dieser Entscheidung eine ›Zeit‹ anhält und ›Epo-
chen‹ gründet, die verborgener wesen und geschieden sind als die Zeitalter der
›Welt‹geschichte.« (E, 19)
285 Für Romano ist das Ereignis »possibilisation« (EM, 61), da es die Möglichkeiten
eröffnet, sie möglich macht. Es ist an sich schon Fülle, »Reserve an Möglichkeiten«
(réserve de possibilités) (ET, 178).
286 »Die Geschichte des Seins ist selbst Ereignis und alles in ihr ereignishaft.« (A, 173)
206
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
»Sogar in der Seinsvergessenheit der Metaphysik, der gemäß sie die Wahr-
heit des Seyns und in ihr das Seyn selbst nie erfahren kann, west noch das
erstanfängliche Wesen des Seins.« (E, 105) 287
Das anfängliche Ereignis gründet seine Geschichte, die es bewusst
oder unbewusst wiederholt, indem sie von ihm beherrscht bleibt.
Man kann aber auch umgekehrt denken: Nicht nur jedes Ereignis
hat seine Geschichte, sondern auch jede Geschichte ihren Anfang.
Keine Geschichte ist lose, sondern immer an einem Horizont der
Möglichkeiten gebunden.
Doch die Geschichte ist nicht bloß ein Haufen verschiedener ver-
wirklichter Möglichkeiten – sie ist zusammengefügt. Zusammenge-
fügt aber nicht so, dass jede Etappe notwendig zu der nächsten führt,
sondern durch die Zugehörigkeit zum Anfang. Der Ablauf der Ge-
schichte ist also nicht determiniert und vorhersehbar, aber trotzdem
auch nicht zufällig, sondern zugehörig:
»Nach dem so zu denkenden Sinn von Geben ist das Sein, das es gibt, das
Geschickte. Dergestalt geschickt bleibt jede seiner Wandlungen. Das Ge-
schichtliche der Geschichte des Seins bestimmt sich aus dem Geschickhaf-
ten eines Schicken, nicht aus einem unbestimmt gemeinten Geschehen. /
Seinsgeschichte heißt Geschick von Sein. […] Die Folge der Epochen im
Geschick von Sein ist weder zufällig, noch läßt sie sich als notwendig er-
rechnen.« (ZS, 12 f)
Wenn man also an einem Punkt in der Geschichte steht, so kann man
nicht den nächsten Punkt errechnen oder erklären, wie der vorherige
Punkt zu dem jetzigen gekommen ist, aber man kann alle Punkte aus
einem Ursprung kommend sehen. 288 Mehr noch: Bestimmt man die
Epochen einer Geschichte als aus einem Anfang kommend, so kann
man behaupten, dass sie sich, zuerst zeitlich gesehen, vom Anfang
287
In der Geschichte sind immer noch die Spuren des Anfangs spürbar: E, 104, 105,
106, 125. Genau in diesem Kontext ist zum Beispiel die Behauptung zu verstehen,
dass »das Ge-Stell«, das, wie bekannt »die vollendete Vergessenheit der Wahrheit
des Seins« (BV, 53) verkörpert, »das Sein selber« ist (BV, 52).
288 »Die Geschichte des Seyns kennt keine Abfolge; die Fügung der Geschichte des
Seyns ist anfänglich und in den Anfang zurück. Wo wir die Entwindung und den
Fortgang zur Metaphysik erfahren, da ist dieses nicht Aufeinanderfolge von Stadien.
Solches findet nur die historische Nachrechnung, die zuvor alles auf das Erklären
gestellt hat, welches Erklären auch schon das bestimmt, woraus und wie abgeleitet
wird. Die Historie kann nicht und nie das Anfängliche denken. Die Geschichte des
Seyns ›ist‹ zumal stets der Anfang. Und der Anfang ist eh und je in jedem, was uns
zunächst, bei der Bekanntmachung, wie eine Phase eines Ablaufes vorkommt.« (E, 76)
207
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
289Die Notwendigkeit(en) der Geschichte des Seins: BPh, 205, 208, 221; B, 283.
290Dazu siehe auch: »Der Wink dahin, daß solche Verweigerung sich ereignet, ver-
birgt sich im Geschick des Seins, welches Geschick sich in die Epochen der Seinsver-
gessenheit fügt, so zwar, daß diese Epochen gerade als diejenigen der Entbergung des
Seienden in seiner Seiendheit die abendländische Geschichte bestimmen bis in ihre
heutige Entfaltung zur planetarischen Totalität.« (BV, 51)
208
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
Unvorhersehbar bricht das Ereignis in die Welt ein und gibt der
Menschheit eine Gabe – die Möglichkeit, das Sein zu verstehen, die
Möglichkeit in der offenen Lichtung zu stehen und den Abgrund zu
ertragen. Eine solche Möglichkeit ist nicht natürlich, sie entspringt
nicht den Gesetzen der Natur, sondern wird dem Menschen von
außen geschenkt, sodass er das Natürliche verlässt und zum Dasein
wird.
Die vom anfänglichen Ereignis ausgelöste Geschichte (für Hei-
degger ist das die Metaphysik als das Denken der Seiendheit) ist
ebenfalls kein natürlicher Vorgang, sondern daseinsmäßige Fortset-
zung und Auseinandersetzung mit dem im Anfang Gegebenen. Der
Verlauf dieser Geschichte folgt keinen Vorgaben der Natur. Dies be-
deutet nicht, dass deswegen die Ereignisse der Geschichte zufällig
sind. Nein, sie folgen einer anderen Logik – der Logik des Ereignis-
haften. Wir haben schon zwei Notwendigkeiten der Seinsgeschichte,
die aus dieser Logik entspringen, erwähnt. Erstens ist die Geschichte
des Abendlandes die Geschichte der Seinsvergessenheit. Zweitens
vergisst jedes weitere Zeitalter das Sein mehr als das Vorherige.
Es gibt aber noch eine weitere Notwendigkeit – die Notwendig-
keit des anderen Anfangs. Es ist schon seit dem ersten Anfang (für
Heidegger steht ganz in der Nähe des ersten Anfangs das Denken von
Anaximander, Heraklit und Parmenides) 291 entschieden, dass
»[…] der andere Anfang des Denkens immer nur das Geahnte aber doch
schon Entschiedene bleibt.« (BPh, 4) 292
Es geht also um einen zweiten Anfang nach dem ersten. Man könnte
denken, dass, wenn Heidegger von dem anderen Anfang spricht, dann
von einem anderen diskreten Anfang spricht. So ist es aber nicht. Der
andere Anfang steht im unzertrennlichen Verhältnis zu dem ersten –
291
Siehe auch: E, 55, 56, 61,
292 Der andere Anfang ist die Notwendigkeit des ersten Anfangs: BPh, 169, 328; E,
84 f, 110; NII, 444.
209
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
er ist der andere gegenüber dem ersten, sie beide gehören zu demsel-
ben Ereignis, sie sind dasselbe Ereignis (allerdings nur im anderen
Anfang):
»Der erste und der andere Anfang sind nicht zwei verschiedene Anfänge.
Sie sind das Selbe – aber sind es jetzt im Inzwischen, das sich als Vorbeigang
dem Erfahren öffnet.« (E, 28)
Der erste und der andere Anfang sind nicht »das Selbe«, weil an ihnen
beiden das Selbe geschieht, sondern weil sie zusammengefügt durch
das Gesetz des Ereignisses sind – zum ersten Anfang gehört der an-
dere und der andere ist der andere, weil der erste gewesen ist. 293 Noch
genauer: Der erste Anfang schickt das, was zu seinem Anfang unge-
dacht, unangefangen bleibt und erst im anderen Anfang anfangen
kann, allerdings nur deswegen, weil der erste Anfang es vorher ge-
geben hat:
»Was der erste Anfang ist; was der Anfang ist; was der andere. Der andere
Anfang ist die Anfängnis des unangefangenen (d. h. ersten Anfangs).«
(E, 29) 294
»Der erste Anfang bedarf des anderen, sonst wäre er nicht der erste. Doch
dieses Bedürfen ist nicht ein Mangel, sondern der unausgetragene Reich-
tum des Ersten, das einzig die Vor-läufigkeit des Anfangs in sich birgt.«
(E, 67 f.)
Der erste Anfang bleibt nicht nur deswegen ungedacht und un-
gegründet und geriet in Vergessenheit, weil er sich entzieht, sondern
auch, weil er das gibt, was für die Zukunft bestimmt ist – er ist »vo-
rausgreifend«, niemand kann jetzt begreifen, was er gibt, bevor er in
der Geschichte seine Möglichkeiten gezeigt hat. 295 Erst nachdem der
293 Heidegger sagt oft, dass etwas »das Selbe« wie etwas anderes ist. Die Selbigkeit
denkt er nie als Identität: »Allein das Selbe ist nicht das Gleiche. Im Gleichen ver-
schwindet die Verschiedenheit. Im Selben erscheint die Verschiedenheit.« (ID, 55) Er
denkt sie als Zugehörigkeit zu einander: »Wir legen die Selbigkeit als Zusammen-
gehörigkeit aus.« (ID, 36)
294 Zur These, dass erst im anderen Anfang der erste anfängt und erfahrbar wird,
siehe auch: BPh, 128, 186, 187; GdS, 28; E, 27, 28, 30, 56, 68, 87, 96, 116, 137, 206,
228, 307.
295 Auf diesen Strukturmoment weist auch Romano hin, wenn er von »Aufschub«
(sursis) (ET, 179) der Bedeutung des Ereignisses spricht. Das Ereignis an seinem An-
fang gibt Bedeutungen, die sich erst später in der Geschichte entfalten. In diesem
Sinne ist das Ereignis »prospectif« (ET, 179). Das Ereignis gibt also die Möglichkeiten,
die für die Zukunft vorbehalten sind.
210
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
296 Genau wegen dieser in den früheren Abhandlungen zum Ereignis herausgearbei-
teten Logik, kann Heidegger später – 1957 – sagen: »Sie [Geschichte – L. P.] ist An-
kunft des Gewesenen.« (ID, 130) Die Geschichte als Entfaltung des ersten Anfangs,
der unbemerkt blieb, lässt ihn irgendwann in der Zukunft noch einmal ankommen.
Auch Badiou wird später sagen, dass das Ereignis wesentlich eine »Zwei« (Deux) (SE,
239/EeE, 233) ist, was nichts anderes heißt, dass es das ist, was absolut anfängt und
nicht erfasst wird, und das, was später als Ereignis benannt wird.
297 »Was meint aber dann ›Ende der Metaphysik‹ ? Antwort: den geschichtlichen Au-
genblick, in dem die Wesensmöglichkeiten der Metaphysik erschöpft sind.« (NII, 179)
Auch Romano definiert das Ende einer Geschichte auf diese Weise: »[U]ne histoire est
›finie‹, non pas quand sont complets les faits qui la composent, mais quand elle a
épuisé ses possibles intrinsèques […].« (ET, 297) Romano – im Gegensatz zu Heideg-
ger – schließt allerdings daraus nicht, dass nach dem ausgeschöpften Ereignis notwen-
digerweise ein anderes Ereignis kommen muss. Und es ist überhaupt fraglich, ob man
eine Regel für das Ankommen des Ereignisses aufstellen kann, wie Heidegger dies tut,
und ob die Ereignisphilosophie damit nicht in die Metaphysik zurückfällt.
211
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
298 Aus der Not (des Seins) entsteht die Notwendigkeit (sich an den ersten Anfang zu
erinnern): BPh, 28, 45, 46, 96, 97, 99, 412; B, 41, 307; E, 166, 177.
299 Für Heidegger ist das Ende und die Vollendung der Metaphysik die Philosophie
Nietzsches. Wie aber ist genau Nietzsche der letzte Pfosten der Metaphysik? Weil er
den Gedanken vom »Willen zur Macht« entwickelt hat: »Im Gedanken des Willens
zur Macht vollendet sich zuvor das metaphysische Denken selbst. Nietzsche, der Den-
ker des Gedankens vom Willen zur Macht, ist der letzte Metaphysiker des Abend-
landes.« (NI, 431) Was denkt dieser Gedanke? Zuerst muss er im Kontext des Wert-
gedankens begriffen werden: »Der Wertgedanke ist ein notwendiger Bestandstück der
Metaphysik des Willens zur Macht.« (NII, 83) Der Wert ist das, was als der Grund für
ein Gegründetes verstanden wird: »›Wert‹ ist dann nur ein anderer Name für ›Bedin-
gung‹ der Möglichkeit« […].« (NII, 208) Der Wert ist zwar die Bedingung, er wird
aber selbst gesetzt, nämlich durch den Willen zur Macht: »Nietzsche bestimmt das
Wesen des Wertes dahin, Bedingung der Erhaltung und Steigerung des Willens zur
Macht zu sein, so zwar, daß diese Bedingungen vom Willen zur Macht selbst gesetzt
sind.« (NII, 207) Dies ist der entscheidende Punkt: Der vermeintliche Grund wird
selbst gesetzt – der Wert bedingt den Willen, aber er ist selbst vom Willen gesetzt.
Darin liegt auch Nietzsches »Umwertung« – der Grund wird vom Gegründeten ge-
setzt, verliert damit seinen Wert und die Macht als die Setzung von allem (sogar
einem Grund) wird selbst zum Wert – zum »einzige[n] Grundwert« (NII, 109). Der
Wille zur Macht denkt also den Grund – das Sein – als gesetzt (er will es setzen) und
das ist die höchste Seinsvergessenheit und damit die Vollendung der Metaphysik, da
das Sein der Grund, die Ermöglichung, das Geben ist. Weil ab jetzt nichts mehr (dem
Menschen) gegeben ist, sondern nur (von ihm selbst) gesetzt, d. h. gemacht, spricht
Heidegger vom Zeitalter der »Machenschaft«: »Machenschaft (seynsgeschichtlich
begriffen) / Dieses Wort nennt jenes Wesen des Seins, das alles Seiende in die Mach-
barkeit und Machsamkeit entscheidet. Sein besagt: Sicheinrichten auf die Mach-
samkeit, so zwar, daß diese selbst das Sicheinrichten in der Mache hält. / Metaphysik-
geschichtlich erläutert sich die Machenschaft durch die Seiendheit als Vor-gestelltheit,
212
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
rung der Not das erste Zeichen für die Möglichkeit des anderen An-
fangs, weswegen das Zeitalter der Not zum Zeitalter des Überganges
wird. Im Übergang fällt der Untergang des ersten Anfangs mit dem
»Anklang« 300 des zweiten Anfangs zusammen – die »Verweigerung
(das Nichthafte des Seyns) im Äußersten« ist dasselbe wie die
»fernste Er-eignung« (BPh, 8); »die ›Seinsverlassenheit‹ ist ›Anklang
des Seyns‹ (BPh, 141):«
»So ist die abendländische Metaphysik an ihrem Ende der Frage nach der
Wahrheit des Seyns am fernsten und doch zugleich am nächsten, indem sie
den Übergang dahin als Ende vorbereitet hat.« (BPh, 201) 301
in der es auf Her-stellbarkeit in jeder Abartung abgesehen ist.« (GdS, 46) Die Machen-
schaft ist das Gegenteil zum Ereignis.
300 In den Beiträgen teilt Heidegger den Übergang zum anderen Anfang in sechs
Etappen ein, die er »Fügungen« der »Fuge« nennt. Diese Fügungen sind: der Anklang,
das Zuspiel, der Sprung, die Gründung, die Zukünftigen und der letzte Gott (BPh, 6).
Der Anklang ist die erste Etappe und bedeutet »die Anerkenntnis der Not« (BPh, 107),
wenn man dazu kommt, dass man ein Fehlen (des Anfanges) spürt.
301 Siehe auch: BPh, 228.
302
Zum Vorbeigang siehe auch: E, 84 f, 86, 92, 95, 138, 161, 248.
213
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
»zwingt« (B, 197) zur Erinnerung. Die Not ist also durch und durch
von der Wesung des Ereignisses selbst beherrscht. Trotzdem gibt es
im Übergang zum anderen Anfang im Vergleich zum ersten Anfang
eine wesentliche Verschiebung. In dem ersten Anfang gehört die gan-
ze Initiative dem Ereignis, und der Mensch ist nur ein passiver Emp-
fänger. Im anderen Anfang darf der Mensch aber nicht völlig passiv
bleiben. Weil seine Passivität im ersten Anfang dazu beigetragen hat,
dass das Sein ungefragt, unentschieden und ungegründet blieb. Der
Mensch war zwar nicht der Grund der Ungegründetheit, sondern die
Verweigerung selbst, aber genau durch ihn konnte die Verweigerung
geschichtlich zur Vergessenheit des Vergessens werden:
»Gegenwendig entspricht dem Da-seyn im Ereignis der Untergang der-
gestalt, daß im Da-seyn erst und hier allein der Untergang geschichthaft
wird.« (E, 150) 303
Das zweite Ereignis, das Ereignis im Übergang zum anderen Anfang
braucht einen Empfänger, der es bewusst aufnehmen kann, sonst
bleibt es immer nur im Verborgenen:
»Weil das Seyn als Verweigerung außerhalb von Macht und Ohnmacht
zumal ist die Not der Nötigung in die Gottschaft der Götter und in die
Wächterschaft des Menschen, muß ihm, anders denn je in seinem ersten
Anfang, der Mensch entgegenkommen; nicht als ob er das Seyn und seine
Wahrheit jemals an sich reißen könnte – die Entgegenkunft ist nur Vor-
bereitung der Bereitschaft für das kaum erzitternde Beben, mit dem der
Abgrund sich zwischen alles Seiende legt und die Entscheidung zwischen
den Göttern und Menschen fordert.« (B, 96 f)
Diesmal hat das Dasein nicht nur die Rolle eines passiven Ortes für
das Geschehen des Seins. Im Übergang zum anderen Anfang hat der
Mensch die wesentliche Rolle, der »Gründer der Wahrheit des Seyns«
(B, 163) zu sein. 304 Die Gründung, wie wir noch später sehen werden,
bedeutet nicht »Erschaffung« des Ereignisses, sondern – insofern das
Sein der Grund ist – das »Grund-sein-lassen« (BPh, 31). Der Mensch
muss ganz bewusst den Anfang Anfang sein lassen. Doch wie kommt
303 »Alle Ereignisse in der Geschichte des Seins, die Metaphysik ist, haben ihren Be-
ginn und Grund darin, daß die Metaphysik das Wesen des Seins unentschieden läßt
und lassen muß, sofern ihr eine Würdigung des Fragwürdigen zugunsten der Rettung
ihres eigenen Wesens von Beginn an gleichgültig bleibt, und zwar in der Gleichgültig-
keit des Nicht-Kennens.« (NII, 418) Siehe auch: E, 206.
304 Dementsprechend ist die vierte Etappe des Überganges in den Beiträgen »die
Gründung«.
214
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
er zum Anfang, der in der Not anklingt und nur entfernt erahnt
wird? Durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte des ersten
Anfangs, also mit der Metaphysik. 305 Diese Etappe des Überganges
nennt Heidegger »Zuspiel«, und ihre Aufgabe ist, die Geschichte auf
ihren Anfang zurückzuführen und so dem Anfang näher zu kommen,
d. h. durch die Geschichte das Zuspiel des Anfangs aufzufangen. Weil
aber eine solche Auseinandersetzung mit der Geschichte nach ihrer
Herkunft und ihrem eigentlichen Wesen fragt, ist sie schon die Über-
windung dieser Geschichte, weil die Metaphysik sich selbst nicht
befragen kann – dazu braucht man eine andere, nämlich die seins-
geschichtliche, Denkweise. 306 Somit ist der Übergang, der sich im
Denken des Ereignisses vollzieht, die Überwindung der Metaphysik:
»Der Wandel ereignet sich im Übergang in den anderen Anfang, der die
Überwindung der Metaphysik ist […].« (E, 164)
Durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte und ihre Überwin-
dung, »springt« der zukünftige Gründer ins Ereignis. 307 Der Sprung
in den Anfang und die Gründung sind also die Eröffnung der Mög-
lichkeit, durch die der erste Anfang endlich anfangen kann, aber sie
sind auf keinen Fall die Auslösung des anderen Anfangs – das An-
fangen liegt nicht in der Macht des Gründers, sondern des Anfangs
selbst.
Der erste Anfang ist derjenige, der mit seiner Gabe vorausgrei-
fend ist – er gibt das, was es noch nicht gibt, was es erst irgendwann in
der Geschichte geben wird. Im Augenblick seines Anfangens bleibt er
deswegen völlig unbegreiflich und ungedacht. Als Anfang entzieht er
sich und verlässt seine von ihm ausgelöste Geschichte, die notwendig
die Geschichte der Vergessenheit ist. Erst in der Geschichte, die in
sich die Spuren seines Anfangs noch trägt, kann der Anfang geahnt
werden, dies aber erst am Ende, in der Vollendung dieser Geschichte,
die am weitesten von ihrem Anfang steht und erst durch das Spüren
des völligen Weg-Seins vom Anfang, ihn denken lässt. Dieser Mo-
305 »Meines Erachtens kann die Einkehr in den Wesensbereich des Da-seins […] –
jene Einkehr, die die Erfahrung der Inständigkeit in der Lichtung des Seins ermög-
lichen würde, – nur auf dem Umweg einer Rückkehr zum Anfang vollzogen werden.«
(S, 394)
306
Das Denken des Anfangs der Metaphysik ist nicht mehr metaphysisch. Dazu siehe
zum Beispiel: BPh, 171 f.
307
Diese Etappe des Übergangs nennt Heidegger in den Beiträgen »den Sprung«.
215
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
ment der Not ist der Übergang zum anderen Anfang. Ist das Ende
einer Geschichte, die ihren Anfang nicht kennt, notwendig, so ist
auch der andere Anfang notwendig. Er ist der andere Anfang in dem
Sinne, dass in ihm der erste Anfang als Anfang verstanden wird und
zum ersten Mal anfangen kann. Dass etwas durch ein Ereignis an-
gefangen hat, versteht man nur, wenn man sich nach seiner Verges-
senheit irgendwann an es erinnert. Nur dann kann es als Ereignis
bewahrt werden – nur im zweiten Anfang. 308 Das, was sich zwischen
zwei Anfängen ereignet, nennt Heidegger »Zwischenfall«. Die Ge-
schichte der Seinsvergessenheit, also die Metaphysik ist der Zwi-
schenfall:
»Die Metaphysik ist seynsgeschichtlich der Zwischenfall der Herrschaft des
Seienden vor dem Seyn dergestalt, daß sich das Seyn in die Seiendheit des
Seienden losläßt und in die Seinsverlassenheit des Seienden sich schickt.«
(E, 103) 309
308
Diese Struktur ist auch bei Marion festzustellen. In dem ersten Gabeakt tritt das
Gegebene vor das Geben (Ereignis), den Geber und vergisst, dass es gegeben worden
ist. Das Geben fordert aber irgendwann seine Anerkennung. Die Gabe soll irgend-
wann später als gegebene Gabe anerkannt werden. Es soll irgendwann ein Prozess
der Erinnerung gestartet werden, der dann zum ersten Mal verstehen lässt, dass da-
mals eine Gabe gegeben worden ist, und durch den die Gabe zum ersten Mal für
immer als die Gabe bewahrt werden kann. Der Prozess der Erinnerung kann laut
Marion auf eine zweifache Weise geschehen: entweder als Opfer (Zurückgabe der
gegebenen Gabe und so die Anerkennung der Gabe) oder als Vergebung (wenn der
Geber die Gabe zum zweiten Mal gibt und so sie voll und ganz als Gabe erscheinen
lässt). Also: »Das Opfer gibt die Gabe an die Gebung, aus der sie herstammt, zurück,
indem es sie an die Verweisungsstruktur zurückweist, die sie in ursprünglicher Weise
konstituiert. […] Es bewahrt die Gabe in ihrem Status als gegebene, indem es sie in
einer Hin- bzw. Preisgabe reproduziert.« (GG, 122/CN, 203) Oder (am Beispiel der
Rückkehr des verlorenen Sohnes): »Der Sohn hatte die Gabe (die Sohnschaft) dadurch
unsichtbar gemacht, indem er sie sich als einen Fonds (ουσία) aneignete. Durch das
Verzeihen, die wiedergegebene Gabe, erstattet ihm der Vater nicht nur zurück, was im
Tausch verloren wurde (den Besitz), sondern er setzt ihn wieder in die Bewegung der
gegebenen Gabe ein, so dass er ihm somit zum ersten Mal als gebender Vater (père
donateur) erscheint und ihn selber zum ersten Mal als beschenkten Sohn (fils dona-
taire) erscheinen lässt. Das Verzeihen lässt zum ersten Mal das vollständige Phäno-
men der Gabe zu Tage treten.« (GG, 160 f/CN, 236) Es ist interessant, dass auch Hei-
degger den anderen Anfang durch das Opfern der gegebenen Gabe (des Seienden)
charakterisiert, wobei dieses Opfern (als Aufgeben des Denkens des Seienden) dazu
führt, dass der Ursprung dieser Gabe (die Wahrheit des Seins des Seienden) sichtbar
wird: »Im anderen Anfang wird alles Seiende dem Seyn geopfert, und von da aus
erhält erst das Seiende als solches seine Wahrheit.« (BPh, 230)
309
Siehe auch: E, 174, 206.
216
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
Warum ist sie Zwischen-Fall und nicht bloß ein von den beiden An-
fängen getrenntes Zeitalter, das deswegen getrennt ist, weil es das
Ereignis nicht kennt? Erstens weil die Geschichte der Seinsvergessen-
heit immer noch die Spuren des Entzuges ihres Anfangs in sich trägt.
Weil der Anfang sich notwendigerweise entziehen muss, ist auch die
Geschichte seiner Vergessenheit notwendig. Zweiten, weil es nur
durch die Metaphysik irgendwann zum anderen Anfang kommen
kann, eben weil sie auf den ersten Anfang zurückweist:
»Der Zwischenfall ist zwischen dem ersten und dem anderen Anfang.
Durch diesen Zwischenfall kommt die Anfängnis des Anfangs zum ersten
Anklang.« (E, 103) 310
Die Vergessenheit des Anfanges ist die im vergessenen Anfang selbst
liegende Möglichkeit und Notwendigkeit, sich selbst noch einmal zu
geben.
310
Siehe auch: E, 257.
311 Die Verschenkung des Ereignisses: BPh, 15, 158, 228, 268, 346, 384, 410; B, 12, 58,
93, 97, 113, 117, 129, 131, 138, 202, 219, 243, 277, 309, 312, 313, 337, 347; E, 58, 314.
217
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
heißt, dass das Sein im Dasein gründet; dass es etwas ist, was wesent-
lich für das Dasein ist. Diese Einstellung ändert sich in der Philoso-
phie des Ereignisses, weswegen Heidegger auch von der Kehre in sei-
ner Philosophie spricht. Es geht um die Kehre vom im Dasein
gegründeten Sein zum im Ereignis gegebenen Sein. Das Sein als Er-
eignis ist nicht etwas, was »immer schon« im Menschen liegt, son-
dern das, was an einem Moment vom außen unerwartet und unvor-
hersehbar geschenkt wird.
Wenn das Ereignis als Gabe des Anderen bestimmt wird, müssen
vor allem drei Punkte festgehalten werden. Erstens ist das Ereignis als
Einbruch in die Welt, als Einfall ins Seiende frei von allen Bedingun-
gen seiner Möglichkeit in dieser Welt – seien sie transzendental oder
empirisch. Nichts in der Welt, nichts im Menschen kann dieses an-
fängliche Ereignis aufzwingen, fördern oder hindern. Das Ereignis-
hafte hängt ausschließlich von sich selbst ab. Deswegen spricht Hei-
degger von der »Freiheit des Anfangs« (B, 209) 312. Die Freiheit hängt
aufs engste mit der Unvorhersehbarkeit des Ereignisses zusammen –
das Ereignis ist und bleibt für den Menschen ein Zufall:
»Ob das Seyn als Dazwischenkunft im Offenen des Seienden ankommt und
als Zufall dem Seienden einfällt, bleibt stets zu-fällig.« (A, 39) 313
Zweitens: Genauso wenig wie der Einbruch selbst ist das Denken und
»seine Sache« vom Dasein abhängig. Das Dasein trägt keine trans-
zendentalen Bedingungen für das Denken des Seins in sich, in ihm
liegen keine Voraussetzungen für das Denken des Seins, die im Vo-
raus erkannt werden könnten. Das Sein ist nicht das Ergebnis seines
Denkens. Im Gegenteil: Das Dasein wird zum Denken des Seins, also
zum Dasein, durch das Ereignis des Seins. Das Dasein ist nicht es
selbst vor dem Ereignis, sondern wird zum Dasein durch das Ereignis
verwandelt:
312 Siehe auch: B, 12. Später heißt es: »Es [Seyn – L. P.] wird nicht von anderem
bewirkt, noch wirkt es selbst. Seyn verläuft nicht und nie in einem kausalen Wir-
kungszusammenhang. Der Weise, wie es das Seyn selber sich schickt, geht nichts
Bewirkendes als Seyn voraus und folgt keine Wirkung als Seyn nach. Steil aus seinem
eigenen Wesen der Verborgenheit ereignet sich Seyn in seine Epoche. Darum müssen
wir beachten: Die Kehre der Gefahr ereignet sich jäh. In der Kehre lichtet sich jäh die
Lichtung des Wesens des Seyns.« (BV, 73)
313
Siehe auch: A, 127.
218
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
»Das ›Seyn‹ ist nicht ein Gemächte des ›Subjekts‹, sondern das Da-sein als
Überwindung aller Subjektivität entspringt der Wesung des Seyns.« (BPh,
303) 314
Es ist zwar richtig, dass, wenn der Mensch gar nicht existieren würde
oder anders beschaffen wäre, es auch kein Sein gäbe, kein Ereignis des
Seins. Der Mensch ist derjenige, mit dem sich das Ereignis ereignet:
»[D]as Seyn braucht das Da-sein, west gar nicht ohne diese Ereignung.«
(BPh, 254) 315
Und es lässt sich gleich fragen:
»Wird aber das Seyn nicht abhängig von einem Anderen, wenn dieses
Brauchen sogar sein Wesen ausmacht und nicht nur eine Wesensfolge ist?«
(BPh, 251)
Doch das Sein ist nicht vom Dasein genau deswegen abhängig, weil es
das Dasein erst zum Dasein verwandelt:
»Wie dürfen wir aber da von Ab-hängigkeit reden, wo dieses Brauchen ge-
rade das Gebrauchte in seinen Grund umschafft und zu seinem Selbst erst
überwältigt.« (BPh, 251)
Der Mensch ist also nicht der Grund für das Sein. Es ist umgekehrt –
das Ereignis des Seins ermöglicht sich selbst und auch noch das Da-
sein, das dann das Sein erfährt und denkt. Wir haben hier also mit der
Umkehrung desjenigen Verhältnisses zu tun, das wir aus der subjekt-
zentrischen – unter anderem aus der transzendentalen – Philosophie
kennen. In der Philosophie des Ereignisses liegt der letzte Grund
nicht mehr im Dasein, sondern im Anderen. Und wenn das Ereignis
dem Menschen das Sein schenkt und damit auch seine »Identität«
und Geschichte, kann man in der Philosophie des Ereignisses von
einer gewissen Passivität des Menschen sprechen – der Mensch ist
derjenige, der (nur) empfängt, nicht aber aktiv schafft. Diese Passivi-
tät des Empfangens kann sowohl positiv als auch negativ bewertet
werden. Man kann es ebenso als eine positive Möglichkeit ansehen,
dass der Mensch durch die Gabe begabt wird. Man kann aber auch
einwenden, dass der Mensch damit als einer charakterisiert wird, der
314 Bereits zitiert im Teil I. Zur Verwandlung des Menschen ins Dasein durch das
Ereignis siehe auch: BPh, 14, 455; B, 22, 23, 42, 45, 57, 83, 108, 210; ÜM, 22; ZS, 23.
315 Das Sein braucht das Dasein: BPh, 44, 230, 233, 262, 265, 317, 342; B, 139; A, 13,
219
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
etwas Äußerem ausgeliefert ist, seine Freiheit verliert und sein eige-
nes Leben nicht bestimmten kann.
Trotz des Vorrangs des Seins ist das Dasein in Heideggers Phi-
losophie nicht völlig passiv. Das Dasein kann und darf überhaupt
nicht völlig passiv bleiben, da das Denken des Ereignisses eine An-
strengung ist, die mit vollem Bewusstsein ausgetragen werden muss.
Heidegger stellt sogar die These auf, dass am ersten Anfang das Er-
eignis als Entzug in Vergessenheit geriet, weil das Denken sich nicht
angestrengt hat, den Entzug als Entzug zu bewahren, sondern den
leichteren Weg des Vergessens nahm. Wir haben schon gesehen, dass
Heidegger deswegen am anderen Anfang fordert, dass das Dasein
zum »Gründer« des Seins wird. 316 Nur durch die Gründung vonseiten
des Menschen kann der erste Anfang endlich im anderen Anfang an-
fangen. Man könnte diesbezüglich gleich fragen, ob es damit das Da-
sein nicht wieder zum Grund des Seins gemacht wird, sodass die
Möglichkeit des Seins im anderen Anfang vom Dasein und seiner
Aktivität abhängt. Darauf ist ein Zweifaches zu antworten. Erstens
ist der Begriff der »Gründung« für Heidegger »zweideutig«:
»Gründung ist zweideutig: 1. Der Grund gründet, west als Grund. […]
2. Dieser gründende Grund wird als solcher erreicht und übernommen. Er-
gründung: a) den Grund als gründenden wesen lassen; b) auf ihn bauen,
etwas auf den Grund bringen. Das ursprüngliche Gründen des Grundes (1)
ist die Wesung der Wahrheit des Seyns; die Wahrheit ist Grund im ur-
sprünglichen Sinne.« (BPh, 307)
Der ursprüngliche, der letzte Grund ist also das Ereignis. Das ist der
Grund in erster Bedeutung. Wenn Heidegger sagt, dass das Dasein
gründet, meint er nicht, dass es ursprünglich gründet – das Dasein
gründet nur, indem es »den Grund als gründenden wesen lässt« und
»auf ihn baut«. Das Dasein ist der Grund in zweiter Bedeutung. »Den
Grund wesen lassen« ist das »Wesen« und »Bestimmung« des
menschlichen Daseins:
»Die Gründung – nicht Erschaffung – ist Grund-sein-lassen von seiten des
Menschen ([…]), der damit erst wieder zu sich kommt und das Selbst-sein
zurückgewinnt.« (BPh, 31) 317
316
Das Dasein als Gründer des Seins: BPh, 16, 23, 26, 31, 140, 170, 223, 240, 260, 263,
296, 395; B, 167, 210, 255, 322; E, 190.
317
Zu dieser Bestimmung des Daseins siehe auch: BPh, 16; B, 325, 326.
220
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
Damit ist es nochmals gesagt, dass der Mensch nicht der letzte Grund
des Ereignisses ist. Doch damit wird wieder bestätigt, dass das Ereig-
nis nur wesen kann, wenn das Dasein den Grund wesen lässt. Wenn
das nicht der Fall ist, kann das Ereignis immer noch »still herrschen«,
aber es gibt es nicht in dem Sinne, dass es aus der Vergessenheit he-
raustritt und als es selbst bewahrt wird. Dies stellt selbstverständlich
ein Problem dar. Deswegen die zweite Antwort: Die Möglichkeit, den
Grund wesen zu lassen und den ersten Anfang anzufangen, liegt
nicht in der Macht des Daseins – sie ist »Geschenk« (oder »Entzug«)
des Ereignisses und deswegen nicht errechenbar:
»Ob diese Umwerfung des bisherigen Menschen, d. h. zuvor die Gründung
der ursprünglicheren Wahrheit in das Seiende einer neuen Geschichte
glückt, ist nicht zu errechnen, sondern Geschenk oder Entzug der Ereig-
nung selbst, auch dann noch, wenn die Wesung des Seyns bereits in der
jetzigen Besinnung vorausgedacht und in den Grundzügen gewußt ist.«
(BPh, 248) 318
»Der Eintritt des Menschen in die Seinsgeschichte ist unberechenbar […].«
(BPh, 228) 319
Weil das Dasein nur dann den Grund gründen kann, wenn der ur-
sprüngliche Grund schon gründet, nennt Heidegger es den »ge-grün-
dete[n] Gründer des Grundes« (BPh, 239). 320 Diese Passage macht
aber auch deutlich, dass die Aktivität des Denkens des Seins, der Be-
sinnung grundsätzlich nur zum Übergang zum anderen Anfang ge-
hört. Nichts davon, was der Mensch besinnt, vorausdenkt und weiß,
kann den anderen Anfang auslösen. Die Möglichkeit zur Gründung
des Ereignisses hängt vom Ereignis ab, aber auch diese Gründung des
Ereignisses, die Entscheidung, es zu bewahren, bewirkt nicht den Ein-
tritt des anderen Anfangs. Dieses Denken ist nur die Vorbereitung 321
auf die Möglichkeit des Kommens eines Ereignisses, und als Vor-
bereitung verwirklicht es sie nicht. Deswegen behauptet Heidegger
318
Siehe auch folgende Stelle: »Um den Anfang zu denken, müssen wir zum voraus
schon in der Erfahrung des Seins von diesem zu ihr ereignet sein. Wir können uns des
Anfangs nie bemächtigen. Der Anfang kann uns nur in das Da-seyn übereignen.« (E,
229)
319 Die Unberechenbarkeit des Ereignisses (des anderen Anfangs): BPh, 10, 20, 236,
321
»Ob und wie weit ein solcher Sprung [in den Abgrund, also in den Anfang – L. P.]
des Denkens dem Menschen glückt, liegt nicht bei ihm. Dagegen obliegt uns die Vor-
bereitung des Sprunges.« (FV, 113)
221
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
nie, dass der andere Anfang aufgrund seines Denkens schon einge-
treten ist – wir befinden uns im Übergang zum anderen Anfang, un-
ser Denken ist nur vorbereitend, und dies auch nicht im Sinne des
Auslösens, sondern im Sinne des Bereit-Seins für das Unberechen-
bare:
»Jene Entscheidung wird nicht als ›Akt‹ einzelner Menschen gefällt, sie ist
der Stoß des Seyns 322 selbst, durch den die Machenschaft des Seienden und
der Mensch als das historische Tier gegen den Abgrund des Seyns geschie-
den und der eigenen Ursprungslosigkeit überlassen werden. Deshalb bedeu-
tet Vorbereitung der Entscheidung nicht Anbahnung dieser selbst, als sei sie
ein und noch ein mögliches Gemächte des Menschen. Vorbereitet wird nur
der Zeit-Spiel-Raum, in dem sich die Wesenswandlung (nicht eine bloße
Höher- oder Umzüchtung) des animal rationale geschichtlich ereignen
muß.« (B, 24) 323
Drittens zeigen sich die Unabhängigkeit des Ereignisses vom Subjekt
und der Vorrang jenes vor diesem auf noch eine Art und Weise, die
allerdings von Heidegger nicht allzu oft behandelt wird, die aber
trotzdem ein charakteristischer Zug seines Ereignisdenkens ist. Wir
haben festgestellt, dass die Möglichkeit des Seinsdenkens und damit
des Daseins vom Ereignis selbst geschaffen wird. Es ist nicht der
Mensch, der allein zu diesem Denken kommen kann. Er muss das
Denken zwar vollziehen, aber er ist nicht dessen Grund. Diese These
impliziert aber mehr: Das Ereignis ist nicht nur kein Produkt des (vor-
stellenden) Denkens, sondern es ist überhaupt etwas anderes als das
(vorstellende) Denken. Wir haben schon gesehen, dass das Ereignis
kein vorstellendes Denken ist, sondern ein Denken als Zugehörigkeit
zu einem Geschehen, Sich-Befinden an einem Ort:
»Das Er-denken des Seyns ist niemals ein »Erzeugen« des Seins, so daß die-
ses gar nur zu einer Gedachtheit würde.
Das Er-denken ist das er-eignete Er-reichen der Lichtung der Verwei-
gerung, welche Lichtung als Lichtung der Verweigerung anhalt- und zu-
fluchtlos sich zum Ab-grund entbreitet, der die Wesung des Seyns selbst
als seine Wahrheit ist.« (B, 131) 324
322 Die »Stöße des Seyns«: B, 242, 244, 245, 247, 275.
323 Zur Entscheidung des Seins siehe auch: B, 46, 47 f, 93, 113, 236, 353; GdS, 59. 1973
im Seminar in Zähringen sagt Heidegger: »Die Einkehr in diesen Bereich [Bereich des
Da-seins – L. P.] wird nicht durch das Denken bewirkt […]. […] dies Denken bereitet
den Menschen vor allem darauf vor, der Möglichkeit solcher Einkehr zu entsprechen.«
(S, 390)
324
Siehe auch: E, 312.
222
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
Jetzt können wir unsere These erweitern: Würde das Denken das Sein
erzeugen, wäre es Gedachtheit. Das Denken aber erzeugt nicht das
Sein – es kann nur, wenn das Ereignis es erlaubt, das Sein denken,
aber nur so, dass es in der Lichtung steht. Dass das Ereignis nicht
erzeugt wird, dass es nicht in der Macht des Menschen liegt, impli-
ziert, dass es mehr als Gedachtheit ist. Die Verschenkung und Unbe-
rechenbarkeit des Ereignisses bedeutet also, dass es sich nicht im vor-
stellenden Denken vollzieht. 325
Das Ereignis ist kein beständiges Wesen, sondern Wesung. Als dieses
ist es etwas Einziges, es ist Dieses, das sich ereignet. Als das Einzige,
Einzigartige und Einmalige ist das Ereignis immer das Neue – es ist
der Anfang. Der Anfang kann nie gegenständlich gedacht werden. Es
ist nichts, es ist Zeit – seine eigene Zeit als Augenblick seines An-
fangens. Das Ereignis ist »reine Gegenwart« (E, 234), die sich gleich
nach dem Anfangen entzieht. Genauso wenig gegenständlich ist das,
was im Ereignis und untrennbar vom Ereignis gegeben wird – es ver-
weigert sich, die Verweigerung bedeutet: Es lässt sich nicht festhalten,
ohne es zu etwas Seienden zu machen und so zu verlieren. Der vom
Ereignis Betroffene muss ständig gegen die aufdringlichen Vergegen-
ständlichungsversuche kämpfen. Die einzige Möglichkeit das Ereig-
nis als Entzug zu bewahren, ist jedes entstandene Wesen zu destruie-
ren und den Abgrund, das Wegsein des Grundes auszutragen. Das
Ereignis ist kein Wesen, sondern der Austrag vom Nichts, wenn
man nichts hat, wenn man in den Abgrund fällt. Es ist die Erfahrung
und Austrag einer »anfänglichen Armut«. Das Ereignis schickt zwar
etwas, doch es verabschiedet sich von seinem Geschickten, es lässt
sich durch das Gegebene verdunkeln, sodass die ganze Aufmerksam-
keit auf das Gegebene gerichtet wird, das jetzt ereignislos erscheint.
Die Eigenartigkeit des Heidegger’schen Denkens besteht darin,
dass dieses nicht-seiende Ereignis nicht im negativen Sinne uneinhol-
325 Wir werden später sehen, welche unglaublich große Rolle diese Struktur des Er-
eignisses in der Philosophie Levinas’ spielt. Seine These ist, dass, wenn es die Anders-
heit gibt, sie nicht gedacht werden kann, weil die Gedachtheit sie zum Besitz des
Selben, das jede Andersheit ausschließt, macht. Mit anderen Worten: Die Andersheit
im Kopf des Selben ist keine Andersheit mehr. Die Andersheit kann nur in der Nähe
zum Selben sein, also nicht in ihm.
223
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
bar bleibt, sondern wird im positiven Sinne als Raum gedacht, wo ein
Denken erst entsteht und sich aufhält. Dieser Raum ist der Raum des
Wahrheitsgeschehnisses, und es ist uneinholbar nicht deswegen, weil
es keine klare und deutliche Idee von ihm gibt, sondern weil das Den-
ken (und – breiter gefasst – die menschliche Existenz im Allgemei-
nen) in ihm steht. Um diesen Raum zu denken, reicht es nicht, sich
einen leeren Raum (Weltraum) vorzustellen, in dem etwas ist, son-
dern man muss diesen Raum ausgehend vom Ort verstehen: Man
kann den Raum als das In-Sein nur dann verstehen, wenn man es
gelernt hat zu vollziehen, was es heißt, an einem Ort, um den herum
der Raum »räumt« 326, zu sein. An einem Ort zu sein, ist nur augen-
blicklich möglich: Man kann dieses In-Sein nicht anhalten und hal-
ten. Man kann nicht dasjenige halten, was alles hält. Die Augenblick-
lichkeit des Ereignisses impliziert allerdings nicht, dass es hier um
eine messbare kurze Länge der Zeit geht. Der Augenblick ist nicht
messbar kurz – er ist eine Zeit, wo die Zeit stillsteht. Die Zeit entsteht
dann, wenn man anfängt, etwas zu denken, aber damit wird der
Raum des Denkens (nicht nur der Raum des Denkens, sondern der
Raum überhaupt) gleich verdunkelt.
Eins der entscheidenden Momenten in Heideggers Philosophie
liegt in der Tat im Gedanken, dass es für die menschliche Existenz
(gleich ob alltägliche oder wissenschaftliche, politische oder religiöse
etc.) charakteristisch ist, dass sie in ihrer immerwährenden Gerichtet-
heit auf die konkreten Sachen und Probleme immer dasjenige ver-
dunkelt und vergisst, wo sie sich eigentlich aufhält. In Sein und Zeit
wird dieser Raum des Aufenthaltes als die menschliche Existenz über-
haupt bestimmt. Das heißt: Während wir in unserem Leben besorgt
um alles Mögliche herumrennen, haben wir keine Ahnung davon,
wie das menschlichen Leben im Allgemeinen ist. Die Aufgabe von
Sein und Zeit ist, dieses Sein des Daseins, in dem wir sind, wieder
anzuzeigen. Aber nicht nur das: Wie schon darauf hingewiesen, ist
sowohl Heideggers frühe Philosophie und Sein und Zeit als auch
seine späteren seinsgeschichtlichen Ansätze vom Gedanken einer
Selbstbegründung der Erkenntnis – und damit letztendlich der Phi-
326 Heidegger denkt den Raum nicht durch die Vorstellung des Raumes, sondern als
»Räumen«: »Wir versuchen auf die Sprache zu hören. Wovon spricht sie im Wort
Raum? Darin spricht das Räumen. Dies meint: roden, die Wildnis freimachen. Das
Räumen erbringt das Freie, das Offene für ein Siedeln und Wohnen des Menschen.«
(KR, 206)
224
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
losophie – getragen. Die Frage ist also immer auch: Wo bin ich, wenn
ich denke? Wir fragen nicht also nicht nur, wo wir sind, wenn wir
leben, sondern auch wo wir sind, wenn wir die Frage nach diesem
Leben stellen. Die Antwort auf diese Frage lautet in Sein und Zeit:
in der Existenz. Wenn ich denke, bin ich im Leben, und das Leben ist
Sein-zum-Tode, und es ist in der Zeitlichkeit des Daseins begründet.
Die Antwort in den Beiträgen ist wesentlich anders: Wenn ich denke,
bin ich im Wahrheitsgeschehnis, und dieses Wahrheitsgeschehnis ist
nicht meine, von mir, aus meinem Leben stammende Möglichkeit,
sondern etwas, was mit mir passiert und was mein Leben bestimmen
kann. Im seinsgeschichtlichen Denken Heideggers ist die Wahrheit
nicht mehr die Möglichkeit der menschlichen Existenz, sondern das,
was mit der menschlichen Existenz geschieht, insofern sie überhaupt
menschlich ist. Die menschliche Existenz wird vom Aufleuchten des
Seienden im Aufkommen der Welt getragen. Und dieses Geschehnis
ist das, was verdunkelt wird.
Wir sind mit den Sachen beschäftigt und sehen nicht ihr Auf-
leuchten. Der Grund dafür ist in Heideggers Philosophie zweifach:
einmal die Seinsvergessenheit vonseiten des Menschen (thematisiert
in Sein und Zeit), ein andernmal die Seinsverlassenheit (seit den Bei-
trägen), wobei – wie wir gesehen haben – die erste in der anderen
begründet ist: Wir vergessen, weil sich das Wahrheitsgeschehnis ent-
zieht, und es entzieht sich, weil es an sich selbst keine Beständigkeit
aufbauen kann, weil es anders als das Seiende ist. Der Raum ist an-
ders als das, was in ihm ist. Deswegen ist es unendlich schwierig, den
Raum zu denken. Für das Denken eines Objekts genügen zwei Au-
gen, die auf es gerichtet sind, für das Denken des Raumes bräuchte
man noch zwei Augen hinten, oder die Möglichkeit einer Umdre-
hung, was für das Denken eine Unmöglichkeit ist – nur der Körper
kann sich umdrehen. Man sollte also den Raum mit dem Körper den-
ken, was natürlich absurd klingt, da wir sagen, dass man den Raum
nicht durch das Körperliche, sondern mit dem Körper denken muss.
Vielleicht ist es auch etwas Mögliches, aber wir werden dann, wenn es
möglich geworden wäre, nicht dabei sein und werden nie erfahren,
wie das war – das wird für uns immer eine uneinholbare Vergangen-
heit bleiben. Wie dem auch sei, in Heideggers Philosophie wird ein
Nicht-Seiendes gedacht, das vergessen wird, weil es vergessen wer-
den muss, weil es nur auf eine merkwürdige, ihm eigentümliche Art
und Weise da ist. Dieses Nicht-Seiende – das Sein, das Ereignis – kann
(und für Heidegger auch muss, da der Mensch ohne das Sein, ohne
225
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
das Offene, ohne den Rückgang auf seinen eigenen Ursprung seine
Menschlichkeit verliert) ins Gedächtnis gerufen werden, allerdings ist
dieses Ins-Gedächtnis-Rufen ein Zusammenspiel von willentlichen
und schicksalhaften Faktoren. Es geht hier darum, dass – einerseits –
das Wahrheitsgeschehnis, das im Verborgenen der menschlichen Ge-
schichte herrscht, zu jedem Moment – und das heißt auch: von sich
aus, unberechenbar – auftauchen kann. Andererseits kann es an die
Oberfläche nur durch einen Menschen kommen, der es will. Er kann
aber seinen ereignishaften Anfang nur deswegen wollen, weil er von
diesem Anfang selbst angefangen worden ist. Alles ist schon im Vo-
raus geschenkt worden. Es verhält sich ein wenig anders, wenn es um
die Notwendigkeit des anderen Anfangs geht. Wir haben versucht zu
zeigen, dass der andere Anfang notwendig nicht im geschichtlichen,
sondern im ereignislogischen Sinne ist. Das heißt: Der andere Anfang
wird nicht zu diesem oder zu jenem Zeit kommen, aber, wenn es dazu
kommen sollte, dass der erste völlig verschwunden ist, dann wird der
andere sich unbedingt aufzwingen. Veranschaulicht: In der un-
menschlichsten Zeit, in der Zeit, wo die Menschen verdinglicht wer-
den, wo sie wie Maschinen behandelt werden, wo sie wie Maschinen
funktionieren müssen, wo die Organe ihrer Körper als Ersatzteile an-
gesehen werden, wo sie massenweise vernichtet und im Labor er-
zeugt werden, wird die Frage nach dem Menschlichen unbedingt auf-
tauchen und etwas verändern. Oder anders: Wo die Kunst das
Hässliche (und auch die Wirklichkeit ist im Grunde genommen
immer hässlich, d. h. nicht perfekt) zeigen will, kommt notwendiger-
weise die Frage nach dem Schönen. Der völlige Untergang ist der
Anklang des anderen Anfangs. Das ist eine der wichtigsten Erkennt-
nisse in Heideggers Philosophie seit den Beiträgen.
In Bezug auf dasjenige, in dem wir sind und das sich im Ver-
bogenen aufhält, unterscheiden wir also – Heidegger folgend – zwei
Arten und Weisen, wie der Anfang, der immer auch Entzug ist, sich
merkbar macht. Er taucht einerseits notwendigerweise dort auf, wo
das, was er angefangen hat, faktisch verloren gegangen ist; und er
kann andererseits zufälligerweise an jedem beliebigen Ort und zu
jeder Zeit der Geschichte auftauchen. So ist zum Beispiel Dichter
Hölderlin aus dem 18. Jahrhundert für Heidegger ein Ort, wo der
Anfang gewest hat noch lange vor einem zukünftigen anderem An-
fang, der mehr oder weniger eine ganze Gemeinschaft einbeziehen
würde – genauso wie der erste Anfang die ganze griechische Gemein-
schaft und Kultur umfasst hat. Und die Behauptung solcher Orte und
226
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
die Suche nach solchen Orten des Ereignisses ist ein wesentliches
Motiv des Heidegger’schen Ereignisdenkens. Es geht also nicht nur
um die Seinsweise des Ereignisses als Wahrheitsgeschehnis und die
Logik seiner Geschichte, die die Geschichte eines Untergangs ist, son-
dern auch um die Orte einer zufälligen und unverhofften Begegnung
mit dem Ereignis. Es geht also – wie schon vorher gesagt – nicht nur
um die Wahrheit im Allgemeinen, die überall west, sondern auch um
ihre Manifestation an konkreten Orten. Neben dem Denken, insofern
es anfänglich denkt, sieht Heidegger insbesondere in der Sprache,
insofern sie dichterisch ist, und in der Kunst, insofern sie das Seiende
zum Aufleuchten bringt, solche Orte der Begegnung mit dem Sein.
Es geht um Orte, um die herum der Raum des Wahrheitsgescheh-
nisses noch einmal räumt und den Menschen in sich wieder einlässt.
Die Sprache als Sprache kann also dem Ereignis zugehörig wer-
den, allerdings nicht immer. Die Sprache kann das Ereignis nur aus-
sagen, wenn sie nicht mehr als ein Zeichen funktioniert. Dabei geht es
nicht um eine andersartige Sprache, die sich gegen die Sprache als
Zeichen, durch das etwas vorgestellt und dargestellt wird, absetzt.
Die Sprache wird zur Sprache des Ereignisses, wenn sie anders als
die zeichenhafte verstanden wird, obwohl es nicht ausgeschlossen ist,
dass sie dann auch äußerlich anders wirken würde, nämlich wie – im
Falle Heideggers – eine dichterische. 327 Sie darf nicht als das »vom
Menschen betätigte Ausdrücken« (Sp, 12), dessen Zweck im »Vorstel-
len und Darstellen des Wirklichen und Unwirklichen« (ebd.) besteht,
verstanden werden. Stattdessen muss Folgendes gedacht werden:
»Die Sprache spricht.« (Sp, 16)
Was heißt es, dass die Sprache spricht? Die Sprache spricht für Hei-
degger in dem Sinne, dass sie sagt – sie ist »Sage«. Die Sage wird aber
327
Das Geheimnis einer Sprache des Ereignisses liegt also nicht darin, dass sie anders
als die gängige vorstellende Sprache aussieht und wirkt (was eigentlich nicht möglich
ist), sondern dass die Sprache überhaupt anders verstanden wird, nämlich – wie wir es
noch später sehen werden – als zum Ereignis zugehörig, auf es hörend: »Mit der
gewöhnlichen Sprache, die heute immer weitgreifender vernutzt und zerredet wird,
läßt sich die Wahrheit des Seyns nicht sagen. Kann diese überhaupt unmittelbar ge-
sagt werden, wenn alle Sprache doch Sprache des Seienden ist? Oder kann eine neue
Sprache für das Seyn erfunden werden? Nein. Und selbst wenn dies gelänge und gar
ohne künstliche Wortbildung, wäre diese Sprache keine sagende. Alles Sagen muß das
Hörenkönnen mitentspringen lassen. Beide müssen des selben Ursprungs sein. So gilt
nur das Eine: die edelste gewachsene Sprache in ihrer Einfachheit und Wesensgewalt,
die Sprache des Seienden als Sprache des Seyns sagen.« (BPh, 78)
227
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
als die »Zeige« verstanden und die Zeige wird ihrerseits als »Sich-
zeigenlassen« ausgelegt:
»Das Wesende der Sprache ist die Sage als die Zeige.« (Sp, 242)
»Im Blick auf das Gefüge der Sage dürfen wir jedoch das Zeigen weder aus-
schließlich noch maßgebend dem menschlichen Tun zuschreiben. Das Sich-
zeigen kennzeichnet als Erscheinen das An- und Ab-wesen des Anwesen-
den jeglicher Art und Stufe. Selbst dort, wo das Zeigen durch unser Sagen
vollbracht wird, geht diesem Zeigen als Hinweisen ein Sichzeigenlassen
vorauf.« (Sp, 242 f)
Das Anwesende ist das Sichzeigende. Es ist aber nicht der Mensch, der
auf das Anwesende zeigt und so es erscheinen lässt, sondern es ist die
Sprache, die das Sichzeigende sich zeigen lässt. Das Sichzeigen wird in
der Sprache vollzogen. Nun ist es offensichtlich, dass die Sprache
dasselbe vollzieht, was das Ereignis kennzeichnet. Das Ereignis ist
das Aufkommen des Seienden. Und dasselbe geschieht auch in der
Sprache. In der Tat: Wenn im Sprechen der Sprache etwas erscheint,
sich sein Wesen zeigt, dann kommt es durch die Sprache zu seinem
»Eigenen«. Dieses »Eignen« ist aber genau das, was man unter dem
Ereignis versteht:
»Das Regende im Zeigen der Sage ist das Eignen. / Es erbringt das An- und
Abwesende in sein jeweilig Eigenes, aus dem dieses sich an ihm selbst zeigt
und nach seiner Art verweilt.« (Sp, 246 f)
»Das erbringende Eignen, das die Sage als die Zeige in ihrem Zeigen regt,
heiße das Ereignen. Es er-gibt das Freie der Lichtung, in die Anwesendes
anwähren, aus der Abwesendes entgehen und im Entzug sein Währen be-
halten kann.« (Sp, 247)
In der Sprache ereignet sich also das Ereignis. Die Sprache spricht
nicht über das Ereignis, sondern ist Ereignis. Sie lässt das Anwesende
anwesend sein – sie »heißt kommen« (Sp, 26), »versammelt« (Sp,
203), »be-dingt« (Sp, 220) das Ereignete. »Die Sprache ist das Haus
des Seins.« (HB, 313) Diese bekannte Aussage Heideggers soll genau
in diesem Kontext interpretiert werden, nämlich dass die Sprache das
Ereignis ist:
»Die Sprache wurde das ›Haus des Seins‹ genannt. Sie ist die Hut des An-
wesens, insofern dessen Scheinen dem ereignenden Zeigen der Sage anver-
traut bleibt. Haus des Seins ist die Sprache, weil sie als die Sage die Weise
des Ereignisses ist.« (Sp, 255)
228
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
Die Sprache und das Ereignis ist ein und dasselbe. So ist die Sprache
ein Ort der Wiederholung des Ereignisses.
Dies bedeutet nicht nur, dass die Sprache Ereignis ist, sondern
auch gleich, dass das Ereignis grundsätzlich »sagend« ist. Die Sprache
ist Ereignis des Seins des Seienden und das Ereignis ist die Sprache:
»Die im Ereignis beruhende Sage ist als das Zeigen die eigenste Weise des
Ereignens. Das Ereignis ist sagend.« (Sp, 251) 328
Die Sage versteht Heidegger allerdings nicht als die Verlautbarung,
sondern als die Stille. Die Sprache als das Sichzeigenlassen und Eig-
nen ist still. Das Ereignis ereignet sich grundsätzlich still. Möglicher-
weise ist es deswegen so, weil es nicht etwas ansagt – es informiert
nicht über sich selbst, über sein Wesen (es hat kein Wesen), es wirbt
nicht für sich (nur das Seiende wirbt für sich, wenn es das Ereignis
überschattet), sondern geschieht nur. Es ereignet sich still, weil es
nichts ist, weil es einfach ist. 329 Da es aber das Seiende als seiend und
so-seiend erscheinen lässt, weil etwas geschieht, bringt es mit sich die
Möglichkeit der Verlautbarung. 330 Mehr noch: Es bringt nicht nur die
Möglichkeit des Aussprechens, sondern es ist auch das Aussprechen,
es »braucht« es, es gehört zu seiner Wesung:
»Die Sage braucht das Verlauten im Wort. 331 Der Mensch aber vermag nur
zu sprechen, insofern er, der Sage gehörend, auf sie hört, um nachsagend
ein Wort sagen zu können.« (Sp, 254)
328 Siehe auch: »Die Sage ist er-eignishaft. Worin liegt: das Ereignis ist sagenhaft. […]
Die Sage »des« Anfangs ist Anfängnis als Sagen. Das Sagen ist Er-eignen in die We-
sung der Wahrheit als entbergende Verbergung. Dieses Er-eignen enthält die Wesens-
fülle dessen, was das Er-eignis zu denken fordert.« (E, 297)
329
»Die verborgene erstanfängliche Sprach-losigkeit ereignet sich in der Erfahrung
dessen, daß das Seyn ist.« (E, 68) Dass das Sein ist, ist abgründig und einfach, ohne
Wesen, ohne Schrei des Seienden.
330 Deswegen ist die Sprache nicht einfach nur Stille als Seinlassen, sondern, indem
sie das Seiende sein lässt, ist sie auch dessen Sagen. Wird etwas seiend, wird es als
etwas seiend und in diesem Sinne fängt es an zu sprechen. Die Sprache ist dement-
sprechend »das Geläut der Stille« (Sp, 27). Es geht um die »Stimme des Seyns« (E,
172) oder – umgedreht – um die »lautlose Stimme des Wortes« (E, 170). Das Ereignis
sagt nichts und doch sagt es etwas. Das Ereignis ist sagend, aber zuerst nichts sagend,
obwohl die Verlautbarung schon in der Sage anwesend ist.
331 Siehe auch: »Der Weg zur Sprache gehört zu der aus dem Ereignis bestimmten
229
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
332 Dies gehört zur Logik des Ereignisses, dass es durch sich seine Artikulation for-
dert. Es ist gerade nicht das, »worüber man nicht reden kann«. Es will gesagt werden.
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz formuliert diesen Sachverhalt, indem sie den bekann-
ten Satz aus Wittgensteins Tractatus: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber
muss man schweigen,« umwendet: »Wovon man nicht schweigen kann, davon muss
man reden.« (Gerl-Falkovitz, 7) Heideggers Begründung dafür wäre also, dass das
Ereignis gesagt werden muss, weil es das Sagen (diesmal im Sinne der Verlautbarung)
ist. Die Auslegung ist nicht die Initiative des Menschen.
333 Doch man darf sich die Situation auch nicht so vorstellen, als ob das Ereignis dem
Menschen diktieren würde, was er sagen muss. Eine solche Vorstellung würde das
Ereignis vergegenständlichen und die Sprache in eine vorstellende Sprache verwan-
deln. Das Ereignis sagt nicht, was gesagt werden soll, weil es hier nichts gibt, was
gesagt werden soll. Es fordert nur zur Wiederholung seines Ereignens, die sehr unter-
schiedlich ausfallen kann. Kurz: »Jede Sprache ist geschichtlich […].« (Sp, 253) Die
Auslegung ist immer anders. Und sie kann auch das Ereignis sogar völlig verlassen –
dann sprechen wir von der Seinsvergessenheit. Doch, sogar diese Auslegung ist vom
Ereignis inspiriert worden und in diesem Sinne ist sie auch eine Auslegung des Ereig-
nisses.
334 Dass der Mensch zuerst hörend ist, ist eine fundamentale These in Heideggers
Philosophie. Sie drückt selbstverständlich auch die Kritik gegen das subjektzentrierte
Denken aus. Der Mensch kann nur deswegen sprechen und das sprechen, was er
spricht, weil die Sprache zuerst sagt. Deswegen ist die Sprache durch das Hören kon-
stituiert: »Das Sprechen ist als Sagen von sich aus ein Hören. Es ist das Hören auf die
Sprache, die wir sprechen. So ist denn das Sprechen nicht zugleich, sondern zuvor ein
Hören. […] Wir sprechen nicht nur die Sprache, wir sprechen aus ihr.« (Sp, 243)
Deswegen ist jedes Sprechen schon Antwort auf das ursprüngliche Sagen: »Das ent-
gegnende Sagen der Sterblichen ist das Antworten. Jedes gesprochene Wort ist schon
Antwort: Gegensage, entgegenkommendes, hörendes Sagen.« (Sp, 249; siehe auch:
E, 156, 262)
230
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
Offene der Welt offen hält« (UK, 31). Im Vortrag Die Kunst und der
Raum 1969 heißt es:
»[…] die Kunst sei das Ins-Werk-Bringen der Wahrheit und Wahrheit be-
deute die Unverborgenheit des Seins […].« (KR, 206) 335
Obwohl die dichterische Sprache und die Kunst als bevorzugte Orte
des Ereignisses angesehen werden können, wäre es vielleicht nicht
falsch anzunehmen, dass das Ereignis doch ausnahmslos überall ein-
schlagen kann – in jedem Ding, zu jeder Zeit. 336
335
Siehe auch: »Die Plastik: die Verkörperung der Wahrheit des Seins in ihrem Ort
stiftenden Werk.« (KR, 210)
336 Dazu siehe zum Beispiel den Aufsatz Das Ding (1950), wo ein Krug als Ort des
A, 17, 18, 114; E, 79, 149, 163, 173, 177, 200, 213, 235.
338 Die Fülle des Ereignisses: B, 97, 99; E, 59, 241, 297, 308, 328.
339
Die Unerschöpflichkeit des Ereignisses: BPh, 278, 382.
340 Der Reichtum des Ereignisses: B, 254; E, 50, 58, 68, 170, 182, 261.
341
Siehe auch: GdS, 110.
231
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
342 Und weil sich im Ereignis nichts Gegenständliches ereignet, sind die Wörter und
Sätze »mannigfach« (E, 302), »vielsinnig« (E, 315), »mehrdeutig«: »Das Wort des
anfänglichen Denkens hat die Mehrdeutigkeit des Anfangs […]. […] Ein seyns-
geschichtliches Wort, das stets Anfängliches und das Ereignis nennt, kann seinem
Wesens nach nicht und nie eine einzige Bedeutung haben.« (E, 294; siehe auch: B, 23)
Wenn es nichts gibt, was man mit einem Begriff bezeichnen kann, wie kann ein Wort
etwas Bestimmtes bezeichnen? Es muss vielsinnig bleiben.
343 »Weil der Anfang seinem Wesen nach nie sich ergibt und ausliefert in die Aussag-
barkeit, sondern entgänglich in der Verbergung sich fängt, deshalb ist (ob dieses Sich-
nichtergebens des Anfangs) das Denken ergebnislos.« (E, 318)
344 »[…] weil alle Auslegung zu wenig erreicht von dem, was im anfänglichen Wissen
anfänglich sich entborgen. / Die Auslegung ist in der Tat ungemäß, aber nicht weil sie
zu viel, sondern weil sie zu wenig, immer noch zu Unanfängliches dem Anfang zu
sagt.« (E, 65)
232
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
345 Siehe dazu auch: »Niemals läßt sich das herrschaftliche Wissen dieses Denkens in
einem Satz sagen. Aber ebenso wenig kann das zu Wissende einem unbestimmten
flackernden Vorstellen überlassen bleiben.« (BPh, 64)
346 Dieses Beziehen nennt Heidegger auch »Zueignung« und »Übereignung« (BPh,
26, 280, 311, 317, 357; B, 83, 307). In Zeit und Sein heißt sie »Sach-Verhalt« (ZS, 24).
Da das Ereignis Ort ist, kann Heidegger in Freiburger Vorträge sagen: »Wesen ist das
Währen als gewähren und dieses das Ereignen. Das Wesende der Sprache als des
Sagens ist der Be-reich. Dieses Wort wird hier als Singularetantum beansprucht. Es
nennt etwas Einziges, Jenes, worin alle Dinge und Wesen einander zu-gereicht, über-
reicht werden und so einander erreichen und einander zum Heil und Unheil ge-
reichen, einander ausreichen und genügen.« (FV, 168) Das Ereignis ist also Bereich
und: »Der Bereich ist die Ortschaft, in der Denken und Sein zusammengehören.« (FV,
168) Weiter heißt es: »Die Ortschaft ist selber das Ver-hältnis beider [des Denkens
und des Seins – L. P.].« (FV, 168)
347 In der Tat schreibt Heidegger: »Es mag auffallen, daß überall im seynsgeschicht-
lichen Denken das Verneinen spricht. Oft lautet die Rede, das ist nicht … ; diese Ver-
neinung hat ihre wesentliche Notwendigkeit im Austrag, der dem Abschied folgt.«
(E, 257) Wird etwas behauptet, was kein Wesen, sondern Abschied vom Wesen ist,
muss ständig gesagt werden, dass es etwas nicht ist. Die Verneinung ist ein wesentli-
cher Bestandteil der Sprache des Ereignisses.
233
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
348 Die Unterscheidung und Zusammenführung von Denken und Dichten in Heideg-
gers Philosophie fordert eine gesonderte Untersuchung. Wir verbleiben hier nur beim
234
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
Hinweis, dass die Sprache des Denkens »bildlos« ist: »Das Sagen der Denker redet
nicht in ›Bildern‹ und ›Zeichen‹, versucht sich nicht an mittelbaren Umschreibungen,
die alle gleich untriftig sein müßten.« (B, 299; siehe auch: BPh, 470; B, 22, 49, 51; ÜM,
135; A, 92, 161; E, 43, 283, 286, 309, 311, 327). Während »[l]eichter als andere ver-
hüllt der Dichter die Wahrheit in das Bild und schenkt sie so dem Blick zur Bewah-
rung« (BPh, 19).
349 Man kann das Ereignis gar nicht begreifen: Jede konkrete Auslegung wird erst
durch das Ereignis möglich, und als solche kann sie ihren Ursprung nicht einholen.
Die Auslegung kann nicht wissen, was sich eigentlich ereignet, weil sie Teil des Ereig-
nisses selbst ist. Das, was sie sagt, ist das, was sich ereignet, weil sie zum Ereignis
gehört, aber sie holt das Ereignis damit nicht ein, sondern sagt es nur vermittelt (ver-
mittelt durch sich selbst), also nicht »unmittelbar«: »Wir können das Seyn (Ereignis)
nie unmittelbar sagen, deshalb auch nicht mittelbar im Sinne der gesteigerten
»Logik« der Dialektik. Jede Sage spricht schon aus der Wahrheit des Seyns und kann
sich nie unmittelbar bis zum Seyn selbst überspringen.« (BPh, 79) Man kann das
Ereignis wiederholen, aber nicht unmittelbar bzw. mittelbar sagen.
350 Siehe auch: »Die Philosophie handelt nicht ›über‹ etwas, weder ›über‹ das Seiende
im Ganzen noch ›über‹ das Seyn. Sie ist die bildlose Sage ›des‹ Seyns selbst, welche
Sage das Seyn nicht aussagt, als welche Sage es vielmehr west. Die Philosophie ist
solche Sage oder sie ist überhaupt nichts.« (B, 64) Bildlich gesprochen: »Die Sprache
ist so die Sprache des Seins, wie die Wolken die Wolken des Himmels sind.« (HB, 364)
235
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Sagen das Ereignis, es gehört zu ihm, es ist die Weise, wie das Ereignis
sich selbst an diesem Ort ausdrückt.
Das Ereignis ist paradox. Das Paradoxe an ihm weist mehrere Mo-
mente auf: Es ist der Anfang und das, was anfängt; es ist äußerst
innerlich und doch räumlich; es ist der Anfang und der Untergang;
es ist der Anfang und die zukünftige Geschichte; es folgt einer Logik
und ist doch stets unvorhersehbar; es ist überall und doch nur an
seinen Orten; es ist unsagbar, fordert aber eine endlose Auslegung.
In diesem letzten Heideggers Ereignisdenken gewidmeten Kapitel
möchten wir auf noch eine paradoxe Situation innerhalb des Ereig-
nisses hinweisen, die sich auch in einer gewissermaßen widersprüch-
lichen Rede vom Ereignis widerspiegelt. Heidegger folgend legen wir
das Ereignis als Austrag, Erfahrung bis zum Schmerz aus. Dies im-
pliziert die Jemeinigkeit. Die Jemeinigkeit charakterisiert die Erfah-
rung des Seins schon in Sein und Zeit 351 und bleibt – wenn auch auf
veränderte Weise – auch für die Erfahrung des Ereignisses gültig:
»Da-sein ist je meines; was will das sagen? Daß die Inständigkeit im Da –
jene Entäußerung zu aller Äußerlichkeit des Innern des Subjekts und des
›Ich‹ – rein und nur im Selbst zu übernehmen und zu vollziehen ist; […]
Da-sein ist das je meine; die Gründung und Wahrung des Da ist mir selbst
übereignet. Selbst aber heißt: Entschlossenheit in die Lichtung des Seyns.«
(B, 329 f)
Dies bedeutet ganz einfach: Ich stehe in der Lichtung; das Ereignis ist
mein Ereignis, ich trage es aus, ich falle in den Abgrund des Seins. Das
Ereignis braucht mich, um wesen zu können, weil es eine Wesung mit
mir ist. Ich bin sein Ort des Einschlags. Es gibt kein Ereignis, wenn
niemand es austrägt. So könnte man in der Tat solche Textstellen
interpretieren.
Doch wir lesen auch, wie Heidegger – erstens – über das unbe-
dachte, nicht gegründete und unentschiedene Ereignis spricht – im
ersten Anfang ereignet sich das Ereignis, doch es wird als Ereignis
351 Dort heißt es: »Das Sein dieses Seienden [des Daseins – L. P.] ist je meines.« (SZ,
41)
236
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
nicht erfahren. Und zweitens wird für Heidegger das Ereignis nicht
nur als ein Augenblick des Einfalls verstanden, der als Ereignis erfah-
ren bzw. nicht erfahren wird, sondern auch als seine Geschichte, in
der es sich im Verborgenen ereignet. Wir sprechen also von einem
Ereignis, das überall und doch nirgendwo ist – jenseits aller Jemeinig-
keit. Wir sprechen von der Spur des Ereignisses, in der man zwar lebt,
die aber nicht als Spur angesehen wird und dementsprechend nie zu
einer jemeinigen Explikation kommt. In der Geschichte des Verges-
sens des Ereignisses wird das Ereignis nicht als Ereignis ausgetragen,
es wird aber das In-Sein im Ereignis behauptet – man ist im Ereignis
einmal in dem Sinne, dass das Gegebene des jeweiligen Welthorizon-
tes aus dem Ereignis entsprungen ist, und ein andernmal in dem Sin-
ne, dass man das Ereignis vergessen hat, was seine Verweigerung be-
stätigt.
Diese paradoxe Situation wird noch komplexer, wenn man be-
merkt, dass mit dem Ereignis als Verborgenen der Geschichte die
Rede nicht mehr von »den Seltenen« 352, »den Einzelnen« 353, »den
Einzigen« 354 und »den Ausgezeichneten« (B, 147) 355 ist, die zur »un-
bedingten Einsamkeit« 356 verdammt sind, sondern von allen (einer
Gemeinschaft) im gleichen Maße:
»Weil der geschichtliche Mensch im Unterschied des Seienden und des
Seins inständet, auch wenn er den Unterschied als solchen und in seinem
Wesen nicht erfährt […].« (E, 282)
Das in der Geschichte verborgene Ereignis wird also von allen ohne
Jemeinigkeit ausgetragen. Die Situation spitzt sich zu, wenn man am
Anfang dieses verborgenen Ereignisses einen Augenblick seines Ein-
schlags vermutet, den auch niemand in seiner Person empfangen hat.
Ist das überhaupt möglich? Und wenn ja, was ist das für ein Ereignis,
um das es sich hier handelt? Wird damit nicht höchst spekulativ eine
andersartige Wirklichkeit behauptet, die jenseits der sichtbaren
352 Die Seltenen, die Wenigen: BPh, 11, 28, 96 f, 227, 236, 400; B, 60, 230, 231; E, 54,
99.
353 Die Einzelnen: BPh, 96 f, 414; B, 147, 237, 243, 272, 273, 277.
354 Die Einzigen: BPh, 43; B, 231, 272, 273.
355 »[…] dieses Erstaunen je nur in den Einzelnen und Einzigen der seltenen Denker
237
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
238
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
239
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie
Emmanuel Levinas’
240
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
241
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Das Ereignis der Hypostase wird später – in Totalité et infini – als die
Loslösung des Seienden von der Totalität interpretiert und »Tren-
nung« (séparation) (TU, 145/TI, 75) genannt. In noch späterer Phi-
losophie Levinas’ ist aber das Heraustreten aus dem anonymen Sein
kaum noch ein Thema – dort handelt es sich um das Heraustreten aus
dem egoistischen Sein des schon gebildeten Seienden.
Zweitens, um den Unvorhersehbarkeits- und Einbruchscharak-
ter der Zukunft und damit auch des Zukünftigen schlechthin – des
Todes – zu unterstreichen, spricht Levinas – besonders in Le temps
et l’autre – vom Zukünftigen und Tod als einem Ereignis. Das Zu-
künftige ist ein unvorhersehbares Widerfahrnis, das nicht in der
Macht des Subjekts liegt:
»Das Objekt, dem ich begegne, wird begriffen, und, kurz gesagt, durch mich
konstituiert, während der Tod ein Ereignis ankündigt, dessen das Subjekt
nicht Herr ist, ein Ereignis, in Bezug auf welches das Subjekt nicht mehr
Subjekt ist.« (ZA, 43/TA, 57) 357
Das Zukünftige, das auf das Subjekt zukommt und seinem Zugriff
entzieht, ist für das Subjekt »das Unbekannte« (l’inconnu) – das »Ge-
heimnis« (mystère) (ZA, 43/TA, 56). Es ist das absolut Andere:
»Dieses Nahen des Todes zeigt an, daß wir in Beziehung sind mit etwas
absolut anderem […], mit etwas, dessen Existenz als solche aus Andersheit
[altérité – L. P.] gebildet ist. Meine Einsamkeit wird dergestalt durch den
Tod nicht bestätigt, sondern durch den Tod zerbrochen.« (ZA, 47/TA, 63)
In Le temps et l’autre zeigt Levinas, dass die Beziehung mit dem An-
deren – in diesem Fall: mit dem Weiblichen – genauso strukturiert ist,
wie die Beziehung zu dem Zukünftigen (ZA, 51/TA, 68 f). Dement-
sprechend ist die Rede vom Anderen als einem Ereignis. Der Andere
ist das Geheimnis, das auf mich zukommt und meine Einsamkeit zer-
bricht:
»Indem ich die Andersheit des anderen als Geheimnis setze, […] setze ich es
nicht als Freiheit, die mit der meinigen identisch ist und mit der meinigen
im Kampf liegt, setze ich nicht ein anderes Seiendes mir gegenüber, sondern
ich setze die Andersheit. Ganz wie beim Tod haben wir es nicht mit einem
Seienden zu tun, sondern mit dem Ereignis der Andersheit [événement de
l’altérité – L. P.], mit der Entfremdung.« (ZA, 58/TA, 80)
357
Siehe auch: SS, 51/EE, 68; ZA, 47/TA, 62, ZA, 49/TA, 65.
242
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
358
Dies belegt er mit folgender Stelle aus Levinas’ Texten: »Also! Ich denke, dass der
neue philosophische ›Schauer‹ (›frisson‹), den Heideggers Philosophie gebracht hat,
darin besteht, Sein und Seiendes zu unterscheiden und die Beziehung, die Bewegung,
die Wirksamkeit, die bisher im Existierenden lagen, in das Sein zu verlegen. Der
Existenzialismus [damit meint Levinas ausdrücklich Heidegger] bedeutet, die Exis-
tenz – das Verb-Sein – als Ereignis zu empfinden und zu denken. Ereignis, das das,
was existiert, nicht produziert, das nicht die Wirkung (l’action) dessen, was existiert,
auf einen anderen Gegenstand ist. Das reine Faktum des Existierens ist Ereignis.«
(Emmanuel Levinas: Intervention dans »Petite Histoire de l’Existentialisme« de Jean
Wahl. In: Les imprévus de l’histoire. Montpellier: Fata Morgana, 1994, S. 112.) Die
Übersetzung stammt von Delhom selbst: Delhom, 153.
359 Hier zitiert Delhom unter anderem folgende Passage: »Der Psychismus stellt ein
Ereignis im Sein dar […]. Er ist schon eine Seinsweise, der Widerstand gegen die
Totalität. Das Denken oder der Psychismus öffnet die Dimension, die von dieser Weise
gefordert wird. Die Dimension des Psychismus öffnet sich unter dem Druck des Wi-
derstandes, den ein Seiendes seiner Totalisierung entgegensetzt, er ist die Tatsache der
radikalen Trennung.« (TU, 68/TI, 24): Delhom, 157. In der Übersetzung von Nikolaus
Krewani, die Delhom hier zitiert, wird événement nicht als »Ereignis«, sondern als
»Geschehen« übertragen. Delhom schreibt aber »Ereignis«. Dazu siehe seine Bemer-
kung in der Fußnote: Delhom, 157.
360 Dies wird zum Beispiel mit folgender Stelle aus Totalité et infini (TU, 247/TI, 145)
belegt: »Der Rückzug in der Bleibe impliziert ein neues Ereignis. Ich muß mit etwas in
Beziehung gewesen sein, von dem ich nicht lebe. Dieses Ereignis ist die Beziehung mit
dem Anderen, der mich im Haus empfängt, die diskrete Gegenwart des Weiblichen.«:
Delhom, 160. Auch hier übersetzt Krewani événement mit »Geschehnis«, Delhom
schreibt aber »Ereignis«.
243
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
»Nach diesem Parcours durch Levinas’ Philosophie, vom Ereignis des Seins
über das Ereignis der Trennung bis hin zum Ereignis der Transzendenz und
der Sprache, scheint die Frage berechtigt, ob diese Philosophie nicht eigent-
lich eine Philosophie des Ereignisses darstellt oder zumindest ein wichtiges
Denken des Ereignisses beinhaltet, auch wenn dieser Aspekt seines Werkes
bis jetzt kaum berücksichtigt wurde. Ich glaube allerdings, dass eine solche
Behauptung irreführend wäre.« (Delhom, 163)
Man könnte aber denken, dass, wenn Levinas es für berechtigt hält,
bestimmte Geschehnisse mit dem Wort »Ereignis« zu bezeichnen, es
möglich wäre, ausgehend von diesem Gebrauch ein Levinas’sches
Konzept des Ereignisses zu entwickeln und mithilfe dieses Konzepts
nach der Ereignishaftigkeit dieser Geschehnisse zu fragen und so von
einer Philosophie des Ereignisses bei Levinas zu sprechen. Einen sol-
chen Versuch macht Claver Boundja in seinem Buch Philosophie de
l’événement. Recherches sur Emmanuel Lévinas et la phénoménolo-
gie. 361 Aufgrund der von Levinas verwendeten Sprache in wichtigen
Thesen seiner Philosophie schließt er, dass das »Ereignis« ein »fun-
damentales Konzept in der Phänomenologie von Levinas« darstellt:
»Les recherches, dont nous présentons ici les résultats, visent à analyser
l’événement comme le concept fondamental de la phénoménologie d’Em-
manuel Lévinas.« (Boundja, 9) 362
361 Strategisch ähnlich geht Étienne Feron in seinem Aufsatz L’événement (in: Em-
manuel Lévinas et l’histoire, hrsg. von Nathalie Frogneux und Françoise Mies. Paris:
Namur, 1998, S. 103–131.) vor. Auch er will hinter dem bloßen Wortgebrauch ein
entwickeltes Konzept des Ereignisses bei Levinas sehen. Levinas hat aber nur ein ent-
wickeltes Konzept von der Beziehung mit dem Anderen, die er manchmal als Ereignis
bezeichnet. Auch Delhom weist darauf hin, dass »Levinas nicht vom Ereignis als sol-
chem, sondern immer von etwas als Ereignis« (Delhom, 163) spricht.
362 Ähnlich sieht es Bernhard Casper, aber er misst dem Ereignisbegriff bei Levinas
nicht so große Bedeutung wie Boundja bei: »Überblickt man die Schriften von Levi-
nas, so fällt auf, wie früh das Wort ›Ereignis‹ in das Zentrum seines Denkens tritt und
welches semantisches Gewicht es dort durch alle Phasen seines œuvres hindurch be-
hält. Bereits 1935, also noch vor Heideggers Kehre und der darin geschehenden Hin-
wendung zu dem »Ereignisdenken« wird in De l’évasion événement zu einem Leit-
wort […].« (Casper(2009), 164) Dass dieses Wort so früh bei Levinas erscheint,
erklärt Casper durch den Einfluss Rosenzweigs, der von dem »ereigneten Ereignis«
spricht, und durch den frühen Heidegger (Casper(2009), 164 f). Was Casper allerdings
nicht ausführt, ist die Bedeutung, sogar unterschiedliche Bedeutungen und Verwen-
dungen dieses Wortes. In diesem Zitat geht es zum Beispiel um das Ereignis der Hy-
postase als Trennung von der Totalität, das aber nicht die einzige Bedeutung des Er-
eignisses in Levinas’ Philosophie ist. Man kann aber auf jeden Fall vermuten, dass
Casper der Ansicht ist, dass dieses Konzept einen philosophischen Hintergrund im
244
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
Sinne einer Philosophie des Ereignisses aufweist. Dies entspräche nicht unserer
These.
363 Boundja, 16. Dabei zitiert er folgende Stelle aus Le temps et l’Autre: »L’événement
(TA, 64)
365 Boundja, 17. Er zitiert Totalité et infini: »L’événement propre de l’expression con-
245
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
366 Es ist nicht ausgeschlossen, dass eigentlich auch Boundja auf dieselbe Weise vor-
geht, nur sucht er eine Rechtfertigung seines Ansatzes in der Philosophie Levinas’
(was wir nicht machen). Darauf könnte zum Beispiel folgende Stelle hinweisen:
»C’est le concept d’événement qui convient pour interpréter et traduire ce que Lévinas
dit du visage, car événement, c’est ce qui s’annonce de soi-même comme l’origine de
son propre sens.« (Boundja, 111) Das heißt: Das Konzept des Ereignisses, so wie
Boundja es versteht, ist einfach dazu geeignet die Philosophie Levinas’ zu beschrie-
ben. Wir teilen diese Auffassung.
246
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
247
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
248
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
Prozess ist, weil ein Prozess, eine Bewegung, ein Vorgang genauso
etwas Anwesendes und Beständiges und in diesem Sinne etwas Sei-
endes ist. Das Sein ist ereignishaft in dem Sinne, dass es ein Gescheh-
nis mit dem Dasein ist, das es in seine »surreale«, immer sich bewe-
gende und sich entziehende Situation führt, die sich nicht vorstellen
und erkennen lässt, weil man in ihr ist. Das Ereignis ist ein In- und
Betroffen-Sein. So wie eine Sommernacht, die uns einnimmt, uns
ein- und ausatmet. Sie ist kein Seiendes. Aber sie ist auch kein bloßes
subjektives Erlebnis, weil sie geschieht.
Das Ereignishafte bei Levinas – der Andere als »das Unendliche«
(l’infini), das sich im menschlichen »Antlitz« (visage) manifestiert,
weist eine ähnliche Struktur auf. Das Antlitz als Ort des Einbruchs
des Andern, wo die Situation der Nähe und Verantwortung geschieht,
ist kein Etwas, es ist nichts Greifbares. Die Begegnung mit dem An-
deren ist keine Begegnung mit einem bestimmten und beständigen
Etwas. Das Antlitz erscheint nicht als etwas für das Ich. Es ist kein
Phänomen, das in einem Bewusstsein erscheinen würde:
»Es entgeht der Vorstellung [représentation – L. P.]. Das Gesicht ist gerade
das Ausbleiben der Phänomenalität [phénoménalité – L. P.]. Nicht weil es
für das Erscheinen zu roh oder zu heftig wäre, sondern weil es in einem
bestimmten Sinne zu schwach ist, Nicht-Phänomen, weil ›weniger‹ als das
Phänomen.« (JS, 199/AQE, 112)
Das Phänomen als etwas, als etwas Gegenständliches, worauf das Be-
wusstsein intentional gerichtet ist, hat einen Umriss, eine Form, an
der das Erscheinende festgehalten wird, durch die es sichtbar, greifbar
und erkennbar ist. Im Fall eines Ereignisses wird diese Form auf-
gelöst:
»Während das Phänomen bereits Bild ist, Manifestation, die gefangen ist in
ihrer plastischen und stummen Form, ist die Epiphanie des Antlitzes leben-
dig. Sein Leben besteht darin, die Form [forme – L. P.] aufzulösen, in der
sich jedes Seiende, sobald es in die Immanenz eintritt, d. h. sobald es sich als
Thema darstellt, bereits verbirgt«. (SA, 221/DEHH, 271) 367
Das Antlitz, das Ereignishafte erreicht also nicht den Status eines
Etwas, was erscheint. Es erscheint, ohne zu erscheinen. Und dies kon-
stituiert sein Eintreten als »Rätsel« (énigme):
367
Siehe auch: ZU, 181 f/EN, 166.
249
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
368 Siehe auch: SA, 252 ff/DEHH, 296 ff. In der früheren Philosophie spricht Levinas
in Bezug auf die Erfahrung des Anderen vom »Geheimnis« (mystère). In Le temps et
l’autre schreibt er: »Das Verhältnis zum anderen ist ein Verhältnis zu einem Geheim-
nis.« (ZA, 48/TA, 63) Aber das Wort »Geheimnis« ist natürlich zu unkonkret, um die
Weise des Geschehens des Antlitzes zu explizieren, es lässt diese Struktur nur intuitiv
erahnen. Die Nicht-Phänomenalität des Antlitzes erklärt mehr.
369 Das Antlitz, das sich selbst, ohne Kontext bedeutet: SA, 282/DEHH, 320; HAM,
40/HAH, 50 f.
250
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
Das Antlitz als das Ereignishafte erscheint nicht als etwas und kann
nicht gedeutet werden. Es kann nicht festgehalten werden – es ent-
zieht sich durch das Sichtbare hindurch, bleibt immer abwesend. 370
Würde ein anderes Ereignis als das des anderen Menschen geschehen,
könnte man dieselbe Struktur aufweisen. Wäre das ein Ereignis eines
Duftes, so würde der Betroffene den ganzen Duft in sich hineinziehen
wollen, um das Ende dieses Duftes zu erreichen, mit der Hoffnung,
am Ende ihn verstehen zu können. Doch eher wird der Duft auf-
hören, als man dieses Ende erreichen wird. Der Duft, der seine Phä-
nomenalität hier und jetzt hat, führt den Betroffenen durch sich hin-
durch in eine unerreichbare Zukunft, in der er verstanden werden
könnte, die aber niemals ankommt. Er ist für immer mehr als diese
konkrete Phänomenalität und deswegen nicht als ein Etwas greifbar.
Der Duft ist als etwas da und doch führt er weiter; er entzieht sich
und bleibt uneinholbar. Es ist bemerkenswert – d. h. wichtig im Kon-
text der vorliegenden Arbeit –, dass, während Levinas solchen nicht-
gegenständlichen »Sachen« wie zum Beispiel dem Antlitz die Phäno-
menalität abspricht, Marion von ihnen als »gesättigten Phänomenen«
(phénomènes saturés) spricht. In der Tat behandelt das Kapitel V des
Buches De surcroît das Antlitz als ein gesättigtes Phänomen. Was sagt
uns das? Erstmal, dass das Ereignishafte grundsätzlich kein bestimm-
tes Etwas ist. Wir werden aber sehen, dass das, ob es als ein Nicht-
Phänomen oder als ein gesättigtes Phänomen beschrieben wird, nicht
die entscheidende Frage eines Ereignisdenkens ist.
Ein mit der Nicht-Phänomenalität verwandter Begriff, mit dem
Levinas das Ereignis beschreibt, ist der der Vorstellung im Sinne einer
Gestalt im Ich: Das Ereignishafte ist nicht auf die Vorstellung zu re-
duzieren:
»Das Antlitz, in dem der Andere sich mir zuwendet, geht nicht auf in der
Vorstellung des Antlitzes. Seine Not, die nach Gerechtigkeit schreit, ver-
nehmen, besteht nicht darin, sich ein Bild vorzustellen, sondern sich als
verantwortlich zu setzen, gleichzeitig als mehr und als weniger denn das
Seiende, das sich im Antlitz präsentiert.« (TU, 311/TI, 190)
Doch mit dem Vorstellungsbegriff wird nicht nur angezeigt, dass das
Ereignishafte grundsätzlich kein Etwas ist. Dieser Begriff weist auch
auf die Dimension der Zeitlichkeit des Ereignisses hin: eine Vorstel-
lung ist etwas Statisches, etwas Beständiges, das man deswegen re-
370
Die »Abwesenheit« (absence) des Anderen: SA, 283 f/DEHH, 321 f.
251
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Weil das Andere in der Vorstellung und Erkenntnis das Selbe ist,
kann hier von einer Beziehung keine Rede sein: das Subjekt bestimmt
das Andere, ohne selbst durch das Andere bestimmt zu werden. 372
Wenn es das Andere, das Ereignishafte geben soll, so kann die Bezie-
griff mitgedacht.
372
Zur Einseitigkeit der Beziehung zum Anderen, wenn das Andere dem Bewusstsein
angepasst wird, das Bewusstsein selbst aber unberührt, identisch mit sich selbst bleibt,
siehe: SS, 106/EE, 148; ZA, 37 ff/TA, 47 ff; TU, 246/TI, 145; SA, 209 ff/DEHH, 161 ff.
252
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
373 Bei dem Gebrauch vom Wort »Metaphysik« bei Levinas ist zu beachten, dass er
damit nicht in einer kritischen Einstellung die Wissenschaft vom objekthaften Seien-
den meint, wie dies zum Beispiel Heidegger und auch wir in dieser Arbeit tun. Meta-
physik ist für Levinas das Gegenteil von Ontologie – dem Denken des Seins – und sie
bedeutet das Denken des Anderen, das Überschreiten des Seins durch die Annäherung
zu dem Anderen (dazu siehe: TU/TI, 35/3, 38/5, 49/12, 66/23, 109/51).
374 Die Erkenntnis führt nicht aus der Immanenz des Selben heraus: EU, 43 ff/EI,
49 ff.
253
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Erscheinung des Anderen ist, ist auch Antlitz, oder auch folgendermaßen
(um dieses Eintreten, das in jedem Augenblick in der Immanenz und Ge-
schichtlichkeit des Phänomens stattfindet, zu zeigen): Die Epiphanie des
Antlitzes ist Heimsuchung.« (SA, 220 f/DEHH, 271)
Diese Passagen bestätigen die vermutete Zweideutigkeit des Ereignis-
ses: Das Ereignis ist das, was ankommt – das Unbegreifliche –, und
das Ankommen. Das Unbegreifliche kommt an, ist an sich ein An-
kommen. Diese beiden Aspekte sind unzertrennlich miteinander ver-
bunden. Wenn das Ereignishafte sich ereignet, geschieht ein Einbruch
in die Welt des Ich. Es ist so, als ob sich eine andere Welt durch die
Störung dieser Welt eröffnen würde:
»Der Eintritt des Antlitzes in unsere Welt geschieht im Ausgang von einer
absolut fremden Sphäre – d. h. aber gerade im Ausgang von einem Absolu-
ten, was übrigens der eigentliche Name der tiefen Fremdheit ist. In ihrer
Abstraktheit ist die Bedeutung des Antlitzes im buchstäblichen Sinne des
Wortes außergewöhnlich.« (SA, 222/DEHH, 271 f)
Allerdings darf man diese andere Welt nicht als eine Welt, als den
Horizont aller bestimmten Bedeutungen denken. Das, was sich er-
öffnet, ist das Jenseits aller Welten: »jenseits der ›Welt‹« (SA, 226/
DEHH, 275) 375. Es ist nur eine plötzliche Tiefe dieser Welt, die kein
Etwas aus dieser Tiefe ankommen lässt. Das, was einbricht, hat keine
eigene Realität – es existiert nur als die »Störung« (dérangement)
(SA, 241/DEHH, 287) 376 der Realität, der Ordnung dieser Welt, und
ist in diesem Sinne »an-archisch« (an-archique) (JS, 224/AQE,
128) 377. Die Störung durch den Anderen bedeutet für das Selbe die
»Unterbrechung« (interruption) des Bei-sich-Seins und den Identi-
tätsverlust: »Nicht-Identität« (non-identité), »Unterbrechung der
unumkehrbaren Identität, die dem sein zugehört« (JS, 47/AQE,
16). 378 Gestört und unterbrochen, findet die »Subjektivität« (subjecti-
vité), die von dem selbstzufriedenen Subjekt zu unterscheiden ist,
keine Ruhe mehr:
375 »L’au-delà est précisément au-delà du »monde« […].« Siehe auch: SA, 228/
DEHH, 276; HAM, 51/HAH, 62.
376 Zur Störung siehe auch: SA/DEHH, 244/289, 248/293.
siehe auch: HAM/HAH, 42/53, 92/102 f; JS/AQE, 35/10, 47 f/16 f, 50/18, 119/, 135/
72, 157/86, 207/117, 245/140 f, 255/147, 305/177, 318/184, 255/247, 278/160, 310/
180, 318/184, 335/195; GE, 100/DI, 131.
254
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
379 Zur Beunruhigung des Selben durch den Anderen siehe auch: SA, 284/321; HAM/
HAH, 43/53, 100 f/109 f; JS/AQE, 35/9 f, 135/72, 157/86, 170/95, 238/136, 255/147,
312/181; ZU, 114/104. In De Dieu qui vient à l’idée lautet es: »Das Hauptanliegen, das
hinter all diesen Bemühungen steckt, besteht darin, das Andere-im-Selben zu denken,
ohne dabei das Andere als ein anderes Selbes zu denken. Das im bedeutet keine Assi-
milierung: das Andere stört oder erweckt das selbe, das Andere beunruhigt das Selbe
oder inspiriert das Selbe, oder das Selbe begehrt das Andere oder wartet auf es […].
[…] Das Selbe ist folglich nicht in Ruhe […].« (GE, 98/DI, 130)
380 Das Ich wird von einer Exteriorität besucht und außer sich geworfen. Diese Situa-
tion wird von Levinas noch radikaler beschrieben: Es ist eine Situation der »Besessen-
heit« (obsession), der »Verfolgung« (persécution), wo ich die »Geisel« (otage) des
Anderen bin. Der Andere drängt sich auf, hat mich im Griff, fordert von mir eine
Antwort als Verantwortung.
381 Zur Umkehrung der Intentionalität siehe auch: TU, 180/TI, 101; SA, 223/DEHH,
255
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
382 Nicht das »Gesagte« (das Gesagte ist grundsätzlich meins), sondern das »Sagen«
selbst eröffnet die Andersheit des Anderen: TU/TI, 265 f/157 f, 295/179 f.
256
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
schen den getrennten Seienden totalisiert die Seienden nicht, sie ist »Bezie-
hung ohne Beziehung«, niemand kann sie umfassen oder thematisieren.
[…] Die Beziehung zwischen den »Abschnitten« des getrennten Seins ist
ein Von-Angesicht-zu-Angesicht, eine irreduzible und letzte Beziehung.«
(TU, 427/TI, 271) 383
Später – in Autrement qu’être – ist bei Levinas, entsprechend seiner
Radikalisierung des nicht-ontologischen Ansatzes, nicht mehr die
Rede vom sprechenden Anderen, sondern von mir, der spricht. Im
»Sagen« (le Dire), das Levinas vom »Gesagten« (le Dit) unterscheidet
(um wiederum zu zeigen, dass es nicht darauf ankommt, was man
sagt, sondern dass man sagt), nähere ich mich dem Anderen:
»Das Sagen ist eine Annäherung an den Nächsten.« (AS, 191/HS, 211) 384
Es ist diese »Nähe« (proximité) zu dem Anderen, die den Einbruch
des Anderen und das Außer-sich-Sein der Subjektivität bedeutet; die
die Antwort und Verantwortung dem Anderen gegenüber ist. Sie
stellt eine radikale Exteriorität dar und hat deswegen keine Phänome-
nalität. Das Ich erreicht das Ereignis nicht, indem es dieses Ereignis
vorstellend in sich aufnimmt, sondern nur, indem es, in Passivität
versetzt, das Ereignis empfängt, das selbst auf das Ich zukommt. Das
Ereignishafte wirft das Ich aus sich heraus – nach draußen, wo die
wirkliche Begegnung eines Von-Angesicht-zu-Angesicht stattfinden
kann.
383 Die Rede als die Beziehung mit dem Anderen, in der die Andersheit des Anderen
nicht aufgehoben wird: TU/TI, 44 ff/9 f, 57 f/18, 87 f/37 f, 99/45, 106/50, 138/71, 249/
147, 278 f/168 f, 426 f/271, 429/272 f.
384 Man muss aber beachten: Es ist richtig, dass ich zum Anderen hin im Sagen ge-
öffnet bin. Aber nicht einfach dadurch, dass ich denke: »Ich rede jetzt mit ihm.« Weil
ich kann ja den Anderen immer noch beim unseren Gespräch als ein intentionales
Objekt im meiner Immanenz auflösen. Diese Zuwendung zum Anderen ist tiefer:
Das Sagen als solches, noch vor meinem Ich denke, ist eine Voraussetzung des Ande-
ren und so ein Gespräch mit ihm. Dazu siehe insbesondere: ZU, 198 f/EN, 180 f.
257
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
385
Der Nicht-Ort der Subjektivität: JS/AQE, 40/12, 49/17, 55/21.
258
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
nymen Prozess des Seins und dem mit sich selbst identischen Be-
wusstsein. Sie ist »später« als das anonyme, totale Sein, weil von
ihm getrennt, und sie ist »früher« als das Bewusstsein, weil sie noch
keine Freiheit, kein Ursprung, sondern »Passivität« (passivité) ist –
sie empfängt, ohne zu sich selbst zu kommen und alles zu besitzen:
»Das ›Diesseits‹ oder das ›Vor-Ursprüngliche‹ oder das ›Prä-Liminare‹ be-
zeichnen – zwar durch Mißbrauch der Sprache – diese Subjektivität, die
früher ist als das Ich, früher als seine Freiheit und seine Nicht-Freiheit.
Vor-ursprüngliches Subjekt, außerhalb des Seins, in sich. Die Innerlichkeit
wird hier nicht mit irgendwelchen räumlichen Ausdrücken als das Volumen
einer umschlossenen und dem Anderen versiegelten Sphäre beschrie-
ben […]. […] Die Innerlichkeit ist die Tatsache, daß es im Sein etwas gibt,
was dem Anfangen vorausgeht […]. […] Es handelt sich hier um eine un-
übernehmbare Passivität, die sich nicht nennt oder die nur durch Miß-
brauch der Sprache genannt wird, Pro-nomen 386 der Subjektivität.« (HAM,
72 f/HAH, 82) 387
Wenn das Ereignis geschieht, wird das Ich auf seine Innerlichkeit,
seine Passivität zurückgeworfen – es verliert die Identität des reflexi-
ven, mit sich selbst identischen Bewusstseins, um von dem Anderen
betroffen zu werden. Diesen Prozess nennt Levinas »Rücklauf« (ré-
386 Mit dem »Pro-nomen« meint Levinas hier »Sich« (soi) – den Akkusativ der Passi-
vität der Subjektivität, der vor dem Nomen – dem Subjekt – geschieht. Levinas ver-
wendet oft das Wort »Akkusativ«, um die Subjektivität in der Begegnung mit dem
Anderen zu beschreiben. Der Akkusativ bedeutet, dass nicht Ich das Andere meint,
wodurch es zu einem Objekt wird, sondern das Andere meint Mich, bricht in mich
ein, zerstört meine Identität: »Das Subjekt wird beschreibbar als Sich, von vornherein
im Akkusativ (oder unter Anklage!) […].« (JS, 129/AQE, 69)
387 Dieses Früher-als-das-Ich wird bei Levinas unterschiedlich genannt. Wir ziehen
hier den Begriff »Innerlichkeit« vor, aber es kann auch genauso »das Vor-Ursprüng-
liche« (le pré-originaire), »Passivität« (passivité), »Subjektivität« (subjectivité), »der
Andere im Selben« (l’autre dans le même), »Sensibilität« (sensibilité), das Ich »im
Akkusativ« (à l’accusatif) u. a. genannt werden. Es ist interessant, dass Levinas, trotz
seiner grundsätzlich kritischen Einstellung gegenüber Husserl, der für ihn ein Denker
der Selben und der Totalität ist, bei ihm auch diese Idee des Vor-Bewussten, wo das
Andere begegnet wird, sieht. Auf der einen Seite nimmt Husserl alles im Selben auf
(GE/DI, 48/38, 133/159, 199/235; ZU, 105/EN, 97), aber, auf der anderen Seite, durch
die Aufdeckung des Lebens eröffnet er auch den Ort für das Andere vor dem Bewusst-
sein (GE/DI, 68 f/53 f, 196 f/232 f; ZU, 108 f/EN, 99 f). »Die Lebhaftigkeit des Lebens«
(GE, 72/DI, 56), »die passive Synthese der Zeit« (GE/DI, 92/87, 145/169), die Levinas
seinerseits »Geduld« (patience) nennt, »die lebendige Gegenwart« (ZU, 111/EN, 101)
sind Husserls Ideen, die seine Philosophie einer Philosophie des Anderen näher brin-
gen, indem sie einen »Bruch des Selben der Immanenz« (ZU, 111/EN, 102) andeuten.
259
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
currence) 388. Hier kann eine Frage entstehen: Wie kann das Transzen-
dieren aus sich auf das Andere hin, von dem wir vorher gesprochen
haben, mit dem Rücklauf zum Sich des Akkusativs vereinbart wer-
den? Sind das nicht entgegensetzte Richtungen? Handelt es sich hier
nicht um einen Widerspruch des Ereignisdenkens? Eine mögliche
Antwort auf diese Frage wäre: Die Passivität der Innerlichkeit ist das
Sich-Öffnen zum Anderen hin, sie ist das Transzendieren aus sich
heraus. Nur wer sich vor seiner Selbstheit befindet, kann den Ande-
ren in sich aufnehmen. Das Zurücklaufen und das Hinlaufen sind
zwei Seiten einer Medaille – zwei Seiten des Ereignisses. Man ist
gleichzeitig in sich und außer sich.
Diese an das individuelle und unersetzbare Sich gebundene In-
nerlichkeit ist also notwendig für das Ereignis des Anderen:
»Das Individuelle und das Persönliche sind notwendig, damit das Unend-
liche sich als Unendliches ereignen kann.« (TU, 316/TI, 193)
»Das Menschliche heißt Rückkehr zur Innerlichkeit des nicht-intentionalen
Bewußtseins […].« (ZU, 186/EN, 170) 389
Eine weitere Frage kann entstehen, nämlich ob das Ereignis auf ein
Erlebnis reduzierbar ist, das eine Phänomenologie beschreiben könn-
te. Wenn die Philosophie des Ereignisses dazu kommt (und sie kommt
unausweichlich dazu), eine Situation zu beschreiben, in der sich der
vom Ereignis Betroffene vor oder jenseits der Subjekt-Objekt Bezie-
hung, der Noesis-Noema-Korrelation, des Verhältnisses von Er-
kenntnis und Sein befindet, lässt es sich fragen, ob es sich hier um
ein Erlebnis handelt. Wir erinnern uns, dass schon Heidegger in sei-
nem Ereignisdenken dieses Problem behandelt hat: Wenn das vorstel-
lende Denken das Sein nicht denken kann, ist das Sein dann vielleicht
ein Erlebnis, ein Gefühl, ein seelischer Zustand? Heideggers Antwort
auf diese Frage lautete: Das Sein als Ereignis wird gedacht, aber von
einem Denken, das sich nicht gegenüber dem Sein, sondern in ihm
aufhält und aus ihm spricht. Für Levinas wäre die Einführung eines
neuartigen Denkens allerdings keine Lösung, weil jedes Denken the-
matisiert, und indem es thematisiert, macht es das Thematisierte zu
einem Objekt für das Selbe. Aber auch ein Gefühl, der Genuss oder
auch die Unterbrechung des Genusses – Schmerz – sind genauso an
388
Die Rekurrenz: SA, 295–330/Sub; JS/AQE, 227 ff/130 ff, 251/144 f, 253/145 f.
Oder auch »Rückkehr« (retour) (ZU, 186/EN, 170).
389
Bereits in der Einleitung zitiert.
260
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
das Ich gebunden: Sie sind egoistisch, sie kennen das Andere nicht.
Das Ereignis der Begegnung mit dem Anderen ist also weder Er-
kenntnis noch ein präreflexives Erlebnis:
»Bedeutung [d. h. der Andere – L. P.], die dem Thema unangemessen bleibt,
obschon sie sich, um sich zu zeigen, in ihm ausbreitet. Man darf sie deshalb
doch nicht als »erlebte Bedeutung« [signification vécue – L. P.] auffassen.«
(JS, 309/AQE, 180)
»Man ist sogleich geneigt, eine solche Bedeutung Erlebnis zu nennen. Als
wäre die Bipolarität der Erlebten und des Thematisierten – die uns von der
Husserl’schen Phänomenologie her vertraut ist – nicht schon Ausdruck
einer bestimmten Weise, allen Sinn in Abhängigkeit vom Sein und vom
Bewußtsein zu interpretieren. Als könnte die Verantwortung des der-Eine-
für-den-Anderen nichts anderes ausdrücken als die Naivität eines unreflek-
tierten Erlebten, dem aber die Thematisierung verheißen ist.« (JS, 362/
AQE, 212) 390
Wenn die Begegnung mit dem Anderen als Ereignis weder ein Thema
für das Denken noch ein Erlebnis im subjektiven Erlebnisstrom ist,
wobei in beiden Fällen das Andere das Selbe ist, wie ist sie dann zu
beschreiben? Als Transzendieren aus sich selbst zum Anderen hin, als
die Passivität der Innerlichkeit – so wurde die Frage beantwortet.
Aber man darf nicht verwechseln: Das Ereignis ist das Außer-Sich,
aber nicht das Gefühl von Außer-Sich-Sein. Es ist die Versetzung in
die Passivität, aber nicht das Gefühl der Passivität in der Innerlichkeit.
Die Passivität ist nicht »Bewusstmachung dieser Passivität« (ZU, 162/
EN, 148). Genauso wenig ist es ein Gedanke vom Außer-Sich-Sein
oder der Begriff der Passivität. Ich erlebe nicht das Transzendieren
aus mir selbst: Ich transzendiere wirklich. Ich erlebe nicht die Passi-
vität: Sie geschieht mit mir als eine Wirklichkeit. Das Ereignis ist eine
Wirklichkeit, die mit mir geschieht: Es geschieht nicht in mir. Des-
wegen ist auch eine Phänomenologie des Ereignisses nicht möglich.
Ich bin nur ein Teil eines Geschehnisses, die meine unersetzbare In-
nerlichkeit als Passivität in Anspruch nimmt. Ich – genau ich – bin der
Betroffene. Es gibt kein Ereignis ohne ein Ich – ein Ich, verstanden
nicht als ein Bewusstsein, sondern als Einbruchstelle für das Andere;
verstanden als dasjenige, was anders sein kann als es ist.
390 Die Bedeutung ist weder etwas Objektives noch ein subjektives Erlebnis: SA, 200/
261
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
262
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
391 Das Überschreiten des Denkens: TU/TI, 29 f/XV, 31/XVII, 58/18, 64/22, 81/33,
181/101 f, 320 f/196, 429 f/273; HAM, 44/HAH, 54; JS, 302/AQE, 175.
392 Das Denken, das mehr denkt als es denkt: SA/DEHH, 201/242, 225/274, 257/300;
263
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
393 Die nicht aufzeigbare Differenz: JS/AQE, 66/29 f, 105 f/55 f. Die Differenz zeigt
also nicht die Differenz zwischen zwei im Selben gedachten Sachen, weil diese keine
Differenz mehr aufzeigen: »Die absolute Differenz kann nicht von sich aus den in
Differenz Stehenden die gemeinsame Ebene angeben.« (GE, 41/DI, 32) Und deswegen
kann man auch sie selbst nicht denkerisch einholen.
264
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
394 Aber auch diese Täuschung ist durchaus real und lebendig, zum Beispiel, wenn in
der Schule die Schüler die Sonnenfinsternis, die gerade draußen stattfindet, auf der
Leinwand beobachten und denken, dass sie die Sonnenfinsternis sehen.
395 Eine philosophische und kulturkritische Analyse des Verhältnisses zwischen dem
Zeichen und der Wirklichkeit und unserer Auffassung diesbezüglich siehe in den
Werken von Jean Baudrillard, zum Beispiel in seinem Werk Simulacres et Simulation
(1981).
265
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
falten oder ausschneiden; mit dem zweiten kann man kein Würfel-
spiel spielen oder ihn mit einer bestimmen Fläche nach unten in den
Regal stellen. Und obwohl diese gravierenden Unterschiede zu erken-
nen sind, werden diese beiden so unterschiedlichen Sachen mit ein
und demselben Wort bezeichnet. Und das ist scheinbar berechtigt,
weil trotz aller Unterschiede eine wesentliche Ähnlichkeit zwischen
beiden Würfeln besteht. Hier handelt es sich nicht um die Homo-
nymie, sondern wirklich darum, dass scheinbar dieselbe Sache mit
gleichem Wort bezeichnet wird. Es ist durchaus möglich, dass man
irgendwann zum Schluss kommt, dass der Unterschied zwischen
einem Würfel, mit dem man eine Sechs würfeln kann, und einem
Würfel, den man ausschneiden kann, so gravierend ist, dass man sie
nicht mit ein und demselben Wort bezeichnen darf. Also, einer der
Würfel ist kein Würfel. Wenn man den ersten Würfel als »Würfel«
bezeichnen möchte, dann müsste man unter den anderen schreiben:
»Dies ist kein Würfel.« So hat das René Magritte in seinem berühm-
ten Werk La trahison des images (1926) mit dem Abbild einer Pfeife
gemacht. Kein Bild einer Pfeife, so perfekt es auch sein mag, ist eine
Pfeife. Wenn man Levinas’ Texte liest, dann scheint es, dass er un-
ermüdlich auf die Abbildungen des Anderen in uns – sei es eine Vor-
stellung, ein Begriff, ein Gedanke – zeigt und sagt: »Dies ist nicht das
Andere.«
Doch damit ist die Täuschung noch nicht aufgelöst. Wie gesagt,
liegt sie nicht darin, dass ein Bild für das Abgebildete gehalten würde.
Es ist leicht einzusehen, dass man mit einem Bild nicht würfeln kann,
dass es nur ein Bild ist. Und man könnte vielleicht alle diese Über-
legungen für Haarspalterei halten und vorschlagen, dass, wenn schon
jemand so akribisch ist, er immer zu einem Bild sagen kann: »Das ist
ein Bild von …« Als handle es sich hier nur um den Sprachgebrauch,
nämlich um eine Abkürzung im Sinne, dass man sagt: »Das ist …,«
aber denkt: »Das ist ein Bild von …« Die Täuschung bleibt, weil diese
dualistische Bild-Abbild-Weltansicht nicht in Frage gestellt wird. Es
gibt Bilder und es gibt das, was abgebildet wird, abgebildet auf unter-
schiedlichste Art und Weise – gezeichnet, bezeichnet, vorgestellt, be-
grifflich gedacht etc. Man weiß und versteht, dass das so ist. Es wird
stillschweigend angenommen, dass man, wenn man darum weiß,
leicht und ohne Probleme, wann immer man es will, vom Bild zum
Abgebildeten überspringen kann: so wie in diesem Fall mit dem Wür-
fel. Wenn man den realen Würfel möchte, muss man sich ihm nur
zuwenden. Aber genau hier liegt die Falle. Der wirkliche Würfel, der
266
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
als Gegensatz zum im Bild dargestellten Würfel erscheint, ist nur ein
Bild von einem Würfel – er ist ein schon im vorstellenden Denken
begrifflich bearbeiteter Würfel, dem solche Merkmale wie »real«,
»mit viereckigen Flächen«, »rot« etc. zugeschrieben werden. Es ist
nur ein Bild, weil nur ein Bild mit einem Bild verglichen werden
kann, und die Absicht war, einen Vergleich zu machen, die Differenz
herauszuarbeiten. Diesen Sachverhalt kann man wieder mit einem
Werk von Magritte veranschaulichen. Auf seinem Gemälde Les deux
mystères (1966) ist eine Staffelei abgebildet, die sich in einem Zim-
mer befindet und auf der das Werk La trahison des images steht. Über
dieser Staffelei schwebt eine Pfeife in der Luft. Sie könnte eine Zeich-
nung auf der Wand sein. Andererseits könnte sie – im Vergleich zum
auf der Staffelei stehenden Bild – den gleichen Realitätsgrad wie das
Zimmer haben, in dem diese Staffelei steht. Man könnte das Werk
Les deux mystères so auffassen, dass es die Idee des Werkes La trahi-
son des images zeigt – zeigt, dass es eine reale Pfeife gibt und ein
Abbild von dieser Pfeife und dass dieses Abbild keine Pfeife ist. Hier
kann man deutlich sehen, dass wir zu sagen neigen, dass die Pfeife, die
in der Luft schwebt, eine reale Pfeife ist – im Vergleich zur Pfeife, die
als ein Abbild dargestellt wird. Doch sie ist auch nur ein Abbild auf
einem Gemälde (die Zweideutigkeit dieser Pfeife wird dadurch ge-
zeigt, dass es nicht klar ist, ob sie wirklich oder nur abgebildet ist).
Aber das merkt man erst später, wie kurz auch die Verzögerung sein
möge. Zuerst wird die schwebende Pfeife als eine solche aufgefasst,
die mehr real ist als die Pfeife im Kunstwerk auf der Staffelei. Es gibt
noch andere Werke von Magritte, die diese Eigentümlichkeit unserer
Auffassung illustrieren können, zum Beispiel La condition humaine
(1933 und 1935). Im Gemälde La condition humaine von 1933 ist
wieder eine Staffelei zu sehen, auf der ein Bild von einer Landschaft
zu betrachten ist. Dieses Kunstwerk steht vor einem Fenster, aus dem
diese Landschaft zu sehen ist. Und das Bild passt perfekt zu dieser
Landschaft, als ob es ein reales Stück von ihr wäre. Das zeigt, erstens,
dass wir das Bild für die Realität halten, aber das zeigt auch, dass,
wenn wir diese Täuschung auflösen, wir einer neuen Täuschung er-
liegen, nämlich, dass wir ein Bild für realer halten als ein anderes. Im
Werk La condition humaine von 1935 ist wieder ein Kunstwerk zu
sehen, das die Realität – diesmal einen Strand – ergänzt, ein Stück
von ihr ist, sie ersetzen kann. 396
396
Eine äußert interessante philosophische Interpretation zum Werk Magrittes gibt
267
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Michel Foucault in seinem kleinen Buch Ceci n’est pas une pipe (1968) (deutsche
Übersetzung von Walter Seitter: Dies ist keine Pfeife. München: Hanser, 1974).
268
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
letzt darin, auf die »irreduzible Struktur des Psychismus« (DI, 193),
auf das Lebendige des Lebens zu verweisen. 397 Das Bessere als das
Denken ist das Leben: Es ist die Überschreitung des Denkens. Dem
Anderen begegnet man im Leben. In Autrement qu’être heißt es: Wir
transzendieren aus uns, wir tun etwas mehr und besseres als zu den-
ken, wenn wir durch unsere Sinnlichkeit die Welt in ihrer Lebendig-
keit erleben, wenn wir in der Nähe zu den Anderen sind.
Hinsichtlich des Ereignisses muss man also festhalten, dass das
Ereignis mehr als das Denken ist. Es geschieht nicht im Denken und
dies im radikalen Sinne des Wortes: Das Ereignis wird nicht nur als
Überschreiten des Denkens gesetzt, sondern geschieht auch wirklich
nur dann, wenn das Ich aus sich heraus geworfen wird. Und es wird
aus sich geworfen, wenn es der Gegenwärtigkeit ausgesetzt wird und
sich nicht in die Repräsentation bei sich zurückzieht. 398 Die Undenk-
barkeit des Ereignisses ist also nicht formal, sie definiert es nicht,
sondern geschieht wirklich. Das Überschreiten des Denkens und die
Denkbarkeit sind selbst ereignishaft: Sie sind keine Eigenschaften,
sondern Geschehnisse, die mit jemandem geschehen. Und weil sie
keine Eigenschaften sind, sondern Ereignisse, kann man über sie
nicht sprechen. Man kann nur etwas über den Begriff des Ereignisses
sagen, nicht aber über das Ereignis selbst: Es ist undenkbar. Das Den-
ken des Ereignisses ist kein Ereignis. 399 Und genauso wenig ist das
397
Ein Denken, das alles nicht gleich macht, ist – erstens – »das von einer irreduzier-
baren Differenz beherrschte Denken« (GE, 209/DI, 243). Und es ist – zweitens – ein
»[…] Denken, in dem die Nähe des Nächsten, das auf die Erfahrung nicht reduzier-
bare Verkehren mit dem Anderen, die Annäherung an den ersten Besten bedeutet.«
(GE, 211/DI, 244)
398 Das Andere ist die »Gegenwart« (présence) des Anderen, also nicht etwas, sondern
der Moment, in dem es da mit mir ist. Dazu siehe zum Beispiel: TU/TI, 88/38, 93/41;
SA, 283/DEHH, 321.
399 Das Ereignis ereignet sich, man kann es nicht ins Denken verlagern. Trotzdem
passiert es immer wieder, dass man das Ereignis in seinem Abbild zu finden glaubt:
in der Kunst, in der Dichtung oder auch in der Philosophie. So schreibt zum Beispiel
Boundja, der die Philosophie des Ereignisses bei Levinas behandelt: »Les recherches,
dont nous présentons ici les résultats, visent à analyser l’événement comme le concept
fondamental de la phénoménologie d’Emmanuel Levinas. Cette phénoménologie elle-
même se présente comme un événement. Phénoménologie qui laisse advenir la diffé-
rence de l’autre: la venue de l’autre dans sa différence est un événement, et la pensée
qui tente de dire cette venue est aussi un événement. […] La pensée de l’événement
est, en même temps, un événement de la pensée.« (Boundja, 9) In diesem Kapitel
haben wir versucht zu zeigen, dass dies unmöglich stimmen kann. Das Denken des
269
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Das Andere ist kein Objekt für ein Subjekt, sondern eine wirkliche
Beziehung zum Anderen. Die Philosophie Levinas’ stellt keine Phi-
losophie des Anderen dar, die das Andere als eine Substanz themati-
sieren würde, sondern eine Philosophie der Beziehung zum Anderen,
die auffordert, diese Beziehung nicht nur zu thematisieren und zu
denken, sondern wirklich zu vollziehen. Im gewissen Maße findet
diese Beziehung schon immer statt, weil jedes Denken ein Sich-
dem-Anderen-Zuwenden, ein Gespräch ist, das die Anderen schon
immer vorausgesetzt hat. Doch nur als eine Beziehung, die nie auf-
hört einzutreten, ist sie ein Ereignis. Das Ereignis ist die wirkliche
Beziehung mit dem Anderen, oder – wenn wir von dem inhaltlichen
Aspekt des Levinas’schen Ereignis absehen – das Sich-Befinden in
einer Situation, in einem Zusammenhang der Dinge und Gescheh-
nisse.
Die Beziehung zu dem Anderen als Ereignis ist das Überschrei-
ten des Denkens, mehr als das Denken, weil sie ein Transzendieren
aus sich heraus zum Anderen hin ist. Um diese Art der Bewegung des
Selben zu beschreiben, verwendet Levinas – vor allem in Totalité et
infini – den Begriff »Begehren« (désir). Im Jahr 1957 schreibt er:
»Die Idee des Unendlichen ist ein Denken, das in jedem Augenblick mehr
denkt, als es denkt. Ein Denken, das in jedem Augenblick mehr denkt, als es
denkt, ist Begehren.« (SA, 201/DEHH, 242)
Im Vergleich zu den späteren Versuchen, die Beziehung zu dem An-
deren außerhalb der Immanenz des Ich zu verorten, beschreibt das
Konzept des Begehrens diese Bewegung aus dem Selben heraus eher
negativ, d. h. als die Unmöglichkeit, das Andere als ein Objekt im
Selben zu beinhalten. Weil es nicht im Selben ist und weil die Relati-
on zu ihm nicht im Selben stattfindet, ist es unendlich 400 und absolut.
Diese Unmöglichkeit, die radikale Exteriorität zu erreichen, wird als
Ereignisses ist nie dasjenige Ereignis, das gedacht wird: Es kann höchstens ein anderes
Ereignis sein, zum Beispiel der Einfall einer genialen Idee.
400 Der Andere ist unendlich, das Unendliche – hier bezieht sich Levinas auf Descartes
und seine Idee von der unendlichen Substanz, die nicht im Ich enthalten werden kann.
270
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
401
Das Begehren, das Begehren im Gegensatz zum Bedürfnis: TU/TI, 35 ff/3 ff, 260 f/
154, 433 f/275; SA, 201 f/DEHH, 242 f; HAM, 37 f/HAH, 48 f; EU, 71/EI, 86 f.
402
Das Begehren als Beziehung mit dem Anderen: TU, 260 f/TI, 154; EU, 71/EI, 86 f.
271
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
272
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
403 Dass das Ereignis bei Levinas zumindest teilweise in der Sensibilität zu verorten
ist, behauptet auch Boundja: »Cette recherche nous permettra de comprendre commet
273
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
durch den Leib ist uns die Exteriorität in ihrer Transzendenz, Gegen-
wärtigkeit und Wirklichkeit gegeben. Der Leib gibt uns ursprüng-
lichere Erfahrung von der Welt als die Erkenntnis. Man muss natür-
lich beachten, dass das Konzept des Leibes bei Levinas – genauso wie
in der ganzen phänomenologischen Tradition seit Husserl und ins-
besondere bei Merleau-Ponty – nicht dem traditionellen Begriff des
Leibes entspricht. Für die Phänomenologie ist der Leib nicht bloß ein
Organ der Sinnlichkeit, das Daten sammelt, die dann zu den Sinnes-
objekten konstituiert werden und als Vorstufe des Wissens oder des-
sen Material gelten. 404 Die Sensibilität des Leibes hat nichts mit der
Erfahrung oder Erkenntnis zu tun, sondern ist das Transzendieren
nach außen, Passivität, Ausgesetztheit dem Anderen, Unmittelbar-
keit, Nähe. Das denkende Subjekt tritt aus sich heraus nicht durch
das Denken, sondern durch den Leib. Durch den Leib ist die Subjek-
tivität bei dem Anderen, in ihm:
»Der Sprung der Transzendenz, der von der Seele zum Körper geht, ist
absolut. In einem ›bestimmten Augenblick‹ ist der Springer wahrhaftig nir-
gends; Die Transzendenz geschieht in der Kinästhese 405; in ihr überschreitet
sich das Denken nicht dadurch, daß es einer objektiven Realität begegnet,
sondern indem es eine leibliche Bewegung vollzieht.« (SA, 149/DEHH,
196)
»Das Denken geht nicht über sich hinaus, indem es auf eine objektive Rea-
lität trifft, sondern indem es in diese vermeintlich weit entferne Welt ein-
tritt. Der Leib, Nullpunkt der Vorstellung, ist jenseits dieses Null; er ist
schon in der Welt, die er konstituiert, sie sind ›nebeneinander‹ und gleich-
zeitig ›gegenüber‹ ; er bildet die Mischung, die Merleau-Ponty fundamen-
tale Geschichtlichkeit nennen wird.« (SA, 180/DEHH, 221 f)
»Fühlen, das heißt, darinsein […].« (TU, 192/TI, 108) 406
405 Levinas interpretiert hier Husserl. Für Husserl sind die Kinästhesen die Bewegun-
gen des Leibes, durch die ein sinnliches Objekt konstituiert werden kann. Kinästhesen
können zum Beispiel die Bewegungen der Augen sei, um einen großen Gegenstand zu
fassen, oder das Betasten eines Gegenstandes mit den Händen, um seine Form zu
erkunden. Siehe auch: SA, 177/196.
406
Der Leib als das Aus-sich-Heraustreten, das In-Sein: SA/DEHH, 95 f/166 f, 145/
193 f, 148 ff/195 ff, 174/217, 179/221; TU/TI, 186 f/104 f, 195 f/111; HAM, 19/HAH,
27.
274
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
407 Die Unmittelbarkeit, Hier und Jetzt, Wirklichkeit: SA/DEHH, 94 f/165 ff, 172/
193.
275
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
kenden Gestalt des ›Bewußtseins von‹. […] Die Sinnlichkeit intendiert kei-
nen Gegenstand, auch nicht einen noch unausgebildeten Gegenstand. […]
aber ihre eigentliche Leistung besteht im Genuß, der jedes Objekt im Ele-
ment, in dem der Genuß badet, auflöst.« (TU, 194 f/TI, 110)
Mit anderen Worten: Das, was die Sensibilität liefert, ist keine sinn-
liche Anschauung. Levinas ist der Ansicht, dass die sinnliche An-
schauung, so wie sie in ihrer klassischen Interpretation als Vorstufe
oder Gegensatz zum begrifflichen Denken gedacht wird, die Exterio-
rität in ihrer Unmittelbarkeit nicht erreicht, weil sie schon eine »be-
griffliche Bearbeitung« erlitten hat, weswegen sie bereits gegenständ-
lich ist. 410 Diese Interpretation setzt voraus: Wenn wir anschauen,
etwas sehen, fühlen, hören etc., ist dieses Sehen, Fühlen, Hören schon
ein Sehen, Fühlen und Hören von etwas, von einem Objekt, das aber
vom Denken gesetzt wird. Das Gesehene, Gefühlte, Gehörte wird nur
zur sinnlichen Qualität eines Objekts, das gedacht wird. Bei der sinn-
lichen Anschauung geht es also letztendlich um ein Objekt für ein
410
Die »sinnliche Anschauung« (intuition sensible) ist schon eine begrifflich bearbei-
tete Erfahrung, weswegen sie die Exteriorität nicht erreicht: SA, 275 f/DEHH, 315, JS/
AQE, 145 f/79, 151 f/83, 154/84. Zu der »klassischen« Interpretation der Sinnlichkeit
zählt Levinas auch Husserls und Heideggers Ansatz. Genauer gesagt: Levinas ist der
Auffassung, dass sie das Unmittelbarste nicht erreicht haben und dem Intellektualis-
mus verhaftet geblieben sind (zum Husserl siehe: SA, 263 f/305 f; JS/AQE, 89 ff/45 ff,
150 ff/82 ff, 181/101; zu Heidegger siehe: JS/AQE, 155/85, 181/101, ZU, 14 f/EN, 16).
Levinas Bezug zu Husserl ist in diesem Punkt allerdings nicht eindeutig. Auf der
einen Seite ist er der Meinung, dass die Husserl’sche Phänomenologie nur das Be-
wusstsein, das Objekthafte für das Bewusstsein analysiert. Diese Interpretation geht
auf seine erste Auseinandersetzung mit Husserl in seinem ganz frühen Werk Théorie
de l’intuition dans la phénoménologie de Husserl (1930) zurück. Auf der anderen
Seite sieht er – wie das in seiner Auseinandersetzung mit Husserl in En découvrant
l’existence avec Husserl et Heidegger (1949) und in späteren Werken zu beobachten
ist – in solchen Konzepten Husserls wie Urimpression, Vor-Prädikative, Leib und Kin-
ästhese, Horizont die Eröffnung zum Vor-Objekthaften, zu dem, was geschieht, bevor
das Objekt konstituiert wird (siehe zum Beispiel: SA, 93 ff/164 ff, 99 f/170, 132 f/183 f,
144 ff/192 ff, 165 f/210 f, 172/215, 176/218 f). Levinas schreibt in Bezug auf Husserl:
»Was alle Analysen geprägt hat, ist diese rückschreitende Bewegung vom Objekt weg,
hin zur konkreten Fülle seiner Konstitution, in der die Sinnlichkeit die erste Rolle
spielt.« (SA, 88 f/DEHH, 161) Auch Boundja weist darauf hin, dass genau durch die
Auseinandersetzung mit Husserls Konzept der Sensibilität Levinas die Möglichkeit
einer nicht-objekthaften Begegnung mit dem Anderen entdeckt bzw. explizieren
kann: »C’est en analysant Husserl que Lévinas découvre le sensible comme lieu de
l’individuation du sujet, en deçà de la représentation, qui permet de fonder l’éthique
sur une intentionnalité non théorétique; irréductible au savoir.« (Boundja, 31n.42)
276
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
277
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
nend, ihm anonym Geld spende. Ich spende das Geld nur meiner Vor-
stellung. Sogar das Heidegger’sche Ereignis des Geschehnisses der
Wahrheit kann ohne Leiblichkeit nicht erfahren und gedacht werden.
Das Da-sein in seiner Jemeinigkeit steht in der Mitte der Lichtung,
die sich um es bildet. Diese Mitte ist aber durch sein Da definiert, das
seinerseits nur durch den Leib definiert werden kann: Ich, mein Leib
ist da, ich existiere, ich bin ein Seiendes, ich stehe in der Lichtung, ich
sehe, wie die Wahrheit geschieht. Im jeden Ereignis geschieht das
Transzendieren nach Außen. Dies geschieht wesentlich als leibliche
Erfahrung: Etwas wird gehört, gesehen, gespürt etc. Dies muss nicht
eine physische Realität sein, aber es ist auch nicht ein Geschöpf des
Bewusstseins. Das Ereignis ist keine Halluzination: Es ist eine kör-
perliche Begegnung mit einer Exteriorität. Heideggers Geschehnis
der Wahrheit, wo das Seiende als das Seiende und als das, was es
konkret ist, in Erscheinung tritt, ist keine physische Erscheinung,
die man mit den Augen als Organen sehen könnte. Aber es ist auch
nicht eine Einbildung und deswegen eine völlig subjektive Vorstel-
lung. Eher ereignet sich dieses Ereignis mit einem Seienden, bei dem
ich bin, und ich kann es irgendwie sehen und so sehen, als ob es außer
mir geschehen würde: in seinem eigenen, vom Ereignis gegründeten
Zeit-Raum.
Wenn jedes Ereignis die Sensibilität voraussetzt, könnte man
fragen, ob jede leibliche Erfahrung ein Ereignis ist? Nun, jede leib-
liche Erfahrung könnte ein Ereignis sein, oft aber verschwindet sie
hinter dem Gegenstand oder wird mit der Rückkehr des Bewusstseins
zu sich selbst annulliert. Die Aufnahme des Wassers im Akt des Trin-
kens wird zum Beispiel funktionalisiert, d. h. vergegenständlicht: Es
ist etwas, was man tut, um Durst zu löschen. Wenn man trinkt, achtet
man darauf, ob das Wasser seine Funktion erfüllt. Man kann auch den
Trinkakt genießen, aber auch in diesem Fall reflektiert das Bewusst-
sein diesen Akt und so verliert es ihn: Es ist bei sich. Aber die Wasser-
aufnahme kann auch ein Ereignis sein. So wie sie zum Beispiel von
Antoine de Saint-Exupéry in seinem Roman Terre des hommes
(1939) beschrieben wird. Nach mehreren in der Wüste verbrachten
Tagen, ohne Wasser, mit kaum Hoffnung auf die Rettung, ist die
plötzliche und unverhoffte Möglichkeit, wieder zu trinken und zu
leben, mehr als eine Möglichkeit der Befriedigung eines Bedürfnisses:
Sie ist die Öffnung einer anderen, davor nicht erahnten Welt. Der
Durst und das Löschen des Durstes, die an sich völlig sinnlich sind,
278
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
können mehr als das Sinnliche bedeuten; durch sie kann etwas Trans-
zendentes in die Welt einbrechen, und dann geschieht ein Ereignis. 411
Eines müssen wir aber noch festhalten. Zwar ist die Sensibilität für
Levinas die Passivität, durch die das Andere aufgenommen und in
seiner Andersheit vor dem Bewusstsein erfahren wird, doch der leib-
liche Bezug zur Exteriorität wird von Levinas vor allem in Bezug auf
die äußere Welt erwähnt. Wenn es um die Beziehung zu dem anderen
Menschen geht, dann spricht Levinas von der »Nähe« (proximité), in
der ich dem Anderen antworte, ohne den körperlichen Abstand zwi-
schen uns aufzuheben. Auch die Nähe hat ihre sensible Seite, aber sie
kann nicht auf sie reduziert werden: sie wird grundsätzlich durch die
Verantwortung konstituiert.
411 Wir beziehen uns hier auf die folgende Passage aus dem oben genannten Roman,
in der die Rettung für die beiden in der Wüste verschollenen Hauptfiguren durch
einen Araber geschildert wird: »Wir haben auf seine Rückkehr gewartet, die Stirn in
den Sand gepreßt. Und nun trinken wir, auf dem Bauch liegend, den Kopf im Becken
wie die Kälber. Der Beduine erschrickt und zwingt uns alle Augenblicke einzuhalten.
Aber kaum lässt er uns frei, so tauchen wir auch schon das ganze Gesicht ins Wasser.
Wasser!
Wasser, du hast weder Geschmack noch Farbe, noch Aroma. Man kann dich nicht
beschreiben. Man schmeckt dich, ohne dich zu kennen. Es ist nicht so, daß man dich
zum Leben braucht: Du selber bist das Leben! Du durchdringst uns als Labsal, dessen
Köstlichkeit keiner unserer Sinne auszudrücken fähig ist. Durch dich kehren uns alle
Kräfte zurück, die wir schon verloren gaben. Dank deiner Segnung fließen in uns
wieder alle bereits versiegten Quellen der Seele. Du bist der köstlichste Besitz dieser
Erde. Du bist auch der empfindsamste, der rein dem Leib der Erde entquillt. Vor einer
Quelle magnesiumhaltiges Wasser kann man verdursten. An einem Salzsee kann man
verschmachten. Und trotz zwei Liter Tauwasser kann man zugrunde gehen, wenn sie
bestimmte Salze enthalten.
Du nimmst nicht jede Mischung an, duldest nicht jede Veränderung. Du bist eine
leicht gekränkte Gottheit!
Aber du schenkst uns ein unbeschreiblich einfaches und großes Glück.
Du aber, unser Retter, Beduine aus Libyen, du wirst mir aus dem Gedächtnis schwin-
den! Deines Gesichtes kann ich mich nicht entsinnen. Du bist der Mensch und er-
schienst mir mit dem Antlitz aller Menschen! Du hattest uns nie zuvor gesehen und
hast uns doch erkannt!
Du bist mein geliebter Bruder, und ich werde dich in allen Menschen wiedererkennen!
Du erscheinst mir voll Adel und Leutseligkeit, ein großmächtiger Herr, in dessen
Macht es stand, Wasser zu reichen. Alle meine Freunde, alle meine Feinde kommen
mir in deiner Person entgegen, und ich habe keinen einzigen Feind mehr auf der
Welt.« (Antoine de Saint-Exupéry: Wind, Sand und Sterne. Übersetzt von Henrik
Becker. Düsseldorf: Karl Rauch, 1956, S. 205 ff)
279
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
412 Dies bedeutet nicht, dass das Konzept der Rede keine Rolle mehr in der Beschrei-
bung der Beziehung zum Anderen spielt. In der Rede geschieht die Nähe: »Man muß
also zugestehen, daß in der Rede eine Beziehung zu einer Singularität stattfindet, die
außerhalb des Themas der Rede steht und nicht in der Rede thematisiert wird, der
man sich aber nähert. Die Rede und ihr logisches Werk wurzelten also nicht in der
Erkenntnis des Anderen, sondern hielten sich in seiner Nähe.« (SA, 274/DEHH, 313)
413
Vgl.: JS, 183/AQE, 102 f.
280
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
414 Die Nähe, die Beziehung mit dem Anderen ist keine Beziehung der Vorstellung
des Vorstellens, der Erkenntnis geschehen, zum Beispiel die erotische Beziehung oder
die Beziehung in der Vaterschaft. Levinas hat viel über diese Beziehungen zum Bei-
spiel in Le temps et l’autre und Totalité et infini geschrieben.
281
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Andere mich berührt und von mir eine Antwort einfordern kann, ob
ich sie geben will oder nicht:
»Die Nähe ist das sich nähernde Subjekt und konstituiert so eine Bezie-
hung, an der ich als Beziehungsglied teilnehme, in der ich jedoch mehr –
oder weniger – als ein Beziehungsglied bin.« (JS, 184 f/AQE, 103 f) 416
»[…] Nähe, die nur möglich ist als ein Sich-Öffnen, als unvorsichtige Aus-
gesetztheit für den Anderen, rückhaltlose Passivität bis hin zur Stellvertre-
tung und folglich als Aussetzung der Ausgesetztheit 417, eben als Sagen, Sa-
gen, das nicht etwas sagt, das bedeutet, Sagen, das als Verantwortung die
Bedeutung selbst ist, der-Eine-für-den-Anderen [l’un-pour-l’autre – L. P.],
Subjektivität des Subjekts, das sich zum Zeichen macht, aber das man miß-
verstände, hielte man es für den stammelnden Ausdruck eines Wortes, denn
es bezeugt die Herrlichkeit des Unendlichen.« (JS, 330 f/AQE, 192)
Mit anderen Worten: Die Nähe geschieht dann, wenn ich verantwort-
lich bin:
»Die Nähe des Anderen wird in diesem Buch als die Tatsache präsentiert,
daß der Andere mir nicht nur räumlich oder als Verwandter nahe ist, son-
dern sich mir wesentlich dadurch nähert, daß ich für ihn verantwortlich
bin.« (EU, 73 f/EI, 93) 418
Die »Verantwortung« (responsabilité) muss hier in spezifisch Levi-
nas’schen Bedeutung verstanden werden, nämlich durch den Begriff
der »Antwort« (réponse), die der Andere von mir fordert und die
nicht meine Wahl ist. Das Antlitz bricht in meine Welt ein, spricht
mich an, führt mich zu meiner Passivität zurück, wo ich nicht frei bin,
wo ich nichts kontrolliere: Ich soll ihm antworten. Es geht nicht um
die Antwort auf eine irgendeine Frage, sondern er selbst ist die »Fra-
ge« (question). 419 Und weil ich dem Anderen ausgesetzt bin und ant-
worten soll, bin ich verantwortlich. 420 Die Nähe wird also durch mei-
416
Verkürzt bereits in der Einleitung zitiert.
417 Unter »Aussetzung der Ausgesetztheit« versteht Levinas die »Aussetzung« (ex-
position), die nie mehr zu sich zurückkehrt, sondern sich immer weiter aussetzt.
418 »[D]as Andere ist der Andere; das Herausgehen [sortie – L. P.] aus sich selbst ist
die Annäherung an den Nächsten; die Transzendenz ist Nähe, die Nähe ist Verant-
wortung für den Anderen, Stellvertretung für den Anderen, Sühne für den Ande-
ren […].« (GE, 43/DI, 33)
419 Insbesondere in De Dieu qui vient à l’idée beschreibt Levinas den Anderen als die
Frage.
420
»Die Epiphanie des absolut Anderen ist Antlitz, in dem der Andere mich anruft
und mir einen Befehl erteilt […]. Seine Gegenwart ist eine Aufforderung zu antwor-
ten. Das Ich macht sich diese Notwendigkeit zu antworten nicht bloß bewußt, als ob es
282
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
sich um eine Verpflichtung oder um eine besondere Aufgabe, über die es zu entschei-
den hätte, handeln würde. Es ist in seiner Stellung selbst durch und durch Verant-
wortlichkeit […].« (HAM, 43/HAH, 53)
421 Die Nähe hat ihre sensible Seite. Wir haben schon gesehen, dass die Subjektivität
als solche, die den Anderen empfängt, grundsätzlich leiblich ist, und dass die Be-
gegnung sich grundsätzlich durch die Sensibilität ereignet: durch das Sehen, Hören
etc. Die Begegnung geschieht durch die »Berührung« (contact). Oder man kann auch
sagen (und Levinas tut dies), dass die Nähe Sensibilität, Berührung ist, aber dann
muss die Sensibilität so verstanden werden, dass sie nicht nur den leiblichen Kontakt,
sondern auch das spezifisch Menschliche bedeutet, nämlich die Verantwortung. In der
Tat schreibt Levinas: »Die Berührung ist Zärtlichkeit und Verantwortung.« (SA, 275/
DEHH, 314) Auch Boundja weist auf den grundsätzlichen Zusammenhang von Nähe,
Sensibilität, Sprache (Rede) und Verantwortung hin: »Le langage originel est pro-
ximité, mais la proximité, entendue comme événement originel du langage, définit la
signification de la sensibilité. C’est la sensibilité qui révèle le sens premier du langage.«
(Boundja, 85) Oder: »La relation de proximité qu’établit le sensible, en tant que langage
sans mots ni propositions, se comprend comme relation éthique.« (Boundja, 87) Oder:
»L’événement éthique s’enracine dans le sensible.« (Boundja, 88)
422 »Als Bedeutung, als der-Eine-für-den-Anderen ist die Nähe keine Konstellation,
die in der Seele entsteht. Sie ist Unmittelbarkeit, älter als die Abstraktion der Natur;
auch keine Vereinigung. Sie ist Berührung des Anderen. In Berührung sein: weder
den Anderen einsetzen und damit seine Andersheit zunichte machen noch mich selbst
im Anderen aufheben. In der Berührung genau sind Berührendes und Berührtes ge-
trennt, als entfernte sich das Berührte, das immer schon Andere, als hätte es mit mir
nichts gemeinsam.« (JS, 193/AQE, 108 f)
283
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
In den vorherigen Abschnitten haben wir versucht, den Ort des Er-
eignisses zu bestimmen. Wir haben festgestellt, dass das Ereignis
nicht im Selben, im Ich geschieht – es lässt das Ich aus ihm trans-
zendieren und ereignet sich draußen. Dieses Draußen ist nicht die
Außenwelt in ihrer physischen Objektivität, sondern der Zeit-Raum
des Ereignisses selbst, die Nähe. Und weil das Ereignis nicht im Sel-
ben geschieht, ist es unsichtbar, unvorstellbar und undenkbar. In den
folgenden zwei Abschnitten werden wir uns der zeitlichen Dimension
des Ereignisses widmen. Es geht darum, dass das Ereignis in die Zeit
des Bewusstseins einbricht, dass das Ereignis ein Zeit-Bruch, der Ein-
bruch einer anderen Zeit als die des Bewusstseins, die »Diachronie«
(diachronie) ist, in der sich ein anderer Ursprung als der des Bewusst-
seins selbst ereignet.
284
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
423
Verkürzt bereits im Teil I zitiert.
285
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
424 Die Behauptung, dass die Beziehung mit dem Anderen der Zeitlichkeit zugrunde
liegt, kann wieder als ein Versuch, Heidegger weiter zu denken, aufgefasst werden.
Während Heidegger den letzten Grund in der Zeitlichkeit des Daseins sieht, besteht er
für Levinas in der zwischenmenschlichen Beziehung noch vor der Zeitlichkeit.
425 Die Zukunft wird aber als Thema in Levinas’ späterem Denken wieder aufgenom-
286
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
426 Der Zeitbruch: SA/DEHH, 249 f/293 f, 256/299; JS/AQE, 200/113, 225 f/129,
308 f/179.
287
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
427 Die Vor-Ursprünglichkeit: HAM, 72 ff/HAH, 82 ff; JS/AQE, 136/73, 150/82, 335 f/
195.
428 Die An-archie: SA, 298 f/Sub; JS/AQE, 40/12, 125/66, 224 f/128, 227/129; GE,
225/DI, 255.
429 Die Vor-Zeitigkeit des Ereignisses: JS/AQE, 46/16, 198 f/112, 223/127, 272 f/157.
430
Levinas zitiert hier das Hoheslied: 5, 6.
288
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
wiedereinholbare Zeit der Geschichte und der Erinnerung, in der die Vor-
stellung kontinuierlich weitergeht.« (JS, 198/AQE, 112) 431
Weil das Ereignis des Anderen sich selbst gegen meine Bewusstseins-
ordnung auftreten und mich immer zu spät kommen lässt, ist es un-
vorhersehbar:
»Die Rede ist das Ereignis von Sinn [production de sens – L. P.]. Der Sinn
ereignet sich nicht als eine ideale Wesenheit – er wird gesagt durch die
Gegenwart, durch die Gegenwart wird man in ihm unterwiesen. Die Unter-
weisung [enseigné – L. P.] reduziert sich nicht auf die sinnliche oder intel-
lektuelle Anschauung; diese ist das Denken des Selben. Ihrer Gegenwart
einen Sinn geben ist ein Ereignis [événement – L. P.], das sich nicht auf die
Evidenz zurückführen läßt. Dieses Ereignis geht nicht in eine Anschauung
ein. Es ist gleichzeitig eine direktere Gegenwart als die sichtbare Erschei-
nung und eine ferne Gegenwart – die des Anderen. Gegenwart, die den, der
sie empfängt, beherrscht. Sie kommt aus der Höhe, unvorhersehbar [im-
prévue – L. P.], und lehrt folglich ihre eigene Neuheit [nouveauté – L. P.].«
(TU, 88 f/TI, 38) 432
Wenn das Ereignis vor-ursprünglich und vor-zeitig ist, kann ich mich
für es auch nicht entscheiden. Das Ereignis ist schon mit mir gesche-
hen, bevor ich eine Entscheidung hätte treffen können:
»Ausgesetztsein dem Anderen, ohne dieses Ausgesetztsein selbst noch ein-
mal übernehmen zu können […].« (JS, 50/AQE, 18) 433
Wenn ich mich für das Ereignis nicht entschieden habe, so ist es »ge-
gen meinen Willen« (contre mon gré) (JS, 42/AQE, 14), (malgré soi)
(JS, 123/AQE, 65) geschehen. 434 Doch diese Unfreiwilligkeit oder Wi-
derwilligkeit des Ereignisses heißt nicht, dass ich vorher, vor dem Er-
eignis etwas gewollt habe, was nicht eingetroffen oder anders einge-
431 Zu der Verspätung siehe auch: SA, 250/DEHH, 294; JS/AQE, 200/113, 330/192.
Der Gedanke Levinas’ von der Verspätung gegenüber dem Ankommen des Anderen
wird mehrfach in der Ereignisphilosophie übernommen. Zum Beispiel bei Jean-Luc
Marion in Certitudes négatives (CN, 249) oder bei Claude Romano in seinem Werk
L’événement et le temps (ET, 169).
432 Siehe auch: TU, 327/TI, 200. Übrigens lässt diese Textpassage, wo der Sinn mit
JS/AQE, 40 f/12 f, 50/18, 136 f/73, 169 f/94, 248/142, 257/148, 272/157, 300/174.
434 Das Ereignis gegen den eigenen Willen: HAM, 82/HAH, 90; JS/AQE, 122 ff/65 ff,
131/70, 136/73.
289
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
troffen ist, als ich es mir vorgestellt habe, und das ich jetzt alles so
hinnehmen muss, wie es ist. Ich habe vor dem Ereignis nichts ge-
wollt 435 – meine Unfreiwilligkeit ist das Vor-dem-Willen-Sein des Er-
eignisses. 436 Das Ereignis ist grundsätzlich etwas, was mit mir ge-
schieht und nicht ein Resultat meiner Freiheit, meiner Aktivität. Es
ist auch nicht Resultat eines bewussten Empfangens, für das ich mich
entscheiden hätte können. Ich tue hier nichts, im Ereignis bin ich
absolut passiv – ich empfange das, was mit mir geschieht:
»Das Einstehen-für, die Stellvertretung, ist nicht ein Akt, es ist eine in den
Akt nicht überführbare Passivität, das Diesseits der Alternative Akt-Passi-
vität […].« (JS, 259/AQE, 149)
»Diese Vorzeitigkeit der Verantwortung im Verhältnis zur Freiheit bedeu-
tete die Güte des Guten: die Notwendigkeit für das Gute mich zuerst zu
erwählen, bevor ich imstande bin, das Gute zu wählen, das heißt seine Wahl
anzunehmen. Darin liegt mein vorursprüngliches Empfangen. Passivität
vor aller Rezeptivität. Transzendent. Vorzeitigkeit vor aller vorstellbaren
Vorzeitigkeit: unvordenkliche Vorzeitigkeit. Das Gute vor dem Sein. Dia-
chronie: unüberbrückbare Differenz zwischen ungleichzeitigen, nicht zu-
sammenpassenden Termini, zwischen dem Guten und mir. Doch auch
Nicht-Indifferenz in dieser Differenz.« (JS, 272 f/AQE, 157)
Weil das Ereignis vor jeder meiner Aktivität geschieht, habe ich keine
andere Wahl, als es aufzunehmen:
»Die Wille ist frei, diese Verantwortung zu übernehmen, wie es ihm gefällt;
er ist nicht frei, diese Verantwortung selbst abzulehnen, er hat nicht die
Freiheit, die vernünftige Welt, in die ihn das Antlitz des Anderen einge-
führt hat, nicht zu kennen.« (TU, 317/TI, 194) 437
Wegen seiner Vorzeitigkeit, die die Zeit des Bewusstseins unterbricht,
wegen seiner Vor-Ursprünglichkeit, die in meiner Freiheit einen an-
deren Willen sein Werk tun lässt, wird das Ereignis immer als etwas
Mächtiges erfahren. Diese Mächtigkeit wird vor allem dadurch erlebt,
dass der Betroffene im ersten Augenblick des Ereignisses antwortet
435 Es ist etwas, was »weder gewählt noch nicht-gewählt ist, zu dem das Subjekt viel-
mehr erwählt wird« (HAM, 78/HAH, 87).
436 Weil ich nichts gewollt habe, werde ich vom Ereignis auch nicht unterdrückt – die
Unterdrückung gibt es nur dort, wo es Freiheit gibt, die gibt es hier aber nicht. Dazu
siehe: HAM, 74 ff/HAH, 84 ff.
437
Die Unmöglichkeit, das Ereignis abzuweisen, sich der Verantwortung zu entzie-
hen: TU, 289/TI, 175; SA, 224/DEHH, 273; JS/AQE, 48/17, 126/67, 129/69, 135/72 f,
190/107, 234/134, 249/143.
290
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
Das, was in die synchrone Zeit des Ich einbricht und vor seiner Ent-
scheidung geschieht, das, in Bezug worauf das Ich immer zu spät
kommt, ist laut Levinas eine »unvordenkliche Vergangenheit«: eine
»verlorene« und »uneinholbare« (irrécupérable) (JS, 19/AQE, 18),
»unumkehrbare« (irréversible) (HAM, 54/HAH, 65) und »absolute«
(absolu) (TU, 183/TI, 103) Vergangenheit. 438 Es handelt sich darum,
dass das Ereignis für das Ich in einem Zeitmodus geschieht, den das
Ich kraft seiner Erinnerung als Vergegenwärtigung nicht einholen
kann:
»Die Andersheit, ereignet sich als ein Abstand und eine Vergangenheit, die
keine Erinnerung zur Gegenwart zu erwecken vermöchte.« (SA, 249/
DEHH, 293)
»Eine lineare Rückwärtsbewegung – eine Retrospektive, die entlang der
Zeitenfolge auf eine sehr weit entfernte Vergangenheit zuginge – wäre nie-
mals in der Lage, die absolut diachrone Vor-ursprünglichkeit zu erreichen,
438
Eine unvordenkliche, uneinholbare, unumkehrbare, absolute Vergangenheit: SA/
DEHH, 229 f/277 f, 232/279, 234/281, 256/299, 259/301; HAM, 53 ff/64, JS/AQE,
114/60, 198/112, 298/172.
291
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
die nicht wieder einholbar ist durch die Erinnerung und die Geschichte.«
(JS, 39/AQE, 12) 439
Dass jetzt behauptet wird, dass die Zeit des Ereignisses eine durch die
Vergegenwärtigung nicht einholbare Vergangenheit ist, steht nicht
im Widerspruch zum vorher Gesagten, dass das Ereignis sich nur
gegenwärtig ereignet. Das Ereignis ist uneinholbar für die Erinne-
rung, für das immer später ankommende Bewusstsein und Denken.
Die Gegenwart, in der sich das Ereignis ereignet, ist dagegen nicht die
Gegenwart als Zeitmodus des Bewusstseins, sondern die Gegenwart
des Ereignisses selbst, die Unterbrechung des Bewusstseins. Und die-
se ursprünglichere Gegenwart ist eine absolute Vergangenheit für das
Bewusstsein, das mit einer Verspätung das Ereignis noch festzuhalten
versucht.
Wenn die Unvordenklichkeit des Ereignisses seine Unerinner-
barkeit bedeutet, muss zuerst diese befragt werden. Der Grund dafür,
dass das Bewusstsein sich nicht an das Ereignis erinnern kann, liegt
nicht in seiner Schwäche; er liegt nicht in der Komplexität oder Ver-
drängung 440 des Erinnerungsinhaltes. Man kann sich nicht an das er-
eignishafte Geschehen erinnern, weil es niemals eine Gegenwart im
Bewusstsein war. Es handelt sich um:
439 Die Unerinnerbarkeit des Ereignisses: HAM, 53/HAH, 64; JS/AQE, 209/118,
224 f/128.
440 Dies ist ein sehr wichtiger Punkt. Es ist in der letzten Zeit in der Tat üblich gewor-
den, das traumatische Ereignis unter anderen Ereignissen (wie Liebe, Kunst, Tod,
Geburt etc.) zu behandeln, als ob es dieselbe »Sache« wäre. Das ist aber nur dadurch
möglich geworden, dass man bestimmte wesentliche Unterschiede nicht gesehen hat.
Levinas versucht dagegen, den Unterschied zwischen einem ethischen Ereignis und
einem traumatischen Ereignis auszumachen. Siehe zum Beispiel eine längere Fuß-
note: SA, 323 fAnm.19/Sub, 504n.18. Es geht hier selbstverständlich nicht darum,
dass ein Trauma »schlecht«, das Ereignis dagegen »gut« wäre. Das Ereignis ereignet
sich jenseits von Gut und Böse – schon aus dem Grund, dass es sonst das Gute (oder
das Böse) nicht in die Welt einführen könnte. Es geht darum, dass das Trauma ein
Ereignis des Bewusstseins ist, das verdrängt worden ist, während es Ereignisse gibt,
die dadurch ausgezeichnet sind, »daß sie von der Totalität ausgenommen sind«.
Streng genommen haben sie also mit dem Bewusstsein nichts zu tun. Sie sind kein
Bei-sich-Sein, kein Leiden im Inneren, sondern »Passivität«, die »empfänglich für
Schmerz, Schmach und Elend« ist. Diese »Empfänglichkeit« ist nach Außen gerichtet
– als »Verantwortung«. Verdrängte Erfahrung des Missbrauchs in der Vergangenheit
lässt niemals für den Anderen sterben – die Verdrängung ist egoistisch und würde
lieber andere Menschen töten als für sie zu sterben.
292
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
»[e]ine Vergangenheit [passé – L. P.], die älter [plus ancien – L. P.] ist als
jede Gegenwart – eine Vergangenheit, die niemals Gegenwart war [qui ja-
mais ne fut présent – L. P.] und deren an-archisches Alter niemals auf das
Spiel von Verbergen und Offenbaren »hereingefallen« ist […]« (JS, 68/
AQE, 31). 441
Etwas kann im Bewusstsein nur als etwas Beständiges und dem Sel-
ben Zugehöriges – als ein Phänomen, eine Vorstellung, ein Thema
o. Ä. – gegenwärtig sein. Sich an etwas zu erinnern, heißt, das schon
einmal im Bewusstsein Präsente zu repräsentieren. Wenn das Ereig-
nis, wie wir gesehen haben, kein Phänomen im Bewusstsein, kein
Thema für das Denken ist, dann kann es auch nicht später, nachdem
es schon geschehen ist, vergegenwärtigt werden.
Doch man kann auch versuchen, sich an etwas zu erinnern, was
nie etwas Präsentes im Bewusstsein gewesen ist, wie das der Fall ist,
wenn der Betroffene sich in das Ereignis noch einmal hineinversetzen
möchte oder zu verstehen versucht, was mit ihm geschehen ist. Die
Frage ist, ob dies gelingen kann. Es kann nicht gelingen, weil, um sich
zu erinnern, das Bewusstsein etwas zu seinem Inhalt machen muss;
das Bewusstsein muss es thematisieren, vergegenwärtigen. Wenn
aber das Ereignishafte als ein Bewusstseinsinhalt auftritt, hat es
schon seine Ereignishaftigkeit verloren. Eine solche Erinnerung wäre
also nur eine vermeintliche und keine Erinnerung an das wirklich
Geschehene. Man kann das Ereignis denken, doch nur als einen Be-
griff, nicht als ein wirkliches Geschehnis. Deswegen sprechen wir von
der Undenkbarkeit des Ereignisses. Und man kann sich an das Ereig-
nis erinnern, aber das, was hier als der Bewusstseinsinhalt auftritt, ist
kein Ereignis. Deswegen ist das Ereignis unerinnerbar. Es lässt sich
vermuten, dass die Struktur der Undenkbarkeit mit der der Uner-
innerbarkeit eng zusammenhängen. Gewissermaßen bedeuten die
Undenkbarkeit und die Unerinnerbarkeit des Ereignisses sogar ein
und dasselbe. Weil etwas zu denken und sich an etwas zu erinnern,
wenn es um etwas schon Geschehenes (und ein Ereignis ist es immer)
geht, heißt etwas sehr Ähnliches zu tun. Um etwas Geschehenes den-
ken zu können, muss man es durch die Kraft der Erinnerung, d. h.
durch die Vergegenwärtigung in die Gegenwärtigkeit des Denkens
441
Das Ereignis ist niemals eine Gegenwart gewesen: SA, 249 f/DEHH, 294; JS/AQE,
198 f/112, 217 f/124, 337/196 f. Levinas nennt diesen Umstand auch »Anachronis-
mus« (anachronisme). Siehe zum Beispiel: SA, 249/DEHH, 294.
293
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
442 Wenn die vorstellende Erinnerung das Ereignis nicht einholen kann, könnte es
eine Erinnerung geben, die sich nichts vorstellt und die den Betroffenen wirklich
zum Ereignis zurückbringen könnte, ohne es zu zerstören? Es wäre eine sehr merk-
würdige Erinnerung. Erstens, weil ihr Ursprung nicht im Subjekt liegen würde, son-
dern in der Initiative der Erinnerung selbst. Dadurch wäre sie dem Ereignis ähnlich.
Zweitens könnte man nach ihrem Stattfinden nicht mehr wissen, woran man sich
erinnert hat. Man könnte sich also nicht mehr daran erinnern, woran man sich gerade
erinnert hat. Könnte man es wissen, wäre das keine Erinnerung an ein Ereignis. Was
könnte man also mit einer solchen Erinnerung anfangen? Sie geschieht selbst als ein
Ereignis – als ein (unmögliches) Ereignis der Zeitreise, als eine Störung des Zeit-
ablaufs.
294
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
unerinnerbar möchten wir den Akzent darauf setzen, dass das Ereig-
nis nicht durch die Erinnerung einholbar ist und das es wieder eine
Täuschung ist, wenn man denkt, dass man dem Ereignis durch die
Erinnerung näher kommen kann, dass man sich in das Geschehene
nochmals und immer wieder hineinversetzten kann. Es ist unmög-
lich, weil die Erinnerung sich als die Vorstellung vollzieht, die die
Exteriorität in das Selbe einsaugt, aus ihrem eigenen Gewebe nach-
macht, bildlich, d. h. gegenständlich, darstellt, zu einem beständigen,
überzeitlichen Objekt, zu einem Thema macht und der Illusion ver-
haftet bleibt, dass sie das Vergangene wirklich gefangen hat. Levinas
schreibt diesbezüglich:
»Das Historische definiert sich nicht nur durch das Vergangene, und das
Historische und das Vergangene bestimmen sich als Themen, von denen
man sprechen kann. Sie sind thematisiert, gerade weil sie nicht mehr spre-
chen. Das Historische ist auf immer von seiner eigentlichen Gegenwart
abwesend. Wir wollen damit sagen, daß es hinter seinen Erscheinungen
verschwindet – seine Erscheinung ist immer oberflächlich und zweideutig,
sein Ursprung, sein Prinzip, sind immer woanders. Es ist ein Phänomen –
Realität ohne Realität.« (TU, 86/TI, 36)
Im Gegensatz zum Thema ist das Ereignis nicht beständig, sondern
sich nur gegenwärtig ereignend, ursprünglich und gleich nach dem
Ereignen verfließend. Das Ereignis bricht ein, ohne dabei zu einem
Phänomen, zu einem Objekt des Denkens zu werden und es vergeht,
ohne als ein Objekt für die Erinnerung und Geschichtsschreibung zu
bleiben.
Denken wir an eine Situation, in der einer durch den Wald geht
und plötzlich von dem Duft der Walderdbeere überrascht wird. Für
einen kurzen Augenblick ist er außer sich, von dem Duft verschlun-
gen, in der Zeit des Ereignisses. Doch gleich kehrt er zu sich zurück –
er versucht, den Duft zu genießen; er denkt: »Sind das Walderdbee-
ren? Aus welcher Richtung kommt der Duft? Sie duften so schön«
etc. Mit der Rückkehr zu sich ist das Ereignis schon vergangen – ver-
lorengegangen. Und es geht immer verloren, weil man immer zu sich
zurückkehrt. Doch man weiß, dass es eine Störung der Bewusstseins-
zeit stattgefunden hat – sie wurde erfahren. Man versucht, das Ge-
schehene zurückzuholen. Man kann da stehen und den Duft ein- und
ausatmen, doch das ist nicht mehr das, was den Betroffenen über-
rascht hat, sondern schon ein innerlicher, egoistischer Genuss oder
auch ein identifizierter Duft als die sinnliche Qualität eines Objektes.
295
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Das Ereignis ist kein Erlebnis oder ein Denkobjekt, oder mit dem
Denken schon vermischte sinnliche Wahrnehmung, sondern das, wo-
ran wir uns nicht erinnern können, was wir nicht durch die vorstel-
lende Vergegenwärtigung einholen können, was wir nicht durch uns
selbst – zum Beispiel durch unseren Genuss – produzieren oder wie-
derholen können. Das Ereignis ist nur der Augenblick, in dem der
Selbe außer sich war.
Das Ereignis ist für das Bewusstsein, das es anzuhalten, zu be-
greifen, wiederholen und kontrollieren versucht, immer schon ver-
gangen. Das Bewusstsein kommt zu spät und findet nur sich selbst
wieder und nicht das Geschehene. Es findet Erlebnisse, Vorstellun-
gen, Wahrnehmungen eines Objekts, Begriffe, aber nicht das Gesche-
hene. Es atmet den Duft ein, es hat eine Erdbeere vor sich, es erfährt
ihr Aussehen, es tastet ihre Form etc., aber die ursprüngliche Begeg-
nung ist schon vorbei. Was ist Geschehen, was hat man erfahren?
Nichts Vorstellbares, also nichts. Nichts, was man jemals begreifen
könnte. Es ist nichts passiert. Es ist alles und nichts passiert:
»Die großen ›Erfahrungen‹ unseres Lebens sind nie im eigentlichen Sinne
des Wortes erlebt worden.« (SA, 250/DEHH, 294)
Es ist alles passiert und man kann kein einziges Wort darüber sa-
gen. 443 Nur die Erinnerung der Störung ist geblieben, die die Sehn-
sucht nach einem zukünftigen Ereignis in sich trägt – einem zukünf-
tigen Ereignis, das aber genauso schon vergangen ist.
443
Das Ereignis wird bei Levinas (genauso wie bei Heidegger und später bei Derrida)
nie zum etwas Präsenten, Sichtbaren, Beständigen. Deswegen produziert es diesen
Effekt des Nicht-Seins – als ob nichts geschehen wäre. Man kann diesen Effekt auch
anders – wie dies zum Beispiel Marion, Badiou und Romano tun – beschreiben. Das
Ereignis geschieht, als ob nichts geschehen würde, weil es nicht auf einer Tatsache,
einen (vorstellbaren) Sachverhalt zu reduzieren ist. Alles, was geschieht, ist – wenn
wir es mit Badiou formulieren – die Situation, die Stätte (Wald, Duft etc.):
»[…] nichts wird stattgefunden haben außer der Stätte […]« (SE, 222/EeE, 215) Das
Ereignis bildet dagegen einen Überschuss über die Situation, die stattfindet – einen
Überschuss, der völlig nichts ist. Geht man – wiederum mit Badiou – einen Schritt
weiter, kann nur eine »Entscheidung« (décision) (SE, 229/EeE, 223) und kein Wissen
bestimmen, ob eine Situation ereignishaft war oder nicht.
296
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
444 Diese Struktur erinnert an Heideggers Ereignis als Anfang und Geben: das Ereig-
nis ereignet sich, gibt das Sein und entzieht sich, weswegen es vergessen wird. Das
Sein bleibt, aber schon als eine sichtbare Spur, nämlich als Seiendheit, die sich im
Gegensatz zu Ereignis thematisieren lässt.
297
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
»Als Aufklaffen eines Abgrundes in der Nähe unterscheidet sich das blin-
kende Unendliche, das sich den gewagten Spekulation versagt, vom bloßen
Nichts, dadurch, daß es den Nächsten meiner Verantwortung aufträgt.« (JS,
209/AQE, 118)
445 Zur Positivität des Ereignisses siehe auch: HAM, 73/HAH, 83, JS/AQE, 44/14,
316/184, 328 f/191. Damit grenzt sich Levinas klar von der negativen Theologie ab.
Ist das Ereignis des Unendlichen nie erreichbar, so hat uns doch die Spur erreicht. Wie
stehen hier nicht vor etwas völlig Unerkennbarem und Unsagbarem: »Aber man darf
nicht schweigen. Wir befinden uns nicht vor einem unsagbaren Geheimnis.« (GE,
131/DI, 157) Auch Dirk Westerkamp in seinem bekannten Buch Via negativa bestä-
tigt dieses Verhältnis Levinas’ zur Negativität: »Lévinas’ Normativismus verschärft
zwar einerseits die epistemische These der negativen Theologie, drängt auf der ande-
ren Seite allerdings die negationstheoretische Frage durch deren positiv-moralphi-
losophische Umwandlung zurück.« (Westerkamp, 192) Doch das ist noch nicht alles.
Und die genaue Aufklärung des Bezuges von Levinas zur negativen Theologie würde
entscheidend zum Verständnis seines Ansatzes beitragen. Levinas behauptet also, dass
das Ereignis undenkbar ist und in diesem Sinne folgt er dem negativen Weg. Anderer-
seits verlässt er die Negativität, um die »Positivität der Verantwortung« (JS, 44/AQE,
14) zu behaupten. Westerkamp interpretiert dies so, dass Levinas eingesehen hat, dass
auch die Verneinung eine Setzung und Prädikation ist und deswegen das absolut An-
dere schon verpasst hat: »Als Gestalt des theoretischen Wissens löst sich die negative
Attributenlehre auf.« (Westerkamp, 193) In der Tat schreibt Levinas: »Verstehbarkeit,
deren Ungewohntes sich nicht auf eine negative Theologie reduzieren läßt. Die Trans-
zendenz des Unendlichen wird nicht in Aussagesätzen eingeholt, und seien diese auch
negativ.« (GE, 168/DI, 186) Weil weder die Affirmation noch die Verneinung uns der
Transzendenz näher bringt, braucht man – wie Westerkamp dies formuliert – einen
»dritten Weg«, der die »Überwindung von Negation und Affirmation« ist (Wester-
kamp, 194). Und laut Westerkamp geht Levinas diesen dritten Weg der Negation der
Negation: »In der Erkenntnis, daß sich das abwesende, nicht-seiende Eine allen For-
men theoretischen Wissens verschließe und nur im Praktischen, als sittliches Handeln
erfahrbar werde, ist eine doppelte Negation negativer Theologie beschlossen.« (Wes-
terkamp, 200) Dies alles klingt sehr logisch. Und genau darin liegt das Problem. Es
klingt logisch: Wenn man das Unendliche behauptet, kann es nicht im Denken gesetzt
und als etwas gedacht werden. Folglich muss man alle es beschreibenden Prädikate, die
im Denken entstehen, leugnen. Jede Leugnung ist aber auch Setzung, folglich funk-
tioniert auch der negative Weg nicht. Also muss es einen negativ-negativen also po-
sitiven Bezug zum Unendlichen geben, der sowohl bloße Affirmation als auch bloße
Negation verlässt. Das Problem liegt darin, dass damit der Eindruck entsteht, dass
man zum Unendlichen bzw. zum Ereignis durch logische Überlegungen kommt. Was
ist Ereignis? Es ist das, was man dann erreicht, wenn man in Bezug auf es nichts
behauptet und nichts verneint, weil es nämlich undenkbar ist. Es ist also das, in Bezug
worauf man ständig alles Gesagte negieren muss. Die Philosophie des Ereignisses
wäre also eine Art via negativa, die alle positiven Behauptungen in Bezug auf Ereignis
298
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
Die hier erwähnte Situation der Verantwortung ist aber nur eine Va-
riante der Manifestation des Ereignisses des Unendlichen bei Levinas.
Er spricht vor allem von zwei Weisen, wie das Unendliche sich mani-
festiert: einmal als das Antlitz des Anderen und ein andernmal als
meine Antwort auf einen Befehl, meine Verantwortung dem gegen-
über, was geschehen ist:
»[…] als hinterlasse das Unsichtbare, das ohne Gegenwart auskommt, eben
dadurch, daß es ohne Gegenwart auskommt, eine Spur. Eine Spur, die als
Gesicht des Nächsten leuchtet […].« (JS, 44/AQE, 14) 446
»Das Unendliche zeigt sich durch seinen Befehl, sich dem Nächsten zu-
zuwenden, nicht einer Subjektivität an, die schon fertige Einheit wäre. In-
dem sie sich an die Stelle des Anderen setzt, bricht die Subjektivität in
ihrem Sein das sein auf. Als der-Eine-für-den-Anderen – löst sie sich auf
in Bedeutung, in Sagen oder Wort des Unendlichen.« (JS, 47/AQE, 16) 447
negiert und auch noch die Negation negiert. Aber – und das ist entscheidend – das
gegenwärtige Denken des Ereignisses ist nicht logisch. Es beschäftigt sich nicht damit,
einen logischen Weg zum Anderen einzuschlagen. Es verweist auf etwas, was jenseits
aller Logik liegt – auf das Leben. Jede negative Theologie, wie ausgeklügelt und
scharfsinnig sie auch wäre, ist nicht das, was das Denken des Ereignisses macht. Levi-
nas setzt sich nicht einfach von der negativen Theologie ab, weil die Verneinung Set-
zung und eine Art Prädikation ist (wie das Westerkamp behauptet), sondern weil
dieser Weg ein denkerischer, ein logischer Weg ist! Er weiß wohl, dass das Denken
des Anderen mit den Negationen arbeitet, weil es auf das Jenseits des Denkens ver-
weisen muss, aber er weist darauf hin, dass seine Negationen nicht logisch, formal
arbeiten, sondern das Logische »widerrufen« müssen. Levinas (und auch andere Den-
ker des Ereignisses) müssen die Negierungen verwenden, aber nicht im Kontext einer
Logik, einer Rationalität, sondern um auf das Außerhalb dieses Kontextes zu verwei-
sen. Deswegen nennt Levinas seine Verneinungen nicht – wie üblich – Negationen,
sondern findet einen Begriff, der diese Art von Negation, die sich von der der negati-
ven Theologie unterscheidet, bedeutet. Er spricht nämlich vom »Widerrufen«: »Alle
Negationen, die in die Beschreibung dieses ›Verhältnisses zum Unendlichen‹ eingrei-
fen, beschränken sich nicht auf den formalen und logischen Sinn der Negation, sie
konstituieren keine negative Theologie! Sie sagen all das, was eine logische Sprache –
unsere Sprache – durch das Aussagen und das Widerrufen [par le dire et le dédire –
L. P.] von der Dia-chronie ausdrücken kann […].« (ZA, 10Anm.1/TA, 11n.1) Kurz
gesagt: Levinas betreibt keine negative Theologie, weil er nicht aus logischen Gründen
etwas negiert, sondern versucht, die Logik zu widerrufen.
446 Das Gesicht als Spur: SA, 228/DEHH, 276 f; JS, 217 f/AQE, 123 f.
447 Die Verantwortung als Spur: HAM, 77/HAH, 86. Hier fasst er fast sein ganzes
299
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Das Antlitz oder meine Antwort und Verantwortung sind nicht zwei
Arten der Manifestation, sondern zwei Momente derselben Manifes-
tation, wobei Levinas in der früheren Philosophie mehr das Antlitz
als die Spur des Unendlichen in Betracht zieht, in der späteren Phi-
losophie aber den Betroffenen selbst – als den Ort, wo das Unendliche
sich ereignet, wo es als Verantwortung bedeutet. Das Antlitz und
meine Verantwortung gehören zum ein und demselben Ereignis des
Unendlichen.
Doch die Spur verfolgend, kommen wir nie zu dem, was diese
Spur hinterlassen hat. Bei der Analyse der Nicht-Phänomenalität des
Ereignishaften haben wir gesehen, dass das, was geschieht (die Spur),
in gewissen Maßen, aber nur in gewissen Maßen, erscheint – zum
Beispiel als das Gesicht eines konkreten Menschen hier und jetzt. Es
wurde aber behauptet, dass diese »Erscheinung« nie den Status eines
Phänomens erreicht, weil sie durch die »Erscheinung« ins Unerreich-
bare führt. Die Nicht-Phänomenalität bedeutet genau das, dass dieses
Nicht-Phänomen eine Spur ist. 448 Es ist eine Spur, indem es mehr als
die Erscheinung hier und jetzt ist, aber es ist auch weniger als diese
Erscheinung, weil es deswegen nie zu einem Phänomen wird. Die
nicht-phänomenale Manifestation führt nicht zu ihrem Ursprung zu-
rück. Die Beziehung zwischen der Manifestation und dem Mani-
festierten, d. h. die Beziehung zwischen der Erscheinung und dem
Unendlichen, das sich in dieser Erscheinung manifestiert, ist kein Be-
zeichnen und die Spur ist kein »Zeichen« (signe). 449 Die Erscheinung
des Antlitzes kann nicht das Unendliche bezeichnen und zu ihm füh-
ren, weil es sich entzieht, schon immer abwesend ist:
»Das Wunder des Antlitzes rührt her vom Anderswo, von wo es kommt
und wohin es sich auch schon zurückzieht. Aber diese Ankunft von Woan-
ders verweist nicht symbolisch auf dieses Woanders als Zielpunkt. Das Ant-
litz stellt sich dar in seiner Nacktheit; es ist nicht eine Gestalt, die einen
Hintergrund verbirgt und eben dadurch auf ihn verweist, nicht eine Er-
scheinung, die ein Ding an sich verhüllt und eben dadurch verrät. […] Der
Andere kommt her vom unbedingt Abwesenden. Aber seine Verbindung
mit dem absolut Abwesenden, von dem er herkommt, bezeichnet dieses
gen bin, aber zu der das Antlitz des Anderen, aufgrund seiner Andersheit, aufgrund
eben seiner Fremdheit, das Gebot spricht, von dem man nicht weiß, woher es gekom-
men ist.« (GE, 18 f/DI, 11)
448
Vgl. SA, 228/DEHH, 276.
449 Die Spur im Vergleich zum Zeichen: SA, 229 ff/DEHH, 277; HAM, 55 ff/HAH,
66 ff.
300
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
450 Das Ereignishafte lässt sich nicht durch die Spur verfolgen: HAM, 53/HAH, 64;
301
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
litz die Spur von irgendetwas hinterlassen würde und dass es dieses
irgendetwas ahnen lässt, aber gleichzeitig ist sie nur »Spur seiner
selbst« (trace de lui-même) (JS, 211/AQE, 119). Die Spur bedeutet
etwas anderes, aber auch nur sich selbst. 453 Die Zweideutigkeit des
Ereignisses, nämlich dass es etwas Sichtbares ist und dass es über das
Sichtbare hinaus noch etwas anderes bedeutet, und dass es doch nicht
diese andere Bedeutung einholen lässt, zeigt sich immer darin, dass
wir nicht verstehen, »was« sich ereignet, darin, dass es immer Zweifel
gibt, ob überhaupt sich etwas ereignet. So wie wir immer zweifeln
können, ob sich in dieser oder jener Beziehung wahre Liebe er-
eignet. 454
Diese Zweideutigkeit des Ereignisses wird von Levinas auch mit
dem Konzept des »Zeugnisses« (témoignage) aufgewiesen. Die Spur
bezeugt, ist ein Zeugnis dafür, dass sich etwas ereignet hat, was nie zu
einer Gegenwart geworden ist und nie zu einer Gegenwart werden
wird. Die Spur bezeugt nicht, indem sie das Ereignete aussagt und
zum Thema werden lässt, sondern indem sie sich ereignet, indem sie
selbst ein Ereignis ist. Meine Verantwortung ist Zeugnis dafür, dass
im Antlitz des Anderen das Unendliche geschieht. Wäre nichts ge-
schehen, wäre ich nicht verantwortlich geworden. In meiner Verant-
wortung thematisiere ich aber nichts, sondern setze mich für den An-
deren ein. Meine Verantwortung ist nur eine Anzeige darauf, dass
etwas passiert ist, es führt nicht zu ihm, holt es nicht ein:
453 Die Zweideutigkeit der Spur: JS, 209 ff/AQE, 118 ff.
454 Marion schildert diese Situation perfekt: »Die Erfahrung des Rufs besteht genau
darin, dass wir die Identität des Rufenden nicht kennen können. Wir können auch
nicht wissen, ob es allgemein einen Rufenden gibt. Deshalb ist die Erfahrung des
Gerufenseins so schrecklich. Es braucht eine Entscheidung. So ist es z. B. in der Erfah-
rung der Liebe. Auch sie ist eine Erfahrung des Rufes. Ich frage mich dann: Bin ich
geliebt oder nicht? Habe ich Liebe oder nicht? Diese Erfahrung kann auch die Erfah-
rung einer vollkommenen Illusion oder ein Wahnsinn sein. Aber es kann auch die
Wahrheit sein. Der Kern des Problems liegt in der Identität des möglichen Rufenden.
Die Schwierigkeit besteht darin, dass ich mir nicht sicher sein kann, ob es einen Ru-
fenden gibt. […] Sicher ist nur der Ruf selbst.« (RuG, 58) Aus diesem Grund spricht
Badiou vom Ereignis als »Unentscheidbaren« (indécidable), auf dessen Wirklichkeit
(also darauf, dass es wahr ist, dass es stattgefunden hat) man ausschließlich »wetten«
(parier) kann: »Die Poesie ist die ›sterngeborene‹ Annahme jenes reinen Unentscheid-
baren, das – auf leerem Grund – eine Handlung darstellt, von der man insofern wissen
kann, ob sie stattgefunden hat, als man auf ihre Wahrheit wettet.« (SE, 220/EeE, 214)
302
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
»Das Unendliche gibt sich im Zeugnis nicht als Thema kund. Ich bezeuge
das Unendliche – im Zeichen, das dem Anderen gilt […].« (JS, 326/AQE,
190)
»Für den Anderen Verantwortung zu übernehmen ist für jeden Menschen
eine Art und Weise, von der Herrlichkeit des Unendlichen Zeugnis abzu-
legen und inspiriert zu sein.« (EU, 87/EI, 111)
Wenn aber das, was sich ereignet, sich völlig entzieht und nicht selbst
zum Thema wird, sondern nur in meinem Zeugnis besteht, muss ich
– radikal gedacht – zugestehen, dass mein Zeugnis des Unendlichen
nur meins ist, es ist meine Antwort, die die Frage nicht aufdecken
lässt:
»Gebot, das erhaben ist, doch ohne Zwang und Beherrschung und das mich
außerhalb jeder Korrelation zu seiner Quelle läßt; es bildet sich keine
›Struktur‹ zu irgendeinem Korrelativ aus, derart eben, daß das Sagen, das
mir zukommt, mir einfällt, mein eigenes Wort ist.« (JS, 329/AQE, 191)
Ich bin zwar vom Ereignis inspiriert worden, doch gleichzeitig auch
der »Urheber« (auteur) des Sagens des Ereignisses. Das Zeugnis der
Inspiration durch das Ereignis ist also zweideutig: Es bezeugt etwas
anders als mich und doch nur mich. Ich bin von einer Seite der Inspi-
rierte, »Vermittlung« (truchement) zur Quelle der Inspiration und
auch der »Anfang« (commencement) meiner Antwort (JS, 326/AQE,
189). Levinas spricht diesbezüglich von der »Ambiguität der Inspira-
tion« (ambiguïté de l’inspiration) (ebd.). Doch diese Ambiguität ist
genau die Art und Weise, wie das Ereignis ohne Doppelung von Frage
und Antwort geschieht:
»Doch dieser einzigartige Gehorsam gegenüber dem Befehl, sich zu er-
geben, ohne noch den Befehl zu vernehmen, dieser Gehorsam, der früher
ist als die Vorstellung, diese Treuepflicht vor jedem Treueid, diese Verant-
wortung, die dem Engagement vorausgeht, ist genau der-Andere-im-Sel-
ben, Inspiration und Prophetie, ist das Sich-Vollziehen, das Passieren des
Unendlichen.« (JS, 330/AQE, 192)
Die Spur, das Zeugnis ist die Art und Weise, wie sich das Ereignis des
Unendlichen manifestiert, ohne sich zu manifestieren, da es unein-
holbar bleibt. Doch was wir hier festhalten müssen, ist, dass die Spur,
das Zeugnis ein konkretes Ereignis ist, das solche Erscheinungen auf-
treten lässt, an die wir uns später erinnern können, von denen wir
später berichten können:
303
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
»Daß dagegen das Gute in seiner Güte das durch es hervorgerufene Begeh-
ren von sich ablenkt, indem es das Begehren hinlenkt auf die Verantwor-
tung für den Nächsten – wahrt die Differenz in der Nicht-Indifferenz des
Guten, das mich erwählt, bevor ich es aufnehme; es wahrt seine Illeität 455 so
weit, daß sie von der Untersuchung ausgeschlossen bleibt, mit Ausnahme
der Spur, die sie in den Worten oder dem »Bedeutungsgehalt« in den Vor-
stellungen hinterläßt […].« (JS, 274/AQE, 158) 456
Dies heißt: Das Ereignis des Unendlichen, was auch das Ereignis des
Guten ist, entzieht sich völlig der Thematisierung: »[E]s wahrt seine
Illeität«. Das Ereignis wahrt die Differenz, die – wie wir schon gese-
hen haben – die Differenz zwischen dem Nicht-Thematisierbaren
und Thematisierten ist. Das Nicht-Thematisierbare bleibt nicht-the-
matisierbar. Doch auch etwas »Fassbares« kommt zum Vorschein: die
Verantwortung für den Nächsten. Auch dieses »Fassbare« ist ein Er-
eignis und in diesem Sinne nicht fassbar, aber es ist ein konkretes
Ereignis, weswegen es von sich in gewissem Maße berichten lässt.
Wenn die Rede zum Beispiel vom Ereignis des Duftes der Walderd-
beeren ist, kann man vom Sommer, Wald, Spaziergang erzählen; man
kann von der Überraschung der plötzlichen Begegnung, von der Süße
des Duftes sprechen. Dieses Gesagte kann das Ereignis zwar nicht
einholen, aber es thematisiert die Spur des Ereignisses, weist so die
»Koordinaten« des Ereignisses in dieser Welt auf und bezeugt es.
Das Ereignis entzieht sich, hinterlässt aber eine Spur. Diese Spur ist
etwas Greifbares, obwohl ihre Quelle völlig unbegreiflich bleibt. Die
Spur ist etwas, was man erfahren, verstehen, formulieren und ana-
lysieren kann. Weil das Ereignis der Einbruch einer anderen Welt ist,
bringt die Spur etwas Neues in die Welt ein, was weiterhin zu dieser
Welt gehören kann. Es geht darum, dass das Ereignis eine fortwäh-
455 Die »Illeität« (illéité) ist das, was auf mich zukommt, sich gleichzeitig entzieht und
nur einen Befehl für mich hinterlässt: »Die Illeität des Jenseits-des-Seins aber meint:
daß ihr Auf-mich-Zukommen ein Abschied ist, der mich eine Bewegung zum Nächs-
ten ausführen läßt.« (JS, 46/AQE, 15) Siehe auch: HAM, 54/HAH, 65; JS, 329/AQE,
191.
456
Der letzte, für uns wichtigste Teil dieses Zitates lautet im Original: »sauf la trace
qu’elle laisse dans les mots ou la »réalité objective« dans les pensées«. Zur Überset-
zung dieser Passage siehe die Anmerkung des Übersetzers: JS, 274.
304
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
rende Spur hinterlässt, die die bisherige Welt – sei es eine individuelle
oder gemeinschaftliche Welt – verändert. Das Ereignis öffnet neue
Möglichkeiten.
In Heideggers Ereignisdenken ist dieser Aspekt des Ereignisses
sehr ausgeprägt. Man könnte sogar behaupten, dass dies die wichtigs-
te Struktur des Ereignishaften bei ihm darstellt. Der Einbruch des
Seins, das erste Aufleuchten des Seienden ist der Anfang des Den-
kens, das sich gleich in die Metaphysik verwandelt, die im Laufe der
Geschichte verschiedene Gestalten einnimmt und trotzdem die Spur
des anfänglichen Ereignisses bleibt. Da die Metaphysik das Wesen der
europäischen Kultur ist, ist das Ereignis des Seins der Anfang des
Abendlandes selbst und seiner Geschichte. Das Ereignis entzieht sich,
wird vergessen, aber es löst eine Welle aus, die durch die »sichtbare«
Geschichte oder – besser gesagt – als diese Geschichte weiterzieht.
Ohne dieses Ereignis wäre das Abendland nicht möglich gewesen. Es
ist der geschichtliche Anfang dieser neuartigen Kultur, die sich als
Spur des Anfangs in das Sichtbare äußert.
Levinas spricht nicht von der Geschichte des Abendlandes, des-
sen Anfang im Ereignis des Seins liegt. Er spricht vom Einbruch des
Ethischen, des Menschlichen ins egoistische Subjekt, aber dadurch
auch über den Einbruch der Idee der Gerechtigkeit in die zwischen-
menschliche Welt. 457 Es geht aber in beiden Fällen um den Einfall
einer Andersheit in die Welt und Gründung einer neuen Welt. Wenn
wir über den Einbruch des Ethischen ins egoistische Subjekt bei Levi-
nas sprechen, dann muss man festhalten, dass die Beschreibung dieses
anfänglichen Ereignisses unterschiedlich in Totalité et infini und Au-
trement qu’être erfolgt. In Totalité et infini stellt das Ethische eine
Etappe der menschlichen Seinsweise dar, in der der Mensch das Sta-
dium des Genusses verlässt und in die Beziehung zu dem Anderen
eintritt. 458 Dieser Sprung von einer Etappe in eine andere ist ein on-
457 Aber in Humanisme de l’autre homme geht Levinas weiter, wenn er behauptet,
dass die ganze Kultur die ursprüngliche Erfahrung des Antlitzes voraussetzt. Diese
Erfahrung, von »oben«, von »Jenseits des Seins« kommend, bricht in das Seins-
geschehnis ein, gründet die menschliche Welt und bleibt als transzendent deren Maß:
»Aus dem Vorhergehenden können wir schließen, daß sich die Bedeutung früher als
in der Kultur und früher als im Ästhetischen im Ethischen ereignet; dieses Ethische
wird von jeder Kultur und von jeder Bedeutung vorausgesetzt. Die Moral gehört nicht
zur Kultur: sie erlaubt vielmehr, sie zu beurteilen, sie entdeckt die Dimension der
Hoheit. Die Hoheit gebietet dem Sein.« (HAM, 47 f/HAH, 58)
458 Entsprechend dem Werk Totalité et infini können folgende Stadien bzw. Sprünge
unterschieden werden: Zugehörigkeit zur Totalität des Seins als die bloße Tatsache des
305
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Existierens, Trennung von der Totalität als Herausbildung der Innerlichkeit, Stadium
des egoistischen Genusses, Bleibe und Arbeit, Begegnung mit dem Anderen, die ero-
tische Beziehung und Vaterschaft, in der das Selbe zum Anderen wird.
459 Diese Vertikalität wird hier ganz klar ausgedrückt: im Menschen selbst, in seiner
weltlichen (horizontalen) Entwicklung gibt es das Ethische nicht. »Es ist klar, daß es
im Menschen die Fähigkeit gibt, nicht zum Anderen hin zu erwachen; es gibt die
Fähigkeit zum Bösen. Das Böse ist die Seinsordnung schlechthin – und im Gegensatz
dazu ist Zum-Anderen-gehen das Einbrechen des Menschlichen ins Sein, ein »anders
als Sein«.« (ZU, 145/EN, 132) Und weiter: »Das Menschliche ist ein Skandal im
Sein […].« (ZU, 146/EN, 133)
306
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
»Die Innerlichkeit des Genusses ist die Trennung an sich, die Weise, der
gemäß ein Geschehen [événement – L. P.] wie die Trennung sich in der
Ökonomie des Seins ereignen kann.« (TU, 210/TI, 121) 460
Im »Genuss« (jouissance) ist der Genießende bei sich selbst, aber er
kennt auch das Andere – das, was er genießt, obwohl er das Andere
nicht als das Andere anerkennt und es in sich auflöst:
»Wenn der Genuß der eigentliche Wirbel des Selben ist, so ist er nicht Un-
kenntnis des Anderen, sondern seine Ausbeutung. Die Andersheit dieses
Anderen wird vom Bedürfnis, das der Genuß als Erinnerung festhält und
das seine Glut entfacht, überwunden.« (TU, 161/TI, 88)
Das Genießen wird aber von der »Unsicherheit« (insécurité) (TU,
202/TI, 115), von der »Sorge um das Morgen« (souci du lendemain)
(TU, 215/TI, 124) betrübt. Um gegen diese Unsicherheit bestehen zu
können, braucht das Selbe ein Zu-Hause, eine »Bleibe« (demeure),
die es von der Außenwelt trennen würde. In der Bildung eines Zu-
Hause, die Levinas die »Sammlung« (recueillement) nennt, begegnet
das Selbe zum ersten Mal dem Anderen. Diese Beziehung mit dem
Anderen ist noch keine ethische – das Selbe begegnet dem »weibli-
chen Antlitz« (visage féminin), das ermöglicht, dass das Selbe ein Zu-
Hause haben und in der Trennung von der bedrohlichen Außenwelt
wohnen kann:
»Dieser Empfang des Antlitzes ereignet sich in ursprünglicher Weise in der
Sanftmut des weiblichen Antlitzes; hier kann sich das getrennte Seiende
sammeln, dank der Sanftmut wohnt es, und in seiner Bleibe vollzieht es
die Trennung.« (TU, 216/TI, 124) 461
Wie schon erwähnt, ist diese Nähe zu dem weiblichen Anderen keine
ethische Beziehung, es ist keine Beziehung mit einem Gesprächspart-
ner, sondern eine Ich-Du Beziehung, Intimität ohne Worte (TU, 122/
TI, 129).
460 In der Tat kann man die Trennung als Bruch mit der Totalität und Herausbildung
der Innerlichkeit als einen Sprung, also als ein Ereignis verstehen. In De l’existence à
l’existent spricht Levinas in diesem Zusammenhang – wie wir wissen – von dem »Er-
eignis der Hypostase«. Dieser Ereignisbegriff entspricht aber nicht dem unsrigen. Die
Trennung ist kein Ereignis, weil sie als ein unbeteiligter, ontologischer Übergang von
einem Entwicklungsstadium zum anderen geschieht, während das Ereignis eine Er-
fahrung der Störung des Bewusstseins ist.
461 Über das Zu-Hause und das Weibliche als seine Voraussetzung siehe auch: TU,
307
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Des Weiteren konstituiert sich das Selbe durch die »Arbeit« (tra-
vail), durch das Greifen in das »Element (élément)«, in das »Elemen-
tale« (l’élémental) 462 die Objekte und eröffnet so die Welt:
»Die Elemente stehen dem Ich weiterhin zu Verfügung – es kann sie neh-
men oder lassen. Unter dieser Voraussetzung entreißt die Arbeit den Ele-
menten die Dinge und entdeckt so die Welt.« (TU, 225/TI, 130)
Doch auch hier gibt es noch keinen Anderen, da diese Objekte da sind,
um durch die Arbeit zum Besitz des Selben zu werden:
»In ihrer ersten Intention ist die Arbeit dieser Erwerb, diese Bewegung auf
sich zu. Sie ist keine Transzendenz.« (TU, 229/TI, 133) 463
Im Vollzug jeder Etappe seiner Seinsweise – des Genusses, der Bleibe
und der Arbeit – bleibt das Selbe bei sich, es kennt nur sich selbst.
Doch dann kommt die Erschütterung des Selben durch den Anderen.
Und sie kommt nicht nur als eine seiner Entwicklungsphasen, son-
dern als das Ereignis der Transzendenz. Dies geschieht genau da-
durch, dass das Ich den Anderen als den Anderen erfährt, den es nicht
zu seinem Besitz machen kann, den es nicht beherrschen und unter-
drücken kann. Kurz: Der Andere bricht ein, indem er meinen Ego-
ismus in Frage stellt; er ist »Infragestellung meiner Freiheit« (la mise
en question de ma liberté) (SA, 202/DEHH, 243) 464. Die erste und
grundlegende Weise, wie diese Infragestellung geschieht, ist das Ge-
bot, das mir verbietet, den Anderen zu töten:
»Er kann meinen Besitz nur anfechten, weil er sich mir nicht von Außen,
sondern von Oben nähert. Das Selbe vermöchte sich dieses Andere nicht zu
bemächtigen, ohne es zu vernichten. Aber die unüberbrückbare Unendlich-
keit dieser Negation des Mordes kündigt sich gerade in dieser Dimension
der Erhabenheit an, in der der Andere auf mich zukommt, und zwar kon-
kret in der ethischen Unmöglichkeit, diesen Mord zu begehen.« (TU, 247/
TI, 145 f)
462 Das Elementale, die Elemente sind das, was der Genuss genießt. Der Genuss ge-
nießt – wie wir gesehen haben – keine Objekte, sondern »reine Qualitäten ohne Trä-
ger, ohne Substanz« (TU, 195/TI, 111). Der Genuss besitzt nicht die Elemente und
steht ihnen auch nicht gegenüber, sondern »badet« (baigner) (TU, 185/TI, 105) in
ihnen.
463
Zu der Arbeit und dem Besitz siehe: TU, 226 ff/TI, 131 ff.
464 Der Andere stellt meine Freiheit in Frage: SA, 202 ff/DEHH, 243 ff; TU/TI, 64/22,
103/48, 249/146, 280/169 f; HAM, 42 f/HAH, 53; JS, 246 f/AQE, 142.
308
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
Als ein genießendes Subjekt möchte und könnte ich den Anderen,
den ich nie als einen Anderen erfahren habe, vernichten, weil er ne-
ben mir einen Anspruch auf die Objekte meines Genusses oder mei-
ner Arbeit erhebt. Da aber ein Ereignis geschieht, will und kann ich es
nicht. Nach irgendeinem Ereignis, das schon vergangen ist, bleibt für
mich das Antlitz des Anderen und das Gebot in mir, das mir verbietet,
zu töten. Das Ethische besteht aber nicht nur im Verbot zu töten. Es
geht im Allgemeinen darum, dass ich den Anderen bei mir aufnehme,
dass ich für ihn verantwortlich bin, dass ich mich für ihn einsetze
etc. 465 Das Ereignis des Anderen leitet also eine neue Phase ein – ich
bin nicht mehr allein, ich bin nicht mehr frei im Sinne, dass ich alles –
auch andere Menschen – als der alleinige König der Welt besitzen
kann. Stattdessen soll ich mit dem Anderen reden, ihm antworten,
auf ihn zukommen, mich für ihn einsetzen.
In Autrement qu’être versucht Levinas die Entstehung des Ethi-
schen nicht mehr mit der ontologischen Entwicklung des Selben zu-
sammenzubringen. Es geht nicht mehr so sehr darum, zu zeigen,
wann der Andere einbricht, sondern wie. Es geht um diejenigen Sinn-
zusammenhänge, die den Sinn des Ethischen, der darin besteht, die
Verantwortung für den Anderen zu übernehmen, konstituieren. Eine
kurze und sehr aufschlussreiche Beschreibung dieser Logik des Ein-
bruchs des Ethischen finden wir in einem Interview mit Levinas aus
dem Jahre 1982 (abgedruckt im Sammelband Entre nous), wo Levinas
sagt:
»In meiner Analyse ist das Antlitz keineswegs eine plastische Form, etwa
wie ein Porträt; das Verhältnis zum Antlitz gleichzeitig das zu einem abso-
lut Schwachen – dem, das absolut entblößt, nackt und ausgesetzt ist, das
Verhältnis zum Entblößtsein und folglich zu dem, was allein ist und die
äußerste Vereinzlung erleiden kann, die der Tod gibt; es gibt daher im Ant-
litz des Anderen immer den Tod des Anderen und so, gewissermaßen, An-
stiftung zum Mord […] und gleichzeitig, und das ist das Paradox, ist das
Antlitz auch das »Du-wirst-nicht-Töten«, Du-sollst-nicht-Töten, das man
465Siehe zum Beispiel: JS/AQE, 47/16, 262/151; EU, 93/EI, 117. Bernhard Casper
weist darauf hin, dass, entsprechend der talmudischen Einsicht, jede göttliche Wei-
sung zwei Seiten hat: »Sie bestehe immer zugleich in einem Gebot und einem Ver-
bot.« (Casper(2009), 21) So hat auch das von Levinas aufgedeckte Verbot eine positive
Seite: »In der Grundbefindlichkeit der Verantwortlichkeit besteht das Verbot in dem
Imperativ: »Töte den Anderen nicht!«. Die positive Seite dieser göttlichen Weisung
aber besteht in dem Gebot: »Laß den Anderen in seiner Sterblichkeit nicht allein!«.
(ebd.; er zitiert hier ein Interview mit Levinas)
309
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
auch noch viel näher explizieren kann, es ist der Tatbestand, daß ich meinen
Nächsten nicht alleine sterben lassen kann, es ist wie ein Appell an mich;«
(ZU, 133 f/EN, 122)
Wie kommen wir also konkret zur Verantwortung für den Anderen?
Wir haben schon gesehen, dass das Antlitz für Levinas kein Etwas,
keine Bedeutung ist, es löst alle Formen auf – es führt in etwas Unbe-
greifliches und Uneinholbares. Weil das Antlitz keine deutbaren Ei-
genschaften, Attribute trägt, spricht Levinas von der »Nacktheit«
(nudité) (TU, 102/TI, 7) des Antlitzes. 466 Wegen dieser Nacktheit er-
fahren wir die Verletzlichkeit, die Sterblichkeit des Anderen. Sie stif-
tet zum Mord an 467, aber lässt auch dem Du-sollst-nicht-Töten gehor-
chen, das die Verantwortlichkeit für den Anderen mit sich bringt. Aus
dem eben oben angeführten Zitat wird es noch nicht klar, wie die
Sterblichkeit, die im Antlitz des Anderen eingeschrieben ist, zur Ver-
antwortung führt. Dies erklärt Levinas in einem anderen Text:
»Der Tod des anderen Menschen bezieht mich ein und stellt mich in Frage,
so als ob ich durch meine Indifferenz der Komplize dieses für den Anderen,
der sich ihm aussetzt, unsichtbaren Todes würde; und so als ob ich, noch
bevor ich ihm selbst geweiht bin, diesen Tod des Anderen zu verantworten
hätte und ich den Anderen nicht dem Alleinsein überlassen dürfte.« (GE,
213/DI, 245)
Das heißt: Wenn wir das Antlitz in seiner Verwundbarkeit und Sterb-
lichkeit sehen, erreicht dies uns nicht nur als Verbot, den Anderen zu
verwunden. Wir haben auch immer das Gefühl, dass wir daran schuld
sind. Wir sind nicht tatsächlich schuldig – es ist die Schuld, die der
Andere uns gibt. Wir sind »für alles angeklagt, doch ohne Schuld«
466 Die Nacktheit des Antlitzes: TU, 100 f/TI, 46; SA, 222/DEHH, 271 f; HAM, 41/
HAH, 52. Diese Nacktheit nennt Levinas auch »Abstraktheit« (abstraction): SA/
DEHH, 222/272, 226 f/275; HAM/HAH, 41/52, 51/63.
467 Wir würden eher vermuten, dass nicht die Verletzlichkeit des Anderen zum Mord
anstiftet, sondern das Unbegreifliche und Uneinholbare, zu dem die Nacktheit des
Antlitzes führt (genauer gesagt: zu dem sie nicht führt). Man begehrt die Transzen-
denz (die Transzendenz ist überhaupt das Einzige, was man begehren kann, insofern
man überhaupt in der Lage ist, zu begehren) im Anderen und manchmal wird dieses
Begehren »krankhaft«: es wird, erstens, zum zwanghaften Willen, diese Transzendenz
unbedingt zu besitzen, und, zweitens, denkt es, dass dieses Besitzen durch das kör-
perliche Besitzen des anderen Menschen erfolgt: durch sexuellen Kontakt, der zum
Vergewaltigung führt, durch Folter und Mord. Deswegen ist es richtig, wenn man
sagt, dass zum Beispiel Folter nicht die Ent-Menschlichung des Anderen, sondern –
im Gegenteil – die Bestätigung derer ist – leider nur eine gestörte Bestätigung.
310
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
(GE, 225/DI, 255). Der Andere klagt uns an und macht so uns für ihn
verantwortlich. Dies ist eine der wichtigsten Thesen in Levinas’
Ethik: Die Verantwortung, die man für den Anderen trägt, ist abso-
lut. Ich bin »verantwortlich für alles und für alle« (JS, 253/AQE, 145).
Wie? Weil ich auch dafür die Verantwortung trage, was ich gar nicht
getan habe:
»Verantwortung ohne Schuld, in der ich dennoch einer Anklage ausgesetzt
bin, die weder das Alibi noch die Nicht-Gleichzeitigkeit entkräften können,
ja in der es so scheint, als ob diese die Anklage begründeten.« (GE, 218/
DI, 249)
Hier wird es also noch radikaler ausgedrückt: Ich bin verantwortlich
ohne schuldig zu sein, weil der Andere mich anklagt, und ich kann
mich nicht rechtfertigen, indem ich sage: »Ich war nicht dabei, das
war ich nicht.« Solche Rechtfertigungen machen genau die Anklage
gültig: »Du bist schuldig, weil du nicht da warst, um das Übel zu ver-
hindern.« Die Idee dieser absoluten Verantwortung wird von Levinas
durch das Konzept »Stellvertretung« (substitution) gedacht. Es geht
um die »Stellvertretung« als den »letztendlichen Sinn der Verantwor-
tung« (sens ultime de la responsabilité) (GE, 98/GI, 130). Die Stell-
vertretung besagt, dass ich dafür verantwortlich bin, wofür jemand
anderer verantwortlich ist – sie ist die Verantwortung für die Verant-
wortung eines anderen (GE, 41/GI, 32). Im Antlitz eines Häftlings im
Konzentrationslager oder eines vor Hunger sterbenden Kindes in
Afrika wird wie durch einen transzendenten Strahl die Anklage an
mich eingraviert, die mich schuldig macht, obwohl ich dann und dort
nicht gewesen bin und nichts damit zu tun habe. Trotzdem muss ich
die Verantwortung übernehmen. Diese Verantwortung für den An-
deren und meine Sorge um ihn, wenn ich ihn auch nicht kenne und
ihm nichts angetan habe, ist das Ereignis des Ethischen in der Welt
des Egoismus, es ist das Außer-Gewöhnliche in der gewöhnlichen
Ordnung. Überraschung. Etwas Neues. Etwas anderes als das, woran
wir und gewöhnt sind. Es ist auch deswegen gegen jede Ökonomie,
gegen Vernunft und Logik – etwas Idiotisches, wenn wir an Dosto-
jewskis Roman Der Idiot denken. Fürst Myschkin stellt für diese Welt
einen Idioten dar. Warum? Weil er – wenn wir es mit Derrida aus-
drücken wollen – im Gegensatz zum ökonomischen Kreislauf bedin-
gungslos handelt. Er gibt eine reine Gabe in einer Welt, die bereit ist,
nur vergiftete Gaben zu geben.
311
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Wenn das Ereignis durch ein Verbot und Gebot einbricht und so ver-
schiedene Anforderungen an das Subjekt stellt, lässt sich fragen, ob
das Subjekt sich eingeschränkt vom Anderen fühlt, unfrei; ob dieses
Ereignis einen Zwang ausübt. Vielleicht will ich gar nicht verantwort-
lich für die ganze Welt sein? Ist das Ereignis nicht eine Situation, die
man sich nicht gewünscht hat, die aber doch eingetreten ist und je-
manden zu solchen Handlungen zwingt, die er gar nicht ausführen
will, die er aber ausführen soll, weil das Ereignis schon geschehen ist?
Levinas’ Texte bieten uns mehrere Hinweise darauf, wie diese Fragen
beantwortet werden könnten. Erstens übt das Ereignis keinen Zwang
auf den Betroffenen aus:
»[…] es [das Gute – L. P.] hat mich gewählt, bevor ich es gewählt habe.
Niemand ist gütig aus freien Stücken.« »Und wenn niemand gütig ist aus
freien Stücken, so ist doch auch niemand Sklave des Guten.« (JS, 41/
AQE, 13) 468
Dies bedeutet: Der Zwang besteht nur dann, wenn es vor dem Ereig-
nis eine freie Wahl gibt und wenn durch das Ereignis das Gegenteil
vom Bevorzugten eintritt, das man trotzdem hinnehmen muss. Da
aber das Ereignishafte dem Selben transzendent ist, steht es ihm nicht
zur Wahl, sondern bricht unvorhersehbar ein. Es verletzt nicht seine
Sphäre der Freiheit, wo es frei wählen kann, sondern bietet etwas
Neues an, was man vorher nicht wählen konnte. Deswegen – und
das ist der zweite Punkt – wird das Ereignis als befreiend entgegen-
genommen. Das Ereignis zwingt nichts auf, sondern befreit eine Welt
von ihr selbst, indem es einen neuen Horizont eröffnet:
»In dieser Stellvertretung […] löst sich das Sich von sich selbst ab. Freiheit?
Eine andere Freiheit als die der Initiative. […] In der unvergleichlichen Be-
ziehung der Verantwortung begrenzt der Andere nicht mehr den Selben;
was er begrenzt, das trägt ihn. […] In dieser passivsten Passivität wird das
Sich auf ethische Weise von jedem Anderen und von sich selbst befreit.
Seine Verantwortung für den Anderen – die Nähe des Nächsten bedeutet
nicht Unterwerfung unter das Nicht-Ich, sie bedeutet die Offenheit, in der
das sein des Seienden in der Inspiration überboten wird […].« (JS, 254/
AQE, 146) 469
468Das Ereignis ist kein Zwang, keine Sklaverei: TU/TI, 247 ff/146, 440/279 f.
469Das Ereignis befreit mich von meiner Eingeschränktheit in mir selbst: TU, 249/TI,
146; JS, 277/AQE, 159 f. Übrigens hat auch Heidegger dies ähnlich gesehen. Das Er-
eignis »erzwingt« nichts, es schenkt nur eine Möglichkeit, die, wenn sie mal eröffnet
worden ist, zum dem wird, was man will, was man begehrt, was als »Not« empfunden
312
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
Drittens, indem das Ereignis von außen kommend mir eine Forde-
rung stellt, liefert es damit einen Grund und eine Begründung für
mich und meine Tat. Ich kann mich nicht aus mir selbst begründen.
Wenn ich auf die Frage: »Warum tust du das?« antworte: »Weil ich es
so will,« dann stellt meine Antwort keine Begründung dar: Meine
Wahl und Handlung erscheinen willkürlich und sinnlos – sowohl für
die anderen als auch für mich selbst. »Die Freiheit rechtfertigt sich
nicht durch die Freiheit.« (TU, 441/TI, 280) Ein Grund kann nur von
außen kommen – durch ein Ereignis. Nur wenn ich im Ereignis bin,
das mir etwas befiehlt, finde ich eine Rechtfertigung:
»Das Andere aber, das absolut anders ist – der Andere – begrenzt nicht die
Freiheit des Selben. Indem der Andere die Freiheit zur Verantwortung ruft,
setzt er sie ein und rechtfertigt sie [il l’instaure et la justifie – L. P.]. Das
Verhältnis zum Anderen als Antlitz heilt von der Allergie. Es ist Begehren,
empfangene Unterweisung und friedlicher Gegensatz der Rede.« (TU, 282/
TI, 171) 470
Wenn das Ereignis einbricht, fühlt man sich also nicht unfrei, als ob
die freie Wahl eingeschränkt worden wäre; man fühlt sich nicht ge-
zwungen etwas zu tun, was man nicht tun will. Eher wird das Ereignis
als eine neue, überraschende Möglichkeit aufgefasst, sogar als eine
Gabe, für die man sich als auserwählt sieht. Ein neuer Wille wird
erweckt: das zu tun, wofür das Ereignis befähigt hat. Und die Taten,
die man jetzt von sich aus vollbringt, erscheinen nicht sinnlos, son-
dern – dadurch, dass sie durch das Ereignis gestiftet worden sind, –
begründet.
Doch das, was das Ereignis des Antlitzes mit sich bringt, ist nicht nur
eine neue und neuartige Beziehung mit dem Nächsten, sondern auch
eine Beziehung zu allen Menschen. Diese Beziehung nennt Levinas
»Gerechtigkeit« (justice). Was das Ereignis des Unendlichen hinter-
lässt, ist nicht nur die Verantwortung bis zur Stellvertretung gegen-
über dem Nächsten, sondern auch die Gerechtigkeit gegenüber allen.
Es ist so, weil man eigentlich nie nur einem Menschen, meinem
Nächsten, begegnet – die Anderen, d. h. »der Dritte« (le tiers) ist auch
immer schon dabei. Wie entsteht die Idee der Gerechtigkeit aus der
Anwesenheit des Dritten, der schon immer hier ist? So, dass die An-
wird: »Das Seyn versetzt in Not, ernötigt, nicht erzwingt einen Wesenswandel des
Menschen;« (ÜM, 22)
470
Siehe auch: TU, 366/TI, 229.
313
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
wesenheit des Dritten die Frage entwirft: Wie ich mich gegenüber sol-
chen Menschen verhalten muss, die nicht meine Nächsten sind? Da-
mit aber, dass, wie es sich herausstellt, mir ein Sollen auch gegenüber
den anderen auferlegt ist, wird meine absolute Verantwortung gegen-
über dem Nächsten eingeschränkt und gleichmäßig auf alle verteilt:
»Wie kommt es, daß es Gerechtigkeit gibt? Ich sage darauf, daß das in der
Tatsache der Vielzähligkeit der Menschen liegt, in der Gegenwart des Drit-
ten neben dem Anderen, wo beide die Gesetze bedingen und das Recht be-
gründen. Solange ich mit dem Anderen alleine bin, schulde ich ihm alles;
aber es gibt den Dritten. Weiß ich, was mein Nächster im Verhältnis zum
Dritten ist? Weiß ich, ob der Dritte mit ihm in Übereinstimmung ist oder ob
er sein Opfer ist? Wer ist der Nächste für mich? Man muß daher abwägen,
denken, beurteilen, indem man Unvergleichbares miteinander vergleicht.
Die interpersonale Beziehung, die ich mit dem Anderen herstelle, muß ich
auch mit den anderen Menschen herstellen; es besteht also die Notwendig-
keit, dieses Privileg des Anderen einzuschränken; daher die Gerechtigkeit.«
(EU, 68 f/EI, 84) 471
Mit der Entstehung der Frage nach der Gerechtigkeit ändert sich auch
mein Status. Ich bin nicht mehr nur einzig und unersetzbar, der für
den Anderen vorbehaltlos einzutreten hat, ohne vom Anderen das-
selbe für mich einfordern zu können (Asymmetrie). Ich werde selbst
zu einem Knotenpunkt in einem in der Reflexion gegebenen Bezie-
hungsnetz und kann von Anderen die Gerechtigkeit für mich einfor-
dern (Symmetrie). Die Gerechtigkeit darf aber die Verantwortung
gegenüber dem Nächsten nicht aufheben. Levinas’ Vorstellung von
einer Gemeinschaft enthält beide Momente: sowohl die Gerechtig-
keit, die sich auf alle Menschen erstreckt und sie gleich behandelt,
als auch die Beachtung des Rufes, der im Antlitz eingeschrieben ist
und der mich betrifft:
»Die Gerechtigkeit bleibt Gerechtigkeit nur in einer Gesellschaft, in der
zwischen Nahen und Fernen nicht unterschieden wird, in der es aber auch
unmöglich bleibt, am Nächsten vorbeizugehen; in der die Gleichheit aller
getragen ist von meiner Ungleichheit, durch den Mehrwert meiner Pflich-
ten über meine Rechte. Die Selbstvergessenheit bewegt die Gerechtigkeit.«
(JS, 347/AQE, 203) 472
471 Zur Anwesenheit des Dritten und Entstehung der Gerechtigkeit: TU, 307 f/187 f;
JS/AQE, 205Anm.33/116n.33, 285/165, 342 ff/200 ff; GE, 101 f/DI, 132 f; ZU, 132 f/
EN, 121 f.
472
Siehe auch: GE, 34 f/DI, 27.
314
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
Kann man vom Ereignis sprechen? Das Sprechen als solches – wie wir
dies in der zwischenmenschlichen Beziehung bei Levinas gesehen ha-
ben – kann durchaus zum Ereignis gehören, doch welches Verhältnis
besteht zwischen dem Ereignis und der reflexiven, philosophischen
Sprache? Heideggers Antwort diesbezüglich lag darin, dass die Spra-
che sowie auch das Denken überhaupt selbst ereignishaft sind – sie
sind Momente des Ereignisses. Mehr noch: Sie setzen das Ereignis
voraus und dies im zweifachen Sinne. Einmal sind das Denken und
damit die Sprache des Denkens durch ein Ereignis entstanden. Sie
tragen dessen Spur, sie tragen es in sich, auch wenn sie scheinbar über
diese Voraussetzung sprechen. Deswegen ist es ein falscher Eindruck,
dass die Sprache über das Ereignis spricht und so sich von ihm ab-
setzt, weil sie eigentlich aus ihm spricht und es nie verlassen kann.
Ein andermal ist das Ereignis, insofern es nicht als der Anfang, son-
dern als eine konkrete Erfahrung gedacht wird, die Eröffnung der
Möglichkeit, so zu sprechen, wie die Sprache über es spricht. Auf
diese Weise ist die Sprache die Bestätigung und der Ausdruck des
Ereignisses. In diesem Fall besteht zwar die Gefahr, dass die Sprache
das Ereignis nicht richtig ausdrückt, aber wenn der Denker sich be-
müht, wenn er auf eine objektivierende Sprechweise verzichtet, ist es
möglich, die Worte ins Ereignis zu integrieren. Durch das Sprechen
von dem, was mit ihm geschieht, gehört der Denker zum Ereignis
hinzu. Das Ereignis und die Sprache des Denkens sind also bei Hei-
degger miteinander versöhnt. Wenn auch er die begriffliche Sprache
der Metaphysik für ihre Unmöglichkeit, das Ereignis auszusagen,
scharf kritisiert, so ist diese Kritik nur ein Zwischenschritt zum Ver-
ständnis der Sprache der Metaphysik als vom Ereignis kommend. Der
Begriff kann in der Tat das konkrete Ereignis nicht erreichen (dafür
braucht man eine dichterische Sprache), er spricht dem Ereignis vor-
315
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
bei, aber letztendlich gehört auch er selbst zum Ereignis als dessen
geschichtliche Spur.
Für Levinas, der, wie wir gesehen haben, die Undenkbarkeit des
Ereignisses behauptet, sind das Ereignis und die Sprache der Philoso-
phie grundsätzlich einander entgegengesetzt – zumindest auf den
ersten Blick. Philosophie ist an sich Thematisierung. Indem sie the-
matisiert, hat sie schon das Ereignis verloren – sie hat es zum Thema
verwandelt. Die Aussagen der Philosophie sprechen also nicht von
oder aus dem Ereignis, sondern nur über ein Denkobjekt, das mit
dem wirklichen Ereignis nichts mehr zu tun hat – das Ereignis ist
schon geschehen, das, was die philosophischen Texte behandelt, sind
nur objektivierte Überbleibsel eines wirklichen Geschehnisses. Diese
Aussagen, die das Ereignis später, wenn es schon vergangen ist, als ein
Thema behandeln, nennt Levinas das »Gesagte« (le Dit). Das wahre
Geschehen ist dagegen das »Sagen« (le Dire). Das Sagen, wie wir es
schon gesehen haben, heißt nicht, etwas zu sagen, egal ob in einer
thematisierenden, teilnehmenden oder einer anderen Einstellung.
Das Sagen heißt, im Ereignis, in der Nähe zu sein, dem Anderen zu
antworten, die Verantwortung zu übernehmen. Das Sagen ist das Er-
eignis – es ist durch die »Unfähigkeit, im Gesagten zu erscheinen«
(incapacité d’apparaître dans le dit) (HAM, 73/HAH, 83) gekenn-
zeichnet. Das Gesagte ist seinerseits außerhalb des Ereignisses – ob
über ihm in der Reflexion, nach ihm in der Geschichtsschreibung
oder vor ihm in der Planung, dies spielt keine Rolle. Das Gesagte ist
immer ontologisch, es spricht ontologische Sprache, es sagt etwas
über etwas, objektiviert und prädiziert und spricht an dem Ereignis
vorbei. 473
Doch: Wenn man etwas über das Ereignis sagen möchte, wenn
man es sich zeigen lassen möchte, so gibt es keine andere Möglichkeit,
als es sichtbar zu machen, d. h. zu thematisieren. 474 In der Themati-
sierung wird es aber unterdrückt und, indem das Thema vor ihm vor-
gezogen wird, »verraten« (trahir):
473 Wichtige Stellen zum Sagen, Gesagten und zu ihrer Unterscheidung siehe: JS/
AQE, 105 f/55, 110 ff/58 ff, 144/78, 390 ff/231 ff.
474 Dies trifft auch Levinas’ eigene Philosophie: »Die Philosophie wie die Wissen-
schaft wie die Wahrnehmung strebt nach einem Wissen: sie sagt, ›wie es damit ist‹,
ihr theoretisches Wesen ist kaum zu leugnen. Das gilt auch für unseren eigenen Dis-
kurs, von seinem ersten bis zu seinem letzten Satz.« (GE, 266/DI, 266)
316
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
»Wie dem auch sei, das vor-ursprüngliche Sagen wandelt sich in eine Spra-
che, in der das Sagen und Gesagtes sich wechselseitig bedingen, ja in der das
Sagen seinem Thema sich unterordnet.« (JS, 30/AQE, 7)
»Die Korrelation von Sagen und Gesagtem, das heißt die Unterordnung des
Sagens unter das Gesagte, unter das linguistische System und unter die
Ontologie, ist der Preis, den die Manifestation verlangt.« (JS, 30/AQE, 7) 475
Sobald man also über das Ereignis spricht, verschwindet es und sein
Platz wird vom Denkobjekt »Ereignis« eingenommen. Wir erkennen
hier gleich Derrida. Doch, wenn das vielleicht Derridas letztes Wort
diesbezüglich ist, so nicht für Levinas. Er ist der Ansicht, dass das
Sagen im Gesagten nicht völlig verschwunden ist, dass es eine Spur
hinterlässt bzw. hinterlassen kann und jenseits des Gesagten bedeu-
tet. 476 Diese Bedeutung des Sagens wäre dann nicht die Bedeutung
einer Aussage, sondern das Ereignis selbst. Die Sprache, der Gedan-
kengang eines Textes kann so gestaltet werden, dass er diese Spur
enthält und verfolgen lässt. 477 Zuerst ist es aber notwendig, dass die
Sprache überhaupt nicht als ein Zeichensystem aufgefasst wird, das
etwas bezeichnet, was schon gesetzt und objektiviert worden ist, son-
dern als die Spur wirklicher Geschehnisse. Mit anderen Worten: Die
Sprache muss so aufgefasst werden, dass sie nicht aus Nomen, son-
dern aus Verben besteht, wo die Verben direkt auf die Prozesse, die
sich ereignen, hinweisen. In diesem Sprachverständnis stehen im Fo-
kus nicht die Nomina, zum Beispiel »Stuhl«, den man sich vorstellt,
sondern das Verb »sitzen«, das die wirkliche Erfahrung des Sitzens
bedeutet. Mehr noch, die Entwicklung der Sprache könnte so inter-
pretiert werden, dass die Sprache ursprünglich das Verb ist, das dann
nominalisiert wird. Genauso wie Heidegger ist also Levinas der Mei-
nung, dass zuerst das Verständnis der Sprache im Allgemeinen ver-
ändert werden muss, damit die Sprache des Ereignisdenkens richtig,
d. h. ereignisgemäß gelesen werden könnte. 478
Die Sprache als das Gesagte, als das Nomen trägt also in sich die
Möglichkeit, zum Sagen, zum Verb zurückzukehren. Diese Rückkehr
475 Das Gesagte verrät das Sagen, aber es ist auch die einzige Möglichkeit, wie das
Sagen geschehen kann: HAM, 97/HAH, 106; JS/AQE, 32/8, 58/23, 160/88, 298/173,
303/176.
476 Das Sagen hinterlässt eine Spur im Gesagten, die jenseits der Bedeutung des Ge-
sagten bedeutet: JS/AQE, 58/23, 89 ff/44 ff, 96/49, 112 f/59 f, 331 ff/193 ff.
477 Siehe zum Beispiel: JS/AQE, 334/194, 338 ff/197 ff, 367 f/215 f.
478
Zum Levinas’ Verständnis der Sprache siehe: JS/AQE, 87 ff/43 ff, 96 ff/49 ff.
317
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
479 Zur Reduktion: JS/AQE, 107 f/56, 109 f/57 f, 117Anm.34/62n.34, 129/69, 153/84,
163/90. Der Widerruf: JS, 386/AQE, 228. GE, 111/DI, 141.
480 Hierzu siehe unsere Anmerkung über Levinas’ Verhältnis zur negativen Theo-
318
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
482
Über die Philosophie als Bruch mit der Thematisierung und Erkenntnis, als Wi-
derruf des Gesagten angesichts des Sagens: JS/AQE, 107/56, 353/206, 358/210; GE,
270 f/DI, 270.
319
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
nur vorgibt, ein Ereignis zu sein, während es nur ein Denken bzw.
egoistischer Genuss ohne die Transzendenz ist? Levinas ist offen-
sichtlich der Ansicht, dass auch der Text bzw. die Kunst überhaupt,
der Ort der Begegnung mit dem Transzendenten sein kann. 483 Ein
Beispiel solcher Texte ist die Bibel:
»Gewiß kann ich auch den bezeugten Sinn als Gesagtes zur Sprache brin-
gen. Doch als außer-ordentliches Wort, das einzige, das sein Sagen weder
erstickt noch in sich aufsaugt, aber auch nicht bloßes Wort bleiben kann.
Umstürzendes semantisches Ereignis des Wortes Gott, das die von der Illei-
tät ausgehende Subversion bezwingt. Die Herrlichkeit des Unendlichen, die
sich einschließt in ein Wort und sich darin zu Seiendem macht, aber schon
ihre Wohnung auflöst und sich schon zurücknimmt, ohne sich in Nichts
aufzulösen […].« (JS, 331/AQE, 193) 484
Mit der Vermutung aber, dass es solche Texte geben könnte, die er-
eignishaft sind, die etwas Anderes in die Welt des Selben einbrechen
lassen, die das Selbe ansprechen, kehren wir zum am Anfang dieses
Abschnittes erwähnten Verhältnis von Sprache und Ereignis zurück.
Ein Text – die Kunst – kann mich wie ein Anderer ansprechen; ein
Text und ich – wir können zu einem ereignishaften Gespräch kom-
men. Dies geschieht allerdings nicht mit jedem Text und nicht auf der
Ebene des Gesagten, sondern dadurch, dass er hinter dem Gesagten
eine Andersheit begehren lässt. Damit merken wir, dass sich Levinas’
Position über das Verhältnis zwischen dem Ereignis und der denken-
den, aussagenden Sprache doch nicht wesentlich von der Heideg-
ger’schen unterscheidet. Eine Aussage kann das Sagen verwischen,
aber sie kann auch zu ihm führen; es kann einen Text geben, der
selbst ereignishaft ist, der zum Ereignis gehört.
Die Möglichkeit eines ereignishaften Sagens ist allerdings nicht
der einzige Punkt, wo Heidegger und Levinas in Bezug auf das Ver-
hältnis von Ereignis und Sprache einig werden könnten. Wir haben
gezeigt, dass die begriffliche Sprache der Metaphysik für Heidegger
erstmals gegen das Ereignis arbeitet: Sie verdeckt es, lässt es verges-
sen und führt das Denken immer in die falsche Richtung. Aber letzt-
endlich gehört auch sie zum Ereignis – sie bestätigt es als ihren An-
320
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
485
Siehe auch: ZU, 198 ff/EN, 180 ff.
321
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie
Jean-Luc Marions
486
Siehe auch: RC, 270.
487Siehe auch: »Nous l’avons vu, le phénomène saturé n’est pas un étant ni un objet
par moi constitué, mais un événement qui advient et me surprend.« (RC, 157)
322
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
488 Streng genommen, müssen die Begriffe »das Gegebene« (donné) und »das Phäno-
men« (phénomène) auseinandergehalten werden. Das Gegebene ist das, was durch die
Entfaltung seiner Gegebenheit, die ursprünglicher ist als Phänomenalität, gegeben
wird. Das Phänomen ist aber das, was sich zeigt bzw. gezeigt wird. Da die Gegebenheit
ursprünglicher ist als Phänomenalität, gilt die Formel »Was sich zeigt, gibt sich zu-
erst […].« (GS, 23/ED, 10) Die Gegenrichtung gilt aber nicht, weil das, was sich gibt,
muss sich nicht unbedingt zeigen, d. h. zum Phänomen werden: »[L]a réciproque ne
vaut pourtant exactement: tout ce qui se donne ne se montre pas pour autant – la
donation ne se phénoménalise pas toujours.« (DS, 38) Die Phänomenalität kann sich
auf zwei Weisen entfalten: Entweder wird das Gegebene gezeigt und zum Objekt
konstituiert oder es zeigt sich selbst und kommt so als ein gesättigtes Phänomen
zum Vorschein. In dem Phänomenalen gibt es also nicht nur objekthafte Phänomene,
sondern auch solche, die ihre Selbst-Gegebenheit selbst manifestieren: »Il ne reste
donc qu’une seule voie: tenter de cerner, dans l’espace de la manifestation, des régions
où des phénomènes se montrent, au lieu de se laisser simplement montrer comme des
objets.« (DS, 38) Wenn wir also vom Gegebenen sprechen, sprechen wir von dem, was
sich selbst gibt, ohne unbedingt zu einem Phänomen zu werden. Wenn aber von dem
gesättigten Phänomen die Rede ist, dann sprechen wir von einem Gegebenen, das sich
selbst gibt und sich auch noch zeigt, aber nicht zu einem Objekt wird. Das Phänomen
im Allgemeinen kann sowohl das objekthaft Sichtbare als auch das gesättigt Sichtbare
bedeuten, aber es ist auf jeden Fall im Bewusstsein angekommen, also sichtbar ge-
worden. Man muss aber beachten, dass Marion die Begriffe vom Gegebenen und
(gesättigten) Phänomen oft ohne Unterscheidung verwendet. Meistens spricht er ein-
fach vom Phänomen, meint aber damit das Selbst-Gebende und Selbst-Zeigende, das
gegebenenfalls auch noch etwas Unsichtbares gibt.
489 Die anderen »Bestimmungszüge« sind: »Anamorphose« (anamorphose) (ED,
Buch III, § 13), »Eintreffen« (arrivage) (§ 14), »vollendetes Faktum« (fait accompli)
(§ 15) und »Vorfall« (incident) (§ 16).
490 Die anderen Typen des gesättigten Phänomens sind: »Idol« (idole) (ED, Buch IV,
§ 23), »Leib« (chair) (ED, § 23) und »Ikone« (icône) (ED, § 23).
491 Marion hat sich selbstverständlich auch mit Heideggers Ereignisbegriff auseinan-
323
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
lichkeit mit seinem eigenen Anliegen. Ganz im Gegenteil: Heideggers Ereignis, das
das Sein und die Zeit gibt (ZS, 20), stellt für ihn das Aufgeben der Selbst-Gegebenheit
(des Seins) dar. Würde Heidegger bei dem Sein bleiben, das sich schenkt oder entzieht
(B, 248), würde er die Selbst-Gegebenheit bestätigen, die aber mit der Einführung
eines Gebers, nämlich des Ereignisses, verloren geht: »Das Anwesen (Sein) auf eine
der Gabe gehörige Gegebenheit zu reduzieren, diese erste Denkhandlung wird von
einer zweiten vollendet (und aufgehoben), bei der Gegebenheit im Ereignis abge-
schafft wird. Heidegger erkennt Gegebenheit jenseits des oder außerhalb von Sein
nur an, um diese sogleich in der Annahme zu verkennen, diese gäbe (sich) nur noch
diesseits des Ereignisses und unter seiner Ägide. Er spricht zwar von Gegebenheit,
aber nur als Ort eines schnellen Übergehens vom Sein zum Ereignis, als simple Zwi-
schenstation bzw. als Provisorium.« (GS, 78 f/ED, 58) Wir haben aber gesehen, dass
Heidegger das Ereignis auf keinen Fall als einen Geber, also ein Seiendes versteht,
weswegen seine Ereignisphilosophie nicht so leicht abgetan werden kann.
492 Es ist zwar richtig, dass im dritten Buch von Étant donné von jedem Gegebenen die
Rede ist und nicht nur vom gesättigten Phänomen (also vom Ereignis), aber man
muss beachten, dass Marion schon in Étant donné die These entwickelt, dass jedes
Phänomen in irgendwelchem Grad gesättigt ist. Es geht also um die These von der
»Banalität der Sättigung«, auf die wir noch später kommen werden. Das heißt aber,
dass jede Rede vom Gegebenen überhaupt auch die Rede vom gesättigten Phänomen
ist. Ereignis ist also die Bestimmung des gesättigten Phänomens, insofern es sich gibt.
493 Dass das Ereignis die Bestimmung des Gegebenen ist, in der es sein Sich zeigt, ist
surcroît: »Il fixe du même coup le caractère originairement événementiel de tout phé-
nomène en tant que d’abord il se donne avant que se montrer.« (DS, 64) Auch im
Vorwort zur deutschen Übersetzung von Étant donné charakterisiert Marion 2014
324
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
das Ereignis als das, »das niemals von einem anderen, stets von sich her ankommt«
(GS, 15).
495 Im Original: »l’incausabilité de l’événement du phénomène donné«.
325
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
uses of the two senses of event are evident in the structure laid out in Figure 1. First,
Marion uses event in a narrow sense, where it refers to one type of phenomenon.
Second, he uses event in a broad sense, where it refers to eventness as a characteristic
of all phenomena. Third, he distinguishes this eventness from other characteristics of
phenomena by assigning it priority over them.« (Mackinlay, 80) Was Mackinlay au-
ßer Acht lässt, ist, dass diese Gebrauchsweise faktisch nur Étant donné betrifft, ein
wenig noch in De surcroît zu beobachten ist und völlig in Certitudes négatives ver-
schwindet.
499 Der eigentliche Grund dieser Synonymie liegt also darin, dass die Ereignishaftig-
keit zu der grundlegenden Bestimmung der Gegebenheit erklärt wird. Die Sättigung
ist von den »Graden« (degrés) der Gegebenheit abhängig – je mehr Gegebenheit, d. h.
je ausgeprägter die Bestimmungen (im Plural!) der Gegebenheit, desto gesättigter das
Phänomen. Schon in Étant donné wird die Vermutung gemacht, dass die Gegebenheit
verschiedene Grade aufweisen könnte und dass dementsprechend verschiedene Klas-
sen von Phänomenen (vor allem arme und gesättigte Phänomene) unterschieden wer-
den könnten (GS, 306/ED, 249 f). Und wenn die Bestimmungen der Gegebenheit auf
die Ereignishaftigkeit reduziert werden, hängt die Saturierung von der Ereignishaf-
tigkeit ab. Je mehr Ereignishaftigkeit, desto mehr Sättigung: »[L]’événementialité fixe
le degré de la saturation et la saturation varie selon l’événementialité.« (CN, 307)
326
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
500
Die Gegebenheit ist also das Ereignis des Gegebenen, wenn es sich gibt. Dazu siehe
auch: GS/ED, 116 f/89 f, 121 f/95. In De surcroît beschreibt Marion die Gegebenheit
als »mouvement par lequel le phénomène se donne« (DS, 38).
327
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
501
Das »Selbst«/»Sich« (soi) des Phänomens gehört zu den Grundbegriffen der Phä-
nomenologie Marions, oder eher: Es könnte zu ihnen gehören, wenn es mehr heraus-
gearbeitet wäre. Mackinlay bemerkt aber völlig richtig: »Marion explicitly refers to
such a »self« on many occasion, though he never specifies exactly what this ›self‹ is.«
(Mackinlay, 17) Während das Konzept der Selbst-Gegebenheit die von sich selbst aus-
gehende Erscheinung des Phänomens ohne andere Ursache bedeutet, bleibt das Wort
»Selbst« unbestimmt, obwohl Marion es sogar in Heideggers Philosophie zu finden
glaubt – er behauptet sogar, dass das Sich etwas ist, »von dem Heidegger eingehenden
Gebrauch macht, ohne es aber als solches zu denken« (GS, 132/ED 102). Ein Wesen,
überhaupt ein Etwas unter dem »Selbst« zu vermuten, wäre aber mit Marions phäno-
menologischem Projekt nicht kompatibel. Dieser Begriff bezeichnet eher nur eine
Funktion und stellt sie dem Selbst des aktiv konstituierenden Ich gegenüber (GS,
413 f/ED, 343 f). Deswegen kann man Mackinlay wieder völlig zustimmen, wenn er
schreibt: »However, his concern is not so much with the phenomenon’s self per se, but
rather with using this concept to reinforce his claim that ›in the appearing, the ini-
tiative belongs in principle to the phenomenon, not the look‹ (BG, 159/ED, 225).
Ascribing a ›self‹ to phenomena is a way of excluding claims about the role of sub-
jectivity in phenomenality.« (Mackinlay, 18; BG – Being Given, die amerikanische
Übersetzung von Étant donné)
328
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
ters an Gabe« (BG, 119/ED, 169). Die deutsche Übersetzung ist aber ein bisschen
irreführend. Im Original sieht es so aus: »en assignant au don le caractère immanent
et intrinsèque de la donation«. Es geht also nicht um »die immanente und intrinsische
Zuweisung«, sondern um den »immanenten und intrinsischen Gegebenheitscharak-
ter«. Es ist die Gegebenheit, die immanent und intrinsisch ist.
503 »Allgemeiner gesprochen: Gegebenheit durchschreitet Gabe nicht in einem tran-
sitiven Sinne, sondern sie verbleibt in ihr auf Dauer. Die Zwiefalt von Gegebenheit ist
zu eigen, die Gabe einzurichten und der von Manifestation, sie aufzuhalten. Gegeben-
heit wird so als die für Immanenz schlechthinnige Instanz aufgedeckt.« (GS, 210/
ED, 166 f)
504 »Immanente Gegebenheit bleibt in dem, was sie gibt, sie bestimmt es folglich für
329
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
506 Marion zitiert hier (GS, 311/ED, 253) Kritik der reinen Vernunft: »Was mit den
formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach)
übereinkommt, ist möglich.« (KrV A 218/B 265)
507 Marion zitiert hier (CN, 277) KrV A290/B346: »Ehe wir die transzendentale Ana-
lytik verlassen, müssen wir noch etwas hinzufügen, was, obgleich an sich von nicht
sonderlicher Erheblichkeit, dennoch zu Vollständigkeit des Systems erforderlich
scheinen dürfte. Der höchste Begriff, von dem man eine Transzendentalphilosophie
anzufangen pflegt, ist gemeiniglich die Einteilung in das Mögliche und Unmögliche.
Da aber alle Einteilung einen Eingeteilten Begriff voraussetzt, so muß noch ein höhe-
rer angegeben werden, und dieser ist der Begriff von einem Gegenstande überhaupt
(problematisch genommen, und unausgemacht, ob er Etwas oder Nichts sei).« Nach
dieser Äußerung schwächt Marion allerdings seine Kritik gegen Kant, indem er ver-
mutet, dass Kant auch etwas Nicht-Objekthaftes zugelassen hat, nämlich das Ding an
sich. Während die Bedingungen der Erfahrung und somit auch der Gegenständlich-
330
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
Es geht hier also nicht nur darum, dass die Erscheinung selbst sich
nicht geben könnte und dass sie etwas außerhalb ihrer selbst bräuch-
te, was sie in Gang brächte, sondern auch darum, dass es voraus-
bestimmt wird, was überhaupt erscheinen kann. Und in diesem Fall
sind es nur Objekte. Alles, was erscheint, muss etwas Objekthaftes
sein. Vielleicht ist das konkret gegebene Phänomen nicht objekthaft,
dann wird es aber für überhaupt nicht erscheinend oder für bloß sub-
jektiv erklärt oder auch auf ein Objekt reduziert. Diese Prozeduren
sind genau das, was Marion unter Einschränkung versteht: Das Phä-
nomen sich nicht so zeigen lassen, wie es sich eigentlich gibt, sondern
es normativ behandeln entsprechend den im Voraus definierten Be-
dingungen.
Wenn Marion das Phänomen als sein eigenes »Prinzip« 508 und
seinen eigenen »Ursprung« denkt und es als »ohne Grenzen eines
Horizonts« und »ohne Reduktion auf ein Ich« bestimmt, wendet er
sich gegen die Einschränkungen, die dem Phänomen die Husserl’sche
Phänomenologie auferlegt. Einerseits sieht er ein, dass Husserl das
Phänomen von jedweden Einschränkungen zu befreien versucht, in-
dem er auffordert, dass das, was originär in Anschauung gegeben ist,
so hingenommen werden muss, wie es sich gibt. 509 Andererseits sieht
Marion auch hier Einschränkungen der Gegebenheit des Phänomens
– durch den Horizont und das Ich.
Die Husserl’sche Phänomenologie – so Marion – besagt, dass
jede lebendige Anschauung, die jetzt und hier stattfindet, sich in
einen Horizont, der schon antizipiert ist, einschreiben lässt. Das
keit nur im Bereich des Phänomens gelten, den sie auch eigentlich definieren, bleibt
der Bereich des Noumenon frei von diesen Bedingungen (CN, 279 f). Dies heißt al-
lerdings nicht, dass die nicht-objekthafte Gegebenheit des Phänomens bei Marion so
wie das Ding an sich bei Kant interpretiert werden könnte. Vor allem deswegen nicht,
weil das Ding an sich nicht erfahrbar ist, während die Gegebenheit das Reich des
Phänomenalen erweitern soll. Es geht um etwas Erfahrbares, was doch kein Objekt ist.
508 Siehe zum Beispiel: »Denn Gegebenheit hält als Prinzip geradezu fest, dass den
Phänomenen nichts vorangeht, es sei denn ihre eigene Erscheinung von sich selbst
her. Dies läuft darauf hinaus, dass Phänomene ohne die weitere Hilfe eines Prinzips
nur als sie selbst ankommen.« (GS, 44/ED, 29) Im Original lauten die letzten Worte:
»le phénomène advient sans autre principe que lui-même«. Der französische Text
lässt besser erkennen, dass das Phänomen sein eigenes Prinzip ist.
509 Marion zitiert oft das »Prinzip aller Prinzipien« aus dem § 24 in Husserls Ideen I:
»[…] daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei,
daß alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär, (sozusagen in seiner leibhaften
Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur
in den Schranken, in denen es sich da gibt […].« (Hua III, 52)
331
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
heißt: Jede originäre Gegebenheit wird immer als ein »Teil« der Er-
fahrung von etwas aufgefasst. Die drei originär gegebenen Seiten
eines Kubus werden als drei Seiten eines Kubus interpretiert. Der
ganze Kubus, der nur intelligibel und begrifflich existiert, bildet den
Horizont für das hier und jetzt Gegebene, wodurch das hier und jetzt
Gegebene eingeschränkt wird – es muss die drei Seiten eines Kubes
geben. Man fragt nicht, was es gibt, sondern was es geben muss. Und
das, was es geben muss, besagt der jeweilige Horizont. 510 Marion
schreibt diesbezüglich:
»Damit sich jedes Phänomen nämlich einem Horizont einzuschreiben ver-
mag (und darin seine Möglichkeitsbedingung findet), muss dieser Horizont
(und so lautet seine Definition) begrenzt und das Phänomen somit end-
licher Natur bleiben.« (GS, 336/ED, 276)
Mehr noch: Auch das, was noch nicht gegeben wird, wird schon im
Voraus einem Gegebenen zugeordnet. Das heißt konkret: Die drei
noch nicht gesehenen Seiten des Kubus werden vorhergesehen und
als die drei Seiten des Kubus bestimmt. Nichts radikal Neues ist hier
noch möglich. 511 In dieser Beschreibung ist es leicht zu erkennen, dass
Marion Husserl wegen noch einer Einschränkung des Phänomens
verdächtigt – das Phänomen wird durch den Horizont eines antizi-
pierten Objekts bedingt, d. h. es muss als ein Objekt erscheinen. Das,
was erscheint, ist immer etwas von einem schon antizipierten Ob-
jekt. 512
Der andere Schritt, den die Husserl’sche Phänomenologie macht
und mit dem sie die Selbst-Gegebenheit des Phänomens unterbindet,
liegt in der unbezweifelten These, dass das Phänomen vom Ich kon-
stituiert wird. Das Phänomen gibt sich nicht selbst und zeigt sich
nicht selbst – es wird konstituiert und gezeigt. 513
510
GS, 317 ff/ED, 259 f.
511 GS, 319 f/ED, 260 f.
512
Marions Auslegung von Husserls Reduzierung der Gegebenheit auf Gegenständ-
lichkeit und seine Kritik dazu: GS, 61–70/ED, 45–50. Für Marion schränkt sowohl
Kant als auch Husserl die Erfahrung auf die Erfahrung eines Objekts ein. Vermutet
er selbst eine nicht-objekthafte Erfahrung, so nennt er sie »Gegen-Erfahrung« (con-
tre-expérience): »Gegenerfahrung bedeutet hier nicht das Gleiche wie Nicht-Erfah-
rung, sondern das Gleiche wie die Erfahrung eines Phänomens, das nicht beobachtet
oder auf das im Sinne von Gegenständlichkeit nicht Obacht gehabt werden kann, ein
Phänomen, das den Vergegenständlichungsbedingungen also widersteht.« (GS, 363 f/
ED, 300). Siehe auch: GS, 363 ff/ED, 300 ff; SB, 126 ff/BS, 182 ff; CN, 314.
513
GS, 321 f/ED, 262 f.
332
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
514
GS, 70 ff/ED, 50 ff.
333
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Das Ereignis wird von Marion auch als »ohne Ursache« charakteri-
siert. Mehr noch: Wir haben schon gesehen, dass die Ereignishaftig-
keit überhaupt die »äußerste Bestimmung gegebener Phänomene« ist
und dass »keine »Begriffe von ihrer Ursächlichkeit« zu haben«
grundsätzlich die Ereignisse definiert. Es lässt sich vermuten, dass
unter »Ursache« Marion ganz allgemein alle möglichen »Bewirker«
versteht, die dazu beitragen könnten, dass etwas eintritt – sei es eine
Naturursache, ein subjektiver Grund, ein konstituierendes Ich, eine
Inszenierung, Provokation, Produktion o. Ä. Marion plädiert für die
absolute »Souveränität« (CN, 281) des Ereignisses:
»L’événement n’a pas de cause et ne plaide aucune cause, surtout pas la
sienne. Il n’a besoin que de soi pour s’accomplir: il passe et se passe, donc il
se passe de ce qui n’est pas lui-même.« (CN, 282)
Es gibt also keinen Grund des Ereignisses, außer demjenigen, den es
sich selbst gibt. Das Ereignis ist bedingungslos – keine Bedingungen
der Möglichkeit müssen erfüllt werden, damit es sich ereignen könn-
te. Kein Ich konstituiert es – es kann nur empfangen werden, so wie es
sich gibt. Man kann für das Ereignis keine Naturursache finden und
man kann es auch nicht auf die Inszenierung durch ein Subjekt zu-
rückführen. Das Ereignis ereignet sich von sich selbst und so wie es
sich ereignen will – es duldet keine Einschränkungen seiner Erschei-
nung, zum Beispiel durch Gegenständlichkeit oder Seiendheit.
Man muss festhalten, dass die Behauptung, dass das Ereignis ohne
Ursache (im weiten Sinne des Wortes) ist, eine phänomenologische
und keine ontologische Aussage ist. Das heißt: Sie behauptet nicht,
dass das Ereignis wirklich keine Ursache hat, sondern dass es so er-
scheint, als hätte es keine Ursache. Die Möglichkeit einer Ursache
wird in diesem Fall »in Klammern gesetzt« und bleibt unentschieden.
Wie erscheint das Ereignis ohne Ursache? Erstens:
»Der natürlichen Einstellung nach gehört es notwendigerweise zur Wir-
kung, nach der Ursache zu kommen.« (GS, 285/ED, 231)
Aber:
334
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
»Der reduktiven Einstellung nach sieht man überdies, dass sich die Wir-
kung radikal gibt, wie ein in der Kausalbeziehung anhebendes, aufbrechen-
des Phänomen, während sich die Ursache bestenfalls in ihrem Erscheinen
durchhält, dieses zumeist aber aufhebt.« (GS, 285/ED, 231)
Das alltägliche Bewusstsein bewegt sich ständig zwischen den Ursa-
chen und Wirkungen oder eher – wenn man es breiter fassen möchte
– innerhalb bestimmter Abläufe, in denen ein Vorausgehendes und
ein Nachkommendes aufeinander bezogen sind, wenn auch zwischen
ihnen keine Kausalität im strengen Sinne des Wortes besteht. Man
sieht ständig voraus (ausgehend von einer »Ursache«) und kehrt stän-
dig zu dem Vorangegangenen (zur »Ursache«) zurück. Wenn der
Himmel wolkig ist, erwartet man Regen. Wenn man um die Ecke
geht, erwartet man das Weiterlaufen der Straße. Gibt es unterwegs
einen Stau, fragt man, warum. Sieht man einen schönen Garten,
denkt man an denjenigen, der ihn eingerichtet hat, oder an die forma-
len Voraussetzungen, die einen Garten schön machen könnten. Man
verweilt eher in der Vergangenheit (bei den Ursachen, die zu dem
Jetzigen geführt haben) oder antizipiert die Zukunft (für die die Ur-
sachen jetzt geschehen), aber man ist nicht jetzt. Für dieses Bewusst-
sein, das durch die Retention und Protention alle Phänomene syn-
chronisiert, d. h. gleichzeitig macht, folgt die Wirkung der Ursache.
Dies gehört zur Logik der natürlichen Einstellung. Diese Logik hat
ihren Grund der Möglichkeit im synchronisierenden Bewusstsein,
d. h. – in der Terminologie Husserls – im inneren Zeitbewusstsein. 515
Der phänomenologische Blick kann sich dagegen nur auf die Wir-
kung, die in diesem Moment erscheint, konzentrieren und nicht die
Ursache beachten, die einfach da ist oder auch gar nicht erscheint oder
die es vielleicht gar nicht gibt. Das Ereignis ist ohne Ursache, weil
man nicht die Ursache sieht und nicht nach den Ursachen sucht, weil
man schlicht nicht in der wissenschaftlichen Einstellung ist. So muss
man in der phänomenologischen Einstellung schlussfolgern:
»Ereignisse gehen ihrer Ursache (oder ihren Ursachen) voraus.« (GS, 287/
ED, 233).
Nur irgendwann nach dem Ereignis wird nach dem Vorangegangenen
(und Zukünftigen) gefragt. Wenn jemand, der mich nicht kennt und
515
Oder man kann auch wie Kant vermuten, dass die Relation Ursache-Wirkung ein-
fach zu den apriorischen Strukturen der Erfahrung gehört – man kann nicht anders,
als überall die Ursachen und Wirkungen zu sehen.
335
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
den ich nicht kenne, mich plötzlich so anblickt, als ob wir uns seit
Ewigkeit kennen würden oder als ob wir geheime Verbündete wären,
so bin ich völlig auf diesen überwältigenden Blick fixiert und nicht
darauf, wie es dazu gekommen ist, dass er mich jetzt so anblickt. Ich
könnte das auch gar nicht, weil dieses Ereignis für mich unvorherseh-
bar war. Der jetzige Moment ist und war von der Vergangenheit (und
auch von der Zukunft) abgeschnitten. Deswegen erreicht mich dieses
Ereignis – phänomenologisch gesehen – vor jeder Ursache und lässt
mich nicht aus seinem Geschehnis heraustreten und nach Gründen,
nach dem Vorausgegangenen, fragen. Die Logik der natürlichen Ein-
stellung, die diesen Moment als Teil einer Kausalität sieht und als
eine Wirkung (und dann als die Ursache vom Weiteren) bestimmt,
wird unterbrochen. Das Ereignis unterbricht das synchrone Bewusst-
sein, die Phänomenologie unterbricht die Ontologie. 516
Des Weiteren: Wenn das Ereignis sich ereignet hat, beginnt man
immer, die Gründe für seine Möglichkeit zu suchen. Warum? Genau
deswegen, weil die natürliche Einstellung sich wieder einschaltet,
aber die Gründe nicht gleich sichtbar sind, weil sie nicht erschienen
waren. Wären sie offensichtlich, müsste man nicht nach ihnen su-
chen. Aber diese Situation der Unwissenheit setzt sich fort – die
Ursache, das Vorangegangene ist nicht erschienen und jede Ursache,
die man nachträglich findet, zeigt sich als »inadäquat« für das Ge-
schehene. Und das ist die zweite These Marions:
»Als gegebenes Phänomen hat ein Ereignis keine adäquate Ursache, es
kann keine solche haben. (GS, 289 f/ED, 235)
Der Grund dafür ist der, dass immer mehr geschieht, als eine Ursache
(oder eine begrenzte Zahl bestimmter Ursachen) erklären könnte. 517
Kann zum Beispiel nur ein Wunsch, mich anzusehen, diese überwäl-
tigende Kraft, diese Fülle des Augenblicks erklären? Er kann höchs-
tens das erklären, dass er mich anblickt – er kann nur diese Tatsache
erklären, nicht aber das Ereignis. Weil es durchaus möglich ist, dass er
516 Wir sehen, dass Marion das Ereignis als das charakterisiert, was keine Vergangen-
heit (also keine Ursache) hat. Nichts hat es bewirkt. Aber wenn wir überlegen, dass
das Ereignis überhaupt aus dem Zeitfluss heraustritt, können wir vielleicht vermuten,
dass das Ereignis auch ohne Zukunft ist. Natürlich hat jedes Ereignis Folgen (das
gehört sogar zu seiner Logik), aber es setzt sich selbst nicht fort. Es ist nur ein Augen-
blick, der keine Zukunft in dieser Welt hat. Das Bewusstsein antizipiert in diesem
Augenblick nichts, ist unfähig etwas zu entwerfen.
517
GS, 290 f/ED, 235 f.
336
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
mich anblicken möchte, was aber nur zum bloßen Anblicken ohne
Ereignis führen würde. Kann zum Beispiel eine Körperbewegung in
meine Richtung aufgrund dessen, dass etwas Auffälliges in dieser
Richtung wahrnehmbar wird (zum Beispiel ein Schrei), diesen Blick
erklären? Natürlich nicht. Es kann wiederum nur die Tatsache, dass
unsere Blicke sich gekreuzt haben, erklären, aber nicht die lebendige
Fülle dieses Ereignisses. Auf dieselbe Weise kann man unendlich viele
Ursachen finden, die eigentlich keine Ursachen sind – hätte sein
Freund nicht danebengestanden, hätte er nicht Hunger gehabt und
nicht auf einen Eisverkäufer gezeigt, in dessen Nähe aber ich mich
befand, so hätte er mich nie angeblickt. 518 Marion weist genau darauf
hin, dass in solchen Fällen sehr viele, eine »Überfülle« (surabon-
dance) von Ursachen sich vermuten lassen; da sie sich aber alle als
inadäquat erweisen, zeigen sie um so mehr die Souveränität des Er-
eignisses:
»So steht es also um die Interaktion und um die nicht weiter aufzulösende
Verstrickung von unendlich ineinander übergehenden Ursachen. Dennoch
lässt ihre Überfülle paradoxerweise durchscheinen, dass das Ereignis von
absolut keiner Ursache abhängt.« (GS, 292/ED, 237)
Das Ereignis ist ohne Ursache in dem Sinne, dass das Phänomen sich
zuerst gibt, keine Ursache ihm vorausgehen lässt und mit seiner Fülle
jede nachträgliche Ursache leugnet, die zwar vermutet werden kann,
das Ereignis aber nicht erklärt. Dies ist seine Selbst-Gegebenheit.
Hier zeigt sich aber ein Problem. Achten wir auf die Ausdrucksweise
Marions. Er schreibt nämlich: »Der reduktiven Einstellung
nach …« 519 Das heißt: Normalerweise fassen wir die Erscheinungen
als verursacht auf, also als solche, denen etwas vorausgeht, die eine
Wirkung von etwas sind, aber in der phänomenologischen Einstel-
518
Den Gedanken, dass jede aufgedeckte Ursache nur den Sachverhalt, nicht aber das
Ereignis selbst erklären kann, formuliert Romano im folgenden, sehr gelungenen
Satz: »Non que l’événement ne serait préparé ni préfiguré par rien, non qu’il n’aurait
point d’ancrage dans une histoire et surgirait mystérieusement sans aucun rapport à
elle; de l’événement, au contraire, on peut dire qu’il a, tout comme le fait intramon-
dain, ses causes: mais ses causes ne l’expliquent pas, ou plutôt, si elles l’»expliquent«,
ce dont elles rendent raison ce n’est précisément jamais que du fait, et non point de
l’événement en son sens événemential.« (EM, 38) Für Slavoj Žižek heißt es dann: »In
einer ersten Annährung erscheint das Ereignis also als Effekt, der seine Gründe zu
übersteigen scheint – und der Raum eines Ereignisses ist derjenige, der von dem Spalt
zwischen einem Effekt und seinen Ursachen eröffnet wird.« (Žižek, 9)
519
Im Original: »Selon l’attitude de réduction …« (ED, 231)
337
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
lung können wir sie als selbst gebend sehen. Für diese Interpretation
spricht auch der Satzteil: »Als gegebenes Phänomen hat ein Ereig-
nis …« 520, weil das Phänomen erst durch die (dritte) Reduktion (d. h.
durch die Reduktion des Phänomens auf seine Selbst-Gegebenheit)
als gegeben, als selbst gebend erscheint, während vorher es auch als
ein konstituiertes Objekt, also als verursacht angesehen werden kann.
Dass die Gegebenheit, d. h. die Ereignishaftigkeit von der Prozedur
des Phänomenologen, d. h. von seiner frei gewählten Einstellung ab-
hängt, besagt eine der grundlegendsten Thesen von Réduction et
donation und Étant donné:
»Wie viel Reduktion, soviel Gegebenheit.« 521
Wir können also das Erscheinende sowohl als verursacht als auch als
ohne Ursache auffassen – dies hängt davon ab, ob wir das Phänomen
auf die Gegebenheit reduzieren oder nicht. Also streng genommen
hängt die Möglichkeit des Ereignisses als sich selbst Gebendes von
uns und nicht von ihm ab. Damit wird aber seine Selbst-Gegebenheit
in Frage gestellt. Wie kann das Ereignis noch als souverän gelten,
wenn wir es zu dem machen, was es ist? Dieses Problem wird noch
sichtbarer, wenn es um die sogenannte »Banalität der Sättigung«
geht. Während in Étant donné noch deutlich zwischen armen und
gesättigten Phänomenen unterschieden wird, entwickelt Marion in
520 Im Original: »En tant que phénomène donné, événement …« (ED, 235)
521
»Autant de réduction, autant de donation.« Erstmals formuliert in Réduction et
donation (zum Beispiel: RD, 303). Siehe auch: GS/ED, 38/23, 44/27, 104/78 f; DS, 57.
Noch radikaler formuliert Marion es in einem Gespräch 1998: »Die Antwort auf Ihre
Frage, ob es eine Gegebenheit ohne Reduktion gibt, lautet deshalb meinerseits ein-
deutig: Nein.« (RuG, 66) Die Reduktion, von der Marion hier spricht, ist natürlich
eine phänomenologische – sie reduziert mithilfe der phänomenologischen Epoché
etwas auf ein Phänomen im Bewusstsein und lässt es so sich zeigen, wie es ist. Marion
vermutet aber, dass sowohl Husserl als auch Heidegger dieses Sich-Zeigende nicht
vollständig sich zeigen ließen, sondern nur in bestimmten Grenzen, nämlich als ein
Objekt im Horizont der Gegenständlichkeit bzw. als ein Seiendes im Horizont der
Seiendheit. Dies bedeutet für Marion, dass sie die Reduktion nicht genügend radikal
vollzogen haben, also bis zu dem Punkt, wo das Phänomen sich selbst, ohne jede Ein-
schränkung geben könnte. Damit die Selbst-Gegebenheit endlich erreicht würde, ist
nach Husserls und Heideggers Reduktion noch eine »dritte« (la troisième) Reduktion
notwendig: »Für die Gegebenheit gibt es nur eine einzige Bedingung, und das ist die
Reduktion. In der Reduktion gibt es einen Dreischritt: Die Erste Reduktion ist die
transzendentale Reduktion, die sich auf das Objekt bezieht. Die zweite Reduktion ist
die ontologische, die sich auf das Seiende richtet. Die dritte Reduktion zielt schließlich
auf das Gegebene (donné).« (RuG, 65).
338
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
522 Es ist zwar wahr, dass in Étant donné zwischen armen und gesättigten Phänomen
unterschieden wird, aber schon hier gibt es Hinweise darauf, dass für Marion die
Sättigung mehr als nur ein Charakteristikum spezieller Phänomene bedeutet, dass
sie das Phänomen im Allgemeinen kennzeichnen könnte. Marion schreibt zum Bei-
spiel, dass das saturierte Phänomen als ein »Paradigma« (paradigme) für die Beschrei-
bung des Phänomens im Allgemeinen dienen könnte: »Zwar sind nicht alle Phäno-
mene als gesättigte Phänomene einzuordnen, doch erfüllt sich in allen gesättigten
Phänomenen das Paradigma von Phänomenalität. Besser noch: Gesättigte Phänomene
allein haben das Vermögen zu deren Veranschaulichung.« (GS, 381/ED, 316; siehe
auch: GS, 368 f/ED, 304 f) Was genau kann das gesättigte Phänomen in Bezug auf die
Phänomenalität überhaupt »veranschaulichen« (illustrer)? Natürlich die Selbst-Ge-
gebenheit jedes Phänomens. Jedes Phänomen gibt sich, aber insbesondere das ge-
sättigte Phänomen zeigt, dass es sich gibt. Später vermutet Marion, dass die Sättigung
eigentlich von der Gegebenheit abhängt, d. h. sie sind eigentlich ein und dasselbe. So
entsteht die These von der Banalität der Sättigung. Weil jedes Phänomen sich gibt, ist
es auch gesättigt. Und weil jedes Phänomen sich gibt, ist es auch ereignishaft. So
spricht Marion in De surcroît von »le caractère originairement événementiel de tout
phénomène« oder von »l’universalité de l’acception du phénomène comme événe-
ment« (DS, 64).
523
Es ist verständlich, dass wegen dieses Problems Marion in die Kritik geraten ist.
339
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Möglicherweise als ein Versuch, die These, laut deren die Gege-
benheit von der Reduktion abhängig ist, zu schwächen, könnten eini-
ge andere Ausdrücke von Marion gelesen werden. In einem Text von
2003 – La raison du don 524 – spricht Marion zum Beispiel von »von
Natur aus reduzierten« (naturellement réduit), »immer schon redu-
zierten« (toujours déjà réduit) (GG, 60/RdD, 17) 525 Phänomenen, also
von solchen Phänomenen, die schon an sich ereignishaft, gesättigt
sind, ohne dass sie zu solchen reduziert werden müssen. Theoretisch
kann man alle Phänomene auf ihre Ereignishaftigkeit reduzieren,
aber einige brauchen das nicht und bestätigen somit ihre Selbst-Ge-
gebenheit im vollen Maße. Und in diesem Fall verwandelt sich der
Phänomenologe von demjenigen, der die Reduktion vollzieht, zu
dem, der sie nur bestätigt. 526 Das Ereignis wäre somit das, was sich
auch als Ereignis gibt, was seine Selbst-Gegebenheit nicht einer Re-
duktion verdankt. Solche völlig selbstgebenden Phänomene wären
Mackinlay zum Beispiel spricht hier von »unresolvable difficulties« (Mackinlay, 112).
Er beschreibt diese Schwierigkeiten folgendermaßen: »Because of the role Marion
gives to the perceiving subject in forcing a saturated phenomenon to appear as an
unsaturated phenomenon – or in refraining from such a reduction – saturated pheno-
mena must once more be regarded as dependent upon the subject. This undermines
Marion’s own ambition to invert the constitutive relation of Kantian subjectivity,
making the recipient’s interpretation part of the very structure of phenomenality,
and perhaps even reinstating a form of constitution.« (Mackinlay, 105)
524 Diesen Text hat Marion auf mehreren Tagungen in verschiedenen Versionen vor-
getragen. Die letzte Version wurde 2003 als The reason of the gift in Mater Dei In-
stitute von Dublin City University gehalten und wurde im Sammelband Givenness
and God (hrsg. von Ian Leask und Eoin Cassidy. New York: Fordham University Press,
2005, S. 101–134) veröffentlicht. Inzwischen war sie auch in Frankreich erschienen:
La raison du don. In: Philosophie 78 (2003), S. 1–32. Vor Kurzem ist dieser Text auch
in der deutschen Sprache zugänglich: geteilt in zwei Teile (mit den Titeln Der Grund
und Un-Grund der Gabe und Gabe und Vaterschaft) im Sammelband Gabe und
Gemeinwohl (hrsg. von Walter Schweidler und Émilie Tardivel. Freiberg/München:
Alber, 2015, S. 21–35 und 53–83).
525
Die volle Textstelle, auf die wir Bezug nehmen, lautet: »Eine auf die Gegebenheit
von Natur aus reduzierte Gabe also – ein Ausnahmefall, wo die Schwierigkeit nicht
darin besteht, die natürliche Einstellung um der Reduktion willen hinter sich zu las-
sen (um mit Husserl zu sprechen), sondern wo es darum ginge, vor einem immer
schon (von Natur aus) reduzierten Phänomen sozusagen dasjenige zu rekonstituie-
ren, von dem her das Phänomen sich reduziert findet. Welches Phänomen könnte
diesen auf den Kopf gestellten Kriterien genügen, nämlich nur als immer schon redu-
ziertes Phänomen zu erscheinen? Unser Vorschlag: die Vaterschaft.« (GdG, 60/RdD,
17)
526
DS, 59.
340
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
527 Dass Marion von natürlich reduzierten Phänomenen spricht, die er solchen Phä-
nomenen gegenüberstellt, die zuerst als Objekte erscheinen, heißt nicht, dass er auf
seine These über die Banalität der Sättigung verzichtet. Ganz im Gegenteil: Noch
2012 in den Gesprächen mit Dan Arbib sagt Marion: »C’est une chose, il est vrai, sur
laquelle j’ai dû insister et que j’ai mis moi-même un certain temps à comprendre: il y a
une grande banalité de la saturation.« (RC, 150)
341
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Das zweite Problem betrifft die Rolle des Bewusstseins. Während das
erste Problem die Reflexion über die Bewusstseinsgegebenheiten be-
trifft und die aktive Rolle der Reflexion bei der Ereigniskonstitution
bezweifeln will, da das Ereignis sich selbst geben soll, wird hier nach
dem Bewusstsein und seiner möglichen Aktivität bei der Ereignis-
konstitution gefragt. Laut Marion ist das selbst gebende Phänomen
weder von einem Ich konstituiert, noch duldet es die Bedingungen der
Möglichkeit seiner Erscheinung, deren Träger das transzendentale Ich
ist, noch lässt es sich durch eine von außen auferlegte Normativität
(zum Beispiel, dass alles als ein Objekt, ein Seiendes oder eine Wir-
kung erscheinen soll) einschränken. Während eine in der Reflexion
gewählte Norm für die Erscheinung noch zu vermeiden wäre, indem
man – wieder in der Reflexion – auf sie verzichtet, sieht es anders mit
dem Ich und den Bedingungen der Möglichkeit der Erscheinung für
das Ich aus. Kann man überhaupt daran zweifeln, dass das Ich (es
muss nicht unbedingt ein bewusstes Ich sein – es geht hier bloß um
einen Ort der Erfahrung, um einen Empfänger) das Phänomen in
seine Strukturen hineinzwingt, damit es so sichtbar (also im All-
gemeinen erfahrbar) wird, wie das Ich es überhaupt sehen kann?
Man kann auf eine gewisse Interpretation des Ereignisses verzichten,
sie in Klammern setzen, aber kann man dasselbe mit dem Ich und
seinen Bedingungen der Möglichkeit tun? Man könnte wie vorher
argumentieren, dass es hier nicht um eine ontologische, sondern um
eine phänomenologische Beschreibungsweise geht und dass für die
phänomenologische Einstellung das Ereignis als solches erscheint,
das nicht vom Ich konstituiert wird und das nicht ein Ich braucht,
um, auf welche Weise auch immer, möglich für das Bewusstsein bzw.
Un-Bewusstsein (es ist in diesem Moment unwichtig, was für einen
Empfänger man annimmt) zu werden. Doch dieses Argument ist
nicht möglich, denn es ist genau die Phänomenologie, die ein Ich, ein
Bewusstsein voraussetzt, indem sie Bewusstseinsgegebenheiten be-
schreibt. Das ist keine ontologische Annahme, die man phänomeno-
logisch reduzieren könnte, sondern eine phänomenologische Voraus-
342
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
hen. Bei Heidegger impliziert dies die These »das Seyn braucht das Da-sein« und bei
Levinas der Begriff der »Innerlichkeit«, die die absolute Individualität des Betroffenen
bedeutet. Es ist aber zu beachten, dass weder das Dasein, das zum Ereignis des Seins
gehört, noch die Innerlichkeit, die vor dem Bewusstsein geschieht, mit dem phäno-
menologischen Begriff des Bewusstseins gleichzusetzen ist. Trotzdem geht es immer
noch um jemanden, den das Ereignis betrifft.
529 Thomas Alferi übersetzt dieses Wort als »Zuweisungsempfänger«: GS, 413.
530
Siehe: GS, 414/ED, 344.
343
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
531 Siehe auch: »Für den Zuweisungsempfänger [attributaire – L. P.] bedeutet Emp-
fangen also nichts weniger als Gegebenheit zu vollziehen, wobei er diese in Mani-
festation umwandelt […].« (GS, 436/ED, 364) Ohne diese Operation seitens des Be-
wusstseins könnte nichts erscheinen: »Wie könnte auch etwas Prä-Phänomenales
diesseits von (Bewusstseins-)Immanenz, wie könnte es vor der Empfangsfläche und
vor dem Prisma auftauchen, wodurch der Hingegebene anonym Gegebenes in Sich-
Zeigendes konvertiert? […] Den Phänomenen zuvor ist nichts zu sehen bzw. vorher-
zusehen.« (GS, 500/ED, 365) Siehe auch: DS, 61 f.
532
Marion vergleicht den adonné mit einem Bildschirm in Étant donné (GS, 437/ED,
365) und auch später in De surcroît (DS, 61). Mit diesem Vergleich möchte er nicht
nur illustrieren, wie das rezeptive Bewusstsein das Gegebene sichtbar macht, sondern
auch, wie das Bewusstsein selbst entsteht, wenn das Gegebene auf es aufprallt: »Dans
cette ligne, on se risquera à dire que le donné, invu mais reçu, se projette sur l’adonné
(la conscience, si l’on préfère) comme sur un écran; tout la puissance de ce donné vient
comme s’écraser sur cet écran, provoquant une double visibilité d’un coup. a) Celle du
donné bien sûr […]. […] b) Mais la visibilité surgie du donné provoque de pair la
visibilité de l’adonné. En effet, l’adonné ne se voit pas lui-même avant de recevoir
l’impact du donné.« (DS, 61)
344
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
chen Farben sichtbar werden lässt. 533 Ist aber die Verwandlung in das
Sichtbare keine Verwandlung des Gegebenen für das Bewusstsein? Ist
das rote Licht nicht etwas anderes als das weiße?
Marions These ist auch, dass das Bewusstsein nicht nur das Phä-
nomen nicht konstituiert, sondern eher selbst vom Phänomen kon-
stituiert wird – es empfängt sich selbst durch das, was sich gibt:
»Allerdings geht der Zuweisungsempfänger seiner prismatischen Bedeu-
tung entsprechend nicht dem voraus, was er formt. Er resultiert daraus.
[…] Er empfängt sich in exakt dem Augenblick, wo es das, was sich gibt,
empfängt, um sich endlich, dank seines eigenen Empfangens, zu zeigen.«
(GS, 437/ED, 365) 534
Das Bewusstsein also hätte nichts und wüsste nicht von sich selbst,
wenn das Selbst-Gebende sich nicht gegeben hätte. Dies heißt aller-
dings nicht, dass deswegen der adonné das Gegebene nicht auf eine
ihm eigentümliche Art und Weise sichtbar werden lässt. Wenn der
adonné das Phänomen sieht, sieht er so, wie er das Phänomen sehen
kann, also er konstituiert es gewissermaßen. Wenn wir uns an die
Argumentation Levinas’ erinnern, hat er gezeigt, dass das, was im
Bewusstsein gelandet ist, seine Andersheit verloren hat und zum Be-
wusstsein geworden ist. Das Bewusstsein ist an sich eine Institution,
die verwandelt. Nichts im Bewusstsein hat noch seine Selbst-Gege-
benheit. Es ist also unmöglich zu behaupten, dass der adonné als die
Passivität und trotzdem das Bewusstsein, die das Selbst-Gebende
sichtbar macht, noch etwas mit der Selbst-Gegebenheit zu tun hat
und keine Einschränkungen dem Ereignis auferlegt. 535 Es legt dem
Ereignis eine fundamentale Einschränkung auf, es bedingt es – damit
533 »On pourrait songer aussi au modèle d’un prisme qui arrête la lumière blanche,
535
Aber Marion schreibt genau das Gegenteil: »Denn im Bereich von Gegebenheit
hat das Phänomen des Anderen erstmalig nichts mehr von einer extra-territorialen
Ausnahme gegenüber der Phänomenalität an sich, sondern es gehört ihr mit vollem
Recht, wenn auch als Paradoxie (gesättigtes Phänomen) an. Den Anderen zu emp-
fangen, dies ist zunächst gleichwertig damit, Gegebenes zu empfangen und sich da-
raus zu empfangen. Zwischen dem Anderen und dem Hingegebenen steht kein prin-
zipielles Hindernis mehr.« (GS, 527/ED, 442) Marion ist also der Ansicht, dass durch
seine Einführung eines passiven Bewusstseins er dem Anderen ermöglicht, im Be-
wusstsein zu erscheinen und trotzdem unangetastet vom Bewusstsein zu bleiben.
Genau dies ist äußerst fraglich.
345
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
es das Ereignis für das Bewusstsein gibt (was davor geschieht, steht
außerhalb der Betrachtung, insofern es sich hier um eine Phänome-
nologie handelt), muss es sichtbar werden. Sollte die Selbst-Gegeben-
heit sich vollziehen können, so musste sie auch von den Schranken
des Sichtbaren befreit werden. Marion ist sich dieses Problems be-
wusst, deswegen schreibt er:
»Denn die beiden in unseren Augen unstrittigen Thesen (Gegebenheit
kennt keine Ausnahme, alles Sich-Zeigende gibt sich) 536 führen nicht
zwangsläufig dahin, dass sich ein universelles Manifestieren, ohne Rest
und ohne Einschränkung, einstellt. […] Soll sich alles Sich-Zeigende zu-
nächst geben, dann tritt gelegentlich der Fall ein, bei dem Sich-Gebendes –
trotz allem – nicht zu seinem Sich-Zeigen gelangt. […] Derjenige, der die
Phänomenwerdung von Sich-Gebendem ins Werk setzt, muss nämlich ein
Gegebenes beleuchten, das sich ausgehend von seinem irreduziblen Sich
vollzieht und sich daher zuweilen, ja sogar oft, nicht auf die Empfangskapa-
zität des Hingegebenen einstellen und dessen Grenzen überschreiten kann.
[…] Da Endlichkeit nun aber den Hingegebenen wesenhaft bestimmt, ver-
mag er – per definitionem – Gegebenes, so wie es sich gibt, d. h. grenzen-
und restlos, nicht adäquat zu empfangen. Und deshalb kann auch die End-
lichkeit, insofern sie auch in der vom Hingegebenen ins Werk gesetzten
Phänomenwerdung liegt, zwangsläufig nicht all das, was an diesen heran-
tritt, sichtbar machen.« (GS, 507/ED, 425)
Der adonné ist also per definitionem endlich und wenn er etwas fasst
– wenn er also etwas sichtbar macht, d. h. wenn er sich etwas bewusst
wird –, schränkt er dieses ein. Sollte die Selbst-Gegebenheit stattfin-
den können, so sollte sie eine solche sein, die ein Ich nicht sieht, die es
nicht in sich, in seinem Bewusstsein, haben kann, die es nicht ein-
536 Die zwei hier erwähnten Thesen sind grundlegend für Marions Phänomenologie.
Die eine (»Gegebenheit kennt keine Ausnahme«) besagt, dass alles, was uns erreicht,
sich uns gegeben hat. Es gibt nichts, was nicht gegeben ist: »[…] nichts ist, kommt an,
erscheint oder affiziert uns, es sei denn, es erfüllt sich jeweils und notwendig als
Gegebenheit.« (GS, 105/ED, 79 f) Die andere (»alles Sich-Zeigende gibt sich«) besagt,
dass alles was die Phänomenalität, d. h. das Bewusstsein erreicht, sich zuerst gegeben
hat. Wir haben schon erwähnt, dass noch in Étant donné auch die Gegenrichtung gilt,
nämlich dass das, was sich gibt, sich auch zeigt: »Sich geben kommt somit dem sich
zeigen gleich. Was sich gibt, zeigt sich.« (GS, 131/ED, 101 f) In De surcroît gilt die
Gegenrichtung nicht mehr (DS, 38). Auch im Vortrag 2008, veröffentlicht im Sam-
melband von Marions Vorträgen – The Reason of the Gift –, sagt Marion:
»[…] everything that shows itself must first give itself (even if everything that gives
itself nevertheless does not show itself without remainder) […].« (RoG, 19) Diese
Verschiebung ist sehr wichtig, weil sie das Phänomen von den Schranken der Sicht-
barkeit befreit.
346
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
holen, ergreifen kann und die sich ihm trotzdem gibt. 537 Dieses Un-
sichtbare, diesen »Rest« (reste) der Selbst-Gegebenheit, den der Emp-
fänger in seiner Eingeschränktheit nicht aufnehmen kann, nennt
Marion in De surcroît l’invu (»das nicht Gesehene«):
»Par ›invu‹, nous entendons purement et simplement ce qui, de fait, ne
parvient pas ou pas encore à la visibilité, alors que je pourrais de droit l’ex-
périmenter comme un possible visible.« (DS, 137)
Dieses Invu unterscheidet Marion vom Nicht-Gegenwärtigen und
trotzdem Mit-Gegebenen, das schon die Husserlsche Phänomenolo-
gie kennt. Der Unterschied liegt darin, dass das Unsichtbare bei Hus-
serl das Unsichtbare eines Objekts ist: Es ist die andere Seite eines
Gebäudes, die schon das Bewusstsein erreicht hat bzw. die noch nicht
im Bewusstsein gegenwärtig war:
»Il s’agit donc de faire droit à un invisible qui ne se réduise pas à l’invu, s’en
distingue et le préserve. Or, l’invu résulte de ce que l’intentionnalité de
l’objet ne peut (et sans doute ne doit pas) donner sens à tous le vécus et
toutes le esquisses pourtant à elle donnés.« (DS, 140)
Das Invu für Marion ist das Gegebene als solches, aus dem das Be-
wusstsein etwas herausgreifen und sehen kann. Das Invu bildet nicht
einen Teil der Gegenstandskonstitution, sondern gibt sich vor jeder
Konstitution eines Objekts und bleibt während des Sichtbarwerdens
von etwas ein unerreichbarer und trotzdem gebender Hintergrund
dieses Sichtbarwerdens, das allerdings nicht mit einer Konstitution
537 Dies ist der Streitpunkt in der Diskussion über die Grenzen der Phänomenologie
und ihr Verhältnis zur Theologie – in der Diskussion, die vor allem seit Dominique
Janicauds Buch Le tournant théologique de la phénoménologie française (1991) am
Laufen ist. Die Frage ist: Wenn die Phänomenologie behauptet, dass es etwas Unsicht-
bares, ein unangetastetes Anderes gibt, ist dies dann nicht die Setzung einer onto-
theologischen Transzendenz und damit die Überschreitung der Grenzen der Phäno-
menologie? In der Tat nicht unbedingt: Es geht um eine Erfahrung des Unerfahrbaren
und nicht um seine ontologische Setzung. Es gibt Erfahrungen, die unbegreiflich sind,
und insofern die Phänomenologie solche Erfahrungen beschreibt, überschreitet sie
noch nicht die Grenzen der Phänomenologie. Das ist unser Standpunkt zu dieser
Frage. Zu dieser Diskussion siehe u. a. folgende Literatur, die direkt dem Buch Le
tournant théologique de la phénoménologie française folgte: Jean-François Courtine
(Hrsg.): Phénoménologie et théologie. Paris: Criterion, 1992; Janicaud, Dominique: La
phénoménologie éclatée. Paris: Éclat, 1998; Faulconer, James E. (Hrsg.): Transcenden-
ce in Philosophy and Religion. Bloomington and Indianapolis: Indiana University
Press, 2003; Jonkers, Peter und Welten, Ruud (Hrsg.): God in France. Eight Contem-
porary French Thinkers on God. Leuven/Paris/Dudley(MA): Peeters, 2005.
347
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
538 Man muss aber beachten, dass das invu eine spätere Lösung des hier zu behan-
delnden Problems darstellt. Zu dieser Zeit wird auch behauptet, dass nicht alles, was
sich gibt, sich zeigt. In Étant donné herrscht noch die These, dass beide Richtungen
dieser Formel gelten – alles, was sich zeigt, gibt sich, und alles, was sich gibt, zeigt sich.
Und obwohl Marion in der oben angeführten Passage zugibt, dass die Sichtbarkeit
eine Einschränkung für die Gegebenheit sein könnte und deswegen von ihr befreit
werden muss, entwickelt er trotzdem im nächsten Stritt die These, dass die Tatsache,
dass die Gegebenheit nicht zur Sichtbarkeit gelangt, im Willen (vouloir) des Empfän-
gers liegt, der die Gegebenheit nicht zur Sichtbarkeit bringen will (GS, 514/ED, 431).
Das bedeutet, dass Marion den Grund einer eventuellen Unsichtbarkeit nicht in einem
Befreiungsversuch des Phänomens, sondern in dem Nicht-Wollen des Empfängers
sieht. Und das heißt wiederum, dass, theoretisch gesehen, alles Gegebene sichtbar
werden könnte, wenn nur der adonné das wollte. Alles hängt vom adonné ab und
damit wird die Selbst-Gegebenheit des Phänomens wieder in Frage gestellt. Sollte sie
befreit werden, soll das Unsichtbare behauptet werden.
539 Dieses Nicht-Gesehene muss nicht nur vom Unsichtbaren eines Gegenstandes
unterschieden werden. Es ist auch nicht dasselbe wie das Unsichtbare (l’invisible)
eines Bildes, einer Ikone, mit dem sich Marion in L’idole et la distance (1977) oder
Dieu sans l’être (1982) beschäftigt und das er auch später thematisiert, wenn er zum
Beispiel vom Antlitz (als Ikone) spricht. Das Unsichtbare einer Ikone ist das, was über
das Sichtbare hinausführt, es ist die Tiefe des Sichtbaren, die eine Dimension eröffnet,
die nicht abgebildet werden kann. Das Invu dagegen ist etwas vor dem Sichtbaren, das
Mehr des Sichtbaren, die Quelle, aus dem das Sichtbare schöpft, die Gegebenheit. In
La croisée du visible (1991) unterscheidet Marion: »Das Ungesehene ist nicht ge-
sehen, genau wie das Ungehörte nicht gehört, das Ungewusste nicht gewusst, das
Unberührte nicht berührt und sogar wie das Ungenießbare nicht genießbar ist. Das
Ungesehene rührt sicher vom Unsichtbaren her, lässt sich mit diesem aber nicht ver-
wechseln, da es dieses übertreten kann, gerade indem es sichtbar wird. Während das
Unsichtbare auf immer ein solches bleibt […], zeigt das Ungesehene – das nur pro-
visorisch Unsichtbare – seinen ganzen Anspruch auf Sichtbarkeit, um darin manch-
mal auch zwangsläufig einzubrechen. Das Ungesehene gibt keine Ruhe, um nur im
Sichtbaren aufzutauchen.« (ÖS, 48/CV, 51)
348
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
nicht meines, das kommt nicht von mir; es ist etwas, was auf mich
zukommt, was mir geschenkt wird«. Dieses Gefühl ist die Art und
Weise, wie sich die Selbst-Gegebenheit des Ereignisses, insofern es
nicht von einem Ich konstituiert wird, zeigt. Aber nicht nur das: Der
Betroffene fühlt sich unfähig zu begreifen, was geschehen ist. Das
Ereignis ist wie Sand, der zwischen den Fingern fließt und von dem
man nur einzelne Körner in der Hand behalten kann, die aber nichts
vom Ereignis als Ganzem verraten. Das Ereignis ist immer mehr, als
man behalten, fest in der Hand haben kann. Es ist so, weil es sich nie
den Einschränkungen unserer Erfahrungsfähigkeit, unserem begriff-
lichen Verständnis unterwirft – es sprengt jede Einschränkung, die
wir ihm entweder in der Reflexion oder durch unsere natürliche Be-
schaffenheit auferlegen. Es gibt mehr, als wir mit unseren Einschrän-
kungen fassen können. Deswegen sagt Marion, dass es im Exzess (ex-
cès)einen Zusatz (surcroît) gibt.
Dass das Ereignis ohne Ursache gibt, heißt, dass nichts es bewirkt.
Nichts im weitesten Sinne des Wortes geht ihm voraus, das auch im
geringsten Maße zu ihm führen könnte. Keine mögliche nachträgli-
che Ursache kann es erklären. Rückblickend, wenn man alles Voraus-
gegangene durchsucht, stellt das Ereignis etwas dar, was man – auf-
grund der Erkenntnis des Vorausgegangenen – nicht vorhersehen
konnte. Mit anderen Worten: Rückblickend erscheint es als unmög-
lich. Im Moment vor dem Ereignis, war es nicht möglich:
»Ils ne peuvent pas se prévoir, puisque leurs partielles causes non seulement
restent toujours insuffisantes, mais ne se découvrent qu’une fois le fait ac-
compli de leur effet. D’où il suit que leur possibilité, ne pouvant se prévoir,
reste à strictement parler une impossibilité au regard du système des causes
antérieurement répertoriées.« (DS, 45) 540
540 Siehe auch: GS, 297 f/ED, 243 f. Oder: »Comment définir l’événement? Comme
l’impossible, ce qui n’était pas possible ou pensable avant d’apparaître effectif, donc
comme ce qui se fait effectif sans pour autant avoir été jamais pensable […].« (RC,
270) Oder auch: »Aussi bien nous apparaît-il au fond toujours comme impossible,
voire comme l’impossible, puisqu’il n’appartient pas au domaine du possible, de ce
que nous pouvons.« (CN, 282)
349
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
541Deswegen sagt Badiou, dass man das Ereignis »nur denken kann« – man kann
nämlich um das Ereignishafte nur abstrakt wissen, die Vorhersage genauso wie die
Beobachtung seiner Verwirklichung ist aber unmöglich: »Es ist das Ereignis, welches
auf einer Begriffskonstruktion beruht, und zwar in dem doppelten Sinne, dass man es
nur denken kann, indem man seine abstrakte Form antizipiert, und dass man es nur in
der Rückwirkung einer eingreifenden und selbst vollkommenen reflektierten Praxis
bewahrheiten kann.« (SE, 205/EeE, 199)
350
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
542 Deswegen wäre es eigentlich völlig falsch, das Mögliche mithilfe der Wirklichkeit
oder die Wirklichkeit mithilfe der Möglichkeit zu definieren, da sie radikal unter-
schiedlich voneinander sind. Das Mögliche ist nicht noch nicht aktuell gewordene
Wirklichkeit, sondern das, dem als etwas Gedachtem die Wirklichkeit schon per de-
finitionem entzogen ist.
543 In diesem Sinne ist laut Marion Gott (und eigentlich auch jedes gesättigtes Phä-
nomen) für den Menschen unmöglich. Der Mensch hat den Namen »Gott«, kann ihn
351
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
aber nie anschauen, oder begreifen, weil Gott mehr ist, als unsere eingeschränkte
Erfahrung erfahren oder unser eingeschränktes Denken denken kann. Diese Unmög-
lichkeit bedeutet aber auf keinen Fall die Nicht-Existenz Gottes. Wenn es Gott gibt,
muss er unmöglich für den Menschen sein. Vielleicht muss auch seine Existenz un-
möglich für den Menschen erscheinen. Gott ist »das dem Menschen Unmögliche«.
Siehe dazu Marions Aufsatz: L’impossible pour l’homme – Dieu (In: Conférence 18
(2004), S. 329–369). Die deutsche Übersetzung: Das dem Menschen Unmögliche –
Gott ist im Sammelband Unmöglichkeiten (hrsg. von Ingolf U. Dalferth, Philipp
Stoellger und Andreas Hunziker. Tübingen: Mohr Siebeck, 2009, S. 233–263) zu fin-
den. Siehe auch das zweite Kapitel von Certitudes négatives: Le propre de Dieu.
352
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
544 Siehe auch: GS, 299/ED, 243 f, CN, 288 f, RC, 271. Darauf, dass die Möglichkeit des
Ereignisses anders als die klassische Interpretation der Möglichkeit zu denken ist und
dass das Ereignis nicht ein Mögliches wirklich macht, sondern eine Möglichkeit erst
schafft, weist auch Derrida hin. In demselben Jahr, in dem Étant donné veröffentlicht
wurde, sagt er im Seminar Dire l’événement, est-ce possible? Folgendes: »Um zum
353
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Schluss zu kommen und Ihnen das Wort zu überlassen, würde ich sagen, dass diese
Reflexion über das Möglich-Unmögliche […] uns dahin führen müsste, den ganzen
Wert der Möglichkeit, der die philosophische Tradition des Abendlands kennzeichnet,
neu zu denken. […] Man muss hier vom un-möglichen Ereignis sprechen. Von einem
Un-Möglichen, das nicht nur unmöglich, nicht nur das Gegenteil des Möglichen ist,
sondern gleichermaßen die Bedingung oder die Chance des Möglichen. Von einem
Un-Möglichen, das die Erfahrung des Möglichen selbst ist.« (UES, 40 f/IDE, 100 f)
354
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
wir weiter die ersten vier Bestimmungen des Gegebenen als die Be-
stimmungen des Ereignisses, dessen Hauptmerkmal – die Selbst-Ge-
gebenheit – wir bereits behandelt haben, analysieren.
355
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
545 In Bezug auf diese Situation, wo der Betroffene sich gezwungen fühlt, dem Phä-
356
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
vécus), der für den mehr oder weniger nicht beteiligten Blick konsti-
tuiert ist. 547 Das, was »sich ereignet« (advient), ist das, was auf mich
»zukommt«, sich mit mir ereignet, mich einbezieht, um auf diese
Weise sich geben zu können. Ohne dass ich mich mit ihm beschäfti-
gen würde, könnte es nicht geschehen. Und es sind die »Gebrauchs-
gegenstände« (phénomènes ustensiles), die sich so geben. 548 Damit,
d. h. mit der Behauptung, dass sowohl das Objekt als auch das Zeug
auf-fallen, wird wieder die These bestätigt, dass alle Phänomene
selbst-gebend, ereignishaft und gesättigt sind – die These von der
»Banalität der Sättigung« also. Wir müssen uns aber daran erinnern,
dass Marion immer besonders solche Phänomene hervorhebt, die –
im Vergleich zu den Objekten für die theoretische oder praktische
Behandlung – besonders ihre Selbst-Gegebenheit (oder ihren Cha-
rakter der Anamorphose, wie wir jetzt sagen können) bestätigen. Es
gibt also drittens solche Phänomene, die »sich aufzwingen«. Ein Phä-
nomen zwingt sich dann auf (s’impose), wenn es nicht direkt für uns
– für unsere Erkenntnis oder unseren Gebrauch – da ist, sondern ein-
fach für sich selbst da ist, also einfach da ist, sich selbst öffnet und uns
in seine, uns immer unbekannte und fremde Welt einlädt (es »s’ouvre
comme un monde«). Es wird nicht von unserem Interesse, unserem
Voraus-Griff konstituiert, sondern zwingt uns sein Interesse, sich
uns zu zeigen, wie es ist, auf. Weil wir uns damit in einer Situation
befinden, wo wir uns dem Interesse und der Gegebenheit des Phäno-
mens anpassen müssen, wo wir uns an es gewöhnen müssen, nennt
Marion solche Phänomene »Gewohnheitsphänomene« (phénomènes
d’habitude). 549
Das Ereignis als die Selbst-Gegebenheit weist die Struktur der
Anamorphose auf. Das heißt: In der Reihe der »Bilder«, die das Be-
wusstsein automatisch für sich produziert, fällt etwas auf, was als eine
andere Dimension durch eine Spalte in dieser Bilderreihe einbricht
(sich selbst gibt) und zu sich zieht, sich suchen lässt. Eine solche
Struktur kann auch ein ganz gewöhnliches, d. h. banales Phänomen
aufweisen. Es kann passieren, dass man zum Beispiel beim Einkaufen,
wo das Bewusstsein sich grundsätzlich in der praktischen Einstellung
verweist dabei keinesfalls zuerst darauf, dass deren Agieren von längerer Dauer als
das anderer Phänomene wäre […], sondern dass wir uns an sie wesenhaft gewöhnen
müssen.« (GS, 231/ED, 183 f)
357
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
befindet und nur Objekte für seinen Gebrauch sieht, plötzlich von
einem intensiven Rot (zum Beispiel einer Tomate) überrascht wird,
sodass man die Tomate als etwas Essbares vergisst, sodass man das
Einkaufen vergisst und mit dem Blick das Rote sucht und bei ihm
verweilt und sich in seiner Welt verliert und sich dieser Welt anpasst.
Beim Ereignis als Anamorphose geht es also immer um »zwei Phäno-
menalitätstypen in einem einzigen Phänomen« (GS, 221Anm.1/ED,
174n.1), d. h. um den Einbruch einer Phänomenalität, die die zuerst
gegebene Phänomenalität unterbricht, die auffällt und sich für sich
interessieren, sich suchen lässt. Wäre dieses Ereignis eine andere Per-
son, so könnte man sagen, dass das Ereignis als Anamorphose nie das
Gefühl gibt, dass man den Anderen anschaut und unter Kontrolle hat,
sondern dass man angeschaut wird, dass man den Blick des Anderen
spürt, diesen Blick sucht, findet und ihm antwortet. In De surcroît
veranschaulicht Marion diese Struktur mithilfe der Freundschaft
(von Michel de Montaigne und Étienne La Boétie). Die Situation der
Anamorphose ist also folgende:
»[J]e prends pour moi son point de vue sur moi, sans le réduire à mon point
de vue sur lui[.]« (DS, 46)
Das Ereignis als Anamorphose schaut mich an, ich spüre sein Kom-
men zu mir von einem anderen Punkt als dem, den mein frontaler
(angreifender) Blick sieht. Ich kehre mich um (ich kehre auch meine
Einstellung um, ich werde passiv), um dieses Kommen zu empfangen,
was ein Kommen von anderswoher ist. Und das ist der Moment des
Ereignisses.
Das Ereignis ist eine Anamorphose, weil es auf-fällt, es ist ein Ein-
treffen, weil es zu-fällig ist. Das Ereignis als arrivage ist der Zu-fall.
Aber die Zu-fälligkeit versteht Marion nicht im Gegensatz zur
Notwendigkeit, sondern als eine »ursprünglichere Kontingenz« (con-
tingence plus originelle) (GS, 234/ED, 186), die als »phänomeno-
logisch höherwertig« (phénoménologiquement supérieure) (GS,
244/ED, 196) gilt und die in »compatibilité« (GS, 238/ED, 190) mit
der Notwendigkeit steht bzw. sowohl die Zufälligkeit als auch die
Notwendigkeit in sich »übernimmt« (reprendre) (GS, 244/ED, 196).
Die »ursprünglichere Kontingenz« des Eintreffens bedeutet ein
358
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
Zweifaches. Erstens geht es darum, dass das sich selbst gebende Er-
eignis unvorhersehbar, unerwartet, überraschend – also zufällig – an-
kommt:
»Eintreffen [arriver – L. P.] muss hier im ganz buchstäblichen Sinne ver-
standen werden. Es geht um kein durchgehendes, gleichförmiges Ankom-
men, bei dem miteinander identische, voraussehbare Einzelelemente gelie-
fert werden, sondern um unstetige, unvorhergesehene und völlig
ungleichartige Ereignisse des Eintreffens. […] Statt vom Ankommen [arri-
vées – L. P.] sollte man also besser von ihrem Eintreffen [arrivages – L. P.]
sprechen, und zwar von einem Eintreffen in seinem stoßweis-unstetigen,
überraschend-unvermuteten, zerstückelten, windstoßartigen Rhythmus,
dem immer etwas Zufälliges eignet.« (GS, 234/ED, 186)
Unter Berufung auf Aristoteles und seinem Konzept von συμβεβη-
κός unterscheidet Marion diesbezüglich zwei Arten dieser Zufällig-
keit. Es kann passieren, dass etwas ankommt, was überhaupt nicht
antizipiert wurde (es gab keine Ursache), zum Beispiel, wenn »man
beim Graben im eigenen Garten einen Schatz auffindet« (GS, 267/
ED, 216). 550 Es kann aber auch sein, dass das zukünftige Ergebnis
durchaus antizipiert wurde und sogar erreicht wird, aber anders als
vorgestellt: wie zum Beispiel, wenn »ich in Ägina (das ich erreichen
wollte) eintreffe, aber als Gefangener oder als ein von der Strömung
Mitgerissener« (GS, 268/ED, 216). 551 In diesem Fall ist es ein Zufall,
dass Ägina erreicht wurde, obwohl man dorthin wollte, weil es anders
erreicht wurde. Der erwarteten Ursache-Wirkung-Kette kommt also
etwas Unerwartetes hinzu, das sie damit eigentlich unterbricht und
zu einem Zufall führt. Marion spricht in diesem Fall von einem »Zu-
sammenfallen« (co-incidence) (GS, 268/ED, 217), wenn die ursprüng-
359
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
552 »Das Hinzu-/Vorfallen [incidence – L. P.] ließe sich – einzig in diesem Fall – als
Zusammenfallen verstehen: Mit oder anstelle des Was, das eintreffen soll (sollte),
trifft auch (etiam) ein, was gegen alle Erwartungen zu-fällt.« (GS, 268/ED, 217)
553 Die deutsche Übersetzung könnte hier ein wenig irreführend sein, als ob es hier
darum ginge, dass die Notwendigkeit eigentlich kontingent ist. Aber es geht darum,
dass die Kontingenz notwendig ist, d. h. dass es notwendig ist, dass alle Phänomene
sich ohne Ursache geben, also zufällig sind.
360
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
554 Marion zitiert hier kurz Husserl. Die vollständige Stelle (zitiert in GS, 241/ED,
193) lautet: »Während ich die Welt wahrnehme und überhaupt erfahre, und in noch so
großer Vollkommenheit wahrnehme, während sie also für mich in ungebrochener
Gewissheit als selbstgegeben bewusst ist, als eine, an deren Existenz ich schlechthin
nicht zweifeln kann, hat sie doch eine beständige Erkenntniskontingenz, und zwar des
Sinnes, dass diese leibhaftige Selbstgegebenheit ihr Nichtsein prinzipiell nie aus-
schließt.« (Edmund Husserl: Erste Philosophie II, Hua VIII, § 33. Den Haag: Martinus
Nijhoff, 1959, S, 50.)
555 Siehe: GS, 244 f/ED, 196.
556 Das Ereignis ist immer eine Erfahrung der Unerwartetheit, genauso wie es immer
eine Erfahrung der Unmöglichkeit ist. Aber es ist auch möglich, wenn es selbst seine
Möglichkeit schafft. So könnte man fragen, ob es notwendig nicht nur im Sinne seiner
Unanfechtbarkeit ist, sondern auch so, dass es die Notwendigkeit im Sinne eines Sol-
lens mit sich bringt. Das Ereignis könnte das Gefühl vermitteln, dass es unbedingt
361
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Das Ereignis ist Auf-Fall, Zufall und das, was der Fall ist, nämlich ein
»Faktum« (fait):
»Stets verlangt das Erscheinen der Phänomene i. A., dass letztlich auf das
Faktum, mit dem etwas aufbricht, zurückgegangen wird, dass es faktisch zu
einem Aufbrechen kommt.« 557 (GS, 248/ED, 198 f)
Mit der Charakterisierung des Ereignisses als Faktum will Marion vor
allem zwei Erfahrungen des Ereignishaften hervorheben. Erstens,
dass wir im Fall des Ereignisses mit der Gegebenheit eines Faktums
konfrontiert werden, und zweitens, dass dieses Faktum unwiderruf-
lich ist.
Das Ereignis kommt ohne Vorwarnung an, überraschend. Es ist
plötzlich da – evident, d. h. notwendig – und stellt uns vor die Tat-
sache seiner Gegebenheit. Wir haben uns nicht für seine Gegebenheit
entschieden. Wenn es schon angekommen ist, können wir es weder
akzeptieren noch ablehnen – wir stehen schlicht vor einer Tatsache,
die vollendet ist:
»Un tel événement se donne en effet d’un coup: il laisse sans voix pour le
dire, il laisse aussi sans autre voie pour s’y soustraire, il laisse enfin sans
choix pour le refuser ou même l’accepter volontairement. Son fait accompli
ne se discute pas, ne s’évite pas, ne décide pas non plus. Il ne s’agit même pas
là d’une violence, car la violence implique un arbitraire, donc un arbitre et
eintreffen sollte, obwohl es ganz bestimmt nicht unbedingt eintreffen sollte. So sagen
doch die Liebenden, dass sie für einander bestimmt sind, d. h. dass sie sich unbedingt
begegnen sollten, obwohl sie diese Begegnung auch als völlig unvorhersehbar be-
schreiben. Diese »Widersprüchlichkeit« in der Rede vom Ereignis könnte damit er-
klärt werden, dass das Ereignis zufällig eine Notwendigkeit schafft, die erst im Nach-
hinein für notwendig erklärt werden kann. Wenn also das Ereignis eine unmögliche
Möglichkeit ist, könnte es auch eine zufällige Notwendigkeit sein. Allerdings nicht im
Sinne, dass das Ereignis unbedingt zufällig eintreffen sollte (dies würde die Abschaf-
fung aller Zufälle bedeuten), sondern nur so, dass, wenn es schon zufällig eingetroffen
ist, es das Gefühl gibt, dass alles so sein sollte, wie es jetzt ist. Aber das, wie es jetzt ist,
bleibt auch immer noch Zufall. So läuft die Logik des Ereignisses ab.
557 Im Original: »Apparaître demande toujours, pour le phénomène en général, d’en
venir finalement au fait de surgir et de surgir de fait.« Also: »Stets verlangt das Er-
scheinen der Phänomene i. A., dass es letztlich zum Faktum des Aufbrechens und des
Aufbrechens des Faktums kommt.« Kurz: Jedes Ereignis der Gegebenheit kommt
letztlich dazu, dass das Phänomen da ist – als ein Faktum.
362
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
558 Erinnern wir daran, dass auch Levinas die Gewalt, den Zwang in Bezug auf das
Ereignis leugnet. Die Gewalt kann nur dort stattfinden, wo man freie Wahl hat und
wo man gezwungen ist, das Entgegengesetzte des Gewünschten zu akzeptieren. Wo
man dagegen einfach mit einem vollendeten Faktum konfrontiert wird, kann man
nicht von der Gewalttätigkeit dieses Faktums sprechen. Man muss einfach mit ihm
leben lernen.
559 »Wir halten daran fest, dass Faktizität nicht auf die Tatsächlichkeit roher Fakten
(facticité élargie) (GS, 258/ED, 208). Er schreibt: »Umgekehrt sind wir darum be-
müht, Faktizität universal zu verstehen und auf die allgemeine Phänomenalität zu
beziehen.« (GS, 250Anm.1/ED, 200n.1) Diese These ist natürlich im Zusammenhang
363
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
durch sie erst die Faktizität des Daseins möglich wird. 562 Wie ist diese
Faktizität des Gegebenen zu verstehen, vorausgesetzt, dass sie nicht
die eines factum brutum oder des Daseins ist? Wenn man vor eine
Tatsache gestellt wird, ist dies eine Situation, wo – erstens – erfahrbar
wird, dass diese Tatsache vorher nicht da war, dass sie nicht bekannt
war. Man erfährt genau diesen Moment des Auftauchens einer Tat-
sache. Man erfährt nicht, dass etwas (schon) vorhanden oder zu-
handen ist, sondern das, wie etwas in die Welt einbricht, um von ihr
ein Bestandteil zu werden. Zweitens ist es eine Situation, die man
nicht schafft, sondern in der man sich plötzlich befindet – man stellt
sich nicht selbst vor die Tatsache, sondern man wird vor die Tatsache
gestellt. Das heißt: Die Faktizität des Phänomens ist die Faktizität der
Gegebenheit in dem Moment, in dem sie geschieht. Sie ist die Fak-
tizität des Ereignisses des Auftauchens und nicht die der Vorhanden-
heit. Und sie ist selbstverständlich die Faktizität der Selbst-Gegeben-
heit des Phänomens, wo das Phänomen noch einmal seine Initiative
bestätigt – ohne das Phänomen wäre dem Phänomen nicht zu be-
gegnen:
»Wir können damit den Gedanken herausstellen, dass Faktizität, wenn sie
entgegen geht, dazu führt, dass Phänomene sich begegnen […].« (GS, 258/
ED, 208)
Das Ereignis als fait accompli, als das, was der Fall ist, ist durch seine
Faktizität als Gegebenheit das, was uns vor eine vollendete und un-
widerrufliche Tatsache stellt.
mit der These von der »Banalität der Sättigung« zu betrachten. Alle Phänomene sind
gesättigt, alle sind ereignishaft, alle sind mit der Faktizität ausgezeichnet etc.
562
GS, 257 ff/ED, 207 ff. Es geht um die schon erwähnte These Marions, dass erst das
Phänomen das Bewusstsein bzw. die Erschlossenheit des Daseins möglich macht.
Würde das Phänomen sich nicht geben, könnte die »Funktion« des Bewusstseins bzw.
des Daseins nie »aktiviert« werden. Der erste Stoß für die Erschlossenheit kommt von
außen. Siehe zum Beispiel folgende Stelle: »Phänomene können ihr Erscheinen nur
vollziehen, wenn sie sich auf einen Empfangsschirm stützen, also diesen belasten
können. Als vollendete Fakten treffen sie auf mich ein, sind sie Fakten für mich, nicht
von mir, sondern auf meine Kosten. Sie gehen auf meine Rechnung. Durch sie werde
ich zum Faktum geschaffen.« (GS, 257/ED, 207; der letzte Satz lautet im Original:
»[P]ar lui, je suis fait.«)
364
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
563
In dem kurzen Abschnitt, wo der Inzident behandelt wird (ED § 16), vertritt Ma-
rion – so scheint es – keine einheitliche Interpretation dieses Begriffspaares. Er greift
verschiedene Motive auf, um mithilfe von ihnen bestimmte Aspekte der Logik des
Ereignisses deutlicher zu machen.
564 GS, 264 ff/ED, 213 ff.
565 Natürlich schließt die Auslegung von οὐσία als Wesen die zeitliche Dimension
nicht aus – das Wesen ist das Beständige. Und συμβεβηκός ist das, was zufällig hin-
zukommen und weggehen kann. Die zeitliche und dingliche Dimension sind in diesen
beiden Begriffen unzertrennlich miteinander verbunden – das Beständige und die
Beständigkeit, das Zufällige und die Zufälligkeit.
365
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
spricht und dennoch Vorfälle als solche mit definitiver Bestimmtheit ans
Licht hebt.« (GS, 269/ED, 217)
Wenn die ersten zwei Figuren von συμβεβηκός die übliche Zufällig-
keit – den unvorhersehbaren Zufall und Zusammen-Fall, die wir vor-
her behandelt haben, – bestätigen, so geht es hier um eine Form von
συμβεβηκός, die der gemeinen Akzidentialität sogar »widerspricht«
(contredit). Was ist das Ereignis als ein Akzidens/Inzident? Fassen
wir einige wichtige Punkte zusammen, auf die Marion in diesem Zu-
sammenhang hinweist. Erstens: Das Wesentliche des Akzidens liegt
darin, nicht in der Substanz enthalten zu sein:
»Nicht der οὐσία, d. h. nicht der Wesenheit, nicht der Substanz, kurzum:
nicht der seinsmäßigen Seiendheit angehörig zu sein, darüber definieren
sich Vorfälle.« (GS, 270/ED, 218) 566
Zweitens: Obwohl das Akzidens nicht im Wesen ist, d. h. nicht ist,
weil es keine Dauer aufweist, ist es gegeben – es kommt zufällig von
sich aus (von außen) dem Wesen zu (adveniens extra):
»Das adveniens extra impliziert von sich aus die Forderung nach der Mög-
lichkeit von seinslosem Erscheinen.« (GS, 272/ED, 220)
Drittens: Weil es kein Wesen ist, ist das Akzidens nicht erkennbar:
»Einerseits wird für den Hinzu-/Vorfall jeder theoretische Zugang abge-
wiesen […].« (GS, 266/ED, 215)
Viertens: Obwohl das Akzidens für den theoretischen Blick uneinhol-
bar ist, ist es genau das, wodurch das Wesen überhaupt (unmittelbar)
erkennbar wird, da nur es eine Phänomenalität besitzt:
»Insofern sie sich zurückhält und sich so in sich verschließt, wird Substanz
(substantia, οὐσία) keinesfalls zum Phänomen, für sie ist da keine Phäno-
menwerdung möglich.« (GS, 274/ED, 222)
»Allein der Vorfall zeigt sich, weil er allein sich gibt – was sich zeigt, das gibt
sich.« (GS, 276/ED, 223)
»Denn tatsächlich lässt sich die Substanz nur indirekt und vermittels von
Attributen (Vorfällen), die alleine als hier gegenwärtige Seiende wahr-
genommen werden, erkennen.« (GS, 275/ED, 222)
566 Siehe auch später in De surcroît: »[C]ette sorte d’accident ne renvoie plus à aucune
366
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
567
Das Ereignis hat kein Wesen, nach dem es erkennbar sein könnte. Das, was es gibt,
ist nur es selbst und nichts für die Erkenntnis: »[…] le phénomène qui se donne de la
sorte ne donne rien d’autre que lui-même; son sens ultime reste inaccessible, parce
qu’il se réduit à son fait accompli, à son incidence.« (DS, 46)
568 In De surcroît macht Marion dies deutlich: »Soit le donné obtenu par la réduction;
367
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Das Ereignis als die Selbst-Gegebenheit ohne jede Ursache und ohne
jeden Grund ist also Auf-Fall (es zwingt seine Gegebenheit auf), Zu-
fall (es ist unvorhersehbar), Fall (die vollendete Tatsache) und Zu-Fall
(das Mehr zu dem, was der Fall ist).
569 Der erste Text Marions, der das saturierte Phänomen behandelt, erscheint 1992 im
368
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
570 Wir wiederholen noch einmal, dass es hier um eine Synonymie, um eine zweifa-
che oder sogar dreifache Beschreibungsweise derselben Sache geht. Das sich selbst
gebende Phänomen ist ein Ereignis, weil es sich selbst gibt. Und weil es sich selbst gibt
und nicht ein Objekt des Bewusstseins ist, ist es gesättigt. Gegebenheit, Ereignis-
haftigkeit und Sättigung bedeuten ein und dasselbe. Und das heißt: Beschreiben wir
das Gegebene, insofern es sich selbst gibt, beschreiben wir das Ereignis; beschreiben
wir das gesättigte Phänomen, beschreiben wir wieder das Ereignis.
369
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Möglichkeiten vor, die Elemente Begriff und Anschauung ins Verhältnis zu setzen.
370
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
Entweder löst sich Wahrheit in der Erfahrung vollkommener Evidenz ein, wenn die
Anschauung völlig den Begriff auffüllt und ihn so restlos gültig macht: Dabei handelt
es sich um die musterhafte und gerade deshalb um die seltenste aller Situationen.
Oder aber die Anschauung erfüllt, in einer teilweisen Ratifizierung, den Begriff nur
unvollständig, aber sie würde immerhin so weit reichen, ihn zu sichern und zu veri-
fizieren: Dabei handelt es sich um die geläufigste Situation (Wahrheit dem allgemei-
nen Sinnen nach als Verifizierung, Gültigmachung, Bestätigung), die gleichwohl un-
befriedigend erscheinen mag. Das Neue, das wir [in diese Problematik] eingeführt
haben, baut erst auf den ersten beiden Relationen auf: Es liegt darin, auf eine dritte
Möglichkeit, wie das Verhältnis zwischen Anschauung und Begriff zu bestimmen sei,
aufmerksam zu machen. Gegenläufig zu der Allgemeinsituation, dass der Begriff die
Anschauung übersteigt oder zu der Ausnahmesituation der Egalität beider, sollte die
Anschauung nun über den Begriff hinausgreifen […].« (SB, 97 f/BS, 160 f)
574 Dieses Zitat stammt aus De surcroît, dessen Untertitel lautet Études sur les phé-
nomènes saturés. Doch dieser Gedanke wird im schon erwähnten Aufsatz Le phéno-
mène saturé (1992) entwickelt: »Au phénomène que caractérisent le plus souvent un
défaut d’intuition, donc une déception de la visée d’intuition et, exceptionnellement,
l’égalité entre intuition et intention, pourquoi ne répondrait pas la possibilité d’un
phénomène où l’intuition donnerait plus, voir démesurément plus, que l’intention
n’aurait jamais visé, ni prévu?« (PhS, 102 f) Eine sehr ähnliche Stelle finden wir später
in Étant donné (GS, 336/ED, 276 f). Und in Certitudes négatives lautet es: »Il s’agit
dès lors d’un phénomène saturé, où l’intuition déborde la capacité du concept, tou-
jours manquant et tardif.« (CN, 287) Diese Idee vom Mehr des Ereignisses als man
begreifen kann, übernimmt Romano, wenn er 1998 in L’événement et le monde von
»infinité d’un sens« (oder auch »le surcroît absolu du sens«: EM, 209) des Ereignisses
gegenüber der »finitude de la compréhension« (EM, 206) spricht. Weil das Ereignis
unendlich viel mehr gibt als das Verstehen verstehen kann, ist es »das Unbegreifliche«
(l’incompréhensible) (EM, 208).
575
Siehe auch: GS, 365/ED, 302; DS, 141 f.
371
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
zuzeigen. 576 Die Natur des gesättigten Phänomens fordert aber, dass
diese Verstandeskategorien »umgekehrt« werden. So zeigt sich das
gesättigte Phänomen gemäß den vier Gruppen der Verstandeskatego-
rien als »unanvisierbar« (invisable) der Quantität nach, »unerträg-
lich« (insupportable) der Qualität nach, »abgelöst« bzw. »absolut«
(absolu) der Relation nach und »unbeobachtbar« (irregardable) der
Modalität nach. 577 Die Phänomenologie der Gegebenheit lässt neben
diesen vier Typen der Sättigung noch eine weitere Möglichkeit der
Sättigung zu, nämlich wenn ein Phänomen alle vier dieser Sätti-
gungsarten in sich vereinen würde. Eine solche »paradoxe Paradoxie«
(paradoxe des paradoxes) (GS, 394/ED, 327) könnte als ein »fünfter
Typus« (GS, 393/ED, 327) der Sättigung angesehen werden, aller-
dings nicht im Sinne, dass damit eine neue Weise der Sättigung auf-
gedeckt würde, sondern so, dass man hier von einer »Sättigung der
Sättigung« (saturation de saturation) (GS, 394/ED, 327) sprechen
könnte.
Diese Weisen der Sättigung, die mithilfe von Kants Terminolo-
gie charakterisiert und herausgearbeitet werden, können auch durch
das Prisma der Phänomenologie Husserls angesehen werden, und
zwar so, dass die ersten drei Weisen der Sättigung das beschreibt,
wie das saturierte Phänomen den Horizont (d. h. den Begriff) über-
schreitet, und die vierte Weise zeigt besonders das, wie es sich der
Konstitution durch das Ich entzieht, wie es also das Ich selbst über-
schreitet. 578
576 Das Ereignis durch die neu interpretierten Verstandeskategorien Kants zu be-
mungen von Verstandeskategorien, bei denen Marion beobachtet, dass sich die ersten
drei auf die Gegenstände und ihre Relationen beziehen, während die Kategorie der
Modalität die Relation vom Gegenstand zum Ich beschreibt: GS, 359/ED, 296 f.
Man muss einsehen, dass, obwohl sich Marion bei der Definition, Typisierung und
Beschreibung gesättigter Phänomene auf Kant (und Husserl) bezieht, dieser Bezug als
ziemlich frei angesehen werden muss. Das heißt: Er zwar zitiert und interpretiert
zwar Kant (und Husserl), aber diese Interpretation ist sehr frei (wenn nicht »quite
problematic« (Mackinlay, 59)) und dient vor allem dazu, die Idee des gesättigten Phä-
nomens zu verdeutlichen. Natürlich beansprucht Marion auch, mit seiner Philosophie
die vorherige Tradition zu revidieren und etwas Neues beizutragen. In dieser Hinsicht
muss natürlich gefragt werden, wie adäquat er die Tradition auslegt und inwiefern er
sich von ihr absetzen kann. Dies ist eine wichtige Frage, die wir hier nicht stellen. Uns
interessieren in erster Linie die Strukturen des Ereignisses und nicht die Frage, wie
372
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
6.2. Unanvisierbar
Dass das Ereignis nicht anvisierbar ist, heißt, dass es nicht in den Blick
genommen werden kann, dass man es nie vollständig überschauen
kann. Mit keinem Begriff kann man alles – zuerst im quantitativen
Sinne – erfassen, was sich ereignet, da wir es hier mit einer »immen-
sité des vécus« (DS, 141) zu tun haben. Zum Vergleich: Ein Objekt
kann man in einem Blick fassen. Dies geschieht so, dass man durch
den Begriff, der die wesentlichen Aspekte einer Sache definiert, eine
bestimmte Menge lebendiger Erfahrung herausfiltert und nur sie
auch sieht. Ist man mit einem objektivierenden Blick auf ein Haus
gerichtet, so konstituiert man es als ein Objekt und sieht nur seine
entsprechende geometrische Form, die für die Bewohnbarkeit geeig-
net ist, Fenster, Türen und vielleicht noch einiges. Auch die einzelnen
Aspekte, zum Beispiel die Tür, werden durch den Begriff anvisiert,
sodass sie überschaubar werden. In Bezug auf die Tür sieht man nur
ihre Form, die Türklinke, aber ihre Farbe, das Relief ihrer Oberfläche,
Marion die Philosophie von Kant und Husserl interpretiert, ob er die von ihrer Phi-
losophie übernommenen Konzepte richtig auslegt und inwiefern er Recht dazu hat,
seine Phänomenologie als Umkehrung und Erweiterung der Philosophie von Kant
und Husserl zu sehen. Dies wäre die Aufgabe einer anderen Arbeit.
579 Die Beschreibung des gesättigten Phänomens muss sich mit den Bestimmungen
des Gegebenen überdecken, weil jedes gesättigte Phänomen ein Gegebenes ist. Das
gesättigte Phänomen ist aber ein gesättigtes Gegebenes und deswegen bringt es neue
Aspekte mit sich (GS, 404/ED, 337). Man darf aber nicht vergessen, dass auch die
Bestimmungen des Gegebenen die Bestimmungen eines gesättigten Phänomens, d. h.
Ereignisses sind, weil jedes Gegebene gesättigt ist, wie das die These von der Banalität
der Sättigung besagt. Deswegen stellen wir sowohl die Aspekte des Gegebenen über-
haupt als auch die Aspekte des gesättigten Phänomens in einer Reihe auf und definie-
ren sie als Strukturen des Ereignisses.
373
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
die Abnutzung etc. werden außer Acht gelassen. Aber nicht immer:
Unter bestimmen Umständen kann auch die Farbe der Tür wichtig
werden, doch wieder als ein Objekt, das durch den Begriff angeschaut
wird, der seinen Farbton quantitativ bestimmt. Oder aber auch kann
die Farbe zum Objekt des Gefallens bzw. Nichtgefallens werden.
Dann wird nur eines bei der Farbe anvisiert, nämlich ob sie einem
gefällt oder nicht. Ein Ereignis wäre aber dann der Fall, wenn es dem
Blick verbieten würde, bestimmte definierte Aspekte herauszufiltern,
wenn es stattdessen vor diesem Blick als eine Explosion unendlicher
Einzelteile erscheinen würde, die er nicht überblicken kann. Stellen
wir uns vor, dass sich ein Haus uns mit dem Gewicht der Gesamtheit
aller seiner Einzelheiten – jeder Zier, jeder Spur eines Pinselstriches,
jeder Geschichte jeder seiner Ecken (der Einrichtung des Esszimmers,
des Farbwechsels der Außenwände, des Materials der Fenster, der
Schnitzereien von Kindern auf den Möbeln) etc. – aufzwingen würde.
Es wäre eine Überwältigung für den Blick, der dies alles auf seine
übliche Art bewältigen wollte. Sein Begriff von diesem Haus würde
mit all diesen Anschauungen überflutet, d. h. gesättigt, sodass er
dieses Phänomen nicht mehr überschauen könnte.
Man könnte natürlich einwenden, dass eine solche sättigende
Erfahrung eines Hauses zwar durchaus möglich ist (wenn es zum Bei-
spiel um das Haus der Kindheit oder ein geschichtlich bedeutsames
Gebäude geht), aber sie muss nicht unbedingt als etwas Ereignis-
haftes im Sinne einer besonderen Erfahrung aufgefasst werden.
Darauf könnte man antworten, dass in der Tat es sich hier um eher
ein »künstlich« geschaffenes gesättigtes Phänomen handelt, doch das
schließt nicht aus, dass es auch solche Ereignisse geben könnte, die
diese Struktur, nämlich die Sättigung der Quantität nach, »naturge-
mäß« aufweisen würden und ereignishaft wären. Marion behauptet,
dass ein geschichtliches Ereignis, zum Beispiel eine Schlacht 580, poli-
tische Revolution, Krieg, Naturkatastrophe, Sports- oder Kulturver-
anstaltung 581 ein quantitativ gesättigtes Phänomen darstellt. Im Falle
einer historischen Schlacht zum Beispiel befindet man sich mitten-
drin im Geschehnis, über das man keine Übersicht hat, über das über-
haupt niemand eine Übersicht hat; man kennt nur einige Einzel-
aspekte, die aus eigener Perspektive erfahrbar sind. Es geht um die
374
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
582 Siehe zum Beispiel folgende Stelle: »En effet, devant l’événement, je ne puis
assigner une seul signification à l’immensité des vécus qui m’adviennent – je ne puis
qu’en poursuivre, par des significations sans cesse multipliées et modifiées, une her-
méneutique sans fin.« (DS, 141 f) Siehe auch: DS, 45. Vom Konzept der endlosen
Hermeneutik in der Philosophie Marions wird noch später die Rede sein.
375
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
583 Das Beispiel mit der unüberblickbaren Schlacht gibt es übrigens schon bei Mer-
376
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
6.3. Unerträglich
377
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Aber es geht nicht darum, dass man tatsächlich nichts sieht, als ob
man in einem dunklen Raum herumtasten würde. Man sieht nichts
in dem Sinne, dass man kein Objekt sieht. Trotzdem gibt es hier ein
Sichtbares: »ein Sichtbares, das von unserem Blick nicht ausgehalten
werden kann« (GS, 347/ED, 285). Die Ereignisse sind also »zugleich
unanschaulich und anschauungsgesättigt« (à la fois vides et saturés
d’intuition) (GS, 408/ED, 340).
Für diese Art des Ereignisses gibt Marion zwei Beispiele: das Idol
im theologischen Kontext, das er sehr eingehend in seinen früheren
Werken behandelt 584, allerdings ohne es als ein gesättigtes Phänomen
zu bezeichnen, da dieses Konzept noch nicht entwickelt ist, und das
Gemälde, das ein bedeutendes Thema in seiner aktuellen Philosophie
darstellt 585. Bei der Behandlung dieser Beispiele wird es sehr deutlich,
dass das unerträgliche Phänomen nicht nur verbietet, einen Begriff
anzuwenden, und deswegen nichts sehen lässt, sondern auch sätti-
gend, überwältigend ist. Dies lässt noch weitere Strukturen des Ereig-
nisses aufweisen. Erstens ist das überwältigende Sichtbare 586 kein Ob-
jekt, sondern der Schein, die Erscheinung selbst, die unaufhörlich aus
sich heraus strahlt, fließt, gibt. Das Sichtbare ist also nicht ein Etwas,
sondern die »Sichtbarkeit« (visibilité) selbst. Marion erklärt die Mög-
lichkeit eines solchen Sichtbaren dadurch, dass es alles Unsichtbare
als das Mit-Gegebene eines Sichtbaren in einem eingeschränkten
Horizont verloren hat. Das, was hier und jetzt ankommt, erlaubt
nicht, hinter oder in ihm noch etwas zu vermuten, es erlaubt auch
nicht, neben ihm noch was zu sehen, d. h. es in einen Kontext ein-
zuordnen. Das Sichtbare, so wie es jetzt erscheint, wird zur einzigen
Sache auf der ganzen Welt, ohne Dimensionen, ohne Tiefe, ohne
Kontext. Nur es wird gesehen und es wird nur gesehen, es geschieht
nichts Weiteres:
584 Siehe insbesondere L’idole et la distance (1977) und Dieu sans l’être (1982), sowie
auch einen kürzeren Aufsatz Fragments sur l’idole et l’icône (Revue de Métaphysique
et de Morale 84 (1979), S. 433–445), dessen deutsche Übersetzung als Idol und Bild in
Phänomenologie des Idols (hrsg. von Bernhard Casper, Freiburg/München: Alber,
1981, S. 107–132) enthalten ist. In diesen Schriften entwickelt Marion eine ganze
Theorie von Idol und Ikone, deren Thesen auch in späteren seiner Werke zu begegnen
ist, zum Beispiel bei der Herausarbeitung des Konzepts vom gesättigten Phänomen.
585 Siehe zum Beispiel: Courbet ou la peinture à l’œil (2014).
586
Es geht natürlich nicht nur um das Sichtbare als das, was man mit den Augen
sehen kann. Das Sichtbare muss hier als alles, was das Bewusstsein erreicht, was also
erscheint, verstanden werden. In diesem Sinnen ist auch ein Duft etwas Sichtbares.
378
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
»Voici le tableau: l’espace non physique où le visible seul règne, abolit l’invu
(l’invisible par défaut) et réduit le phénomène à la visibilité pure.«
(DS, 84) 587
Dieses Sichtbare jenseits des physischen Raumes, ohne Unsichtbares
nennt Marion »bloß Gesehenes« (le vu pur) (DS, 93). 588 Wenn das
Phänomen aber mit den Gesetzen der Räumlichkeit unserer Welt
und der Wahrnehmung überhaupt bricht, erscheint es als nicht von
dieser Welt kommend und diese Welt nichtig machend. Es ist alleinig,
weil es von woanders kommt und die Objekte dieser Welt annulliert:
»Elle [peinture – L. P.] ajoute au visible du monde un visible qui ne lui
appartient plus, le transcende et l’annule.« (DS, 85 f) 589
Darin lässt sich – zweitens – noch eine weitere Struktur des Ereignis-
ses ahnen. Wenn im bloß Gesehenen nichts Unsichtbares bleibt, so
kann der Blick nicht mehr fortschreiten. Er bleibt stehen, er ist ge-
fesselt an dem, was er sieht. Doch dieses Gefesselt-Sein ist nicht leer
als eine bloße Unmöglichkeit, nicht weiterkommen zu können. Es
sind die »Bewunderung« (admiration) und die »Faszination« (fasci-
nation), die den gefesselten Blick erfüllen:
»En effet, l’admiration doit s’entendre ici comme le plus puissant exercice
possible du regard, tel qu’il se fixe à demeure, quasi fasciné, sur de qu’il
rencontre ou plutôt lui advient, au lieu de vagabonder à la manière de la
simple vue, qui erre sans s’y attarder d’un visible à l’autre.« (DS, 75) 590
Der Blick bleibt also gefesselt und fasziniert, weil ihm dieses Sicht-
bare begegnet, das alles Unsichtbare um sich herum abschafft, das
alles um sich herum verschwinden lässt und so zum alleinigen Sicht-
baren, zur Sichtbarkeit selbst wird. 591 Schon seit seinen früheren
Werken nennt Marion dieses Sichtbare »erstes Sichtbares« (premier
587
Siehe auch: DS, 79.
588 Dass man nur dieses Sichtbare sieht und dass man es ohne Weiteres – ohne Re-
flexion zum Beispiel – sieht, stellt eine Weise der Erfahrung dar, durch die Marion
schon in Dieu sans l’être das Idol charakterisiert hat: »Das Idol verdient es zu keinem
Zeitpunkt, dass man es als etwas Trügerisches abqualifiziert, denn es wird ja, zwang-
läufig, gesehen – eidōlon, das, was man sieht (*eidō, video). Es besteht sogar nur
darin, dass man es sehen kann, dass man nur es sehen kann.« (GoS, 26/DE, 18)
589 Siehe auch: DS, 76.
591
In Dieu sans l’être heißt es: »Das Idol fasziniert und hält den Blick gefangen, eben
weil sich in ihm nichts finden lässt, was sich nicht zugleich auch schon dem Blick
aussetzen muss, ihn anziehen, erfüllen und festhalten muss.« (GoS, 26/DE, 18)
379
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
visible), weil es ein Sichtbares ist, das zum ersten Mal für den Blick
wirklich sichtbar wird, d. h. ihm nicht mehr erlaubt, wegzusehen. 592
Die Unerträglichkeit des Ereignisses geschieht also als die Un-
möglichkeit, einen Begriff auf die Anschauung anzuwenden, die dies-
mal nicht bloß zu viel gibt, sodass man nicht genügend Begriffe zu-
sammentragen kann, sondern etwas gibt, was überhaupt keinen
Begriff zulässt, nämlich die Erscheinung, die Gegebenheit selbst.
Einerseits macht sie blind: Sie schlägt auf das Erkenntnisvermögen
des Betroffenen zu. Andererseits sättigt sie, weil sie alles gibt, indem
sie alles andere – jede andere Sache, jeden Kontext, jede Geschichte,
jede Zukunft – einfach verschwinden lässt. Darin liegt auch die Fas-
zination ihr gegenüber, die der Blick, der an sie gefesselt bleibt, spürt.
Diese Strukturen des Ereignisses können natürlich nicht nur ein Idol
oder ein Gemälde aufweisen, die an sich, erstens, mit den Augen
sichtbar und, zweitens, inszeniert sind. Ein solches Ereignis kann sich
auch in einer alltäglichen Situation ereignen. Es kann vorkommen,
dass man sich an einem grauen und regnerischen Tag durch die Men-
schenmenge in der Stadt bewegt und plötzlich unter einer Überfüh-
rung eine hohe Melodie einer Geige hört. In dem ersten Moment
interessiert man sich nicht dafür, was, wie oder warum gespielt wird.
Nur das Klingen der Melodie selbst zwingt sich vor jeder Erkenntnis
auf. Für einen Augenblick gibt es nur sie, alles andere zieht sich in den
Hintergrund. Man ist nicht mehr in der Lage, etwas zu denken, man
kann sich nicht mehr konzentrieren, ist orientierungslos, so bleibt
man stehen und ist wie gefesselt an die Erscheinung dieses Phäno-
mens, die genau deswegen, weil man ihr gegenüber den Kopf verliert,
unerträglich ist. Unerträglich – aber vielleicht auch nur für denjeni-
gen, der sie bändigen will.
6.4. Absolut
Was unter der »Absolutheit« oder in diesem Kontext zuerst eher un-
ter der »Abgelöstheit« 593 verstanden wird, können wir schon aus den
592 »Statt über das Sichtbare hinauszugehen und es nicht zu sehen und es unsichtbar
380
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
u. a. Thomas Alferi übersetzt das französische Wort absolu meistens als absolut, aber
auch mit abgelöst (zum Beispiel: GS, 341). Dem Sinn nach ist die Übersetzung als
absolut völlig richtig, aber die Bedeutung dieses Wortes ist ziemlich unklar und mehr-
deutig. Die Übersetzung als abgelöst bringt dagegen den Gedankengang gleich in die
richtige Richtung. Wir werden deswegen zuerst von der Abgelöstheit des Phänomens
sprechen.
381
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
dige Erfahrung hier und jetzt lässt sich nicht begreifen und verbietet
ihre Einschreibung in einen Horizont, die sie als etwas definieren
würde, als ob sie nur dazu wäre, eine Bedeutung zu erfüllen. 594 Jede
Erfahrung des Leibes verbietet, eine Relation zwischen dem An-
geschauten und dem Begriff, d. h. zwischen dem Erlebnis und dem
Denken, das auf es gerichtet ist, zu entwickeln, weil es in dieser Er-
fahrung keinen Unterschied zwischen dem Erlebten und dem, der
erlebt, gibt:
»Comment peut-on définir la phénoménalité d’une telle chair qui me donne
à moi-même? Évidemment, on ne le peut, si l’on s’en tient à une définition
commune du phénomène – l’adéquation entre l’apparaître et l’apparaissant,
l’intuition et la signification, la noèse et le noème, etc. Car dans la chair cette
distinction ne peut précisément pas encore se repérer: puisque dans ce seul
cas le perçu ne fait qu’un avec le percevant, la visée intentionnelle s’accom-
pli forcément dans une immanence essentielle, où ce que je pourrais viser se
confond avec le remplissement éventuel.« (DS, 124) 595
Es gibt hier keine Unterscheidung zwischen dem Wahrgenommenen
und der Wahrnehmung, weil der Leib – hier bezieht sich Marion auf
eine der Hauptthesen in der Philosophie Michel Henrys – gleich-
zeitig, ohne Unterscheidung von etwas (Heteroaffektion) und von
sich selbst (Autoaffektion) affiziert wird (»l’hétéro et l’autoaffection«
(DS, 126)). Das heißt: Man kann natürlich auch jede leibliche Er-
fahrung benennen und beschreiben, aber diese Erfahrung, die eine
Relation in sich hat, ist nicht die einzig mögliche, mehr noch: Sie ist
nicht die ursprüngliche Erfahrung, die Sache selbst. Es gibt die Mög-
lichkeit einer Erfahrung, die vor der Relation geschieht, die dort ge-
schieht, wo zwischen dem, was empfangen wird, und dem Empfänger
keinen Unterschied sieht. 596 Wenn man einen Schmerz fühlt, kann
man es natürlich auch objektivieren, aber wenn man diese Reflexion
und damit die Beziehung zum Erlebnis verlässt, um nur zu erleben,
sieht man die Unmöglichkeit, dieses Erlebnis, so wie es jetzt ist, zu
begreifen. Es ist nur das, was es jetzt ist. Es ist nichts anderes, es ist
nicht als etwas da, es ist nur da. Es gibt keine Bezeichnung für es. Mit
594 »Donc, dans l’hypothèse d’une phénoménalité du donné, la chair devient aussitôt
le cas le plus simple et contraignant de ce que nous nommons par ailleurs un phéno-
mène saturé ou paradoxe.« (DS, 124)
595
In Étant donné heißt es: »Leiblichkeit definiert sich nämlich als Identität […] des
Affizierten mit dem Affizierenden […].« (GS, 387/ED, 321). Siehe auch: DS, 115, 142.
596
Zur Ursprünglichkeit des Leibes (auch bei Husserl): DS, 112.
382
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
383
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
6.5. Unbeobachtbar
Die ersten drei Typen des gesättigten Phänomens zeigen, wie die An-
schauung den Begriff überschreitet: Die Anschauung gibt entweder
384
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
quantitativ zu viel für den Begriff oder qualitativ zu viel (zu intensiv),
sodass man irgendwann nicht mehr in der Lage ist, einen Begriff an-
zuwenden, oder sie löst sich überhaupt von der Relation zu irgend-
einem Begriff. Der vierte Typ des gesättigten Phänomens enthüllt
seine Besonderheit nicht im Verhältnis zum Begriff, sondern zum
Ich selbst. Das Ereignis ist nicht beobachtbar in dem Sinne, dass das
Ich es nicht unter Kontrolle halten kann, sondern eher selbst dem
Phänomen ausgesetzt ist.
Hier ist es notwendig, zuerst auf Marions Unterscheidung zwi-
schen »beobachten« (regarder) und »sehen« (voir) aufmerksam zu
machen:
»Phänomene zu beobachten bedeutet folglich nicht dasselbe, wie sie zu se-
hen. Vielmehr bedeutet es, dass man Phänomene im Verfolg einer stets
dürftigen und geläufigen Phänomenalität in sichtbare Gegenstände um-
wandelt […].« (GS, 362/ED, 299)
Beobachten heißt also, einen Gegenstand zu konstituieren, und nicht
etwas so zu empfangen (sehen), wie es sich gibt. Beobachten heißt,
das konstituierte Phänomen unter der Kontrolle zu halten und ihm
nicht die Initiative der Selbst-Gegebenheit zu übergeben:
»[E]s geht um das Ausüben dieser Kontrolle, bei der man auf Sichtbares in
seiner Sichtbarkeit Obacht hat – und dies, ohne ihm die Initiative des Er-
scheinens zu überlassen […].« (GS, 362/ED, 299)
Hält man das Phänomen unter Kontrolle, so hält man es in den Gren-
zen eines Begriffes. Es ist das, was ich will, dass es ist. Streng genom-
men sehe ich es gar nicht: Ich sehe nur das, was ich von ihm sehen
will. Das ist ähnlich wie, wenn man von einem Menschen, den man
noch nicht kennt, verschiedene Gerüchte gehört hat, und wenn man
ihn dann kennenlernt, lässt man sich von den Gerüchten so beein-
flussen, dass man buchstäblich nicht mehr hört, was er sagt, sondern
überall nur die Bestätigung für das Vorurteil findet, das man über ihn
schon gebildet hat.
Welche Situation würde entstehen, wenn das Phänomen sich der
Kontrolle des Ich entziehen könnte, wenn es also nicht beobachtbar
wäre? Eine ähnliche Situation, wie wenn man den Anderen wirklich
aussprechen ließe. Das Phänomen könnte sich endlich zeigen. Es wäre
nicht mehr ein Objekt für das Ich, sondern ein gleichwertiger Ge-
sprächspartner, der die Intention hat, mir etwas zu sagen und so zu
sagen, dass es selbst in diesem Sagen manifest wird. Marion nennt
385
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
597 Wir haben gesehen, dass Levinas von der »Umkehrung der Intentionalität« ge-
sprochen hat, wo das Subjekt mit seiner Intentionalität das Andere nicht mehr an-
greift, sondern sich ihm aussetzt, sich ansprechen lässt. Marion bezieht sich auf Levi-
nas diesbezüglich: GS, 440/ED, 367 f.
598 Dazu siehe insbesondere: Étant donné § 28. In Certitudes négatives wird dies noch-
mals bestätigt: »Alors que l’objet apparaît pour répondre à question (»Que sais-je?«,
»Que puis-je savoir?«), l’événement se constitue comme un phénomène exigeant une
réponse.« (CN, 289) Und: »L’événement advient comme un appel.« (CN, 290)
599 Dazu siehe noch eine bedeutende Stelle: »Das ›Sich‹ des Phänomens – sobald es
sich der Gegenständlichkeit entgegenstellt – wandelt das Ich […] entschieden in einen
Zeugen [témoin – L. P.] um. Es kehrt nämlich den Nominativ […] in einen ursprüng-
licheren Dativ um, der […] das ›Wem oder Was‹ des Empfängers bezeichnet, dem es
zugewiesen wird. Und ein solcher Zuweisungsempfänger tritt die Nachfolge dessen,
was die Metaphysik unter ›Subjekt‹ verstand, natürlich nur an, weil es sich diesem
radikal entgegenstellt.« (GS, 414/ED, 344).
386
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
Die Rolle des Zeugen erschöpft sich aber nicht darin, bloß das Phäno-
men zu sehen, zu empfangen, insofern er da ist, wenn es geschieht, –
er muss auch noch für das Gesehene Zeugnis ablegen und vielleicht
sogar im Sinne der Verteidigung (damit wäre er ein Zeuge der Ver-
teidigung), sodass er sich damit – sogar »gegen sein unmittelbares
Interesse« – für das Gesehene, Gehörte etc. einsetzt. 600
Der Begriff des Zeugen ist allerdings ein spezifischer Begriff. Für
den Empfänger im Allgemeinen behält Marion – wie wir gesehen
haben – den Namen attributaire (Zuweisungsempfänger) oder
adonné. 601 Ein wesentliches Charakteristikum des adonné ist, dass er
nicht nur das Phänomen empfängt, sondern dadurch auch sich selbst:
»So wird der Hingegebene geboren, der kraft eines Rufes auf das »Subjekt«
folgt, nämlich als derjenige, der sich ganz und gar aus dem empfängt, was er
empfängt.« (GS, 442/ED, 369) 602
Ein ganz prägnantes Beispiel dieser Art Ereignisse ist das Antlitz des
Anderen, wo genau das geschieht, dass man das Antlitz des Anderen
nicht beobachtet, d. h. als ein Objekt betrachtet, sondern seinen Blick,
der anblickt, der mich anblickt, sieht. Noch genauer gesagt: Man sieht
sogar den Blick nicht, sondern man erlebt bloß, wie man selbst ange-
sehen wird. Man sieht ihn nur, insofern man sieht, dass er sieht:
600 Zum Begriff des Zeugen bei Marion siehe: SB, 135 ff. Insbesondere folgende Stelle:
»Der Zeuge sieht das Phänomen, aber er weiß nicht, was er sieht und wird nicht
erfassen, was er gesehen hat. Unstrittig sieht er es, in vollkommener Klarheit, in der
ganzen erforderlichen Anschaulichkeit, oft mit einem Überschuss an Anschauung,
der ihn tief und anhaltend affiziert, vielleicht verletzt hat. Er weiß, dass er gesehen
hat und er weiß es so gut, dass er bereit ist, wieder und wieder, oft auch gegen sein
unmittelbares Interesse, dafür Zeugnis zu geben« (SB, 136 f/BS, 189). Dass der Zeuge
»oft auch gegen sein unmittelbares Interesse« handeln muss, bedeutet, dass er vom
Phänomen selbst aufgefordert wird, das Zeugnis abzulegen. Es ist auch klar, dass die
Rolle eines Zeugen nie leicht sein kann, weil der Zeuge immer etwas, wie wir gesehen
haben, Unmögliches und Unbegreifliches bezeugen muss.
601
Zur Unterscheidung vom Zuweisungsempfänger und adonné, den Thomas Alferi
als »der Hingegebene« übersetzt, siehe: »Bestimmt sich der Zuweisungsempfänger als
ein Denken, das Gegebenes in Manifestes umwandelt und das sich aus dem empfängt,
was es empfängt, oder, kurz gesagt, wird er aus dem Hervorbrechen selbst des Phäno-
mens als einem Gegebenen geboren, d. h. aus einem Gegebenen, das den bloßen Ein-
schlag seiner Ereignishaftigkeit vollzieht, was geschieht dann, wenn ein gesättigt-
gegebenes Phänomen hervorbricht? Antwort: Der Einschlag wird dann die radikale
Form eines Rufes und der Zuweisungsempfänger die eines Hingegebenen an-
nehmen.« (GS, 438/ED, 366)
602
Siehe auch: GS/ED, 437/365, 466/390; DS, 53, 56.
387
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Wir haben schon erwähnt, dass neben den vier Typen des gesättigten
Phänomens Marion noch einen fünften Typus vermutet, der aller-
dings nur darin besteht, dass er alle der vier Weisen der Sättigung
603 Siehe auch: GS, 389 ff/ED, 323 ff, wo unter anderem auch vom Antlitz die Rede ist.
Ein anderes Beispiel für diesen Typ gesättigter Phänomene ist die Ikone (im Gegen-
satz zum Idol): »Wir nennen diesen letzten Typ gesättigter Phänomene Ikone, da er
dem Blick keinerlei Schauspiel mehr darbietet, keinen Zuschauerblick duldet, sondern
– gegenläufig dazu – sich ein eigener Blick an dem vollzieht, der ihm gegenübersteht.
Der Beobachter tritt an die Stelle des Beobachteten.« (GS, 389/ED, 323)
388
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
604 Siehe auch: »Das Offenbarungsphänomen (§ 24) definiert sich also als Phänomen,
das als Einziges [en soi seul – L. P.] die vier Bedeutungen gesättigter Phänomene (§ 23)
in sich bündelt […].« (GS, 395/ED, 328) Über die Unvorhersehbarkeit des Jesusereig-
nisses als geschichtlichen Ereignisses siehe: GS, 396 f./ED, 329 f); die Unerträglichkeit:
GS, 398 f/ED, 331 f; die Absolutheit: GS, 399 f/ED, 332 f; die Unanschaulichkeit: GS,
401 f/ED, 334 f.
389
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
605
In der Tat schreibt Marion in Bezug auf das Antlitz (Ikone): »Sie [Ikone – L. P.]
vereint die spezifischen Eigenschaften der drei vorangegangenen Typen gesättigter
Phänomen in sich.« (GS, 391/ED, 324)
390
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
391
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
die Frage nach dem Seienden (nach dem Wesen, nach dem Begriff,
nach den Ursachen etc.) zu überwinden, um dem Sein, das aber nicht
mehr das vorgestellte Sein für das Denken ist, sondern das Uneinhol-
bare für das Denken bleibt und dieses Denken sättigt, näher zu kom-
men, wie kann dann unsere bisherige Vorgehensweise dies leisten?
Wie können wir behaupten, dass wir das Wesen überwunden haben,
wenn wir doch gerade ein Wesen beschrieben haben? Wie können wir
behaupten, dass wir mit den bisherigen Analysen dem Ereignis näher
gekommen sind, wenn unsere Denkweise – wie wir gerade festgestellt
haben – durch und durch metaphysisch war? Ja, sie war in der Tat
metaphysisch, auch dann noch, wenn ich sie nicht-metaphysisch an-
zusetzen versuchte. Aber der Punkt ist, dass sie notwendigerweise
metaphysisch war. Aus einem zweifachen Grund: Erstens mussten
wir metaphysisch anfangen, weil die Überwindung der Metaphysik
nur durch die Metaphysik hindurch geschehen kann. Das heißt: Zu-
erst muss es die Metaphysik geben, damit man bei ihrer Destruktion
das Nicht-Metaphysische andeuten könnte, das allerdings niemals
zum Thema für eine neue Metaphysik wird, sondern sich immer nur
indirekt, unendlich und unerreichbar tief hinter den Trümmern der
Metaphysik ahnen lässt, hinter den Trümmern allerdings, die sich
ständig wieder aufbauen und immer wieder von Neuem zertrümmert
werden müssen. 606
606 Diese These entwickelt Walter Schweidler in seinen Büchern Die Überwindung
der Metaphysik. Zu einem Ende der neuzeitlichen Philosophie (Stuttgart: Klett-Cot-
ta, 1987) und Das Uneinholbare. Beiträge zu einer indirekten Metaphysik (Freiburg/
München: Alber, 2008). Es geht darum, dass die Überwindung des metaphysischen
Denkens, die Schweidler Philosophie nennt, die Metaphysik überholt, indem sie diese
denkt, allerdings nicht als ein übliches Denkobjekt, sondern sie begründend, d. h.
ihren Ursprung suchend. Denkt die Philosophie die Metaphysik, wird sie selbst zur
Metaphysik (der Metaphysik) und fragt nach ihrem eigenen Ursprung, den sie aber
nicht einholen kann. Wenn aber die Philosophie etwas Uneinholbares anerkannt, ist
sie nicht mehr Metaphysik in dem üblichen Sinne des Wortes: Sie ist Metaphysik und
doch auch ihre Überwindung gleichzeitig. Die Überwindung der Metaphysik ist also
gleichzeitig die Metaphysik des Ursprunges und das Denken der Uneinholbarkeit die-
ses Ursprunges. Sie kann nicht nur die Überwindung sein – dann wäre sie nur die
Metaphysik des Ursprunges, ohne das Uneinholbare. Sie braucht ständig das, was sie
überwindet, was sie selbst durchschauen lässt, nämlich das Uneinholbare: »Es gibt
daher keine Philosophie ohne Metaphysik; das bedeutet: Es gibt keine Philosophie,
die sich selbst voll zu durchschauen vermöchte. Umgekehrt gibt es keine Metaphysik
ohne jenen philosophischen Grundimpuls, der darauf gerichtet ist, sich selbst voll zu
durchschauen.« (Schweidler(1987), 183) Die Überwindung der Metaphysik und damit
auch die Philosophie des Ereignisses ist beides: die Metaphysik und das, was die Me-
392
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
taphysik überwindet. Doch man darf nie vergessen, dass das, was die Metaphysik in
der Metaphysik überwindet, nicht in der Metaphysik präsent, sondern in ihr nur
indirekt gegeben ist. Deswegen nennt Schweidler die Philosophie »indirekte Meta-
physik«: eine Metaphysik also, in der indirekt das Uneinholbare gegeben ist. Man
kann durchaus sagen, dass die Philosophie des Ereignisses eine indirekte Metaphysik
ist.
393
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
394
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
das Phänomen als eine Wesenheit gedacht wird, wird auch sein Er-
eignis als eine Wesenheit begriffen und somit verloren. Welche
Lösung bietet sich hier an? Solche, dass man das Ereignis als die Ge-
gebenheit nicht einer Wesenheit, sondern einer absoluten Singula-
rität zu beschreiben versuchte: einer Individuation, Einmaligkeit, Un-
wiederholbarkeit, die übrigens deswegen nicht mehr denkbar – also
kein Wesen – wäre. So stellt sich heraus, dass, wenn wir das Ereignis
durch das Phänomen zu denken versuchen, das Phänomen aufhört,
eine Wesenheit zu sein, zu etwas Undenkbaren wird und so endlich
als ein Ereignis gedacht werden kann. In der Tat macht das Ereignis
das Phänomen ereignishaft, aber nicht als eine Struktur einer Wesen-
heit, sondern als das Geschehen eines Phänomens, das nicht denkbar
ist, sondern eine absolute Singularität darstellt. Diese absolute Sin-
gularität ist nicht mehr von seinem Geschehen zu trennen: Sie ist das
Ereignis. Der indirekte Weg zum Ereignis führt also durch das Den-
ken einer absoluten Singularität. Nur so können wir denkerisch dem
Ereignis näher kommen, das – später begrifflich gedacht – die von uns
schon herausgearbeiteten Strukturen aufweist. Würden wir aber nur
die Strukturen eines Phänomens denken, würden wir nie verstehen,
was es zu einem Ereignis macht, was also seine Ereignishaftigkeit
ausmacht. Das Ereignis ist die absolute Singularität. Wir haben hier
mit einem »événement absolument unique« (DS, 40) zu tun.
Wie denkt Marion dieses absolut individuierte, singuläre, einzig-
artige und unwiederholbare Phänomen, das das Ereignis ist? Zuerst
genau so, dass es sich der Begrifflichkeit entzieht, dass es nicht das ist,
was der Begriff selektierend und verwandelnd sieht, was er vorher-
sieht und sogar verursacht, was er nachträglich nacherzählt und re-
produziert, wenn er die Ursachen aufgeklärt hat:
»Kommen Ereignisse aus unbekannter Ursache von sich her und ohne dass
ihnen etwas vorangeht, dann sind sie bleibend etwas Vorgefundenes und
absolut Einzigartiges. […] Es hat kaum Sinn, nach Kriterien zu fragen, die
es erlauben würde, Ereignisse zu identifizieren bzw. ihre Individualität zu
bestimmen. Deren Individualität bestimmt sich über die Ereignisse selbst.
Und es wäre als eine Widersinnigkeit einzuordnen, wollte man diese Kri-
terien in Ursachen ausfindig machen. Ereignisse werden nur dadurch indi-
viduell, dass sie sich auf Ursachen nicht reduzieren lassen.« (GS, 295/
ED, 240 f) 607
607 Dementsprechend können vom Begriff beherrschte Phänomene nie als individua-
lisiert gelten: »Daraus folgt, dass gemeinrechtliche Phänomene – ganz genauso wie
395
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
286, 287, 292. Um das Vorübergehen des Ereignisses zu bezeichnen, verwendet Mari-
on oft das Wort »se passer«.
609 Ein pures Ereignis ist nach Marion der Tod (DS, 48 ff). Man muss aber gleich hin-
zufügen, dass Marion ein Philosoph ist, der völlige Unsichtbarkeit niemals akzeptie-
ren wird. Nicht einfach deswegen, weil das absolut Unsichtbare außerhalb der Phäno-
menologie befindet, sondern deswegen, weil es wirklich keinen Sinn macht über ein
396
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
Ereignis zu sprechen, das niemand erfährt. So ist der Tod zwar ein pures Ereignis, aber
die Geburt ist ein »perfektes Ereignis« (événement parfait) (DS, 50). Sie ist zwar auch
unsichtbar, aber sie löscht nicht das Bewusstsein aus und bleibt als eine Spur in jedem
weiteren Gegebene bestehen. Über die Geburt in diesem Zusammenhang siehe auch:
CN, 293 f, 298.
610
Die Verspätung: GS, 473 ff/ED, 396 ff; CN, 285, 286, 287, 288 f.
611 Die Gegenwart des Ereignisses beschreibt Levinas als »eine Vergangenheit, die
niemals Gegenwart war«. In der Tat ist diese Gegenwart auch bei Marion schon
immer vergangen, ohne sichtbar zu werden. Sie ist die Gegenwart, in Bezug worauf
das Bewusstsein, das das Gegebene sichtbar macht, zu spät kommt und die es nur als
vergangen bestimmen kann. Im gewissen Maß weist auch Heideggers Ereignis diese
Struktur auf, da es sich als der Anfang gleich nach dem Anfangen entzieht und für den
Betroffenen nur die Spur hinterlässt.
612 Zur Unwiederholbarkeit: GS, 295/ED, 240 f; DS, 40, 45; CN, 285.
613
Vgl. GS, 245 f/ED, 196 f.
397
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
haupten, dass es die Zeit ist, die das Ereignis individuiert. Die Zeit in
ihrem Jetzt-Modus individuiert das Objekt, indem sie ihm die zeit-
liche Koordinate gibt. Aber das Verhältnis von Zeit und Ereignis ist
umgekehrt: Das momentane Vergehen des Ereignisses konstituiert
das Jetzt der Zeit. Wir wissen vom Jetzt der Zeit, weil das Ereignis
das Jetzt dieses Jetzt ist. 614 Das Ereignis ist nicht einfach ein singulärer
Punkt auf der Zeitlinie, der unwiederholbar ist. Es ist genau dadurch
individuiert, dass es – wie wir gesehen haben – nichts Objekthaftes an
sich hat und ereignishaft ist. Das Ereignis kann ein absolutes Jetzt, das
Jetzt des Jetzt, sein, weil es etwas Absolutes gibt – etwas, was abgelöst
von allen Beziehungen ist. Es gibt sich selbst außerhalb der Kontinui-
tät der Zeit und des Raumes, außerhalb des Geflechtes der Objekte
und Begriffe. Es ist unwiederholbar nicht deswegen, weil es eine Zeit-
koordinate aufweist, die nur einmal vorkommt, sondern weil es sich
nicht auf die Zeitachse des Koordinatensystems markieren lässt. Es ist
das absolute, abgelöste Jetzt, und deswegen unwiederholbar – auch
dann noch, wenn es sich tausendmal ereignen würde. Weil es sich
jedes Mal davon ablösen wird, was es als das bestimmen könnte, das
sich tausendmal schon wiederholt hat. Um dies zu veranschaulichen:
Wenn man seine eigene Hand kopiert, sind die gemachten Kopien alle
gleich. Eine Möglichkeit, sie von einander zu unterscheiden, ist den
Zeitpunkt zu bestimmen, wann jede von ihnen gemacht worden ist.
In der Tat sind sie alle in einem anderen Jetzt entstanden. Das Jetzt
des Objektes (der Kopie) wäre also die Anfertigungszeit der Kopie der
614 In der Tat ist das Jetzt das Ereignis: »Le présent surgit comme premier et le premier
398
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
Hand. Das Ereignis ist aber weder die Hand selbst, noch die Kopie,
sondern die Berührung der Glasfläche, um zu kopieren. So ist sein
Jetzt nicht die Zeit, wann die Berührung gemacht worden ist, sondern
diese Berührung selbst. Die Zeit des Ereignisses ist nicht in der mess-
baren Zeit, sondern es ist selbst seine Zeit. Von dem, was in der Zeit
ist – von der Hand –, kann man tausende Kopien anfertigen, aber
keine von der Berührung selbst, die diese Kopien erst möglich ge-
macht hat. Diese Berührung ist aber das Ereignis. Wenn man seine
eigene Hand kopiert, macht man eine Kopie von der Hand, nicht aber
von der Berührung. Und genauso ist es mit dem Denken: Wenn man
denkt, denkt man Objekte, kopiert sie, was aber undenkbar bleibt, ist
die Berührung, die das Denken berührt hat, damit es denken ver-
möchte.
Einiges muss hier allerdings noch hinzugefügt werden. Erstens:
Wir haben einen Gedankengang vollzogen, indem wir fragten, wie
das Ereignis eigentlich zu denken ist. Wir haben gezeigt, dass es
weder als eine Wesenheit, noch als ein von der Wesenheit (vom Phä-
nomen) abstrahierter Prozess, noch als ein Geschehen einer Wesen-
heit überhaupt begreifbar ist, da es in allen diesen Fällen genau zu
dem gemacht wird, was es nicht ist, nämlich einem Objekt bzw. Denk-
objekt. Und wir sind dazu gekommen, dass das Ereignis das Ereignis
eines undenkbaren »Einzeldinges«, eines – phänomenologisch ge-
sprochen – erfüllten und erlebten Jetzt des Bewusstseinsstromes ist,
mit dem es zusammenfällt. Das Jetzt des Ereignisses ist das Ereignis
des Jetzt. Das Jetzt und das Ereignis sind absolut ein und dasselbe, hier
kann man nicht mehr das Gegebene von der Gegebenheit trennen.
Doch das, wie wir diesen Gedankengang vollzogen haben, lässt einen
falschen Eindruck entstehen, nämlich als ob wir denkerisch zur Mög-
lichkeit gekommen wären, wie das Ereignis zu beschreiben ist. Eine
solche Ansicht würde die Ordnung der Sache völlig verdrehen und
sogar im Widerspruch zu dem ganzen Projekt einer Ereignisphiloso-
phie stehen, weil sie impliziert, dass es das Denken ist, das das Ereig-
nis entdeckt (also gibt) und sein Geschehen (Gegebenheit) entfalten
lässt. Aber es ist ganz umgekehrt: Das Ereignis gibt sich der Philoso-
phie und zwingt die Beschreibungsweise auf, die ihm philosophisch
entspricht. Die Philosophie folgt dem Ereignis (sowohl zeitlich als
auch im Sinne, dass sie den Anweisungen des Ereignisses folgt) und
in diesem Sinne (aber zuerst nur in diesem Sinne) ist sie eine Phäno-
menologie und nicht eine (ontologische) Theorie, die ausgehend von
irgendwelchen Axiomen, die vor dem zu erkennenden Gegenstand da
399
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
400
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
lich kein Phänomen ist. Diese Behauptung, die wir hier wagen, wird
besonders dadurch verstärkt, dass Marion den Unsichtbarkeits- und
Vorübergehenscharakter des Ereignisses behauptet. Das Ereignis ver-
geht, ohne ins Bewusstsein zu gelangen, also ohne zum Phänomen zu
werden. Es ist unsichtbar. Es erscheint nicht als unsichtbar (nicht-
objekthaft) – es ist unsichtbar. Und wir können nur fragen, wie eine
Erscheinung (Phänomen) unsichtbar sein sollte. Hier wird – so unsere
Vermutung – etwas außerhalb des Phänomens behauptet, nämlich
das Ereignis. Man kann natürlich einwenden und sagen, dass die
Sichtbarkeit nur durch den Begriff möglich ist, und wenn etwas mehr
ist als ein durch den Begriff konstituiertes Objekt, dann kann es als
unsichtbar klassifiziert werden. Es ist dann unsichtbar für den Be-
griff, aber nicht für das Bewusstsein, für den passiven Empfänger,
weswegen es sich hier nicht um eine ontologische Unsichtbarkeit
handelt. In der Tat ist auch das Nicht-Gegenständliche, im passiven
Bewusstsein Gegebene, für Marion das Sichtbare, sogar der Exzess an
Sichtbaren. Und trotzdem behauptet er, dass das Ereignis vergeht,
ohne sichtbar zu werden. Wir schließen daraus, dass Marion sehr
gerne möchte, dass das Ereignis als ein Phänomen ein Thema der
Phänomenologie wäre, aber, indem er als ein Phänomenologe ganz
ehrlich das Ereignis beschreibt, kann er es nicht ohne Rest in die Phä-
nomenologie hineinzwingen. Das Ereignis als das Jetzt des Ereignis-
ses erreicht nicht das Bewusstsein – es schwingt irgendwo draußen.
Das, was das Ereignis an sich ist, nämlich das Ereignis des Ereignisses,
das Jetzt des Jetzt, ist – wie wir es einsehen – nicht das, was wir er-
fahren, was wir denken können. Es ist das absolut andere der Kopie,
mit der das Denken und die Kommunikation arbeiten. Doch wir he-
ben hier auch nicht den Anspruch, das Ereignis einholen zu können.
Ganz im Gegenteil: Wir behaupten diese Uneinholbarkeit. Doch es ist
auch genügend interessant, die Spuren des Ereignisses im Denken zu
untersuchen. Und wir möchten uns in diesem Abschnitt der zeit-
lichen Dimension der Erfahrung des Ereignisses zuwenden, so wie
sie in Marions Philosophie beschrieben wird.
Erstens: »Der Vergangenheit entsprechend« (selon le passé) (DS,
39) weist das Ereignis die Struktur des »schon« (déjà) (DS, 40) auf:
401
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
»Car, en tant que toujours déjà là, disponible à notre entrée et notre usage,
cette salle 615 s’impose à nous comme préalable à nous, étant sans nous,
quoique pour nous, qui donc surgit à notre vue comme un fait inattendu,
imprévisible, venant d’un passé incontrôlable. […] elle s’impose à moi en
m’apparaissant; j’y entre moins qu’elle ne m’advient d’elle-même, m’en-
globe et m’en impose. Ce ›déjà‹ atteste l’événement.« (DS, 39 f)
Das bedeutet: Wenn man dem Ereignis begegnet, ist es immer die
Erfahrung, als ob das, dem man begegnet, schon vor mir da war. Ich
weiß immer, dass es nicht mit mir entstanden ist. Durch dieses
»Schon« bestätigt das Ereignis sein Sich, seine Andersheit gegenüber
dem Ich, sein »Anderswo«. In Bezug auf das, was in der Welt vor-
kommt, ist es leicht sich vorzustellen, dass etwas schon da war, bevor
ich ihm begegne. Aber man muss auch festhalten, dass dies auch in
Bezug auf das gilt, was zum ersten Mal – als das Unmögliche – in die
Welt kommt, da das radikale Ereignis eigentlich der Welt etwas Neues
hinzufügt. Es kann ein wenig widersprüchlich erscheinen, dass das
Neue, das nicht vorher war und sogar völlig unvorhersehbar eintritt,
die Struktur des Schon aufweist. Und doch weist es diese Struktur
auf. Obwohl der Ruf, das Ansprechen des gesättigten Phänomens erst
durch mich hörbar wird (wir werden noch zu diesem Thema zurück-
kommen), klingt er so, als ob er vor mir, vor meinem Hören mich
schon gerufen hat. Doch trotz dieser Struktur des Phänomens macht
die Phänomenologie keinen Schluss auf das ontologische Vor-Sein
dessen, was ruft, was anspricht. Sie vermutet keine »parallele Welt«,
die dann irgendwann mich erreicht, sie – wie Marion das immer be-
tont – vermutet keinen Geber außerhalb der Gegebenheit des Phäno-
mens selbst. Dieses Schon ist dem Phänomen intrinsisch, es sagt
nichts über seine ontologische Beschaffenheit aus – eine solche Aus-
sage würde die Überschreitung der phänomenologischen Einstellung
bedeuten.
Zweitens: »Der Gegenwart entsprechend« (selon le présent)
(DS, 40) hat das Ereignis die Struktur des »dieses Mal, ein für alle-
mal« (cette fois, une fois pour toutes) (DS, 41). Das Ereignis gibt sich
als solches, das seine Gegebenheit hier und jetzt bestätigt – es ist
gegeben, es ist für immer gegeben so, wie es jetzt gegeben ist. Das
615
Die Rede ist von La Salle des Actes, in der dieser Vortrag über das Ereignis ge-
halten wurde. Marion verwendet dieses Beispiel, um die Strukturen des Ereignisses zu
veranschaulichen.
402
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
403
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
fahren auch, wie dadurch unsere eigene Zukunft durch das »ohne
Ende« des Ereignisses entworfen wird. 616
Etwas hat sich mit uns ereignet, sonst wären wir nicht da, wo wir
sind. Etwas ereignet sich jetzt, zu dem wir allerdings zu spät kommen.
Und es ist möglich, dass sich etwas wieder ereignen wird: völlig an-
dersartig und völlig unvorhersehbar. Doch denken wir zunächst über
dasjenige ursprüngliche Ereignis nach, aus dem jeder von uns kommt.
Dieses Ereignis kann man unterschiedlich denken: eine Möglichkeit
ist die Geburt. Hätte es meine Geburt nicht gegeben, wäre ich nicht
hier. Vor der Geburt war ich nicht seiend, ich war unsichtbar, in der
Welt, so wie sie war, versteckt (konkret gesprochen, im Bauch eines
anderen Menschen). Durch das Ereignis der Geburt wurde ich in die
Welt gestoßen. Damit hat sich die Welt verändert: zuerst die Welt
meiner Eltern, aber auch die Welt überhaupt. Mit meiner Geburt
kam der Welt etwas Neues, noch nie Gewesenes hinzu, eine neue
Möglichkeit. Und genau wie die Geburt müssen wir das Ereignis
überhaupt verstehen: Es ist der Stoß, mit dem in die Welt (meine
Welt, unsere Welt, gemeinsame Welt) etwas Neues, eine neue Mög-
lichkeit hineingestoßen wird, die den Horizont der Welt erweitert. Es
ist der Anfang einer neuen Situation:
»Da Ereignisse ja über die vorauslaufende Situation hinausschießen, schrei-
ben sie sich dieser nicht nur nicht ein, sondern sie definieren, wenn sie sich
einstellen, eine Situation neu, sei es partiell oder vollständig anders. Weil
Ereignisse nie noch einmal von vorne anfangen, bilden sie den Neuanfang
zu einer Phänomenreihe, wobei frühere Phänomene – nicht ohne Gewalt,
aber mit dem den Ereignissen eigenen Recht, Horizonte eröffnen zu dürfen
– neu ausgerichtet werden.« (GS, 297/ED, 242) 617
616 Diese Erfahrungen der Zeit im Ereignis arbeitet Marion erstmals im Aufsatz
404
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
Doch man darf nicht verwechseln: Das Ereignis ist nicht das neue
Gegebene in der Welt, zum Beispiel ich als Körper und Person, mein
Gesagtes und meine Handlungen oder ein Kunstwerk, eine neue
Theorie über die Welt, ein neues Gesetz als Folge von bestimmten
sozialen Ereignissen etc., sondern die Gegebenheit dieses Gegebenen,
der Moment seines Einbruchs, der Moment, in dem dies alles möglich
wird: möglich in dem Sinne, dass es ab jetzt für die Welt möglich ist,
also zu ihr gehört. Das Ereignis ist also nicht ein Gegebenes, ein
Bestand der Welt, sondern – wie wir das schon gesehen haben – etwas,
was außerhalb von οὐσία ist, ein Vergehen, ein Anfangen und
Vorübergehen. Und weil es das ist, was sich jedem Wesen entzieht,
ist es uneinholbar für die Erinnerung und für das Denken überhaupt.
Was uns bleibt, ist das Gegebene. Das Verhältnis zwischen dem Er-
eignis, das nicht zur Welt gehört, sondern in sie einbricht, und dem
Gegebenen, das in der Welt bleibt, kann unterschiedlich beschrieben
werden. Wir haben zum Beispiel bei Heidegger gesehen, dass das Er-
eignis als Anfang, der sich sofort entzieht, ein Zeitalter auslöst. Es ist
also der Anfang einer Geschichte, eines Zeitlaufes einer Menschheit,
innerhalb dessen alles Gegebene sich in einem vom Ereignis be-
stimmten Horizont verwerklicht. Ein Zeitalter ist deswegen ein, weil
in ihm nur bestimmte Möglichkeiten realisiert werden können. Man
ist immer in einem Horizont der Möglichkeiten, man ist nie jenseits
einer Welt. Und es ist das Ereignis, dass diese Welt initiiert. Levinas
fasst diese Relation vor allem durch das Konzept der Spur – das Er-
eignis hinterlässt eine Spur, die sichtbar ist, die also etwas mit dem
Objekthaften und Begreifbaren zu tun hat, obwohl sie auch immer
auf ihren unsichtbaren Ursprung hinweist, weswegen es nie als Phä-
nomen, ein objekthaftes Phänomen begriffen werden kann. Die Be-
gegnung mit dem Anderen hinterlässt zum Beispiel das Ethische im
Sinne des Sich-für-den-Anderen-Einsetzens. Das Ethische, das alles,
was ich ab jetzt für den Anderen tue, ist etwas, was man in der Welt
sehen kann, wofür man ein Gesetzt formulieren kann, aber es ist die
Spur eines ursprünglichen und unsichtbaren Ereignisses, wovon man
nichts weiß, außer dass es diese Spur hinterlassen hat.
In Marions Phänomenologie haben wir zuerst mit dem Begriffs-
paar von Gegebenheit (Ereignis) und Gegebenen zu tun. Wir haben
keiten eröffnet, ist eins der wesentlichen Merkmale, durch das sowohl Badiou im
Werk L’être et l’événement (1988) als auch Romano in seinem Werk L’événement et
le monde (1998) das Ereignis charakterisieren.
405
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
618
Bezüglich der Struktur Ruf-Antwort im Ereignis spricht Marion auch statt von
réponse von répons, das Thomas Alferi als Responsum übersetzt: »Eine solche Ant-
wort, bei dem die Sichtbarkeit eröffnet und dem Ruf das Wort erteilt wird, eine solche
Antwort, das dieses Rufen zu einem Phänomen macht, anstatt ihm mit einer Wider-
rede zu begegnen und es dadurch herabzustufen, nennen wir Responsum.« (GS, 475/
ED, 397) Siehe auch unsere Überlegungen im Abschnitt 6.5.
619 Marion bezieht sich hier auf Gadamer, der den hermeneutischen Prozess als durch
406
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
620 Dieses Zitat stammt aus einem sehr polemischen Text (nämlich dem zweisprachig
407
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
621
Siehe: GS, 499 ff/ED, 408 ff.
408
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
Auslegung in der Antwort, von denen der Ruf eine unsichtbare und
die Antwort eine sichtbare Sache wäre. Der Ruf ist keine unsichtbare
Sache – der Begriff einer »unsichtbaren Sache« ist schon an sich
widersprüchlich, da die Sache das Sichtbare schlechthin ist. Weil der
Ruf keine Sache ist, ist er eigentlich nicht. So kann man ihn nicht
fassen. Wir haben (im Sinne des Besitzes) nur das Sichtbare. Es gibt
nur die Antwort. Man weiß etwas vom Ruf ausschließlich durch die
Antwort, die nicht er ist, sondern nur seine Erscheinung:
»Den Phänomenen zuvor ist nichts zu sehen bzw. vorherzusehen. Das Re-
sponsum sieht also nichts, bevor es sich diesem nicht hingibt.« (GS, 500/ED,
419) 622
Wenn es nur die Antwort, die Spur, das Phänomen gibt, dann müssen
wir – erstens – einsehen, dass das Ereignis immer das Ereignis der
Spur ist. Wir haben diese These in der Herausarbeitung der Struk-
turen des Ereignisses bei Levinas entwickelt und sie bestätigt sich
auch hier: das Ereignis des Rufes ist das Ereignis der Antwort. Es gibt
keinen unerreichbaren Ruf, der sich als eine Sache, eine Aussage oder
wie auch immer ereignen würde. Er ist das Geschehnis der Antwort.
Aber – und das ist das Paradoxe hier – die Antwort ist immer eine
solche, als ob sie nicht das Letzte, das Ganze, das Einzige wäre. Sie als
Ereignis verweist immer auf eine Andersheit, auf etwas, was sie nicht
ist, sie gibt etwas Unbegreifliches. Mit anderen Worten: Es gibt kei-
nen Ruf vor der Antwort, er ist in der Antwort, aber er ist in der
Antwort und er ist in ihr, als ob es ihn schon immer gegeben hat, als
ob er vor der Antwort als das Erste vor ihr war. Wir müssen also
einsehen,
»dass sich der Ruf – phänomenologisch gesehen – nur dann gibt, wenn er
sich zuerst in einer Antwort zeigt. Die Antwort, die nach dem Ruf gegeben
wird, zeigt diesen gleichwohl als Erstes« (GS, 470/ED, 470).
Der Ruf ist der Antwort immanent und doch verweist sie auf ein
Anderswo. Wie Levinas dies beschreibt: Die Spur bedeutet nur sich
selbst, aber sie bedeutet auch das Andere. Dies ist ohne Zweifel eine
paradoxe Situation. Und dieses Paradox kann man nicht so auflösen,
dass man das Andere auf das Selbe reduziert, indem man sagt, dass
diese Andersheit nur als Andersheit erscheint, ist aber nur ein Kon-
622
Siehe auch: GS/ED, 472/395, 473/396, 503/422. Dass »der Anruf [erst] in der Ant-
wort verstehbar wird […],« hat schon Levinas behauptet. Marion zitiert Levinas dies-
bezüglich in: GS, 473/ED, 396.
409
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
strukt des Bewusstseins. Der Punkt ist, dass diese Andersheit nicht
nur ein Schein ist, sie ist nicht nur, »als ob« es sie gäbe. Sie kann nicht
auf das solipsistische Bewusstsein reduziert werden. Wenn die An-
dersheit auf das Bewusstsein reduzierbar wäre, hätte es dies schon
längst getan, und wir müssten hier nicht darüber noch etwas schrei-
ben. Die Andersheit wird nicht konstituiert, aber die Phänomenologie
macht auch keinen Schluss auf die ontologische Existenz dieser An-
dersheit. Obwohl man auch fragen könnte, ob die Weigerung, das
Konstituiert-Werden des Anderen anzuerkennen, nicht schon diese
ontologische Annahme enthält? Und wenn sie diese nicht enthält,
welchen Status hat dann das Andere überhaupt?
Wenn es nur die Antwort gibt, sodass der Ruf sich völlig entzie-
hen kann, müssen wir – zweitens – eingestehen, dass die Antwort nur
unsere Auslegung des Ereignisses ist. »Nur Auslegung« nicht im Sin-
ne einer Willkürlichkeit, sondern der Unmöglichkeit das Unbegreif-
liche zu begreifen, auch wenn es sich zeigt und auch wenn wir dem,
was sich zeigt, gehorsam folgen. Auch Levinas – wie wir gesehen
haben – hat die Schlussfolgerung gezogen, dass die Antwort nur
»mein eigenes Wort ist«. Und was auf den ersten Blick als die Schwä-
chung des Anspruches unserer Auslegung des Ereignisses aussieht,
ist eigentlich unsere Rettung vor uns selbst. Das Ereignis rettet uns
vor uns selbst, indem es alles Gegebene, das es hinterlässt, als etwas
von uns Geschaffenes aussehen lässt, während es selbst unbegreiflich
bleibt. Wenn das so nicht wäre, wenn wir den Anspruch auf die letzte
und richtige Auslegung des Ereignisses erheben könnten, da es doch
in der Tat sich selbst zeigt, würden wir damit, erstens, eine gefähr-
liche Ideologie erzeugen und, zweitens, uns von der Verantwortung
für die Worte und Taten innerhalb dieser Ideologie lösen. Weil aber
wir wissen, dass wir nichts wissen, sind wir vorsichtig, wenn wir eine
Behauptung aufstellen, wir wissen, dass wir immer selbst dafür ver-
antwortlich sind, was wir im Namen einer Offenbarung sagen oder
tun. Das Ereignis offenbart nie eine Ideologie und es sagt auch dies: Es
zeigt, dass es dies nicht macht. Und wenn jemand in seinen Worten
und Taten sich auf eine Offenbarung beruft, die ihn dies oder das
machen lässt, so beruft er sich nie auf eine Offenbarung, sondern
nur auf sich selbst. So kann er auch nicht die Verantwortung auf die
Offenbarung verschieben und sich durch sie rechtfertigen. Das Ereig-
nis nimmt dem Menschen die Verantwortung nicht ab, sondern för-
dert sie. Nicht die Offenbarung kann die Welt gefährden, sondern nur
die Menschen, die denken, dass sie die absolute Wahrheit erreicht
410
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
haben. Es ist genau das Ereignis, das die Möglichkeit gibt, sich vor den
falschen Offenbarungen zu retten, weil es die Freiheit von uns selbst
gibt, indem es immer das Andere irgendwo erahnen lässt. Das Ereig-
nis gibt nicht nur neue Möglichkeiten für die Welt, sondern, indem es
die Spuren hinterlässt, die allerdings nicht zu ihm führen, auch die
Freiheit der Möglichkeiten, die sich ihrerseits nicht in einer festen, in
einer für allemal bestimmten, unveränderlichen Ordnung des Gege-
benen (der Antwort) realisiert, sondern sich in der Geschichte der
verschiedenen Ordnungen erfüllt. Die Geschichte, die Veränderung
entsteht durch die Antwort auf das Ereignis, die sich ständig fortsetzt,
die sich immer korrigiert. Das Ereignis mit seinem Ruf, der eine sich
ständig ändernde Antwort fordert, gibt die Geschichte:
»Es [Responsum – L. P.] allein beginnt ja damit, das auszusagen, was der
Ruf verschweigt. Doch es vermag niemals, ihn abschließend auszusagen. So
eröffnet sich seine Geschichtlichkeit.« (GS, 498/ED, 417)
»Der Ruf geht dem Responsum voraus. Letzteres lässt nicht darin nach,
seine Verspätung einzusehen und auszufüllen durch die Vervielfältigung
seiner Antworten, in deren Abfolge sich nichts weniger als die dem Hinge-
gebenen eigene Geschichte auftut. Die Geschichte des Hingegebenen liegt
in der Summe der Antworten, die ihn dem Ruf zugleich annähern wie ihn
von ihm entfernen.« (GS, 486/ED, 407) 623
Das Ereignis gibt nicht eine Möglichkeit, sondern immer Möglich-
keiten, die sich in einer Geschichte einreihen. Und diese Geschichte
ist das Zeichen der Freiheit, dass das Ereignis mit sich bringt, indem
es als eine endlose Antwort eines unbegreiflichen Rufes strukturiert
ist. Diesen endlosen Prozess, in dem der gehorsame und passive adon-
né dem folgt (antwortet), was sich zeigt und doch uneinholbar ent-
zieht, nennt Marion »endlose Hermeneutik« 624. Sie vollzieht die vom
Ereignis gegebene Geschichte seiner von ihm eröffneten frei wähl-
baren Möglichkeiten, für die wir selbst die Verantwortung tragen,
623
Siehe auch: GS, 475/ED, 398, GS, 498/ED, 418.
624 Zur endlosen Hermeneutik siehe zum Beispiel: GS, 384/ED, 319; DS, 39, 155; EPh,
303/PhE, 324. Der Grund für die Endlosigkeit der Hermeneutik ist die Unbegreiflich-
keit des Ereignisses, die ihren Grund wiederum in der Saturierung findet: »Im Fall
eines gesättigten Phänomens überschreitet die Anschauung nämlich per definitionem
das, was eine Hermeneutik des Begriffs an Sinn beibringen kann, eine Hermeneutik,
die von einem endlichen Ich vollzogen wird, verfügt dieses (in seiner Begrifflichkeit,
Intentionalität, Bedeutung, Noesis etc.) doch stets über weniger gebbaren Sinn als er
von gegebener Anschauung verlangt wird.« (GS, 366/ED, 302 f) Siehe auch: EPh,
302 f/PhE, 324.
411
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
625 Die Stelle lautet: »Wieso sollte man auch nicht die Vermutung anstellen dürfen,
dass Gabe […], wenn sie denn einmal von ihren empirischen Auswüchsen gereinigt
ist, uns zumindest ansatzweise ein Modell für Gegebenheit liefern könnte […].« (GS,
140 f/ED, 108) Weil die Gabe ein Modell für das Gegebene überhaupt anbieten kann,
ist sie ein »vorrangig verstandenes Phänomen« (phénomène privilégié) (GS, 141/ED,
108).
626 Marion hat mehrere Texte zur Gabethematik verfasst. Die bedeutendsten davon
sind: Buch II in Étant donné – Le don – und Kapitel III und IV in Certitudes négatives
– L’inconditionné ou la force du don und L’inconditionné et les variations du don. Eine
besondere Beachtung verdienen auch: 1) Artikel La raison du don (Philosophie 78
(2003). Diese Abhandlung bildet später das dritte Kapitel von Certitudes négatives.
In deutscher Fassung ist sie, wie schon ausführlich erklärt, im Sammelband Gabe und
Gemeinwohl erschienen; 2) eine auf Englisch erschienene Sammlung von einigen
Texten Marions zur Gegebenheit und Gabe (entstanden um 2008) – The Reason of
the Gift (2011). Der letzte Beitrag in diesem Sammelband – Sketch of a Phenomeno-
logical Concept of Sacrifice – bildet in leicht veränderter Form die Paragraphen §§ 19–
21 (im Kapitel IV) von Certitudes négatives.
Übersetzt von Rolf Kühn ist auch § 24 aus Certitudes négatives in deutscher Sprache
zugänglich, und zwar zweimal: in Jean-Luc Marion: Studien zum Werk, hrsg. von
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz. Dresden: Text & Dialog, 2013, S. 35–46 und in Religio
412
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
und passio: Texte zur neueren französischen Religionsphilosophie, hrsg. von Rolf
Kühn. Würzburg: Echter, 2014, S. 300–312.
627
Zwar konnte man schon das Buch von Marion – Réduction et donation (1989) – als
den Ausgangpunkt dieser Diskussion setzen, aber Derrida bezieht sich in La fausse
monnaie auf dieses Werk nur in einer Fußnote (FG, 71Anm.23/FM, 71n.1), während
dem La fausse monnaie das ganze zweite Buch von Étant donné gewidmet ist. Genau
dieses Werk von Derrida löst eine Diskussionswelle über die Gabe aus – auch zwi-
schen ihm und Marion.
628 Die Vorträge und Diskussionen sind veröffentlicht in: Caputo, John D. und Scan-
irgend »etwas« [quelque »chose«] irgendeinem anderen geben, ansonsten bleibt »ge-
ben« bedeutungslos […].« (FG, 22) Im Original: »[P]our qu’il y ait don, événement de
don, il faut que quelqu’›un‹ donne quelque ›chose‹ à quelqu’un d’autre, sans quoi
›donner‹ ne voudra rien dire.« (FM, 24)
413
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
414
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
415
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
416
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
(und einen Namen, mit dem er dieses Leben anerkennt und beglau-
bigt)« (GG, 65/RdD, 21).
Während Derrida die Erscheinung der Gabe und die drei Bedin-
gungen der Gabe, die in dieser Erscheinung sichtbar werden, als die
Zerstörung der Gabe bestimmt, zeigt Marion, dass die Gabe erschei-
nen kann, aber sie muss mindestens eine von diesen Bedingungen
reduzieren. Die Erscheinung zerstört nicht die Gabe, sie wird sogar
von der Gabe vorausgesetzt. Die Gabe gibt es, sie entzieht sich dem
Kreislauf der Güter, wenn es keinen Geber, keinen Empfänger und
kein Objekt gibt. Diese Charakterisierung ist auf jedes Phänomen,
insofern es im Horizont der Gegebenheit beschrieben wird, übertrag-
bar, da auch die Gabe genau durch ihre Gegebenheit bestimmt wird
und in diesem Sinne wie jedes andere Phänomen erscheint. Dass das
Phänomen ohne Geber ist, haben wir schon gesehen – das Phänomen
wird nicht gegeben, es gibt sich selbst. Wir haben festgestellt, dass der
Empfänger nicht so leicht auszuschalten ist, da das Phänomen als
Phänomen per definitionem ein Bewusstsein voraussetzt. Es muss
ein Empfänger geben. Doch das Phänomen befreit sich von den
Schranken des Empfängers dadurch, dass es immer mehr gibt, als
der Empfänger empfangen kann. Dieser Rest bleibt gegeben, aber
nicht empfangen. Er ist folglich die Gabe außerhalb der Ökonomie.
Schließlich ist das Phänomen, insofern es im Horizont der Gegeben-
heit erscheint, kein Objekt – das, was sich gibt und zeigt, ist nicht ein
bestimmtes Etwas, es überschreitet die Grenzen eines durch einen
Begriff konstituierten Objekts:
»Gesättigte Phänomene weigern sich, sich als Gegenstände beobachten zu
lassen, eben weil sie mit einem vielfachen und unbeschreiblichen Über-
schuss erscheinen, der jede Konstitutionsbemühung zunichte macht. Ein
gesättigtes Phänomen ist als ein ungegenständliches oder besser: als ein
nicht zu vergegenständlichendes Phänomen zu bestimmen.« (GS, 361/
ED, 298 f)
Achten wir darauf, dass die Nicht-Objektivität des Phänomens nicht
seine Nicht-Erscheinung bedeutet. Das Phänomen wird vom passiven
adonné empfangen und sichtbar gemacht, obwohl nicht konstituiert
und somit völlig beherrscht – es bleibt immer ein unbeherrschbarer
exzessiver Rest an dem, was sich zeigt. Es ist aber interessant, dass in
seinen späteren Werken (zum Beispiel in De surcroît) Marion auch an
solchen Phänomenen arbeitet, die überhaupt nicht erscheinen. Es
geht um solche Phänomene, die weder Objekte noch exzessive und
417
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
418
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
nis (der Gabe) vernichtet. Es gibt die Gabe, es kann sie geben, aber nie
als ein Phänomen. Die Gabe duldet keine Phänomenalität. Es gibt
entweder das Ereignis oder die Erscheinung, aber nicht die Erschei-
nung des Ereignisses, und deswegen auch keine Phänomenologie des
Ereignisses. Oder noch genauer: Es kann sehr wohl eine Philosophie
bzw. eine Phänomenologie des Ereignisses geben, aber dann behaup-
tet sie das zu geben (nämliche eine Philosophie des Ereignisses), was
sie eigentlich nicht gibt und nicht geben kann:
»Man könnte so weit gehen zu sagen, daß selbst ein so monumentales Buch
wie der Essai sur le don von Marcel Mauss von allem möglichen spricht, nur
nicht von der Gabe […].« (FG, 37/FM, 39)
Mit anderen Worten: Mauss gibt uns ein Buch, von dem er behauptet,
dass es ein Buch von der Gabe ist, aber es ist kein Buch von der Gabe,
die es gibt, sondern nur vom Phänomen der Gabe, die keine Gabe ist.
Mauss gibt uns also Falschgeld und gibt es für wahres Geld aus. 633
Würde man verstehen, dass das Phänomen des Ereignisses nicht das
Ereignis ist, würde man verstehen, dass die Phänomenologie des Er-
eignisses Falschgeld ist, und wollte man kein Falschgeld dem Leser
geben, sollte man dieses Buch auch so benennen, nämlich »Falsch-
geld«:
»denn Falschgeld ist nur falsch, wenn es seinen Titel/Gehalt nicht angibt«
(FG, 117/FM, 114).
Wir sehen, dass Derrida sein Buch über die Gabe »Falschgeld« ge-
nannt hat, um zu zeigen, dass es kein Buch über das Ereignis (der
Gabe) ist, obwohl oder eher genau deswegen, weil es die Gabe behan-
delt. Das Ereignis ist für das Bewusstsein, für das Denken, für die
Behandlung »das Unmögliche« (l’impossible). (FG, 43/FM, 45) Das
Denken, dass das Unmögliche für das Denken zu denken versucht,
ist keine Phänomenologie, die das Phänomen des Unmöglichen be-
schreibt, weil die Phänomenologie das Unmögliche schon längt ver-
lassen hat.
Es ist bemerkenswert, wie sehr Marions Antwort auf Derrida
seine eigene Position ans Licht bringt. Während Derrida behauptet,
dass das Ereignis (der Gabe) in der Phänomenalität aufhört, so zu
sein, wie es sich gibt, ist für Marion die Phänomenalität die Bedin-
gung der Gabe. Wenn niemand um die Gabe weiß, wenn niemand sich
633
FG, 81 ff/FM, 81 ff.
419
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
ihrer bewusst ist, gibt es sie nicht. Diese Bedingung bleibt in Kraft
auch dann noch, wenn man die Reduktion vollzieht. Schaltet man
den Geber aus, so muss der Empfänger die Gabe bestätigen:
»Doch die Beschreibung des Gabe-Phänomens kann – da es hier der Geber
ist, der ausbleibt – nur vom Gabe-Empfänger aus, der die Rolle eines reinen
phänomenologischen Bewusstseins innehat, unternommen werden. […] So
erfüllt sich die Gabe selbst ohne Geber, da ihr Sich-Zeigen genügt, um sich
dem Gabe-Empfänger zu geben.« (GS, 187/ED, 146 f)
Schaltet man den Empfänger aus, so muss der Geber die Gabe identi-
fizieren:
»Dem Geber käme insofern zu, die Gabe ohne Gabe-Empfänger phäno-
menologisch zu bezeugen. […] Der Geber spielt dann […] die Rolle eines
Gabe-Empfängers, insofern sich Gabe just an ihn richtet, um erscheinen zu
können. So vollzieht sich die Gabe – selbst ohne Gabe-Empfänger –, genügt
es doch, dass sie sich gibt, um sich zu zeigen.« (GS, 173 f/ED, 135 f)
Es muss so sein, weil es die Gabe gibt, nur insofern sie bewusst ist –
sie ist dieses Bewusstsein. Deswegen ist auch eine Phänomenologie
der Gabe völlig möglich – sie formuliert bewusst das, was bewusst ist.
Sie vernichtet nichts, sie verliert nichts, sie gibt kein Falschgeld. Als
ein Text kann sie natürlich das Gegebene nicht so wiedergeben, wie es
sich gibt, aber dies stellt nur eine Verschiebung innerhalb des Be-
wusstseins dar. Es stellt nicht das Bewusstsein selbst in Frage, so wie
es Derrida macht. Gegen Derrida schreibt Marion, dass ein Denken
der Gabe, so, wie es von Mauss entwickelt wird, »legitim« bleibt,
genauso wie Derridas Versuch zum Falschgeld:
»Es ist weiterhin voll und ganz legitim, sowohl einen ›Versuch zur Gabe‹
anzustrengen (M. Mauss) als auch diesen formal zu kritisieren (J. Derri-
da) […].« (GS, 204/ED, 161)
Es ist keine Sache der Meinung, die man frei auswählen kann – es
geht um den philosophischen Status des Ereignisses. Ist es ein Phäno-
men oder nicht? Ist das, was geschieht, wenn es geschieht, das Be-
wusstsein davon, auch wenn kein gegenstandbezogenes Bewusstsein
da ist, wie das bei Marion der Fall ist? Sowohl für Levinas als auch für
Derrida ereignet sich das Ereignis außerhalb von dessen Bewusstwer-
dung. Es ist unmöglich für das Bewusstsein und Denken. Dies bedeu-
tet allerdings nicht, dass das Ereignis völlig ohne uns geschieht, dass
wir es nicht merken: Wir sind dabei, wir sind drin, mitten im Ereignis,
ohne dessen Manifestation im Bewusstsein. Es gibt das Ereignis, er-
420
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
421
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
III. UNTERWEGS ZU EINER
PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES:
Zusammenfassung und Ausblick
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
Wenn wir den zweiten Teil mit einem Zitat von Derrida abgeschlos-
sen haben, so heißt es nicht, dass wir ihm das letzte Wort über das
Ereignis überlassen. Dieses Zitat soll bloß den Übergang zu diesem –
dritten – Teil vorbereiten, in dem nach der philosophischen Bestim-
mung des Ereignisses gefragt wird. Wie müssen wir das Ereignis den-
ken? Die Auswahl der Möglichkeiten ist natürlich schon dadurch ein-
gegrenzt, dass wir ganz bestimmte Ereignisse (»Sachen«) behandeln,
nämlich solche, die einen Betroffenen haben. Heideggers Ereignis des
Seins ist ein Ereignis, das den Menschen ins Dasein verwandelt und
ihm eine bestimmte Geschichte eröffnet. Levinas’ Ereignis des Ande-
ren lässt dem Selben ursprünglich und radikal seinen ontologischen
Egoismus überwinden. Marions Ereignis lässt dem Empfänger das
Andere und sich selbst empfangen. Merleau-Pontys Wahrnehmung
als Begegnung mit der Welt, Derridas Gastfreundschaft, die Liebe bei
Badiou, Romanos trauriges Ereignis des Todes eines nächsten Men-
schen etc. – sie sind keine empirischen Ereignisse und deswegen kön-
nen sie nicht zum Gegenstand irgendwelcher Ontologie werden, die
ein in der Objektivität gesetztes und so vorausgesetztes Seiendes er-
forscht. Es geht hier um Ereignisse, die es nur insofern gibt, als je-
mand sie erfährt. Die Liebe kann nicht von außen beobachtet oder
begrifflich gesetzt werden – sie ist ausschließlich durch die Liebenden
da. Aus diesem Grund entsteht die Frage nach einer möglichen »Phä-
nomenologie des Ereignisses« – einer Beschreibung, die den Betrof-
fenen, der von einem Phänomen betroffen ist, – den Phänomeno-
logen selbst – hineinziehen und sich so der spekulativen Sachlichkeit
einer Ontologie entziehen würde. 634 Es scheint in der Tat, dass die
634 Dies ist in der Tat die erste Aufgabe, die Husserl der Phänomenologie aufträgt,
nämlich dass sie nicht mehr bloß etwas über etwas behauptet (weil es herkömmlich,
gängig, scheinbar »logisch« etc. ist), sondern versucht, alles Gesetzte und Voraus-
gesetzte zu veranschaulichen und auf diese Weise überprüft, die Spekulationen aus-
scheidet. In den Logischen Untersuchungen heißt es: »Also dieses Gegebensein der
logischen Ideen und der sich mit ihnen konstituierenden reinen Gesetze kann nicht
genügen. So erwächst die große Aufgabe, die logischen Ideen, die Begriffe und Geset-
ze, zu erkenntnistheoretischer Klarheit und Deutlichkeit zu bringen. / Und hier setzt
die phänomenologische Analyse ein. / Die logischen Begriffe als geltende Denkein-
heiten müssen ihren Ursprung in der Anschauung haben; […] Bedeutungen, die nur
von entfernten, verschwommenen, uneigentlichen Anschauungen – wenn überhaupt
von irgendwelchen – belebt sind, können uns nicht genug tun. Wir wollen auf die
›Sachen selbst‹ zurückgehen. An vollentwickelten Anschauungen wollen wir uns zur
425
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
Wir kennen Ereignisse – sie geschehen mit uns. Wenn wir über sie
nachdenken, stellen wir fest, dass wir es in Bezug auf sie nicht mit
einer »klaren und deutlichen Idee« zu tun haben. Das Ereignis ist
nicht ein Etwas, das wir als etwas Bestimmtes mit den Händen, Au-
gen oder Gedanken fassen könnten. In Bezug auf das Ereignis hat
man immer das Gefühl, dass man es nicht hat. Es ist wie im Traum,
wenn man irgendwohin gelangen muss, kommt aber immer anders-
wo an: Man wird aufgehalten, überall gibt es irgendwelche Hinder-
Evidenz bringen, dies hier in aktuell vollzogener Abstraktion Gegebene sei wahrhaft
und wirklich das, was die Wortbedeutungen im Gesetzesausdruck meinen […].« (Hua
XIX/1, 9 f) Etwas zu veranschaulichen kann aber nur der jeweilige Denker. Also nur
durch das Hineinziehen des Phänomenologen können die »Sachen selbst« beginnen
zu sprechen. Was ist Brot? Es ist kein Lebensmittel mehr – es ist das Stillen des
Hungers (Levinas). Was ist die Zeit? Sie ist keine Folge von Jetzt-Punkten mehr,
sondern das Verstehen des Todes (Heidegger). Was ist die Welt? Nicht mehr die ob-
jektive Anwesenheit, sondern das, worin wir hineingeboren sind, worin wir philoso-
phieren und worin wir sterben (Husserl, Merleau-Ponty).
635
Viele von in diesem Kapitel angeführten Zitaten sind bereits im vorherigen Text
dieser Arbeit zitiert. Wir führen sie aber noch einmal mit der Quellenangabe an,
damit dieses Kapitel auch separat vom übrigen Text gelesen werden könnte.
426
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
nisse, hinter der richtigen Tür liegt ein falsches Zimmer etc. Es ist wie
in Kafkas Werk Das Schloss. »Seyn ist niemals Objekt und Gegen-
stand, Vor-stellbares,« (BPh, 252) hat Heidegger über das Sein als
Ereignis gesagt. Vom Anderen als Ereignis hat Levinas behauptet:
»Es entgeht der Vorstellung. Das Gesicht ist gerade das Ausbleiben
der Phänomenalität.« (JS, 199/AQE, 112) Zu dieser Zeit, d. h. zur Zeit
der Beiträge, vermeidet Heidegger schon längst die phänomenologi-
sche Terminologie, die Levinas hier bedient, beide sprechen aber von
der Vorstellung: Vor-stellung, Sich-etwas-vor-Augen-Stellen, Sich-
etwas-vor-Augen-anwesen-Lassen, représentation, Vergegenwärti-
gung, Sich-etwas-vor-Augen-wieder-anwesen-Lassen. Wenn etwas
vor Augen – vor meinen Augen – ist, ist es eine Erscheinung, die
mich betrifft; es ist ein Phänomen, das meins ist. Wenn aber im Er-
eignis nichts vorgestellt wird, gibt es auch keine Phänomene, also
nichts; nichts, von dem man noch (phänomenologisch) sprechen
könnte. Nun es ist nicht wahr, dass im Falle eines Ereignisses nichts
erscheint. So haben das sowohl Heidegger als auch Levinas gesehen –
schließlich tritt ja das Dasein ins Verhältnis zum Sein, das es gibt, und
das Selbe öffnet sich für den Anderen, dem es antwortet. Trotzdem
haben sie das Ereignis aus der Phänomenalität ausgeschlossen. Wir
werden gleich sehen, warum das Ereignis trotz der Erscheinungen,
die in ihm auftreten, selbst kein Phänomen ist. Aber man kann natür-
lich auch anders denken: Wenn es nicht stimmt, dass im Ereignis
nichts erscheint, fordert es schlicht eine andere Phänomenologie: eine
Phänomenologie, die nicht auf die Gegenstände fixiert ist, sondern
solche Phänomene beschreibt, die nicht ein Etwas sind. Das ist die
Idee des »gesättigten Phänomens«, die Marion anbietet. Die Ereignis-
se können als Phänomene beschrieben werden, »bei denen die An-
schauung mehr, ja unermesslich mehr geben würde als das, was die
Intention jemals angezielt oder vorhergesehen hätte« (GS, 336/ED,
277). Die Idee des gesättigten Phänomens sagt genau, dass mir zwar
etwas erscheint, aber es ist unmöglich zu wissen, was es ist: Ich kann
es nicht begreifen, d. h. auf einen Gegenstand hin durchleuchten.
Man könnte jetzt denken, dass wir vor folgender Alternative
stehen: Entweder sagen wir, dass, wenn das Ereignis nicht als etwas
erscheint, es kein Phänomen ist und von der Phänomenologie nicht
behandelt werden kann (Heidegger, Levinas), oder wir sagen, dass es
dann ein andersartiges Phänomen (ein »gesättigtes Phänomen«) ist
und zum Thema der Phänomenologie werden kann, sie muss aber
entsprechend modifiziert werden (wie sie zum Beispiel von Marion
427
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
428
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
636
In der Tat ist das die Antwort Marions auf Derrida: »Denn er [Derrida – L. P.]
denkt zumindest implizit, dass es, wenn es keine Anschauung mehr gäbe, auch keine
Phänomenalität mehr gäbe. Die grundlegende These Derridas ist das grundsätzliche
Fehlen der Anschauung. Es gibt nur das Anzeichen, die Spur etc., aber nicht die An-
wesenheit. Und wenn es keine Anwesenheit, das heißt für ihn, wenn es keine An-
schauung gibt, gibt es auch kein Phänomen mehr. Dies ist ohne Zweifel ein Fehler,
denn die Phänomenalität bewirkt weder die Anschauung noch die Ontologie, sondern
die Gegebenheit (donation). Nun sind das Anzeichen und die Spur auch gegeben.
Husserl hat übrigens gesagt, dass die Sinngebung auch ohne Anschauung noch die
Gegebenheit ist. Die Gegebenheit bleibt also gültig, auch nach der Dekonstruktion.
[…] Wenn es Gegebenheit gibt, dann auch Phänomenalität.« (RuG, 47 f) Derrida –
wie Marion ihn hier auslegt – denkt, dass, wenn nichts erscheint (in der Präsenz des
Bewusstseins), dann gibt es nichts – keine Gegebenheit, keine Phänomenalität. Er sagt
aber: Es kann sein, dass nichts erscheint, aber es gibt es trotzdem und zwar als ein
Phänomen. Doch dabei übersieht Marion die weitere Argumentation von Derrida: Es
kann sein, dass etwas nicht erscheint und es trotzdem gibt, aber diese Gegebenheit
kann nie ins Schema »Bewusstsein-Phänomenalität« (wie auch immer es verstanden
wird) hineingezwungen werden – sie ist radikal anders. Dies bildet den Kern von
Derridas Kritik an die Phänomenologie.
429
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
430
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
431
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
erfahrbar noch denkbar, noch erinnerbar ist, sondern mit der Subjek-
tivität geschieht. 637
Ist das Ereignis das Sich-Ereignen (Anfangen) und das, was sich
ereignet, so akzentuiert Heidegger mehr den ersten Aspekt. Für ihn
steht die Frage nach dem Anfang, dem Untergang und der Geschichte
des Entzuges des Anfanges im Zentrum seiner Überlegungen. Auch
Levinas (und noch radikaler Derrida) betonen den Uneinholbarkeits-,
d. h. Unerfahrbarkeits- und Undenkbarkeitscharakter des Ereignisses.
Marion setzt sich dagegen eher mit der Problematik des im Ereignis
Erscheinenden auseinander: mit dem gesättigten Phänomen. Aber
auch für ihn erschöpft sich das Ereignis nicht in seinem Phänomen –
auch dann nicht, wenn dieses Phänomen als unbegreiflich gilt. Es gibt
für Marion das Ereignis – das Gegebene, das gesättigte Phänomen –
und die Gegebenheit, die als »Anbruchsgeschehen« (GS, 124/ED, 96)
des Gegebenen verstanden wird. Die Gegebenheit: »Nicht besteht sie,
nicht dauert sie an, nicht zeigt sie sich oder lässt sie sich sehen.« (GS,
637 Dominique Janicaud bemerkt auch dieses duale Verhältnis Levinas’ zur Phänome-
nologie, wenn er schreibt: »Doch wir wollen gerade zeigen, dass die Phänomenologie
bei Levinas gleichzeitig zurückgewiesen und verwendet wird […].« (Janicaud(1991),
55 f) Aber warum ist es so? Unsere Antwort ist, dass dies dem Denken des Ereignisses
entspricht. Man denkt ausgehend von der Erfahrung (ohne metaphysische Spekula-
tionen), stellt aber fest, dass nicht alles auf eine Erfahrung reduziert werden kann,
obwohl es immer noch Erfahrungen gibt, die beschrieben werden können. Janicaud
scheint dies nicht zu sehen. Deswegen wirft er Levinas vor, dass er »der ontologischen
Phänomenalität Gewalt antut«, »die Erfahrung manipulier[t]« (Janicaud(1991), 56).
Aber was bedeutet ein solcher Vorwurf? Nun, dass Levinas behauptet, er hat etwas
erfahren, was er eigentlich nicht erfahren hat, nämlich Gott. Aber woher kann Jani-
caud wissen, dass Levinas Gott nicht erfahren hat? Weil es ihn nicht gibt? Das ist eine
ontologische Annahme, die in der Phänomenologie nichts zu suchen hat. Janicaud
selbst will hier die phänomenologische Wirklichkeit manipulieren, indem er sie mit
seinen ontologischen Vor-entscheidungen vor-bearbeitet. Levinas darf (und sogar
muss) alle seine Erfahrungen, die er hat, beschreiben. Aber darum geht es überhaupt
nicht. Es geht darum, dass Levinas etwas Unerfahrbares behauptet. Damit tut er dem
Phänomenalen keine Gewalt an – damit sagt er, dass das Phänomenale dieser »Sache«
Gewalt antut. Tut man dem Phänomenalen Gewalt an, wenn man eine Sache behaup-
tet, der die Phänomenalität Gewalt antut? Das ist eine sehr wichtige Frage. Eine solche
Behauptung stellt auf keinen Fall eine Manipulation der Erfahrung dar. Stellt sie
vielleicht eine metaphysische Spekulation dar, was in der Tat der Verrat an die Phä-
nomenologie wäre? Man kann sie in der Tat als Verrat an die Phänomenologie sehen,
aber entspringt sie einer ontologischen Spekulation? Nein, weil sie aus der phäno-
menologischen Erfahrung folgt. Mehr noch: Wenn sich eine Sache dem Phänomeno-
logen so zeigen würde, dass sie sich nicht phänomenalisieren lässt, wäre die Leugnung
dieser »Sache« Verrat an die Phänomenologie.
432
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
116/ED, 90) Die Gegebenheit zeigt sich nicht, ist immer schon ver-
gangen, ohne zu erscheinen. Wir kommen immer mit »Verspätung«
(CN, 249) zu ihr. Es bleibt allerdings fraglich, ob dieses Ereignis der
Gegebenheit – im Vergleich zum Anfang bei Heidegger und zur Be-
ziehung zum Anderen in der Philosophie Levinas’ – nicht der phäno-
menologischen Idee von einer Gegebenheit für das Bewusstsein allzu
verhaftet bleibt. Wir könnten in der Tat die Gegebenheit als den Pro-
zess der Erscheinung eines Erscheinenden denken. 638 In diesem Falle
wäre sie immer noch als ein Phänomen (Marion hat in der Tat in
einem Seminar behauptet, dass die Erscheinung selbst erscheint)
und nicht als das Ereignis in radikalem Sinne denkbar, nämlich als
das, was die Gegenbenheit-Empfänger-Struktur auflöst.
638 Wir weisen hier noch einmal auf Dieter Merschs Buch Was sich zeigt: Materiali-
tät, Präsenz, Ereignis hin.
433
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
erfahrbarkeit befragt, weil nur ein solches Denken das eigentlich Er-
eignishafte denkt, nämlich seinen Charakter des unwiderruflichen
Vergehens, der das Ereignis jeder Ontologie entzieht. Hat man da-
gegen mit dem Unsichtbaren als unvollständig oder übermäßig Sicht-
baren zu tun, gibt es kein Geschehen mehr – es handelt sich dann um
eine Ontologie bzw. phänomenologische Ontologie zweier »Sachen«,
nämlich einer sichtbaren und einer unsichtbaren.
Wenn Heidegger von der Spur spricht, dann geht es um die Spur
eines geschichtlich uneinholbaren Anfangs, also nicht um ein Etwas,
das eine Spur hinterlässt, sondern um »das Spurlose« (B, 202) –
nichts führt zu ihm zurück. Wenn doch von einer Spur die Rede sein
kann, dann nur so, dass sie auf das zurückführt, was seine Uneinhol-
barkeit, Verweigerung zeigt – sie ist eine »Spur der Verweigerung«
(GdS, 53), eine Spur, die die Verweigerung zeigt. So ist für Heidegger
das Zeitalter der totalen Seinsvergessenheit – der Machenschaft – ein
Hinweis darauf, dass das Ereignis an sich der Entzug ist. Wäre es kein
Entzug, gäbe es keine Seinsvergessenheit. Auch Derrida versteht die
Spur genauso radikal – das, was eine Spur hinterlässt, ist so absolut
entzogen, dass, wenn man auf den Gedanken kommt, das zu denken,
was die Spur hinterlassen hat, man diesen Gedanken selbst als eine
Spur, eine »Urspur« deuten muss. Alles ist Spur. In diesem Sinne
kann es gar nicht darum gehen, dass wir die Spur, das Verhältnis von
der Spur und dem, was sie hinterlässt, denken, weil wir selbst die
Spur sind. Wir sind in der Spur, wir können nicht ihr gegenüber ste-
hen, um sie zu denken. Zusammenfassend: In Bezug auf das Ereignis-
denken Heideggers kann man behaupten, dass das, was es gibt, die
Spur des anfänglichen Ereignisses ist, aber das ist die Spur eines Spur-
losen – das Ereignis selbst hat mit diesen Gegebenheiten nichts zu
tun, weil es einfach völlig anders ist als sie, weil es unerfahrbar und
undenkbar ist. Es ist weder sichtbar noch unsichtbar, es ist jenseits
dieser Gegenüberstellung. Eher ist diese Gegenüberstellung die Spur
des Ereignisses.
Die Rede Levinas’ von der Spur ist anders. »Eine Spur, die als
Gesicht des Nächsten leuchtet« ist die Spur »des Unsichtbaren« (JS,
44/AQE, 14). Natürlich erscheint das Unsichtbare nie und die Spur
führt auch nicht zu ihm, aber es hinterlässt die Spur. Damit wird eine
Setzung von etwas gemacht, das es gibt und das die Spur hinterlässt.
Wir haben also mit etwas zu tun, das seiend ist, und nicht mit der
Gegebenheit, Anfang, Ereignis. Wir werden in der Tat sehen, dass
nicht der Diskurs über das Unsichtbare und das Antlitz denjenigen
434
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
Das Sichtbare des Ereignisses ist seine Spur, seine Geschichte. Wir
leben in einer Sichtbarkeit, die ihren Anfang in einem Ereignis hat.
Und umgekehrt: Jedes Ereignis hat wesentlich eine Geschichte. Ins-
besondere Heidegger hat dieser Struktur des Ereignisses Aufmerk-
samkeit geschenkt, wir finden sie aber auch in Marions, Badious,
Romanos Philosophie, weniger bei Levinas, obwohl sein Konzept der
ethischen Begegnung mit dem Anderen als die Eröffnung der Ge-
schichte der Moralität (d. h. der Menschlichkeit überhaupt) betrachtet
werden kann.
So ist für Heidegger das Ereignis das, »dem jede künftige Ge-
schichte entspringt« (BPh, 23). Da das Ereignis an sich zweideutig ist
und sowohl der Anfang als auch der Anfangende ist, kann man auch
sagen, dass es die »ursprüngliche Geschichte selbst« (BPh, 32) ist. Das
Ereignis ist die Geschichte. Das ist keine Definition des Ereignisses,
sondern der Aufweis einer seiner wesentlichen Strukturen, nämlich,
dass es sich als die Sichtbarkeit entfaltet. Diese Entfaltung geschieht
435
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
436
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
logische Annahme reduziert bzw. weil das Phänomen selbst die Kau-
salität reduziert hat; andernmal, weil die Kausalbeziehungen onto-
logisch unaufklärbar sind. Aber wenn die Erfahrung der Geschichte
stets die Erfahrung der Unbegreiflichkeit und Unerklärlichkeit ist,
kann man noch nicht daraus schließen, dass es die Unbegreiflichkeit
und Unerklärlichkeit, d. h. das Ereignis gibt. Doch eine solche Schluss-
folgerung in der spekulativen Vernunft wird auch nicht beabsichtigt:
Es ist gegen die phänomenologische Einstellung, solche ontologi-
schen Urteile zu fallen, da sie gerade darin besteht, sich von solchen
Urteilen zu enthalten. Die Phänomenologie behauptet nur, dass die
Erfahrung der Geschichte immer die Erfahrung der Unerklärlichkeit
ist und dass sie nur dadurch unterbrochen sein kann, dass man eine
ontologische Annahme macht und behauptet, dass es Kausalität gibt.
Es scheint, dass Marion genau dies sagen will, wenn er darauf hin-
weist, dass die Metaphysik überall Ursachen und Wirkungen sieht,
während die phänomenologische Erfahrung zeigt, dass das Gegebene
sich ohne Ursache gibt: »Als gegebenes Phänomen hat ein Ereignis
keine adäquate Ursache, es kann keine solche haben.« (GS, 289 f/ED,
235) Damit ist gesagt: Insofern eine Gegebenheit die Betroffenheit
ist, insofern wir von ihr ausgehend von der Erfahrung sprechen,
bleibt sie ein Ereignis. Wir können diese Ereignishaftigkeit nur leug-
nen, indem wir die Einstellung ändern, nämlich zu einer naiv ontolo-
gischen. Aber ausgehend von der Erfahrung, in einer phänomenolo-
gischen Beschreibung, müssen wir sagen, dass jede Geschichte, jede
Sichtbarkeit, jede Erfahrbarkeit als ein Ereignis anfängt.
Heidegger – im Vergleich zu Marion – beginnt nicht mit der
Erfahrung des Ereignisses. Er kommt zum Ereignis als Anfang der
Geschichte durch den Versuch der Selbstbegründung der Philosophie.
In seiner Philosophie ist das Ereignis nicht von vornherein als ein
Phänomen gegeben, sondern eröffnet sich als »Abgrund« der Un-
möglichkeit der Letztbegründung der Philosophie. Warum gibt es
diese und jene philosophischen Konzepte und Thesen, wie kann ihre
Geltung begründet werden? Die Begründung kann nicht durch ande-
re Konzepte und Thesen erfolgen, weil diese wiederum einen Grund
verlangen. In seiner früheren Philosophie versucht Heidegger, die
Philosophie in das Leben, in die Lebensvollzüge zu begründen, die
nicht theoretisch sind, sondern sich selbst aufweisen und als solche
keinen Grund mehr benötigen. Sein und Zeit entwickelt dementspre-
chend eine existenzielle Analytik, die diese Seinsvollzüge des Daseins
aufdecken soll: diejenigen also, die eine wissenschaftliche oder phi-
437
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
639 Dies ist die Art und Weise, wie schon Husserl versucht hat, die Erkenntnis zu
begründen. Er hat die formale Ontologie (also Logik) als unfähig zur Letztbegrün-
dung disqualifiziert, weil sie naiv mit irgendwelchen (und das heißt: spekulativen und
dogmatischen) Gegebenheiten arbeitet. Die phänomenologische Reduktion soll die
Rückbeziehung aller Gegebenheiten auf den Phänomenologen selbst leisten, so die
Erkenntnis durchleuchten und damit begründen. Zu begründen heißt, sich selbst zu
sehen: als denjenigen, der begründet, der lebt, denkt und stirbt. Das ist in der Tat eine
sehr merkwürdige Strategie der Begründung, aber sie ist genau diejenige, die Husserl
und Heidegger vertreten und als radikal kritisch gegenüber der Naivität der For-
438
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
schung eingestuft haben. Worin liegt der Unterschied zwischen den Ansätzen von
Husserl und Heidegger? Zuerst (vor Sein und Zeit) begründet Heidegger die Erkennt-
nis genauso wie Husserl in den Logischen Untersuchungen, nämlich im Erlebnis: die
Erkenntnis zu begründen heißt, das Erlebnis des Erkennens durchzuleuchten. Danach
scheiden sich ihre Wege: Während für Heidegger die Begründung der Erkenntnis
darin besteht, zu zeigen, wie das Erkennen im Leben, im Sein des Daseins ist, und
während sie für Heidegger als eine Fundamentalontologie im Sinne von Sein und Zeit
durchgeführt wird, radikalisiert Husserl das Hineinziehen des Fragenden selbst in die
Begründung und formuliert in Ideen I die transzendentale Phänomenologie aus, die
das Durchleuchten des Phänomenologen realisiert, indem sie ihn als die alles konsti-
tuierende Subjektivität bestimmt: Zu begründen heißt, zu verstehen, dass ich derje-
nige bin, der erkennt und begründet. Aber beide Denker ändern später wiederum ihre
Positionen. Heidegger gibt die Fundamentalontologie auf: Sie kann zwar zeigen, dass
und wie die Erkenntnis im Leben eingebunden ist, aber sie kann nicht zeigen, woher
sie selbst kommt, warum sie plötzlich auftaucht. So kommt er in den Beiträgen zum
Ereignisdenken: Der letzte Grund ist ein geschichtlicher Abgrund. Husserl versucht
in seinem Krisis-Werk, die Abgründigkeit zu vermeiden, indem er zeigt, wie die Wis-
senschaftlichkeit ganz »normal« aus der Lebenswelt hervorgeht und in ihr integriert
bleibt. Der letzte Grund ist also auch für Husserl geschichtlich, aber auf keinen Fall
abgründig. Außerdem gibt er seine transzendentalphilosophische Einstellung nicht
auf: Zu begründen heißt immer noch, sich selbst als den alles Leistenden anzuerken-
nen: »Das natürliche Leben ist, ob vorwissenschaftlich oder wissenschaftlich, ob theo-
retisch oder praktisch interessiert, Leben in einem universalen unthematischen Hori-
zont. Das ist in der Natürlichkeit eben die immerfort als das Seiende vorgegebene
Welt. So dahinlebend braucht man nicht das Wort »vorgegeben«, es bedarf keines
Hinweises darauf, daß die Welt für uns ständig Wirklichkeit ist.« (Hua VI, 148) »An-
statt aber in dieser Weise des ›schlicht in die Welt Hineinlebens‹ zu verbleiben, ver-
suchen wir hier eine universale Interessenwendung, in welcher eben das neue Wort
›Vorgegebensein‹ der Welt notwendig wird, weil es das Titelwort für diese anders
gerichtete und doch wieder universale Thematik der Vorgegebenheitsweisen ist.
Nämlich nichts anderes soll uns interessieren als eben jener subjektive Wandel der
Gegebenheitsweisen, der Erscheinungsweisen, der einwohnenden Geltungsmodi,
welcher, ständig verlaufend, unaufhörlich im Dahinströmen sich synthetisch verbin-
dend, das einheitliche Bewußtsein des schlichten ›Seins‹ der Welt zustande bringt.«
(Hua VI, 149) Während also die erkennenden Wissenschaften in der vorgegebenen
Welt leben, weist die Phänomenologie diese Welt und die Seinsweise in ihr auf, aber
sie fragt immer noch nach dem Bewusstsein, die diese Welt konstituiert. Die Erkennt-
nis ist also immer noch in der Subjektivität begründet: Ich erkenne, weil ich erkenne.
Für Heidegger gilt dagegen: Ich kann erkennen, weil ich zum Erkennenden geworden
bin. Am Anfang steht der Moment, in dem ich erkennend werde: Ich darf die Erkennt-
nis nicht naiv als schon seiend voraussetzen.
439
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
der dritten Reduktion und der Banalität der Sättigung gesehen – wir
können theoretisch alle Gegebenheiten als Ereignisse sehen, aber in
vielen Fällen entspräche dies nicht der phänomenologischen Erfah-
rung. Manches zeigt sich nämlich nicht auf Anhieb als ereignishaft.
Und mit der Behauptung, dass alles ereignishaft ist, machen wir nicht
nur eine naiv-dogmatische Aussage, sondern nivellieren die Ereignis-
haftigkeit auf bloße Normalität, wenn sie doch genau das ist, was
unvorhersehbar die Normalität unterbricht.
440
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
Die Philosophie des Ereignisses ist immer auch eine Philosophie des
Anderen. Weil das einzige, was einbrechen und etwas Neues mit sich
bringen kann, das Andere ist. Und umgekehrt: Das Andere kann nicht
anders kommen als durch einen gewaltigen Einbruch, der alles ver-
ändert. Heidegger hat sich gewundert: »Befremdlich muß es langehin
sein, daß Ereignis und Anfang innig dasselbe ›sind‹.« (E, 227) Warum
ist es also so, dass das Sein als Ereignis, das mit uns geschieht, auch
441
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
der Anfang ist, der einbricht? Weil es das Andere unseres alltäglichen
Lebens ist. So hat Levinas festgestellt: »Die Bewegung der Begegnung
tritt nicht zu dem unbeweglichen Antlitz hinzu. Diese Bewegung ist
in diesem Antlitz selbst. Das Antlitz ist durch sich selbst Heim-
suchung und Transzendenz.« (SA, 235/DEHH, 282) Ist das Ereignis
das Andere, das uns heimsucht, werden wir durch es in die Passivität
des Empfangens gesetzt.
Wir können das Andere als das verstehen, was das Ich (oder wie
Levinas sagt: das Selbe) nicht ist, und dies im weiten Sinne des Wortes:
Das Andere gehört mir nicht, steht nicht in meiner Macht, es ist an sich
und hat die Macht, auf mich zu kommen, mich erleiden zu lassen, mich
zu verändern. In diesem Sinne gibt es das Andere überall. Es wäre
sogar schwer zu sagen, wo ich bin, wenn es das Andere gibt. Andere
Menschen, deren inneres Leben mir unzugänglich ist, auf deren Ge-
danken, Verhalten und Handlungen ich kaum Einfluss nehmen kann.
Der andere Mensch ist stets eine Quelle der Überraschungen. Nie-
mand hat so viel darüber nachgedacht wie Levinas. Aber genauso auch
die Dinge der Welt: Ich kann aktiv eine Tür auf- und zumachen, aber
sie ist genauso an sich mit ihrer meist viereckigen Form, die ich nicht
ausgedacht habe, die eher auf mich aus einer Vergangenheit noch
längst vor meiner Geburt kommt und mich lehrt, wie ich sie bedienen
muss. Sie lässt mir ihre Farbe, ihren Duft, ihr Material erleiden. Nie-
mand hat dies so intensiv gespürt wie Merleau-Ponty. Ich kann selbst-
bewusst die Straße entlang gehen und meine eigenen Ziele verfolgen,
aber ich kann genauso von einer glatten Straße ins Fallen gebracht
werden und mit einem gebrochenen Bein ins Krankenhaus kommen,
was überhaupt nicht mein Ziel war. Sogar mein Leib ist ein Anderes: Er
führt sein eigenes Leben, er funktioniert, veraltet und stirbt ohne mei-
ne Teilnahme. Kann ich zumindest in meinem inneren Leben – in mei-
nen Gefühlen und Gedanken – unbeeinflusst vom Anderen sein? Seit
Marx, Nietzsche, Freud u. a. wissen wir, dass sogar das, was wir fühlen,
wollen, denken, das, wie wir sprechen und urteilen, von etwas anderem
als und selbst bedingt ist. Das 20. und beginnende 21. Jahrhundert
stellt das Subjekt als grundsätzlich bedingt, passiv, dem Anderen aus-
gesetzt dar. »Das Subjekt ist tot,« sagt Foucault und die Postmoderne
im Allgemeinen. Es gibt nichts, was noch das Ich wäre. Interessanter-
weise gibt die Phänomenologie das Ich nicht auf, und dies völlig be-
rechtigt. Für die Phänomenologie bedeutet diese Ausgesetztheit dem
Anderen gegenüber auf keinen Fall den Tod des Ich, weil es offensicht-
lich ist, dass jemand erleidet. Das Ich ist dasjenige, das seine eigene
442
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
443
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
der Anfang dieses Verhältnisses und zu diesem Anfang hat das Dasein
kein Verhältnis: Der Anfang ist das Andere anders als das Sein ein
Anderes ist. Levinas unterscheidet die Beziehung zum Anderen und
den Anderen. Der Andere erschöpft sich nicht in der Sichtbarkeit,
sondern trägt in sich die Spur des Unsichtbaren, die das Selbe ver-
suchen kann, zu verstehen. Aber die Beziehung zum Anderen, die
Nähe zum Anderen ist nicht der Andere, sondern eine Andersheit
für das Denken. Marions gesättigtes Phänomen ist das, was mir ge-
genüberstehen kann, was ich, obwohl erfolglos, versuchen kann zu
begreifen. Aber die Gegebenheit ist das Andere für die Vergegenwär-
tigung im Denken, sie ist schon immer vergangen und kann nicht
zum Thema der Auslegung werden.
Wir wollen hier behaupten, dass das Ereignis dort gedacht wird,
wo nicht nur ein Verhältnis zum Anderen behauptet wird, sondern
auch der Einbruch der Möglichkeit dieses Verhältnisses, das anders
als das Andere für das Ich gedacht werden muss, nämlich als das An-
dere des Erfahrens und des Denkens. Ohne die Frage nach diesem
unerfahrbaren Einbruch verfehlt eine Philosophie genau das Ereig-
nishafte, bleibt bei einem Etwas – wenn es auch unbestimmt bleiben
soll – und kann sich nicht eine Philosophie des Ereignisses nennen.
Wir fassen diese Strukturen der Logik des Ereignisses, des Wie seines
Geschehens als etwas Gemeinsames für diese drei – aber auch für
andere – Ereignisdenker. Man könnte fragen, warum wir zu den Cha-
444
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
Wir sprechen also vom Ereignis, insofern es uns erreicht hat: Es ge-
schieht mit uns. Wir haben eine Erfahrung von ihm und wir fragen,
wie wir es erfahren, was wir erfahren etc. Und wenn wir so fragen,
dann stellen wir fest: Es ist etwas Neues (eine neue Idee, Liebe,
640 In der Tat: Wir haben uns zusammen mit Levinas (und Heidegger) »zum Geiste
der Husserlschen Philosophie« bekannt und sind bei der Behandlung des Ereignisses
stets von unserer eignen Erfahrung ausgegangen. Aber wir taten dies nicht aus einem
willkürlichen Grund, sondern, weil wir uns zur Husserl’schen Phänomenologie noch
in einem zweiten Sinne bekennen, nämlich zu seiner Idee der Selbstbegründung der
Philosophie. Wir denken, dass es unmöglich und vor allem äußerst gefährlich ist,
nicht aus eigener Erfahrung zu sprechen und alle Aussagen als Aussagen eigener sub-
jektiver Leistung zu sehen. Denn: In demjenigen Moment, wo ich etwas behaupte,
was ich selbst nicht veranschaulichen kann, und in demjenigen Moment, wo ich mei-
nen Aussagen eine andere als meine erbärmliche und subjektive Autorität gebe, er-
laube ich mir alles, völlig alles, zu sagen und so die schrecklichsten Spekulationen des
Denkens zu verbreiten. Man könnte es kritisches Denken nennen, das Problem dabei
ist nur, dass sich das sog. kritische Denken auf eine Idee der Rationalität (wie auch
immer sie verstanden wird) beruht, aber wie viele schreckliche Sachen sind schon
unter dem Namen der Rationalität und Logik gedacht und getan worden! Die Logik
– wie Husserl gezeigt hat – ist selbst naiv, sie kann nichts begründen. Nur wer alle
Erkenntnisse auf die Jemeinigkeit reduziert, kann hoffen, keine Ontologie zu betrei-
ben: »Es gilt nicht, Objektivität zu sichern, sondern sie zu verstehen. Man muß end-
lich einsehen, daß keine noch so exakte objektive Wissenschaft irgend etwas ernstlich
erklärt oder je erklären kann. Deduzieren ist nicht Erklären. […] Das einzig wirkliche
Erklären ist: transzendental verständlich machen.« (Hua VI, 193) Aber: Jedes gesagte
Wort als entstammend zu sehen, heißt das Ereignis zu denken.
445
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
641 In diesem Sinne kann man dieses Zitat auch als Heideggers Beschreibung seiner
eigenen Philosophie sehen, wie dies zum Beispiel Güter Figal tut, der der Auffassung
ist, dass Heideggers Denken durchgehend phänomenologisch bleibt: »Heideggers
Denken ist wesentlich phänomenologisch.« (Figal(2009), 22) In der Tat ist sein Den-
ken phänomenologisch, weil alles Denken phänomenologisch ist, was aber nicht heißt,
dass das Gedachte immer ein Phänomen ist. Und das zu verstehen, heißt außerhalb
der Phänomenologie zu sein (zu sein, nicht aber nicht mehr phänomenologisch zu
denken). Ein solches Verstehen ist aber auch keine Ontologie – es ist richtig, »daß
Heidegger sich schließlich von der Ontologie abkehrt« (Figal(2009), 22). Es ist auch
446
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
keine ontische Situation, es ist – wie wir später sehen werden – die Zugehörigkeit zum
Ereignis als Verhältnis zum Anfang des Denkens. In diesem Sinne ist das Denken
Heideggers seit seinem Ereignisdenken weder phänomenologisch noch ontologisch,
sondern zugehörig.
642
Mindestens seit Dominique Janicauds bekanntem Buch Le tournant théologique
de la phénoménologie française (1991) wird die gegenwärtige (französische) Phäno-
menologie als die »Phänomenologie des Unscheinbaren« verstanden.
447
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
ben und zeigen, leugnen würde, wenn sie mit Absicht – aus Angst
oder Scham – diese Sachen anders darstellen würde, als sie sich zei-
gen, wenn sie nicht versuchen würde, diesen Sachen zu entsprechen?
Wäre das noch Weisheitsliebe? 643
Das Ereignis ist eine Sache des Denkens und, insofern wir uns
strikt von jeden ontologischen Spekulationen abgrenzen, es ist eine
Sache der Phänomenologie – wir beschreiben, was sich mit uns ereig-
net, wenn es auch etwas Unbegreifliches ist. Wenn das Ereignis eine
Sache der Phänomenologie ist, ist es ein Phänomen. Und in diesem
Moment stoßen wir auf riesige Schwierigkeiten. In der Tat gilt das
Ereignis im aktuellen Ereignisdenken – zum Beispiel im Denken
Marions oder Romanos – als Phänomen. Und nicht nur – was sehr
wichtig ist – für die Phänomenologie stellt das Ereignis ein Phänomen
dar, sondern auch für den Betroffenen selbst. 644 Heidegger (noch
nicht in Sein und Zeit und auch später nicht explizit), Levinas und
Derrida sprechen dagegen dem Ereignis die Phänomenalität ab. Es
ist sehr wichtig, diesen Einwand gegen die Phänomenalisierung ernst
zu nehmen. Oft wird diese Streitigkeit auf die Frage nach der Sicht-
barkeit und Unsichtbarkeit reduziert. Wenn das Phänomen das Sicht-
bare ist und etwas Unsichtbares (Unbegreifliches) behauptet wird,
dann kann dieses Unsichtbare nicht das Thema der Phänomenologie
sein. Marions Gegenargument lautet: Das Unsichtbare zeigt sich auch
und deswegen kann und muss es von der Phänomenologie behandelt
werden. Wir haben versucht zu zeigen, dass er in diesem Punkt recht
hat. Die Tatsache, dass das Ereignis kein Etwas, kein Objekt, nichts
Klares und Deutliches ist, ist kein Grund, ihm die Phänomenalität
und Denkbarkeit abzusprechen. Wenn aber von manchen Denkern
dem Ereignis die Erfahrbarkeit und Denkbarkeit abgesprochen wird,
geht es eigentlich um etwas anderes. Das Ereignisdenken unterschei-
det das Ereignis und das, was sich ereignet. Das, was sich ereignet, das
643 Damit möchten wir uns ausdrücklich gegen den von Janicauds in seinen Büchern
448
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
449
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
kann es nicht anders als durch diese, auf den ersten Blick ontologi-
sche, Behauptung denken, die nicht eine Erfahrung beschreibt, son-
dern bloß denkend zu einer Erkenntnis kommt. Und daraus folgt
auch: Wenn es gesagt wird, dass etwas ist, was nicht erscheint, dann
ist keine Erscheinung eine Erscheinung von dem, von dem man be-
hauptet, dass es nicht erscheint. Eine Ereignisphilosophie, die als Phä-
nomenologie beginnt, kommt also zu dem, was keine Phänomenalität
(sichtbare oder unsichtbare, objekthafte oder unbegreifliche) besitzt,
aber sie bleibt trotzdem auch phänomenologisch (könnte es über-
haupt anders sein?), insofern sie die »phänomenologischen Umstän-
de« dieser Andersheit beschreibt. Nur dieses Mal sieht sie ein Phäno-
men nicht bloß als ein Phänomen, sondern als die Spur eines
Ereignisses, das jenseits aller Phänomenologie liegt. Genau das sagt
der Begriff des Ereignisses als Anfang bei Heidegger, der Begriff der
Beziehung zum Anderen bei Levinas und der Begriff der Gegebenheit
bei Marion.
Wir definieren das Ereignis als das, was uns trifft. Damit bestimmen
wir es als ein Phänomen. Und insofern wir es erfahren und ver-
suchen, zu verstehen und zu denken, ist es ein Phänomen. Anderer-
seits kommt eine Phänomenologie des Ereignisses – also ausgehend
von der Erfahrung – zur Einsicht, dass das Phänomen (begreifliches
oder unbegreifliches) die sichtbare Spur von dem ist, was unmöglich
erscheinen kann, ohne aufzuhören das zu sein, was es ist, nämlich ein
anfängliches Ereignis. Es kann nicht erscheinen, es kann überhaupt
nicht erscheinen und damit ist es ein An-sich-Sein, das Andere der
Phänomenologie, das Andere des Denkens. Ab jetzt gibt es grund-
sätzlich zwei Möglichkeiten für ein Ereignisdenken: Entweder hält
es sich streng logisch daran, dass das, was nicht erscheint, nicht er-
scheint, oder versucht, die Logik zu verlassen und damit etwas Wahn-
sinniges zu unternehmen. Im ersten Fall setzt es ein Nicht-Erschei-
nendes als etwas, was seiner Natur nach, nicht erscheint. Daraus
ergeben sich für diese Möglichkeit wiederum zwei Wege: Ist eine on-
tologische »Sache« gesetzt, kann sie entweder als eine übliche »Sa-
che« beschrieben werden, die diese und jene »Eigenschaften« auf-
weist (eine wesentliche Eigenschaft ist, dass sie nicht erscheint), sich
450
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
645 Die Heideggersche Definition von Metaphysik ist allgemein bekannt und überall
in seinen Texten zu finden. Wir zitieren hier zum Beispiel folgende Stellen: »Der
Name ›Metaphysik‹ wird hier unbedenklich zur Kennzeichnung der ganzen bisheri-
gen Geschichte der Philosophie gebraucht. Er gilt nicht als Titel einer ›Disciplin‹ der
Schulphilosophie; auch seine späte und nur z. T. künstliche Entstehung bleibt unbe-
achtet. Der Name soll sagen, daß das Denken des Seins das Seiende im Sinne des
Anwesend-Vorhandenen zum Ausgang und Ziel nimmt für den Überstieg zum Sein,
451
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
der zugleich und sogleich wieder zum Rückstieg in das Seiende wird.« (B, 423) Oder:
»Die Metaphysik ist seynsgeschichtlich der Zwischenfall der Herrschaft des Seienden
vor dem Seyn dergestalt, daß sich das Seyn in die Seiendheit des Seienden losläßt und
in die Seinsverlassenheit des Seienden sich schickt.« (E, 103) Es geht also darum, dass
man versucht, etwas anderes als das Seiende zu denken, dies gelingt aber nicht: Über-
all wird nur das Seiende gedacht bzw. die »Seiendheit«, insofern man beansprucht,
etwas anderes als das Seiende zu denken. Man versucht also, nichts zu setzen, ein
Ereignis zu denken, kommt aber wiederum zur Setzung eines Ontischen und dies
immer und immer wieder. Es ist in der Tat – wie schon gesagt – wie in Kafkas Schloss.
452
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
453
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
in diese Richtung besteht auf jeden Fall darin, dass man einsieht, dass
jede gesagte Wahrheit die Wahrheit eines Bewusstseins ist und dass
nur in diesem Rahmen die Wahrheit gesucht werden kann. Wenn
aber das Denken, indem es die Wahrheit als sein Ziel setzt, die der
zu denkenden Sache entsprechen muss und wenn es gleichzeitig zu-
gibt, dass es diese Sache nicht ereichen kann, dass es nur seine eige-
nen Phänomene beschreibt, darf es sich dann mit diesen phänomeno-
logischen Wahrheiten zufriedengeben und sich sogar vortäuschen,
dass diese Wahrheiten des Bewusstseins die Wahrheiten der Sache
sind? Nur weil es unfähig ist, das Andere selbst zu erreichen, darf es
seine eigene Wahrheit für Wahrheit erklären? Die Metaphysik kann
nicht überwunden werden, wenn, statt das Andere zu denken, das
Denken nur das Selbe denkt. Um die Metaphysik zu überwinden,
muss das Andere als Grenze des Denkens gedacht werden. Und das
kann weder ontologisch noch phänomenologisch geschehen. Eine
Möglichkeit, diese Grenze zu denken, ist das Ereignisdenken.
Kehren wir zu Levinas zurück. Wenn das Andere gedacht wer-
den muss, kann Levinas es nicht ontologisch setzen und ein Erlebnis
des Begehrens phänomenologisch beschreiben. Wovon muss man
sprechen, um nichts zu setzen? Indem man spricht, setzt man natür-
lich das, wovon man spricht. Deswegen ist das, wovon man spricht,
nicht das, wovon man spricht. Ist dies gesagt, kann man in dieser
neuen Einstellung erneut fragen: Wovon muss man sprechen, um
nichts zu setzen? Eine Möglichkeit: Man spricht von einer nicht-in-
tentionalen Erfahrung, einer Erfahrung, die natürlich das Andere
nicht setzt und deswegen auch nicht eine Erfahrung des Selben ist;
von einer Erfahrung, die vor dem Objekt und vor dem Subjekt statt-
findet; von einer leiblichen Erfahrung. Es ist nicht so, dass im Falle
Levinas’ er zu der Idee von einer vor-intentionalen, leiblich passiven
Erfahrung durch das Denken des Anderen als Anderen kommt. Diese
Idee liegt schon vor, nämlich in der Phänomenologie des Leibes von
Husserl, Merleau-Ponty und Henry. Dieser Umstand ist wichtig, weil
das heißt, dass Levinas diesen Gedanken von einer leiblichen Erfah-
rung auf das Andere bloß anwendet und es ist möglich – wie das sich
später in der Tat herausstellt –, dass er nicht ganz dazu geeignet ist,
die Beziehung zum Anderen zu verstehen. Er ist nur eine Möglich-
keit, wie man die Beziehung zum Anderen denken kann. Wenn also
das Andere nicht das von einem Subjekt vorgestellte Andere ist, dann
gibt es die Andersheit vielleicht dort, wo wir leiblich, sinnlich, passiv
sind, wo wir nichts – weder sich selbst noch das Andere – vergegen-
454
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
455
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
lichkeit als »Verspätung« (JS, 199/AQE, 112) in Bezug auf eine »Vor-
zeitigkeit« (JS, 50/AQE, 18), auf eine »Vergangenheit, die niemals
Gegenwart war« (JS, 68/AQE, 31), also in Bezug auf eine Zeit, wo
ich als ich nicht war und wo auch das Andere als Andere nicht war
und wo überhaupt nichts war, weil es keine Intentionalität gegeben
hat. Alles, was wir phänomenologisch haben, ist die Verspätung. Wir
haben keine Erfahrung des Anderen, sondern nur die Erfahrung der
Verspätung; und der Spur.
Ein ähnliches Denkschema finden wir auch in der Philosophie
Marions, er denkt aber auf keinen Fall so radikal wie Levinas. Für
Marion bleibt das Andere grundsätzlich ein Phänomen der Anders-
heit – er beschreibt die Erfahrung des Anderen, ungeachtet der Tatsa-
che, dass sie kein Anderes mehr an sich hat. Man könnte sagen, dass
sein Ereignisdenken grundsätzlich als Hermeneutik des gesättigten
Phänomens (der sichtbaren Spur des Ereignisses) zu verstehen ist.
Nur sein Konzept der Gegebenheit verknüpft Marions Denken mit
dem Ereignisdenken, insofern er die Gegebenheit als dasjenige ver-
steht, das das Phänomen gibt, während sie selbst in »Verborgenheit«
(GS, 130/ED, 100) bleibt; insofern die Gegebenheit immer »schon
vergangen« (CN, 249) ist und wir in Bezug auf sie immer »in Verzug«
(CN, 249) sind. Marions Phänomenologie ist ein Ereignisdenken, in-
sofern der Empfänger des Ereignisses grundsätzlich als leiblich ver-
standen wird: »[I]ch habe keinen Leib, sondern ich bin mein
Leib […].« (EPh, 166/PhE, 178) Die Leiblichkeit konstituiert die Pas-
sivität des Subjekts und seine zeitliche Verschiebung bezüglich des
Ereignisses.
456
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
ist völlig anders. Obwohl er genauso wie Husserl die leibliche Seins-
weise des Menschen thematisiert, ist ihm die völlige Verfleisch-
lichung des Subjekts, wie sie in der französischen Phänomenologie
auftaucht und jetzt zu einer fast allgemein akzeptierten These gewor-
den ist, fremd. 646 Aber lassen wir die Frage nach der Seinsweise des
Subjekts beiseite. Was das Ereignis betrifft, bietet Heidegger eine
ähnliche Lösung wie Levinas an, und zwar für das Problem der onto-
logischen Setzung, das im Allgemeinen das Problem der Beziehung
zum Anderen, zum Ereignis ist. Auch für Heidegger ist der Bezug
646 Wir möchten an dieser Stelle auf die Forschungsergebnisse von Patrick Baur über
457
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
zum Sein als Ereignis keine Vorstellung. Wenn wir diese Beziehung
beschreiben wollen, können wir sie nicht so verstehen, dass das Da-
sein das Sein als einen gesetzten Gegenstand denkt. Ein solcher Ge-
genstand wäre für Heidegger ein leerer Begriff: nichts von dem, was
man erreichen wollte. Aber das Sein ist auch – wie wir gesehen haben
– kein intentionales Objekt eines Erlebnisses. Es ist ebenso kein Ge-
fühlszustand, kein Bewusstseinszustand. Wie kann man dieses Ver-
hältnis zum Ereignis noch charakterisieren? Levinas sagt: Es ist die
Innerlichkeit. Heideggers Lösung lautet: Es ist der »Austrag« (B, 15).
Die Innerlichkeit von Levinas ist an die Fleischlichkeit des Subjekts
gebunden. Der Austrag von Heidegger ist an das Denken gebunden.
Man könnte vermuten, dass diese zwei Möglichkeiten im Gegensatz
zueinander stehen, aber so ist es nicht. Ganz im Gegenteil: Sie bestä-
tigen dieselbe Art und Weise, wie man das Ereignis denken kann. Das
Denken des Seins ist für Heidegger nämlich kein vorstellendes Den-
ken. Die Philosophie Levinas’ denkt die vor-intentionale Innerlich-
keit, die das philosophische Denken nicht einholen kann, weil sie kein
Phänomen ist. In dieser Innerlichkeit geschieht die Begegnung von
Selbem und Anderem. Die Philosophie Heideggers denkt ein nicht-
intentionales Denken, das sie nicht einholen kann, weil es kein Be-
griff ist. In diesem Denken geschieht die Beziehung zwischen dem
Denken und seinem Anderen, nämlich seinem Anfang. In diesem
Denken erfährt das Denken seine Eingebettetheit in seinem Ur-
sprung; es ist eins mit seinem Ursprung; es erfährt sich als die Spur
dieses Ursprunges, der der Abgrund ist. Weil dieses nicht-intentiona-
le Denken als Austrag nichts denkt, sondern im Verhältnis zu seinem
Anfang steht, ist es eine Ereignis, ein Zustand des Denkens, die Art
und Weise, wie das Denken in diesem Moment ist: »Der Austrag ist
Er-eignis.« (B, 84) Und: »Der Aus-trag trägt den Ab-grund.« (B, 307)
Levinas’ Innerlichkeit ist kein Gefühl der Innerlichkeit, sondern der
Zustand, in dem sich das Selbe befindet, wenn es dem Anderen be-
gegnet. Heideggers Austrag ist ein Zustand, in dem sich das Denken
befindet, insofern es bei seinem abgründigen Anfang ist.
keine zufriedenstellende Antwort. Aber legen wir diese Überlegungen zur Seinsweise
des Ich in diesem Moment beiseite.
458
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
459
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
könnte einwenden: Wenn ich liebe, fühle ich doch etwas, ich spüre
den Anderen, die Liebe geschieht doch nicht ohne meine Teilnahme!
Aber das alles ist nur die Sichtbarkeit des Anfangs: Es ist das, was sich
ereignet, wenn sich das Ereignis ereignet. Da es aber keinen Anfang
gibt, ohne dass etwas anfangen würde, gehört zu jedem Ereignis eine
Erfahrung, die jemand hat. Und das ist das zweite Axiom des Ereig-
nisdenkens. Diese Erfahrung innerhalb des Ereignisses kann Phäno-
men genannt werden und kann phänomenologisch beschrieben wer-
den, aber sie ist keine Erfahrung des Ereignisses – sie gehört zum
Ereignis. Das dritte Axiom.
Wir behaupten also, dass das Ereignis kein Phänomen ist. Liebe
und bedingungslose Gabe, Geburt und Tod, Berührung und Hingabe,
Offenbarung und Vergebung, Musik und Zeit sind anfängliche Situa-
tionen, in denen Phänomene möglich werden – auch diese, die ich
gerade genannt habe. Veranschaulichen wir das Gesagte und werfen
wir einen Blick darauf, wie Marion die Geburt beschreibt, die er als
»perfektes Ereignis« (événement parfait) (DS, 50) bezeichnet. Schon
von Anfang an gibt es Schwierigkeiten, die Geburt als ein Phänomen
zu sehen, weil »ich sie nie mit meinen eigenen Augen gesehen habe«
(je ne l’ai jamais vue de mes propres yeux) (DS, 51). Mehr noch: Sie
hat sich »ohne mich« (sans moi) (ebd.) und »vor mir« (avant moi)
(ebd.) vollzogen; sie ist »immer vergangen« (toujours passé) (DS, 53).
In der Tat zeichnen genau diese Merkmale das Ereignis aus. Wenn wir
die Geburt denken, denken wir an eine Situation, in der wir geboren
wurden. Die Situation hat sich vollzogen ohne uns und vor uns in
dem Sinne, dass das Bewusstsein erst später in der Lage war, sich auf
dieses Ereignis zu beziehen. In Bezug auf die Geburt sollte die Phä-
nomenologie verlassen werden – erst dann können wir die Geburt so
verstehen, wie sie wirklich geschieht. Marion möchte aber im Rah-
men der Phänomenologie bleiben. Wo man ein Ereignis – etwas Un-
sichtbares und Undenkbares – sehen könnte (und sollte), will Marion
die Geburt als ein Phänomen retten. Er behauptet sogar, dass er sie,
nach dem er sie als »ohne mich« ereignend bezeichnet hat, »mit
Recht« (à juste titre) (DS, 51) »als ein Phänomen« (comme un phé-
nomène) (ebd.) betrachtet. Wie gelingt das ihm? Indem er sie als ein
Faktum bestimmt, auf das er gerichtet ist, wenn er sich fragt, woher
er kommt etc.: »[…] je ne cesse de la viser intentionnellement (vou-
loir savoir qui et d’où je suis, enquête en recherche d’identité, etc.) et
de remplir cette visée de quasi-intuitions (souvenirs secondaires,
témoignages indirects et directs, etc.).« (DS, 51 f) Aber ist es nicht
460
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
461
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
ist der Titel völlig berechtigt. Aber darum geht es nicht. Es geht da-
rum, dass hier versucht wird, zu zeigen, dass, wenn die Liebenden
lieben, sie es mit einem Phänomen zu tun haben. Diese These, näm-
lich dass die Liebe für die Liebenden ein Phänomen ist, konzentriert
sich im Konzept des »durchkreuzten Phänomens« (phénomène croi-
sé). Eine ganz wichtige Stelle zu diesem merkwürdigen Phänomen
lautet folgendermaßen: »Das Phänomen der Liebe konstituiert sich
nicht ausgehend vom Pol des Ego, das ich bin; es taucht von sich selbst
her auf, indem es in sich den Liebenden (mich, der ich auf den Status
eines autarken Ego verzichte und meine Anschauung mitbringe) und
den anderen (derjenige, der seine Bedeutung aufzwingt, indem er
einen Abstand wahrt) miteinander (über)kreuzt. Das erotische Phä-
nomen erscheint nicht nur zusammen mit ihm und mir und es hat
auch nicht nur einen einzigen Ego-Pol, sondern es erscheint über-
haupt nur in dieser Überkreuzung. Durchkreuztes Phänomen.« (EPh,
152 f/PhE, 162) Wir versuchen, zu verstehen: Unter dem »Phänomen
der Liebe« (phénomène amoureux) wird nicht der Andere verstan-
den. Es geht nicht darum, wie ich als Liebender den Anderen wahr-
nehme. Das Phänomen der Liebe wird hier ganz klar vom Anderen
unterschieden. Das Phänomen der Liebe ist nicht der Andere, sondern
das, was mich und den Anderen »überkreuzt« (croiser). Wenn wir an
diese »Überkreuzung« (croisement) denken, stellen wir uns vor, dass
die Liebe unsere getrennten Lebenswege plötzlich an einem Punkt
verbindet. Die Liebe verbindet mich mit dem Anderen. Wenn die
Liebe ein Ereignis ist, ist sie eine Überkreuzung in diesem Sinne.
Das entspricht übrigens genau dem, was Heidegger in Bezug auf das
Ereignis sagt, nämlich dass es ein »Beziehen« (BPh, 471) ist. Aber
kann dieses Beziehen als ein Phänomen gedacht werden? Kann ein
Phänomen mich und den Anderen überkreuzen? Nein, es klingt nicht
richtig. Und in der Tat wird dies von Marions Text bestätigt, obwohl
er weiterhin von der Liebe als einem Phänomen sprechen will. Achten
wir darauf: Nachdem er behauptet hat, dass das Phänomen der Liebe
mich mit dem Andern überkreuzt, sagt er im nächsten Satz, dass das
»erotische Phänomen« »überhaupt nur in dieser Überkreuzung er-
scheint.« (il n’apparaît que dans ce croisement) Hier wird die Über-
kreuzung vom Phänomen der Liebe klar unterschieden. Die Über-
kreuzung überkreuzt, sie ist ein Ereignis, die Liebe erscheint in
dieser Überkreuzung und ist ein Phänomen dieses Ereignisses. Das
klingt richtig. Marion denkt das Ereignis, nennt es aber ein Phäno-
men, was ständig zu merkwürdigen Aussagen führt, die ihrerseits auf
462
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
463
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
Das Undenkbare ist für das Ereignisdenken kein Etwas, das undenk-
bar ist: Es ist eine Situation, wo es kein Denken (zumindest kein in-
tentionales Denken), überhaupt kein intentionales Erlebnis gibt. Wir
haben gesehen, dass Levinas diese Situation als die vor-intentionale
Innerlichkeit beschrieben hat, die im Leib möglich ist. Aber es muss
klar werden, dass diese Situation, wo es kein Denken gibt, auf keinen
Fall bedeuten muss, dass es in ihr kein Denken gibt: keine Sprache,
keine Aussagen, keine Kommunikation etc. Es gibt hier bloß kein
Denken, das diese Situation begreift. Die Worte, die Reflexion sind
dem Ereignis immanent, gehören zu ihm. Dies ist die Art und Weise,
wie Heidegger das Ereignis denkt: als Zugehörigkeit des Denkens und
der Sprache zu ihrem Anfang, ihrer Geschichte: »Die Sprache ist so
die Sprache des Seins, wie die Wolken die Wolken des Himmels sind.«
(HB, 364) So, wie die Wolken ein Teil des Himmels sind, ist die Spra-
che im Allgemeinen – Worte, Aussagen, Urteile, Gespräche, Reflexi-
on – ein Teil des Ereignisses. Also diese vor-intentionale Zugehörig-
keit zum Ereignis, zum Anderen muss nicht unbedingt als leiblich-
passive Innerlichkeit verstanden werden. Wenn man das Ereignis
denkt, ist das entscheidende Wort nicht »Leib« oder »Fleisch«, son-
dern »Immanenz«, »Zugehörigkeit«. Es ist richtig, dass das Subjekt in
Bezug auf das Ereignis nicht aktiv konstituierend, vorstellend, son-
dern passiv, affektiv ist. Das trifft aber nur seinen Bezug zum Er-
eignis, nicht sein Verhalten innerhalb des Ereignisses. Innerhalb des
Ereignisses ist das Subjekt sehr wohl vorstellend: Es ist sogar notwen-
digerweise vorstellend, da das Ereignis notwendigerweise etwas zum
Vorstellen und Auslegen gibt. Die Passivität in Bezug auf das Ereignis
liegt nicht darin, dass man etwas empfängt, was man nicht aktiv kon-
stituiert, sondern darin, dass man mitten im Ereignis ist. Die Passivi-
tät muss hier nicht als Fleischlichkeit, sondern als Zugehörigkeit ge-
deutet werden.
Insbesondere das Ereignisdenken Deleuzes denkt diese Imma-
nenz des Denkens im Ereignis. Beinflusst von Heidegger – und paral-
lel zu Heidegger – aus einer anderen Denktradition kommend, denkt
Deleuze in seiner Ereignisphilosophie weder ein leibliches Subjekt
noch das Ereignis als ein Objekt für ein Subjekt – er denkt das Ereig-
nis als das »transzendentale Feld« (LS, 130/120) und das »Virtuelle«
(IL, 32/IV, 6), wo alles – definiert als ein Sinnereignis – diesem Feld
immanent ist. Das transzendentale Feld – genauso wie Heideggers
464
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
Ereignis – ist eine Situation, außerhalb deren nichts ist. Es gibt außer-
halb dieser Situation kein Denken, das diese Situation denken könnte
– jedes Denken ist in dieser Situation. Diese Situation ist die Zu-
gehörigkeit zur Situation. Das ist die einzige »Definition«, die ein
Denken ihr geben kann, nämlich, dass es sie nicht einholen kann
und ihr zugehört. Wenn ein neuer Gedanke entsteht, steht er dem
transzendentalen Feld nicht gegenüber, sodass er dieses Feld als etwas
Ontisches bestimmen könnte, sondern erweitert es nur, entwickelt
seine Geschichte, indem er einen neuen Sinn schafft.
Wir präzisieren: Das Ereignis als das Nicht-Phänomenalisierbare
und als das Undenkbare ist dasjenige, worin das Phänomen ist und
worin das Denken ist. Es ist dasjenige, worin sich das Denken auf ein
Phänomen bezieht, es ist dieses »Beziehen«, wie Heidegger sagt. Sol-
ches Beziehen ist eine topologische Verteilung der Elemente verschie-
dener Relationen, eine Situation. Aber diese Situation ist nur schein-
bar eine ontische. Es gibt sie nicht. Das Ereignisdenken behauptet
nicht eine ontische Situation, die man beschreiben und untersuchen
könnte. Es gibt keine solche Situation und es gibt keinerlei Zugang zu
ihr. Es gibt nur die Zugehörigkeit zu einer Beziehung, das In-Sein in
einer Beziehung. Der Betroffene des Ereignisses ist nicht von etwas,
sondern von der Immanenz, von der Zugehörigkeit selbst betroffen.
Mit anderen Worten: Das Denken des Ereignisses beschreibt nicht
einen ursprünglichen Prozess, durch den die Phänomene der Erfah-
rung im Allgemeinen und das Gedachte der Reflexion entstehen. Das
Denken des Ereignisses beschreibt nicht physische, biologische, phy-
siologische, psychische, kulturelle, soziologische, transzendentale,
sprachliche, göttliche oder mystische Situationen, in denen das Sicht-
bare entsteht, und es denkt diese Prozesse nicht als das Unsichtbare in
der Sichtbarkeit, das alles Sichtbare voraussetzt. Es betreibt keine On-
tologie und keine Metaphysik. Es spricht vom Verlassen der Ontolo-
gie, die den Ontologen selbst vergisst; von einer möglichen Phäno-
menologie, die so radikal ist, dass sie die Phänomenologie aufgibt,
weil sie die Sachen nicht mehr als Phänomene betrachten kann; die
so radikal ist, dass sie den Phänomenologen aus sich heraustreten
lässt, sodass er zugehörig wird.
Wir können wiederum zwei strukturell sehr ähnliche, inhaltlich
aber unterschiedliche Varianten aufzeigen, wie diese Zugehörigkeit
zur Situation als Ereignis jenseits aller Phänomenologie und Meta-
physik schon gedacht worden ist.
465
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
466
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
men zu sein? Wann bin ich bei einem Anderen und nicht bei mir
selbst? Wenn ich mein Leib bin? Wenn ich zu meiner vor-intentiona-
len Passivität zurückkehre? Wenn ich ihn mir nicht aktiv vorstelle,
sondern empfange? Der Fakt ist, dass diese ganze Terminologie, ja
phänomenologische Terminologie, völlig den Blick vom Ereignis ab-
wendet. Es ist so, weil sie unmöglich aus dem Schema Subjekt(passi-
ves oder aktives)-Objekt (gegenständliches oder unendliches) heraus-
kommen kann. In der Tat steht die Sensibilität für Levinas in Totalité
et infini im Verdacht, das Andere zum Objekt des Genusses zu ma-
chen. Es mag wohl sein, dass wir zum Beispiel einen Apfel erst dann
als Apfel erfahren, wenn wir ihn in unserer Lebenswelt erfahren,
wenn wir ihn vor-intentional schmecken und nicht wenn wir ihn ge-
zielt wissenschaftlich untersuchen, aber auch dieses Schmecken ist
keine Erfahrung des Anderen – sie ist völlig egoistisch: »Im Genuß
bin ich absolut für mich. Egoistisch ohne Bezug auf Andere […].«
(TU, 190/TI, 107) Wenn man sogar in Bezug auf einen Apfel fragen
kann, ob wir ihn dann als ein Anderes, als dieses Apfel erfahren, wenn
wir ihn leiblich genießen, so es ist für Levinas eindeutig, dass die
Beziehung zum anderen Menschen nicht ein Genuss sein kann: »Die
Welt des Genusses genügt dem metaphysischen Anspruch nicht.«
(TU, 86/TI, 36 f) Die Welt des Genusses ist die Welt des Leibes, der
Passivität, der Innerlichkeit, der Vor-Intentionalität. Sie ist die Welt
des Egoismus. Hier gibt es keinen Anderen. Hier gibt es keine Bezie-
hung, folglich auch kein Ereignis. In der Welt des Selben ereignet sich
nichts: keine Überraschung, kein Wunder, keine Liebe, nichts Neues,
keine Geschichte, nichts. Das Selbe ist nur die Zeit, die vergeht und
die den Tod näher bringt.
Noch einmal: Das Ereignis berührt die Erfahrung, bleibt aber
unerfahrbar und undenkbar. Das Denken, insofern es versucht, das
Ereignis zu denken, denkt dieses Undenkbare nicht als etwas, das un-
denkbar ist. Das Ereignisdenken stellt das Undenkbare nicht vor und
damit ist es gezwungen, einen andersartigen Bezug zum Ereignis als
Vorstellung zu definieren. Levinas bestimmt diesen Bezug als Inner-
lichkeit. Doch schon seine eigenen Überlegungen enthalten die Kritik
einer solchen Beschreibung des Ereignisses. Wenn man nämlich die
Innerlichkeit denkt, kann man keine Andersheit denken. Im Leib er-
eignet sich nichts. Es gibt nur das Selbe. Wenn dagegen das Ereignis
geschieht, bin ich nicht bei mir. Man könnte einwenden: Wenn Levi-
nas von der Innerlichkeit spricht, meint er nicht einen intentionalen
Genuss, der ein Objekt genießt. In der Tat ist es so. Deswegen haben
467
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
wir gezeigt, dass die Innerlichkeit eher als ein Zustand zu verstehen
ist: jenseits allem Subjekt-Objekt-Dualismus. Doch in diesem Fall
entsteht – wie wir gesehen haben – ein anderes Problem. Wenn wir
einen Zustand denken, definieren wir eine ontische Situation, die nie-
mand erfährt, in der niemand ist und die zum Objekt einer Ontologie
wird. Soll in Bezug auf die Innerlichkeit die Erfahrung mitgedacht
werden, muss sie als Genuss verstanden werden. Die Innerlichkeit
ist immer Genuss. Dieser Genuss muss nicht unbedingt intentional
gedacht werden: Er kann auch vor-intentional geschehen, aber er
kennt kein Anderes und folglich auch kein Ereignis. Wenn das Ereig-
nisdenken das Unerfahrbare und Undenkbare denkt, denkt es eine
radikale Andersheit, die ein Heraustreten aus sich selbst fordert, die
in diesem Heraustreten besteht.
Wenn die Beziehung zum Anderen als Ereignis weder als Vor-
stellung noch als Innerlichkeit beschrieben werden kann, wie dann?
Wie erfahren wir Ereignisse, in denen wir sind? Wir fragen nicht, was
wir erfahren (Phänomenologie) und nicht, was passiert (Ontologie),
sondern, was mit uns passiert, wie geschieht das Ereignis mit uns.
Levinas bietet mehrere Antworten an, von denen wir eine besonders
hervorheben möchten – sie lautet: Wenn das Ereignis sich ereignet,
nähern wir uns: »Die Nähe ist das sich nähernde Subjekt und kon-
stituiert so eine Beziehung, an der ich als Beziehungsglied teilnehme,
in der ich jedoch mehr – oder weniger – als ein Beziehungsglied bin.«
(JS, 184 f/AQE, 103 f) Wie ist also ein Ereignis der Begegnung mit
dem Anderen möglich? Indem wir aus uns heraustreten und zum
Glied einer Beziehung werden. Das Ereignis ist das Aus-sich-Heraus-
treten. Aber warum sagt Levinas, dass ich »mehr … als ein Bezie-
hungsglied bin«? Weil diese Beziehung nicht gedacht werden kann,
sie ist nicht die gedachte Beziehung. Wenn ich mich als ein Bezie-
hungsglied denken würde, würde ich das Ereignis dieser Beziehung
als ein Objekt setzen und analysieren. Ich bin aber nicht ein gesetzter
Punkt einer gedachten Relation: Ich bin mehr als das, ich bin anders
als das, ich bin dasjenige Ich, das sich in diesem Moment dem Ande-
ren nähert, mit ihm redet. Das will heißen: Diese Beziehung besteht
nicht als Denkobjekt, als Phänomen, sondern ereignet sich, wenn ich
mich wirklich dem Anderen nähere: »Die Näherung ist nicht die The-
matisierung irgendeiner Beziehung, sondern diese Beziehung selbst,
die als an-archische der Thematisierung widersteht. Diese Beziehung
zu thematisieren heißt schon, sie zu verlieren, heißt schon, aus der
absoluten Passivität des Sich herauszutreten.« (SA, 323/Sub, 504)
468
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
Dieses Zitat, das aus dem Jahr 1967 stammt, bestätigt nicht nur die
These, dass das Ereignis undenkbar ist. Es zeigt auch den von uns
schon erwähnten »Dualismus« des Levinas’schen Ereignisdenkens.
Einerseits geht es um die »Näherung« als Eintritt in eine Beziehung.
Wir können diesen Gedanken als Weiterentwicklung des Konzeptes
vom Begehren in Totalité et infini und Radikalisierung des ontologie-
kritischen Ansatzes Levinas’ betrachten. Die Rede von einer »absolu-
ten Passivität des Sich« hängt dagegen mit Levinas’ persönlichen und
in der französischen Philosophie im Allgemeinen erneut aufgetauch-
tem Interesse an Husserls Phänomenologie der Passivität zusammen.
Ein ganz wichtiges Zeichen für dieses Interesse ist das 1963 erschie-
nene Buch von Henry L’essence de la manifestation. Es muss gefragt
werden, ob diese beiden Diskurse für die Beschreibung des Ereignis-
ses geeignet sind. Wir haben versucht, zu zeigen, dass sie eher einan-
der ausschließen.
Wir möchten behaupten, dass Marion, wenn er das Ereignis be-
schreibt, erfolglos versucht, es in die Phänomenologie hineinzwin-
gen, während Levinas sein Denken des Ereignisses dem Diskurs des
egoistischen Leibes anpassen will – einem Diskurs, den er noch 1961
als unangemessen für das Verständnis der Beziehung mit dem Ande-
ren abgewiesen hat. In der Tat ist der Leib, das Leib-Bewusstsein
immer allein. Für eine Beziehung, für ein Ereignis muss der Leib aus
sich heraustreten, er muss nicht zu sich selbst zurückkehren, sondern
nach außen explodieren. Er muss sich wirklich nähern: nicht gedank-
lich, sondern wirklich. Er muss sich in der Welt, unter den Dingen,
gegenüber dem Anderen verteilen und diese Verteilung ausharren. Er
muss zum Teil eines Geschehnisses werden, ohne die Möglichkeit in
die Sicherheit bei sich selbst zurückzukehren. Und ist nicht genau die
Unsicherheit, »Beunruhigung« (JS, 69/AQE, 32), »Störung« (SA,
241/DEHH, 287) des Subjekts dasjenige, das Levinas schon immer
über das Ereignis der Beziehung mit dem Anderen behauptet hat?
Das Subjekt des Ereignisses ist kein Fötus: Es ist einer, der durch die
Außenwelt und die Anderen gestört werden kann.
Wenn das Ereignis geschieht, ereignet sich die Nähe als Nähe-
rung. Diese Näherung ist weder ontisch, weil es sie nicht gibt, noch
phänomenologisch, weil sie nicht erscheint (auch nicht in der vor-
intentionalen Tiefe der Innerlichkeit), sondern geschieht mit mir,
wenn ich aus mir heraustrete. Wir betonen: Wenn ich aus mir he-
raustrete. Hier geht es nicht um irgendein Ich, das gesetzt und be-
schrieben wird, sondern um mich, um das, was mit mir geschieht.
469
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
470
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
471
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
472
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
473
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
Das Ereignisdenken sagt nie etwas über etwas aus – weder naiv onto-
logisch, noch seine eigenen Erfahrungen beschreibend. Es denkt, dass
es manchmal so geschieht, dass es möglich wird, nicht mehr gegen-
über einem Etwas, sondern mit ihm zu sein. Dann geschieht das Aus-
sich-Heraustreten, das Ereignis. Das Ereignis ist unerfahrbar und un-
denkbar, weil es die Struktur »Ich-Etwas« auflöst, die von jeder Er-
fahrbarkeit und Denkbarkeit vorausgesetzt wird. Es löst sie nicht im
Denken auf – es löst sie wirklich auf.
Das Ereignisdenken beginnt nicht damit, dass es aus irgendwel-
chen Prämissen auf das Undenkbare schließt. Es ist das Undenkbare –
das Andere –, das das Denken überrascht und zwingt, anders zu den-
ken, nicht sich selbst, sondern das Andere zu denken. Deswegen ist
das Ereignisdenken nicht logisch, sondern nur abgründig offen für
das Andere.
Das Ereignis ist nicht die Verschmelzung von Ich und dem An-
deren, sondern eine Beziehung. Diese Beziehung gibt es nicht, sie
ereignet sich dann, wenn jede Beziehung aufgelöst wird. Sie ist nicht
permanent – sie hört immer dann auf, eine Beziehung zu sein, wenn
sie als eine Beziehung erscheint, wenn nämlich das Aus-sich-Heraus-
treten aufhört und das Ich zu sich selbst zurückkehrt: in seinen Leib
oder seine Gedanken. Genauso wie das Ereignis nicht dann geschieht,
wenn man denkt, geschieht es auch nicht, wenn man Leib ist. Das
Ereignis ist das Explodieren des Leibes nach außen.
Die ereignishafte Beziehung ist kein Gegenüber, sondern das,
474
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
worin man ist. Sie kann deswegen niemals erscheinen. Aber sie bringt
die Erscheinungen mit sich. Sie lässt das Andere erscheinen, sie lässt
die Welt durch dieses Andere anders erscheinen. Vor dem Ereignis
sieht man nur sich selbst.
Man kann nicht durch sich selbst aus sich selbst heraustreten,
genauso wie man nicht sich selbst aus dem Sumpf herausziehen kann.
Es ist das Ereignis, das dieses Aus-sich-Heraustreten vollzieht. Und
das geschieht selten und unvorhersehbar.
Das Ereignis gibt es nicht. Wenn es anfängt zu sein, ist es schon
zur Geschichte geworden, von der man Geschichten erzählen kann.
Aber jede Geschichte – auch diese – verblasst und wirkt lächerlich
gegenüber dem, was sich jeder Geschichte entzieht.
475
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Martin Heidegger
477
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Literaturverzeichnis
Emmanuel Levinas
478
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Literaturverzeichnis
– Vom Sein zum Seienden (1947). Übersetzt von Anna Maria Krewani und
Wolfgang Nikolaus Krewani. Freiburg/München: Alber, 1997. (– De l’existen-
ce à l’existant. Paris: Vrin, 2. Aufl., 8. Nachdr. 2004)
– Die Zeit und der Andere (1948). Übersetzt von Ludwig Wenzler. Hamburg:
Meiner, 2. Aufl. 1989. (– Le temps et l’autre. Paris: PUF, 4. Aufl. 1991)
– Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität (1961). Übersetzt
von Wolfgang Nikolaus Krewani. Freiburg/München: Alber, 2. Aufl. 1993.
(– Totalité et Infini. Essai sur l’extériorité. La Haye/Boston/Londres: Nijhoff,
4. Aufl., 3. Nachdr. 1980)
– Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphi-
losophie (1949–1967). Übersetzt von Nikolaus Krewani. Freiburg/München:
Alber, 3. Aufl. 1992. (– En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger
(1949, 1967). Paris: Vrin, 3. Aufl. 2001)
– Die Substitution (1968). In: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phä-
nomenologie und Sozialphilosophie, übersetzt von Nikolaus Krewani. Frei-
burg/München: Alber, 3. Aufl. 1992, S. 295–330. (– La substitution. In: Revue
philosophique de Louvain 66 (1968), S. 487–508)
– Humanismus des anderen Menschen (1972). Übersetzt von Ludwig Wenzler,
mit einem Gespräch zwischen Emmanuel Levinas und Christoph von Wol-
zogen als Anhang. Hamburg: Meiner, 1989. (– Humanisme de l’autre homme.
Paris: Fata Morgana, 1972)
– Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (1974). Übersetzt von Tho-
mas Wiemer. Freiburg/München: Alber, 2. Aufl., 1998. (– Autrement qu’être
ou au-delà de l’essence. Dordrecht/Boston/London: Kluwer Academic Pub-
lishers, 1. Aufl., 5. Nachdr. 1991)
– Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum (1963–1976). Übersetzt von
Eva Moldenhauer. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag, 1992. (– Difficile
liberté. Essais sur le judaïsme (1963, 1976). Paris: Albin Michel, 2. Aufl. 1976)
– Eigennamen. Meditationen über Sprache und Literatur (1976). Übersetzt von
Frank Miething. München/Wien: Hanser, 1988. (– Noms propres. Paris: Fata
Morgana, 1976)
– Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo (1982). Übersetzt von
Dorothea Schmidt. Wien: Passagen, 3. Aufl. 1996. (– Ethique et Infini. Dia-
logues avec Philippe Nemo. Paris: Fayard, 1982)
– Wenn Gott ins Denken einfällt (1982). Übersetzt von Thomas Wiemer. Frei-
burg/München: Alber, 4. Aufl. 2004. (– De Dieu qui vient à l’idée. Paris: Vrin,
2. Aufl., 3. Nachdr. 1998)
– Außer sich (1987). Übersetzt von Frank Miething. München/Wien: Hanser,
1991. (– Hors Sujet. Paris: Fata Morgana, 1987)
– Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen (1991). Übersetzt
von Frank Miething. München/Wien: Hanser, 1995. (– Entre nous. Essais sur
le penser-à-l’autre. Paris: Grasset, 1991)
479
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Literaturverzeichnis
Jean-Luc Marion
Marion, Jean-Luc: L’idole et la distance. Cinq études (1977). Paris: Grasset, 1977.
– Idol und Bild (1979). In: Phänomenologie des Idols, hrsg. von Bernhard Cas-
per. Freiburg/München: Alber, 1981, S. 107–132. (– Fragments sur l’idole et
l’icône. In: Revue de Métaphysique et de Morale 84 (1979), S. 433–445)
– Gott ohne Sein (1982). Übersetzt von Alwin Letzkus. Padeborn/München/
Wien/Zürich: Schöningh, 2014. (– Dieu sans l’être. Paris: PUF, 1991)
– Réduction et donation. Recherches sur Husserl, Heidegger et la phénoméno-
logie (1989). Paris: PUF, 2. Aufl. 2004.
– Die Öffnung des Sichtbaren (1991). Übersetzt von Géraldine Bertrand und
Dominik Bertrand-Pfaff. Paderborn/München/Wien/Zürich: Schöningh,
2005. (– La croisée du visible. Paris: PUF, 1996)
– Le phénomène saturé (1992). In: Phénoménologie et théologie, hrsg. von
Jean-François Courtine. Paris: Criterion, 1992. S. 79–128.
– Gegeben sei. Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit (1997). Über-
setzt von Thomas Alferi. Freiburg/München: Alber, 2015. (– Etant donné.
Essai d’une phénoménologie de la donation. Paris: PUF, 2005)
– und Wohlmuth, Josef: Ruf und Gabe. Zum Verhältnis von Phänomenologie
und Theologie. Bonn: Borengässer, 2000.
– De surcroît. Études sur les phénomènes saturés (2001). Paris: PUF, 2010. (Auf
Deutsch: Kapitel VI: Der Leib oder die Gegebenheit des Selbst. In: Gelebter
Leib – verkörpertes Leben. Neue Beiträge zur Phänomenologie der Leiblich-
keit, hrsg. von Michael Staudigl, Würzburg: Königshausen & Neumann,
2012, S. 21–41)
– Der Leib oder die Gegebenheit des Selbst (2001). In: Gelebter Leib – verkör-
pertes Leben. Neue Beiträge zur Phänomenologie der Leiblichkeit, hrsg. von
Michael Staudigl, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2012, S. 21–41.
– Das Erotische: ein Phänomen. Sechs Meditationen (2003). Übersetzt von
Alwin Letzkus. Freiburg/München: Alber, 2011. (– Le phénomène érotique.
Six méditations. Paris: Grasset, 2003)
– Das dem Menschen Unmögliche – Gott (2004). In: Unmöglichkeiten, hrsg.
von Ingolf U. Dalferth, Philipp Stoellger und Andreas Hunziker. Tübingen:
Mohr Siebeck, 2009, S. 233–263. (– L’impossible pour l’homme – Dieu. In:
Conférence 18 (2004), S. 329–369)
– Sättigung als Banalität (2005). In: Von der Ursprünglichkeit der Gabe. Jean-
Luc Marions Phänomenologie in der Diskussion, hrsg. von Michael Gabel und
Hans Joas. Freiburg/München: Alber, 2007, S. 96–139. (– La banalité de la
saturation. In: Dieu et la raison, hrsg. von François Bousquet und Philippe
Capelle. Paris: Bayar, 2005, S. 159–191)
– Certitudes négatives (2010). Paris: Grasset, 2010. (Auf Deutsch: §§ 14–18 (Ka-
pitel III) in Gabe und Gemeinwohl, hrsg. von Walter Schweidler und Émilie
Tardivel. Freiberg/München: Alber, 2015, S. 21–35 und 53–83; § 24 in Jean-
Luc Marion: Studien zum Werk, hrsg. von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz.
Dresden: Text & Dialog, 2013, S. 35–46 und in Religio und passio: Texte zur
neueren französischen Religionsphilosophie, hrsg. von Rolf Kühn. Würzburg:
Echter, 2014, S. 300–312)
480
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Literaturverzeichnis
– The Reason of the Gift (2011). Übersetzt von Stephen E. Lewis. Charlottes-
ville/London: University of Virginia Press, 2011.
– La rigueur des choses. Entretiens avec Dan Arbib (2012). Paris: Flammarion,
2012.
– The Essential Writings. Hrsg. von Kevin Hart. New York: Forham University
Press, 2013.
– Givenness & Hermeneutics (2013). Französisch – Amerikanisch, übersetzt
von Jean-Pierre Lafouge. Milwaukee: Marquette University Press, 2013.
– Schweidler, Walter und Tardivel, Émilie (Hrsg.): Gabe und Gemeinwohl. Die
Unentgeltlichkeit in Ökonomie, Politik und Theologie: Jean-Luc Marions
Phänomenologie in der Diskussion. Freiburg/München: Alber, 2015.
– Reprise du donné. Paris: PUF, 2016.
Weitere Primärwerke
Badiou, Alain: Das Sein und das Ereignis (1988). Übersetzt von Gernot Kam-
ecke. Berlin: diaphanes, 2005. (– L’être et l’événement. Paris: Seuil, 1988)
– Zwei Briefe an Gilles Deleuze (1994). In: Gilles Deleuze: Fluchtlinien der Phi-
losophie, hrsg. von Friedrich Balke und Joseph Vogl, übersetzt von Andreas
Knop. München: Fink, 1996, S. 243–251.
– Deleuze: »Das Geschrei des Seins« (1997). Übersetzt von Gernot Kamecke.
Zürich/Berlin, 2003. (– Deleuze: »La clameur de l’Etre. Paris: Hachette, 1997)
– Logiken der Welten. Das Sein und das Ereignis 2 (2006). Übersetzt von Heinz
Jatho unter Mitarbeit von Arno Schubbach. Zürich/Berlin: diaphanes, 2010.
(– Logiques des mondes. L’être et l’événement 2. Paris: Seuil, 2006)
– und Tarby, Fabien: Die Philosophie und das Ereignis. Mit einer kurzen Ein-
führung in die Philosophie Alain Badious (2010). Übersetzt von Thomas
Wäckerle. Wien/Berlin: Turia + Kant, 2012. (– La philosophie et l’événement.
Entretiens. Suivis d’une courte introduction à la philosophie d’Alain Badiou.
Meaux: Germina, 2010)
Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung (1968). Übersetzt von Joseph Vogl.
München: Fink, 2. Aufl. 1997. (– Différence et répétition. Paris: PUF, 11. Aufl.
2003)
– Logik des Sinns (1969). Übersetzt von Bernhard Dieckmann. Frankfurt am
Main: Suhrkamp: 1993. (– Logique du sens. Paris: Minuit, 1969)
– Die einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953 bis 1974. Hrsg. von David
Lapoujade, übersetzt von Eva Moldenhauer. Frankfurt am Main: Suhrkamp,
2003. (– L’île déserte. Textes et entretiens 1953–1974. Hrsg. von David Lapou-
jade. Paris: Minuit, 2002)
– Die Falte: Leibniz und der Barock (1988). Übersetzt von Ulrich Johannes
Schneider. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995. (– Le pli: Leibniz et le ba-
roque. Paris: Minuit, 1988)
– Unterhandlungen: 1972–1990. Übersetzt von Gustav Roßler. Frankfurt am
Main: Suhrkamp, 1993. (– Pourparlers: 1972–1990. Paris: Minuit, 1990)
481
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Literaturverzeichnis
– und Guattari, Félix: Was ist Philosophie? (1991) Übersetzt von Bernd Schwibs
und Joseph Vogl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 6. Aufl. 2014. (– Qu’est-ce
que la philosophie? Paris: Minuit, 1991)
– Die Immanenz: ein Leben. In: Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie,
hrsg. von Friedrich Balke und Joseph Vogl, übersetzt von Joseph Vogl. Mün-
chen: Fink, 1996. S. 29–33. (– L’immanence: une vie. In: Philosophie 47
(1995), S. 3–7)
Derrida, Jacques: Grammatologie (1967). Übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger
und Hanns Zischler. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1974. (– De la gramma-
tologie. Paris: Minuit, 1967)
– Die Stimme und das Phänomen (1967). Übersetzt von Hans-Dieter Gondek.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003. (– La voix et le phénomène. Paris: PUF,
1967)
– Die Schrift und die Differenz (1967). Übersetzt von Rodolphe Gasché. Frank-
furt am Main: Suhrkamp, 5. Aufl. 1992. (– L’écriture et la différence. Paris:
Seuil, 1967)
– Rundgänge der Philosophie (1972). Übersetzt von Peter Engelmann. Wien:
Passagen, 2. Aufl. 1999. (– Marges de la philosophie. Paris: Minuit, 1972)
– Wie nicht sprechen. Verneinungen (1986). Hrsg. von Peter Engelmann, über-
setzt von Hans-Dieter Gondek. Wien: Passagen, 1989. (– Comment ne pas
parler. Dénégations. In: Psyché. Inventions de l’autre. Paris: Galilée, 1987,
S. 535–595)
– Limited Inc (1988). Übersetzt von Werner Rappl, hrsg. von Peter Engelmann.
Wien: Passagen, 2001. (– Limited Inc. Evanston, IL: Northwestern University
Press, 1988; Limited Inc. Paris: Galilée, 1990)
– Falschgeld. Zeit geben I (1991). Übersetzt von Andreas Knop und Michael
Wetzel. München: Fink, 1993. (– La fausse monnaie. Donner le temps I. Paris:
Galilée, 1991)
– Über den Namen. Drei Essays (1993). Hrsg. von Peter Engelmann, übersetzt
von Hans-Dieter Gondek und Markus Sedlaczek. Wien: Passagen, 2000
(– Passions. Paris: Galilée, 1993; – Khôra. Paris: Galilée, 1993; – Sauf le nom.
Paris: Galilée, 1993)
– und Stiegler, Bernhard: Echographien. Fernsehgespräche (1996). Übersetzt
von Horst Brühmann. Wien: Passagen, 2006. (– Échographies de la télévision.
Paris: Galilée, 1996)
– Von der Gastfreundschaft (1997). Mit einer »Einladung« von Anne Dufour-
mantelle. Übersetzt von Markus Sedlaczek, hrsg. von Peter Engelmann. Wien:
Passagen, 2001. (– De l’hospitalité. Anne Dufourmantelle invite Jacques Der-
rida à répondre. Paris: Calmann-Lévy, 1997)
– Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen (2001).
Übersetzt von Susanne Lüdemann. Berlin: Merve, 2003. (– Une certaine pos-
sibilité impossible de dire l’événement. In: Dire l’événement, est-ce possible?
Autoren: Jacques Derrida, Gad Soussana und Alexis Nouss. Paris: L’Harmat-
tan, 2001, S. 79–112)
– Schurken. Zwei Essays über die Vernunft (2003). Übersetzt von Horst Brüh-
mann. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006. (– Voyous. Deux essais sur la
raison. Paris: Galilée, 2003)
482
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Literaturverzeichnis
Foucault, Michel: Theatrum philosophicum (1970). In: Gilles Deleuze und Mi-
chel Foucault: Der Faden ist gerissen, übersetzt von Walter Seitter. Berlin:
Merve, 1977, S, 21–58. (– Theatrum philosophicum. In: Critique 282 (1970)
S. 885–908)
Henry, Michel: l’essence de la manifestation (1963), 2 Bände. Paris: PUF, 1963.
Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen I (1900, 2. Aufl. 1913). Hua XVIII,
hrsg. von Elmar Holenstein. Den Haag: Martinus Nijhoff, 1975.
– Logische Untersuchungen II (1901, 2. Aufl. Teil I: 1913, Teil II: 1921). Hua
XIX/1 und XIX/2, hrsg. von Ursula Panzer. Den Haag: Martinus Nijhoff,
1984.
– Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917). Hua X, hrsg.
von Rudolf Boehm. Haag: Martinus Nijhoff, 1966.
– Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologische Philosophie I
(1913). Hua III, hrsg. von Walter Biemel. Haag: Martinus Nijhoff, 1950.
– Analysen zur passiven Synthesis (1918–1926). Hua XI, aus Vorlesungs- und
Forschungsmanuskripten hrsg. von Margot Fleischer. Haag: Martinus Nijhoff,
1966.
– und Heidegger, Martin: Phänomenologie (1927), hrsg. von Renato Cristin.
Berlin: Duncker und Humblot, 1999.
– Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge (1929). Hua I, hrsg. von
Stefan Strasser. Haag: Martinus Nijhoff, 1950.
– Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phäno-
menologie (1936). Hua VI, hsrg. von Walter Biemel. Martinus Nijhoff, 1954.
– Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik (postum
1939). Redigiert und hrsg. von Ludwig Landgrebe. Prag: Academia/Verlags-
buchhandlung, 1939.
Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung (1945). Über-
setzt von Rudolf Boehm. Berlin: Walter de Gruyter & Co, 1. Aufl., Nachdr.
1974. (– Phénoménologie de la perception. Paris: Gallimard, 1945)
– Das Sichtbare und das Unsichtbare (postum 1964). Hrsg. von Claude Lefort,
übersetzt von Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels. München: Fink,
1986. (– Le Visible et l’Invisible. Hrsg. von Claude Lefort. Paris: Gallimard,
1964)
Richir, Marc: Phänomenologische Meditationen. Zur Phänomenologie des
Sprachlichen (1992). Übersetzt von Jürgen Trinks. Wien: Turia + Kant, 2001.
(– Méditations phénoménologiques. Phénoménologie et phénoménologie du
langage. Grenoble: Jerôme Millon, 1992)
Romano, Claude: L’événement et le monde (1998). Paris: PUF, 2. Aufl. 1999.
– L’événement et le temps (1999). Paris: PUF, 2. Aufl. 2012.
– Eräugnis oder Kann es eine Phänomenologie des Ereignisses geben? (2010).
In: Erscheinung und Ereignis, hrsg. von Emmanuel Alloa. München: Fink,
2013, S. 183–200. (– L’événement et sa phénoménalité. In: ders., L’aventure
temporelle. Trois essais pour introduire à l’herméneutique événementiale. Pa-
ris, PUF, 2010)
483
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Literaturverzeichnis
Sekundärliteratur
484
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Literaturverzeichnis
485
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Literaturverzeichnis
486
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Literaturverzeichnis
Kühn, Rolf: Husserls Begriff der Passivität. Zur Kritik der passiven Synthesis in
der Genetischen Phänomenologie. Freiburg/München: Alber, 1998.
– Radikalisierte Phänomenologie. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2003. (Zitiert
als: Kühn(2003a))
– (Hrsg.): Epoché und Reduktion. Formen und Praxis der Reduktion in der Phä-
nomenologie. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003. (Zitiert als: Kühn
(2003b))
– Französische Religionsphilosophie und -phänomenologie. Metaphysische und
post-metaphysische Positionen zur Erfahrung(un)möglichkeit Gottes. Frei-
burg/Basel/Wien: Herder, 2013.
Leask, Ian und Cassidy, Eoin (Hrsg): Givenness and God. Questions of Jean-Luc
Marion. New York: Fordham University Press, 2005.
Lee, Seu-Kyou: Existenz und Ereignis. Eine Untersuchung zur Entwicklung der
Philosophie Martin Heideggers. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2001.
Macinlay, Shane: Interpreting Excess. Jean-Luc Marion, Saturated Phenomena,
and Hermeneutics. New York: Fordham University Press, 2010.
Marquet, Jean-François: Singularité et événement. Grenoble: Jérôme Millon,
1995.
Mehdi, Belhaj Kacem: Événement et répétition. Auch: Tristram, 2004.
Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer »performativen
Ästhetik«. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002.
– Was sich zeigt: Materialität, Präsenz, Ereignis. München: Fink, 2002.
Müller-Schöll (Hrsg.): Ereignis: Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfah-
rung. Anspruch und Aporien. Bielefeld: transcript, 2003.
Nitsche, Martin: Die Ortschaft des Seins. Martin Heideggers phänomenologi-
sche Topologie. Aus dem Tschechischen übersetzt von Aleš Novák in Zusam-
menarbeit mit Jana Krötzsch. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2013.
Ollig, Hans Ludwig: Der Neukantianismus. Stuttgart: Metzler, 1979.
Orth, Ernst Wolfgang: Martin Heidegger und der Neukantianismus. In: Heideg-
ger und der Neukantianismus, hrsg. von Claudius Strube. Würzburg: Königs-
hausen & Neumann, 2009, S. 15–33.
Pascher, Manfred: Einführung in den Neukantianismus: Kontext – Grund-
positionen – praktische Philosophie. München: Fink, 1997
Peperzak, Adriaan.: Emmanuel Lévinas: Autrement qu’être ou au-delà de l’es-
sence (Rezension). In: Philosophische Rundschau 24 (1977), S. 91–116.
Pettigrew, David und Raffoul François: French Interpretations of Heidegger. An
Exceptional Reception. Albany, NY: State Universitiy of New York Press,
2008.
Pöggeler, Otto: Heidegger und die hermeneutische Philosophie. Freiburg/Mün-
chen: Alber, 1983.
– Der Denkweg Martin Heideggers. Stuttgart: Neske, 3. erw. Aufl. 1990.
– Neue Wege mit Heidegger. Freiburg/München: Alber, 1992.
Rathmann, Thomas (Hrsg.): Ereignis. Konzeptionen eines Begriffs in Geschich-
te, Kunst und Literatur. Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2003.
Rentsch, Thomas: Martin Heidegger: Das Sein und der Tod. München/Zürich:
Piper, 1989.
– (Hrsg.): Martin Heidegger: Sein und Zeit. Berlin: Akademie Verlag, 2001.
487
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Literaturverzeichnis
488
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Literaturverzeichnis
Taodvine, Ted: Sense and Non-Sense of the Event in Merleau-Ponty. In: Ereignis
auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze, hrsg. von Marc Rölli. München:
Fink, 2004, S. 121–134.
Taureck, Bernhard H. F.: Emmanuel Lévinas zur Einführung. Hamburg: Junius,
4. Aufl., 2006.
Vetter, Helmuth: Über das Eigentümliche des Raumes bei Heidegger mit beson-
derer Berücksichtigung der »Beiträge zur Philosophie«. In: Das Spätwerk
Heideggers. Ereignis – Sage – Geviert, hrsg. von Damir Barbarić. Würzburg:
Königshausen & Neumann, 2007, S. 109–127.
– Grundriss Heidegger. Ein Handbuch zu Leben und Werk. Hamburg: Meiner,
2014.
Waldenfels, Bernhard: Phänomenologie in Frankreich. Frankfurt am Main:
Suhrkamp, 1987.
– Die Macht der Ereignisse. In: Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis De-
leuze, hrsg. von Marc Rölli. München: Fink, 2004, S. 447–458.
– Radikalisierte Erfahrung. In: Phänomenologie der Sinnereignisse, hrsg. von
Hans-Dieter Gondek, Tobias Nikolaus Klass und László Tengelyi. München:
Fink, 2011, S. 19–36.
Wansing, Rudolf: »Was heißt Denken?«. Geschichtlichkeit und Verbindlichkeit
als Problem philosophischer Selbstbestimmung im Denken Martin Heideg-
gers. Freiburg/München: Alber, 2002.
– Im Denken erfahren. Ereignis und Geschichte bei Heidegger. In: Ereignis auf
Französisch. Von Bergson bis Deleuze, hrsg. von Marc Rölli. München: Fink,
2004, S. 81–102.
Westerkamp, Dirk: Via negativa. Sprache und Methode der negativen Theo-
logie. München: Fink, 2006.
Wiemer, Thomas: Die Passion des Sagens. Zur Deutung der Sprache bei Emma-
nuel Levinas und ihrer Realisierung im philosophischen Diskurs. Freiburg/
München: Alber, 1988.
Wolf, Kurt: Religionsphilosophie in Frankreich. Der »ganz Andere« und die per-
sonale Struktur der Welt. München: Fink, 1999.
Zeilinger, Peter: Das Ereignis als Symptom. Annäherung an einen entscheiden-
den Horizont des Denkens. In: Nach Derrida. Dekonstruktion in zeitgenössi-
schen Diskursen, hrsg. von ders. und Dominik Portune. Wien: Turia + Kant,
S. 173–199.
– Dem Ereignis nach-denken. Hat Badious Philosophie eine Zukunft? In: Treue
zur Wahrheit. Die Begründung der Philosophie Alain Badious, hrsg. von Jens
Knipp und Frank Meier. Münster: Unrast, 2010, S. 221–237.
Ziegler, Susanne: Zum Verhältnis von Dichten und Denken bei Martin Heideg-
ger. Tübingen: Attempto, 1998.
Zourabichvili, François: Deleuze: une philosophie de l’événement. Paris: PUF,
1994.
Žižek, Slavoj: Was ist ein Ereignis? (2014). Übersetzt von Karen Genschow.
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2014.
489
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Register
Personen
Aristoteles: 42–43, 46, 149, 359 Heidegger, Martin: 18, 20–24, 26–27,
Artaud, Antonin: 108–109 29–31, 33–35, 39–60, 66–71, 73–
Augustinus: 149 74, 81, 86, 89–90, 93, 95, 100, 105,
Austin, John L.: 112–113 119, 122, 131, 142–143, 145–146,
148, 152, 155–241, 243–248, 253,
Badiou, Alain: 26–27, 34, 122–137, 257–258, 260, 273, 276, 278, 285–
145, 152, 211, 296, 302, 350, 405, 286, 296–297, 301, 305–306, 312,
425, 435–436, 473 315, 317, 320, 323–324, 328, 333,
Balthasar, Hans Urs von: 139 338, 343, 351, 363, 383, 397–398,
Baudelaire, Charles: 94, 178 405–407, 425–430, 432–435, 437–
Baudrillard, Jean: 265 441, 443–448, 450–452, 457–459,
Bergson, Henri: 27, 66–67, 149, 285 461–462, 464–466, 470–474
Buber, Martin: 71, 73 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: 19,
31, 56, 70–71
Cohen, Hermann: 73 Henry, Michel: 25, 32–33, 68, 382,
443, 454–455, 469
Deleuze, Gilles: 18, 27–28, 31, 34, Hölderlin: 54, 56, 226
59, 69, 80–96, 104–105, 122–123, Husserl, Edmund: 21–23, 25, 27, 29–
136, 145, 152, 289, 372, 376, 445, 30, 32–33, 35, 40–41, 43, 66–67,
464 69–70, 74, 95, 98–101, 103, 114,
Derrida, Jacques: 18, 20–21, 25–27, 124, 142, 149–150, 259, 261, 274,
31, 33–34, 59, 66, 68–69, 71, 75, 77, 276, 285, 318, 331–333, 335, 338,
97–121, 141, 152, 173, 262, 296, 340, 343, 347, 351, 361, 367, 369–
311, 317, 353, 412–414, 417–421, 370, 372–373, 382, 425–426, 429,
425, 428–429, 432–434, 448–449, 431, 438–439, 445, 447, 454, 457,
451, 455, 471, 473 469
Descartes, René: 138–139, 141, 270
Dostojewski, Fjodor: 311 Kant, Immanuel: 39, 49, 56, 90, 92,
330–333, 335, 340, 369, 370–373,
Foucault, Michel: 27, 59, 86, 89, 96, 388
108–109, 268, 442 Kojève, Alexandre: 19, 71
Freud, Sigmund: 21, 108, 442
Lacan, Jacques: 27, 71
Guattari, Félix: 81, 88–89 Lask, Emil: 41
490
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Register
Sachbegriffe
adonné: 68, 143, 148, 342–349, 367, 248, 259, 288, 297, 303–315, 397,
387, 407–408, 411, 417 404–406, 412, 430, 432–444, 447,
advenant: 146–152, 204 449–450, 452, 458–460, 464, 473–
Andere, das/der: 17–18, 24–25, 27– 475
36, 53, 57, 63–64, 66, 68–80, 89–90, Anschauung: 98, 100, 102, 139–140,
92–95, 100–102, 105, 107–108, 118, 142–143, 276–277, 289, 323, 330–
131, 134, 140, 143, 148–152, 167, 331, 339, 341, 352, 358, 369–371,
173, 217–219, 223, 232, 241–246, 374, 377–378, 380–382, 384, 387,
249–266, 268–277, 279–292, 294, 389, 411, 425, 427, 429, 445, 429,
297–303, 305–314, 316, 318, 320– 462
321, 343–345, 347, 358, 360–361, Antwort: 78, 85–86, 143, 148, 150–
367, 385–388, 390–391, 400, 402, 152, 174, 230, 252, 255–257, 277,
405, 407–411, 416, 425, 427, 430– 279, 282–284, 288, 290–291, 299–
431, 433, 435, 441–444, 446–447, 300, 303, 309, 316, 358, 386, 406–
450–456, 458–460, 462, 464, 466– 411, 427
470, 472–475 Augenblick: 79, 103–104, 119–120,
Anfang: 35, 53–58, 69, 131, 157, 159– 164–165, 184–186, 188, 193–194,
168, 172–173, 176–177, 183–186, 196, 203, 205–206, 208, 211, 215,
188, 192–198, 200–218, 220–223, 223–224, 237, 241, 254, 270, 272,
226, 229, 231–234, 236–238, 247– 274, 287, 290, 294–296, 327–328,
491
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Register
336, 345, 351, 355, 367, 376, 380– 260, 262, 268, 270–271, 273, 279–
381, 397–398, 400, 436, 446, 473 283, 285–286, 299, 302, 305–307,
Außen: siehe »Exteriorität« 312–315, 318, 321, 370, 431, 433,
Begegnung: 17, 24–26, 28–29, 33–36, 444, 450, 453–455, 458, 462, 466–
53, 63, 67–68, 70–72, 74, 76–80, 90, 472, 474
94–95, 143, 150, 158, 173, 182, 189,
206, 227, 246, 249–250, 252–253, Dasein: 46–53, 56, 58, 69, 73, 80, 93,
255–259, 261–262, 264, 269, 272, 145, 155, 157–158, 161, 163, 179–
274, 276–278, 283, 286, 296–297, 183, 187–190, 209, 214–215, 217–
304, 320, 375, 390–391, 402, 405, 222, 224–225, 231, 236, 249, 258,
435, 442, 446, 458, 468 278, 286, 343, 363–364, 425, 427,
437, 439, 443–444, 458, 470–471,
Begehren: 121, 193, 202, 255, 262, 473
270–273, 280, 304, 310, 312–313, Denken:
320, 453–454, 469 –, vorstellend-gegenständliches: 57,
Begriff: 40, 45, 52, 61–64, 68–69, 89– 71, 73, 77, 100, 107–108, 163, 171–
90, 93, 97, 100, 107–110, 139–144, 172, 174, 198–199, 201, 260, 293–
147, 149, 170–174, 242, 248, 250, 294, 399, 428–429, 436, 446–447,
258, 264, 267, 272, 276, 293, 330, 456, 459
332, 339, 349–351, 353, 368–374, –, des Ereignisses: 19–26, 29–34, 39–
377–378, 380–386, 389–391, 395, 40, 44, 50–58, 60, 66–71, 79–80, 91,
399–401, 411, 417, 425, 427–429, 93–98, 105, 107, 122, 134, 140–141,
431 145–146, 152, 155–158, 182–183,
Betroffenheit: 29–30, 33, 36, 67, 69, 189–192, 201, 217, 223–227, 230,
78–80, 89–90, 93–94, 122, 136, 233, 248, 258, 260–261, 264, 266,
145–147, 169, 175, 180–181, 183, 268–270, 299, 315–318, 393–396,
206, 223, 235, 238, 249, 251, 258– 399–401, 418–419, 425–475
262, 272, 274, 284, 290, 293–295, Differenz/Unterschied: 20–21, 52,
300, 310, 312, 314, 343, 348–349, 59, 63–64, 69 71, 75, 91, 97–98,
356–357, 364, 369, 376, 380, 397, 101–109, 119, 132–135, 173, 176,
425, 427–428, 436–437, 443–445, 182, 238, 263–269, 273, 275, 290,
447–448, 450, 452–453, 459, 463, 304, 351, 382
465–466 –, différance: 20–21, 31, 97–98, 104–
Bewusstsein: 20–21, 23, 25, 28, 31– 107, 110
33, 43–44, 60–61, 63–68, 72, 79, 81, –, ontologische: 45–46, 51–52, 161,
84, 91, 95–96, 98–103, 107, 110, 170–171, 176, 237, 240, 243
113, 115, 117–122, 140, 142–143, donation: siehe: »Gegebenheit
148–151, 220, 249, 252–253, 255, (phänomenologische)«
258–262, 273, 275–280, 284, 286–
293, 295–297, 307, 323, 335–336, Empfänger: 28, 50, 65, 68–69, 78–
338, 342–347, 351, 355–357, 364, 79, 95, 119, 143, 150, 152, 158,
367–370, 378, 397, 399–401, 410, 214, 219, 237, 257–259, 283, 289,
413, 416–421, 429, 433, 439, 447– 290, 292, 307, 313, 334, 342–348,
448, 451–458, 460, 469 356, 358, 364, 368, 382, 385–387,
Beziehung: 25, 57, 68, 70–76, 79, 93, 391, 400–401, 408, 416–418, 425,
100–101, 182, 205–206, 233, 242– 433, 435, 442, 452, 456, 464, 467,
244, 246, 250, 252–253, 255–257, 470
492
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Register
Erfahrung: 24–26, 28–35, 44, 49, 53, 252–253, 255–265, 268, 270–271,
57, 62–65, 67, 72, 76, 78, 92, 116, 273–280, 283–285, 289, 291–292,
122, 131, 135–137, 139–141, 143, 294–296, 299, 306–308, 313, 316,
145, 147–151, 163–164, 166, 169– 364, 366, 400–401, 408, 414–415,
173, 175, 177–184, 187, 190–194, 417, 420, 446, 469, 474
196, 201, 205, 207–208, 210–213,
215, 219, 221, 223, 229, 232, 236– Freiheit: 19–20, 49, 155, 218, 220,
239, 250, 256, 258, 275–276, 278– 242, 259, 282, 284, 288–291, 308–
279, 285, 287, 290, 292, 295–298, 309, 312–313, 338, 341, 363, 365,
302, 304–310, 315, 317, 330–332, 407, 411
335, 342, 347, 349–352, 354, 360– Freundschaft: 358, 416, 440, 446
362, 364, 367–371, 373–375, 379,
381–384, 386, 388, 390–391, 397– Gabe/Geschenk: 21, 35, 53, 55–57,
398, 400–404, 408, 425, 429–430, 59, 67, 10, 114–115, 117–121, 141,
432–433, 436–437, 439–441, 445, 152, 165–166, 183, 187, 194–196,
447–450, 452–460, 463, 465–468, 200, 205, 207, 209, 212, 215–223,
470–471, 474 226, 232, 248, 282, 297, 301, 311–
–, Nicht-Erfahrung: 24, 29, 31, 33– 313, 324, 327, 329, 340, 349, 356,
34, 91–92, 122, 166, 225, 238, 269, 386, 403–405, 411–421, 430, 435,
274–275, 296, 299, 331–332, 408, 440–441, 443, 446–448, 451, 460,
429–430, 432–434, 443–444, 448, 470–471
452, 456, 459–460, 463, 466–468, Gastfreundschaft: 21, 110, 114, 117–
470–471, 474 118, 121, 425
Erinnerung: 66, 101, 103, 111, 114– Geburt: 17, 65, 148, 152, 292, 397,
116, 119, 126–127, 151, 196, 198– 404, 418, 442, 460–461
202, 212–214, 216, 248, 252, 269, Gegebenheit (phänomenologische):
272, 286, 289, 293–295, 303, 324, 23, 62, 98, 102, 134, 138, 142, 167,
367, 427 195, 301, 323–350, 354–370, 372,
Erlebnis: 17, 19, 24, 29–30, 32, 40–43, 376, 380–381, 385, 388, 390–391,
49, 52, 62, 96, 143, 164, 170, 178– 393–396, 399–400, 402–403,
181, 199, 249, 260–262, 269, 285– 405–408, 412, 415–417, 427–429,
287, 290, 296, 351, 356, 367, 370, 432–435, 437–440, 444, 450, 453,
382–383, 387, 389, 398–400, 428– 456
430, 439, 446, 453–454, 458, 464, Gegebene, das: 20, 22–23, 29, 33, 55,
466, 471 57, 62, 64–67, 81, 85, 88, 92–93, 95,
Ethik: 27, 39, 74, 76–77, 241, 271, 98, 102, 119, 122, 125–126, 131,
292, 297, 305–309, 311–312, 315, 134, 136, 138–139, 142, 150, 167,
318, 405, 430, 435, 466 182–183, 187, 194–196, 207, 209,
Existenz: 27–28, 43, 45–50, 52, 60– 216, 218, 223, 237, 247–248, 274,
62, 72, 74, 76, 145, 148, 178, 219, 294, 301, 314, 322–327, 332–333,
224–225, 240–241, 243, 278, 288, 338, 342–348, 354–356, 361, 363–
306, 389, 431, 437, 457 364, 368–369, 373, 378, 386–387,
–, Nicht-Existenz: siehe »Ohne Sein« 390–391, 393–394, 397, 399–403,
Exteriorität: 22, 25–26, 29–30, 62, 65, 405–412, 417–418, 420–421, 425–
67, 75, 78, 83–84, 90–92, 96, 100– 426, 429–430, 432–433, 435–437,
102, 117–119, 123, 170, 172–173, 439, 441, 443, 446–449, 451, 453,
181, 183–184, 209, 218, 220, 236, 455, 466, 473
493
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Register
494
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Register
336, 362, 365, 369, 373, 391, 393, 263, 290, 294, 296–298, 302, 320,
400, 406, 426, 440, 444 330, 336, 344–345, 361, 367, 377–
378, 382–383, 408–409, 418, 427,
Macht: 19–20, 53, 56, 70, 75, 102, 429–430, 436, 456, 458, 465–467
184, 195, 202–205, 209, 212, 214– Notwendigkeit: 55, 87, 126, 135, 171,
215, 217, 219, 221–223, 237, 242, 197, 203–204, 207–209, 211–213,
256, 258, 281, 285, 290, 308, 343, 215–217, 226, 233, 260, 282, 290,
355–356, 361, 376–377, 439, 441– 314, 317, 319, 334, 346, 348, 350,
443 356, 358, 360–362, 365, 464
Metaphysik: 51–53, 55–57, 68, 86,
96, 98, 100–103, 110, 119, 140–141, Objekt: 22–24, 26, 29–30, 41–42, 44–
157, 167–168, 174, 176–177, 182, 45, 57–58, 61–64, 68–72, 75, 77, 89,
191, 198, 201, 205, 207–209, 211– 91–93, 98–100, 113, 121, 137, 142–
217, 238, 253, 271, 305, 315, 320, 143, 149, 155, 158, 161–164, 166,
330, 350–351, 353–354, 360, 386, 169–170, 173–174, 176, 179, 182–
391–394, 432, 437, 451–454, 463– 183, 185, 194–195, 204, 225, 242–
475 243, 248–251, 253, 257, 259–260,
Möglichkeit/Ermöglichung: 20–21, 264, 268, 272–274, 276–278, 280–
24, 31, 39, 46–50, 52–53, 55, 57, 69, 281, 294–296, 308–309, 315–317,
76, 86, 94, 106–107, 111, 127, 131, 322–323, 330–333, 338, 341–342,
139, 141, 147–149, 151, 160, 163, 347–348, 355–358, 367–370, 372–
165, 167, 176–177, 183, 187, 189, 374, 381–382, 385–386, 388, 390,
205–208, 210–213, 215, 217, 219– 393, 396, 398–401, 403, 405, 414–
222, 225, 229, 235, 239, 255, 275, 417, 426–431, 434, 440–441, 444,
278, 281–284, 291, 305, 307, 312– 447–448, 450–453, 455, 457–459,
313, 315, 329–330, 332, 334–336, 467–468
338–339, 342, 350–354, 360–361, –, Nicht-Objekt: 24, 26, 41–43, 45,
364, 366, 388–389, 399, 404–405, 57–58, 62–65, 68–72, 77–79, 90–
411, 414, 436, 438, 444, 460 93, 96, 107, 113, 122, 136–137,
140–142, 144, 146, 157, 161–166,
Nähe: 25, 72, 79–80, 94, 100, 204– 168–173, 175–178, 180–183, 189,
205, 223, 249, 252–253, 257, 262, 191, 193, 195, 199, 201, 223, 225,
264, 269, 272–274, 277, 279–284, 229–232, 235, 238, 242, 248–251,
295, 298, 307–308, 312, 316, 321, 253–255, 257–260, 262, 264, 268,
400, 403, 411, 431, 444, 466–470, 270–273, 275–277, 280–281, 295–
473 296, 298, 308, 310, 316–317, 323,
Neue, das: 28, 32, 53, 69, 85–87, 94, 328, 330–334, 339, 341–342, 347–
131, 134, 147, 149, 208, 213, 221, 348, 357, 366–369, 375, 378–379,
223, 238, 289, 291, 304–315, 332, 385–388, 390, 392–394, 396–401,
350–352, 402, 404–405, 411, 440– 403, 405, 407, 416–418, 420, 425–
441, 444, 446, 465, 467, 473 431, 433–435, 441, 444, 448, 450,
Neukantianismus: siehe »Transzen- 452–456, 458–459, 463–468, 471,
dental/-philosophie« 473–474
Nichts: 22, 49, 67, 92, 97, 100, 115, Ontologie: 18, 20, 22–31, 34–35, 43,
120, 123, 125, 127–129, 134, 147, 61, 71, 73–74, 76–78, 81, 84, 89–90,
166, 168, 170, 175, 194, 199–201, 92, 122, 124–125, 127, 132, 135–
223, 229–230, 232–235, 247, 250, 136–137, 152, 157, 173, 182, 250,
495
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Register
253, 257, 271, 307, 309, 316–317, 238–239, 244, 260–261, 274, 276,
321, 334, 336, 342–343, 347, 399, 318, 328, 331–343, 346–348, 353,
401–402, 410, 425, 429, 432, 434– 360, 367, 369, 372–373, 377, 389,
438, 445–448, 450–454, 458, 463, 393, 396, 399–402, 405, 407–410,
465, 468–474 414, 418–421, 425–440, 442–457,
–, Fundamentalontologie: 23, 43–48, 459–461, 463–475
56, 189, 338, 439 Präsenz: 21, 31, 33, 65–66, 68–69, 75,
Ort/Verortung: 48–49, 58, 68, 76, 77, 79, 87–88, 97–117, 119–120,
84, 93, 95, 111, 122, 126–128, 131, 124–129, 131, 133–135, 140, 150–
150, 155–159, 170–171, 175, 179– 151, 162–163, 183, 187, 193, 201–
193, 202, 214, 222–231, 233–234, 202, 223, 251, 259, 269, 274, 277,
236, 238–239, 249, 256, 258–259, 285–287, 289, 291–297, 299, 302,
262, 270, 273, 277, 284, 289, 300, 347, 351, 393, 397, 402–404, 413,
320, 342, 382, 408, 443, 455, 470– 429, 451, 456
475 Psychoanalyse: 19, 26, 71
Passivität: 19, 25, 28, 33, 65–67, 69, Raum/Räumlichkeit: 23, 63, 75, 88–
79–80, 91, 95, 136, 143, 214, 219– 89, 94, 103, 105, 123, 178–193, 202,
220, 255, 257, 259–261, 274–275, 213, 222, 224–225, 227, 236–237,
277, 279, 282–285, 290, 292, 312, 249, 258, 260, 273–274, 278, 280,
318, 343–345, 358, 367, 401, 411, 282, 284, 337, 379, 383, 398, 465–
417–418, 442–443, 454–456, 464, 466, 471, 473–474
466–470, 473 Ruf: 143, 282, 302, 313–314, 386–
Phänomen/Erscheinung: 27, 29–30, 388, 391, 402, 406–411
32–34, 47, 50, 66, 82, 86, 93, 100, Reduktion (phänomenologische): 23,
103–104, 106, 122–124, 138–143, 30, 41, 100–104, 106–107, 140, 142,
146, 148, 150, 152, 158, 170, 178, 238, 251, 255, 260, 289, 318, 324,
183, 187, 195–196, 203, 205, 210, 329, 331–342, 346, 375, 386, 409–
216, 223, 228–229, 237–239, 241, 410, 415, 417, 420–421, 432, 438,
243, 249–256, 258, 262, 267, 271– 440, 445, 451, 463
272, 277–278, 289, 293–295, 297, Repräsentation: siehe »Erinnerung«
300–306, 315–316, 322–349, 352–
370, 374, 377–381, 383–386, 391, Schuld: 117–118, 120–121, 131, 310–
393–402, 404–410, 414, 417–421, 311, 314, 414, 416
426–441, 443–450, 456, 459–463, Seiende, das: 21–23, 30–31, 43–46,
465–466, 473, 475 48–53, 55, 58, 73–74, 76–77, 86, 97,
–, das gesättigte Phänomen: 138–139, 106, 108, 122, 125, 137, 140–142,
140–144, 232, 251, 322–327, 329, 155–158, 160–166, 168, 170–171,
333, 338–341, 345, 348–349, 351– 174–178, 180, 182–187, 189–191,
353, 357, 364, 367–392, 394, 400– 193–201, 203–205, 208–209, 212,
402, 408, 411–412, 417–418, 427, 214, 216, 218, 221–223, 225, 227–
432–433, 435, 440, 444, 456 232, 234–238, 240–243, 248–249,
Phänomenologie: 19, 22–23, 25–26, 251–253, 256–258, 273, 278, 280,
28–35, 40–44, 55, 59–61, 66, 68, 297–298, 305, 307, 312, 318, 320,
70–72, 81, 90–91, 94–96, 98, 101, 324, 333–334, 338, 342, 365–366,
115, 118, 122, 124, 136–139, 141– 392–393, 425, 430, 434, 438–441,
143, 145–146, 152, 182–183, 195, 451–453, 457, 463, 471, 473
496
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Register
Sein: 18–19, 22–24, 31–32, 34, 40– 95–96, 99, 108, 124, 131, 134–137,
58, 60–62, 65, 67, 69, 71, 73–76, 148–149, 151, 155, 161, 170, 178–
78–80, 82–84, 86, 92–93, 98, 100, 179, 182, 188–189, 217, 219, 222,
115, 122–126, 128–131, 136, 140– 230, 236, 238–239, 241–242, 245,
142, 145, 152, 155–245, 247–249, 249, 252–256, 258–262, 270–271,
253–254, 257–261, 273–274, 286– 273–274, 277–278, 280, 282, 285,
287, 290, 292, 297, 299, 305–310, 290, 294, 305, 309, 312, 330–331,
312, 315, 318, 321, 324, 329, 332– 333–334, 343, 386–388, 429, 439,
333, 343, 350–351, 360–361, 363, 442, 445, 454–459, 464, 466–469,
366, 379, 391–393, 402, 410, 414– 473
416, 425, 427, 430–431, 434, 437– –, Subjektivität: 78, 80, 93–94, 254–
441, 443–444, 447, 450–452, 455, 255, 257–259, 262, 274, 282–283,
457–458, 461, 464–466, 470–474 299, 431–432, 473
–, Ohne Sein: 34, 73–76, 78–79, 81–
82, 90, 97, 113–116, 120, 123–132, Theologie: 23, 71–72, 138–139, 141,
134, 136–137, 140–141, 203, 238, 347, 378, 435, 448, 451, 453
241–243, 245, 247, 253–254, 257– –, negative: 298–299, 318, 413, 451,
259, 261, 277, 290, 296, 298–299, 453
304–306, 315, 318, 352, 361, 366– Tod: 17, 75, 131, 146, 152, 164, 225,
367, 410, 414–416, 431, 470–471, 242, 285, 292, 309–310, 396–398,
473 416, 418, 425–426, 443, 460, 467
Sichtbarkeit: siehe »Phänomen/Er- Topologie: 58, 86, 93–95, 105, 122,
scheinung« 132, 136, 182, 189, 191, 465
Singularität/Einzigkeit: 84, 86–88, Transzendental/-philosophie: 22–24,
90–91, 110–115, 117, 119, 123, 127, 28, 30, 39–41, 46, 56, 62, 72, 90–94,
129, 149, 151–152, 159–160, 162– 122–123, 148, 157, 182, 218–219,
163, 173, 185–186, 191–192, 208, 253, 275, 330–333, 335, 338, 340,
210–211, 223, 233, 237, 240–241, 342, 369–373, 388, 393, 438–439,
280, 296, 301, 376–378, 383, 390– 445, 464–465
391, 395–398, 404, 441 Transzendenz/Transzendieren: 18–
Sprache: 20–21, 29, 51, 54, 72, 76–78, 19, 35, 39–42, 44, 46, 49, 62, 67–69,
81, 84, 100–102, 106–108, 111–112, 71–72, 76, 78, 80, 89, 91–92, 94,
117, 123, 131, 133–134, 167, 173, 188, 218, 244, 253, 256, 260–261,
223–236, 239, 244, 256, 262, 283, 263, 268–270, 274, 277–279, 282,
299, 315–321, 441, 464–465, 474 284, 287–288, 290, 298, 305–306,
Spur: 75–76, 79, 104, 106, 115, 122– 308, 310–312, 319–320, 347, 412,
123, 167, 194, 207, 215, 217, 234– 415, 431, 442, 470–471
235, 237–239, 287, 297–306, 315– Trauma: 27, 292
319, 321, 383, 394, 397, 401, 405,
407, 409, 411, 429, 433–436, 440– Unbegreiflichkeit: 24, 30, 45, 61–64,
441, 444, 449–450, 456, 458–459, 68–69, 79, 90, 93, 97, 100, 105, 107–
463 110, 117, 121, 139–144, 147, 149,
Strukturalismus/Poststrukturalis- 151, 156, 167, 170–174, 178, 194,
mus: 19, 21, 26, 31, 80, 89–91, 94, 210, 215, 232, 235, 242, 248, 250,
122 254, 258, 263–264, 266, 269, 272,
Subjekt: 19–22, 24–25, 29–30, 50–51, 275–277, 288, 293, 296, 304, 310,
53, 62, 64–65, 68–78, 80, 83, 90–93, 315, 320, 323, 339, 347–349, 351–
497
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Register
354, 367–374, 377–378, 380–392, 289, 291, 312, 336, 349–351, 353–
394–401, 403, 405, 408–411, 417, 354, 356, 359–362, 365–366, 368,
425, 427–429, 431–433, 436–438, 376, 389, 394–395, 398, 400, 402,
443–444, 447–450, 453, 458–459, 404, 440–441, 444, 446, 475
464, 470 Ursprung/Ursprünglichkeit: 33, 40,
Undenkbarkeit: 26, 30, 45, 64, 69, 71, 47–48, 50–51, 58, 62, 64–67, 72,
79, 100, 107–109, 112, 134, 163, 76–77, 98–99, 103–107, 148–149,
169–178, 180, 190, 199, 222–223, 151, 157–158, 161, 163, 165, 167,
231, 255, 257, 262–270, 273, 277, 175–176, 182–183, 187, 189, 193,
281, 283–284, 293–294, 298, 351– 197, 205, 207, 211, 216, 220–222,
352, 367–368, 391–392, 394–395, 226–227, 230, 235, 238, 247, 259,
399–401, 405–406, 419–420, 425– 274, 277, 284, 288–292, 294–296,
475 300, 305–307, 317, 323, 327–328,
Uneinholbarkeit: 20–21, 24–25, 30, 331, 351, 358–360, 367, 369, 382,
33–34, 45, 62, 64–65, 67–69, 75, 79, 386, 388, 392–393, 404–405, 425,
114, 140, 150, 167, 172–173, 194, 435–436, 458, 461, 465, 472–473
199–201, 223–225, 231–235, 238–
239, 249, 251, 264, 272, 277, 286– Verantwortung: 76–77, 79, 151–152,
288, 291–292, 294–298, 301–304, 249, 251–252, 255, 257, 261, 273,
310, 315, 320, 327, 346–347, 366, 279–284, 286, 288, 290, 292, 298–
391–393, 401, 403, 405–406, 408, 304, 309–314, 316, 410–411, 416,
411, 431–432, 434, 436, 438, 458– 431
459, 465, 471 Vergangenheit (die niemals Gegen-
Unerinnerbarkeit: 66, 79, 112–113, wart war): 66, 68, 75, 79, 108, 114–
117, 127, 151, 163, 169, 200–202, 115, 150–151, 201, 225, 286–288,
252, 272, 277, 286–287, 291–297, 291–297, 301, 309, 316, 343, 358,
405, 430–432, 444 397, 400–403, 431, 433, 436, 444,
Unmöglichkeit: 27, 45, 66, 71, 90, 446, 456, 460, 465
108–110, 113–120, 139, 144, 147, Vergebung: 21, 110, 114, 117–118,
218, 225, 261–262, 270, 273, 288, 120, 131, 133, 216, 418, 460
295, 315, 349–354, 360–362, 368, Vergegenwärtigung: siehe »Erinne-
376, 387, 400, 402, 414, 419–420, rung«
441, 450, 471 Vergessen: 24, 55–56, 196–210, 212,
Unsichtbarkeit: 21, 27, 33–34, 44, 68, 214–217, 220–221, 224–225, 230,
101, 112, 114–117, 120–121, 127– 237, 297, 305, 314, 320, 324, 383,
128, 130, 140, 152, 196, 205, 216, 434, 472–473
237–238, 247–252, 257–258, 262, Verspätung: 66, 68–69, 104, 115,
272, 284, 289, 293, 295–297, 299– 119–122, 132–133, 147, 150,
302, 305–306, 315–316, 323, 336, 210–211, 216, 259, 267, 275, 288–
343–344, 346–348, 355, 378–379, 289, 291–293, 296, 303, 316, 375,
296–297, 401, 404–409, 414–415, 395, 397, 403–404, 411, 433, 456,
417–421, 427–436, 443–452, 455– 460
456, 458–463, 465–466, 468–469, Vorstellung: 50, 111, 163–164, 170,
471, 474–475 173–174, 196, 198, 201, 234–235,
Unvorhersehbarkeit: 17, 53, 110, 116, 247–253, 265, 267, 275, 278, 281,
119, 128, 139, 147–148, 150, 207, 289, 293–296, 304, 317 319, 376,
209, 217–218, 236, 242, 246, 285, 427–428, 464
498
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Register
499
https://doi.org/10.5771/9783495820544
.
Register
245, 251, 285–286, 296, 335–336, 357, 363, 368, 374, 377, 379–380,
359, 380, 383, 403–404 388, 399, 452, 462, 474
Zwang: 135, 181, 184, 214, 218, 226, Zwischen: 96, 176, 181, 186, 191, 210,
230, 238, 272, 285, 291, 303, 310, 233
312–313, 320, 341, 346, 348, 355–
500
https://doi.org/10.5771/9783495820544