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Lasma Pirktina

Das Ereignis
Martin Heidegger,
Emmanuel Levinas,
Jean-Luc Marion
KONTEXTE

ALBER PHÄNOMENOLOGIE
https://doi.org/10.5771/9783495820544

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B
ALBER PHÄNOMENOLOGIE A
https://doi.org/10.5771/9783495820544

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Das Ereignis stellt ein bedeutsames Thema der gegenwärtigen Phi-
losophie dar. Wir alle kennen Ereignisse – sie ereignen sich mit uns.
Doch was ist das Ereignis? Was kennzeichnet es, wie ereignet es sich?
Wie ist es denkerisch zu beschreiben? Es stellt sich heraus, dass die
Ereignisse genau das sind, wovon man nicht fragen kann, was sie
sind, wie sie sind und wie man sie denken kann. So verfolgt das Buch
in der Philosophie Martin Heideggers, Emmanuel Levinas und Jean-
Luc Marions drei – mit Jacques Derridas Worten: »wahnsinnige« –
Versuche, das Undenkbare zu denken.

Die Autorin:
Lasma Pirktina studierte Philosophie an der Universität Lettlands in
Riga und der Technischen Universität Dresden; Promotion an der Ka-
tholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

https://doi.org/10.5771/9783495820544

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Lasma Pirktina

Das Ereignis
Martin Heidegger,
Emmanuel Levinas,
Jean-Luc Marion

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495820544

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PHÄNOMENOLOGIE
Texte und Kontexte

Herausgegeben von
Jean-Luc Marion, Marco M. Olivetti (†) und
Walter Schweidler

KONTEXTE
Band 28

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der


Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für
Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und
der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

Originalausgabe

© VERLAG KARL ALBER


in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019
Alle Rechte vorbehalten
www.verlag-alber.de

Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg


Herstellung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN (Buch) 978-3-495-48995-6


ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82054-4

https://doi.org/10.5771/9783495820544

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Danksagung

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um meine an manchen


Abschnitten überarbeitete und insgesamt verbesserte Dissertation,
die 2017 von der Philosophisch-Pädagogischen Fakultät der Katho-
lischen Universität Eichstätt-Ingolstadt angenommen worden ist. An
dieser Stelle möchte ich mich bei denjenigen bedanken, die bei ihrer
Entstehung teilgenommen haben.
Mein erster Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Walter
Schweidler, der mit großem Interesse mein Dissertationsprojekt an-
nahm, die Arbeit betreute und mit Vertrauen viel Raum für eigen-
ständiges Denken ließ.
Die Dissertation wurde durch ein Promotionsstipendium der
Hanns-Seidel-Stiftung gefördert, für das ich mich hiermit bedanke.
Ich danke Frau Prof. Gerl-Falkovitz für ihre Lehrveranstaltun-
gen an der Technischen Universität Dresden, die mich erstmals zum
Thema »Ereignis« brachten, sowie für ihre Bereitschaft, das Zweit-
gutachten zu übernehmen.
Einen besonderen Dank möchte ich Herrn Dr. Rolf Kühn aus-
sprechen, für seine Seminare an der Albert-Ludwigs-Universität
Freiburg und für die inspirierenden Gespräche.
Ich bedanke mich bei allen Teilnehmern des Doktorandenkollo-
quiums von Prof. Schweidler für den anregenden philosophischen
Austausch und all denjenigen, die mit rührender Freundlichkeit das
Korrekturlesen meiner Arbeit auf sich nahmen: Dr. Friedrich Hausen,
Uwe Hübner, Beatrix Kersten, Martin Krebs, Dr. Anna Maria Mar-
tini, Christian Otto und Dr. Gabriele Werner aus der Arbeitsgemein-
schaft Religionsphilosophie Dresden e. V., Dr. Raphael Bexten und
Dr. Robert Meißner aus dem Doktorandenkolloquium von Prof.
Schweidler, sowie Marcus Döller an der Goethe-Universität Frank-
furt am Main und Ass.-Prof. Dr. Christian Rößner an der Katho-
lischen Privat-Universität Linz. Schließlich bedanke ich mich bei
Herrn Dr. Tobias Holischka an der Katholischen Universität Eich-

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Danksagung

stätt-Ingolstadt für die organisatorische und technische Hilfe in der


Abschlussphase der Dissertation und bei der Vorbereitung der Dis-
putation.
Meiner Familie – meinem Mann und meinen zwei Söhnen – gilt
mein Dank für die Unterstützung und die aufgebrachte Geduld mit
mir in dieser Zeit.

Berlin, im August 2018 Lasma Pirktina

In Dankbarkeit dem Andenken von


Dr. Peter Przybylski gewidmet.

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Inhaltsverzeichnis

Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

I. DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE:


das gegenwärtige Denken des Ereignisses . . . . . 37

Martin Heidegger (1889–1976) . . . . . . . . . . . . . . . . 39


Maurice Merleau-Ponty (1908–1961) . . . . . . . . . . . . . 59
Emmanuel Levinas (1906–1995) . . . . . . . . . . . . . . . . 70
Gilles Deleuze (1925–1995) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
Jacques Derrida (1930–2004) . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
Alain Badiou (1937) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
Jean-Luc Marion (1946) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
Claude Romano (1967) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

II. DIE LOGIK DES EREIGNISSES:


Martin Heidegger, Emmanuel Levinas,
Jean-Luc Marion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers . 155


1. Das Ereignis in der Philosophie Martin Heideggers . . . 155
2. Die Zweideutigkeit des Ereignisses: die Wesung und der
Anfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

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Inhaltsverzeichnis

3. Das Ereignis als Austrag . . . . . . . . . . . . . . . . . 169


3.1. Das Ereignis ist kein Denken . . . . . . . . . . . . 170
3.2. Das Ereignis ist kein Erlebnis . . . . . . . . . . . . 178
4. Die Zeit, der Ort und der Zeit-Raum des Ereignisses . . . 183
5. Der Anfang und der Untergang . . . . . . . . . . . . . 193
6. Das Vergessen des Ereignisses . . . . . . . . . . . . . . 198
7. Die Machtlosigkeit und Herrschaft des Ereignisses . . . . 202
8. Der Anfang als Gründer der Geschichte . . . . . . . . . 205
9. Der erste Anfang, der andere Anfang und der Zwischen-
fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
10. Die Verschenkung und Unberechenbarkeit des Ereignisses 217
11. Die Wiederholung des Ereignisses: Ort, Sprache, Kunst . 223
12. Die Fülle und das Sagen des Ereignisses . . . . . . . . . 231
13. Die Jemeinigkeit und das verborgene Ereignis der
Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’ . 240


1. Die Philosophie Emmanuel Levinas’ und das Ereignis . . 240
2. Die Nicht-Phänomenalität und Nicht-Vorstellbarkeit des
Ereignishaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
3. Das Ereignis als Einbruch in die Welt des Selben . . . . . 252
4. Das Ereignis und die Innerlichkeit . . . . . . . . . . . . 257
5. Das Überschreiten des Denkens und die Undenkbarkeit
des Ereignisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
6. Aus sich heraustreten: das Begehren . . . . . . . . . . . 270
7. Aus sich heraustreten: die Sensibilität . . . . . . . . . . 273
8. Aus sich heraustreten: die Nähe und die Verantwortung . 280
9. Das Ereignis als Zeitbruch . . . . . . . . . . . . . . . . 284
10. Die unvordenkliche Vergangenheit und die Unerinner-
barkeit des Ereignisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
11. Die Spur des Ereignisses . . . . . . . . . . . . . . . . . 297
12. Das Ereignis als Anfang von etwas Neuem . . . . . . . . 304
13. Vom Ereignis sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

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Inhaltsverzeichnis

Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions . 322


1. Das Ereignis in der Philosophie Jean-Luc Marions . . . . 322
2. Die Selbst-Gegebenheit des Ereignisses . . . . . . . . . 328
3. Die Selbst-Gegebenheit des Ereignisses. Zwei Probleme . 334
3.1. Die Selbst-Gegebenheit und die Reduktion . . . . . 334
3.2. Die Selbst-Gegebenheit und der adonné . . . . . . 342
4. Das unmöglich mögliche Ereignis . . . . . . . . . . . . 349
5. Die fünf Bestimmungen des sich selbst gebenden
Ereignisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
5.1. Die Anamorphose . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
5.2. Das Eintreffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358
5.3. Das vollendete Faktum . . . . . . . . . . . . . . . 362
5.4. Der Vorfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
6. Das sättigende Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . 368
6.1. Die Idee des gesättigten Phänomens . . . . . . . . 368
6.2. Unanvisierbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
6.3. Unerträglich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377
6.4. Absolut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380
6.5. Unbeobachtbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384
6.6. Die Sättigung der Sättigung . . . . . . . . . . . . . 388
7. Das Jetzt des Ereignisses . . . . . . . . . . . . . . . . . 391
8. Die Erfahrung der Zeit im Ereignis . . . . . . . . . . . 401
9. Das Ereignis und die Geschichte . . . . . . . . . . . . . 404
10. Das Ereignis der Gabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412

III. UNTERWEGS ZU EINER


PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES:
Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . 423
1. Die Logik des Ereignisses . . . . . . . . . . . . . . . . 425
1.1. Das Ereignis und ein Etwas . . . . . . . . . . . . . 426
1.2. Das Ereignis und das, was sich ereignet . . . . . . . 429
1.3. Das Ereignis und die Spur . . . . . . . . . . . . . . 433
1.4. Das Ereignis und die Geschichte . . . . . . . . . . 435
1.5. Das Ereignis und das unvorhersehbare Neue . . . . 440
1.6. Das Ereignis und das Andere . . . . . . . . . . . . 441

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Inhaltsverzeichnis

2. Das Ereignis und die Phänomenologie . . . . . . . . . . 444


2.1. Das Ereignis als Phänomen und Nicht-Phänomen . . 445
2.2. Das nicht-phänomenale Ereignis und das Andere der
Erfahrung und des Denkens . . . . . . . . . . . . . 450
2.3. Das Ereignis und die Überschreitung der
Bewusstsein-Phänomen-Struktur . . . . . . . . . . 452
2.3.1. Der Leib . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453
2.3.2. Das nicht-vorstellende Denken . . . . . . . . 456
2.4. Die Nicht-Phänomenalität des Ereignisses . . . . . 459
3. Das Ereignis jenseits der Phänomenologie und
Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463
3.1. Das Ereignis und die Immanenz . . . . . . . . . . . 464
3.1.1. Die Nähe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466
3.1.2. Der Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470
3.2. Das Ereignis als Aus-sich-Heraustreten . . . . . . . 474

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490

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Siglenverzeichnis

A – Heidegger: Über den Anfang, GA 70


AQE – Levinas: Autrement qu’être
AS – Levinas: Außer sich
B – Heidegger: Besinnung, GA 66
BPh – Heidegger: Beiträge zur Philosophie, GA 65
BS – Marion: La banalité de la saturation
BV – Heidegger: Bremer Vorträge, GA 79 (Bremer und Freiburger Vor-
träge)
BWD – Heidegger: Bauen Wohnen Denken, GA 7 (Vorträge und Aufsätze)
CC – Levinas: Carnets de captivité
CN – Marion: Certitudes négatives
CV – Marion: La croisée du visible
DE – Marion: Dieu sans l’être
DEHH – Levinas: En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger
DI – Levinas: De Dieu qui vient à l’idée
DL – Levinas: Difficile liberté
DR – Deleuze: Différence et répétition
DS – Marion: De surcroît
DW – Deleuze: Differenz und Wiederholung
E – Heidegger: Ereignis, GA 71
Echo – Derrida: Echographien/Échographies
ED – Marion: Etant donné
EE – Levinas: De l’existence à l’existant
EeD – Derrida: L’écriture et la différence
EeE – Badiou: L’être et l’événement
EI – Levinas: Ethique et infini
EM – Romano: L’événement et le monde
EN – Levinas: Entre nous
En – Levinas: Eigennamen
EPh – Marion: Das Erotische: ein Phänomen
ET – Romano: L’événement et le temps
EU – Levinas: Ethik und Unendliches
EW – Marion: The Essential Writings
FG – Derrida: Falschgeld
FM – Derrida: La fausse monnaie
FV – Heidegger: Freiburger Vorträge, GA 79 (Bremer und Freiburger
Vorträge)

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Siglenverzeichnis

G – Derrida: Grammatologie/De la grammatologie


GdS – Heidegger: Die Geschichte des Seyns, GA 69
GE – Levinas: Wenn Gott ins Denken einfällt
GF – Derrida: Von der Gastfreundschaft
GG – Marion: Gabe und Gemeinwohl
GH – Marion: Givenness & Hermeneutics
GoS – Marion: Gott ohne Sein
GS – Marion: Gegeben sei
H – Derrida: De l’hospitalité
HAH – Levinas: Humanisme de l’autre homme
HAM – Levinas: Humanismus des anderen Menschen
HB – Heidegger: Humanismusbrief, GA 9 (Wegmarken)
HS – Levinas: Hors sujet
ID – Heidegger: Identität und Differenz, GA 11
IDE – Derrida: Une certaine possibilité impossible de dire l’événement
IeD – Marion: L’idole et la distance
IL – Deleuze: Die Immanenz: ein Leben
IV – Deleuze: L’immanence: une vie
JS – Levinas: Jenseits des Seins
KNS – Heidegger: Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungs-
problem (Kriegsnotsemester 1919), GA 56/57 (Zur Bestimmung der
Philosophie)
KR – Heidegger: Die Kunst und der Raum, GA 13 (Aus der Erfahrung des
Denkens)
L – Marion: Der Leib oder die Gegebenheit des Selbst
LM – Badiou: Logiques des mondes
LS – Deleuze: Logik des Sinns/Logique du sens
LW – Badiou: Logiken der Welten
MPh – Derrida: Marges de la philosophie
MWPh – Heidegger: Mein Weg in die Phänomenologie, GA 14 (Zur Sache
des Denkens)
NI – Heidegger: Nietzsche I, GA 6.1
NII – Heidegger: Nietzsche II, GA 6.2
NP – Levinas: Noms propres
OG – Derrida/Marion: On the Gift (Caputo/Scanlon: God, the Gift and
Postmodernism)
ÖS – Marion: Die Öffnung des Sichtbaren
P – Deleuze: Pourparlers
PhE – Marion: Le phénomène érotique
PhP – Merleau-Ponty: Phénoménologie de la perception
PhS – Marion: Le phénomène saturé
PhtW – Heidegger: Phänomenologie und die transzendentale Wertphiloso-
phie, GA 56/57 (Zur Bestimmung der Philosophie)
PhW – Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung
QPh – Deleuze/Guattari: Qu’est-ce que la philosophie?
RC – Marion: La rigueur des choses
RD – Marion: Réduction et donation

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Siglenverzeichnis

RdD – Marion: La raison du don


RG – Derrida: Rundgänge der Philosophie
RoG – Marion: The Reason of the Gift
RuG – Marion: Ruf und Gabe
S – Heidegger: Seminare, GA 15
SA – Levinas: Die Spur des Anderen
SB – Marion: Sättigung als Banalität
Sch – Derrida: Schurken
SD – Derrida: Die Schrift und die Differenz
SE – Badiou: Das Sein und das Ereignis
SG – Heidegger: Der Satz vom Grund, GA 10
Sp – Heidegger: Unterwegs zur Sprache, GA 12
SPh – Derrida: Die Stimme und das Phänomen
SS – Levinas: Vom Sein zum Seienden
SU – Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare
Sub – Levinas: La substitution
SZ – Heidegger: Sein und Zeit
TA – Levinas: Le temps et l’autre
TI – Levinas: Totalité et infini
ThPh – Foucault: Theatrum philosophicum
TU – Levinas: Totalität und Unendlichkeit
U – Deleuze: Unterhandlungen
UES – Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu
sprechen
UK – Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks, GA 5 (Holzwege)
ÜM – Heidegger: Die Überwindung der Metaphysik, GA 67 (Metaphysik
und Nihilismus)
V – Derrida: Voyous
VI – Merleau-Ponty: Le visible et l’invisible
VPh – Derrida: La voix et le phénomène
WG – Heidegger: Vom Wesen des Grundes, GA 9 (Wegmarken)
WM – Heidegger: Was ist Metaphysik?, GA 9 (Wegmarken)
WN – Heidegger: Das Wesen des Nihilismus, GA 67 (Metaphysik und
Nihilismus)
WPh – Deleuze/Guattari: Was ist Philosophie?
WW – Heidegger: Vom Wesen der Wahrheit, GA 9 (Wegmarken)
Z – Heidegger: Zollikoner Seminare, GA 89
ZA – Levinas: Die Zeit und der Andere
ZU – Levinas: Zwischen uns
ZS – Heidegger: Zeit und Sein, GA 14 (Zur Sache des Denkens)

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»Niemand kann auf Dauer dieses Abenteuer wollen, dass
aus der Leere unwahrscheinliche Namen auftauchen.
[…] Selbst dem, der an den Rändern der Ereignisstätten
umherirrt und sein Leben für die Gelegenheit und des
unmittelbaren Eingriffs riskiert, empfiehlt es sich am
Ende, ein Wissenschaftler zu sein.«

»[…] denn die Ereignishaftigkeit des Ereignisses ist alles


andere als eine freudig-warmherzige Gegenwart.«

Alain Badiou, L’être et l’événement

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Einleitung

Die vorliegende Arbeit geht davon aus, dass es ein Aus-sich-Heraus-


treten, eine Begegnung mit dem Anderen des Sich-Selbst gibt; dass es
Überraschungen, unvorhersehbare Geschehnisse, Einfälle von neuen
Ideen, Erschütterungen gibt; dass es Geburt, Sinnlichkeit, Hingabe,
Liebe, Religion, Kunst, Musik, Geschichte, Aufopferung, Tod gibt.
Damit geht diese Arbeit von einer »Sache« aus, nicht von einem phi-
losophischen Begriff oder einem in der Philosophie schon etablierten
Problem. Sie versucht, diese »Sache« philosophisch zu untersuchen;
sie schaut zuerst darauf, inwiefern und wie diese »Sache« in der Phi-
losophie schon behandelt worden ist; sie stellt kritische Fragen;
schließlich will diese Arbeit eine Richtung für die Behandlung dieser
»Sache« vorschlagen.
Was ist die »Sache« der vorliegenden Arbeit? Sie wird hier Er-
eignis genannt. Aus zweifachem Grund: Erstens weist der alltägliche
Gebrauch dieses Wortes auf ein besonderes und bedeutsames Ge-
schehnis oder Erlebnis hin; zweitens hat es oft auch im philosophi-
schen Diskurs diese Bedeutung, die dort entsprechend eine philo-
sophisch herausgearbeitete Tiefe gewinnt. Wir sagen: »oft«, weil das
Wort »Ereignis« in der Philosophie sehr unterschiedlich gebraucht
wird. Und das ist einer der Gründe, warum wir uns hier gezwungen
fühlen, von der »Sache« und nicht von einem Begriff oder einem Pro-
blem auszugehen. Wenn wir sagen, dass wir das Ereignis untersuchen
wollen, können wir uns auf keinen Fall darauf verlassen, dass überall,
wo im philosophischen Diskurs der Name »Ereignis« auftaucht, auch
die uns interessierende »Sache« im Blick steht. Man kann – und dies
ist in der philosophischen Literatur in der Tat beobachtbar – anneh-
men, dass, obwohl das Wort »Ereignis« in verschiedenen Texten un-
terschiedliche Bedeutungen aufweist, es sich immer noch um das Er-
eignis handelt, vielleicht um verschiedene seiner Aspekte. Man kann
dann, entsprechend dieser Annahme, versuchen, eine systematische
Ereignisphilosophie zu entwickeln, die alle diese Aspekte in sich ver-

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Einleitung

einen würde. Ein solches Unternehmen läuft aber Gefahr, ein gedank-
liches Monstrum zu schaffen, dem nichts entspricht, das sich an
nichts mehr erinnert. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, eine
»Sache« zu untersuchen, die wir Ereignis nennen, und nicht eine
Sache, ausgehend vom Gebrauch des Wortes »Ereignis«, zu konstru-
ieren. Obwohl diese »Sache« noch zu befragen ist, bestimmen wir sie
im Voraus ungefähr als ein Aus-sich-Transzendieren, Mit-dem-An-
deren-Sein. Dies könnte im Allgemeinen das Ereignishafte in seinen
unendlichen Gestalten, wie zum Beispiel: Sinnlichkeit, Liebesbegeg-
nung, Offenbarung, Inspiration etc., charakterisieren.
Wir betonen: Man kann dem Wort »Ereignis« auch andere Be-
deutung geben als wir hier es tun, man kann mit diesem Wort auch
andere Sachen bezeichnen, was auch der Fall ist: In der angelsächsi-
schen Philosophie wird das Ereignis als ein empirischer Prozess ver-
standen; in der Geschichtsschreibung geht es um geschichtliche Er-
eignisse, die datiert und in ihrer Faktizität untersucht werden;
schließlich gibt es auch event management. Auch in der Philosophie
spielt der Begriff des Ereignisses verschiedene Rollen. Das Ereignis
Heideggers ist auf keinen Fall das Ereignis Deleuzes oder Richirs. Es
wäre sehr unvorsichtig zu denken, dass es trotz dieses unterschiedli-
chen Gebrauchs dieses Wortes um ein und dasselbe geht, nämlich um
das Ereignis, das gleichwohl zur Ontologie, Geschichte, Management
und Philosophie von Heidegger, Deleuze und Richir gehören würde.
Es gibt keine Philosophie des Ereignisses, es gibt Philosophien, in
denen das Wort »Ereignis« auftaucht. Die vorliegende Arbeit spricht
nicht von dem unterschiedlichen Gebrauch des Wortes »Ereignis« in
der gegenwärtigen Philosophie und noch weniger versucht sie, aus-
gehend von diesem Gebrauch etwas zu konstruieren, das es gar nicht
gibt. Sie spricht von einer ganz konkreten »Sache«. Sie wählt für
diese »Sache« den Namen »Ereignis« – so wie es viele Denker, zum
Beispiel Heidegger, Derrida, Romano auch tun. Sie berücksichtigt
aber auch Denker, die diese »Sache« nicht Ereignis nennen, und trotz-
dem diese »Sache« behandeln, wie das zum Beispiel bei Levinas der
Fall ist. Sie berücksichtigt nicht die Denker, die dasselbe Wort be-
nutzen, aber von einer ganz anderen Sache sprechen.
Wenn wir hier unter dem Ereignis eine bestimmte »Sache« ver-
stehen und uns von anderem Gebrauch dieses Wortes abgrenzen,
heißt es nicht, dass wir uns um eine, um die richtige Definition und
dementsprechend um den richtigen Gebrauch dieses Wortes be-
mühen. Es geht hier nicht um ein Wort. Es geht ausschließlich um

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Einleitung

die Abgrenzung eines Problemfeldes der Philosophie, um in diesem


Problemfeld systematisch arbeiten zu können. Was ist das für ein
Problemfeld, worin sich das Ereignis als das Aus-sich-Heraustreten
einschreibt? Es handelt sich zuerst ganz allgemein um die Infrage-
stellung des rationalen Subjekts. Nun ist die Kritik des begrifflichen
Denkens als Wahrheitssubjekts und damit des die Welt und sich
selbst durchschauenden Subjekts, das vom Denken aus freie Entschei-
dungen trifft, überhaupt für das 20. und beginnende 21. Jahrhundert
charakteristisch. Überall – sei es in der Philosophie, Kunst, Geschichte
oder Wissenschaft – gibt es Versuche, das rationale und freie Subjekt
aufzuheben, auf sein Konstituiert-Sein hinzuweisen, seine Abhän-
gigkeiten von verschiedensten ihm unzugänglichen und unkon-
trollierbaren Prozessen zu bestimmen. Es sind vor allem die Phäno-
menologie des Leibes und der Passivität, die Psychoanalyse, der
Strukturalismus bzw. Poststrukturalismus, die Geschichtsphilosophie
von Nietzsche und Marx und Kojèves Interpretationen zu Hegel, in
deren Nähe zum Beispiel die französische Ereignisphilosophie in
ihren verschiedenen Gestalten entsteht. 1 Zu dieser Zeit scheint es
nicht mehr möglich, das Subjekt einer transzendenten Macht unter-
zuordnen (»Gott ist tot«), dafür stellen aber diese Denkrichtungen
zwei grundlegende Typen der Aufhebung des selbstmächtigen Sub-
jektes dar: entweder weist man eine Tiefe im Subjekt auf (sei es seine
Psyche, sein Gehirn, die Gesamtheit von inneren physisch-physio-
logischen Prozessen, nicht bewusst erlebte Erlebnisse), die es konsti-
tuiert, die im Verborgenen ein zweites Leben führt, von dem das
seiner selbst bewusste Subjekt nichts weiß; oder es geht um die un-

1 Wenn wir hier die französische Ereignisphilosophie besonders hervorheben, dann


aus dem Grund, dass es sie ist, die das Ereignishafte am meisten thematisiert hat und
immer noch thematisiert. Wie Marc Rölli in der Einleitung zum Sammelband Ereig-
nis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze (2004) schreibt: »In keiner anderen
Philosophietradition wurde auf so eindringliche und vielschichtige Weise über das
Ereignis nachgedacht.« (Rölli(2004), 7) Von den ganz bedeutsamen Autoren und Wer-
ken zur Ereignisproblematik aus dieser Tradition zählen wir folgende auf: Maurice
Merleau-Ponty: Phénoménologie de la perception (1945), Gilles Deleuze: Logique du
sens (1969), Emmanuel Levinas: Autrement qu’être ou au-delà de l’essence (1974),
Jacques Derrida: La voix et le phénomène (1967), Marges de la philosophie (1972) und
La fausse monnaie. Donner le temps I (1991), Alain Badiou: L’être et l’événement
(1988) und Logiques des mondes (2006), Jean-Luc Marion: Etant donné. Essai d’une
phénoménologie de la donation (1997), De surcroît. Études sur les phénomènes sa-
turés (2001) und Certitudes négatives (2010), Claude Romano: L’événement et le
monde (1998) und L’événement et le temps (1999).

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Einleitung

zähligen äußeren Bedingungen (seien es soziale, politische, ökonomi-


sche Umstände, kulturelle Regelungen und Praxen, ontologische
Strukturen, Gesetze der Geschichte, herrschende Weltanschauungen,
Sprache), die das Subjekt, seine Welt, seine Selbstidentität zu dem
machen, was sie sind; die dem Subjekt zwar einen Freiheitsraum er-
öffnen, der aber immer vorgegeben und eingeschränkt ist.
Das denkende und freie Subjekt in Frage zu stellen, das für es
Uneinholbare zu behaupten – dies ist der Kontext, in den sich die
Entstehung des gegenwärtigen Ereignisdenkens einschreiben lässt.
Aber es lässt sich nicht mit ihm identifizieren. Die »Sache«, um die
es uns hier geht, und die von Heidegger, Levinas, Derrida, Marion
u. a. gesehen und beschrieben wird, ist nicht schlicht etwas, was die
Bedingtheit des Subjekts bedeutet. Es gibt einen kleinen, aber wesent-
lichen Unterschied zwischen Aufhebung des allmächtigen und durch-
schaubaren Subjekts durch die Aufweisung seiner Bedingtheit und
dessen Infragestellung im Ereignisdenken. Es ist vielleicht die Nicht-
Beachtung dieses kleinen Unterschiedes, die es verhindert hat und
immer noch verhindert, das Denken des Ereignisses als ein unter-
schiedliches Denken und den Begriff des Ereignisses als ein anders-
artiges Konzept zu sehen – sogar von den Ereignisdenkern selbst. Das
Ereignis wird dann bloß zu dem, was neben anderen vielen, von der
Philosophie, Wissenschaft, Kunst etc. schon aufgedeckten Sachen
dem Subjekt nicht zur Verfügung steht und es bedingt. Und wir wer-
den sehen, dass das Ereignisdenken in der Tat sehr oft die Konzepte
und Argumente derjenigen Diskurse bedient, die ihre Aufgabe in der
Auflösung des kristallklaren und durchschaubaren Subjekts sehen.
Veranschaulichen wir diesen Umstand mit dem Beispiel von Derrida.
1968 versucht er im Vortrag La différance (erschienen 1972 in
Marges de la philosophie) eins seiner zentralsten Konzepte – diffé-
rance – zu erläutern. Die Einführung dieses Konzepts entwickelt sich
aus folgendem Argument: Alles, was es gibt, bzw. alles, was es für uns
gibt, ist zuerst das, was sich von allem anderen, was es gibt, unter-
scheidet – zuerst gibt es Differenzen, wir haben immer mit Differen-
zen zu tun. Die Differenzen sind aber bloß nicht da – sie setzen die
différance voraus, die sie »produziert« (produire): »Die Differenzen
werden also von der différance »produziert« – aufgeschoben (diffé-
rées).« (RG, 43/MPh, 15) Wir haben mit den Sinneseinheiten zu tun,
die wir verstehen, deren wir uns bewusst sind, aber sie werden zuerst
überhaupt als solche ermöglicht. Für Derrida sind sie nicht vom Be-
wusstsein selbst ermöglicht (wie dies zum Beispiel in der Phäno-

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Einleitung

menologie Husserls der Fall ist), sondern von der Sprache – von der
Sprache als Prozess der Differenzierung, den Derrida in De la gram-
matologie (1967) »Urschrift« (archi-écriture) nennt. Während wir,
wenn wir die Sprache gebrauchen, immer auf den Sinn gerichtet sind,
differenziert die Urschrift nach ihren eigenen und uneinholbaren Ge-
setzen die Elemente des Sinnes. Selbstverständlich bleibt der Prozess
der Urschrift für das Bewusstsein, das den Sinn versteht, uneinholbar
– jeder Denkakt, der versuchen würde, die Urschrift zu denken, wür-
de sie schon voraussetzen. Die différance ist niemals im Bewusstsein
anwesend, sie erscheint niemals in der Präsenz des Bewusstseins:
»Wenn aber die différance das ist (ich streiche auch das »ist« durch),
was die Gegenwärtigung des gegenwärtig Seienden ermöglicht, so
gegenwärtigt sie sich [se présente – L. P.] nie als solche. Sie gibt sich
nie dem Gegenwärtigen hin. Niemandem.« (RG, 34/MPh, 6) Die dif-
férance stellt die Autonomie des Sinnes und damit des Bewusstseins
in Frage – das Bewusstsein ist ein Derivat. In demselben Vortrag
bringt Derrida seinen Denkansatz – und das ist auf den ersten Blick
keine Überraschung – mit dem Denken von Heidegger, Nietzsche,
Freud und Levinas zusammen. Und doch sollte dieser Bezug über-
raschen: Ist das, was Levinas denkt, grundsätzlich mit dem vereinbar,
was Freud denkt? Oder handelt es sich hier um die Nicht-Beachtung
eines kleinen, aber wesentlichen Unterschiedes? Oder vielleicht: Der
Unterschied wird gesehen, aber er scheint nicht wichtig zu sein, so-
dass er besonders hervorgehoben werden sollte. Wie zeigt sich die
Nicht-Beachtung dieser Differenz im Falle des Ereignisdenkens Der-
ridas? So, dass das Ereignis (événement) – wie wir es später ausführ-
licher zeigen werden – nicht im Bewusstsein erscheinen kann, ohne
dadurch aufzuhören das zu sein, was es ist. Kurz: Das Ereignis kann
nicht im Bewusstsein erscheinen. Dies erinnert an die Argumentation
hinsichtlich der différance der Urschrift, und doch ist die différance
und das Ereignis (oder différance im Ereignis) in der Philosophie Der-
ridas auf keinen Fall ein und dasselbe. Wo liegt der Unterschied? Er
wird nicht von Derrida explizit untersucht. Wir können nur beobach-
ten, dass es irgendwann in seiner Philosophie nicht mehr um die
ziemlich strukturalistisch bzw. poststrukturalistisch verstandene Ur-
schrift geht, sondern um Ereignisse: um »Gabe« (don), »Vergebung«
(pardon), »Gastlichkeit« (hospitalité) u. a.
Wird der Unterschied zwischen dem Denken der Bedingtheit des
Subjekts und dem Ereignisdenken nicht untersucht, bleibt die Phi-
losophie des Ereignisses fragmentarisch, zerstreut, unbedeutend; sie

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Einleitung

verliert sich in einer Ontologie, die verschiedenste Prozesse be-


schreibt, die außerhalb des Subjekts, innerhalb des Subjekts, ohne
das Subjekt geschehen und deren Konstrukt das Subjekt letztendlich
ist. Im welchen Sinne sprechen wir hier von Ontologie? Die vor-
liegende Arbeit versteht sich als zugehörig zum gegenwärtigen phä-
nomenologischen Diskurs. Wenn hier von der Ontologie die Rede ist,
beziehen wir uns auf diesen Begriff, wie er zum Beispiel von Husserl
oder Heidegger gebraucht wird, wobei ein Zweifaches bei diesem Ge-
brauch zu beachten ist. Von einer Seite spiegelt hier der Gebrauch
dieses Begriffes seine schon etablierte Bedeutung wider. Die Ontolo-
gie – genauer gesagt: die Ontologien – sind für Husserl »apriorische
Wissenschaften«, die »das Apriori der reinen »Wesen« der betreffen-
den Regionen der Objektivität oder ihnen zugehöriger Daseinsfor-
men auseinanderlegen« (Hua XI, 220). Die Ontologien untersuchen
die »Objektivität« und »Daseinsformen«, also das, was irgendwie ist,
das Seiende in Modi seines Seins. Sie untersuchen es hinsichtlich des
»Apriori« seines »Wesens«, also nicht empirisch, sondern »eidetisch«
(Hua III, 23). »Reine Geometrie«, »reine Zeitlehre«, »reine Mecha-
nik« sind zum Beispiel Ontologien (Hua XI, 221). Insofern eine
Ontologie nicht an eine Region gebunden ist, sondern das Seiende
im Allgemeinen (den »Gegenstande überhaupt« (Hua III, 27)) be-
schreibt, ist sie keine »materiale«, sondern »formale« »eidetische
Wissenschaft« (Hua III, 23). »Reine Logik« und »reine Mathematik«
sind zum Beispiel formale eidetische Wissenschaften (Hua III, 23, 27).
Von anderer Seite tritt hier der Begriff der Ontologie in Verhältnis
zur Phänomenologie und gewinnt so eine neue Bedeutungsdimensi-
on, die auch für uns äußerst wichtig ist. Der entscheidende Punkt ist,
dass die Ontologie, indem sie das Wesentliche des Seienden unter-
sucht, völlig »naiv« handelt – »naiv« streng im Husserl’schen Sinne,
d. h. sie setzt das Sein des gegebenen Gegenstandes schon voraus, sie
befragt es nicht. Es ist richtig, dass sie nach den Modi des Seins des
Gegenstandes fragt (und oft sogar fragen muss), aber es ist nicht für
sie fraglich, dass er überhaupt ist (insbesondere dann, wenn er sich als
nicht-seiend, als Schein herausstellt). Noch allgemeiner formuliert:
Die Ontologie befragt nicht das Sein der Welt, sie setzt die seiende
Welt voraus, sie handelt in der Welt, sie handelt »auf dem Boden« der
schon seienden Welt: »Dem Transzendentalphilosophen dienen sie
[die Ontologien – L. P.], wenn wir annehmen, daß eine Ontologie
naiv-dogmatisch ausgebildet vorliegt, als transzendentale Leitfäden.
Der Physiker stellt sich theoretisierend auf den Boden der erfah-

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Einleitung

rungsmäßig gegebenen Natur, er will sie nach ihrem wahren Sein


theoretisch bestimmen. Der rationale Physiker, allgemein gespro-
chen, der reine Geometer und Mechaniker, der Ontologe der Natur
stellt sich auf den Boden der Wesensgegebenheit der reinen Idee des
Raumes, der Zeit, einer möglichen Natur überhaupt. Der Transzen-
dentalphänomenologe aber nimmt die Natur und eine mögliche Na-
tur überhaupt rein als Korrelat des Bewußtseins von ihr. Materielles
Objekt bezeichnet ihm einen Typus von vermeinten und eventuell
selbstgegebenen Gegenständlichkeiten, die er rein in dieser Korrela-
tion und in phänomenologischer Reduktion betrachtet.« (Hua XI,
221) Wir brauchen uns hier nicht in Husserls Philosophie der vor-
gegebenen Lebenswelt zu vertiefen oder zu fragen, inwiefern die Be-
trachtung des Gegebenen als »Korrelat des Bewußtseins« die Naivität
überwindet. Entscheidend ist, dass eine Ontologie das Sein bestimm-
ter Gegebenheiten schlicht voraussetzt, um sie dann zu untersuchen
und die Erkenntnisse zu produzieren. Das Wunder der Voraus-Set-
zung und damit die Setzung des Gegenstandes selbst sind ihr fremd.
Sie nimmt Gegenstände als selbstverständlich, sie nimmt die Welt als
selbstverständlich (sogar noch dann, wenn sie nach der Entstehung
der Welt oder dem ganzen Weltall fragt!) – sie lebt in der »Selbstver-
ständlichkeit der Weltgewißheit« (Hua VI, 99). In der Vorlesung zum
Sommersemester 1922 hat Heidegger die Ontologie (hier verstanden
als Wissenschaft und nicht als von ihm entwickelte Fundamentalon-
tologie) genauso eingeschätzt: »Es wird als Vorzug der ontologischen
Betrachtung angesehen, daß sie ohne Voraussetzung einfach anfan-
gen kann; […] Das Gegenstandsfeld nimmt man als gegeben einfach
hin: die seienden Dinge, das natürlich Gegebene in mehr oder min-
derer Klarheit, wo man sich sofort in allgemeinen Zusammenhängen
bewegt, indem man zumeist an Gegenständen vom Charakter der
Naturobjekte exemplifiziert.« (GA 62, 176 f) Wir sehen, dass Heideg-
ger den Begriff der Ontologie breiter versteht als Husserl. Während
für Husserl die Ontologie eine apriorische (und nicht empirische)
Wissenschaft ist, ist für Heidegger jede Wissenschaft eine Ontologie,
insofern sie ein »Gegenstandsfeld« »als gegeben einfach hinnimmt«,
also insofern sie ein ον untersucht. Wir werden den Begriff der
Ontologie auch sehr breit verstehen: überall, wo etwas in seinem
Wesen, in seinen Strukturen, in seiner Gesetzmäßigkeit etc. mit
dem Ziel einer Erkenntnis untersucht wird, haben wir mit einer on-
tologischen Betrachtung zu tun. Jede Wissenschaft – noch breiter:
jede -logie (auch Theo-logie) – ist in diesem Sinne eine Ontologie.

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Einleitung

Wir möchten von der Ontologie und nicht schlicht von der Wissen-
schaft sprechen, weil genau das Wort »Ontologie« die Kritik erlaubt,
dass wir mit einem voraus-gesetzten, unbefragt gesetzten Sein zu tun
haben, wenn wir also nicht vorher geklärt haben, was die Setzung
selbst ist, die dann eine fortschreitende Erkenntnis ermöglicht; was
vor der Setzung ist; wer die Setzung vollzieht u. dgl. Wenn wir also
gesagt haben, dass das Denken des Ereignisses sich in der Ontologie
verlieren kann, dann meinten wir damit, dass, wenn man nicht auf-
merksam ist, es das Ereignis bloß als einen Gegenstand der Unter-
suchung setzen kann, was das Ereignis nicht ist. Die vorliegende Ar-
beit möchte also diesem Sich-Verlieren des Ereignisdenkens in der
Ontologie ein wenig entgegensteuern. Es geht darum, das Ereignis
als ein spezifisches Konzept jenseits dieses Diskurses zu etablieren,
wie es zum Beispiel im Denken Heideggers ist. Es geht darum, zu
zeigen, dass das Ereignis jenseits alles Ontischen und deswegen onto-
logisch uneinholbar ist. Es kann nie als ein Sachverhalt, Prozess u.
dgl. beschrieben werden. Noch radikaler verstanden: Das Ereignis
kann nie als ein Gegenstand thematisiert werden, ohne das themati-
sierende Subjekt, ohne die Thematisierung selbst zu befragen. Das
heißt nicht, dass das Ereignisdenken eine transzendentalphilosophi-
sche Erkenntnistheorie darstellt, die das konstituierende Subjekt ins
Zentrum ihrer Betrachtung stellt. Es heißt nur: Das Ereignisdenken
hat nie versucht, das Subjekt aufzulösen und es in einen ontischen
Prozess zu integrieren. Es denkt immer von einem Subjekt aus und
zwar so, dass es sich selbst angesichts eines Anderen verlassen muss.
Es denkt eine Begegnung, ein Aus-sich-Heraustreten. Eine Ontologie
kann niemals eine Begegnung denken, weil sie eine Seite der Begeg-
nung, nämlich den Ontologen selbst immer vergisst – deswegen, weil
sie so sehr auf seinen vorausgesetzten Gegenstand konzentriert ist.
Wenn man das Ereignisdenken als Aus-sich-Heraustreten nicht
klar von den ontologischen Denkansätzen abgrenzt, die die Bedingt-
heit des Subjekts durch die ihm inneren und äußeren Prozesse (auch
Ereignisse genannt) denken, entsteht eine verwirrte Lage, in der sich
die Ereignisforschung heutzutage ständig befindet. Die Verwirrung
besteht vor allem darin, dass vom Ereignis gleichzeitig behauptet
wird, dass es nicht erfahren (weil es ohne Subjekt als seine Bedingung
geschieht) und doch erfahren (weil es ein besonderes Erlebnis für das
Subjekt darstellt) wird. Man könnte denken, dass es genau das Eigen-
tümliche des Ereignisses ist, dass es in sich diesen Widerspruch trägt.
Wir nennen es aber vernachlässigte Unterscheidung, die dazu führt,

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Einleitung

dass man eine Sache ausgehend vom Gebrauch desselben Wortes


konstruiert und dass das Eigentümliche des Denkens der Begegnung,
die wir Ereignis nennen, nicht beachtet wird. Die Nicht-Unterschei-
dung innerhalb des Ereignisdenkens hat vor allem zwei Gesichter:
Entweder vermischt sich das Ereignisdenken mit einem außer-onto-
logischen Denkansatz, der das Ereignishafte im Außen des Subjekts
verortet (dies haben wir bei Derrida aufgezeigt), oder mit einer In-
nen-Ontologie, die das Ereignis im Inneren des Subjekts sieht. Für
den zweiten Fall wäre Levinas ein gutes Beispiel. Levinas denkt ohne
Zweifel eine Beziehung, eine Begegnung zwischen dem Selben und
dem Anderen (also das, was wir Ereignis nennen). Er nennt diese
Beziehung, wo das Subjekt aus sich heraustritt und den Anderen be-
gegnet »Nähe« (proximité): »Die Nähe ist das sich nähernde Subjekt
und konstituiert so eine Beziehung […].« (JS, 184 f/AQE, 103)
Gleichzeitig bezieht sich Levinas auf Husserls Analysen zur passiven
Synthesis, auf seine Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins,
auf Merleau-Pontys Philosophie des Leibes und Henrys Philosophie
der radikalen Passivität. Er integriert diesen innen-ontologischen
Denkansatz in seine Philosophie der Beziehung mit dem Anderen,
was dazu führt, dass die Beziehung mit dem Anderen als »Rückkehr«
(retour) zum eigenen tiefsten und intentional uneinholbaren Inneren
charakterisiert wird: »Das Menschliche heißt Rückkehr zur Inner-
lichkeit des nicht-intentionalen Bewußtseins […].« (ZU, 186/EN,
170) Da Levinas eigentlich eine erfahrbare Begegnung denkt, führt
in seinem Fall die Behauptung von einer »Rückkehr« nicht zu einer
Ontologie der inneren Prozesse, sondern zur Beschreibung des Ereig-
nisses der Rückkehr zur leiblichen Passivität. Das Ereignis ereignet
sich für Levinas also nicht im Inneren des Subjekts – es ist nicht das,
worum es hier geht, Levinas macht aber keine explizite Unterschei-
dung zwischen Rückkehr und Ereignis der Rückkehr, und damit geht
das Spezifische des Ereignisses und des Ereignisdenken verloren. 2

2 In die Richtung einer solchen klaren und deutlichen Unterscheidung geht vielleicht
Françoise Dastur, wenn sie in Bezug auch Merleau-Ponty fragt: »Ist jedoch diese Phä-
nomenologie der Ankunft, die eine Ontologie ist, welche im Inneren der Phänomena-
lität selbst bleibt und deren Aufgabe es ist, ihren prozeßhaften und dynamischen
Charakter sichtbar zu machen, in sich schon eine Phänomenologie des Ereignisses?«
(Dastur, 223/165) Sie ahnt also, dass es einen Unterschied zwischen der genetischen
Phänomenologie des Ereignisses und der Phänomenologie der Erfahrung des Ereig-
nisses gibt. Ihre Frage ist aber immer noch nicht radikal genug gestellt und deswegen
bleibt auch eine klare und allgemeine Antwort aus.

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Einleitung

Nochmals: Wenn wir behaupten, dass die Beschreibung eines Er-


eignisses im Ereignisdenken von seiner tiefen- oder außen-ontologi-
schen Beschreibung unterschieden werden soll, wollen wir damit
nicht einen richtigen Wortgebrauch in dem Sinne fordern, dass nur
das Denken, das die Begegnung nicht-ontologisch beschreibt, ein Er-
eignis thematisiert. Man darf auch die tiefen- oder außen-ontologi-
schen Prozesse Ereignisse nennen, es ist aber inakzeptabel, sie gleich-
zeitig auch Erfahrung, Begegnung zu nennen – sie sind andere
Ereignisse, die nicht unsere »Sache« sind. Sie sind die Sache der ge-
netischen Phänomenologie, der Philosophie des Leibes, des Struk-
turalismus, der Geschichte, der Psychoanalyse, der Hirnforschung
etc. Mehr noch: Das Ereignisdenken wird immer behaupten, dass das
Ereignis überhaupt niemals zum Gegenstand einer Ontologie, einer
-logie werden kann, nicht einmal zum Gegenstand eines Ereignisden-
kens. Heidegger, Levinas, Derrida denken das Ereignis genau auf diese
Weise: Das Ereignis ist nicht bloß das, was sich ereignet, es ist das,
dessen Sich-Ereignen das Heraus-Treten aus der Ontologie in ihrer
Naivität der Gegenstandssetzung ist. Das ist das Eigentümliche des
Ereignisses, das die vorliegende Arbeit thematisiert.

Die systematische Philosophie und Philosophieforschung hebt inzwi-


schen das Ereignis als ein bedeutsames Thema der gegenwärtigen
Philosophie hervor. Neben Marions, Romanos und Badious systema-
tischen Ausführungen zum Ereignis erscheinen im französischspra-
chigen Raum immer wieder kleinere Aufsätze zum Ereignis. 3 Seit

3 Dazu erwähnen wir: Caussat, Pierre: L’événement. Paris: Desclée de Brouwer, 1992;
Zourabichvili, François: Deleuze: une philosophie de l’événement. Paris: PUF, 1994;
Marquet, Jean-François: Singularité et événement. Grenoble: Jérôme Millon, 1995;
Agacinski, Sylviane: Critique de l’égocentrisme. L’événement de l’autre. Paris: Gali-
lée, 1996; Rouger, François: L’événement de monde. Essai sur les conditions pures de
la phénoménalité. L’Harmattan, 1997; Dastur, Françoise: Pour une phénoménologie
de l’événement: l’attente et la surprise, in: Études phénoménologiques, 25 (1997),
S. 59–75; Gualandi, Alberto: Le problème de la vérité scientifique dans la philosophie
française contemporaine. La rupture et l’événement. L’Harmattan, 1998; Bongiovan-
ni, Secundo: Identité et Donation. L’événement du »je«. Paris: L’Harmattan, 1999;
Gély, Raphaël: La question de l’événement dans la phénoménologie de Merleau-Pon-
ty. In: Laval théologique et philosophique, 56/2 (2000), S. 353–365; Mehdi, Belhaj
Kacem: Événement et répétition. Auch: Tristram, 2004; Boundja, Claver: Philosophie
de l’événement. Recherches sur Emmanuel Lévinas et la phénoménologie. Paris:
L’Harmattan, 2009. Außerdem weisen wir auf einige ganz bedeutsame Sammelbände
hin: Dire l’événement, est-ce possible? Autoren: Jacques Derrida, Gad Soussana und
Alexis Nouss. Paris: L’Harmattan, 2001; Repenser »événement«. In: Recherches de

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Einleitung

Jahren werden in deutscher Sprache Sammelbände zum Ereignis ver-


öffentlicht. 4 Das Problem ist, dass es oft nicht klar wird, worum es
eigentlich geht – das Ereignis ist so gut wie alles (geschichtliches und
politisches Ereignis, leibliche und vor-bewusste Sinnbildung, onto-
logische Prozesse, das Unmögliche, das Unerwartete und der Ein-
bruch, die Zeit und das Andere, die Erscheinung und das Unsichtbare,
das Trauma und das Wunder der Heilung etc.) und so gut wie überall
(in Geschichte und Politik, Leib und Psyche, Kunst und Literatur,
Wissenschaft und Ethik, Zeit und Existenz etc.). Diese Unklarheit
würde vielleicht verschwinden, wenn man darauf verzichten würde,
in dem verschiedensten Gebrauch des Wortes »Ereignis« eine syste-
matische Ereignisphilosophie vermuten zu wollen; wenn man dabei
bleiben würde, die verschiedenen Bedeutungen dieses Wortes nur
aufzuzählen, statt hinter dem Wort immer dieselbe Sache nur unter
verschiedenen Aspekten zu sehen. Dies ist aber nicht der Fall. Der
2004 von Marc Rölli herausgegebene Sammelband Ereignis auf Fran-
zösisch. Von Bergson bis Deleuze ist einerseits ein sehr wichtiges
Buch zur Ereignis-Forschung. Es versammelt Beiträge zu vielen (ob-
wohl nicht allen: zum Beispiel Marion und Romano sind nicht ver-
treten) zentralen Autoren, die das Ereignis thematisiert haben: zu
Nietzsche, Husserl, Heidegger, Bergson, Merleau-Ponty, Lacan, Levi-
nas, Ricœur, Foucault, Derrida, Lyotard, Richir, Deleuze und Badiou.

science religieuse, 102/1 (2014); Cabestan, Philippe (Hrsg.): L’événement et la raison:


autour de Claude Romano. Série Philosophie Générale: Le cercle herméneutique,
2016.
4 Wir denken in erster Linie an: Müller-Schöll (Hrsg.): Ereignis: Eine fundamentale

Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien. Bielefeld: transcript, 2003;


Rathmann, Thomas (Hrsg.): Ereignis. Konzeptionen eines Begriffs in Geschichte,
Kunst und Literatur. Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2003; Rölli, Marc (Hrsg.): Ereignis
auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze. München: Fink, 2004; Staudigl, Michael
und Trinks, Jürgen (Hrsg.): Ereignis und Affektivität. Zur Phänomenologie sich bil-
denden Sinnes. Wien: Turia + Kant, 2007; Gondek, Hans-Dieter, Klass, Tobias Niko-
laus und Tengelyi, László (Hrsg.): Phänomenologie der Sinnereignisse. München:
Fink, 2011; Alloa, Emmanuel (Hrsg.): Erscheinung und Ereignis. München: Fink,
2013; systematische Ansätze haben entwickelt vor allem: Bernhard Waldenfels (siehe
zum Beispiel: Die Macht der Ereignisse. In: Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis
Deleuze, hrsg. von Marc Rölli. München: Fink, 2004, S. 447–458; Radikalisierte Er-
fahrung. In: Phänomenologie der Sinnereignisse, hrsg. von Hans-Dieter Gondek, To-
bias Nikolaus Klass und László Tengelyi. München: Fink, 2011, S. 19–36) und Dieter
Mersch (siehe vor allem: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer »performati-
ven Ästhetik«. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002 und Was sich zeigt: Materialität,
Präsenz, Ereignis. München: Fink, 2002).

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Einleitung

Andererseits schreibt Rölli in der Einleitung zu diesem Band: »Der


vorliegende Band enthält Aufsätze, die das brisante Thema des »Er-
eignisses« unter dem Blickwinkel der französischen Philosophie des
20. Jahrhunderts vor Augen kommen lassen. In keiner anderen Phi-
losophietradition wurde auf so eindringliche und vielschichtige Weise
über das [von mir hervorgehoben – L. P.] Ereignis nachgedacht. Es ist
daher ein Gebot der Stunde, die Forschungsleistungen auf diesem
Gebiet zusammenzutragen.« (Rölli(2004), 7) Damit wird der Ein-
druck erweckt, dass es ein Ereignis gibt, das von verschiedenen Phi-
losophien unterschiedlich gedacht wird. Wir behaupten: Es handelt
sich um unterschiedliche »Sachen«, die mit einem Wort bezeichnet
werden. Ein solcher Eindruck einer allgemeinen Theoriebildung wird
noch dadurch verstärkt, dass versucht wird, eine einheitliche, alle an-
gegebenen Autoren umfassende Definition des Ereignisses zu geben:
»Allgemein gilt, dass sich im Begriff des Ereignisses eine radikale
Revision der Erfahrung kristallisiert: mit scharfer Spitze durchdringt
er das transzendental oder geschichtlich unterfütterte Kontinuum
empirischer Regelmäßigkeiten.« (ebd.) Nun kann dies auf keinen Fall
alle Ereignisse treffen – schon deswegen nicht, weil nicht alle Denker
des Ereignisses von der Erfahrung ausgehen. Die Begegnung mit dem
Anderen in der Philosophie Levinas’ ist eine »Revision der Erfah-
rung«, das Ereignis Deleuzes kann dagegen nicht so beschrieben wer-
den. Außerdem ist der Begriff der Erfahrung völlig unbestimmt: In
der gegenwärtigen Phänomenologie kann er zum Beispiel sowohl ei-
ne intentionale, bewusste und erkennende als auch vor-intentionale,
leibliche Erfahrung bedeuten. Der von Hans-Dieter Gondek, Tobias
Nikolaus Klass und László Tengelyi 2011 herausgegebene Sammel-
band Phänomenologie der Sinnereignisse scheint auf den ersten Blick
einen ganz konkreten Ereignisbegriff zu haben: Im Anschluss an die
Phänomenologie Merleau-Pontys und Richirs handelt es sich um die
Prozesse, die in der Tiefe und vor aller Aktivität des Bewusstseins
einen Sinn konstituieren, den das Bewusstsein zuerst passiv emp-
fängt. Doch es werden genauso auch die Ereignisse in Geschichte
und Politik vermutet, die bewusst erfahren werden, die einen Teil
der Existenz ausmachen. Dementsprechend ist auch der Ereignis-
begriff zweideutig (wenn nicht sogar widersprüchlich): Einerseits ist
es »eine Erfahrung, in der ein neuer Sinn dem Bewusstsein zugäng-
lich wird« (Gondek/Klass/Tengelyi, 11); das Ereignis, andererseits,
»widerfährt uns bereits, bevor es uns einen greifbaren Sinn zugäng-
lich macht« (Gondek/Klass/Tengelyi, 12). Eine ähnliche Nicht-Unter-

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Einleitung

scheidung findet man auch im Sammelband Ereignis und Affektivi-


tät. Zur Phänomenologie sich bildenden Sinnes (2007, hrsg. von
Michael Staudigl und Jürgen Trinks). Wir wollen aber nochmals un-
terstreichen: Wie kann die Rede von einer Ereignisthematik sein,
wenn die behandelte Sache nicht zuerst bestimmt worden ist? Und
diese Bestimmung sollte damit anfangen, dass sie eine Unterschei-
dung macht zwischen dem, was wir nicht erfahren – nämlich dem
Ontischen als Gegenstand der Ontologie –, und dem, was wir als un-
erfahrbar erfahren – dem jemeinigen Phänomen. Ohne diese Unter-
scheidung ist es unmöglich, von einem spezifischen und auch bedeut-
samen Ereignisdenken zu sprechen.

Die vorliegende Arbeit spricht vom Ereignis als der Begegnung mit
dem Anderen. Als solches trifft es das Selbst, das Subjekt. Das, was
das Subjekt trifft, kann nicht zum Thema einer Ontologie (weder der
Exteriorität noch der Innerlichkeit) werden, sondern kann nur durch
den Hinweis auf die Betroffenheit des Subjekts angezeigt werden.
Mehr noch: Es geht hier nicht um einen philosophisch-begrifflichen
Hinweis auf die Betroffenheit irgendeines oder formalen Subjektes
überhaupt, sondern auf das »jemeinige« (im Heidegger’schen Sinne)
Betroffen-Werden. Das Ereignis ist nicht das, was betrifft, sondern
was mich betrifft. Und dies ist nicht seine Definition, sondern das,
wie es ist. Es ist nicht in seiner Definition, sondern ausschließlich
nur dort, wo es mich trifft. Wenn das Ereignis auf die Betroffenheit,
auf die Erfahrung des Subjektes hinweist, ist es dann ein Thema der
Phänomenologie, insofern Husserl – der Gründer der Phänomeno-
logie – in seinen Logischen Untersuchungen (1900–1901, 2. um-
gearbeitete Auflage: 1913 und 1921) als Gegenstand der phäno-
menologischen Philosophie die »Erlebnisse« bestimmt hat? 5 Ist das

5
»Ich setze also voraus, daß man sich nicht damit begnügen will, die reine Logik in
der bloßen Art unserer mathematischen Disziplin als ein in naiv-sachlicher Geltung
erwachsende Sätzesystem auszubilden, sondern daß man in eins damit philosophische
Klarheit in betreff dieser Sätze anstrebt, d. i. Einsicht in das Wesen der bei dem Voll-
zug und den ideal-möglichen Anwendungen solcher Sätze ins Spiel tretenden Er-
kenntnisweisen und der mit diesen sich wesensmäßig konstituierende Sinngebungen
und objektiven Geltungen. […] Es handelt sich dabei aber nicht um grammatische
Erörterung im empirischen, auf irgendeine historisch gegebene Sprache bezogenen
Sinn, sondern um Erörterungen jener allgemeinsten Art, die zur weiteren Sphäre
einer objektiven Theorie der Erkenntnis und, was damit innigst zusammenhängt,
einer reinen Phänomenologie der Denk- und Erkenntniserlebnisse gehören. Diese,
wie die sie umspannende reine Phänomenologie der Erlebnisse überhaupt, hat es aus-

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Einleitung

Ereignis als das Uneinholbare eines ontologischen Denkens, als das


Heraustreten-aus-der-Ontologie ein Phänomen: eine intentional
nach Außen zum Anderen hin gerichtete subjektive Betroffenheit,
die von der Phänomenologie behandelt wird? In der Tat ist es aktuell
üblich, das Ereignis phänomenologisch zu behandeln. 6 Gehörte es mit

schließlich mit den in der Intuition erfaßbaren und analysierbaren Erlebnissen in


reiner Wesensallgemeinheit zu tun, nicht aber mit empirisch apperzipierten Erleb-
nissen als realen Fakten, als Erlebnissen erlebender Menschen oder Tiere in der er-
scheinenden und als Erfahrungsfaktum gesetzten Welt.« (Hua XIX/1, 5 f) Wir sehen,
dass hier nicht nur die Erlebnisse als Gegenstand der phänomenologischen Forschung
bestimmt werden, sondern auch, dass – wie wir es schon gesehen haben – eine solche
Vorgehensweise einem »in naiv-sachlicher Geltung erwachsende[n] Sätzesystem«,
d. h. einer Ontologie widersteht. Die Phänomenologie setzt nicht schlicht etwas vo-
raus, um es dann als »reales Faktum«, ein Seiendes zu beschreiben, sondern zieht den
Phänomenologen selbst – seine Erlebnisse – in die Betrachtung hinein. Und es ist auch
kein Geheimnis, dass genau in einem solchen Sich-selbst-Durchschauen sowohl Hus-
serl selbst als auch Heidegger eine selbstbegründete Philosophie und damit die Letzt-
begründung jeder Wissenschaft, jeder Ontologie, jeder –logie gesehen haben: »Also
reine Psychologie in sich selbst ist identisch mit Transzendentalphilosophie als Wis-
senschaft von der transzendentalen Subjektivität. Daran also ist nicht zu rütteln.«
(Hua VI, 261) Weiter: »Reine Psychologie kennt eben nichts anderes als Subjektives,
und darin ein Objektives als Seiendes hineinlassen, ist sie schon preisgegeben.« (Hua
VI, 262) Und noch ein wenig weiter heißt es: »[U]nd so ist reine Psychologie nichts
und kann nichts anderes sein als dasselbe, was vorweg in philosophischer Absicht als
absolut begründete Philosophie gesucht war und nur als phänomenologische Trans-
zendentalphilosophie sich erfüllen kann.« (Hua VI, 263) »[…] und daß die reine Psy-
chologie nichts als der unendliche mühselige Weg echter und reiner Selbsterkenntnis
sei;« (Hua VI, 264) »Phänomenologische Transzendentalphilosophie« ist also »eine
absolut begründete Philosophie«, indem sie »nichts anderes als Subjektives« kennt
und »reine Selbsterkenntnis« ist.
6 In der Tat: Es ist das Jahr 2012, als Claude Romano bei der Behandlung vom Ereignis

»le vif des analyses phénoménologiques« (ET, ix) fordert. Was heißt es für ihn? Fol-
gendes: »Il exige d’abord de comprendre à quel niveau la question elle-même se pose.
Non pas celui d’une analyse objective des phénomènes dans le monde physique ob-
jectif, mais celui d’une expérience des phénomènes tels qu’ils peuvent être décrits en
première personne […].« (ET, ix) Man muss natürlich sehr vorsichtig sein: Ist jede
Beschreibung »in der ersten Person« schon eine phänomenologische im Sinne Hus-
serls? Wenn man die eigenen Erlebnisse als etwas Seiendes voraussetzt und keiner
phänomenologischen Reduktion unterzieht, bedeutet dies – laut Husserl – einen
Rückfall in die Ontologie. Und wenn wir ehrlich sind, wird dann die Philosophie
zum bloßen Quatschen über die eigenen Erlebnisse. Und wer möchte so etwas lange
anhören? Doch eine weitere Frage ist viel wichtiger: Wenn man vermutet, dass das
Ereignis phänomenologisch-subjektiv (mit oder ohne phänomenologische Reduktion)
beschrieben werden könnte, ist diese phänomenologische Vorgehensweise in der Tat
die richtige für die Ereignisse? Das ist eine der Fragen, die die vorliegende Arbeit
stellt.

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Einleitung

dem frühen Levinas (De l’existence à l’existent, 1947) 7 und mit


Deleuze (Logique du sens, 1969) 8 und Derrida (Marges de la philo-
sophie, 1972) 9 in den 60er und 70er Jahren zum ontologischen und
post-strukturalistischen Diskurs, ist es seit den 90er Jahren – mit
Etant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation (1997) von
Marion und L’événement et le monde (1998) von Romano – ein The-
ma der Phänomenologie. Françoise Dastur formuliert dies sogar ganz
radikal: »Im Gegensatz zu dem, was heute einige nahelegen möchten,
daß nämlich das Denken der Andersheit und der Diachronie eine an-
dere Denkweise als diejenige der Phänomenologie erfordert, muß
man im Gegenteil betonen, daß es kein mögliches Denken des Ereig-
nisses gibt, welches nicht zugleich und prinzipiell ein Denken der
Phänomenalität ist.« (Dastur, 234/173) Jedes Denken des Ereignisses
sei also Phänomenologie. Man kann das Ereignis gar nicht anders als
phänomenologisch denken. Wir werden aber später sehen, dass das
Gegenteil der Fall ist – das Denken des Ereignisses versucht, keine
Phänomenologie zu sein. Zu diesem Moment fragen wir nur: Ist viel-
leicht damit jede Phänomenologie eine Philosophie des Ereignisses?
Das ist natürlich zweifelhaft, aber das Ereignis ist ein »Grundthema«
der neueren französischen phänomenologischen Philosophie. Die
These von Hans-Dieter Gondek und László Tengelyi lautet: »An ers-
ter Stelle muss gewiss das Thema des Ereignisses genannt werden,
das seit einigen Jahrzehnten allerdings nicht nur die Phänomeno-
logie, sondern ebenso sehr auch andere Richtungen der zeitgenössi-
schen Philosophie beschäftigt.« (Gondek/Tengelyi, 29) 10 Wenn die

7 In diesem Werk entwickelt Levinas das Konzept von dem »Ereignis der Hypostase«
(événement de l’hypostase). Es ist ein ontologisches Geschehnis im Geiste Hegels und
Heideggers, durch das ein Seiendes sich von dem anonymen Prozess des Seins löst
und zu sich selbst wird. Es ist ganz klar, dass dieser Prozess nicht erfahren wird, weil es
sich vor der Erfahrung ereignet, macht es sie erst möglich – das Ereignis der Hypo-
stase bildet die Innerlichkeit erst heraus.
8 Es geht hier um Deleuzes Logik des Sinnes (logique du sens) als Ereignisses (événe-

ment). Der entscheidende Punkt liegt darin, dass der Sinn nicht einem Bewusstsein
gehört, sondern als eine ontologische Einheit definiert wird. Das bedeutet nicht nur,
dass das Bewusstsein den Sinn nicht produziert, sondern auch, dass es selbst ein Sinn-
Effekt ist.
9 Hier denken wir an die schon erwähnte différance, die zwar nicht Ereignis genannt,

wohl aber zum Beispiel als »Operation des Differierens« (opération du différer) (SPh,
118/VPh, 98) gedacht wird. Während das Bewusstsein auf etwas im Bewusstsein Prä-
sentes gerichtet ist, ereignet sich die nicht-präsentierbare différance, die diese Präsenz
auf die Präsenz aufgeschoben hat.
10
Gondek und Tengelyi spezifizieren den Ereignisbegriff und sprechen in Bezug auf

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Einleitung

Phänomenologie das Ereignis untersucht, können wir nur aufgrund


dessen unterschiedslos jedes zur phänomenologischen Thematik ge-
zählte Werk nehmen und unsere »Sache« behandelt sehen? Natürlich
nicht: Es gibt unterschiedliche Phänomenologien, die das Wort »Er-
eignis« unterschiedlich verstehen. Wenn wir annehmen, dass das Er-
eignis ausgehend von der Erfahrung behandelt werden muss und dass
die Phänomenologie dafür am besten geeignet wäre, so impliziert
diese Behauptung ein bestimmtes Verständnis von Phänomenologie,
nämlich dasjenige einer »Wissenschaft von Erscheinung«, vom Erleb-
nis so, wie sie Husserl verstanden hat. Nun ist die Phänomenologie in
ihrer Geschichte bei dieser Einstellung nie geblieben: Schon mit Hus-

die gegenwärtige französische Phänomenologie von »Sinnereignisse[n]« (Gondek/


Tengelyi, 29). Man kann also annehmen, dass sie damit die Mehrdeutigkeit des Aus-
drucks »Ereignis« vermeiden wollen und darunter etwas ganz Bestimmtes verstehen.
In der Tat geben sie eine Definition des Ereignisses als Sinnereignisses: »Wir können
feststellen, dass die zeitgenössischen Phänomenologen in Frankreich das Phänomen
als ein Ereignis bestimmen, in dem etwas Neues ins Bewusstsein einbricht. Bei allen
Unterschieden zwischen Begriffen wie »Sinnbildung«, »Sinneffekt« und »Offenbar-
werden« verweist diese Neufassung des Phänomenbegriffs auf eine gemeinsame
Grundlage heutigen Denkens in der Phänomenologie.« (Gondek/Tengelyi, 39) Doch
bei dieser Definition wird außer Acht gelassen, dass das Bewusstsein in der gegen-
wärtigen Phänomenologie ein verschwommenes Konzept ist: Es kann sowohl mit
Sich-bewusst-Sein als auch mit Vor-bewusst-Sein in Verbindung gebracht werden.
In beiden Fällen geht es heutzutage darum, dass wir mehr erfahren als wir erfahren.
Dieses Mehr ist dementsprechend zweideutig: Es ist vielleicht ein Mehr der Erfahrung
(wenn vermutet wird, dass ich mehr erfahre als ich mir bewusst sein kann) oder auch
ein Mehr des Erfahrenen (wenn ich sage, dass ich eine Unerfahrbarkeit erfahre). Der
Unterschied wird noch bedeutsamer, wenn man darüber nachdenkt, dass es im ersten
Fall ein Mehr von mir (und eigentlich geht es hier nur um mich, um meinen inneren
Doppelgänger) gibt, während es im zweiten Fall um das Mehr des Anderen geht.
Damit ist die angegebene Definition des Ereignisses mehrdeutig – das Neue kann
genauso gut von mir (von verdeckten Prozessen in mir) als vom radikal Anderen
kommen – und aus diesem Grund kann man das Konzept des Ereignisses nicht als
»gemeinsame Grundlage heutigen Denkens in der Phänomenologie« genommen wer-
den. Vielleicht sprechen Richir, Henry und Marion alle vom Ereignis, aber es sind
unterschiedliche Ereignisse. Darauf, dass Gondek und Tengelyi als »Lösung« des Pro-
blems (der Bestimmung der gegenwärtigen französischen Phänomenologie) eigent-
lich einen problematischen Begriff, nämlich den des Ereignisses anbieten, weist auch
Ingolf U. Dalferth hin: »Cette analyse est certes correcte, mais elle ne s’applique qu’au
concept d’événement présupposé dans cette déclaration, et qui n’est pas sans soulever
un certain nombre de problèmes bien connus de la philosophie et de la théologie du
XXe siècle. Loin d’être la solution à ces problèmes, le concept d’événement est plutôt
l’indice d’un problème sur lequel une discussion plus approfondie devra se focaliser.«
(Dalferth, 13) In der Tat ist das Konzept des Ereignisses eher ein Problem als dessen
Lösung.

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Einleitung

serls »Analysen zur passiven Synthesis« und noch mehr in seinen


Untersuchungen zum Zeitbewusstsein geht es um Prozesse, die dem
Bewusstsein nicht gegeben sind und es stattdessen konstituieren.
Auch für Heidegger deckt die Phänomenologie das auf, »was sich zu-
nächst und zumeist gerade nicht zeigt« (SZ, 35). Merleau-Pontys
»Wahrnehmung« (perception), Henrys »Immanenz« (immanence)
oder Richirs »sich bildender Sinn« (sens se faisant) 11 nehmen einen
expliziten Einfluss von Husserls genetischer Phänomenologie auf
und sind genauso im Bewusstsein nicht präsentierbar – und dies nicht
nur gelegentlich, sondern prinzipiell. Es handelt sich hier also um
eine Richtung in der Phänomenologie, die die Tiefe des Bewusstseins,
des Erscheinens, des Sinnes thematisiert; etwas, was ursprünglicher
als das Bewusstsein ist – »Erscheinensapriori« (Kühn(2003b), 20) 12.
Wenn in diesen Phänomenologien das Ereignis thematisiert werden
sollte, wird es nicht als etwas verstanden, was ich erfahre, sondern als
ein in der Tiefe liegender Prozess, der meine Erfahrung bedingt.
Wenn wir also sagen, dass die Phänomenologie das Ereignis zu
ihrem Thema machen kann, dann verstehen wir unter der Phänome-
nologie nicht ein Denken der ursprünglicheren und uneinholbaren
Tiefe des Bewusstseins, sondern einen Versuch des Denkens des An-
deren: des Anderen, das erscheint, das mich betrifft. 13 Als ein ganz
zentraler Phänomenologe ist diesbezüglich Marion zu nennen, und,
wenn wir kurz davon absehen, dass Levinas und Derrida sich auch
kritisch gegen die Phänomenologie äußern, sind auch ihre Namen

11 Wir nennen hier die grundlegendsten Werke dieser Autoren: das schon erwähnte
Phénoménologie de la perception (1945) von Maurice Merleau-Ponty und: Michel
Henry: L’essence de la manifestation (1963), Marc Richir: Méditations phénoméno-
logiques (1992).
12 Vielleicht hat sich niemand anderer in Deutschland mit dieser Richtung der Phä-

nomenologie so viel auseinandergesetzt wie Rolf Kühn. Das Denken der ursprüng-
lichen und nicht erscheinenden Passivität ist auch das, was für ihn die gegenwärtige
Phänomenologie im Allgemeinen charakterisiert, die deswegen eine »radikalisierte«
gegenüber einer Phänomenologie des aktiven Bewusstseins und der Erscheinung ist.
Dazu siehe zum Beispiel: Kühn, Rolf: Husserls Begriff der Passivität. Zur Kritik der
passiven Synthesis in der Genetischen Phänomenologie. Freiburg/München: Alber,
1998; – Radikalisierte Phänomenologie. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2003; –
(Hrsg.): Epoché und Reduktion. Formen und Praxis der Reduktion in der Phäno-
menologie. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003.
13 Der Grund, warum wir denken, dass das Ereignis durch eine Phänomenologie des

Erfahrbaren zu beschreiben ist, liegt einfach darin, dass wir das Ereignis schon im
Voraus als Betroffenheit bestimmt haben – wir können jetzt nicht ohne Grund von
etwas zu reden anfangen, was wir nicht erfahren.

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Einleitung

hier aufzuzählen. In dieser Phänomenologie geht es nicht mehr um


die Setzung von Bedingung einer phänomenologischen Erfahrung
(wenn auch diese Bedingung nicht als eine Form, sondern selbst als
eine Erfahrung, eine nicht-intentionale Erfahrung, die eigentlich nie-
mand erfährt, verstanden wird), die als Bedingung uneinholbar
bleibt, sondern um die Erfahrung des Anderen, der als uneinholbar
erscheint. Es geht hier nicht mehr um das Unsichtbare als Bedingung
des Sichtbaren, sondern um die Sichtbarkeit des Unsichtbaren, das
seine Unsichtbarkeit zeigt. Es ist diese Phänomenologie, innerhalb
deren die Begegnung mit dem Anderen, das Ereignis thematisiert
wird.
Ist es ein Phänomen, wenn das Ereignis als Begegnung in der
aktuellen Diskussion von der Phänomenologie behandelt wird? Dies
ist eine der Hauptfragen, die die vorliegende Arbeit stellt und zu be-
antworten versucht. In der Tat könnte es sich herausstellen, dass das
Ereignis kein Phänomen ist. Es liegt nicht daran, dass es unsichtbar
ist, sich nie völlig zeigt. Im Anschluss an Heidegger und Levinas ver-
sucht die vorliegende Arbeit zu zeigen, dass es gleichgültig ist, ob das
Ereignis sichtbar (wie ein empirisches Ereignis zum Beispiel) oder
unsichtbar (wie die Offenbarung bei Marion) ist: Sogar dann, wenn
an dem Ereignis alles sichtbar wäre, wäre es kein Phänomen. Es ist
jenseits der Ontologie und Phänomenologie. Es ist weder Sein noch
Erscheinen, es ist genau das, was es ist, nämlich das Ereignis – das was
geschieht, das was mit uns geschieht, wenn es geschieht.

Die vorliegende Arbeit hat drei Teile. Der erste Teil widmet sich den
zentralsten Denkern des Ereignisses als Begegnung mit dem Ande-
ren. Er soll einerseits als eine Einführung in das jeweilige Ereignis-
denken dienen – er soll aufzeigen, in welchem Kontext und wie das
Ereignis gedacht wird. Er soll andererseits als eine Einführung in die
Problematik des Ereignisses dienen und eine systematische Aus-
einandersetzung mit ihr vorbereiten. Die in diesem Teil behandelten
Autoren sind: Martin Heidegger, Maurice Merleau-Ponty, Emmanuel
Levinas, Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Alain Badiou, Jean-Luc
Marion und Claude Romano. Es mutet wahrscheinlich merkwürdig
an, dass wir in diesen Teil auch Deleuze und Badiou aufnehmen. Dies
ist einerseits dadurch zu erklären, dass für sie der Ereignisbegriff eine
ganz zentrale Rolle spielt. Andererseits sollen ihre ontologischen
Ansätze der Phänomenalisierung des Ereignisses entgegengesetzt
werden.

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Einleitung

Der zweite – der größte – Teil behandelt drei großartige Ereig-


nisdenker: Heidegger, Levinas und Marion. In gewisser Hinsicht
könnte man sagen, dass die Auswahl genau dieser Autoren willkür-
lich ist und keine besondere Begründung hat. In einer anderen Hin-
sicht haben wir es hier mit drei Generationen des Ereignisdenkens zu
tun. Heideggers Ereignis als Anfang des Denkens entsteht in einer
Zeit, wo die neukantianische und Husserl’sche Anstrengung unter
anderem der Begründung der Wissenschaft und der Selbstbegrün-
dung der Philosophie gewidmet ist. Mit Levinas springen wir zu einer
Philosophie der Nachkriegszeit in Frankreich über, die die Begegnung
mit dem Anderen als den Anfang jeder möglichen Ontologie und
Moralphilosophie denkt. Gleichzeitig finden wir hier eine äußerst
originelle und wegbereitende Beschreibung der Erfahrung des Ande-
ren. Marion ist der Hauptvertreter der aktuellen Phänomenologie des
Ereignisses. Der zweite Teil soll auch der Meinung entgegentreten,
dass Heideggers Ereignisphilosophie nur wenig mit dem französi-
schen Ereignisdenken zu tun hat und dass wir von Heidegger als von
einer bloßen »Inspirationsquelle« sprechen müssen. 14 Wir möchten
dagegen zeigen, dass Heideggers Philosophie des Ereignisses eine un-
glaubliche systhematische Ähnlichkeit mit den Anstrengungen in
Frankreich aufweist und in die heutigen Auseinandersetzungen mit
der Ereignisthematik einbezogen werden sollte. 15
Der dritte Teil der vorliegenden Arbeit fasst zuerst die wichtigs-
ten Ergebnisse des zweiten Teiles zusammen. Außerdem hebt er be-

14 So behaupten Gondek und Tengelyi: »Gewiss ist die Spätphilosophie Heideggers


mit ihren eigentümlichen Begriffen wie »Ereignis«, »Anspruch« und »Entspre-
chung«, »Gabe« und »Entzug« eine dauerhafte Inspirationsquelle für die Neue Phä-
nomenologie in Frankreich. Gleichwohl ist der Abstand zwischen den beiden Denk-
formationen nicht nur unverkennbar, sondern auch unüberwindlich.« (Gondek/
Tengelyi, 40)
15
In diesem Sinne stimmen wir Rölli zu, wenn er schreibt: »Alle späteren Versuche,
das Ereignis philosophisch auszuzeichnen, stehen gewollt oder ungewollt in der Tra-
dition Heideggers und müssen vor diesem Hintergrund ihr kritisches Potential und
ihre weiterführende Kraft unter Beweis stellen.« (Rölli (2004), 8) Es ist vielleicht
übertrieben zu sagen, dass »alle späteren Versuche« des Ereignisdenkens »in der Tra-
dition Heideggers« »stehen«. Weil trotz des großen Einflusses des Heidegger’schen
Denkens, hat die französische Ereignisphilosophie auch andere Quellen ihres Ereig-
nisdenkens und mit der Originalität ihres Philosophierens entwickelt sie ihre eigene
Tradition des Ereignisdenkens, die allerdings – wie schon angesprochen – auf keinen
Fall einheitlich ist. Aber wir stimmen zu, dass »alle späteren Versuche« »ihr kritisches
Potential und ihre weiterführende Kraft« vor dem Ansatz Heideggers »unter Beweis
stellen« »müssen«. Weil es hier vermutlich um ein und dieselbe Sache geht.

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Einleitung

stimmte äußerst entscheidende, explizite oder implizite, Thesen ein-


zelner Ereignisdenker hervor, um sie kritisch zu befragen. Schließlich
stellt er einen kleinen Versuch dar, das Ereignis als eine Begegnung
mit dem Anderen philosophisch-systematisch zu befragen.

Die Wichtigkeit der Behandlung eines Themas ist unmöglich zu be-


gründen. Eine Begründung kann nur denjenigen überzeugen, der
schon überzeugt ist. Mit der Ereignisthematik ist es nicht anders.
Trotzdem liegt vielleicht in Bezug auf das Ereignis ein Unterschied
vor. Ein Ereignis ist nicht etwas, von dem man überzeugt oder nicht
überzeugt sein kann – es ist das Ankommen einer Überzeugung,
gleichgültig wovon man überzeugt ist. Es ist nicht etwas, was manche
betrifft und manche nicht betrifft, sodass sie es abweisen können – es
ist das Betreffen selbst.

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I. DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE:
Das gegenwärtige Denken des Ereignisses

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Martin Heidegger (1889–1976)

Als Martin Heidegger am Anfang des 20. Jahrhunderts seine philoso-


phische Entwicklung beginnt, ist es der Neukantianismus, der die
philosophische Szene in Deutschland beherrscht. Der Neukantianis-
mus als Erneuerung und Weiterführung der Philosophie Kants in
einem neuen geschichtlichen Kontext ist eine Transzendentalphilo-
sophie, also eine Philosophie, die nach dem Grund, nach den Bedin-
gungen der Möglichkeit der Erkenntnis fragt. Sie ist demzufolge ein
begründendes und selbstbegründendes Denken. Welche transzenden-
talen Voraussetzungen erfüllt die wissenschaftliche Erkenntnis, was
sind die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Geltung – fragt die mehr
auf eine transzendentale Logik gerichtete Marburger Schule des Neu-
kantianismus. Welche sind die transzendentalen Gründe, die der Gel-
tung aller Kulturgestalten (Ethik, Kunst etc.) zugrunde liegen; was
sind die Bedingungen der Geltung der Erkenntnisse der Geisteswis-
senschaften – das ist die Frage, die die südwestdeutsche Schule des
Neukantianismus stellt. Diese Richtung des Neukantianismus nennt
die Gründe Werte und eröffnet so den Weg zu einer systematischen
Wertphilosophie. Der junge Heidegger, was seine Begegnung mit der
Philosophie betrifft, kommt aus der Tradition des neukantianischen
Denkens. Auch wenn er sehr früh diese Philosophie verlässt, sind die
Spuren dieser Denkweise noch sehr lange – auch in seinen original-
philosophischen Schriften – merkbar. Und wenn er später – am An-
fang der 30er Jahre – das Ereignis zu denken beginnt, setzt er sich
damit unter anderem auch vom neukantianischen Philosophieren
ab. 16 Das will sagen: Wenn man das Ereignisdenken Heideggers und

16 Damit unterstützen wir völlig die Thesen von Ernst Wolfgang Orth: »Im Hinblick
auf Heideggers frühe Vorlesungen von 1919 bis 1923 lassen sich schon jetzt folgende
Thesen bezüglich seines Verhältnisses zum Neukantianismus formulieren: / 1. Hei-
degger ist mit der philosophischen Bewegung des Neukantianismus durchaus ver-
traut. / 2. Der Neukantianismus ist ihm ein Paradigma ernsthaften Philosophierens
der Gegenwart, in welchem sich die wichtigsten philosophischen Probleme der Zeit

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

den Weg zu ihm verstehen möchte, sollte man auch wissen, was es
mit dem Denken des Grundes auf sich hat. 17
In seiner frühesten universitären Vorlesung, gehalten in dem
sog. Kriegsnotsemester 1919 mit dem Titel Die Idee der Philosophie
und das Weltanschauungsproblem, setzt sich Heidegger mit dem
Selbstbegründungsproblem der philosophischen Erkenntnis aus-
einander und dies ganz im Geiste des Neukantianismus. In diesem
Text weist Heidegger auf eines der grundlegendsten Probleme des
neukantianischen Diskurses über die Begründung der Geltung der
Philosophie hin, nämlich auf den unendlichen Regress und die
»Zirkelhaftigkeit« (KNS, 95) der Begründungsführung. Die Neukan-
tianer versuchen, die Begriffe der Philosophie, die philosophische
Theorie durch andere Begriffe einer Erkenntnistheorie transzenden-
talphilosophisch zu begründen. Selbstverständlich führt ein solcher
Versuch zur Notwendigkeit, diese Theorie der Begründung auch zu
begründen und dies ad infinitum. Die Erkenntnis kreist so um sich
selbst: »das Erkennen kommt nicht aus sich selbst heraus« (KNS, 96),
und solange das so bleibt, gibt es keine ernste Begründung, keine
ernste »Urwissenschaft«, wie Heidegger sie in dieser Vorlesung
nennt, die alle Erkenntnis letztbegründen könnte. So kommt er zum
Schluss, dass eine Urwissenschaft selbst nicht theoretisch sein darf:
»Soll er [der Zirkel – L. P.] aber aufhebbar sein, dann muß es eine vor-theo-
retische oder übertheoretische, jedenfalls eine nichttheoretische Wissen-
schaft, eine echte Ur-wissenschaft geben, aus der das Theoretische selbst
seinen Ursprung nimmt.« (KNS, 96)
Worin begründet Heidegger das Theoretische bzw. was denkt die Ur-
wissenschaft? Die Antwort lautet: das Leben im Sinne des Erlebnis-

konzentrieren. / 3. Der Neukantianismus ist für Heidegger ein Ausgangsfeld für das,
was er Urwissenschaft nennt (vgl. GA 56/57, 13 ff), die freilich für ihn zunächst im
Phänomenologiebegriff Husserls ihre eigentliche Basis findet. / 4. Die erste Entwick-
lung von Heideggers eigenem Denken vollzieht sich in Auseinandersetzung mit Neu-
kantischen Positionen.« (Orth, 18)
17 Damit widersprechen wir auch ein wenig der verbreiteten Interpretation von Hei-

deggers Werk, die in ihm zuerst einen Denker des Seins sieht. Das ist er in der Tat,
aber er denkt das Sein, weil er – ziemlich neukantianisch – eine begründete Philo-
sophie sucht, also den Grund. Heidegger ist ein Denker des Grundes. Deswegen denkt
er das Sein und deswegen denkt er später das Ereignis. Es ist schwierig das Ereignis-
denken zu verstehen, wenn man von seinem Seinsdenken ausgeht; man kann aber
diesen Schritt zum Ereignisdenken sehr gut nachvollziehen, wenn man die Frage nach
dem Denken des Grundes stellt.

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Martin Heidegger (1889–1976)

ses. Mit der These, dass das Theoretische nur im Nichttheoretischen


begründet werden kann, verlässt Heidegger gewissermaßen den neu-
kantianischen Ansatz, es ist aber zu beachten, dass er diesen Gedan-
ken von einem Neukantianer – Emil Lask – übernimmt und weiter-
entwickelt. 18 Doch noch wichtiger als das, dass das Nichttheoretische
ab jetzt als Grund bestimmt wird, ist, wie es ein Grund ist und fun-
giert. Eine Erkenntnis zu begründen bedeutet ab jetzt nicht mehr,
ihre transzendentalkategoriale formale Bedingung anzugeben, son-
dern zu verstehen, wie das Erkennen gelebt wird, wie es im tatsäch-
lichen Leben ist und aus ihm erwächst. 19 Für Heidegger bleibt noch
die methodologische Frage, wie man diese Erlebnisse aufdecken kann
und wie sie zu beschreiben wären, ohne dass sie zu einem bloßen
Gegenstand für eine theoretische Betrachtung würden und damit
ihren Erlebnischarakter und somit ihre begründende Funktion verlie-
ren würden. Es ist die von Husserl entwickelte Phänomenologie, die
ihm eine Methode der Aufdeckung und Beschreibung der Erlebnisse
anbietet: Die »Phänomenologie« ist die »vortheoretische Urwissen-
schaft« (KNS, 63). Als eine Urwissenschaft ist sie selbst kein »Stand-
punkt« (KNS, 110) 20, keine Theorie der Erlebnisse, aber auch kein
Verschwinden im bloßen Erleben: Durch sie kann man »verstehend
erleben« (KNS, 115). 21 Das Erlebnis, insofern es verstehend erlebt
wird, nennt Heidegger – im Gegensatz zum psychischen »Vorgang«

18 Heidegger würdigt Lasks Denken und bestätigt seinen Einfluss von ihm zum Bei-
spiel in folgender Passage: »Emil Lask, dessen Untersuchungen ich persönlich sehr
viel verdanke […]. […] Er war eine der stärksten philosophischen Persönlichkeiten
der Gegenwart, ein schwerwiegender Mann, der nach meiner Überzeugung auf dem
Weg zur Phänomenologie war, dessen Schriften überreich sind an Anregungen –
allerdings keine Lektüre, die man nur so liest.« (PhtW, 180)
19 Diese Verschiebung von einer Theorie zum verstehenden Erleben des Theoretisie-

rens charakterisiert wunderbar Markus Brach: »Heidegger formulierte damit jedoch


nicht eine einfache Frage nach etwas, sondern er fragte nach der Frage selbst – er
fragte eigentlich nach dem Fragen und seiner Erlebnishaftigkeit. Damit überschritt
er aber alle Fragen nach Etwas auf eine Frage ganz anderer und neuer Qualität hin:
die Seinsfrage. Denn die Frage nach dem Fragen des Fragens fragt nicht nach der
Sache des Fragens selbst, sondern nach seinen Vollzugsbedingungen. Heidegger redu-
zierte dergestalt das wissenschaftliche Fragen nach einer Sache auf den Akt des Fra-
gens selbst und damit auf die Vollzugsbedingungen der Wissenschaft bzw. der Theo-
rie.« (Brach, 89)
20 Heidegger formuliert dies sehr extrem: »Und die Todsünde wäre die Meinung, sie

selbst sei ein Standpunkt.« (KNS, 110)


21 Weil die Urwissenschaft die Erlebnisse verstehend, beschreibend und auslegend ist,

spricht Heidegger hinsichtlich ihrer Methode von einer »hermeneutische[n] Intui-

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

als Gegenstand einer Wissenschaft – »Ereignis« (KNS, 75). 22 Das spä-


tere Ereignis in Heideggers Philosophie unterscheidet sich aber we-
sentlich von diesem Ereignis als Mit-Vollzug des Lebens, und wir
werden gleich sehen, in welcher Hinsicht.
Was aber den frühen Heidegger von den Neukantianern wesent-
lich unterscheidet, ist die Art seines philosophischen Interesses. Die
erkenntnistheoretische Fragestellung zur Begründung und Selbst-
begründung, die Vermutung, dass der Grund des Theoretischen im
Nicht-Theoretischen, im Leben zu suchen sei, verschiebt sich zur Fra-
ge nach dem Leben selbst. 23 So finden wir schon in der Vorlesung
zum Wintersemester 1919/1920 – Grundprobleme der Phänomeno-
logie – zwar die Beschreibungen, wie die Wissenschaft aus dem fak-
tischen Leben erwächst, aber sie stehen im Schatten der Auslegung
dieses faktischen Lebens. Und im Wintersemester 1921/1922 – in der
Vorlesung Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles –
wird der »Gegenstand« der Philosophie folgendermaßen bestimmt:
»Philosophie ist historisches (d. h. vollzugsgeschichtliches verstehendes) Er-
kennen des faktischen Lebens.« (GA 61, 2)
Dabei interessiert sich die Philosophie nicht für das Leben, insofern es
zu einem Gegenstand für die Erkenntnis geworden ist, sondern für
das Wie des Lebens. Die Philosophie fragt nicht, was das Leben ist,
sondern wie es an sich ist. Sie fragt danach, wie wir leben, wenn wir
leben; wie wir das Leben vollziehen und vollziehend verstehen. Wenn
man so fragt, fragt man – in Heideggers Terminologie des Winter-
semesters 1919/1920 – nach dem »Sinn« (GA 58, 102). Noch ein we-
nig später – im Wintersemester 1921/1922 – wird die Frage nach dem
Sinn zur Frage nach dem »Sein« bzw. »Seinssinn«. Diese begriffliche
Verschiebung entsteht durch Heideggers Auseinandersetzung mit
der Philosophiegeschichte – insbesondere Aristoteles. 24 Die Philoso-

tion« (KNS, 117) und ein wenig später – im Sommersemester 1919 – von ihr als einer
»phänomenologische[n] Hermeneutik« (PhtW, 131).
22 »Das Er-leben geht nicht vor mir vorbei, wie eine Sache, die ich hinstelle, als Ob-

jekt, sondern ich selbst er-eigne es mir, und es er-eignet sich seinem Wesen nach. Und
verstehe ich es darauf hinblickend so, dann verstehe ich es nicht als Vor-gang, als
Sache, Objekt, sondern als ein ganz Neuartiges, ein Ereignis.« (KNS, 75)
23 Eine andere Möglichkeit wäre: Nicht dass aus den Begründungsversuchen das In-

teresse für das Leben erwächst, sondern das Interesse für das Leben ist schon da, muss
aber, weil es die philosophiegeschichtliche Situation fordert, in die erkenntnistheo-
retische Problematik hineingezwungen werden und auf seine Befreiung erst warten.
24
Heideggers philosophisches Interesse widmet sich also dem faktischen Leben. Hei-

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Martin Heidegger (1889–1976)

phie ist für Aristoteles die Suche nach dem Grund, dem Prinzip des
Seienden, das das Seiende zu dem macht, was es ist, sie sucht also sein
Sein:
»Was ist das, worauf es beim Seienden als solchem letztlich ankommen
kann? Das Sein, oder bestimmter, im Hinblick auf die Weise, wie solches
»Sein« faßbar ist: der »Seinssinn«. Es ist ausdrücklich im Auge zu behalten:
das Sein, der Seinssinn, ist das philosophisch Prinzipielle jedes Seienden; es
ist aber nicht sein »Allgemeines«, die oberste Gattung, was Seiendes als
besondere Fälle unter sich hätte.« (GA 61, 58)
Wenn man das Leben untersucht, sucht man sein Sein bzw. den
Seinssinn. Die Philosophie ist »die Frage nach dem Seinssinn fak-
tischen Lebens« (GA 61, 172). Die Philosophie fragt, wie das Leben
im Prinzipiellen ist. Des Weiteren ist es zu beobachten, dass Heideg-
ger die Frage nach dem Seinssinn des faktischen Lebens, erstens, ab-
kürzt und schlicht nach dem Sein fragt, wenn er nach dem Sein des
Lebens fragt, und, zweitens, verallgemeinert und nach dem Sein ver-
schiedener Seiender fragt, obwohl es immer die faktische Existenz des
Menschen ist, die im Zentrum der Untersuchung steht und eine aus-
gezeichnete Stellung hat. Wird aber nach dem Sein gefragt, ist die
Philosophie ontologisch: eine Ontologie. In der Tat nennt Heidegger
in der Vorlesung zum Sommersemester 1923 seinen Ansatz »Onto-
logie«. Weil sie aber das faktische Leben auslegt, ist sie »Hermeneutik
der Faktizität«. Eine ganz empfindliche Frage in diesem Kontext ist,
ob diese Auslegung des Wie des Lebens immer noch eine Phäno-
menologie (im Husserl’schen Sinne) ist. Man kann diese Frage nur
zweideutig beantworten. Von einer Seite: Heidegger hat zuerst die
Philosophie zu Untersuchungen der Erlebnisse des Lebens bestimmt
und Phänomenologie genannt, sie ist jetzt keine Phänomenologie
mehr – diese Ontologie spricht nicht vom Bewusstseinsleben, davon
wie wir in uns sind, sondern vom Leben, davon wie wir in der Welt
sind; sie spricht nicht mehr von Bewusstseinsobjekten (Phäno-

degger nennt selbst vier Denker, die ihm geholfen haben, das faktische Leben auf seine
Art und Weise auszulegen: »Begleiter im Suchen war der junge Luther und Vorbild
Aristoteles, den jener haßte. Stöße gab Kierkegaard, und die Augen mir Husserl ein-
gesetzt.« (GA 63, 5) An dieser Stelle wollen wir nur darauf hinweisen, dass bei der
Behandlung vom Leben die Terminologie und die Fragestellung Heidegger im großen
Maß von Aristoteles übernommen hat. So ist die Rede in den Vorlesungen zum Win-
tersemester 1920/1921 und Sommersemester 1921 noch vom »Leben«, aber seit der
Vorlesung zum Wintersemester 1921/1922 mit dem Titel Phänomenologische Inter-
pretationen zu Aristoteles – vom »Sein«.

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

menen), sondern von dem, was ist, was in der Welt anwesend ist (vom
Seienden). 25 Von anderer Seite: Zu dieser Zeit hat dies sich noch nicht
herauskristallisiert, aber die Phänomenologie wird für Heidegger in
Sein und Zeit zum »Methodenbegriff« (SZ, 27), die ganz allgemein
Folgendes leisten kann: »Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm
selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen.« (SZ, 34) Damit wird
der Gegenstand der Phänomenologie noch nicht erstmals bestimmt,
sie ist bloß eine Art des Denkens: eine »Möglichkeit des Denkens,
dem Anspruch des zu Denkenden zu entsprechen« (MWPh, 101),
wie Heidegger es 1963 formulieren wird. Bei einem so verstandenen
Begriff der Phänomenologie kann man behaupten, dass Heidegger in
seinem ganzen Denken phänomenologisch bleibt. 26 Eine solche Be-
hauptung hat aber nur dann Sinn, wenn sie die Abgrenzung des Den-
kens gegen jede Philosophie des Bewusstseins macht. In der früheren
Ontologie, in der Fundamentalontologie von Sein und Zeit, und spä-
ter im Denken des Ereignisses geht es nie um die Erscheinungen für
das Bewusstsein, sondern um das, was ist bzw. sich ereignet und wo-
raufhin das Bewusstsein transzendiert. Hier muss man aber wieder
sehr aufmerksam sein: Es geht nicht um eine objektive Ontologie
oder Ereignisphilosophie, die das beschreibt, was ohne das Bewusst-
sein ist bzw. geschieht, sondern um das, was das Denken das Seiende
übersteigen lässt bzw. es (das Denken) das Zu-Denkende (das Sein)
aufdecken läßt.
Das ganz spezifisch Heidegger’sche und Originelle zu dieser frü-
hen Zeit liegt aber nicht darin, dass Heidegger versucht, das Nicht-

25 Es geht also um den Unterschied zwischen Bewusstsein und Sein. In dem kurzen
biographischen Text – Mein Weg in die Phänomenologie (1963) – betont Heidegger
diesen Unterschied: »Woher und wie bestimmt sich, was nach dem Prinzip der Phä-
nomenologie als »die Sache selbst« erfahren werden muß? Ist es das Bewußtsein und
seine Gegenständlichkeit, oder ist es das Sein des Seienden in seiner Unverborgenheit
und Verbergung? / So wurde ich auf den Weg des Seinsfrage gebracht, erleuchtet
durch die phänomenologische Haltung […].« (MWPh, 99). Damit sagt er unter ande-
rem, dass die Phänomenologie ihn zur Seinsfrage gebracht hat, sie ist aber nicht mit
ihr gleich.
26 Dies macht zum Beispiel Günter Figal, wenn er, erstens, von der »Universalisie-

rung« und, zweitens, von der »Anonymisierung« (Figal(2007), 9) der Phänomeno-


logie in Heideggers Philosophie spricht. Diese Bezeichnungen wollen sagen, dass die
Phänomenologie bei Heidegger zu einer universalen Denkweise wird und als solche
nicht mehr ständig genannt werden muss. Immer wenn wir versuchen, etwas zu den-
ken, etwas so aufzuzeigen, wie es ist, sind wir phänomenologisch, und es braucht
keine besondere Explizierung.

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Martin Heidegger (1889–1976)

Theoretische auszulegen, und statt einer Erkenntnistheorie eine On-


tologie entwickelt, sondern im Wie der Bestimmung des Lebens bzw.
Seins, was auch ein völlig neues Verständnis der Philosophie mit sich
bringt. Es ist von Anfang an klar, dass das faktische Leben kein Denk-
objekt ist und dass der Bezug zu ihm kein Erkennen ist. Das Leben
erreicht man nicht, wenn man »sein Allgemeines, die oberste Gat-
tung« angibt und eine Definition fixiert. Das Leben erreicht man,
indem man lebt, aber nicht einfach lebt, sondern das Leben mit-voll-
zieht, so wie das Leben sich selbst vollzieht; indem man mit dem
Leben verstehend mit-geht. Dieser verstehende Mit-Vollzug des Le-
bens in seinem Wie ist das Sein. Das Sein ist nicht die Existenz im
Allgemeinen, die man einem Seienden als ein Prädikat zuschreiben
kann, sondern es ist das Verstehen der Existenz, es ist im Vollzug des
Verstehens der Existenz. Wenn das so ist, kann die philosophische
Begrifflichkeit unmöglich das Sein (des Lebens) bedeuten – das Sein
ist nicht der Gehalt eines Begriffes, es ist nicht im Begriff und durch
den Begriff erreichbar, es kann nur vollzogen werden. Deswegen ist
die philosophische Definition einer Ontologie nur »formal an-
zeigend« (GA 61, 20). Sie ist formal (nicht inhaltlich), weil ihr Gehalt
nicht den definierten »Gegenstand« gibt, und sie ist anzeigend, weil
sie durch die Forderung, das Definierte zu vollziehen, auf es hinweist:
»Als anzeigende ist die Definition als eine solche zugleich charakterisiert,
die den zu bestimmenden Gegenstand gerade nicht voll und eigentlich gibt,
sondern nur anzeigt, als echt anzeigend aber gerade prinzipiell vorgibt. Es
liegt in der Anzeige, daß die Konkretion nicht ohne weiteres zu haben ist,
sondern eine Aufgabe eigener Art und Aufgabe für einen Vollzug eigener
Verfassung darstellt.« (GA 61, 32)
Der durch den Begriff uneinholbare Vollzug des Lebens, also das Sein
des Lebens, kurz: das Sein ist das Thema von Heideggers erstem und
unglaublich einflussreichem Hauptwerk Sein und Zeit (1927). Dieses
Werk grenzt das Sein gegenüber dem Seienden (dem Gegenständ-
lichen, dem begrifflich Fassbaren) ab 27 – was gleich nach Sein und
Zeit »ontologische Differenz« getauft wird 28 –, und es legt die Exis-

27 »Das Sein des Seienden »ist« nicht selbst ein Seiendes.« (SZ, 6)
28 In der Vorlesung zum Sommersemester 1927 – Die Grundprobleme der Phäno-
menologie – heißt es: »Wir sagten: Ontologie ist die Wissenschaft vom Sein. Sein aber
ist immer Sein eines Seienden. Sein ist wesensmäßig vom Seienden unterschieden.
[…] Wir bezeichnen sie [die Unterscheidung zwischen Sein und Seiendem – L. P.] als

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

tenz des Daseins 29 aus. Die Auslegung des Seins ist Ontologie, die
hier als »Fundamentalontologie« (SZ, 13) fungiert, da sie »eine aprio-
rische Bedingung der Möglichkeit […] der Wissenschaften« und »die
Bedingung der Möglichkeit der vor den ontischen Wissenschaften
liegenden und sie fundierenden Ontologien« (SZ, 11) aufdeckt. Da
die Fundamentalontologie ihre gründende Aufgabe durch die Aus-
legung des Seins des Daseins erfüllt, entspringt sie der »existenzialen
Analytik des Daseins« (SZ, 13), und wegen ihres »auslegenden« Cha-
rakters ist sie »Hermeneutik« (SZ, 37).
Sein und Zeit weist aber noch einige Aspekte auf, die, von einer
Seite, als eine Rückkehr zur neukantianischen Fragestellung betrach-
tet werden können und, von anderer Seite, einen entscheidenden
Schritt in Richtung Ereignisdenken machen. Erstens gibt die Fun-
damentalontologie nicht nur das Fundament für die Wissenschaften
des Seienden, sie arbeitet dazu auch noch transzendentalphiloso-
phisch. Zweitens bemüht sich Heidegger ausdrücklich um die All-
gemeingültigkeit der Aussagen und die Selbstbegründung der Gel-
tung seiner Philosophie. Zum Ersten: Es ist bemerkenswert, dass
schon auf der ersten Seite dieses Werkes die Begründung des Seins-
verständnisses in der Interpretation der Zeit ihren Horizont zuge-
wiesen bekommt:
»Die konkrete Ausarbeitung der Frage nach dem Sinn von »Sein« ist die
Absicht der folgenden Abhandlung. Die Interpretation der Zeit als des mög-
lichen Horizontes eines jeden Seinsverständnisses überhaupt ist ihr vor-
läufiges Ziel.« (SZ, 1)
Wird in der Daseinsanalytik der Sinn des Daseins als »Sorge« 30 be-
stimmt, so ist der zweite Abschnitt des ersten Teiles der Frage gewid-

die ontologische Differenz, d. h. als die Scheidung zwischen Sein und Seiendem.«
(GA 24, 22)
29
Mit dem Konzept »Dasein« grenzt sich Heidegger gegen die Untersuchungen des
»Menschen« ab. Er fragt nämlich nicht nach dem allgemeinen Wesen des Menschen,
sondern nach seinem Wie des Lebens, nach dem Sinn des Seins. So ist das Dasein ist
nicht etwas, sondern »ist« insofern es ist, existiert: »Das »Wesen« des Daseins liegt in
seiner Existenz.« (SZ, 42)
30 »Auf dem Boden der Analyse dieser Fundamentalstruktur wird eine vorläufige

Anzeige des Seins des Daseins möglich. Sein existenzialer Sinn ist die Sorge.« (SZ,
41) Die Charakterisierung des Seins des Daseins als Sorge erscheint schon in den
Vorlesungen vor Sein und Zeit und ist auf Heideggers Auseinandersetzung mit Aris-
toteles zurückzuführen. Die Sorge bedeutet ganz allgemein, dass das Dasein immer

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Martin Heidegger (1889–1976)

met, wie die Sorge möglich ist. Ihr Grund liegt in der Zeitlichkeit des
Daseins:
»Der ursprüngliche ontologische Grund der Existenzialität des Daseins aber
ist die Zeitlichkeit. Die gegliederte Strukturganzheit des Seins des Daseins
als Sorge wird erst aus ihr existenzial verständlich.« (SZ, 234)
Das heißt: Das Dasein ist so, wie es ist, weil es zeitlich ist. Es kann
aber auch bedeuten: Das Dasein versteht das Sein, weil es zeitlich ist.
Zum Zweiten: Wie begründet Heidegger die Geltung seiner Phi-
losophie, d. h. wie garantiert er, dass seine Aussagen über das Sein
wahr sind? So, dass er behauptet, dass sie nicht von einer vom Sein
abgehobenen Wissenschaft gemacht, sondern von der Existenz, dem
Dasein selbst erschlossen werden. Die Fundamentalontologie denkt
nichts aus, sie lässt nur das sehen, was sich schon zeigt; sie expliziert
nur das, was schon verstanden ist. Daraus ergibt sich aber eine
Schwierigkeit, mit der Heidegger kämpfen muss. Es ist ihm schon
früher nicht entgangen, dass manche Menschen einfach nur leben,
ihre Existenz vollziehen, während andere mit ihrem Leben mitgehen,
es verstehend vollziehen. Das sind zwei Seinsweisen. Die erste nennt
Heidegger die Alltäglichkeit bzw. Uneigentlichkeit, die andere:
Eigentlichkeit. Das Problem liegt im Folgenden: Wenn Heidegger
das Sein sich selbst zeigen lässt, so zeigt die Uneigentlichkeit nichts,
weil sie nur lebt. Es ist die eigentliche Existenz, die für sich selbst
sichtbar wird und sich selbst auslegt. Wenn wir aber die (uneigent-
liche) Existenz sich zeigen lassen und sie nichts zeigt, wie können wir
dann die Ergebnisse, die aus einer abgehobenen (eigentlichen) Posi-
tion kommen, noch auf diese Uneigentlichkeit anwenden? Streng ge-
nommen ist die Uneigentlichkeit nicht so, wie die eigentliche Existenz
sie auslegt. Nur die eigentliche Existenz kann, weil sie sich selbst ver-
steht, so sein, wie sie sich versteht. Angesichts dieses Problems bietet
sich folgende Lösung an: Man muss annehmen, dass jede Seinsweise
das Sein versteht, auch wenn sie dies tatsächlich nicht tut. 31 Auch die
Uneigentlichkeit trägt das Seinsverständnis in sich:
»[W]ir bewegen uns immer schon in einem Seinsverständnis.« (SZ, 5)

um etwas besorgt ist – um das Leben in seiner nächsten Umwelt (alltägliche Existenz)
oder auch um das Sein selbst (eigentliche Existenz).
31 Dazu siehe die schöne Auslegung dieser Problematik von Günter Figal: (Figal

(2009), 19 f).

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

Das Sein ist »je schon verstanden« (SZ, 6), obwohl das Sein für die
Alltäglichkeit das ist, »was sich zunächst und zumeist gerade nicht
zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, ver-
borgen ist« (SZ, 35).
Diese für die Selbstbegründung der Fundamentalontologie not-
wendige ontologische Annahme führt aber zu unbefriedigenden Kon-
sequenzen. Vorher (in den früheren Vorlesungen) war der Seinsinn
des Lebens etwas, was sich im Mit-Vollzug erschließt, etwas, was sich
zeigen oder auch nicht zeigen kann, jetzt ist das Sein dieser Vollzug
selbst: Das Sein ist das »Existenzial Gekonnte« (SZ, 143). 32 Vorher
gab es einen Bezug zum Sein, jetzt ist es schon immer da im bloßen
(uneigentlichen) Existieren. Vorher war das Verstehen ein Bezug,
jetzt ist es ein bloßes Seinkönnen. Das Verstehen des Sinnes muss
nicht unbedingt ausdrücklich und thematisch sein. Wer ist, versteht
schon, wie er ist, weil er eben schon ist. Mit anderen Worten: Die
Möglichkeit, den Sinn des Seins zu verstehen, wird auf das Können
des Daseins nivelliert. Das Dasein hat das Sein immer schon verstan-
den. Es ist nichts Besonderes, dass sich der Sinn des Seins plötzlich
erschließen kann. Es ist nichts Besonderes, dass das Leben, die Welt,
das Seiende plötzlich durchsichtig werden können. Heidegger hat
aber in der Erschließung des Seins immer schon etwas ganz Besonde-
res gesehen. Das Sein ist für ihn nie ein bloßer Vollzug gewesen, der
vom Dasein geleistet wird. Es soll ein Verhältnis zum Sein geben. Die
Eröffnung des Sinnes des Seins soll etwas sein, was mit dem Dasein
geschieht.
Sein und Zeit ist ein zugespitztes Werk, das deswegen viele Pro-
bleme offenlegen kann. In den nächsten Jahren steht für Heidegger
vor allem eine Frage im Zentrum – zwar keine neue, aber ab jetzt eine
radikal neue Herausarbeitung fordernde. Es ist die Frage nach dem
Grund. Konkret: Die Frage nach der Begründung der Wissenschaften
und nach der Selbstbegründung. Worin liegt das Problem, das Sein
und Zeit offengelegt? Es zeigte eine Fundamentalontologie, die das
Fundament – das ursprüngliche Seinsverständnis – aller Wissen-
schaft zurückgibt, und es verortete dieses Seinsverständnis im Da-

32 Interessanterweise hat die französische Philosophie, die ja insbesondere Sein und


Zeit gelesen hat, das Heidegger’sche Sein genauso auch interpretiert – als Verb »sein«,
als Vollzug des Existierens. Man kann in der Tat das so lesen, aber nur in Bezug auf
Sein und Zeit. Wenn das Sein später als das Ereignis bestimmt wird, ist diese Inter-
pretation nicht mehr korrekt.

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Martin Heidegger (1889–1976)

sein, sodass das Sein zum Dasein gehört. Somit ist das Dasein der
Grund des Seins. Jedes Verstehen, Erkenntnis und Wissen ist deswe-
gen möglich, weil das Dasein so ist, wie es ist, und es ist zeitlich. Es ist
aber genau diese Begründung, die Heidegger verdächtig erscheint. In
seinen Vorlesungen zu Kant (Wintersemester 1927/1928), Leibniz
(Sommersemester 1928), zum Deutschen Idealismus (Sommer-
semester 1929) geht es immer wieder um die Frage nach einer Fun-
damentalwissenschaft. Und in dieser Zeit geschieht in Heideggers
Denken eine radikale Verschiebung, was die Frage nach dem Grund
betrifft. Heidegger, als aus der neukantianischen Tradition kommend,
hat schon immer einen letzten Grund gesucht: Er fand ihn zuerst im
Erleben, dann im faktischen Leben, dann im Seinsverständnis, das
wiederum in der Zeitlichkeit begründet war. Ab jetzt fragt er aber
nicht mehr, was der Grund ist, sondern woher der Grund überhaupt
ist, woher die Frage nach dem Grund kommt. Das ist die Frage Hei-
deggers an sich selbst, warum er überhaupt einen Grund sucht. Diese
Verschiebung ist sehr deutlich im Beitrag Vom Wesen des Grundes
(1929) sichtbar. Er fragt nämlich nach der »Ermöglichung der Wa-
rumfrage überhaupt« (WG, 168). 33 Aber es ist genauso bemerkens-
wert, dass Heidegger diesen »Grund des Grundes« wiederum im Da-
sein verortet, nämlich in seiner »Freiheit«:
»Die Freiheit ist der Grund des Grundes.« (WG, 174) 34

33 Siehe auch: ÜM, 60.


34
Der Grund des Grundes ist die Freiheit. Die Freiheit wird als Transzendenz ver-
standen (»Die Freiheit als Transzendenz« (WG, 165)). Die Transzendenz ist der
»Überstieg zur Welt« (WG, 163) und sie »meint solches, was dem menschlichen Da-
sein eignet […] als vor aller Verhaltung geschehende Grundverfassung dieses Seien-
den« (WG, 137). Die Möglichkeit des Grundes liegt also in der Grundverfassung des
Daseins. Eine ganz ähnliche Argumentation finden wir in dem bekannten Vortrag
Was ist Metaphysik? (1929): »Einzig weil das Nichts im Grunde des Daseins offenbar
ist, kann die volle Befremdlichkeit des Seienden über uns kommen. Nur wenn die
Befremdlichkeit des Seienden uns bedrängt, weckt es und zieht es auf sich die Ver-
wunderung. Nur auf dem Grunde der Verwunderung – d. h. der Offenbarkeit des
Nichts – entspringt das »Warum?«. Nur weil das Warum als solches möglich ist,
können wir in bestimmter Weise nach Gründen fragen und begründen. Nur weil wir
fragen und begründen können, ist unserer Existenz das Schicksal des Forschers in die
Hand gegeben.« (WM, 121) Eine Wissenschaft (oder auch Fundamentalwissenschaft)
sucht also Gründe. Die Frage nach dem Gründen entspringt dem Warum, das seiner-
seits durch die Erfahrung des Nichts möglich wird. Das Nichts ist aber eine Struktur
des Daseins. In einem späteren Versuch, die Frage nach dem Grund des Grundes
explizit zu stellen, – in der Vorlesung Der Satz vom Grund (Wintersemester 1955/
56) – werden wir diese Begründung im Dasein nicht mehr finden: »Sein als gründen-

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

Sein und Zeit hat noch ein Problem offengelegt, nämlich wie das Sein
zu verstehen ist. Ist es das Wie des Seins des Seienden, ist es der
Seinsvollzug des Daseins oder doch etwas ganz anderes? Im Kontext
dieses Fragens ist Heideggers Auseinandersetzung mit der Problema-
tik der Wahrheit zu betrachten. Die Frage nach Wahrheit, die erst-
mals mit dem Vortrag Vom Wesen der Wahrheit (1930) ihre erneu-
te 35 Aktualität in Heideggers Denken bezeugt, ist die Frage danach,
wie das Sein zu verstehen ist. Das, was Heidegger hier fest im Blick
hat, ist die »Offenbarkeit von Seiendem« (WG, 131) – die Möglich-
keit, dass das Seiende seiend, sichtbar in seinem Sein und So-Sein
wird. In Vom Wesen der Wahrheit wird diese Offenbarkeit auf die
»Entbergung« zurückgeführt und »Wahrheit« genannt:
»Wahrheit ist nicht ursprünglich im Satz beheimatet.« (WW, 185)
»[…] die Wahrheit ist die Entbergung des Seienden […].« (WW, 190)
Hier liegt die Aufbruchsstelle des Ereignisdenkens in Heideggers
Philosophie – die sog. Kehre. 36 Am Anfang der 30er Jahre beginnt

des hat keinen Grund, spielt als der Ab-Grund jenes Spiel, das als Geschick uns Sein
und Grund zuspielt.« (SG, 169) Im Ereignisdenken ist das Dasein nicht mehr der
Grund des Seins, sondern das Sein wird dem Dasein durch das Ereignis (»Ab-grund«)
zugespielt.
35 Seine erste Interpretation der Wahrheit findet ihren Abschluss in Sein und Zeit.

Die Wahrheit wird als »Erschlossenheit des Daseins« verstanden, die die »Entdeck-
theit des innerweltlichen Seienden« möglich macht (SZ, 220). Wir werden gleich se-
hen, dass dieses Verhältnis in der Ereignisphilosophie Heideggers umgedreht (obwohl
nicht nur bloß umgedreht) wird. Ist in Sein und Zeit das Dasein der Träger der Wahr-
heit (»Sofern das Dasein wesenhaft seine Erschlossenheit ist […], ist es wesenhaft
»wahr«.« (SZ, 221)), so wird es im Ereignisdenken zum Empfänger der Wahrheit –
es wird zum Dasein, wenn es in die Wahrheit eintritt.
36 Pöggeler hat Recht, wenn er schreibt: »Man kann nicht übersehen, daß Heidegger

in einer durchaus mehrdeutigen Weise von einer »Kehre« spricht.« (Pöggeler(1992),


18) Es ist aber schon üblich geworden, mit diesem Wort die Wandlung des Heideg-
gerschen Denkens am Anfang der 30er Jahre zu bezeichnen. Heidegger Aussagen
lassen dies in der Tat zu. Im Humanismusbrief 1946 schreibt er: »Versteht man den
in ›Sein und Zeit‹ genannten ›Entwurf‹ als ein vorstellendes Setzen, dann nimmt man
ihn als Leistung der Subjektivität und denkt ihn nicht so, wie ›das Seinsverständnis‹
im Bereich der ›existenzialen Analytik‹ des ›In-der-Welt-Seins‹ allein gedacht werden
kann, nämlich als der ekstatische Bezug zur Lichtung des Seins. Der zureichende
nach- und Mit-vollzug dieses anderen, die Subjektivität verlassenden Denkens ist
allerdings dadurch erschwert, daß bei der Veröffentlichung von Sein und Zeit der
dritte Abschnitt des ersten Teiles, Zeit und Sein zurückgehalten wurde (vgl. Sein
und Zeit S. 39). Hier kehrt sich das Ganze um. Der fragliche Abschnitt wurde zurück-
gehalten, weil das Denken im zureichenden Sagen dieser Kehre versagte und so mit

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Martin Heidegger (1889–1976)

Heidegger an einem Gedanken zu arbeiten, dessen Niederschrift zu


seiner Lebenszeit weder vorgelesen bzw. vorgetragen noch veröffent-
licht wird. Die erste und am meisten bekannte Abhandlung zu diesem
Gedanken – Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (1936–1938) –
wird erst 1989 im Band 65 der Gesamtausgabe veröffentlicht. Den
Beiträgen folgen noch viel zu wenig von den Forschern und Philoso-
phen gelesene Abhandlungen: Besinnung (1938/39, GA 66), Die
Überwindung der Metaphysik (1938/39, GA 67), Die Geschichte des
Seyns (1938/40, GA 69), Über den Anfang (1941, GA 70), Das Ereig-
nis (1941/42, GA 71) und Die Stege des Anfangs (1944, noch nicht
veröffentlicht, geplant für GA 72). 37 Das thematische Zentrum dieser
Abhandlungen ist das Ereignis. Das Denken des Ereignisses steht in
einem direkten Zusammenhang mit dem vorher Gedachten, und doch
eröffnet es eine ganz neuartige Thematik und fordert eine ganz ande-
re Art des Philosophierens. Hat Heidegger nach der Offenbarkeit des
Seienden gefragt, diese in der Entbergung begründet und Wahrheit
genannt, so wird im Ereignisdenken die Wahrheit auch Sein genannt.
Die Wahrheit ist immer die Unverborgenheit des Seins des Seienden.
Wenn die Wahrheit ist, ist das Sein. Und wenn das Sein ist, ist auch
die Wahrheit:
»Die Wahrheit des Seyns ist das Seyn der Wahrheit.« (BPh, 95) 38

Hilfe der Sprache der Metaphysik nicht durchkam. Der Vortrag Vom Wesen der
Wahrheit, der 1930 gedacht und mitgeteilt, aber erst 1943 gedruckt wurde, gibt einen
gewissen Einblick in das Denken der Kehre von Sein und Zeit zu Zeit und Sein.« (HB,
327 f) Es geht also um die Kehre vom Sein als »Leistung der Subjektivität« zur »Lich-
tung des Seins«, wo das Dasein eingelassen wird. Diese Kehre ist in Sein und Zeit
gedacht, aber nicht gesagt. Sie wird zum ersten Mal in Vom Wesen der Wahrheit 1930
formuliert. Die Kehre, die dem Dasein seine Herrschaftsposition entzieht, dominiert
das Heideggersche Denken seit den 30er Jahren.
37 Diese Abhandlungen sind miteinander verbunden – sie bilden einen Korpus (viel-

leicht mit der Ausnahme von Die Überwindung der Metaphysik). Mehr noch: Es zeigt
sich im Laufe dieser Werke eine gedankliche Entwicklung – vieles wiederholt sich,
aber es gibt auch wichtige Thesen zum Ereignis, die es noch nicht in den Beiträgen
gibt, wohl aber in Das Ereignis. Aus diesem Grund ist es völlig unverständlich, warum
ausgerechnet die Beiträge am meisten gelesen werden, wenn doch gerade die späteren
Schriften zum Ereignis diese Denkrichtung viel entwickelter und klarer darstellen.
38 Es ist sehr wichtig, auf die neue Schreibweise von »Seyn« hinzuweisen. Sie bedeu-

tet nämlich nichts weniger, als dass die ontologische Differenz von Sein und Seienden
aufgegeben wird, um ursprünglicher denken zu können. Das Sein steht nicht mehr in
der Differenz zum Seienden, sondern ist grundsätzlich das Sein des Seienden. Das will
sagen: Das Sein ist das Geschehnis mit dem Seiendem, in dem es seiend wird, also die
Wahrheit. Und dieses Geschehnis geschieht vor der Differenzierung von Sein und

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

Die Wahrheit wird aber grundsätzlich als ein Geschehnis verstanden


– das Seiende tritt in die Unverborgenheit. Schon in der Vorlesung
Vom Wesen der Wahrheit (Wintersemester 1931/32) sagt Heidegger:
»Unverborgenheit ist Entbergsamkeit […]. […] Wo und wie ist sie, diese
Entbergsamkeit? Wir sehen sie als ein Geschehen, – ein Geschehnis, das
›mit dem Menschen‹ geschieht. Eine gewagte These!« (GA 34, 73)
Und wegen dieses Verständnisses der Wahrheit wird es später in den
Beiträgen Ereignis genannt:
»Die Wahrheit des Seyns […] ist das Ereignis.« (BPh, 258)
Weil die Wahrheit die des Seins ist, ist auch das Sein Ereignis:
»Das Seyn west als das Ereignis.« (BPh, 260)
Das Sein ist nicht mehr das Wie des Existierens, das nicht-thematisch
oder thematisch verstanden wird, sondern das Ereignis der Wahrheit.
Das Ereignis ist weder ein Erlebnis noch ein Begriff, weder ein Seien-
des noch Sein als Vollzug gegenüber dem Seins-Begriff, sondern ge-
nau das – das Ereignis. Kein objektives und beobachtbares Ereignis,
sondern das, was sich mit dem Dasein ereignet, das, worin das Dasein
ist. Es handelt sich hier um die Einführung eines neuen philosophi-
schen Konzepts.
Mehr noch: Hat Heidegger nach dem Grund gefragt, hat er die
Frage modifiziert und nach der Möglichkeit der Frage nach dem
Grund gefragt, so wird für ihn dieses Ereignis der Wahrheit als Sein
der Grund für die Möglichkeit, die Grund-Frage zu stellen. Das Er-
eignis der Wahrheit ist der Grund der Metaphysik, die den Grund zu
bestimmen versucht. Wichtig ist aber, dass dieser Grund nicht mehr

Seiendem, die die Metaphysik kennt und auf die sie gründet. Das so gedachte Sein
wird nicht mehr metaphysisch gedacht: »Das seynsgeschichtliche Erfragen des Seyns
ist nicht Umkehrung der Metaphysik, sondern Ent-scheidung als Entwurf des Grun-
des jener Unterscheidung, in der sich auch noch die Umkehrung halten muss. Mit
solchem Entwurf kommt dieses Fragen überhaupt ins Außerhalb jener Unterschei-
dung von Seiendem und Sein; und sie schreibt deshalb auch das Sein jetzt als ›Seyn‹.
Dieses soll anzeigen, daß das Sein hier nicht mehr metaphysisch gedacht wird.« (BPh,
436) Siehe auch: ÜM, 78. Wir werden hier und im weiteren Text die übliche Schreib-
weise des Wortes »Sein« beibehalten – als des Wortes für eine Sache des Denkens in
Heideggers Philosophie und in der Philosophie überhaupt, die unterschiedlich gedacht
werden kann. Da wir uns in Heideggers Philosophie des Ereignisses bewegen, ver-
stehen wir unter »Sein« – wenn nicht anders angegeben – immer das Sein als Ereignis
so wie es in Heideggers Philosophie nach der Kehre gedacht wird.

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Martin Heidegger (1889–1976)

als eine Bedingung der Möglichkeit verstanden wird, sondern als ein
Anfang – ein geschichtlicher Anfang, der irgendwann angefangen
hat. 39 Er bildet kein ständig anwesendes Fundament, sondern hat sich
vor langer Zeit ereignet und die Möglichkeit zu der Frage nach dem
Grund gegeben. Die Unverborgenheit des Seienden – die Wahrheit
(ἀλήθεια) – ist der Anfang:
»Die ἀλήθεια west als der Anfang.« (E, 9) 40
Das Entscheidende kommt aber erst jetzt: Das Wahrheitsgeschehnis
mit dem Seienden, das das Sein ist, ist ein geschichtlicher Anfang. Es
ist Ermöglichung schlechthin und wird nicht mehr im Dasein be-
gründet. Der Anfang fängt nicht an, weil das Dasein so ist, wie es ist,
sondern er fängt von sich selbst an und macht das Dasein erst zum
Dasein.
»Das ›Seyn‹ ist nicht ein Gemächte des ›Subjekts‹, sondern das Da-sein als
Überwindung aller Subjektivität entspringt der Wesung des Seyns.« (BPh,
303) 41
Modern gesagt, ist das Ereignis das Andere des Daseins. Das Ereignis
bei Heidegger ist eine unvorhersehbare Begegnung mit einem Ande-
ren, die neue Möglichkeiten eröffnet und eine Geschichte anfängt – in
Heideggers Fall die Geschichte der Metaphysik. Diese drei Momente:
[Wahrheits]Ereignis, [geschichtlicher] Anfang und die Andersheit
[des Seins] sind die Säulen, auf denen die Heidegger’sche Ereignisphi-
losophie steht, und sie machen Heidegger zum ersten Ereignisdenker

39 »Demnach erweist sich unser Vorhaben, das Denken aus seinen Grundsätzen zu
erfahren, als ein geschichtliches Wagnis. Dies bleibt weit entfernt von der Anmaßung,
absolut gültige Gesetze ›des‹ Denkens zu verkünden.« (FV, 103) Die Frage nach dem
Grund ist also nicht mehr eine Frage der Logik, die die »Gesetzte des Denkens« fest-
stellt, sondern eine Frage der Geschichte – ein »geschichtliches Wagnis«. Es geht nicht
mehr darum, was der Grund ist, sondern seit wann es Grund gibt und wie es dazu
gekommen ist, dass es einen Grund gibt.
40
Es ist zu beachten, dass dieser Gedanke noch nicht in den ersten Abhandlungen
zum Ereignis (zum Beispiel in den Beiträgen) da ist. Die Idee vom Anfang kommt
ein wenig später. Die ersten Abhandlungen widmen sich mehr der Möglichkeit, das
Sein mit der Wahrheit zu verknüpfen.
41 Schon im Wintersemester 1931/32 bei der Behandlung der Wahrheit heißt es:

»Kann man das Wesen der Wahrheit dem Menschen überlassen? Allzu gut wissen
wir um die Unverläßlichkeit des Menschen, – ein schwankendes Rohr im Winde!
Daran das Wesen der Wahrheit hängen? Wir sperren uns sofort und wehren uns ganz
natürlich gegen das Ansinnen, das Wesen der Wahrheit in ein menschliches Gesche-
hen zu verlegen.« (GA 34, 74)

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

– er ist nicht der erste, weil er diesen Begriff einführt, sondern weil er
etwas Ereignishaftes philosophisch beschrieben hat. In den 30er und
40er Jahren des letzten Jahrhunderts hat Heidegger zu einem Thema
gearbeitet, das sich erst später vor allem in der französischen Philoso-
phie herauskristallisierte und noch heute eine Wichtigkeit besitzt.
Doch wahrscheinlich kann hier nicht ein direkter Einfluss von Hei-
deggers systhematischer Ereignisphilosophie – so wie sie im in den
30er und 40er Jahren entstandenen Textkorpus zum Ereignis dar-
gestellt wird 42 – auf das französische Ereignisdenken behauptet wer-
den, da diese Abhandlungen erst später veröffentlicht wurden. 43 Man
muss aber auf jeden Fall von einem indirekten, untergründigen und
eher fragmentarischen Einfluss Heideggers auf das französische Er-
eignisdenken sprechen, und zwar durch seine veröffentlichten Schrif-
ten, da diese von der Ereignisthematik beherrscht und oft ohne diesen
in den 30er und 40er Jahren entstandenen Textkorpus zum Ereignis
nicht verstehbar sind. In der Tat werden wir in den Texten der fran-
zösischen Ereignisdenker einzelne Spuren von Heideggers Über-
legungen zum Ereignis finden, nicht aber eine umfassende Auseinan-
dersetzung mit seinem ganzen systhematischen Werk zum Ereignis –
hier gehen die französischen Denker ihre eigenen Wege. Deswegen
ist es umso interessanter, dass zwischen Heideggers Entwurf einer
allgemeinen Ereignisphilosophie und der französischen Tradition des
Ereignisdenkens so viele Ähnlichkeiten bestehen. Eins der Ziele die-
ser Arbeit ist in der Tat, diese Ähnlichkeiten aufzuweisen.
Während Heidegger bei sich das Ereignis denkt, erreichen vor
allem seine Interpretationen zu Hölderlin und Nietzsche die Öffent-
lichkeit. Dabei geht es nicht nur um diese einzelnen Autoren, sondern
um die Philosophie und Dichtung, Sein und Kunst, Sprache und
Wahrheit, Anfang und Geschichte überhaupt – um die Themen, die
in diesen veröffentlichten Schriften meistens nur im Hintergrund
bleiben, während sie in der Ereignisphilosophie ihren systhematisch

42 Wir behaupten in der Tat, dass Heidegger eine systhemtische Ereignisphilosophie


entwickelt hat. Seine Texte zum Ereignis sind zwar sprachlich sehr anspruchsvoll,
aphoristisch, sich ständig wiederholend und nicht systematisch (was die Form des
Textes betrifft) und eher suchend und experimentierend (was den Inhalt betrifft),
trotzdem eröffnen sie ein ziemlich klares Bild davon, was das Ereignis ist und wie es
geschieht. Diese in den meistens undurchsichtigen Texten versteckte klare Vorstel-
lung aufzudecken, ist wiederum eins der Ziele der vorliegenden Arbeit.
43 Die erste von diesen Abhandlungen – die Beiträge – wird, wie schon erwähnt, erst

1989 veröffentlicht.

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Martin Heidegger (1889–1976)

herausgearbeiteten Ort finden. Insbesondere die Nietzsche-Abhand-


lungen sind mit den Schriften zum Ereignis verbunden. 44 Dieses Ver-
hältnis ist allerdings verwickelt, wir möchten hier erstmals nur auf
eine Zusammenhangslinie hinweisen, die für die weitere Behandlung
der Ereignisfrage von Bedeutung ist. Das Ereignis als Anfang löst für
Heidegger eine Geschichte aus:
»Sein ›ist‹ der Anfang und also Geschichte / (die Seynsgeschichte).«
(A, 175)
Der Anfang, der eine Möglichkeit gibt, entzieht sich, wird vergessen.
Wir leben diese Möglichkeiten, ohne zu fragen, wie sie entstanden
sind, und ohne an den ereignishaften Moment zu denken, an dem
sie uns gegeben worden sind. Es ist immer so: Jede Geschichte ver-
läuft notwendigerweise als das Vergessen ihres Anfangs. Spricht Hei-
degger vom Anfang, der das Sein und somit das Denken des Grundes
(also die Metaphysik) gibt, so spricht er von der »Seynsgeschichte«,
die diesen Anfang hat. Das Denken des Ereignisses ist somit auch
seinsgeschichtliches Denken, obwohl sie nicht dasselbe sind – sie ge-
hören zueinander. Man kann nämlich das Ereignis auch ohne genaue
Auslegung seiner Geschichte denken, sodass man nur sagt, dass es
Geschichte hat, aber man erzählt sie nicht. Heidegger geht nicht so
vor. Er versucht in der Tat, die Geschichte der Metaphysik, die aus
dem Ereignis des Seins entsteht, genau zu erzählen. Es reicht also
für ihn nicht, dass er nur feststellt, dass der Anfang eine Geschichte
hat, sondern er zeigt auch den Ablauf dieser Geschichte. Genau in
diesem Zusammenhang wird für ihn Nietzsche interessant. Nietzsche
ist für Heidegger noch interessanter als andere Philosophen, die er
ausführlich behandelt (Anaximander, Parmenides, Heraklit, Leibniz,

44 Diese Verbundenheit stellt auch Harald Seubert fest: »Die Nietzsche-Vorlesungen


können insofern nicht auf die Entfaltung der metaphysischen ›Leitfrage‹ nach dem
Sein des Seienden begrenzt sein. Sie bieten vielmehr zuweilen – im Text und mehr
noch in Zusätzen – jähe Ausblicke in die Grundfrage und treten insofern in einen
Gesprächzusammenhang mit Heideggers esoterischen Aufzeichnungen während der
Dreißiger Jahre – vor allem mit den Beiträgen (GA 65). Auch bergen sie ungelöste
metaphysische und phänomenologische Problemzusammenhänge und werden so zur
Zwiesprache mit Sein und Zeit und mehr noch mit den eigenen Anfängen der ersten
Freiburger Jahre.« (Seubert, 4) Dies ist richtig beobachtet, allerdings mit zwei kleinen
Anmerkungen: Erstens sollte man vielleicht doch nicht in Bezug auf Heideggers Er-
eignisdenken von einer »Esoterik« (oder Mystik oder wie auch immer) sprechen;
zweitens stehen die Schriften nicht nur und nicht »vor allem« in Zusammenhang
mit den Beiträgen, sondern zu dem ganzen Korpus der Abhandlungen zum Ereignis.

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

Kant, Hegel etc.), aus einem zweifachen Grund. Erstens, weil Nietz-
sche für Heidegger »der letzte Metaphysiker des Abendlandes« (NI,
431) ist. Niemand hat den Anfang so vergessen wie Nietzsche. Wa-
rum? Weil mit seinem »Willen zur Macht« Nietzsche völlig den ge-
benden Anfang, der dem Menschen etwas schenkt, leugnet, stattdes-
sen will er die ganze Macht des Gebens dem Menschen vorbehalten. 45
Es ist auch gleich glasklar, dass diese Einordnung von Nietzsche in die
Philosophiegeschichte auch die gleiche Einordnung jeder Transzen-
dentalphilosophie und seines eigenen Ansatzes der Fundamentalon-
tologie ist. Zweitens ist Nietzsche für Heidegger deswegen interes-
sant, weil er dasselbe tut wie er – Nietzsche versucht nämlich auch,
eine einheitliche Geschichte des ganzen Abendlandes zu verfassen. In
dieser Hinsicht ist Nietzsche für Heidegger ein Gesprächspartner.
Ab der Mitte der 40er Jahre arbeitet Heidegger nicht mehr so
intensiv am Ereignis selbst, doch er bleibt dieser neuen Denkweise
(Wahrheit; Anfang und Geschichte; Unabhängigkeit des Seins vom
Dasein) treu. In der Tat schreibt Heidegger 1949 zur Veröffentlichung
des Humanismusbriefes, der 1946 an Jean Beaufret adressiert wurde:
»Denn ›Ereignis‹ seit 1936 das Leitwort meines Denkens.« (HB, 316)
Und wiederholt dies 1957 im Vortrag Der Satz der Identität:
»Das Wort Ereignis soll jetzt, aus der gewiesenen Sache her gedacht, als
Leitwort im Dienst des Denkens sprechen.« (ID, 45)
Dieses »Leiten« bedeutet auch, dass die Ergebnisse des Gedankenwe-
ges ungefähr 15 Jahre in seinen späteren Werken immer noch präsent
sind, obwohl oft nur thesenhaft oder überhaupt im Hintergrund, wo
sie aber die ganze Weise des Denkens bestimmen und den ganzen
Gedankengang organisieren. Dies bedeutet seinerseits, dass die späte-
ren – seit der Mitte der 40er Jahre entstandenen – Werke Heideggers
ohne diese Abhandlungen zum Ereignis nicht recht verstanden wer-
den können. Die Bestimmung des Humanismus in dem bekannten
Humanismusbrief von 1946, »daß es demzufolge gerade nicht auf
den Menschen, lediglich als solchen, ankommt« (HB, 345), kann nur
in dem Kontext interpretiert werden, wo der Mensch seine Stellung
als Grund verloren hat. Wenn im Humanismus »das Wesen des Men-

45 Dazu siehe: »Nietzsche treibe die idealistische Selbstermächtigung aber weiter in


ein Äußerstes […].« (Seubert, 8) Und es ist nicht zu vergessen, dass die Gegenfigur
zur Nietzsche für Heidegger Hölderlin ist, der, zwar als Dichter, dem Anfang ganz
nahe stand.

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Martin Heidegger (1889–1976)

schen als wesentlich genommen sein möchte« (HB, 345), verlangt es,
»das Wesen des Menschen anfänglicher zu erfahren« (HB, 345). Dies
bedeutet, den Menschen so zu erfahren, dass »das Sein den Menschen
als den ex-sistierenden zur Wächterschaft für die Wahrheit des Seins
in diese selbst ereignet« (HB, 345). Das Sein ereignet den Menschen,
sein Wesen ist nicht in ihm selbst begründet, sondern von einem
Anderen ereignet. Das Wesen des Menschen besteht in der Wächter-
schaft dieses Anderen, in der Zugehörigkeit zu ihm. Im Humanismus
kommt es auf dieses Andere an. Wenn Heidegger 1962 in dem be-
kannten Vortrag Zeit und Sein schreibt: »Demnach bezeugt sich das
Es, das gibt, im »Es gibt Sein«, »Es gibt Zeit«, als das Ereignis« (ZS,
24), lässt sich dies auf das Denken des Anfangs, der das Sein und seine
Geschichte schickt, zurückführen. Und wenn er weiter darauf hin-
weist, dass »wir das Ereignis nie vor uns stellen können, weder als
Gegenüber, noch als das alles Umfassende« (ZS, 28), wiederholt er
das schon vor 30 Jahren Gesagte – das Ereignis ist kein Gegenüber,
es ist das, was ein Gegenüber erst möglich macht, es ist das »Bezie-
hen, das die Bezogenen erst zu ihnen selbst bringt« (BPh, 470 f). Wird
in den Beiträgen das Ereignis als solches als anfängliches Beziehen
bestimmt, so wird auch der Satz aus dem Vortrag Der Satz der Iden-
tität (1957) verständlich: »Das Ereignis vereignet Mensch und Sein in
ihr wesenhaftes Zusammen.« (ID, 47) Der Mensch kann dem Sein
nur zugehören, weil das Ereignis sie zusammengehören ließ, weil es
das Sein dem Menschen gegeben hat und umgekehrt. Durch ein sol-
ches Geben ist die Möglichkeit für die Metaphysik gegeben, die sich
statt der Zugehörigkeit zum Sein als ein Denken über das Sein als
einen ihr gegenüberstehenden Gegenstand vollzieht.
Andererseits sollte man nicht denken, dass mit dem großen
Textkorpus zur Ereignisthematik auch die Entwicklung dieses Gedan-
kenweges aufhört. Die Notizen zum Ereignis hat Heidegger bis zum
Anfang der 70er Jahre gemacht. 46 In den veröffentlichten Schriften

46 Die Notizen sowohl zum früheren Ereignisdenken als auch die ganz späten sind im
Band 73 der Gesamtausgabe unter dem Titel Zum Ereignis-Denken von Peter Trawny
herausgegeben. Was verwunderlich ist, ist, dass diese Notizen nicht chronologisch,
sondern thematisch geordnet sind! Man kann zwar vermuten, dass innerhalb einer
Thematik die Zitate chronologisch geordnet sind, es werden aber keine Angaben zum
Jahr des jeweiligen Textabschnittes gemacht. Es wäre aber unendlich interessanter, die
Entwicklung und Veränderung des Ereignisdenken Heideggers in einem Band (genau-
er gesagt: in zwei Bänden, da Band 73 aus zwei Bänden besteht) zu beobachten – auch
was die Veränderung der Thematik betrifft.

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

findet man Sätze, die klarer und deutlicher eine These über das Er-
eignis als die früheren Ereignis-Texte ausdrücken, was bedeuten
könnte, dass in ihnen bestimmte Gedanken zumindest vorläufig
zum Abschluss gekommen sind. Aber in einer Hinsicht erlebt das
Ereignisdenken Heideggers in der Mitte der 40er Jahre sogar eine
bedeutsame Wandlung. Es geht um das Denken des Ortes. 47 Dieser
Ort ist aber grundsätzlich als Ort des Ereignisses der Wahrheit zu
verstehen. In dem Denken des Ortes wird das Ereignis verortet. Wo?
Nicht mehr nur am Anfang einer Geschichte, nicht mehr nur im Ver-
borgenen dieser Geschichte, nicht nur überall, wo ein Seiendes für das
Dasein aufleuchtet (wenn auch unbedacht), sondern hier und jetzt.
Das Ereignis ereignet sich dort, wo ein Krug (Das Ding, 1950), eine
Brücke (Bauen Wohnen Denken, 1951) oder ein Kunstwerk (Die
Kunst und der Raum, 1969) sind; oder wo ein Dichter in der Nähe
des Ursprungs dichtet und ein Denker anfänglich denkt. Das Dasein
wird seinerseits zum Eingelassen-Werden an einen Ort. Mit der Ver-
ortung des Ereignisses an einem konkreten Ort wird es auch selbst
konkreter, »weltlicher«.
Das Ereignis muss in der Tat immer nur als ein konkretes Ereig-
nis verstanden werden. Es ist nicht etwas, es gibt keine allgemeine
Definition von ihm: »Was bleibt zu sagen? Nur dies: Das Ereignis
ereignet.« (ZS, 29)

47
Im Seminar in Le Thor 1969 teilt Heidegger seinen Denkweg in drei Abschnitte ein:
»Drei Worte, die, indem sie einander ablösen, gleichzeitig drei Schritte auf dem Weg
des Denkens bezeichnen: SINN – WAHRHEIT – ORT (τόπος).« (S, 344) Nach seiner
Auseinandersetzung mit dem Sinn (des Seins), der Wahrheit (als Ereignis) folgt das
Denken des Ortes. Die Frage bleibt allerdings, wann genau diese Wandlung zum
Denken des Ortes geschieht. Man könnte nämlich vermuten, dass sie dann geschieht,
wenn Heidegger die Wahrheit als Lichtung bestimmt und er macht dies schon in der
Mitte der 30er Jahre (zum Beispiel in den Beiträgen). Wir vertreten hier aber die
Meinung (die wir später begründen werden), dass das eigentliche Denken des Ortes
dann beginnt, wenn Heidegger nicht mehr die Lichtung der Wahrheit, die überall
west, denkt, sondern dann, wenn er einen konkreten Ort zu denken beginnt, und dies
geschieht in der Mitte der 40er Jahre.

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Maurice Merleau-Ponty (1908–1961)

Wenn wir jetzt, was das Ereignis betrifft, aus der Philosophie Heideg-
gers heraus in die französische Tradition des Ereignisdenkens hinein-
springen, dann nicht deswegen, weil sein Denkansatz genau hier eine
direkte Fortsetzung finden würde. Die Beiträge als die erste große,
dem Ereignis gewidmete Abhandlung werden erst 1989 veröffentlicht
und sind immer noch weder in Deutschland noch in Frankreich hin-
reichend rezipiert. Diese Tatsache mindert natürlich nicht den enor-
men Einfluss Heideggers auf die französische Philosophie seit dem
Zweiten Weltkrieg, nur ist das nicht der Einfluss seiner systhemati-
schen Ereignisphilosophie – zumindest nicht ein direkter. Man könn-
te natürlich versuchen, die flüchtigen Linien einer indirekten Einwir-
kung von Heideggers Ereignisdenken durch seine veröffentlichten
und in Frankreich sehr wohl bekannten Schriften auf das dort all-
mählich und zerstreut entstehende Ereignisdenken aufzudecken. 48
Ein solches Unternehmen könnte aber auch zu falschen Vorstellun-
gen führen. Es könnte zum Beispiel den Eindruck erwecken, dass es
eine philosophische Richtung namens Ereignisphilosophie in Frank-
reich gibt und dass sie ihre Quelle im Heidegger’schen Konzept des
Ereignisses hat. Es gibt aber keine solche philosophische Richtung 49.

48 Man könnte zum Beispiel aufzeigen, wie Heideggers Denken der Differenz das
Ereignisdenken von Deleuze und Derrida inspiriert hat; oder wie seine Nietzsche-
Bände, die eine besondere Art der Geschichtsschreibung darstellen, das Ereignisden-
ken von Deleuze und Foucault beeinflusst haben; oder wie seine Bestimmung des
Menschen ihre, zwar veränderte, Fortsetzung im Ereignisdenken der französischen
Phänomenologie (Merleau-Ponty, Levinas, Marion) findet; oder wie seine Überlegun-
gen zur Gabe die gegenwärtige Gabe-Diskussion (Derrida, Marion), die ein Teil der
Ereignisproblematik ausmacht, maßgeblich bestimmt hat. Jedes dieser Themen for-
dert eine philosophiegeschichtliche Forschungsarbeit für sich. Wir beschränken uns
hier wirklich nur auf die ereignisphilosophisch systhematischen Aspekte dieser Zu-
sammenhänge.
49 Wie Bernhard Waldenfels dies ausdrückt: »Einen ›Eventismus‹ hat es meines Wis-

sens bis heute nicht gegeben.« (Waldenfels(2004), 447)

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

Oft – auch in der Philosophie von Merleau-Ponty – wird das Wort


»événement« gar nicht gebraucht. 50 Es handelt sich hier um zerstreu-
te und unterschiedliche Denkansätze, die mit ihren jeweiligen Mit-
teln etwas umschreiben, was wir dann als Ereignis wiedererkennen
können. Und ob die Inspiration für diese Annäherung an das Ereig-
nishafte immer Heideggers Philosophie gewesen ist, darf bezweifelt
werden. Dieses philosophiegeschichtlich gesehen nur indirekte Ver-
hältnis von Heideggers systhematischen Ereignisdenken und der
gegenwärtigen kontinentalen Philosophie des Ereignisses bedeutet
allerdings nicht, dass in systematischer Hinsicht keine Vergleichs-
möglichkeiten zwischen ihnen bestehen. Ganz im Gegenteil. Und
mehr: Das heutige Ereignisdenken kann aus der alten und unbekann-
ten Quelle der Heidegger’schen Ereignisphilosophie, so wie sie im
Text-Korpus zum Ereignis dargestellt wird, neue Ideen schöpfen.
Wenn wir jetzt Merleau-Ponty gleich nach Heidegger in die Lis-
te der bedeutsamsten Ereignisdenker aufnehmen, dann nicht deswe-
gen, weil er in der Nachkriegszeit im französischsprachigen Raum als
erster eine Philosophie des Ereignisses entwickelt hätte. Das wäre
eine völlig übertriebene Behauptung. Aber er ist in seiner Philosophie
zu bestimmten Gedanken gekommen, die später eine bedeutende
Rolle bei vielen Ereignisdenkern (zum Beispiel bei Levinas, Marion,
Romano) spielen. Seine Bedeutung für das Denken des Ereignisses ist
aber auf keinen Fall nur philosophiegeschichtlich zu bewerten. Es
wäre nicht übertrieben zu sagen, dass ohne die Ideen, die Merleau-
Ponty in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung entwickelt und
formuliert, das Ereignis heutzutage nicht so denkbar wäre, wie es
gedacht wird. Von welchen seiner Ideen sprechen wir?
In dem im Jahr 1945 erschienen Werk Phénoménologie de la
perception – seinem Hauptwerk – versucht Merleau-Ponty, das We-
sen der Wahrnehmung zu beschreiben. Dabei ist die Wahrnehmung
für ihn auf keinen Fall nur ein Moment des Erkenntnisprozesses bzw.
Bewusstseinslebens, sondern ein grundlegender Bezug des Menschen
zur Welt. Man könnte sogar sagen, dass für Merleau-Ponty die Wahr-
nehmung die Existenzweise des Menschen ist. Sein heißt wahrneh-
men. Insofern der Akteur der Wahrnehmung der Leib ist, wird die
menschliche Existenz grundsätzlich als leiblich, als inkarniert be-

50
Ted Toadvine schreibt diesbezüglich: »The inclusion of Merleau-Ponty in a history
of the concept of the event may seem unusual, given that the term événement rarely
occurs as a part of his technical vocabulary.« (Toadvine, 121)

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Maurice Merleau-Ponty (1908–1961)

stimmt. Wir leben kein reines geistiges Leben, sondern ein leibliches
Leben bei den Dingen der Welt. Das Verhältnis von Mensch und Welt
wird nicht nur in Phénoménologie de la perception problematisiert –
es ist das Kernproblem der Philosophie Merleau-Pontys. Noch 1942 –
in La structure du comportement – bestimmt Merleau-Ponty dieses
Verhältnis als »Verhalten«, später als Wahrnehmung, deren Ver-
ständnis ändert sich aber im Laufe seiner Philosophie. Wird sie in
Phénoménologie de la perception noch phänomenologisch (also in
Hinsicht auf ein Bewusstseinsleben) interpretiert, verwandelt sie sich
zu einer ontologischen Kategorie in seinem späteren Werk: zum Bei-
spiel in Le visible et l’invisible (unvollendet, postum erschienen
1964).
Bei der Beschreibung der Wahrnehmung in Phénoménologie de
la perception setzt sich Merleau-Ponty von zwei anderen Denk-
ansätzen, die die Wahrnehmung zum Thema machen, ab: vom Empi-
rismus und Intellektualismus. Eine empiristische Theorie der Wahr-
nehmung behandelt die Wahrnehmung als einen physiologischen
Prozess, wo die äußerlichen Reize im Inneren des Körpers bearbeitet
werden. Sie kommt ohne jeden individuellen Wahrnehmenden aus,
d. h. sie schließt das Bewusstseinsleben von ihren Betrachtungen aus,
mehr noch: Sie reduziert das Bewusstsein auf physiologische Prozesse,
indem sie glaubt, es empirisch vollständig beschreiben zu können.
Eine intellektualistische Theorie der Wahrnehmung glaubt dagegen
nicht, das Bewusstsein und seine Objekte auf die Bearbeitung physi-
scher Daten reduzieren zu können. Stattdessen setzt sie ein reines Be-
wusstsein voraus, das die Funktion hat, die Objekte erst zu konstituie-
ren. Diese Funktion wird allerdings als eine erkennende, d. h. als
begriffliche und logisch schließende bestimmt. Die Wahrnehmung
wird somit zu einem Akt der Erkenntnis. Für die empiristische Posi-
tion ist es charakteristisch, dass sie nur den physisch-physiologischen
Körper sieht, für die intellektualistische Position: das Fokussieren auf
die innere Tätigkeit und das Leben eines erkennenden Wesens, das sich
von der Welt und seinem eigenen Körper distanzieren kann. Jede
Theorie der Wahrnehmung verbirgt also in sich eine bestimmte Vor-
stellung vom Menschen und seiner Existenz. So ist für Merleau-Ponty
die Phänomenologie der Wahrnehmung der Ort, wo der Streit um die
Bestimmung des Menschen und seiner Seinsweise ausgetragen wird.
Gegen den Empirismus behauptet Merleau-Ponty, dass die
Wahrnehmung nicht die Aufnahme von physisch bestimmbaren
Daten ist:

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

»Wahrnehmung ist nicht das Erleben einer Mannigfaltigkeit von Impres-


sionen, die zu ihrer Ergänzung geeignete Erinnerungen nach sich ziehen,
sondern die Erfahrung des Entspringens eines immanenten Sinnes aus
einer Konstellation von Gegebenheiten […].« (PhW, 42/PhP, 30)
Wenn aber die Wahrnehmung die Erfahrung eines »Sinnes« (sens)
ist, heißt es noch nicht, dass sie ein intellektueller Akt ist:
»Wahrnehmung ist nicht den Synthesen des Urteils, der Akte oder der Prä-
dikation zu assimilieren.« (PhW, 6/PhP, IV)
Wenn wir wahrnehmen, haben wir also mit einem Sinn zu tun, der
nicht durch eine begriffliche und logische Erkenntnis konstituiert
wird, sondern durch die Wahrnehmung, die ein »ursprüngliches Er-
kennen« (connaissance originaire) (PhW, 66/PhP, 53) darstellt. Als
Subjekt einer so verstandenen Wahrnehmung bestimmt Merleau-
Ponty den »Leib« (corps). Der Leib ist wiederum – einerseits – kein
Gegenstand, keine Maschine, die irgendwelche Eingangsdaten be-
arbeitet und entsprechend eine Reaktion auslöst, und – andererseits
– ist der von ihm gegebene Sinn nicht auf eine Objekterkenntnis re-
duzierbar: Der Leib hat eine »präobjektive Sicht« (vue préobjective)
(PhW, 104/PhP, 94). Ein solches ursprüngliches Erkennen durch eine
präobjektive Sicht ist für Merleau-Ponty nicht bloß ein Moment des
menschlichen Daseins: Es ist sein grundlegendstes Geschehnis, sein
»Zur-Welt-sein« (être au monde) 51. Ich bin mir »der Welt bewußt
durch das Mittel des Leibes« (PhW, 106/PhP, 97). Ich existiere als
Wahrnehmung. Und mein Leib ist nicht bloß ein Teil von mir oder
sogar etwas, was ich als reiner Geist habe und nach Belieben trans-
zendieren kann, sondern »ich bin mein Leib« (je suis mon corps)
(PhW, 180/PhP, 175). Ich bin weder eine Maschine, noch mein inne-
res Leben, noch ein denkender Geist oder sogar ein transzendentales
Subjekt, das in einem uneinholbaren Zentrum meines Inneren die
Gegebenheiten konstituiert, sondern mein Leib. Ich bin mein Leib
und ich bin zur Welt, was eigentlich dasselbe bedeutet. Die Leiblich-
keit impliziert allerdings auch, dass ich die Welt durch die Bewegun-
gen meines Leibes erkunde, dass ich ständig durch meinen Leib auf
die Welt einwirke. Die Wahrnehmung ist nicht der Blick vom Inneren
nach außen auf etwas, sondern immer ein Agieren in einer Situation.
Ein Leib zu sein heißt, immer mittendrin in einer Situation der Welt

51In Le visible et l’invisible wird Merleau-Ponty von der »Öffnung zur Welt« (ou-
verture au monde) (SU, 57/VI, 57) sprechen.

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Maurice Merleau-Ponty (1908–1961)

zu handeln. Diesen Aspekt nennt Merleau-Ponty die »Räumlichkeit


des Leibes« (spatialité du corps).
Für die Philosophie des Ereignisses als des Aus-sich-Heraustre-
tens, der Begegnung mit dem Anderen sind besonders das Verhältnis
von Wahrnehmung und Selbst-Bewusstsein und das von wahr-
genommenem Sinn und einem Bewusstseinsobjekt wichtig. Wenn
Merleau-Ponty das Ich als Leib und seinen Bezug zur Welt als Wahr-
nehmung bestimmt, dann bedeutet das keine Reduktion des Men-
schen auf das Körperliche. Der Leib nimmt Sinn wahr, der sich von
einem gegenständlichen Sinn unterscheidet. Er ist auf etwas gerich-
tet, hat eine Intentionalität, er versteht etwas, aber völlig anders als
das vorstellende und denkende Bewusstsein:
»So meldet sich hier eine von objektiver Wahrnehmung sich unterschei-
dende Wahrnehmungsweise, eine von intellektueller Bedeutung verschie-
dene Bedeutungsart, eine Intentionalität, die nicht ein bloßes »Bewußtsein
von etwas« ist.« (PhW, 188/PhP, 183)
Es geht um den Unterschied zwischen der Erfahrung, die ich mache,
wenn ich in Bezug auf etwas feststelle, dass dies ein Stuhl ist, und der
Erfahrung, die ich als Leib sitzend auf dem Stuhl mache, während ich
in mir diese Feststellung über den Stuhl als Stuhl mache. Es geht
nicht bloß darum, dass ich den Stuhl aus welchem Grund auch immer
plötzlich sinnlich erfahren wollte und dass ich zum Beispiel ver-
suchen würde, mit meinem Tastsinn seine Form, sein Relief etc. zu
spüren. Das wäre immer noch eine objektive Wahrnehmung – ver-
mittelt durch den Begriff; oder besser: verunreinigt durch den Begriff.
Für Merleau-Ponty geht es aber um die Erfahrung vom Stuhl, die der
Leib selbst macht, während ich gar nicht weiß, dass er diese Erfahrung
macht, weil ich nämlich mit etwas anderem beschäftigt bin. Und na-
türlich: Sogar dann, wenn ich wissen wollte, was er erfährt (er erfährt
ja keinen Stuhl durch einen Begriff!) und wie er das macht (wie weiß
er, wie man auf einem Stuhl sitzt, wie man nicht herunterfällt, wo die
Rückenlehne ist?), könnte ich in meiner Reflexion diese Erfahrungen
nicht einmal annähernd so haben, wie sie mein Leib hat. Für Mer-
leau-Ponty wäre es falsch, zu behaupten, dass der Leib nur irgend-
welche physischen Einzeldaten bearbeitet und entsprechend reagiert.
Nein, er arbeitet mit sinnvollen Einheiten, die er versteht und ver-
stehend vollzieht. Während ich mit meinem Bekannten rede, nähert
sich der Leib dem Stuhl (der Stuhl ist als ein sinnvolles Ganzes da),
setzt sich hin (dies ist eine sinnvolle Bewegung und nicht mehrere

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

mechanische Operationen), macht sich bequem (wiederum nur eine


sinnvolle Aktion und nicht eine Menge Reaktionen auf alle Kanten,
Flächen und Winkel des gegebenen physischen Dinges). Der Leib
sieht den Stuhl; er sieht, wo der Stuhl steht; er sieht, wie dieser kon-
krete Stuhl aufgebaut ist (zum Beispiel mit oder ohne Rückenlehne)
und wie man auf ihm sitzen kann. Aber dies ist ein anderes als ob-
jekthaftes Sehen und das Gesehene ist nicht gegenständlich. Und die-
ses andere Sehen können wir mit unserem begrifflichen Denken nie
mitvollziehen und in diesem Sinne begreifen:
»Nichts ist schwerer zu wissen, als was wir eigentlich sehen.« (PhW, 82/
PhP, 71)
So deckt Merleau-Ponty in seiner Analyse der Wahrnehmung eine
Dimension im Menschen auf, die zwar immer noch menschlich ist
(sie ist nicht mechanisch oder organisch), aber sich vom für sich selbst
durchsichtigen Bewusstsein unterscheidet und ihm nicht zugänglich
ist. Mein Leib nimmt wahr, versteht und handelt, aber meinem be-
grifflichen Denken, mir als einem Subjekt der Reflexion, entzieht er
sich. Ich bin mein Leib, aber für ein Ich, das alles und sich selbst denkt
und begrifflich durchschaut, ist der Leib das dem Ich Andere mit sei-
nem eigenen Leben:
»Wollte ich infolgedessen die Wahrnehmungserfahrung in aller Strenge
zum Ausdruck bringen, so müßte ich sagen, daß man in mir wahrnimmt,
nicht daß ich wahrnehme. Jede Empfindung trägt in sich den Keim eines
Traumes und einer Entpersönlichung […].« (PhW, 253/PhP, 249)
Mein Leib nimmt den Stuhl wahr, während ich hier sitze und schrei-
be, und sein wahrgenommener Stuhl ist nicht mein Stuhl, den ich
jetzt denke, und er wird niemals meiner werden: es handelt sich hier
um eine unauflösbare Differenz. Dass Merleau-Ponty Wahrneh-
mung und Reflexion, Intentionalität des Leibes und Intentionalität
des gegenständlichen Bewusstseins, den wahrgenommenen und den
gedachten Sinn unterscheidet, bedeutet nicht, dass er eine Art Leib-
Seele-Dualismus wiedereinführen will. Ganz im Gegenteil: Es geht
bei ihm um die »Einheit [union – L. P.]) von Leib und Seele« (PhW,
114/PhP, 105), so allerdings, dass der Leib die Einheit bildende und
ursprünglichere Funktion übernimmt – das Subjekt ist eins, indem es
der Leib ist. Es geht um ein grundsätzlich »inkarniertes Subjekt«
(sujet incarné) (PhW, 185/PhP, 180) – »es gibt keinen inneren Men-
schen: der Mensch ist zur Welt, er kennt sich allein in der Welt«

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Maurice Merleau-Ponty (1908–1961)

(PhW, 7/PhP, V). Als leibliches ist das Subjekt immer zur Welt, und
sogar dann, wenn es bei sich ist, ist es auch bei der Welt: »Alles Be-
wußtsein ist in irgendeinem Grade Wahrnehmungsbewußtsein.«
(PhW, 450/PhP, 452). Und das inkarnierte Subjekt ist zuerst zur Welt,
und nur deswegen kann es auch bei sich sein: »»Ich bin zu mir«,
indem ich zur Welt bin.« (PhW, 463/PhP, 466). Das Denken ist somit
eine Möglichkeit des Zur-Welt-Seins, es ist nicht von der Welt abge-
hoben, es betrachtet sie nicht von außen und noch weniger konstitu-
iert es sie. Die Welt ist »das Milieu [milieu – L. P.] und gleichsam die
Heimat [patrie – L. P.] all unseres Denkens« (PhW, 44/PhP, 32). Wir
denken in einer Welt und zu einer Welt, die uns durch die Wahrneh-
mung gegeben ist, und in diesem Sinne ist das denkende Subjekt pas-
siv empfangend gegenüber der Wahrnehmung, die das Subjekt in
seinem Bewusstsein überhaupt erweckt und belebt: »Jedes Bewußt-
sein ist in der Welt geboren, und jede Wahrnehmung ist eine Neu-
geburt des Bewußtseins.« (PhW, 25Anm.4/PhP, 13n.20)
Hinsichtlich der Zeit entsteht bei einer solchen Betrachtung eine
interessante Situation. Erstens ist die Zeit der Wahrnehmung, d. h.
des tieferen und ursprünglicheren Bewusstseins, nicht die bewusste
Zeit, die Zeit des Selbstbewusstseins, sondern die leibliche Gegen-
wart, wo das Sein und das Bewusstsein »eins sind«:
»Doch dieses letzte Bewußtsein ist kein ewiges Subjekt, das seiner selbst in
absoluter Durchsichtigkeit gewahr würde, denn ein solches Subjekt wäre
auch schon für immer unfähig, je in die Zeit herabzusteigen, und hätte also
mit unserer Erfahrung nichts gemein; jenes letzte Bewußtsein ist vielmehr
das Bewußtsein der Gegenwart. In der Gegenwart, in der Wahrnehmung,
sind mein Sein und mein Bewußtsein gänzlich eins […]. (PhW, 482/PhP,
485)
Das bedeutet: Im Moment der Wahrnehmung stehe ich nicht einem
Objekt gegenüber, sondern bin das, dessen ich mir bewusst bin:
»Ich, der ich das Blau des Himmels betrachte, stehe nicht ihm gegenüber als
ein weltloses Subjekt […]; ich überlasse mich ihm, ich versenke mich in
dieses Geheimnis, es »denkt sich in mir«, ich bin der Himmel selbst [je suis
le ciel même – L. P.] […].« (PhW, 252/PhP, 248)
Zweitens bleibt für die bewusste Zeit die leibliche Gegenwart unein-
holbar, weil sie »älter ist als alles Denken« (plus vieille que la pensée)
(PhW, 296/PhP, 294). Sie ist älter als alles Denken nicht in dem Sinne,
dass sie lange zurückliegt, sondern im Sinne, dass das Denken sie in
ihrer Ursprünglichkeit überhaupt nie erreicht hat – es geht um »eine

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

Vergangenheit nämlich, die niemals Gegenwart war« (un passé qui


n’a jamais été présent) (PhW, 283/PhP, 280). Die Wahrnehmung ist
so alt, dass es keine Erinnerung von ihr gibt und geben kann, insofern
es eine Vergegenwärtigung (Erinnerung) nur davon geben kann, was
gegenwärtig gewesen ist. Das Bewusstsein kann versuchen, zu dieser
ursprünglichen Gegenwart zurückzukehren, das ist aber nicht mög-
lich, weil sie immer schon vergangen ist, und das, was man sich dann
später zum Bewusstsein bringt, ist nicht mehr sie:
»[D]ie Gegenwart, die sie [die verallgemeinerte Zeit – L. P.] uns zuträgt, ist
niemals volle Gegenwart, denn sie ist schon vergangen, sowie sie er-
scheint […].« (PhW, 514/PhP, 516) 52
Wenn es also um die Wahrnehmung geht, ist die Rede von geistig-
inkarnierten Prozessen des Menschen, denen gegenüber das Selbst-
bewusstsein in einer gewissen Passivität, Abgeleitetheit und dem Ver-
zug steht. In der Tat entwickelt Merleau-Ponty diesen Gedanken in
der Auseinandersetzung mit Bergson, Husserl und Heidegger, wobei
besonders Husserl mit seinem Augenmerk auf den Leib, seiner Idee
von der »passiven Synthesis« und seiner Analyse des »inneren Zeit-
bewusstseins« ihn diesbezüglich beeinflusst haben soll. 53 Es kommt
hier aber noch ein wichtiger Aspekt hinzu, ohne den es eigentlich
nicht berechtigt wäre, das Denken Merleau-Pontys im Kontext des
Ereignisdenkens zu erörtern, und der vielleicht erklärt, warum diese
und andere seiner Ideen und Formulierungen den Eingang in die Er-
eignisphilosophie gefunden haben. Um welchen Aspekt geht es hier?
Wir verstehen schon, dass die den Sinn wahrnehmenden Prozesse

52 »[L]e présent qu’il nous apporte n’est jamais présent pour de bon, puisqu’il est déjà
passé quand il paraît […].« Noch mehr: Es ist nicht nur so, dass das, was das Bewusst-
sein erreicht, nicht mehr das ist, was es war. Das Bewusstsein hat die Tendenz, zu
denken, dass das Erscheinende das ist, was es war, weil es überzeugt ist, dass es schon
immer – bei allen seinen Bezügen zur Welt – dabei war und sich nur daran erinnern
muss. Merleau-Ponty nennt diese Überzeugung »der Gipfel der Täuschung« (illusion
des illusions) (SU, 58/VI, 59). Dieser Gedanke wird zum Kerngedanken Derridas wer-
den.
53 Husserls Idee von der passiven Synthesis ist sehr bedeutend für die gegenwärtige

französische Philosophie, die unter anderem oder sogar wesentlich das Denken der
Passivität, der Ausgesetztheit dem Anderen gegenüber, des Ereignisses ist. Unter
Kenntnis davon hat Rolf Kühn – ein Fachmann für die französische Philosophie –
ein Buch veröffentlicht: Husserls Begriff der Passivität. Zur Kritik der passiven Syn-
thesis in der Genetischen Phänomenologie. Freiburg/München: Alber, 1998. Als An-
hang enthält es auch den Einblick in den Einflussbereich dieses Gedankens in der
französischen Phänomenologie.

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Maurice Merleau-Ponty (1908–1961)

keine mechanischen bzw. physiologischen sind. Sie betreffen uns als


Menschen, sie sind sinnbildend, sie geben uns das menschliche Leben,
das wir leben. Doch wir haben keinen Zugang zu ihnen. Ist dies eine
Art unbewusstes Leben? Das Unbewusste? Die Tiefe? Nicht für Mer-
leau-Ponty. Und das ist entscheidend. Das ist auch der Punkt, wo er
sich von Bergson und teilweise auch von Husserl absetzt und mehr
Gemeinsamkeiten mit Heidegger – insbesondere mit seinem Konzept
von In-der-Welt-Sein – aufweist. Wir würden ihn nicht mit dem Er-
eignisdenken zusammenbringen, wenn er schlicht eine ursprüngliche
Passivität in der Immanenz des Lebens behaupten würde. Solche Pro-
zesse sind für uns keine Ereignisse. Das Ereignis ist nicht im Selbst-
bewusstsein zu finden, aber es geschieht auch nicht als ein unbewuss-
ter Prozess – es wird erfahren und es wird als die Störung des
Selbstbewusstseins erfahren. 54 Die leibliche Konstitution meiner
Handbewegung oder eines Briefkastens ist kein Ereignis, wohl aber
ein plötzlicher Stich in meiner Hand, der die Bewegung hindert, oder
ein Brief, der mich zusammenbrechen lässt. Die Wahrnehmung ist
für Merleau-Ponty kein dem Leben immanenter Prozess, sondern
die Begegnung mit der Welt: »Das Empfinden ist die lebendige Kom-
munikation [communication vitale – L. P.] mit der Welt […].« (PhW,
76/PhP, 64) Wenn wir wahrnehmen, haben wir nicht mit unserer
»Innenwelt« (monde intérieur), den »Bewußtseinszuständen« (état
de conscience) oder »psychischen Tatsachen« (fait psychique) (PhW,
81/PhP, 69 f) zu tun. Wenn wir leiblich wahrnehmen, sind wir nicht
bei uns (weder im Sinne einer immanenten Passivität noch Refle-
xion), sondern bei den Sachen der Welt, wir sind zur Welt:

54 Es geht hier also um einen Prozess, der weder vom Bewusstsein eingeholt werden
kann noch sich ohne jedes Bewusstsein abspielt. Die Rede ist vom Transzendieren des
Bewusstseins. Genau an diesem Punkt liegt Merleau-Pontys Kritik an Sartre. Sartre
konnte den Bezug zum äußeren Sein nicht bestimmen, weil er das Bewusstsein, in-
dem er es als ein Nichts bestimmen hat (während der Intellektualismus es als alles
bestimmt hat), im Sein aufgelöst hat: »Eine Philosophie des Denkens und unserer
immanenten Gedanken verfügt über keine Offenheit für das Sein – aber einer Phi-
losophie des Nichts und des Seins geht es nicht besser, denn in diesem Falle wie auch
im anderen ist das Sein nicht ernstlich fern, in Distanz. Das Denken ist zu sehr in sich
selbst abgeschlossen, doch das Nichts ist zu sehr außer sich, als daß man von einer
Offenheit für das Sein sprechen könnte, und in dieser Hinsicht unterscheiden Imma-
nenz und Transzendenz sich nicht.« (SU, 122/VI, 122) Denken wir ein »Über-Sein«
(sur-être) (SU, 104/VI, 105), wo das Sein und Nichts unterschiedlos werden, können
wir die Wahrnehmung nicht verstehen. Das Ereignis geschieht nicht mit einem Man
oder sogar mit einem Nichts, sondern immer mit jemandem.

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

»Meine Wahrnehmung bezieht sich auf keinen Bewußtseinsinhalt: sie be-


zieht sich auf den Aschenbecher selbst.« (PhW, 303/PhP, 301)
Obwohl ich in der Wahrnehmung eins mit dem Wahrgenommenen
bin, behält es seine Andersheit:
»Und doch haben wir den Sinn des Dinges nicht erschöpft, wenn wir es als
Korrelat unseres Leibes bestimmen. […] Ein wahrgenommenes Ding, so
sagten wir, sei nicht denkbar ohne einen es Wahrnehmenden. Und doch
präsentiert sich das Ding auch dem noch, der es wahrnimmt, als Ding an
sich, und stellt so das Problem eines echten An-sich-für-uns.« (PhW, 372/
PhP, 372)
Das heißt: In der Wahrnehmung sind ich und der Himmel nicht eins,
weil der Himmel ich bin und ich in meiner Immanenz verbleibe, son-
dern weil ich der Himmel bin, woraufhin ich transzendiere. Die Phä-
nomenologie von Merleau-Ponty richtet den philosophischen Blick
nicht bloß auf die Tiefe der Immanenz, sondern bestimmt diese Tiefe
als den Ort, wo das Andere uns berührt, welche Berührung wir Er-
eignis nennen. Natürlich ist nicht jede Wahrnehmung ein Ereignis als
eine besondere Berührung von etwas Besonderem, aber wenn das Er-
eignis geschieht, ist es leiblich. Denn einzig der Leib ist zum Trans-
zendieren fähig. Wir werden in der Tat sehen, dass Levinas die Leib-
lichkeit als den Ort der Begegnung mit dem Anderen bestimmen
wird; dass er diesen Ort als die Innerlichkeit, Sensibilität vor dem die
Objekte konstituierenden Subjekt charakterisieren wird; und dass die
Zeit dieser Begegnung für ihn eine »unvordenkliche Vergangenheit«
sein wird, »die älter ist als jede Gegenwart« und »niemals Gegenwart
war«, und in Bezug auf die wir uns immer in einer »unaufholbaren
Verspätung« befinden. Unter einem besonderen Einfluss von Heideg-
gers Metaphysikkritik, die versucht, das vorstellende, d. h. gegen-
ständliche Denken zu überwinden, wird Derrida das Ereignis als das-
jenige bestimmen, das auf keinen Fall in der Präsenz erscheinen darf.
Das Ereignis ereignet sich dann, wenn man nicht bei sich selbst ist
und sich selbst durchschaut. Kommt etwas zur Erscheinung in der
Gegenwart des Bewusstseins, ist es nicht mehr das, was es war – das
Ereignis ist zerstört. Marion wird vor einem aktiv-konstituierenden
und begrifflich denkenden Subjekt einen Empfänger des Ereignisses –
den adonné – setzen und ihn unter anderem auch leiblich bestimmen;
auch Marion wird sagen (hier allerdings auch unter Einfluss von
Henry): »ich habe ihn [den Leib, chair – L. P.] nicht, sondern bin er«
(je ne l’ai pas, mais la suis). Er wird behaupten, dass dieses leibliche

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Maurice Merleau-Ponty (1908–1961)

Subjekt, so wie es bei sich ist, »sich ganz und gar aus dem empfängt,
was es empfängt«, und dass es in Bezug auf das Ereignis, das es emp-
fängt, in einer »Verspätung« steht. Genauso wird Claude Romano die
Gegenwart des Ereignisses von der bewussten Gegenwart unterschei-
den und von der »Verspätung« der Letzteren gegenüber der Ersteren
sprechen.
Das Ereignis des Seins bei Heidegger ist der Einbruch des Ande-
ren, des Neuen in das Bestehende, es verwandelt den Betroffenen ins
Dasein, es ist das Transzendieren des Daseins auf das Andere hin. Und
es ist nie als ein Objekt für ein Subjekt denkbar – schon deswegen
nicht, weil es der Anfang, die Möglichkeit eines Subjekt-Objekt-Ver-
hältnisses ist. So ist das Ereignis an sich schon die Kritik des vorstel-
lenden und begrifflichen Denkens: es ist das, was sich diesem Denken
entzieht; es ist das, was mit dem Dasein geschieht und nie sein Gegen-
stand sein kann. Für die französische Philosophie des Ereignisses gibt
Merleau-Ponty unter dem Einfluss von Husserls Analysen der passi-
ven Synthesis die Möglichkeit, das Ereignis auf der Ebene des Leibes
zu beschreiben. Das Ereignis ist leiblich, das Andere trifft unseren
Leib, der Leib transzendiert auf das Andere hin, das Ereignis ist den-
kerisch uneinholbar, weil sich vor dem Denken ereignend, weil das
Denken überschreitend. Aber eine Philosophie des Ereignisses muss
nicht unbedingt mit dem Konzept des Leibes arbeiten – weder Hei-
degger noch später Deleuze oder Derrida tun das. Doch – mit dem
Leib oder ohne ihn – geht es im Falle des Ereignisses immer noch
um die Uneinholbarkeit eines Anderen durch das gegenständliche
Denken, zu dem dieses Ereignis in einer niemals auflösbaren Diffe-
renz steht.

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Emmanuel Levinas (1906–1995)

»Ma philosophie – est une philosophie du face-à-face. Relation avec autrui,


sans intermédiaire. C’est cela le judaïsme.« (CC, 186)
»Un élément essentiel de ma philosophie – ce par quoi elle diffère de la
philo. de Heidegger c’est l’importance de l’Autre.« (CC, 134)
In diesen Sätzen drückt Levinas – der französische Philosoph litau-
isch-jüdischer Herkunft – wahrscheinlich das Wesentlichste seiner
Philosophie aus. Seine Philosophie ist – erstens – »eine Philosophie
des Von-Angesicht-zu-Angesicht«, der »Beziehung mit dem Ande-
ren«, die grundsätzlich von der Subjekt-Objekt-Beziehung zu unter-
scheiden ist. Das Objekt ist immer das Objekt des Subjekts, es befin-
det sich im Machtfeld des Subjekts, es ist eine bloße Verlängerung des
Subjekts, es ist das Subjekt selbst, nicht etwas anderes, sondern »das
Selbe« (le Même). »Das/der Andere« (l’Autre, l’Autrui) 55 kann aber
für Levinas nicht als ein Objekt gesetzt werden. Es ist nicht das Selbe
wie das Subjekt, sondern das Andere. Damit setzt sich Levinas von
der Philosophie des deutschen Idealismus (insbesondere von Hegel)
ab, der alles in einem absoluten Subjekt zu versammeln versucht,
sodass jede Andersheit in diesem Subjekt integriert wird. Und damit
setzt er sich von jeder Philosophie ab, die ausgehend von einem Ich
denkt und das Andere in das Denken dieses Ich integriert: auch von
der Phänomenologie (sowohl Husserls als auch Heideggers in Sein

55 In seinen Texten verwendet Levinas zwei Wörter: »l’Autre« und »l’Autrui«.


»L’Autrui« bedeutet für ihn den anderen Menschen. »L’Autre« kann kontextabhängig
sowohl den anderen Menschen als auch – unbestimmt – das Andere bedeuten. Es gilt
aber für Levinas, dass »das absolut Andere« nur »der Andere« sein kann (TU, 44/
TI, 9). Um aber mögliche Vorentscheidungen in Bezug auf die Bestimmung des Ereig-
nishaften zu vermeiden (zum Beispiel, dass es unbedingt eine Begegnung mit einem
anderen Menschen sein soll), werden wir uns im weiteren Text bei der neutralen Form
»das Andere« halten. Das Ereignis ist für uns das Andere, nicht unbedingt der Andere,
obwohl auch das möglich ist.

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Emmanuel Levinas (1906–1995)

und Zeit). Das müssen wir ganz radikal verstehen: Levinas distan-
ziert sich von jeder Philosophie, die das Andere als Objekt für das
Subjekt setzt; er distanziert sich weiter von jeder Philosophie, die im
Anderen vielleicht kein Objekt sieht, aber es in einer Philosophie des
Subjekts als einen Teil seiner Seinsweise betrachtet; und damit dis-
tanziert er sich eigentlich von jeder Philosophie, die das Andere the-
matisiert, weil jede Philosophie, die das Andere thematisiert, es zum
Objekt des Denkers macht und so seine Andersheit verliert. Das An-
dere ist nicht denkbar. Man kann mit einem Anderen nur in eine
Beziehung treten, nicht aber es denken. Mehr noch: Das Denken zer-
stört das Andere. Und genau wegen dieser These gilt Levinas als Er-
eignisdenker. Aber das heißt auch: Nicht jeder Philosoph, der das An-
dere denkt, kann als Ereignisdenker gelten. Es ist eigentlich ganz im
Gegenteil: Jeder, der sagt, dass er das Andere denkt, ist ganz bestimmt
kein Ereignisphilosoph, obwohl es ganz richtig ist, dass eine Ereignis-
philosophie das Andere, die Begegnung mit dem Anderen denkt. Man
könnte in der Tat fragen, warum sind Hegel mit seinem Denken des
Anderen und Kojèves Hegelianer in Frankreich von den 30er bis 60er
Jahren des letzten Jahrhunderts (darunter auch Sartre oder Lacan)
und sogar Levinas selbst in seinen früheren Werken und teilweise
sogar noch in Totalité et infini (1961) keine Ereignisdenker, da sie
doch ganz explizit das Andere zum Thema machen. Genau deswegen,
weil sie eine Ontologie treiben, die die Seinsweise eines Subjekts, in
der auch das/der Andere vorkommt, beschreiben. Es ist Levinas (und
Derrida und vor ihnen Heidegger in seinem Ereignisdenken), die die
Unmöglichkeit, das Andere in einem vorstellenden Denken zu den-
ken, behaupten. Das Ereignisdenken denkt das Andere in dem Sinne,
dass es unmöglich ist, es zu denken. Sie behaupten eine Differenz
nicht zwischen dem Ich und dem Anderen (im Denken), sondern zwi-
schen dem Denker und dem Ereignis des Anderen. Dies unterscheidet
das Denken des Ereignisses von jedem Denken des Anderen, sei dies
das Denken Hegels oder seines Kritikers Buber; sei dies die Phäno-
menologie oder Soziologie, Psychoanalyse oder Theologie. Die Phi-
losophie Levinas’ ist eine Philosophie der absoluten Andersheit des
Anderen, d. h. seiner Undenkbarkeit. Das Denken kann eine Bezie-
hung mit dem Anderen sein, aber es kann das Andere nicht denke-
risch erreichen.
Das Andere ist also kein Produkt des Selben und für es un-
erreichbar – transzendent. Das Von-Angesicht-zu-Angesicht ist eine
Beziehung, in der ihre Mitglieder absolut getrennt voneinander blei-

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

ben. Damit ist es für diese Beziehung charakteristisch, dass das Ande-
re unerwartet in die Welt des Selben einbricht, dass das Selbe nicht
bei sich selbst bleiben kann und aus sich selbst transzendieren muss.
Dieses Sich-Verlassen ist das Verlassen des Bewusstseins, des refle-
xiven Denkens – dadurch tritt das zerstörte Selbe in die sinnliche
»Nähe« (proximité) zum Anderen, das nicht mehr als ein bestimmtes
Objekt erfasst, sondern als niemals erreichbare Andersheit erfahren
wird. Diese Begegnung und Beziehung zu dem Anderen wird von
Levinas nicht mit dem Wort »Ereignis« bezeichnet, doch mit ihrer
Beschreibung charakterisiert er etwas, was im gegenwärtigen kon-
tinental-philosophischen Raum als Ereignis verstanden wird. Eine
Philosophie des Ereignisses ist immer eine Philosophie der Begeg-
nung mit dem nicht auf das Subjekt reduzierbaren Anderen. Des-
wegen wird die von Levinas aufgedeckte Logik der Beziehung zum
Anderen in vielen Punkten von solchen Philosophen übernommen,
die sich explizit mit dem Ereignis beschäftigen. Die heutige Philoso-
phie des Ereignisses ist ohne Levinas nicht denkbar. Auch in diesem
Sinne ist er ein Denker des Ereignisses. In der Tat finden wir Ver-
suche, ihn als einen Philosophen des Ereignisses auszulegen – hier
muss insbesondere das Buch von Claver Boundja – Philosophie de
l’événement. Recherches sur Emmanuel Lévinas et la phénoméno-
logie (2009) – erwähnt werden.
Zweitens: In dem Punkt, wo die interpersonale Beziehung zu der
Transzendenz, die ursprünglich die menschliche Existenz prägt, be-
hauptet wird, treffen sich die Philosophie Levinas’ und das Judentum.
Als die Philosophie eines Denkers jüdischer Herkunft trägt die Phi-
losophie Levinas’ die Spur des Erbes des Judentums in sich. Es heißt
nicht, dass diese Philosophie eine konfessionelle Theologie darstellt.
Eher stellt das Judentum eine neuartige Quelle des Denkens dar, die,
philosophisch ausgelegt, einen neuen Horizont für das bisherige Den-
ken – die Transzendentalphilosophie, den Idealismus, die Phänome-
nologie – eröffnen kann. 56 Als einer, der aus der Quelle der jüdischen
Weltanschauung schöpft und sich aktiv mit dem Judentum und spe-

56Eine schöne Formulierung über den Einfluss des Judentums auf die Philosophie in
Bezug auf das Werk Levinas’ finden wir bei Rachid Boutayeb: »Sie [die Philosophie
Levinas’ – L. P.] hat dazu maßgeblich beigetragen, weil es ihr gelungen ist, ihre
Grundwerte bzw. religiösen Intuitionen in eine philosophische Sprache zu übersetzen,
mehr noch, der Philosophie ein anderes Gesicht zu geben, eine andere Frage oder eine
andere Sprache, nämlich die des Anderen.« (Boutayeb 2013, 9)

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Emmanuel Levinas (1906–1995)

ziell Talmud beschäftigt 57, steht Levinas in der Reihe mit anderen
bedeutsamen Denkern jüdischer Herkunft des 20. Jahrhunderts: Her-
mann Cohen, Martin Buber und Franz Rosenzweig, von denen vor
allem die letzten zwei mit ihrer Philosophie des Dialogs Levinas be-
deutend beeinflusst haben.
Drittens denkt Levinas gegen Heidegger. Nach dem zweiten
Weltkrieg, als Levinas seinen eigenen philosophischen Weg ein-
zuschlagen beginnt, wird Heideggers Seinsphilosophie von Sein und
Zeit für den jüdischen Denker zum Inbegriff des Denkens, das das
Andere nicht kennt, nicht denken kann und das es im solipsistischen
und totalen Subjekt auflöst und vernichtet. Ein solches Denken nennt
Levinas ganz allgemein »Ontologie« und er ist der Ansicht, dass die
ganze bisherige Philosophie ontologisch gewesen sei. 58 Die Heideg-
ger’sche These aus Sein und Zeit: »Das Dasein ist Seiendes, dem es
in seinem Sein um dieses selbst geht« (SZ, 191) wird für Levinas zur
Formel des ontologischen Egoismus, der durch die Beziehung zum
Anderen überwunden werden muss. Die Ontologie denkt das Sein,
das immer das Sein des Subjekts ist. Levinas denkt das Andere dieses
Seins: das Jenseits des Seins, die Relation mit dem Anderen. Interes-
santerweise bedeutet der Versuch Levinas’, gegen Heidegger zu den-
ken, nicht, dass seine Philosophie des Anderen keine Gemeinsam-
keiten mit Heideggers Ereignisdenken aufweist. Wie dies in der
französischen Philosophie üblich ist, bezieht sich Levinas vor allem
auf Heideggers Sein und Zeit, das in der Tat von Levinas’ Kritik ge-
troffen werden könnte, doch er lässt Heideggers späteres Ereignis-
denken außer Acht, das im Vergleich zu Sein und Zeit zu einem Den-
ken des Anderen geworden ist. Wir werden in der Tat sehen, dass
Levinas’ Denken des absoluten Anderen und Heideggers Ereignis-

57
Levinas’ Werke zum Judentum sind vor allem: Difficile liberté. Essais sur le juda-
ïsme (1963 und erweitert 1976. Gekürzte deutsche Fassung: Schwierige Freiheit. Ver-
such über das Judentum. Frankfurt am Main: Jüdischer Verl., 1992. Die neueste Auf-
lage: 2017), Quatre lectures talmudiques (1968, dt.: Vier Talmud-Lesungen. Frankfurt
am Main: Neue Kritik, 1993), Du sacré au saint: cinq nouvelles lectures talmudiques
(1977, dt.: Vom Sakralen zum Heiligen: Fünf neue Talmud-Lesungen. Frankfurt am
Main: Neue Kritik, 1998), L’Au-delà du verset: lectures et discours talmudiques
(1982, dt.: Jenseits des Buchstabens. Frankfurt am Main: Neue Kritik, 1996), À l’heure
des nations (1988, dt.: Stunde der Nationen. München: Fink, 1994), Nouvelles lec-
tures talmudiques (1996, dt.: Neue Talmud-Lesungen. Frankfurt am Main: Neue Kri-
tik, 2001).
58
»Die Ontologie bringt das Andere auf das Selbe zurück […].« (TU, 50/TI, 13)

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

denken nicht gegeneinander denken, sondern beide auf sehr ähnliche


Art und Weise die Logik des Ereignisses aufdecken.

Die Philosophie Levinas’ versucht, das alles in sich versammelnde


Subjekt, das Sein dieses Subjekts zu überwinden und den Weg zur
Begegnung mit dem Anderen zu öffnen. Zu Levinas’ ersten philoso-
phischen Werken, die in diese Richtung denken, gehören vor allem
De l’existence à l’existant (1947) und Le temps et l’autre (1948). 59 Das
Hauptanliegen dieser Überlegungen ist, wie man aus dem Sein »he-
rauskommen« (sortir) (EU, 43/EI, 49) kann und wie man in die Be-
ziehung mit dem Anderen eintritt. 60 Es geht um die Überwindung des
Seins durch das Andere. Obwohl Levinas hier die Heidegger’sche Ter-
minologie von »Sein« (être) und »Existenz« (existence, l’exister) 61
bedient, unterscheidet sich seine Interpretation dieser Konzepte von
der Heidegger’schen, was zu beachten ist, um das Heraustreten aus
dem Sein zu verstehen. Unter dem Sein versteht Levinas das bloße
»es gibt« (il y a). Das il y a ist das Sein als solches, vor dem Sein eines
Einzelnen, vor dem Seienden, dass seine Existenz vollzieht. Es ist
deswegen anonym: das il y a ist »die anonyme Tatsache des Seins«
(SS, 22/EE, 26). Von dieser These ausgehend beschreibt das Buch De
l’existence à l’existant – wie dies schon der Titel verrät – den Prozess,
in dem sich ein »Seiendes« (existant) von diesem »Sein« (existence)
löst und sein eigenes Sein übernimmt. Diesen Prozess nennt Levinas
»Ereignis der Hypostase« (événement de l’hypostase) (SS, 61/EE,
80). Das Seiende verlässt also das anonyme Sein, doch es ist eingerollt

59 Von diesen beiden Büchern als Werken seiner frühen Philosophie spricht Levinas
im Interview mit Philippe Nemo: EU, 34–56/EI, 34–66.
60 Es ist richtig, dass schon frühere Überlegungen Levinas’ dem Heraustreten aus dem

Sein, das immer das immanente, das Selbst-Sein ist, gewidmet sind. Hier ist insbeson-
dere De l’évasion (1935) zu nennen. Doch der Kontext, in dem diese Schrift, oder zum
Beispiel noch früher Théorie de l’intuition dans la phénoménologie de Husserl (1930),
entsteht, ist grundsätzlich anders. Levinas denkt zu dieser Zeit ausgehend von Husserl
und Heidegger, er ist kritisch gegenüber Husserl und Heidegger, aber er denkt noch
nicht das Andere, er denkt noch nicht die Ethik. Die Ontologie ist noch nicht zur
Unmöglichkeit des Ethischen geworden. Dies passiert nach dem Zweiten Weltkrieg.
61 Der Gebrauch von »être«, »existence« und »l’exister« ist in Levinas’ Texten nicht

eindeutig. In den meisten Fällen schreibt er »être«, wenn es um das Sein im Allgemei-
nen geht, und »existence«, »l’exister«, wenn es um den individuellen Vollzug des
Seins geht. Doch diese Bedeutungen können sich auch abweichen – zum Beispiel das
Wort »existence« kann in manchen Kontexten auch das Sein im Allgemeinen bedeu-
ten. Genauso kann »être« das Sein des Subjekts bezeichnen.

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Emmanuel Levinas (1906–1995)

in seinem Sein: Es kennt nur sich selbst. Wenn es auch in der Er-
kenntnis der Außenobjekte aus seinem Sein heraustritt, so kehrt es
wieder zu sich zurück. Die Erkenntnis ist die Eroberung der Objekte
und die Verwandlung des Anderen zum Selben des Subjekts. Gibt es
einen Ausweg aus diesem Sein bei sich selbst? Das nächste Werk – Le
temps et l’autre – versucht, diese Frage zu beantworten. In diesem
Buch stellt sich heraus, dass die Zeit, die »Zukunft« (avenir) das Sub-
jekt von ihm selbst lösen kann. Die Zukunft ist etwas, was das Subjekt
nicht ergreifen kann, was auf es zukommt, was das radikal Andere ist:
»[D]ie Zukunft ist das, was nicht ergriffen wird, was uns überfällt und sich
unser bemächtigt. Die Zukunft, das ist das andere. Das Verhältnis zur Zu-
kunft, das ist das eigentliche Verhältnis zum anderen.« (ZA, 48/TA, 64)
Die Zukunft ist das Andere, und das Andere ist wie diese auf es zu-
kommende Zukunft strukturiert. Levinas unterscheidet drei Gestal-
ten des Zukünftigen, d. h. des Anderen: den Tod (im Sein), das Weib-
liche (im Eros) und das Kind (in der Vaterschaft). Der Tod, das
Weibliche und das Kind sind die Möglichkeiten des Zerbrechens der
Vereinzelung im eigenen Sein. 62
Totalité et Infini (1961) – das große erste Hauptwerk Levinas’ –
korrigiert, führt weiter, systematisiert und vollendet seine frühere

62 Auch Derrida wird später (in La voix et le phénomène (1967)) in der Zeit die Mög-
lichkeit des Einbruchs des Anderen sehen. Die Zeit – die präsente Zeit der »lebendigen
Gegenwart« – ist das, was man hat, was man ist. Die Zeit ist aber auch das, was man
nicht hat, was man nicht selbst ist, nämlich die vergangene und die zukünftige Zeit.
Die Zeit ist deswegen ausgedehnt, sie ist »Verräumlichung« (espacement), sie ist die
Richtung vom Selben zum Anderen, von innen nach außen. Die ausgedehnte Zeit
trägt eine Differenz zwischen Selbstheit (Präsenz) und Andersheit (Nicht-Präsenz)
in sich: »Da die Spur der Bezug der innigen Vertrautheit der lebendigen Gegenwart
zu ihrem Draußen, die Offenheit für die Äußerlichkeit im allgemeinen, für das Nicht-
Eigene usw. ist, ist die Zeitigung des Sinns von Beginn an »Verräumlichung«. Sobald
man die Verräumlichung zugleich als »Intervall« oder Differenz und als Öffnung
nach draußen zugesteht, gibt es keine absolute Innerlichkeit mehr, hat sich das »Drau-
ßen« in die Bewegung eingeschlichen, durch die das Drinnen des Nicht-Raumes, das,
was den Namen »Zeit« hat, sich erscheint, sich konstituiert, sich »gegenwärtigt«. Der
Raum ist »in« der Zeit, er ist das reine Aus-sich-herausgehen der Zeit, er ist das
Außer-sich als Selbstbeziehung der Zeit. Die Äußerlichkeit des Raumes, die Äußer-
lichkeit als Raum, überfällt nicht unversehens die Zeit; sie eröffnet sich als reines
»Draußen« »in« der Bewegung der Zeitigung.« (SPh, 116/VPh, 96) Die Zeit kann
allerdings – und dies zeigt Derrida blendend – nur dann als das Aus-sich-Heraustreten
beschrieben werden, wenn sie nicht mehr ausgehend von ihrem Präsenz-Modus ver-
standen wird, wenn die Vergangenheit und die Zukunft nicht mehr als Teile (Reten-
tion und Protention) der Gegenwart angesehen werden.

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

Philosophie. Es beschreibt die Entstehung des Seienden, des Selben


(ohne das Andere) aus dem Sein, es untersucht sein Seinsgeschehnis
und zeigt letztendlich, wie das Andere in sein Sein einbricht und das
Andere des Seins ermöglicht: die Verantwortung gegenüber dem An-
deren statt der Sorge um sein eigenes Sein. Die Entstehung des Sei-
enden beschreibt Levinas diesmal als »Trennung« (séparation) des
Selben von der »Totalität« (totalité), d. h. vom Ereignis des anonymen
Seins, in dem alles unterschiedslos beisammen ist. Nach der Tren-
nung bildet das Selbe in seinem Sein wiederum eine Totalität: die
Totalität seines Seins, die das Andere nicht kennt. Der Bezug des Sel-
ben zum Anderen ist immer ein solcher, der das Andere zum Selben
macht. Doch das Andere tritt in die Welt des Selben ein und zerbricht
seine Totalität. Der Andere bricht in Gestalt des »Antlitzes« (visage),
das spricht, ein. Der sprechende Andere, die »Sprache« (langage) ist
das Verlassen der Totalität des Selben:
»Die Weise des Anderen, sich darzustellen, indem er die Idee des Anderen
in mir überschreitet, nennen wir nun Antlitz. […] Das Antlitz drückt sich
aus.« (TU, 63/TI, 21)
»Die Sprache, durch die ein Seiendes für ein anderes Seiendes existiert, ist
seine einzige Möglichkeit, eine Existenz zu existieren, die mehr ist als seine
innere Existenz.« (TU, 266/TI, 158) 63
Totalité et Infini geht aber weiter als die früheren Werke Levinas’,
indem es nicht nur den Einbruch des Anderen in die Welt des Selben
zeigt, sondern behauptet, dass genau die Beziehung mit dem Anderen
das Ursprünglichste überhaupt ist. Das Erste ist nicht das Sein des
Selben, die absolute Subjektivität, sondern die Relation zum Ande-
ren, das Ethische:
»[F]rüher als die Ebene der Ontologie ist die Ebene der Ethik.« (TU, 289/
TI, 175)

63 Für die Religionsphilosophie ist sehr bedeutend, dass das Antlitz des Anderen der
Ort ist, wo sich Gott offenbart. Die Begegnung mit dem Anderen ist die Erfahrung
einer Andersheit, eines anderen Menschen, die das Verbot, diesen anderen Menschen
zu töten, und Gebot, sich für ihn einzusetzen, mit sich bringt. Diese ethischen An-
forderungen, die im Antlitz des Nächsten eingeschrieben sind, ist für Levinas die
Weise, wie Gott sich in der Welt zeigt, wie er hier anwesend ist. »Im Nächsten ist
reale Anwesenheit Gottes.« (»[…] en autrui il y a présence réelle de Dieu.«) (ZU,
140/EN, 128) Gott selbst ist absolut transzendent, das Ethische ist aber seine Spur,
die er auf Erden hinterlassen hat.

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Emmanuel Levinas (1906–1995)

Nicht das Subjekt geschieht zuerst, sondern die Relation mit dem
Anderen. Daraus folgt die fundamentale These der Philosophie
Levinas’:
»Die Erste Philosophie ist eine Ethik.« (EU, 59/EI, 71)
Sucht die Philosophie das Ursprünglichste, das Grundlegende, muss
sie zuerst die Verantwortung des Selben gegenüber dem Anderen
untersuchen. Das Subjekt ist nicht das Erste und Alles. Noch früher
gibt es das Andere, das nicht im Subjekt ist, sondern ihm begegnet.
Als das Andere bleibt es für immer das Andere – es wird nie zum
Selben. Es wird nie zum einen bestimmten Objekt des Subjekts – es
ist deswegen das »Unendliche« (l’infini):
»Die Gegenwart eines Seienden, das nicht in die Sphäre des Selben eintritt,
eine Gegenwart, die überfließt über diese Sphäre hinaus, fixiert den »Sta-
tus« dieses Seienden als den eines Unendlichen.« (TU, 280/TI, 169 f)
Nicht das Subjekt, nicht ausgehend vom Subjekt, sondern das Andere
des Subjekts zu thematisieren – dies ist die Umkehrung, die Levinas
vollzieht. Doch das Denken stellt hier unmerklich eine Falle auf.
Wenn eine Philosophie das Andere thematisiert, macht sie es nicht
zu seinem Denk-Objekt, also zum Selben? Das ist übrigens die Frage,
die Derrida in seinem Levinas gewidmeten Aufsatz Violence et méta-
physique. Essai sur la pensée d’Emmanuel Levinas (1964) stellt. 64 In
der Tat verliert die Thematisierung das Andere, sobald sie es setzt.
Wenn nicht das Schweigen hier als eine Lösung sich anbieten will,
wie kann dann noch eine Philosophie dem Anderen näher kommen?
Wie kann man über das Andere sprechen, ohne es zu setzen? In sei-
nem zweiten Hauptwerk – Autrement qu’être ou au-delà de l’essence
(1974) – findet Levinas eine andere Möglichkeit einer Philosophie des
Anderen, weswegen wir in Bezug auf die Philosophie nach Totalité et
Infini von einer »Radikalisierung« des ontologiekritischen Ansatzes
sprechen können. 65 In Autrement qu’être spricht Levinas nicht mehr

64 Zu Derridas Frage an Levinas in Violence et métaphysique siehe auch die schöne


Ausführung von Simon Critchley: Eine Vertiefung der ethischen Sprache und Me-
thode: Lévinas’ »Jenseits des Seins der anders als Sein geschieht«. In: Deutsche Zeit-
schrift für Philosophie 42 (1994) 4, S. 648 f.
65 In der Levinas-Forschung scheiden sich die Meinungen darüber, wie die Verände-

rung, die Levinas’ Philosophie zwischen Totalité et infini und Autrement qu’être er-
lebt, zu bezeichnen ist. In der deutschsprachigen Forschung hat zum Beispiel Strasser
von der »Kehre« (Strasser(1978), 219), Krewani von der »Wende« (Krewani, 38),
Wiemer vom »Alternieren« (Wiemer, 66) und Taureck von der »sprachbezogenen

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

vom Anderen, sondern davon, was mit dem Selben geschieht, wenn
es dem Anderen begegnet. 66 Es spricht nicht mehr vom Selben und
dem Anderen, sondern von der »Subjektivität« (subjectivité), die als
»der Andere im Selben« (l’autre dans le même) definiert wird. Es
heißt aber nicht, dass damit das Andere wieder ausgehend von einem
totalen Subjekt untersucht wird. Die Subjektivität ist durch das An-
dere betroffen, durch seine Betroffenheit antwortet sie ihm, aber sie
kann es nie zu einem Objekt konstituieren. Diese Radikalisierung der
ontologiekritischen Philosophie, die jetzt versucht, das Andere nicht
einmal zu thematisieren und nur sein Wirken auf die Subjektivität,
das grundsätzlich ein Transzendieren aus sich heraus ist, zu beschrei-
ben, formuliert Levinas im Jahre 1976 folgenderweise:
»Die ontologische Sprache, deren sich noch Totalität und Unendlichkeit
bedient hatte, um die rein psychologische Bedeutung der vorgebrachten
Analyse auszuschließen, wird von nun an vermieden. Und die Analysen
selbst verweisen nicht etwa auf Erfahrung, in der ein Subjekt stets nur das
thematisiert, dem es gleicht, sondern auf die Transzendenz, in der es ant-
wortet auf das, was über das Maß seiner Intentionen hinausgeht.« (EN, 114/
DL, 379)
Autrement qu’être und spätere Aufsatzsammlungen, von denen ins-
besondere De Dieu qui vient à l’idée (1982) und Entre nous (1991) zu
erwähnen sind, geben uns eine Beschreibung davon, was mit der Sub-
jektivität passiert, wenn sie das Sein verlässt 67 und vom Anderen be-

Wende« (Taureck, 62) gesprochen. Stegmeier bezeichnet diese Wandlung als »Revisi-
on« (Stegmeier, 122). Wir – und dabei beziehen wir uns unter anderem auf Adriaan
Peperzak in seiner Rezension zu Autrement qu’être (Peperzak, 95) und Rudolf Funk
(Funk, 57 f, 60) – bevorzugen das Wort »Radikalisierung«, weil die hier beobachtbare
Veränderung eigentlich keine Veränderung darstellt, als ob Levinas etwa Neues er-
proben würde, sondern ist eine konsequentere Durchführung des ontologiekritischen
Ansatzes, der schon in Totalité et infini Levinas’ Anliegen ist.
66 Darauf weist schon Peperzak in seiner Rezension zu Autrement qu’être hin: »In

Totalité et Infini nahm der Andere und sein Antlitz die zentrale Stelle ein; in Autre-
ment qu’être besinnt Lévinas sich auf die »Position« und die Bedeutung des Subjekts:
Ich, der ich dem Anderen begegne.« (Peperzak, 95) Dass es eine solche Verschiebung
gibt, ist auch durch Levinas’ Text belegbar: »Seine Transzendenz – seine Exteriorität,
die weiter außen, extremer anders ist als alle Exteriorität des Seins – vollzieht sich
allein durch das Subjekt, das sie bekennt oder sie bestreitet. Umkehrung der Ordnung:
die Offenbarung geschieht durch denjenigen, der sie empfängt, durch das inspirierte
Subjekt […].« (JS, 341/AQE, 199)
67 Autrement qu’être ou au-delà de l’essence – der Titel dieses Werkes spricht wieder

vom Verlassen des Seins. Es geht um »anders als Sein«, um das Andere des solipsisti-

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Emmanuel Levinas (1906–1995)

troffen wird. Das ist die Beschreibung eines Ereignisses, das grund-
sätzlich der Einbruch des Anderen ist, das ist die Herausarbeitung
einer Logik des Ereignisses. Und diese Beschreibung enthält Ideen,
die spätere Ereignisdenker (zum Beispiel Marion oder Romano) in
ihr Denken aufnehmen. Diese ganz zentralen Gedanken, die wir spä-
ter systematisch und ausführlich analysieren werden, sind vor allem:
1) die »Passivität« (passivité), die besagt, dass in der Beziehung mit
dem Anderen das Selbe ihn nicht aktiv konstituiert, sondern passiv
empfängt. Die Ebene der Passivität wird nicht im Bewusstsein ge-
sucht, sondern in der Leiblichkeit, weswegen die Passivität von Levi-
nas auch »Sensibilität« (sensibilité) genannt wird. Das Ereignis ver-
setzt den Betroffenen in die leibliche Passivität, in die Nähe zum
Anderen; 2) die »unvordenkliche Vergangenheit« (passé immémo-
rial) – das, was sich im Ereignis der Begegnung mit dem Anderen
ereignet, kann nie im die Vergangenheit vergegenwärtigenden Be-
wusstsein, in der Präsenz eingeholt werden. Das Ereignis ist ein Au-
genblick, der für das Bewusstsein immer schon vergangen ist; 3) die
»Spur« (trace), die das uneinholbare Ereignis hinterlässt und die
nicht zu ihm zurückführt. Es handelt sich darum, dass das uneinhol-
bare Ereignis sich manifestiert und etwas in der Welt, zu der es selbst
nicht gehört, hinterlässt – es verändert die Welt, ohne dass es in der
Welt als ein Sachverhalt auffindbar wäre; 4) das »Überschreiten«
(débordement) des Denkens, was bedeutet, dass das Andere unbe-
greiflich bleibt. Das Ereignis ist nie etwas im Denken Gedachtes.

schen Bei-sich-Seins. Es geht um »jenseits des Seinsgeschehnisses« als Verantwor-


tung für den Anderen.

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Gilles Deleuze (1925–1995)

Wenn wir als Ausgangspunkt unserer Überlegungen die Ereignisse,


die sich als das Andere mit uns ereignen, setzen, setzen wir auch
voraus, dass das Ereignis immer auch die Betroffenheit durch das Er-
eignis ist. Das Dasein wird vom Ereignis des Seins betroffen, es wird
in das Ereignis eingelassen. Es ist die passive Subjektivität, die dem
Anderen begegnet, die aus sich transzendiert, in die sensible Nähe
zum Anderen kommt. Man kann den Betroffenen natürlich nie als
einen denken, der sich das Andere vorstellt, aber es gibt den Betrof-
fenen. Aber muss es ihn unbedingt geben? Dies ist keine Entschei-
dung, die man innerhalb einer Philosophie des Ereignisses treffen
kann – es handelt sich hier um eine Vor-Entscheidung. Wir haben
von Anfang an ganz bestimmte »Untersuchungsobjekte« ausgewählt,
sie Ereignisse genannt und das Ereignis als die Betroffenheit durch
das Andere definiert. Man hätte auch andere »Forschungsobjekte«
nehmen, sie Ereignisse nennen und das Ereignis anders definieren
können. So unterscheidet sich die angelsächsische Philosophie schon
hinsichtlich ihrer Vor-Entscheidungen von der kontinentalen Ereig-
nisphilosophie, die auch wir hier vertreten. Diese gerade ausgeführ-
ten Anmerkungen waren deswegen notwendig, weil wir mit Gilles
Deleuze zu einem Ereignisdenker kommen, in dessen Philosophie –
als einem der Vertreter des Strukturalismus bzw. Poststrukturalismus
– kein Subjekt und kein Betroffener vorkommen. Angesichts unserer
Vor-Entscheidung – aber nur deswegen – weist sein Ansatz im Ereig-
nisdenken eine leere Stelle auf, die nur angesichts unserer Vor-Ent-
scheidungen erfüllt werden muss. Wenn man aber davon absieht,
sind die Gedanken Deleuzes sehr nützlich, sogar unentbehrlich, um
das Ereignis – so wie wir es bestimmen –, seinen philosophischen
Status und seine Logik zu verstehen.
Wenn Deleuze 1988 sagt: »In allen meinen Büchern habe ich die
Natur des Ereignisses [événement – L. P.] gesucht,« (U, 206/P, 194) so
heißt es noch lange nicht, dass seine Suche einen direkten Eingang in

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Gilles Deleuze (1925–1995)

unser Unternehmen finden kann – vielleicht geht es hier um etwas


ganz anderes als das, was wir hier philosophisch zu begreifen ver-
suchen. Nicht jede Philosophie, die »Ereignis« sagt, hat dasselbe im
Blick wie wir, wenn wir von Ereignissen sprechen. Und auch umge-
kehrt: Das Fehlen des Wortes »Ereignis« heißt nicht, dass es keine
Annäherung zu unserer Sache gibt. Auf den ersten Blick scheint es,
dass das philosophische Werk Deleuzes eigentlich gar nichts mit un-
serem im gewissen (aber nur im gewissen) Maß phänomenologischen
Ansatz zu tun hat. In der Tat ist es so und trotzdem eröffnen die
Gedanken Deleuzes im Ereignis bestimmte Dimensionen, die unser
Ereignis besser zu verstehen erlauben – und dies vor allem deswegen,
weil Deleuze das Ereignis ganz genau von anderen Gegebenheiten
unterscheidet: zum Beispiel von ontischen (von den Dingen), sprach-
lichen (von der Bedeutung) und phänomenologischen (von im Be-
wusstsein intendierten) Gegebenheiten. Wie im Falle Heideggers
handelt es sich um die Einführung eines neuartigen und andersarti-
gen philosophischen Konzepts. Damit wird nicht gesagt, dass Deleuze
dasselbe denkt wie Heidegger, sondern nur, dass das Ereignis für De-
leuze genauso wie für Heidegger etwas ist, was weder die Ontologie
noch linguistische Analysen oder die Phänomenologie denken kann
und was ein besonderes Denken des Ereignisses fordert.
Deleuze hat dem Ereignis ein ganzes Buch – Logique du sens
(1969) – gewidmet. Auch sein zusammen mit Félix Guattari verfass-
tes Werk – Qu’est-ce que la philosophie? (1991) – enthält ganz wich-
tige Hinweise zum Ereignis. Obwohl dieses Werk, einerseits, ohne
Logique du sens völlig unverständlich bleibt, sind, andererseits, die
hier formulierten Thesen über das Ereignis durch mehr Reife und
Klarheit gekennzeichnet. In Logique du sens, unter Berufung auf die
Stoiker, die er für die Entdecker des Ereignisses hält, lenkt Deleuze
unsere Aufmerksamkeit unter anderem auf ein einfaches Beispiel:
»Der Baum beginnt zu grünen …« (l’arbre verdoie) (LS, 21/15) Die-
ses »Beginnen zu grünen« oder einfach »Grünen« kann man nicht
auf die Substanz »Baum« oder eine ihrer Eigenschaften (»grün« bzw.
»grünen« gefasst als Eigenschaft) reduzieren. Es ist nicht dieser Baum
mit seinem Grün so, als ob wir ihn auf einem Foto anhalten würden –
es ist etwas anderes. Die Ereignisse sind keine Dinge, keine Eigen-
schaften, keine Dingzustände – in diesem Sinne existieren sie nicht,
obwohl es sie trotzdem gibt:

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

»Es handelt sich nicht um physische Qualitäten oder Eigenschaften […]. Es


handelt sich nicht um Dinge oder Dingzustände, sondern um Ereignisse.
Man kann nicht sagen, daß sie existieren, sondern eher, dass daß sie sub-
sistieren oder insistieren, da sie über jenes Mindestmaß an Sein [minimum
d’être – L. P.] verfügen, das all dem zukommt, was kein Ding, was nicht
existierende Entität ist. Es handelt sich nicht um Substantive oder Adjekti-
ve, sondern um Verben.« (LS, 19/13)
Das Ereignis ist nicht der grüne Baum und auch nicht der Baum, der
grünt, sondern das Grünen des Baumes. Es ist eine Umstellung des
Blickes notwendig, um nicht den Baum in seinem Zustand als einen
Ausschnitt aus der Wirklichkeit (einen Sachverhalt) zu sehen, son-
dern sein Grünen. Diese Umstellung des Blickes ist genauso »mys-
tisch« wie die plötzliche Möglichkeit, nicht die Dinge, sondern Phä-
nomene zu sehen. Phänomene existieren nicht (wie die Dinge), aber
man kann sie sehen, wenn man den Blick ein wenig verschiebt. Ge-
nauso ist es mit dem Ereignis Deleuzes. Alle weiteren Bestimmungen
– oder »Paradoxa« (paradoxes), wie Deleuze sie nennt – des Ereignis-
ses bleiben sinnlos, wenn man nicht zuerst diesen Schritt weg von der
Dingen zu ihren Ereignissen gemacht hat. Noch ein Hinweis: »Der
Baum grünt« als Ereignis ist auch kein Prozess im Sinne einer Bewe-
gung. »Der Bus fährt« ist nicht mehr ereignishafter als das Ereignis
»der Baum grünt«, obwohl wir im Falle eines Busses mit mehr Bewe-
gung, mit der Prozessualität zu tun haben. Es gibt nämlich das Ereig-
nis der Bewegung. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder sehen wir
die Bewegung als Bewegung oder das Ereignis der Bewegung. Im ers-
ten Fall sehen wir den Bus, der fährt, im zweiten – das Fahren des
Busses.
Weil wir hier mit keinen Dingen, ihren Eigenschaften, ihren Zu-
ständen oder Bewegungen, die wir beobachten können, zu tun haben,
sagt Deleuze, dass die Ereignisse »unkörperlich« (incorporels) (LS,
19/13) sind. Sie sind zwar an dem Körperlichen gebunden (es gibt
kein Grünen ohne den Baum), aber trotzdem schweben sie über dem
Körperlichen. Die Ereignisse ereignen sich auf der »Oberfläche« (sur-
face) des Körperlichen – es geht um »unkörperliche Ereignisse auf der
Oberfläche« (LS, 21/15). Die Ereignisse sind »Wirkungen« (effets)
(LS, 22/16), keine »Verwirklichung in einem Dingzustand« (effectua-
tion dans un état de choses) (LS, 41/34).
Es kann für den ersten Moment verwirrend klingen, dass De-
leuze das so verstandene Ereignis (Baum grünt) mit dem »Sinn«

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Gilles Deleuze (1925–1995)

(sens) des Satzes (»Baum grünt«) zusammenbringt. Mehr noch: In


gewisser Hinsicht sind sie für ihn ein und dasselbe. Der Sinn eines
Satzes ist auch ein Oberflächen-Effekt. Der Sinn liegt nicht in dem
»äußeren Dingzustand« (état de choses extérieur), zu dem der Satz
die Beziehung der »Bezeichnung« (désignation) hat (LS, 29/22). Den
Sinn des Satzes »Baum grünt« erreichen wir nicht, wenn wir uns dem
Dingzustand »Baum grünt« zuwenden. Zu dem Sinn gelangen wir
auch dann nicht, wenn wir ihn als »Aussage der Wünsche und Mei-
nungen« (énoncé des désires et des croyances) (LS, 30/23) sehen –
also nicht, wenn wir denken: »Wenn er gesagt hat, dass der Baum
grünt, hatte er den grünenden Baum vor Augen.« Wir gelangen zu
dem Sinn eines Satzes, nicht dadurch, dass wir verstehen, was einer
sagen wollte, was seine Intention war. Der Sinne eines Satzes ist auch
nicht mit seiner »Bedeutung« (signification) (LS, 31/24) zu identifi-
zieren – er ist nicht das, was der Satz sagt, insofern es als wahr oder
falsch qualifiziert werden kann. Der Sinn des Satzes »Baum grünt«
liegt nicht in seiner Möglichkeit, seine Wahrheit zu prüfen. Wenn ich
diesen Satz so sehe, habe ich seinen Sinn verpasst. Der Sinn eines
Satzes ist ganz schlicht das, was der Satz sagt – »das Ausgedrückte
des Satzes« (exprimé de la proposition) – ohne Bezüge zu den Din-
gen, Subjekten oder zur Wahrheit und Falschheit:
»Der Sinn ist die vierte Dimension des Satzes. Die Stoiker haben ihn zu-
sammen mit dem Ereignis entdeckt: Der Sinn, das ist das Ausgedrückte des
Satzes, dieses Unkörperliche an der Oberfläche der Dinge, irreduktibles
komplexes Gebilde, reines Ereignis, das im Satz insistiert oder subsistiert.«
(LS, 37/30)
Es ist wieder die Frage, ob wir einen Satz so hören können, dass wir
nur auf das achten, was er sagt – jenseits der Wirklichkeit, Gedanken-
welten und Wahrheit. Genauso wie das Ereignis als ein Unkörper-
liches sich auf der Oberfläche des Körperlichen abspielt, schwebt der
Sinn über dem Satz – er »existiert nicht außerhalb seines Ausdrucks«,
»jedoch vermischt er sich keineswegs mit dem Satz, er verfügt über
eine völlig verschiedene »Objektität«.« (LS, 40/33) Der Sinn hat ge-
nauso wenig mit dem Körper des Satzes zu tun wie das Ereignis mit
dem Körperlichen. Mehr noch: Sich einem Ereignis zuzuwenden
heißt, sich in einen Sinn zu vertiefen. Das Ereignis ist der Sinn, oder
– genauer gesagt – es ist der Sinn, insofern wir ihn auf der Oberfläche
der Dinge sehen, aber es ist immer noch auch der Sinn des Satzes:

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

»Das Ereignis gehört wesentlich zur Sprache, es steht in einer wesentlichen


Beziehung zur Sprache; doch die Sprache ist das, was über die Dinge gesagt
wird.« (LS, 41/34)
»Man soll also nicht fragen, was der Sinn eines Ereignisses sei: Das Ereignis
nämlich, das ist der Sinn selbst.« (ebd.) 68
»Der Sinn ist das Ausdrückbare oder das Ausgedrückte des Satzes und un-
trennbar damit das Attribut des Dingzustandes. Eine Seite wendet er den
Dingen zu, eine andere den Sätzen. Doch vermischt er sich ebensowenig mit
dem Satz, der ihn ausdrückt, wie mit dem Dingzustand oder der Qualität,
die der Satz bezeichnet. Er ist genau die Grenze zwischen den Sätzen und
den Dingen.« (ebd.)
Auf diese Weise wird ein neuartiges »ontologisches« (wenn man das
so vorsichtig bezeichnen könnte, da das Ereignis über einen »Min-
destmaß an Sein« verfügt) Konzept gewonnen, das das Ereignis so-
wohl außerhalb der Objektität als auch des rein Sprachlichen und
damit auch außerhalb des Bewusstseins verortet.
Jedes Sinn-Ereignis ereignet sich so, dass es sich ins Unendliche
verteilt – es bildet eine »Serie« (série) von Sinn-Ereignissen. Da das
Sinn-Ereignis eine Seite den Dingen zuwendet und die andere den
Sätzen, haben wir immer mit mindestens zwei Serien zu tun, die in
gewissem Maße parallel zueinander laufen. Diesen Zusammenhang
von zwei Serien nennt Deleuze auch »Struktur« (structure) (LS, 73/
65). Alle Elemente dieser Struktur – also die Ereignisse, die sich auf
der Oberfläche der Dinge abspielen, und den Sinn des Satzes – nennt
er »Singularitäten« (singularités) (ebd.). Obwohl die beiden Serien
parallel zueinander laufen, gibt es Singularität, die in beiden Serien
vorhanden ist und sie so miteinander kommunizieren lässt. Ein sol-
ches Element der Struktur nennt Deleuze die »paradoxe Instanz« (in-
stance paradoxale) (LS, 62/55). Es »zirkuliert« (ebd.) in beiden Seri-
en, wobei es dadurch in einer – in der Serie des Ereignisses – ein
»Fehlen« (défaut), in der anderen – in der Serie des Sinn des Satzes
– ein »Überschuss« (excès) ist (LS, 72/64). Durch diese Instanz ge-
schieht die »Verschiebung« (déplacement) beider Serien gegeneinan-
der und das »Übermaß der einen über die andere« (LS, 61/54). Mit
einem Beispiel: Auf der Oberfläche des Körperlichen ist immer ein
Fehlen eines Sinnes festzustellen, der sich aber irgendwann dort als

68Oder umgekehrt: »Der Sinn ist dasselbe wie das Ereignis, diesmal aber auf die Sätze
bezogen.« (LS, 209/195)

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Gilles Deleuze (1925–1995)

sein Effekt verkörpern könnte. So wie, wenn vor der Entdeckung der
Moleküle im heutigen Sinne, dem Ereignis des Grünen des Baumes,
etwas gefehlt hätte, das erlaubt hätte, in ihm eine Zusammensetzung
und Bewegung der Moleküle zu sehen. Dieses Fehlen muss nicht so
verstanden werden, dass es früher eine falsche Interpretation des
Baumes gab und dass die Wissenschaft es später richtig beschrieben
hat, sondern als die Möglichkeit, in der gegebenen Welt einen neuen
Sinn hineinzubringen. Die Serie der Ereignisse des Körperlichen ent-
hält eine leere Stelle, einen »Platz ohne Besetzer« (place sans occu-
pant) (LS, 73/65), die die Möglichkeit, dieses Körperliche neu zu deu-
ten, ist – nämlich durch einen Sinn, der sich in der anderen Serie der
Struktur ereignet. Und umgekehrt: Jeder Sinn muss als Überschuss
über das schon Ausgesagte, das dem im Ding verkörperten Ereignis
entspricht, verstanden werden, und wenn er einmal hinter dem Ge-
sagten gedacht wird, dann erlebt er eine Verkörperung, die darin be-
steht, dass in der Welt ein neues Ding geschaffen wird, was natürlich
nicht immer bedeutet, dass ein noch nie dagewesenes Ding hergestellt
wird – auch die Interpretation des Grünen des Baumes durch die Mo-
leküle ist das Schaffen eines neuen Dinges. Dieser Überschuss reali-
siert sich so, dass man den Sinn des Satzes hinterfragt, zum Beispiel
so: »Der Baum grünt, aber was bedeutet das, dass der Baum grünt?«
Und dann antwortet man irgendwann: »Er grünt, weil solche und
solche chemische Prozesse sich dort abspielen.« Es geht nicht darum,
ob diese Antwort wahr oder falsch ist, sondern nur darum, dass aus-
gehend von einem Sinn ein neuer Sinn geschaffen wird, und dieser
kann wieder zu einen neuen führen. 69 Deleuze nennt dies »unbe-
grenzte Regression« (régression indéfinie) (LS, 57/50). Ein neuer
Sinn muss nicht immer durch explizite und ausgeklügelte Fragen
und Antworten geschaffen werden: Der Baum grünt, aber was wird
danach sein? Bunte Blätter werden fallen. Durch einfaches Hinsehen
kommt man von einem Ereignis (das ein »Fehlen« aufweist) zum
anderen (das diesen leeren Platz sofort einnimmt): Grünen, Blätter,
Schnee, Frühling, Jahr, Leben, Ewigkeit. Oder anders: Grünen des
Baumes, Flattern der Blätter, Wehen des Windes, Sonne, Wiese, Erde,

69Genauer gesagt: Nicht der Sinn schafft einen neuen Sinn, sondern der »Unsinn«
(non-sense). Der Unsinn ist die Instanz, durch die der Sinn zum Sinn wird: »Der
Unsinn ist zugleich das, was keinen Sinn hat, sich aber als solcher der Abwesenheit
des Sinns entgegensetzt, indem er die Sinnstiftung vornimmt. Und genau das hat man
unter nonsense zu verstehen.« (LS, 98/89) Dies bedeutet auch: Jeder neue Sinn ist
zuerst unsinnig, weil er neu ist.

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

Kosmos. Zur Präzisierung: Ein neuer Sinn wird streng genommen


nicht von uns – durch unsere Fragen und Antworten – geschaffen.
Er schafft sich selbst: Urknall, Sonnensystem, Erde, Leben, Men-
schen, Explosion der Sonne. Oder philosophiegeschichtlich: Ding,
Seiendes, Sein, Ursache, Gott, Selbstbegründung, Phänomen. 70
Jede Struktur wird also von mindestens zwei Serien und das pa-
radoxe Element (»es gibt keine Struktur ohne leeres Feld« (LS, 75/
66)) gebildet, und weil das paradoxe Element durch die Regression
einen ständig neuen Sinn stiftet und »alles erst zum Funktionieren
bringt« (LS, 75/66), hat die Struktur eine »Geschichte« (histoire):
»Die Struktur umfaßt ein Register idealer Ereignisse, das heißt eine ganze,
ihr innerst zugehörige Geschichte […].« (LS, 74/66)
Es ist die Geschichte der Sinnstiftung. In der Tat stellt Logique du
sens die Struktur als dynamisch dar – es lenkt die Aufmerksamkeit
auf die Prozessualität der Entstehung des Sinnes, auf die Ereignishaf-
tigkeit der Singularität. Das nur ein Jahr zuvor erschienene Werk von
Deleuze – Différence et répétition (1968) – stellt die Struktur eher
statisch dar, nämlich als die topologische Verteilung der Singularitä-
ten, die sich aktualisieren. 71 Différence et répétition stellt zwar auch
ein Versuch dar, Nietzsches Gedanken von der »ewigen Wiederkunft«
und damit die Geschichte zu denken, doch während dieses Werk die
Geschichte als Wiederholung des Differenten (des Singulären, aber

70 Es ist für Foucault in seinen Geschichtsschreibungen charakteristisch, solche Rei-


hen zu bilden. Im Grunde genommen versteht er die Geschichte im Allgemeinen als
ein Sinnereignis, also als die Sinnproduktion. Und es ist genauso interessant, dass
auch Heidegger, wenn er die Geschichte der Metaphysik auslegt, solche Serien zu
bilden pflegt – und dies sogar völlig explizit, zum Beispiel hier: »Das Eigentliche am
Seienden und daher selbst das für sich Seiende – Anwesende und Beständige, ὄντως ὄν
der seiendste Grund – Sache – Ur-sache: θεῖον, Deus, creator, das Absolute, das Unbe-
dingte; Apriori – Bedingung der Möglichkeit […].« (E, 21) In dieser Serie wird also
aufgezählt, wie in der Philosophiegeschichte das Sein verstanden wird. Zuerst ist es
die Anwesenheit und Beständigkeit. Es wird als Grund für das Seiende gesehen. Der
Grund wird aber als ein Seiendes (Sache) ausgelegt und so grundsätzlich als Ur-Sache
verstanden. Die Ursache erlebt folgende Transformationen: θεῖον, Deus, creator, das
Absolute, das Unbedingte, Bedingung der Möglichkeit. Man kommt also von der
Anwesenheit zur Bedingung der Möglichkeit.
71 »Die Struktur, die Idee, das ist das »komplexe Thema«, eine interne Mannigfaltig-

keit, d. h. ein System nicht lokalisierbarer mannigfaltiger Bindung zwischen differen-


tiellen Elementen, die sich in realen Relationen und aktuellen Termen verkörpern.«
(DW, 234 f/DR, 237)

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Gilles Deleuze (1925–1995)

nicht des Selben) denkt 72, fasst Logique du sens die Singularität selbst
als Geschichte, nämlich als Ereignis auf. Die in Logique du sens ge-
dachte Sinnstiftung ist nicht einfach ein geschichtlicher Übergang
von einem Sinn zum nächsten. So zu denken würde immer heißen,
dass man einen identischen (obwohl differenten) Sinn denkt, der
dann in einen anderen übergeht. Nein, der Sinn ist schon Geschichte.
Nichts hält je an. Das Ereignis ist eine ständige Dynamik. Es ereignet
sich nur, er west nie an.
Das paradoxe Element, das sich sowohl auf der Oberfläche des
Körperlichen als auch auf der Oberfläche des Satzes als ihrer Grenze
befindet, sorgt also dafür, dass ständig ein neuer Sinn produziert, d. h.
verkörpert wird. Ein neuer Sinn entsteht aber in Verbindung mit dem
Vorherigen, und aus einem Sinn können mehrere neue Sinne gestif-
tet werden. Das ganze Feld verzweigt sich ins Unendliche. Durch das
paradoxe Element, also im Moment der Sinnstiftung (also ständig),
werden alle Verteilungen, Verzweigungen, die ganze Geschichte
durchlaufen. In diesem Sinne gibt es nur »das Eine Einzige Ereignis«
(l’Unique événement):
»Die Verwandlung oder Neuverteilung der Singularitäten stellen eine Ge-
schichte dar; jede Kombination, jede Verteilung ist ein Ereignis; die parado-
xe Instanz aber ist das Ereignis überhaupt, in dem alle Ereignisse kommuni-
zieren und sich verteilen, das Eine Einzige Ereignis; alle anderen sind nur
dessen Fragmente und Fetzen.« (LS, 81/72)
Man könnte vermuten, dass jede Singularität in die Funktion der pa-
radoxen Instanz gesetzt werden kann, von der ausgehend die unend-
liche Verteilung beginnt. An einem (an jedem) Punkt entfaltet sich
die ganze Vergangenheit und die unendliche Zukunft des Sinn-Ereig-
nisses. Diese Zeit des Ereignisses, die nicht die Gegenwart (einen be-
stimmten vielleicht sogar zur absoluten Wahrheit erstarrten Sinn,
der sich auf das Ding bezieht) hervorhebt, um sie dann gegen eine
andere gleicht zu ersetzen, sondern in die Richtung der unendlichen
Vergangenheit und Zukunft startet, nennt Deleuze – wiederum in

72 Im Anschluss an Nietzsche schreibt Deleuze: »Das Subjekt der ewigen Wiederkehr


[éternel retour – L. P.] ist nicht das Selbe, sondern das Differente, nicht das Ähnliche,
sondern das Unähnliche, nicht das Eine, sondern das Viele, nicht die Notwendigkeit,
sondern der Zufall. […] Weder das Selbe noch das Ähnliche kehren wieder, vielmehr
ist die ewige Wiederkunft das einzige Selbe, die einzige Ähnlichkeit dessen, was wie-
derkehrt. […] Die ewige Wiederkehr ist das Selbe des Differenten, das Eine des Vie-
len, das Ähnliche des Unähnlichen.« (DW, 165/DR, 164 f)

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

Anschuss an den Griechen – »Äon« (LS, 86/77). Die Zeit des Ereig-
nisses ist Äon, nicht »Chronos«, der den Zeitlauf verkörpert, wo die
Gegenwart in der Mitte steht. 73 Das Ereignis ist die ganze Zeit, die
ganze Geschichte. Die Verteilung des Sinn-Ereignisses ist natürlich
nicht nur zeitlich zu verstehen: Es verzweigt sich auch räumlich. In
einem Moment ist eine unendliche Verzweigung der Sinn-Ereignisse
gegeben. Deleuze nennt sie »nomadische Verteilung« (distribution
nomade), die bedeutet: »sich in einem offenen Raum aufteilen« (LS,
101 f/93). Eine Verzweigung ohne eine gerade Hauptlinie, unauflös-
bar, Rhizom 74. Das Sinn-Ereignis kennt also kein Anhalten, es zieht
immer weiter und sein Weg ist kein gerader Weg – es gibt kleinere
Pfade, die unerwartet im Nirgendwo aufhören, es gibt große Auto-
bahnen, mit vielen kleineren Auffahrten und Ausfahrten, die aber der
Autobahn zugehörig bleiben, es gibt parallele Strecken, die unter-
schiedlich verlaufen, aber das gleiche Ziel erreichen etc. »Der gesunde
Menschenverstand« (le bon sens) hat die Tendenz, sesshaft zu wer-
den, also bei einem konkreten Sinn zu bleiben, seine Geschichte und
Produktion auszuschalten, ihn zu einer Bedeutung zu verwandeln
und so an einem Ding festzumachen, sodass er in dieser Verkörpe-
rung, in dieser Identität verhaftet bleibt. 75 So wie man denkt, mit der
Erklärung des Grünens des Baumes durch die Bewegung der Molekü-
le die Wahrheit erreicht zu haben. Der Satz »Das Grünen des Baumes
ist die Bewegung der Moleküle« wird als Aussage über die körper-
liche Wirklichkeit aufgefasst, die ihrerseits diese Aussage wahr oder
falsch macht. Ist sie wahr, wird sie sesshaft. Es ist gleichgültig, woher
sie kommt, weil die Vergangenheit keine Wahrheit besaß und deswe-
gen ignoriert werden kann; oder sie wird geradlinig dargestellt, sodass
es scheint, dass alles dazu geführt hat, zu dieser Wahrheit zu gelan-
gen. Die Zukunft ist genauso ausgeschlossen, weil die Wahrheit sich
nicht ändern wird. So wird, zumindest scheinbar, der Sinn angehal-
ten. Es ist der Philosoph, der für Deleuze in das Ereignis des Sinnes
einspringt. Er sieht das ganze Ereignis, die ganze Zeit, er verfolgt die
Entstehung des Sinnes und ahnt seine Veränderung. Er weiß um die
Verzweigungen. Er sucht nicht das Identische, sondern fragt nach

73 Zu dem Chronos (und Äon) siehe insbesondere: LS, 203 ff/190 ff.
74 »Rhizom« ist ein von Deleuze und Guattari gebrauchtes Wort, um die Verteilung
der Singularitäten einer Struktur zu charakterisieren. Sie haben auch ein gleichnami-
ges Buch – Rhizome (1976) – verfasst.
75
Zu den Charakteristika des gesunden Menschenverstandes siehe: LS, 102 ff/93 ff.

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Gilles Deleuze (1925–1995)

dem Sinn und ihrer Geschichte – so wie das Heidegger oder Foucault
machen. Weil der Philosoph nach dem Sinn-Ereignis fragt und es
nicht an eine körperlichen Wirklichkeit bindet, die seine Aussagen
bestätigen würde, ist die Philosophie »Gegen-Verwirklichung«
(contre-effectuation) 76. In der Tat bestimmen Deleuze und Guattari
im Buch Qu’est-ce que la philosophie? die Aufgabe der Philosophie
als Befreiung des Ereignisses vom Körperlichen:
»Stets ein Ereignis aus den Dingen und Wesen freisetzen [dégager – L. P.] –
das ist die Aufgabe der Philosophie […].« (WPh, 40/QPh, 36)
Das Ereignis zu verfolgen, heißt, einen »Begriff« (concept) zu haben.
»Die Philosophie beginnt mit der Schöpfung der Begriffe« (WPh, 48/
QPh, 43), »Begriff sagt [dit – L. P.] das Ereignis« (WPh, 27/QPh, 26).
Zu dem Begriff zu gelangen, bedeutet aber, ihn zu gegen-verwirk-
lichen:
»Man aktualisiert oder verwirklicht das Ereignis immer dann, wenn man es
wohl oder übel auf einen Sachverhalt verpflichtet, aber man gegen-verwirk-
licht [contre-effectue – L. P.] es immer dann, wenn man von den Sachver-
halten abstrahiert, um aus ihnen den Begriff zu gewinnen.« (WPh, 186/
QPh, 150)
Wir haben gesehen, wie Deleuze das Ereignis als eine spezifisch on-
tologische Kategorie bestimmt und ihre Eigenschaften (zwei Serien,
paradoxe Instanz, Regression, Geschichte, unendliche Verteilung in
zeitlicher und räumlicher Hinsicht) beschreibt. Wir können uns jetzt
allmählich zur Frage bewegen, was dies alles mit unserem Ereignis zu
tun hat, das wir als die Betroffenheit des Ich durch das Andere, als das
Transzendieren aus sich heraus umgeschrieben haben. Dieser Zusam-
menhang ist in der Tat nicht leicht aufzudecken, da wir in der Phi-
losophie Deleuzes kein Ich finden werden. Wir haben hier mit einer
Ontologie zu tun, die fragt, wie etwas ist bzw. wie sich etwas ereignet.
Und das, was Deleuze uns hier darstellt, ist ein Bild vom Ganzen, das
an sich ein unendliches Ereignis ein »Chaosmos« (chaosmos) »und
keine Welt mehr« (LS, 219/206) ist. Das Ich ist nur ein Punkt in
diesem rhizomartigen Raum, wo sich das Ereignis verkörpern kann.
Eine solche – wir können sagen: strukturalistisch-poststrukturalisti-
sche – Betrachtungsweise würde nie von einem Ich als Zentrum aus-
gehen. Nein, es ist sogar nicht entscheidend, dass sie nicht von einem

76
Zur »Gegen-Verwirklichung« siehe zum Beispiel: LS, 189/176, 202/188.

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

Ich ausgehen würde – eine Ereignisphilosophie im unseren Sinne


geht auch nicht von einem Ich als dem absoluten Zentrum und Grund
aus. Das Entscheidende ist, dass eine Ontologie das Ich und seine
Innerlichkeit nur von außen (als einen Punkt in der Landschaft) be-
trachten kann und nicht so, wie es sich selbst sieht, aber genau dort
ereignet sich die Begegnung mit dem Anderen. Die Begegnung mit
dem Anderen trifft mich, es ist unmöglich, dies von außen als ein
Etwas – sei es auch das Ereignis im Sinne Deleuzes – zu verstehen.
Es geht hier auf keinen Fall um ein und dieselbe Sache – nämlich ein
Mich –, die von zwei Denkansätzen – einem struktural-ontologischen
und phänomenologischen – thematisiert würde. Es geht hier um eine
Sache – die Innerlichkeit –, die ein strukturalistischer Ansatz über-
haupt nicht thematisieren kann, weil es in seiner Welt nicht existiert.
Es existiert in seiner Welt auch dann nicht, wenn er es als ein Element
der Struktur (zum Beispiel als den Ereignisbegriff bei Heidegger) be-
stimmt, weil dieses Element nicht als Element einer Struktur exis-
tiert. 77
In der Tat ist Deleuze, was das Persönliche, das Phänomenale
betrifft, sehr streng:
»Was ist das, ein ideales Ereignis? Es ist eine Singularität. Oder vielmehr
eine Gesamtheit von Singularitäten […].« (LS, 76/67)
»Die Singularität ist ihrem Wesen nach prä-individuell, nicht-persönlich,
un-begrifflich. Sie ist dem Individuellen und dem Kollektiven, dem Persön-
lichen und dem Unpersönlichen, dem Besonderen und dem Allgemeinen –
wie auch ihren Gegensätzen gegenüber vollkommen indifferent. Sie ist
neutral. Andererseits ist sie nicht »gewöhnlich«: Der singuläre Punkt wi-
dersetzt sich dem Gewöhnlichen.« (ebd.)
Die Ereignisse sind weder etwas für mich Bedeutendes, noch Gleich-
gültiges (Gewöhnliches) – es gibt hier kein Mich, auch kein Mich der

77 Darin, dass der Strukturalismus die Subjektivität des Subjekts in den Strukturen
auflöst, liegt auch die Kritik von Levinas (und er ist hier nicht der einzige) gegenüber
dem Strukturalismus: »Die neue Erkenntnistheorie mißt der menschlichen Subjekti-
vität keinerlei transzendentale Bedeutung mehr zu. Die wissenschaftliche Aktivität
des Subjekts wird interpretiert als ein Umweg, über welchen sich die verschiedenen
Strukturen, auf die sich die Wirklichkeit reduziert, in ein System verstauen lassen
und sich zeigen. Was man früher erfinderisches Streben eines Verstandes nannte,
wäre demnach nichts anderes als ein objektives Ereignis des Verstehbaren selbst und
in gewisser Weise eine rein logische Verknüpfung. Die wirkliche Vernunft wäre, im
Widerspruch zu den Lehren Kants, bedeutungslos. Der Strukturalismus ist der Primat
der theoretischen Vernunft.« (GE, 29/DI, 23)

90

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Gilles Deleuze (1925–1995)

Passivität. Damit wird klar gesagt, dass seine Philosophie des Ereig-
nisses nicht das Bewusstsein (aktive oder passive) untersucht, son-
dern etwas, was es überschreitet. Nicht das, was außerhalb des Be-
wusstseins als sein Objekt ist, sondern das, was vor dem Bewusstsein
ist und es noch hervortreten lässt. 78 Das, was Deleuzes Denken des
Ereignisses aufdeckt ist, das »Transzendentale«:
»Nur eine Theorie singulärer Punkte ist in der Lage, sie Synthese der Per-
son und die Analyse des Individuums, wie sie im Bewusstsein vorhanden
sind (oder sich bilden) zu überschreiten. […] Wenn sich die von namenlo-
sen und nomadischen, unpersönlichen und präindividuellen Singularitäten
wimmelnde Welt öffnet, betreten wir endlich das Feld des Transzendenta-
len.« (LS, 135/125)
Dieses »transzendentale Feld« (champ transcendental) (LS, 130/120)
ist transzendental, weil es nur jenseits der Erfahrung gedacht werden
kann: Es ist nicht etwas, was das Subjekt hat und es ist nicht ein
Objekt, das immer ein Objekt eines Subjekts ist, wenn auch ein trans-
zendentes:
»Was ist ein transzendentales Feld? Es unterscheidet sich von der Erfah-
rung, sofern es nicht auf ein Objekt verweist und nicht einem Subjekt zu-
gehört (empirische Vorstellung).« (IL, 29/IV, 3)
Weil das transzendentale Feld sich weder in etwas (Subjekt, Welt etc.)
noch außerhalb von etwas befindet und überhaupt keine Verhältnisse
von Innen und Außen zulässt, ist es »absolute Immanenz« (imma-
nence absolue):
»Mangels Bewußtsein muß sich das transzendentale Feld als eine reine Im-
manenzebene definieren, da es sich jeder Transzendenz des Subjekts wie des
Objekts entzieht. Die absolute Immanenz ist in sich selbst: Sie ist nicht in
etwas, nicht einer Sache immanent, sie hängt von keinem Objekt ab und
gehört zu keinem Subjekt.« (IL, 29 f/VI, 3 f) 79

78
Oder wie Marc Rölli schreibt: »In diesem Sinne ist es ein primärer und ichloser
Bewusstseinsstrom, ein »unpersönliches transzendentales Feld«, das die prozessuale
Voraussetzung jedes faktischen Bewusstseins ausmacht. (Deleuze/Guattari 1991: 56–
57 [bei uns ist es: WPh, 56 f/QPh, 48 ff – L. P.]) Diese Faktizität ist somit ein sekun-
däres Phänomen.« (Rölli(2011), 66)
79 »Interessiert man sich im Detail für eine Begriffsgeschichte der Immanenz, so wird

man sich den Arbeiten von Gilles Deleuze zuwenden. Wie kein anderer Begriff steht
›Immanenz‹ im Mittelpunkt seiner Philosophie – und zwar nicht nur in den Entwür-
fen seines ›eigenen‹, z. B. als empiristisch, strukturalistisch, nomadologisch oder auch
differenztheoretisch bezeichneten Philosophierens, sondern auch in den anderen

91

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

Wenn das transzendentale Feld jenseits der Erfahrung zu suchen ist,


heißt es nicht, dass es logisch-formal im Sinne Kants als Bedingungen
des Urteiles und der Erfahrung zu verstehen ist – diese sind an ein
Subjekt gebunden und überhaupt nur als Formen zu verstehen. Das
transzendentale Feld ist ein Feld der Ereignisse, die sich ereignen. Im
gewisse Maß könnte man sagen, dass sie sich wirklich ereignen –
Deleuze sagt: »Das reale [réel – L. P.] transzendentale Feld« (LS,
143/133). Es geht natürlich nicht um eine materielle Wirklichkeit –
es geht um das Unkörperliche, um die Oberfläche des Körperlichen.
Diese Seinsart des Ereignisses nennt Deleuze das »Virtuelle« (vir-
tuel). Die Ereignisse sind »Virtualitäten« (virtualités):
»Was man Virtuelles nennt, ist nicht etwas, dem es an Realität gebricht,
sondern das in einen Aktualisierungsprozeß eintritt gemäß der Ebene, die
ihm ihre eigene Realität verleiht. […] Auch wenn sie von ihrer Aktualisie-
rung nicht trennbar sind, so ist die Immanenzebene doch selbst ebenso vir-
tuelle, wie die sie bevölkernden Ereignisse Virtualitäten sind.« (IL, 32/IV, 6)
Virtuell zu sein, heißt nicht irreal, eingebildet, trügerisch zu sein, es
heißt genau: auf der Oberfläche zu sein, untrennbar von der Aktuali-
sierung in einem Körper zu sein und doch ihn zu transzendieren,
wobei durch das Transzendieren das Ereignis deswegen nicht zu einer
Allgemeinheit wird – es ist »real, ohne aktuell zu sein, ideal, ohne
abstrakt zu sein« (WPh, 182/QPh, 148) 80. Das Ereignis bewohnt also
einerseits das Sinnliche – es ist eine »empirische« Gegebenheit (es
gibt kein Grünen des Baumes ohne den Baum). Andererseits über-
steigt es das empirische Datum, ist das »Unsinnliche« (l’insensible)
(DW, 182/DR, 182). So nennt Deleuze seine Philosophie »transzen-
dentalen Empirismus« (empirisme transcendantal) (DW, 187/DR,
187). 81 Der Empirismus wird transzendental, weil er vom sinnlich

(klassischen) Philosophen gewidmeten Monographien. […] Tatsächlich ist es möglich,


am Leitfaden einer Klärung des Immanenzbegriffs die eigentümliche Originalität und
Radikalität der Deleuze’schen Philosophie zu rekonstruieren.« (Rölli(2011), 32) Wir
werden gleich sehen, inwiefern die Immanenz wichtig für unser Verständnis des Er-
eignisses sein kann. Es geht darum, dass das Ereignis nicht ein Gegenüber zu einem
Subjekt bildet und dass es nicht ausgehend von einem Pol (entweder vom Subjekt oder
vom Objekt) betrachtet werden darf, sodass es dann immer eine Transzendenz zu dem
anderen Pol darstellt. Es ist eher selbst ein Verhältnis, außerhalb dessen es nichts mehr
gibt. Auch unser Verständnis des Ereignisses enthält das Moment der Immanenz, das
allerdings, im Gegensatz zu Deleuze, nicht ontologisch verstanden werden darf.
80 »Réel sans être actuel, idéal sans être abstrait.«

81
Siehe auch: IL, 29/IV, 3).

92

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Gilles Deleuze (1925–1995)

Gegebenen zum in ihnen verkörperten Sinn kommt, der aber nicht


ein abstrakter Begriff ist, sondern ein Ereignis, ein »Leben« (vie) 82:
»Das transzendentale Feld definiert sich durch eine Immanenzebene und
die Immanenzebene durch ein Leben.« (IL, 30/IV, 5)
Die sich immanent ereignenden Ereignisse, die weder im Subjekt als
das Subjektive noch objektiv als das Objektive für das Subjekt ereig-
nen – ist es nicht genau das, was auch Heidegger, Merelau-Ponty und
Levinas über das Ereignis behaupten? In der Tat. Hier gibt es aber
auch einen wesentlichen Unterschied. Für Heidegger, Merleau-Ponty
und Levinas ist die Betroffenheit durch das Ereignis ein entscheiden-
der Moment einer Ereignisphilosophie. Deswegen denkt eine solche
Philosophie notwendigerweise zwei Pole: das Ich und den Anderen.
Heidegger denkt das Dasein und das Sein, Merleau-Ponty den Leib
und das Wahrgenommene, Levinas die Subjektivität und den Ande-
ren. Diese Denker sind aber Ereignisdenker und das heißt: Das Sein
ist nicht das Sein des Daseins, das Wahrgenommene steht nicht dem
Leib entgegen, der Andere ist nicht das Objekt eines Subjekts. Und
dies führt zur folgenden Konsequenz: Das Ereignis ist nicht das Sein,
sondern das »Beziehen« der »Bezogenen« – des Daseins und des
Seins. Das Ereignis ist somit dem Dasein und Sein äußerlich, etwas,
was mit ihnen beiden geschieht – es ist die Beziehung selbst, die sich
ereignet und worin das Dasein (und das Sein) eingeworfen sind. In
diesem Sinne muss man vom Ereignis Heideggers so sprechen wie
vom Ereignis Deleuzes, nämlich als von einer strukturimmanenten
Relation und Bewegung zwischen zwei (und mehreren) Elementen,
die in einer Struktur topologisch verteilt sind. Das Sein ist nicht das
Sein des Daseins, sondern sie beide sind im Ereignis als seine Elemen-
te; sie sind an einem Ort, wo sie sich zueinander beziehen. Übrigens
ist es auch zu bemerken, dass man den Ort nur durch das Ereignis
angemessen verstehen kann, nicht umgekehrt. Auch für Merleau-
Ponty – in seinem Spätwerk – gibt es keinen Dualismus vom Leib
und der wahrgenommenen Welt. Die Wahrnehmung gehört nicht
einem Geist, der der Welt gegenübersteht, sondern ist selbst ein Er-
eignis der Welt: Sie ist »Rückkehr [retour – L. P.] des Sichtbaren zu

82Oder wie Friedrich Balke dies formuliert: »Der Empirismus ist transzendental,
wenn er das Sinnliche aus seiner komplementären Beziehung zum Intelligiblen he-
rauslöst und aus ihm kein neues erstes Prinzip macht.« (Balke(1998), 31) Siehe auch
Marc Röllis Buch: Gilles Deleuze: Philosophie des transzendentalen Empirismus.
Wien: Turia + Kant, 2003.

93

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

sich selbst« (SU, 187/VI, 187). Unsere Aufmerksamkeit wird dann


nicht mehr auf den Wahrnehmenden gelenkt, sondern auf eine Rela-
tion innerhalb des Geschehnisses der Welt. Und auch Levinas: Er
denkt nicht bloß den Anderen für die Subjektivität, sondern die
»Nähe«, wo ihr Ereignis der Begegnung stattfindet. Wenn man aber
die Nähe denkt, denkt man nicht mehr die Betroffenheit durch das
Ereignis, sondern zwei Elemente, die topologisch in einem virtuellen
Raum verteilt sind und eine Relation miteinander haben. Anderer-
seits sollte man nicht denken, dass, wenn eine Ereignisphilosophie
als das Denken der Betroffenheit durch das Ereignis notwendiger-
weise auch strukturalistisch denken muss, sie damit strukturalistisch
und der Strukturalismus zur Ereignisphilosophie wird; dass damit der
wesentliche Unterschied zwischen zwei Denkansätzen verschwindet.
Wenn das Ereignis die Begegnung mit der Transzendenz, das Bedeut-
same des Lebens sein soll, dann ist es nie nur strukturalistisch zu
fassen.
Deleuzes transzendentales Feld der Ereignisse erlaubt nicht nur
eine Möglichkeit, das Ereignis als das zu beschreiben, was sich mit
jemandem ereignet statt für jemanden sich zu ereignen. Für das Ver-
stehen des Ereignisses wäre es besonders wichtig, die Natur des Vir-
tuellen, so wie es von Deleuze charakterisiert wird, zu untersuchen.
Ein solcher Versuch ist schon von Claude Romano unternommen
werden, obwohl ohne einen expliziten Bezug zu Deleuze. Unterschei-
det Deleuze das Virtuelle von seiner Aktualisierung im Körperlichen,
so unterscheidet Romano das reine Ereignis von einer »innerwelt-
lichen Tatsache« (fait intramondain). Romano arbeitet aber durch
und durch phänomenologisch, weswegen seine Unterscheidung viel-
leicht nicht hinreichend für das Verständnis des Ereignisses ist. Wo-
rin unterscheidet sich für ihn das Ereignis als Sachverhalt von einem
wahren Ereignis? Dadurch, dass das wahre Ereignis mich betrifft, da-
durch, dass es neue Möglichkeiten (Bedeutungen) in meiner Welt er-
öffnet. 83 Das Vorübergehen einer Passantin (vgl. Baudelaire) ist für
einen eine Tatsache, für einen anderen aber ein Ereignis, weil er die
Passantin liebt, weil sie die Liebe in seine Welt hineinbringt. Aber
wenn man dies so beschreibt, entsteht eine für die Phänomenologie
(und nicht nur für sie) typische Situation: Man stellt nämlich eine
körperliche Realität vor (Passantin), auf die ein Sinn (meine Geliebte)
aufgeschichtet wird. Dies trifft sogar noch auf (den frühen) Heideg-

83
Dazu siehe: EM, 40 ff.

94

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Gilles Deleuze (1925–1995)

ger zu, obwohl er Husserl für einen solchen Dualismus kritisiert. Es


ist richtig, dass er (in seinen früheren Philosophie) behauptet, dass
uns schon von Anfang an der Sinn gegeben ist und nicht zuerst das
Sinnliche und danach der Sinn wie bei Husserl, aber für einen Dua-
lismus macht es keinen Unterschied, ob die zwei Schichten gleichzei-
tig oder nacheinander gegeben sind. Die Phänomenologie kann nicht
anders, als die Welt als dasjenige zu sehen, dem durch das Bewusst-
sein Sinn gegeben wird. Es ist vielleicht nicht falsch, aber für eine
Philosophie des Ereignisses sind die Konsequenzen nicht akzeptabel:
Wenn das Ereignis dadurch geschieht, dass ich einem Sachverhalt
Sinn gebe, dann ist es kein Ereignis als Begegnung mit dem Anderen
mehr, sondern mein Produkt. Außerdem wird es ins völlig Subjektive
verortet. Was würde aber aus dem Ereignis der Offenbarung Gottes
werden, wenn wir es als subjektiv bestimmen würden? Es würde ab-
solut nichtig gemacht. Die Phänomenologie (Heidegger in seiner Er-
eignisphilosophie, Merleau-Ponty, Marion, Romano) rettet sich, in-
dem sie sagt, dass Sinn nicht von einem Subjekt konstituiert, sondern
einem Subjekt gegeben wird – vom Anderen. Aber dies ändert die
Situation nicht, weil Sinn immer noch das ist, was der Empfänger
verstehen muss. Er ist nicht an sich, er hat keine eigene Realität –
seine Wirklichkeit hängt vom Empfänger ab. Dies kann man nicht
vermeiden. Und deswegen wird es in der Phänomenologie immer so
sein, dass Gott vom Menschen abhängt. Wir sehen: Für das Ereignis
ist sehr entscheidend, dass es von einem Sachverhalt unterschieden
wird, aber dies kann nicht so geschehen, dass man ihm einen Sinn
(einen eigenen oder fremden) gibt. Das Ereignis als das Virtuelle von
Deleuze kann hier eine Lösung anbieten. Das Vorübergehen der Pas-
santin wäre dann nicht mehr als ein durch meine Sinngebung (ich
liebe) konstituiertes ereignishaftes Faktum und auch nicht mir ge-
gebenes (ich bin passiv) ereignishaftes Faktum, sondern als ein Frag-
ment der virtuellen Realität, eine Relation zwischen Vorbeigehen,
Begegnen, Lieben etc. zu verstehen. Damit entfällt, erstens, die Frage,
was/wer den Vorrang erlebt und was/wen konstituiert – wir haben es
einfach mit einer topologischen (also gleichrangigen) Relation ver-
schiedener Elemente zu tun. In der Tat – und das haben wir schon
gesehen – muss das Ereignis auch als eine Relation innerhalb einer
Struktur beschrieben werden; zweitens – und das ist neu –, müssen
wir nicht mehr eine Unterscheidung zwischen dem Körperlichen und
Bewusstsein machen. Es ist nicht so, dass die Passantin ein Körper, das
Vorbeigehen ein physisch beobachtbarer Prozess ist, und dass da-

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

gegen ihre Schönheit, der Blick, die Liebe dem Bewusstsein zugehö-
ren. Diese Unterscheidung wird mit der Einführung des Virtuellen
ungültig gemacht. Sie alle sind Sinn-Ereignisse – unkörperlich, prä-
subjektiv. 84 Sie ereignen sich im Zwischen des Körpers (außen) und
Geistes (innen), im Zwischen des Objektiven (Feststellbaren) und
Subjektiven (Erlebbaren), auf der Oberfläche. Das Vorübergehen
eines geliebten Menschen kann man nicht sehen und die Schönheit
kann man nicht erleben – sie beide ereignen sich im Virtuellen als
bestimmte Realitäten an sich. Und kann man nicht in der Tat die Er-
eignisse genau als das Virtuelle beschreiben? Dies würde vor allem
bedeuten, dass man das Ereignis nicht als ein Gegenüber bestimmt
und die Möglichkeit gewinnt, die Einbezogenheit des Subjekts ins
Ereignis zu denken, was absolut entscheidend für das Ereignisdenken
ist.

84 In der Tat sieht Foucault in der Vermeidung dieses Dualismus von Ereignis als
Sachverhalt und Sinn und der Einführung eines körperlosen Ereignisses einen der
Erfolge des Ereignisdenken Deleuzes: »Die Phänomenologie hat das Ereignis und
den Sinn gegeneinander versetzt; entweder setzte sie das nackte Ereignis (den Felsen
der Faktizität, die stumme Trägheit des Geschehenden) an den Anfang, um es dann
der gewandten und durchdringenden Arbeit des Sinnes auszusetzen; oder sie setzte
eine vorgängige Sinngebung voraus, das um das ich herum die Welt immer schon
entworfen hat und dem Ereignis die Wege bahnt, die Plätze zuweist und die Gestalten
vorgibt. Entweder geht die Katze mit gesundem Hausverstand dem Lächeln voraus
oder der gemeine Menschenverstand des Lächelns greift auf die Katze vor. Entweder
Sartre oder Merleau-Ponty. Für sie war das Ereignis niemals auf der Höhe des Sinnes.
Die Folge ist eine Logik der Sinngebung oder Bedeutung, eine Grammatik der ersten
Person, eine Metaphysik des Bewußtseins.« (ThPh, 32/892 f) Was bietet stattdessen
Deleuze an? »Eine Metaphysik des körperlosen Ereignisses (das darum nicht auf eine
Physik der Welt zu reduzieren ist); eine Logik des anonymen Sinnes (statt einer Phä-
nomenologie der Bedeutungen und des Subjekts) […].« (ThPh, 33/893)

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Jacques Derrida (1930–2004)

»Immer wird man so tun können, als mache dies keinen Unterschied aus.«
(RG, 31/MPh, 3) 85
Man wird nicht nur »so tun können«, sondern man wird es ganz be-
stimmt tun – so wie man es schon immer getan hat. Was wird man
ganz bestimmt tun? Man wird so tun, als ob »dies keinen Unterschied
ausmacht«. Was macht hier einen bzw. keinen Unterschied aus? Der
Buchstabe a im Wort »différance«. Man hat hier zwei differente Wör-
ter: ein bekanntes – différence –, das den Unterschied bedeutet, und
eine von Derrida eingeführte Zusammensetzung von Buchstaben –
différance –, die, streng genommen, »weder ein Wort noch ein Be-
griff« (ni un mot ni un concept) (RG, 32/MPh, 3) ist. Différance be-
deutet nichts, man kann nicht fragen, was dieses Wort bezeichnet,
was mit ihm gemeint ist. Weil es so ist, wegen diesem Unterschied
»übersteigt« (passe) die différance »die Ebene des Verstandes« (ordre
de l’entendement):
»[E]r [der Unterschied – das a an der Stelle des e – L. P.] läßt sich schreiben
oder lesen, aber er läßt sich nicht vernehmen. Er läßt sich nicht vernehmen,
und wir werden sehen, worin er gleichfalls die Ebene des Verstandes über-
steigt.« (RG, 32/MPh, 4)
Wozu braucht man ein anders geschriebenes Wort différence, wenn
damit nichts gemeint wird? Um zu zeigen, dass man zwischen diffé-
rence und différance keinen Unterschied sieht, sehen kann und will,
und dies möglicherweise deswegen, weil différance nichts bedeutet.
Würde différance etwas bedeuten, würde sie auf ein Seiendes hinwei-
sen (sie ist aber »kein gegenwärtiges Seiendes« (étant-présent) (RG,
34/MP, 6)), müsste man sie nicht als différence auffassen, was sie
nicht ist. Gilt also Derrida als ein Denker der Differenz, so könnte
man vielleicht präzisieren: Er ist weniger ein Denker der Differenz

85
»On pourra toujours faire comme si cela ne faisait pas de différence.«

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

als ein Denker der In-Differenz gegenüber der Differenz. Natürlich


greifen wir damit nur einen von vielen Kontexten auf, in denen die
différance bei Derrida erscheint und etwas zu denken gibt, aber auch
einen wesentlichen – es geht um die »Dekonstruktion« (déconstruc-
tion) der »historischen Sinn-Bestimmung des Seins überhaupt als
Präsenz« (détermination historiale du sens de l’être en général com-
me présence), die auch der »Phonozentrismus« (phonocentrisme) 86
ist, also um einen der zentralsten Gedanken in der Philosophie Derri-
das. Es wäre vielleicht nicht ganz falsch zu sagen, dass die »Meta-
physik der Präsenz« (métaphysique de la présence) (SD, 348/EeD,
339), die gleichzeitig auch der Vorrang der »Stimme« (voix) gegen-
über der »Schrift« (écriture) ist, dekonstruiert werden muss, weil sie
keinen Unterschied sieht, und um diesen Unterschied zu sehen. Um
dies zu vollbringen kommt die différance zum Einsatz.
Einer von vielen Fällen, allerdings ein ausgezeichneter Fall der
Dekonstruktion ist das Buch La voix et le phénomène (1967). Es setzt
sich mit der Phänomenologie Husserls auseinander. Husserl fordert
für die Phänomenologie – so Derrida – »Voraussetzungslosigkeit«
(SPh, 10/VPh, 2). Das heißt: Will die Phänomenologie wahre Er-
kenntnis, muss sie von voraussetzungslosen Gegebenheiten aus-
gehen. Husserls »Prinzip aller Prinzipien« bestimmt diese »Rechts-
quelle der Erkenntnis« als »originär gebende Anschauung« 87, die
Derrida als »Gegenwart oder […] Gegenwärtigkeit des Sinns für eine
volle und originäre Intuition« auslegt (SPh, 11/VPh, 3). »Die Sache
selbst« – und die Erkenntnis, die Philosophie, die Weisheit begehrt
nichts anderes als die Sache selbst – ist dann gegeben, wenn sie hier
und jetzt im Bewusstsein angeschaut wird. Was Derrida in Frage
stellt, ist genau die Voraussetzungslosigkeit dieser »Gegenwart«
(présent) und »Gegenwärtigkeit«, Anwesenheit (présence) und den
daraus folgenden Wahrheitsanspruch. Die Aufgabe der Dekonstruk-
tion besteht darin, – von einer Seite – die Präsenz der Sache im Be-
wusstsein und – von anderer Seite – die Sache des Bewusstseins (den
Sinn) als eigentlich abgeleitet aufzuweisen und so ihre Ursprünglich-
keit (und damit ihre Voraussetzungslosigkeit) in Frage zu stellen. Die
différance wird hier genau die Rolle der Einführung der Differenz in
der Präsenz des Präsenten spielen, die ihrerseits genau diese Nicht-

86
»Man ahnt bereits, daß der Phonozentrismus mit der historischen Sinn-Bestim-
mung der Seins überhaupt als Präsenz verschmilzt.« (G, 26/23)
87
Siehe Husserls Ideen I: Hua III, 52.

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Jacques Derrida (1930–2004)

Ursprünglichkeit bedeuten wird. In La voix et le phénomène wird die


Dekonstruktion »am bevorzugten Beispiel des Begriffs Zeichen«
(SPh, 12/VPh, 3) durchgeführt.
Derridas Analysen zeigen, dass in der Auffassung von »Zeichen«
(signe) Husserl insbesondere an seinem »Ausdrucks«-Charakter in-
teressiert ist (SPh, 28 f/VPh, 17 f). Ein Zeichen als Ausdruck drückt
eine Bedeutung aus, hat einen Gegenstand, der sein »idealer Sinn-
gehalt« (sens idéal) (SPh, 30/VPh, 19) ist. Mehr noch: Husserl ist
nicht nur an dem Ausdruck interessiert – sein Vorhaben ist, die Sphä-
re der idealen Bedeutung von allem Sinnlichen (von physiologischen,
psychischen Prozessen jeder Art, von subjektiven Akten des Ausdrü-
ckens etc.) zu befreien. Es ist »die Jagd nach der unangetasteten Rein-
heit [pureté – L. P.] des Ausdrucks« (SPh, 34/VPh, 22). Was ist cha-
rakteristisch für diese reine Sphäre des Ausdrucks? Es gibt hier drei
wesentliche Aspekte, die miteinander verbunden sind. Erstens hat der
Ausdruck nichts Sinnliches mehr an sich, er darf nicht mehr durch
etwas Sinnliches (Worte, Schriftzeichen, Geste etc.) vermittelt wer-
den, sich mit ihm vermischen. Dies ist aber nur – Derrida zitiert hier
Husserl – im »einsamen Seelenleben« möglich (SPh, 58–60/VPh, 45–
47):
»Im ›einsamen Seelenleben‹ sollte mir also die reine Einheit des Ausdrucks
als solche endlich zurückerstattet werden.« (SPh, 58/VPh, 45)
Wo findet man also den Ausdruck in seiner Reinheit, der die ideale
Bedeutung ist? Nur im Bewusstsein, im Inneren, dann, wenn man bei
sich selbst ist. Die Bedeutung ist eine unvermittelte, zu sich selbst
gekommene Bedeutung: das Bewusstsein. Die Gegenwart und Ge-
genwärtigkeit der Bedeutung bei sich selbst ist das Bewusstsein:
»[…] wobei ›Bewußtsein‹ nichts anderes bedeutet als die Möglichkeit der
Selbstgegenwart des Gegenwärtigen in der lebendigen Gegenwart.« (SPh,
17/VPh, 8) 88
In ihrer Reinheit und Idealität enthält die Bedeutung also nichts
Sinnliches mehr und ist die Selbst-Präsenz des Bewusstseins. Aber
wie – und damit kommen wir zum dritten Aspekt – realisiert sich
diese Selbst-Präsenz der Bedeutung und des Bewusstseins? Die Ant-

88»[…] »conscience« ne voulant rien dire d’autre que la possibilité de la présence à soi
du présent dans le présent vivant.«

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

wort auf diese Frage äußert gleichzeitig einen der zentralsten Gedan-
ken in Derridas Philosophie:
»Doch da sein Ideal-Sein nichts ist außerhalb der Welt, muß es in einem
Medium konstituiert, wiederholt und ausgedrückt werden, das die Gegen-
wärtigkeit und die Selbstgegenwart der Akte, die es meinen, nicht antastet:
ein Medium, das sowohl die Gegenwärtigkeit des Gegenstandes im Ange-
sicht der Anschauung als auch die Selbstgegenwart, die absolute Nähe der
Akte zu sich selbst, wahrt. Wenn die Idealität des Gegenstandes nur sein
Sein-für ein nicht empirisches Bewußtsein ist, dann kann sie nur in einem
Element ausgedrückt werden, dessen Phänomenalität nicht die Form der
Weltlichkeit hat. Die Stimme ist der Name für dieses Element. Die Stimme
hört sich, versteht sich (s’entend).« (SPh, 102 f/VPh, 84 f)
Die Bedeutung ist unvermittelt und ideal da durch die Stimme, die
gleichzeitig spricht und hört, dass und was sie spricht. Dieses »Sich-
sprechen-hören« (s’entendre-parler), diese »Selbstaffektion« (auto-
affection) (SPh, 106/VPh, 88) ist das Bewusstsein – »Die Stimme ist
das Bewußtsein«. (SPh, 108/VPh, 89) 89
Idealität-Geist-Stimme gegen Materialität-Körper-Schrift: die-
ser Dualismus und der Vorrang des Ersteren sind zwei wesentliche
Aspekte, die – nach Derrida – nicht nur den Husserl’schen Ansatz
charakterisieren – sie sind typisch für die ganze Metaphysik. Durch
das Beispiel von Husserl zeigt Derrida in La voix et le phénomène,
wie die Metaphysik, die für ihn genauso wie für Heidegger die ganze
bisherige Philosophie ist, im Allgemeinen denkt. Heidegger hat in
seiner Metaphysikkritik besonders den »Idealismus« in Frage gestellt,
er hat nämlich gefragt, ob wirklich alles, was es zu denken gibt, auf
einen Begriff und seinen idealen Gehalt zu reduzieren ist. Nun, das
Sein (schon in Sein und Zeit und später als Ereignis) war für ihn
außerhalb der Begrifflichkeit und damit Idealität, außerhalb des vor-
stellenden und sich selbst vorstellenden Denkens. Levinas war derje-
nige, der auf die Einsamkeit des metaphysischen Geistes hingewiesen
hat, auf sein Nicht-Wollen und auf seine Unfähigkeit, das Andere zu
denken. 90 Derrida fügt der Diagnose über die Metaphysik noch ein

89 Weil die Bedeutung in der Metaphysik eine tiefe Verbindung mit der Stimme hat,
schlägt Derrida in La voix et le phénomène vor, das deutsche Wort »Bedeutung« als
»vouloir-dire« zu übersetzten – die Bedeutung ist das, was ich sagen will, was ich
meine (SPh, 29/VPh, 18).
90
Auch Derrida weist darauf hin, dass die Metaphysik, insofern sie das Ideale sucht,
jede Andersheit ausschließen muss: »Die Beziehung zum Anderen als Nicht-Gegen-
wärtigkeit ist also die Unreinheit des Ausdrucks. Um die Anzeige in der Sprache zu

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Jacques Derrida (1930–2004)

weiteres Symptom hinzu: das Zeitalter der Metaphysik ist die


»Epoche der phoné« (époque de la phoné) (SPh, 101/VPh, 83).
»Die Geschichte der Metaphysik ist das absolute Sich-sprechen-hören-wol-
len.« (SPh, 138/VPh, 115)
Dieses wesentliche Merkmal der Metaphysik behandelt Derrida in
seinem Werk De la grammatologie (1967). Dort heißt es, dass die
»Geschichte der Metaphysik« »immer schon Erniedrigung der Schrift
[écriture – L. P.]«, »Verdrängung der Schrift aus dem ›erfüllten‹
gesprochenen Wort [parole – L. P.]« gewesen ist (G, 11 f/11 f). Die
Metaphysik bedeutet »Privileg der phone [phonè – L. P.]« (G, 18/17)
und sie ist eine der »phonetischen Schrift« (écriture phonétique)
(G, 11/11). Die Aufgabe der Dekonstruktion besteht darin, diese in
der Tiefe liegenden und für die Metaphysik selbst unsichtbaren
Strukturelemente ihres Denkens aufzuzeigen und gleichzeitig damit
einen Ausweg zu eröffnen.
Derrida hat also gezeigt, dass die Phänomenologie Husserls
durch und durch die metaphysische Einstellung bewahrt. Sie sieht
das Zeichen nur in seiner Ausdrucks-Funktion, also in seiner Funk-
tion, eine ideale, geistige Bedeutung durch das gesprochene Wort im
einsamen Seelenleben präsent sein zu lassen. Alles andere im Zeichen
kann und muss reduziert werden, es spielt keine Rolle, es macht kei-
nen Unterschied. Die ideale Bedeutung wird zu einer Totalität – es
gibt nur sie, »alles spricht«, sein heißt sprechen, Bewusstsein heißt
hören, was gesprochen wird, oder auch zum Sprechen bringen. Es gibt
kein Außerhalb mehr von den Stimmen, die etwas sagen, die etwas
präsentieren. Alles wird zum Zeichen, dessen Aufgabe es ist, etwas zu
sagen, etwas zu präsentieren. Das durch das Zeichen Repräsentierte
ist wiederum nur ein Zeichen, das zum Bewusstsein gehört und ver-
standen werden kann und so weiter ad infinitum. In De la gramma-
tologie sieht Derrida in der Gegenwart eine »Inflation des Zeichens«
(inflation du signe) (G, 16/15). Er nennt sie sogar »Krise« (crise)
(ebd.). Sie bedeutet nichts anderes als dies:
»Das Signifikat fungiert darin seit je als ein Signifikant. […] Es gibt kein
Signifikat, das dem Spiel aufeinander verweisender Signifikanten entkäme,
welches die Sprache konstituiert, und sei es nur, um ihm letzten Endes wie-
der anheimzufallen.« (G, 17/16)

reduzieren und endlich die reine Ausdrücklichkeit zurückzugewinnen, muß man also
die Beziehung zum Anderen außer Kraft setzen.« (SPh, 57/VPh, 44)

101

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

Jede Metaphysik ist der Vorrang der Stimme, des gesprochenen Wor-
tes, das gleichzeitig spricht, also ein Zeichen gebraucht (Signifikant)
und gleichzeitig hört, was es sagt (Signifikat). Diese Selbstaffektion
ist die Gleichzeitigkeit und damit die Gleichheit von Signifikant und
Signifikat. Es ist für die Metaphysik also unvermeidlich, dass sie
letztendlich dazu kommt, dass es kein Außerhalb der Sprache gibt.
Man könnte denken, dass diese postmoderne Ansicht, dass alles Zei-
chen ist, mit der Metaphysik bricht, aber für Derrida ist sie nur eine
wesentliche Konsequenz der Metaphysik. Es geht um die Verlage-
rung jeder Gegebenheit in den Geist – in seiner lebendigen Gegen-
wart, in der er spricht und hört und auf diese Weise lebt – und um
maximale Reduktion und sogar Erniedrigung des Nicht-Geistigen. 91
Die Reduktion des Zeichens auf die Präsentation des Gegen-
wärtigen im Bewusstsein, die Reduktion aller Gegebenheit auf die
Gegebenheit für das Bewusstsein in seiner lebendigen Gegenwart –
ist dieser Totalitarismus der Präsenz und die Bestimmung dieser Prä-
senz als »Quelle«, als Anfang (alles hat schon immer gesprochen) und
Ende (alles kann und muss zum Sprechen gebracht werden) das letzte
Wort? Kann man diese indifferente Totalität brechen? Das ist die Fra-
ge Derridas. Es ist die Frage danach, ob sich etwas der Präsenz im
Geist entzieht; es ist die Frage nach der Schrift; es ist die Frage nach
dem Anderen; und es ist die Frage nach dem Ereignis. Der Totalität
kann man nur das entziehen, was sich von ihr unterscheiden kann.
Die Dekonstruktion der Totalität ist die Frage nach der Differenz; es
ist die Frage nach der Macht der Totalität, immer und überall, die
Differenz abzuschaffen; es ist die Frage, ob die Philosophie sich dieser
Macht entziehen kann, um die Differenz zu bewahren.
Die reine Sphäre der »Gegenwärtigkeit des Sinns« und die Re-
duktion von allem Unreinen und Nicht-Gegenwärtigen –heißt so zu
tun, als ob es keine Differenz gäbe. Gibt es aber Differenz in der Prä-

91 In der Tat ist für Derrida nicht alles Zeichen als die Anwesenheit der (abwesenden)
Sache, die gelesen werden kann. Das Zeichen selbst ist nämlich kein Zeichen – es ist,
wie wir später sehen werden, »Urschrift«. Und genauso wenig ist alles Metapher.
Entzieht die Urschrift der Präsentation im Zeichen, entzieht der Begriff der Metapher
seiner Bestimmung als Metapher: »Wollte man alle metaphorischen Möglichkeiten
der Philosophie erfassen und klassifizieren, so bleibe mindestens eine Metapher
immer ausgeschlossen, bliebe außerhalb des Systems: Zumindest diese, ohne die der
Begriff der Metapher nicht konstruiert werden könnte, oder, um eine ganze Kette zu
synkopieren, die Metapher der Metapher.« (RG, 240/MPh, 261) Es geht darum, dass
immer ein Rest von der Präsenz übrig bleibt, der nicht in der Gegenwart des Bewusst-
seins angeschaut werden kann.

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Jacques Derrida (1930–2004)

senz? Oder ist sie in der Tat eine »ungeteilte Einheit« (unité indivise)
(SPh, 83/VPh, 67), also nicht zusammengesetzt und so unabgeleitet,
voraussetzungslos und ursprünglich? Man könnte einen Jetzt-Punkt
annehmen, der nicht weiter geteilt werden kann, doch er wird immer
als ein Punkt einer Zeitlinie gedacht, also als ein Teil eines Ganzen,
wo er in Beziehung mit anderen Teilen tritt. Nur so kann auch die
Präsenz der Bedeutung und die Selbst-Präsenz des Bewusstseins
gedacht werden – als ein ausgedehnter Augenblick, wo das Jetzt das
vergangene und zukünftige Jetzt in sich trägt:
»Man wird dann sehr schnell gewahr, daß die Gegenwärtigkeit der wahr-
genommenen Gegenwart als solche nur in dem Maße erscheinen kann, wie
sie kontinuierlich mit einer Nicht-Wahrnehmung, nämlich der primären
Erinnerung und der primären Erwartung (Retention und Protention), Ver-
bindungen eingeht.« (SPh, 88/VPh, 72)
Trotzdem – und hier kommt die Nicht-Beachtung der Differenz zum
Vorschein – wird diese zusammengesetzte Gegenwart als ein Jetzt
gedacht:
»Nichtsdestoweniger bleibt diese Extension von der Selbstidentität des Jetzt
als Punkt – als »Quellpunkt« – her gedacht und beschrieben.« (SPh, 85/
VPh, 69) 92

92 Husserl – so Derrida – muss diese ausgeweitete Gegenwart trotzdem als ursprüng-


lich gedacht haben, sonst könnte er nicht die lebendige Gegenwart der Bedeutung im
Bewusstsein als Quelle der Erkenntnis setzen. Käme es aber dazu, dass sich diese
lebendige Gegenwart nicht als eine »einfache« (simple) herausstellen würde, würde
seine ganze Erkenntnistheorie zusammenbrechen: »Wenn die Punktualität des Au-
genblicks ein Mythos, eine räumliche oder mechanische Metapher, ein geerbter me-
taphysischer Begriff oder dies alles zugleich ist, wenn die Gegenwart der Selbstgegen-
wärtigkeit keine einfache ist, wenn sie sich in einer originären und irreduziblen
Synthesis konstituiert, dann ist Husserls gesamte Argumentation in ihrem Grundsatz
bedroht.« (SPh, 84/VPh, 68) Um mögliche Missverständnisse zu vermeiden: Es geht
nicht darum, dass Husserl das Jetzt als einfach und nicht-konstituiert betrachtet. Das
tut er nicht – das innere Zeitbewusstsein wird konstituiert bzw. konstituiert sich
selbst. Es geht darum, dass trotz dieser Konstitution das Bewusstsein das Bewusstsein
des Jetzt ist, als ob es keine Konstitution gäbe. Mehr noch: Die Konstitution ist ja
gerade dafür da, um etwas zur Gegenwart zu bringen. Die Konstitution des Zeitbe-
wusstseins ist die Konstitution einer ausgedehnten Gegenwart, sodass das Vergange-
ne und Zukünftige vergegenwärtigt werden können. Durch diese Reduktion der Dif-
ferenz erscheint das Jetzt einfach. Das Bewusstsein fungiert für Husserls als
Reduktion der Differenz, als der Prozess, den das Jetzt einfach macht. Wenn es sich
herausstellen würde, dass die Synthese »originär und irreduzible« ist, wäre diese Ein-
fachheit bedroht.

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Damit entsteht eine verkehrte Lage: Ist das Jetzt der Wahrnehmung
als originär, ursprünglich, und gleichzeitig als nicht einfach, nicht
originär, nicht identisch mit sich selbst bestimmt, so wird diese in sich
ausgedehnte Gegenwart »originärer« als die phänomenologische Ori-
ginarität selbst|«| (SPh, 92/VPh, 75). So fragt Derrida:
»Daß diese Falte in der Gegenwärtigkeit oder in der Selbstgegenwart irre-
duzibel ist, daß diese Spur oder diese différance stets älter ist als die Gegen-
wärtigkeit und ihr ihre Offenheit verschafft, verbietet das nicht, von einer
einfachen Identität-mit-sich »im selben Augenblick« zu sprechen?« (SPh,
93/VPh, 76)
Ist also die Präsenz eine einfache in sich abgeschlossene Totalität, der
Ursprung ihrer selbst, die Identität, die Gleichzeitigkeit mit sich
selbst? In der Tat nicht: Die Gegenwärtigkeit verbirgt in sich eine
»Falte« (pli), die man nicht entfalten und zur Gegenwart machen
kann. Sie ist »Nicht-Identität mit sich« (non-identité à soi) und als
solche die »Spur« (trace) der Differenzierung, der différance:
»Die lebendige Gegenwart geht aus ihrer Nicht-Identität mit sich und aus
der Möglichkeit der retentionalen Spur hervor. Sie ist immer schon eine
Spur.« (SPh, 115/VPh, 95)
Die Gegenwart selbst ist also abgeleitet, sie ist »Spur« (trace) von
dem, was immer, also irreduzibel, »älter« (plus vieille) als sie ist und
aus dem sie hervorgeht (jaillit). Somit hat die Gegenwart ein »Sup-
plement« (supplément), oder, genauer gesagt: Sie hat ein Supple-
ment, das ihr fehlt, das sie nicht erreichen kann und das auch ihr
Sich-selbst-Fehlen bedeutet. Die différance ist aber nicht nur die Tei-
lung der Gegenwart, sondern auch ihre Verzögerung; sie bedeutet,
dass die Präsenz »aufgeschoben« ist – sie ist das, was danach kommt,
irgendwann später:
»So verstanden, ist die Supplementarität sehr wohl die différance, die Ope-
ration des Differierens 93, die in einem die Gegenwärtigkeit zerspaltet und

93 Zur Différance als »Operation des Differierens« (opération du différer): Die Diffé-

rance ist ein komplexes Konzept. Für uns ist es in dem Kontext von Bedeutung, wo es
die Differenz von Präsenz und Nicht-Präsenz und die Nicht-Beachtung dieser Diffe-
renz beschreibt; wo es nicht eine definierbare Differenz vom Präsenten und Nicht-
Präsenten bedeutet, sondern nur das, dass das Präsente sich differenziert bzw. diffe-
renziert wird. Nun erinnert der Ausdruck opération du différer an Deleuzes Philoso-
phie der Differenz. Der Ausdruck opération du différer erscheint 1967 in La voix et le
phénomène. Différence et répétition von Deleuze erscheint 1968 und sagt Folgendes:
»Von der Differenz muß also gesagt werden, daß man sie macht [fait – L. P.] oder daß

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Jacques Derrida (1930–2004)

verzögert und sie so im selben Zug der ursprünglichen Teilung und dem
ursprünglichen Aufschub unterwirft. Die différance ist vor der Trennung
zwischen dem Differieren als Aufschub und dem Differieren als aktiver
Arbeit der Differenz zu denken. […] Die supplementäre Differenz vertritt
die Gegenwärtigkeit in ihrem originären Sich-selbst-fehlen.« (SPh, 118/
VPh, 98)
Insofern die différance »Aufschub« (délai) 94 ist, macht sie in der Ge-
genwart ein »Intervall« (intervalle) auf; sie ist »Verräumlichung«
(espacement).
Nun ist die différance nicht als ein »Ursprung« (origine) zu
denken:

sie sich macht, entsprechend des Ausdrucks »einen Unterschied machen«.« (DW, 49/
DR, 43). Außerdem spricht Deleuze vom »Prozess« (procès) der »Differentiation«
(différentiation) und »Differenzierung« (différenciation) (DW, 262/DR, 267) von der
»Differenzierungszeit« (temps de différenciation) (DW, 267/DR, 272) o. Ä. Derrida
und Deleuze fassen also beide die Differenz als einen Prozess auf, man könnte viel-
leicht sogar sagen: als Ereignis, obwohl das Ereignis sowohl für Derrida als auch für
Deleuze etwas anderes bedeutet. Deswegen wäre es auch nicht richtig, zu sagen, dass
jede Philosophie, die die Prozessualität, die Genese o. Ä. thematisiert, gleich eine Er-
eignisphilosophie in unserem Sinne ist. Die Philosophie des Ereignisses ist die Phi-
losophie des Anderen, der Differenz zum Anderen, nicht die Philosophie des Prozes-
ses, der Differenzierung o. Ä. Genauso wenig ist jede Philosophie der Differenz eine
Philosophie des Ereignisses – man kann die Differenz sehr unterschiedlich auslegen.
So ist das Denken der Differenz bei Derrida ein Denken des Ereignisses, aber das
Denken der Differenz bei Deleuze ist es nicht. Aus folgendem Grund: Für Deleuze
ist die Differenz das Sich-von-einander-Unterscheiden – in einer Struktur, topo-
logisch, auf der Oberfläche ohne Tiefe; sie ist Verteilung auf einer Ebene und nicht
Abfall von einem Ursprung. Eine der Hauptaufgaben von Différence et répétition ist
es, die Differenz von ihrer Interpretation als Negation (Abfall) vom Identischen (Ur-
sprung) zu befreien. Es gibt kein Identisches mehr, von dem sich etwas differenzieren
würde. Differenz ist einfach Sich-von-einander-Unterscheiden – ohne das ursprüng-
liche Identische – und deswegen eine »negationslose Differenz« (différence sans né-
gation) (DW, 12/DR, 2) Eine solche negationslose Differenz ist horizontal ausgerich-
tet. Sie ist aber vertikal ausgerichtet bei Derrida, genauso wie bei Heidegger oder
Levinas. Deswegen, weil wir es hier nicht mit auf einer Ebene strukturierten differen-
ten Elementen zu tun haben, sondern mit zwei Ebenen, von deren eine präsent sein
kann, die andere dagegen nicht – sie ist das absolut Andere. Für Deleuze gibt es nicht
das absolut Andere. Noch mehr: Das absolut Andere (absolute Negation) ist nur ein
positiver Sinn auf derselben Ebene wie jeder andere Sinn. Die différance, die »Opera-
tion des Differierens«, die »die Gegenwärtigkeit zerspaltet und verzögert« ist aber
genau die Einführung des absolut Differenten (der Präsenz), das nie positiv begriffen
werden kann.
94
Bei der Bestimmung der différance sowohl als der »aktiven Arbeit der Differenz«
(travail actif de la différence) als auch des »Aufschubs« beruft sich Derrida auf die
zwei Bedeutungen des Wortes différer (RG, 36/MPh, 8).

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

»Die différance, die diese Differenzen hervorbringt, geht ihnen nicht etwa
in einer einfachen und an sich unmodifizierten, in-differenten Gegenwart
voraus. Die différance ist der nicht-volle, nicht-einfache Ursprung der Dif-
ferenzen. Folglich kommt ihr Name ›Ursprung‹ nicht mehr zu.« (RG, 40/
MPh, 12)
Einen Ursprung zu denken, hieße, ihn als ein präsentes Seiendes zu
setzen. Die Präsenz aber, wie es festgestellt wurde, ist nicht einfach,
sondern eine in sich differenzierte und aufgeschobene Spur. Eine
Spur ist aber kein Ursprung. Insofern also der Ursprung in der Prä-
senz (wo denn sonst?) gedacht wird, muss er als eine Spur gedacht
werden – als eine in sich differenzierende Spur. Insofern aber diese
Spur nicht als bloße indifferente Präsenz gedacht wird, sondern als
die Differenzierung der Präsenz und damit ihre Ermöglichung, ist
die différance nicht bloß Spur, sondern »Urspur« (archi-trace):
»Und ich schlage vor, diese Konstitution der Gegenwart, als »originäre«,
und in irreduzibler Weise nicht-einfache, also, stricto sensu, nicht-orginäre
Synthese von Merkmalen (marques) […], Urschrift, Urspur zu nennen.«
(RG, 42/MPh, 14) 95
Die différance ist somit nicht nur die Differenzierung und Aufschub
der Präsenz, sondern sie – sofern sie in einem philosophischen Dis-
kurs erscheint – differenziert sich von sich selbst und wird zur Spur.
Die différance als Ursprung zu denken, wäre eine Nicht-Beachtung
der Differenz, nämlich der Differenz zwischen der Präsenz und dem
Ursprung; sie wäre die Totalität der Präsenz.
Die différance in der Präsenz ist aber auch eine différance im
Zeichen, insofern Zeichen vorzugsweise als Phonem, als gesproche-
nes Wort und nicht als schriftliches Zeichen gesehen wird; insofern
das Zeichen auf das reduziert wird, was es bedeutet, was es zu sagen
hat, insofern es die Anwesenheit der bezeichneten Sache in ihrer Ab-
wesenheit ist. 96 Es geht um die différance in der Sprache (langage),
insofern sie vorzugsweise als die gesprochen Sprache, als Jemandem-

95 In der Übersetzung fehlen hier die letzten zwei Wörter dieses Satzes. Im Original
heißt es: »Et c’est cette constitution du présent, comme synthèse »originaire« et irré-
ductiblement non-simple, donc, stricto sensu, non-originaire, de marques […] que je
propose d’appeler archi-écriture, archi-trace ou différance.«
96 »Das Zeichen, so sagt man gewöhnlich, setzt sich an die Stelle der Sache selbst, der

gegenwärtigen Sache, wobei »Sache« hier sowohl für die Bedeutung als auch für den
Referenten gilt. Das Zeichen stellt das Gegenwärtige in seiner Abwesenheit dar. Es
nimmt dessen Stelle ein.« (RG, 37/MPh, 9)

106

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Jacques Derrida (1930–2004)

etwas-Sagen, Jemandem-etwas-durch-das-Zeichen-Vermitteln ver-


standen wird. Ist aber das gesprochene Wort bloß Präsentation der
Sache? Ist die gesprochene Sprache ursprünglich und die Schrift nur
ein »Derivat« (G, 25/23), »Zeichen der Zeichen« (G, 53/45)? Das
Werk De la grammatologie verfolgt diese Frage. Genauso wie es bei
der Behandlung der Präsenz festgestellt wurde, ist auch das Zeichen
noch nicht alles und nicht der Ursprung:
»Wir werden zu zeigen versuchen, daß es kein sprachliches Zeichen gibt, das
der Schrift vorherginge.« (G, 29/26)
Das Zeichen ist auch es selbst (nicht nur die präsentierte Sache) und
es entsteht aus einem Differenzierungsprozess. Derrida nennt diesen
Prozess »différance« – »Urschrift« (archi-écriture) – und weist darauf
hin, dass sie als »Bedingung« (condition) für die Sprache kein Ele-
ment dieser Sprache sein kann:
»Die Urschrift, Bewegung der *Differenz 97, irreduzible Ursynthese, die in
ein und derselben Möglichkeit zugleich Temporalisation, das Verhältnis
zum Anderen und die Sprache eröffnet, kann, insofern sie die Bedingung
für jedes sprachliche System darstellt, nicht selbst ein Teil davon sein und
kann ihm folglich nicht als ein Gegenstand einverleibt werden.« (G, 105/88)
Ein Zeichen präsentiert, ihre materielle Seite – Signifikant – kann
aber nicht auf die Präsenz des Signifikats reduziert werden. Und ins-
besondere das schriftliche Zeichen, die der Phonozentrismus als abge-
leitet vom gesprochenen Wort sehen wollte, weist auf ein in sich dif-
ferierendes System hin, das ein Zeichen auftauchen lässt, selbst aber
nicht ein Zeichen für seine Präsenz ist, also nicht im Bewusstsein
präsent sein kann:
»Diese Urschrift, wenngleich ihr Begriff durch die ›Arbitrarität des Zei-
chens‹ und die Differenz thematisiert ist, kann nicht und wird niemals als
Gegenstand einer Wissenschaft anerkannt werden können. Sie ist gerade
das, was nicht auf die Form der Präsenz reduziert werden kann.« (G, 99/83)
Das Denken der différance weist also auf eine Grenze der Präsenz und
des Zeichens und damit auf die Grenze des Denkens und der Philo-
sophie hin. Das Denken will aber immer diese Grenze überschreiten
und das Nicht-Präsent-ierbare, sein Anderes denken. Dies kann nur
durch die Nicht-Beachtung von différance, durch die Nicht-Beach-
tung vom Buchstaben »a« geschehen. Das Denken sieht die Differenz

97
Im Original: différance.

107

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

und trotzdem übersieht es sie. Es sieht sehr wohl, dass die vergegen-
wärtigte Vergangenheit keine Vergangenheit mehr ist, trotzdem will
sie die Differenz nicht wahrhaben – es macht aus dem »a« ein »e«. Sie
sieht sehr wohl, dass die Schrift ein merkwürdiges, an sich selbst sei-
endes System bildet, trotzdem versteht sie es bloß als Mittel für die
Präsentation des Sinnes. Wird aber das Andere durch das Zeichen im
Denken präsentiert, hat das Denken es schon verfehlt. So heißt es in
Marges – de la philosophie (1972):
»Indem man es [das Andere – L. P.] als solches denkt, indem man es als
solches (an)erkannt, verfehlt man es. Man eignet es sich wieder an, man
verfügt darüber, man verfehlt es – oder man droht es zu verfehlen, man
versäumt, es zu verfehlen – was, im Hinblick auf das Andere, immer auf
dasselbe hinausläuft.« (RG, 14 f/MPh, II)
Derrida stellt diese Indifferenz, diesen Versuch, die Grenze zu über-
schreiten, in Frage:
»[…] wird es in diesem Buch fast ständig darum gehen, die Aufhebung
(relevance) der Grenze einer Befragung zu unterziehen.« (RG, 14/MPh, II)
Nun ist das, was das Andere des Denkens bildet, nicht Eines. Das
Denken stößt überall auf verschiedene Grenzen. Der Aufschub der
Gegenwart, die urschriftliche Genese des Zeichens sind nur zwei Bei-
spiele. Die Aufsatzsammlung (1967) L’écriture et la différence gibt
noch andere Beispiele: den Wahnsinn (in Bezug auf Foucault), den
anderen Menschen (in Bezug auf Levinas), das Leben (in Bezug auf
Antonin Artaud), das Subjekt (in Bezug auf Freud) u. a. Will Foucault
in seinem Buch Folie et déraison. Histoire de la folie à l’âge Classique
(1961) die Geschichte des Wahnsinns »von seiner eigenen Instanz
ausgehend« (SD, 58/EeD, 56) schreiben, so ist ein solcher Versuch
»unmöglich« und »wahnsinnig«:
»Indem er eine Geschichte des Wahnsinns schrieb, hat Foucault – und das
ist der ganze Wert, aber auch die Unmöglichkeit seines Buches – eine Ge-
schichte des Wahnsinns selbst schreiben wollen. Selbst. Des Wahnsinns
selbst. Das heißt, indem er ihm das Wort gibt. Foucault hat den Wahnsinn
zum Subjekt seines Buches machen wollen […].« (SD, 57 f/EeD, 55 f)
»Es handelt sich also darum, der Falle oder der Naivität zu entgehen, die
beide objektivistisch wären und darin bestünden, in der Sprache der klassi-
schen Vernunft unter der Benutzung der Begriffe […] eine Geschichte des
ungebändigten Wahnsinns selbst zu schreiben, so wie er besteht und atmet,
bevor er in den Netzen eben jener klassischen Vernunft gefangen und pa-

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Jacques Derrida (1930–2004)

ralysiert wird. Der Wille, dieser Falle zu entgehen, besteht bei Foucault
fortwährend. Er ist das Kühnste und Bestechendste an diesem Versuch. Er
gibt ihm auch die bewundernswerte Spannung. Es ist aber auch, und hier
handelt es sich nicht um ein Wortspiel, das Wahnsinnigste an seinem Vor-
haben.« (SD, 58/EeD, 56)
Ein Buch des Wahnsinns selbst ist eine »Unmöglichkeit« (impossibi-
lité), weil ein Buch immer ein Buch der Vernunft ist. »Ein Buch des
Wahnsinns« heißt die Differenz zwischen der Vernunft und dem
Wahnsinn nicht sehen, es heißt, den Wahnsinn für die Vernunft zu
halten. Und ist dies nicht genau die Definition des Wahnsinns, näm-
lich etwas für etwas anderes zu halten als es ist? Und ist es nicht das
»Wahnsinnigste« 98 überhaupt, dass sogar dann, wenn man den Unter-
schied anerkannt und der »Naivität entgehen« will, trotzdem den
Unterschied nicht sieht?
Eine ähnliche Frage stellt Derrida an Artaud und sein Projekt des
»Theaters der Grausamkeit«. Will Artaud das Theater vom Autor,
vom vorgeschriebenen Text, also vom führenden Geist, der das Leben
von sich selbst entfremdet, befreien, kann er dies doch unmöglich
durch eine Inszenierung, ein »Werk« (œuvre) tun:
»Selbst wenn Artaud das Werk und das geschriebene Werk, wie er es getan
hat, nicht wieder in ihre Rechte gesetzt hätte, weist sein Vorhaben über-
haupt (die Reduzierung des Werks und der Differenz, der Geschichtlichkeit
also) nicht auf das Wesen des Wahnsinns [folie – L. P.] hin?« (SD, 298/DeE,
289 f)
Das Wahnsinnige liegt darin, dass man das im Werk vollzogene Leben
für ein nicht entfremdetes Leben hält – eben weil das Werk den re-
flexiven Geist angeblich reduziert hat. Aber hat es dies? In der Tat
nicht. Der Wahnsinn ist die Nicht-Beachtung der Differenz; wenn
man also »a« für »e« hält.
Das Ereignis in der Philosophie Derridas stellt eine weitere
Grenze der Präsenz, des Zeichens, des Denkens dar. Die Angaben
Derridas zum Ereignis sind zwar in seiner ganzen Schaffensperiode
zu finden (dabei mehr in der späteren Philosophie), sind aber eher
knapp und hinweisend als ausführlich, eher in verschiedene Richtun-
gen zeigend als definitorisch und systematisch, eher marginal als zen-
tral; und dort, wo es um Ereignisse geht, geht es eher um bestimmte

98 Der volle Satz lautet im Original: »Mais c’est aussi, je le dis sans jouer, ce qu’il y a
de plus fou dans son projet.«

109

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

Ereignisse (Gabe, Vergebung, Gastfreundschaft) als um Ereignisse


überhaupt. 99 In diesem Sinne ist Derrida kein systematischer Ereig-
nisphilosoph. Andererseits denkt er das Ereignis, dieses Denken muss
aber im Kontext seiner Philosophie erst re-konstruiert (oder eher
konstruiert) und vielleicht dann de-konstruiert werden. Auf jeden
Fall ist sein Verständnis des Ereignisses nur im Kontext seiner Phi-
losophie der différance, Dekonstruktion der Metaphysik der Präsenz,
Grammatologie zu denken. 100 Deswegen haben wir hier eine längere
Einführung vorausgeschickt, bevor wir zur Ereignisthematik bei Der-
rida kommen.
Das »Ereignis« Derridas ist – wie wir schon gesagt haben – kein
Begriff mit einer bestimmten Definition. Als Konzept bildet es eher
ein Geflecht ohne ein Bedeutungszentrum, ein Geflecht verschiede-
ner Aspekte, die nicht aufeinander oder auf eine Oberbestimmung
reduzierbar sind. Außerdem ist dieses Geflecht nicht eingegrenzt –
es kann immer noch ein neuer Aspekt dazu kommen. 101 Wir wollen
hier versuchen, die wesentlichsten dieser Aspekte des »Ereignisses«
in Derridas Denken aufzuweisen. Das Ereignis ist nämlich: singulär,
unmöglich, jenseits der Ökonomie (bedingungslos), unvorhersehbar.
Das Ereignis als Singularität erscheint in Verbindung mit dem
Zeichen, das – wie wir gesehen haben – die Funktion der Präsentation
des Präsenten in der Selbstpräsenz (im Bewusstsein) hat. Nun, ist

99 Man kann auch Thomas Khurana zustimmen: »Das Wort »Ereignis« (événement)
fungiert in den Texten Derridas von Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der
Geometrie (Derrida 1987; frz. Orig.: 1962) bis hin zu seinen jüngsten Texten (vgl. z. B.
Derrida 2001a [Derrida: Une certaine possibilité impossible de dire l’événement –
L. P.]) in sehr unterschiedlicher Weise, mal beiläufig, mal mit Gewicht, mal als atta-
ckierte, mal als heranzitierte oder auch deutlich in Anspruch genommene Kategorie.«
(Khurana, 236)
100 Wir stimmen hier Khurana zu: »Ein erster Zug, der das Denken des Ereignisses in

der Dekonstruktion zu situieren erlaubt, liegt darin, auf eine der beständigsten und
elementarsten Bewegungen dieser Dekonstruktion zurückzukommen: die Dekon-
struktion der Metaphysik der Präsenz und damit einhergehende Infragestellung der
Werte der Gegenwart, der Präsenz, der Fülle und der Anwesenheit. Aus diesem Mo-
vens, das Derrida Philosophie bestimmt, rührt eine wesentliche Bestimmung des Er-
eignisbegriffs. Wenn dekonstruktive Unternehmungen diese Kategorie affirmativ in
Anspruch nehmen, dann nur in dem Maße wie »Ereignis« gerade nicht die pure Prä-
senz einer erfüllten Gegenwart meint.« (Khurana, 236)
101 Auch hier können wir Khurana zustimmen: »Die Bestimmungsstücke, die man in

den Texten Derridas finden kann, bilden ein unabgeschlossenes Geflecht von Elemen-
ten, die alle aufeinander bezogen sind. Sie stützen sich wechselseitig und lassen sich
nicht in einen einfachen Ableitungszusammenhang einordnen.« (Khurana, 243)

110

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Jacques Derrida (1930–2004)

diese Präsentation genügend komplex. Das Zeichen kann nur so


funktionieren, dass es als das gesehen wird, was immer das Selbe
bezeichnet, also als eine »Identität« (identité). Diese Identität muss
dann eine »Idealität« (idéalité) sein – eine Idealität in dem Sinne, dass
sie unabhängig von ständig sich verändernden empirischen Um-
ständen (das Zeichen kann zum Beispiel zu verschiedenen Zeiten,
von verschiedenen Handelnden gebraucht werden) die gleiche bleibt.
Die Identität und die Idealität des Präsenten ermöglichen dann die
»Wiederholung« (répétition) des Zeichens 102:
»Ein Phonem oder ein Graphem ist in einem gewissen Maße jedesmal,
wenn es sich in einer Operation oder einer Wahrnehmung gegenwärtig,
notwendig immer anders, aber als Zeichen und Sprache im allgemeinen
kann es nur fungieren, wenn eine formale Identität erlaubt, es wieder in
Umlauf zu bringen und es wiederzuerkennen. Diese Identität ist notwendig
eine ideale. Sie impliziert also notwendigerweise eine Repräsentation: als
Vorstellung, Ort der Idealität im allgemeinen, als Vergegenwärtigung, als
Möglichkeit der reproduzierenden Wiederholung im allgemeinen und als
Repräsentation, insofern jedes signifikante Ereignis Ersatz (ebenso für das
Signifikat wie für die ideale Form des Signifikanten) ist.« (SPh, 70/VPh,
55 f)
Das Zeichen als Präsentation ist immer die Präsentation des Wieder-
holbaren. Als die Präsentation des Wiederholbaren wird sie selbst
wiederholbar – sie wird zumindest als solches gesehen – und kann
dann als Sprache überhaupt funktionieren. Man denkt, dass das Wort
»Haus« immer das Selbe ist, ob es nun gesprochen oder geschrieben,
ob es nun jetzt oder vor 100 Jahren gesagt wird. Das Entscheidende
liegt aber darin, dass nicht nur die Bedeutung dieses Wortes als das
Identische gesehen wird, sondern auch das Zeichen selbst. Es ge-
schieht eine Reduktion der jeweiligen empirischen Umstände, die in
der Tat nicht wiederholbar sind, sondern singulär. Und diese Singu-
larität der Produktion eines Zeichens nennt Derrida »Ereignis«. Das
Ereignis ist niemals das Gesagte oder das Geschriebene, sondern das
Sagen und das Schreiben. Wollte man dieses Sagen und Schreiben
bezeichnen und beschreiben, wäre dieses bezeichnete Sagen und
Schreiben wiederum kein Ereignis mehr, sondern das Identische,
Ideale, Wiederholbare. Das Ereignis wäre dann dieses Bezeichnen
und Thematisieren, wenn man aber von diesen zu sprechen begänne,
würden sie gleich ihre Ereignishaftigkeit verlieren und so ad infini-

102
Vgl.: SPh, 13/VPh, 4.

111

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

tum. Kurz: Das Ereignis ist das, was sich dem Zeichen entzieht, die
»Einmaligkeit« (unicité):
»Ein Zeichen ist niemals ein Ereignis, wenn Ereignis unersetzliche und un-
umkehrbare empirische Einmaligkeit bedeutet. Ein Zeichen, das nur »ein-
mal« stattfände, wäre kein Zeichen.« (SPh, 69/VPh, 55)
Dieses Zitat stammt aus 1967, aber noch 1997 im Vortrag Une certai-
ne possibilité impossible de dire l’événement sagt Derrida:
»Da das Sprechen an die Struktur der Sprache gebunden ist, ist es anderer-
seits einer gewissen Allgemeinheit, einer gewissen Iterierbarkeit, einer ge-
wissen Wiederholbarkeit unterworfen und muss schon deswegen die Sin-
gularität [singularité – L. P.] des Ereignisses verfehlen.« (UES, 21/IDE, 89)
Man kann viele Schlussfolgerungen daraus ziehen, zum Beispiel: Ist
das Denken sprachlich, also denkt es einen idealen Sinn, ist das Er-
eignis undenkbar; ist das Zeichen die Repräsentation des Wiederhol-
baren, ist das Ereignis nicht präsentierbar – es kann nicht in der Prä-
senz des Denkens erscheinen, ohne seine Ereignishaftigkeit zu
verlieren etc.
Wir haben gesagt, dass das Ereignis nicht das Zeichen ist, son-
dern die Produktion des Zeichens. Dies wäre wahrscheinlich eine un-
berechtigte Einschränkung dieses Konzepts. Man kann zwar durch
dieses Beispiel sehr gut demonstrieren, was die Singularität des Er-
eignisses bedeutet, damit schöpft man aber nicht alle Möglichkeiten
des Ereignishaften aus. Es wäre vielleicht richtiger zu sagen, dass das
Ereignis ganz allgemein das ist, was sich dem Zeichen entzieht. Es ist
aber interessant, dass die Bestimmung des Ereignisses als der Akt des
Sagens 103, des Schreibens Derrida in der Nähe zu Austins Sprechakt-
theorie bringt. In der Tat setzt sich Derrida mit Austin und später mit
Searle auseinander. 104 Und 1997 sagt Derrida:

103 Wir möchten in diesem Zusammenhang auf das Werk von Dieter Mersch hinwei-

sen, dessen Ereigniskonzept sehr nah zu dieser Idee von Derrida steht. Mersch ver-
steht unter dem Ereignis das Auftauchen der Materialität des Zeichens (nicht des
Sinnes), seine materielle Gegenwärtigkeit (nicht die ideelle Gegenwärtigkeit des Sin-
nes). Siehe zum Beispiel sein Buch: Was sich zeigt: Materialität, Präsenz, Ereignis.
München: Fink, 2002.
104 Zu Austin äußerste sich Derrida im Vortrag Signature événement contexte (1971,

veröffentlicht in Marges – de la philosophie). Derridas Auseinandersetzung mit Sear-


le begann nach Searles Aufsatz Reply to Derrida: Reiterating the Differences (1977),
wo er Derridas Interpretation von Austin behandelte. Derrida antwortet zu diesem
Text in Limited Inc a b c … (veröffentlicht zuerst auf Englisch 1988 in der Aufsatz-

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Jacques Derrida (1930–2004)

»Wenn ich zum Beispiel etwas verspreche, spreche ich nicht über ein Ereig-
nis, sondern mein Sprechakt ist das Ereignis, ich verspreche, indem ich spre-
che. Ich sage »ja«, ich habe vorhin mit diesem »Ja« begonnen: Das »Ja« ist
performativ. Das ist das Beispiel der Eheschließung, das immer bemüht
wird, wenn man vom Performativen spricht: »Wollen Sie X zum Mann/
zur Frau nehmen? – Ja.« Das »Ja« bezeichnet nicht das Ereignis, es ist oder
konstituiert das Ereignis. Es ist ein Sprech-Ereignis, ein Rede-Ereignis.«
(UES, 20/IDE, 88) 105
Wenn wir aber sagen, dass die Bestimmung des Ereignisses als der
Akt des Sagens, des Schreibens Derrida in die Nähe zu Austins
Sprechakttheorie bringt, dann meinen wir nur »in die Nähe«. Austins
Sprechakt ist immer noch ein empirisches Ereignis, das zum Gegen-
stand einer Theorie werden kann. Eher als ein Wesen für eine Unter-
suchung zu sein, ist »Sprech-Ereignis« (parole-événement), ein Re-
de-Ereignis (dire-événement) für Derrida das, was eben diesem
Wesen als sein »Symptom« (symptôme) existiert und nicht ver-
gegenständlicht werden kann. 106
Wenn es also um die Singularität des Ereignisses geht, muss man
unterscheiden: Es ist unmöglich, ein Ereignis zu sagen, ohne seine
Singularität zu verfehlen, aber das Ereignis ist als ein Sprech-Ereig-
nis, ein Rede-Ereignis möglich. Es ist möglich, aber es ist unmöglich,
dieses Ereignis durch das Zeichen in der Präsenz des Bewusstseins,
das nur das Identische, Ideale und Wiederholbare besitzen kann, zu
repräsentieren. Wir haben aber schon darauf hingewiesen, dass es
nicht richtig wäre zu behaupten, dass Derrida das singuläre Ereignis,
das unmöglich für das Zeichen ist, ausschließlich in einem »Sprech-

sammlung Limited Inc, die neben der Antwort auf Searle auch Derridas früheres
Essay zu Austin und ein Interview enthält).
105 Diese Übersetzung ist leider alles andere als präzise, insbesondere der erste Satz,

der im Original lautet: »Quand je promets, par exemple, je ne dis pas un événement, je
fais l’événement par mon engagement, je promets ou je dis.« Es geht hier also nir-
gendwo um einen »Sprechakt«, der ein philosophischer Begriff ist, sondern nur da-
rum, dass »ich nicht ein Ereignis sage«, sondern »das Ereignis durch mein Verspre-
chen schaffe«. Der letzte Satz bestätigt dies: »Le »oui« ne dit pas l’événement, il fait
l’événement, il constitue l’événement.« Außerdem wird im ersten Satz des Originals
kein Wort hervorgehoben, während in der Übersetzung »ist« hervorgehoben wird.
106 Das Ereignis ist das, »das sich weder in Form einer Feststellung, einer theoreti-

schen Aussage oder einer Beschreibung vollzieht, noch in Form einer performativen
Produktion, sondern nach Art eines Symptoms. Ich schlage dieses Wort als dritten
Term vor, jenseits der wahrheitsfähigen Aussage und der Performativität, die das Er-
eignis hervorbringt.« (UES, 48/IDE, 104 f)

113

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

Ereignis« sieht. Es gibt viele davon. Une certaine possibilité impossi-


ble de dire l’événement nennt folgende: »Geständnis« (aveu), »Gabe«
(don), »Vergebung« (pardon), »Erfindung« (invention) und »Gast-
lichkeit« (hospitalité). Ein inzwischen sehr bekannt gewordenes Buch
Derridas – La fausse monnaie. Donner le temps I (1991) – macht die
Gabe und die Unmöglichkeit, die Singularität des Ereignisses ein-
zuholen, zu seinem Thema. Es wird gefragt:
»Warum und wie vermag ich zu denken, daß die Gabe das Unmögliche ist?«
(FG, 20/FM, 22)
Die Antwort:
»Denn darin liegt das Unmögliche, das sich hier zu denken zu geben scheint.
Diese Bedingungen der Möglichkeit der Gabe nämlich (daß irgend »einer«
irgend »etwas« irgend »einem anderen« gibt) bezeichnen gleichzeitig die
Bedingungen der Unmöglichkeit der Gabe. Und das könnten wir von vorn-
herein auch anders wiedergeben [traduire]: diese Bedingungen der Mög-
lichkeit ergeben [produire] oder definieren die Annullierung, die Vernich-
tung, die Zerstörung der Gabe.« (FG, 22/FM, 24)
Das Unmögliche ist das, dessen »Bedingungen der Möglichkeit« (con-
ditions de possibilité) »gleichzeitig« (simultanément) die »Bedingun-
gen der Unmöglichkeit« (conditions de l’impossibilité) sind. Und dies
bedeutet konkret: Die Bedingungen des Erscheinens der Gabe (oder
eines anderen Ereignisses) sind die Bedingungen ihres Verschwin-
dens:
»[I]n jedem Fall existiert und erscheint die Gabe nicht. Wenn sie erscheint,
erscheint sie nicht mehr.« (FG, 26/FM, 28) 107
Nun ist diese Struktur durch das ganze Werk Derridas sichtbar. Wir
haben gesehen, dass in Bezug auf Husserl die Vergangenheit nur
durch ihre Vergegenwärtigung präsent (d. h. existierend) sein kann,
aber so tritt nur eine vergegenwärtigte Vergangenheit zum Vor-
schein, während die Vergangenheit selbst völlig hinter der Indiffe-
renz gegenüber der Vergangenheit und der Vergangenheit, die zur
Präsenz gehört, verschwindet. Ein Buch über den Wahnsinn ist nur
dann möglich, wenn man den Wahnsinn selbst sprechen lässt. Der
Wahnsinn spricht aber nicht. Wird er zum Sprechen gebracht, ver-
schwindet er. Ist es nicht merkwürdig, dass nach dem Erscheinen des

107 Im Original: »[…] en tout cas, le don n’existe pas et ne se présente pas. S’il se

présente, il ne se présente plus.«

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Jacques Derrida (1930–2004)

Buches, das den Wahnsinn sprechen lässt, wir mehr von ihm entfernt
sind als vor dem Erscheinen? Mit dem Buch des Wahnsinns gibt es
keinen Wahnsinn mehr. In dem Moment, wo ein singuläres Ereignis
im Bewusstsein reflektiert wird, verschwindet es.
Es ist sehr wichtig zu beachten, dass die Unmöglichkeit nicht
heißt, dass es etwas nicht gibt bzw. nicht geben kann. Es geht nämlich
nicht um die Unmöglichkeit (logische, physische etc.), sondern um
das Unmögliche. Das Unmögliche ist nicht einfach unmöglich:
»Nicht unmöglich, sondern das Unmögliche, die Figur des Unmöglichen
selber.« (FG, 17/FM, 19) 108
Das Unmögliche ist nicht unmöglich schon in dem Sinne, dass die
Bestimmung von etwas als »unmöglich« schon die Klassifizierung
und damit die Präsenz des Klassifizierten im Bewusstsein voraussetzt.
Die Unmöglichkeit des Unmöglichen ist genau diese Unmöglichkeit
der Präsenz – streng verstanden als die Gegenwart des Gegenwärti-
gen (des Sinnes) in der Selbstgegenwart des Bewusstseins, die wieder-
um durch die Vergegenwärtigung (Versammlung) des Vergangenen
und des Zukünftigen in einem Jetzt möglich ist. Aber diese Unmög-
lichkeit zerstört auf keinen Fall das Ereignis selbst:
»Doch das Unmögliche ist nicht nichts.« (Sch, 199Anm.37/V, 204n.1) 109
Das Unmögliche ist das, was unmöglich wird, wenn es in der Präsenz
erscheint – nur in der Präsenz hört es auf zu existieren, nicht über-
haupt. Es ist auch klar, dass damit jede Phänomenologie der Gabe und
des Ereignisses überhaupt völlig unmöglich wird. Und sie wird nur
dann möglich, wenn sie gerade unmöglich wird.
Das Unmögliche der Präsenz muss in Derridas Fall nicht unbe-
dingt wie bei Merleau-Ponty oder Levinas als eine Vergangenheit, die
niemals Gegenwart war, gedacht werden, also als das, bezüglich des-
sen man immer mit der Verspätung kommt, bezüglich dessen man
immer nur mit einer Spur (Spur wird ja als die Anwesenheit eines
Weggegangenen verstanden) zu tun hat. 110 In anderen Hinweisen
zum Ereignis – so zum Beispiel in Échographies – de la télévision
(1996) oder Une certaine possibilité impossible de dire l’événement

108 Im Original: »Non pas impossible mais l’impossible. La figure même de l’im-
possible.«
109
Im Original: »Mais l’impossible n’est pas rien.«
110 Obwohl in Derridas Texten auch das Motiv des Zu-spät-Kommens bezüglich des

Ereignisses zu finden ist. Siehe zum Beispiel: GF, 91/H, 113.

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

(1997, veröffentlicht 2001) – betont Derrida seinen Charakter des


»Kommens« (venue):
»Das Kommen des Ereignisses ist etwas, was man weder je verhindern kann
noch soll, ein anderer Name für die Zukunft selbst.« (Echo, 22/19)
Als die Zukunft (avenir) ist das Ereignis unvoraussagbar, unerwartet,
überraschend:
»Das heißt nur, dass das Ereignis als solches, als absolute Überraschung,
über mich hereinbrechen muss. Warum? Weil ich es andernfalls kommen
sehen würde und es einen Horizont seiner Erwartung gäbe. In der Horizon-
talen sehe ich es kommen, sehe und sage ich es voraus; das Ereignis aber ist
das, was niemals vorausgesagt werden kann. Ein vorausgesagtes Ereignis ist
kein Ereignis. […] Bevor es sich ereignet, kann das Ereignis mir nur als
unmögliches erscheinen. Das heißt aber nicht, dass es nicht stattfinden
kann, dass es nicht existiert; es heißt nur, dass ich es weder auf theoretische
Weise aussagen noch es vorhersehen kann.« (UES, 35/IDE, 97) 111
Erscheint das Ereignis in der Präsenz, ist es nicht mehr Kommen, ist
es nicht mehr unvorhersehbar, sondern schon »angekommen« (arrivé)
und deswegen kein Ereignis mehr:
»Ein vorhergesehenes Ereignis ist bereits gegenwärtig [présent], läßt sich
bereits vergegenwärtigen [présentable], es ist bereits angekommen und in
seinem Hereinbrechen neutralisiert.« (Sch, 192/V, 197)
Wenn ein angekommenes Ereignis schon neutralisiert ist, muss das
Ereignis das sein, was niemals ankommt. Nicht das, was wirklich nie-
mals ankommt, sondern als das, was, sogar dann, wenn es angekom-
men ist, d. h. in Präsenz erschienen ist, immer noch unmöglich bleibt:
»Selbst wenn etwas als Mögliches eintritt, wenn ein Ereignis sich als mög-
lich erweist, hört die Tatsache, dass es unmöglich hätte sein sollen […],
nicht auf, die Möglichkeit heimzusuchen. […] Es bleibt unmöglich – auch
wenn es vielleicht stattgefunden hat, bleibt es doch trotzdem unmöglich.«
(UES, 37, IDE, 98 f)
»Diese Heimsuchung ist die gespenstische Struktur der Erfahrung des Er-
eignisses, und sie ist absolut wesentlich.« (UES, 38/IDE, 99)

111 Aus irgendwelchem Grund sind in dieser Übersetzung einige wichtige Wörter

ausgelassen. Der problematische Satz sollte folgendermaßen erweitert werden (siehe


die von mir hervorgehobenen Stellen): »In der Horizontalen sehe ich es kommen,
sehe und sage ich es voraus; und [et] das Ereignis ist das, was gesagt, aber niemals
vorausgesagt werden kann [qui peut être dit mais jamais prédit].«

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Jacques Derrida (1930–2004)

Nach dem Eintreffen bleibt das Ereignis immer noch unmöglich, weil
das in der Präsenz Erscheinende (das für das Bewusstsein Angekom-
mene) es nicht ist. Das, was sich ereignet und sich ereignet hat, ist
unbegreiflich.
Das Singuläre kann nicht durch eine mit sich selbst identische
Idealität repräsentiert werden und bleibt in diesem Sinne unmöglich
– unmöglich für das Bewusstsein, unmöglich für die Sprache; unmög-
lich – das, was immer nur im Kommen ist, selbst dann, wenn es ange-
kommen ist. Derridas Ereignisbegriff enthält aber noch einen wesent-
lichen Aspekt, der oft in den von Derrida beschriebenen Ereignis-
Beispielen (Gabe, Vergebung, Gastfreundschaft etc.) auftaucht. Es
geht darum, dass das Ereignis sich außerhalb der »Ökonomie« (éco-
nomie) ereignet. Um diesen Aspekt zu verstehen, muss zuerst geklärt
werden, wie Derrida das Ökonomische versteht. Nach der Aufklä-
rung dieser Frage, werden wir auch sehen, dass die Bestimmung des
Ereignisses als außerhalb der Ökonomie seiend, sehr wohl zu den
anderen Bestimmungen des Ereignishaften passt.
Es wundert nicht, dass es um die Ökonomie ausdrücklich und
ausführlich dort geht, wo die Gabe thematisiert wird – es ist intuitiv
verständlich, dass die Gabe etwas mit Geben, Dank, Erwiderung, Wa-
ren, Wert, Schuld, Schulden etc. zu tun hat. In der Tat wird es in La
fausse monnaie sogar ganz explizit gefragt: »Was ist die Ökonomie?«
(FG, 16/FM, 17). Sie hat laut Derrida drei wesentliche Merkmale:
»Gesetz (nomos), »Haus (oikos)« und »die Idee des Tausches, der Zir-
kulation, der Rückkehr« (ebd./FM, 17 f), wobei das ganz wesentliche
Charakteristikum das des »Kreises« (cercle), der »Zirkulation« (circu-
lation) ist:
»Ganz offensichtlich steht dabei, wenn man das von einem Kreis denn sagen
darf, die Figur des Kreises im Zentrum. Sie steht im Zentrum jeder Pro-
blematik der oikonomia, ist zentral für den gesamten ökonomischen Be-
reich: zirkulärer Austausch, Zirkulation der Güter […].« (FG, 16/FM, 18)
Die Gabe als Ereignis hat Bezug zum Ökonomischen, indem sie es
»unterbricht« (interrompt), außerhalb des Gesetzes und ohne die
Rückkehr nach Hause ist:
»Die Gabe jedoch, wenn es sie gibt, bezöge sich ohne Zweifel auf die Öko-
nomie. […] Aber ist die Gabe, wenn es sie gibt, nicht auch gerade das, was
die Ökonomie unterbricht?« (FG, 16 f/FM, 18)

117

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

»Gabe gibt es nur, wenn keine Reziprozität gibt, keine Rückkehr, keinen
Tausch, weder Gegengabe noch Schuld.« (FG, 22 f/FM, 24) 112
Auch dies ist immer noch intuitiv verständlich: Die Gabe gibt es dann,
wenn man sich mit der Gegengabe nicht rechnet; wenn man sie nicht
erwartet oder sogar auffordert. Man spricht von der Gabe, wenn man
gibt, ohne sich selbst dafür zu loben; wenn man den Anderen nicht
sich schuldig fühlen lässt. Man gibt, wenn man den Wert der Gabe
nicht kalkuliert, sondern großzügig gibt etc. Dies alles würde die Un-
terbrechung der Ökonomie bedeuten. Nun gehören solche Behaup-
tungen zum üblichen, normalen, alltäglichen Gabe-Diskurs, und was
dieser Diskurs hinterfragt, ist das Bewusstsein des Gebers (oder auch
des Empfängers). Das heißt: Um die Reinheit – die Bedingungslosig-
keit – der Gabe einzuschätzen, befragt man den Geber. Wenn er nicht
gerechnet hat, wenn er keine Gegengabe fordert, dann hat er außer-
halb des Ökonomischen gegeben. Man kann genauso gut auch den
Empfänger befragen: Wenn er durch die Gabe sich nicht schuldig
fühlt, hat es eine Gabe gegeben. Der übliche Gabe-Diskurs ist somit
durch und durch phänomenologisch – es wird ausgehend vom Be-
wusstsein gedacht. Es gibt das Ereignis (der Gabe), wenn das Be-
wusstsein sagt, dass es diese und jene Bedingungen für ein Ereignis
erfüllt sind; es gibt entsprechend keine Gabe (als Ereignis), wenn et-
was diesbezüglich nicht stimmt. Das Ökonomische und auch das
Nicht-Ökonomische werden ausgehend vom Bewusstsein definiert.
Ganz kurz gesagt: Das Ereignis ereignet sich dann, wenn das Be-
wusstsein unter bestimmten Bedingungen etwas als Ereignis be-
stimmt. Hier kommt aber der entscheidende Punkt: Derrida bestimmt
das Ökonomische und damit das Nicht-Ökonomische nicht aus-
gehend vom Bewusstsein als dessen Modi in dem Sinne, dass das Be-
wusstsein entweder kalkulierend oder selbstlos agieren kann; er be-
stimmt die Ökonomie (und damit auch die Gabe, die die Ökonomie

112
Oder in Bezug auf die Gastfreundschaft: »[D]ie absolute und unbedingte Gast-
freundschaft, die ich ihm [dem absolut Anderen – L. P.] gewähren möchte, setzt einen
Bruch mit der Gastfreundschaft im gängigen Sinne, der bedingten Gastfreundschaft,
dem Recht auf Gastfreundschaft oder dem Gastfreundschaftspakt voraus.« (GF, 26 f/
H, 29) Dies bedeutet nichts anderes, als dass man den Fremden ohne jedwede Kalku-
lation, ohne jedwedes Gesetzte bedingungslos aufnimmt. Und bezüglich der Verzei-
hung gilt dasselbe: »Nur da, wo die Vergebung unmöglich bleibt, weil nur die Ver-
gebung des nicht Vergebungsfähigen Sinn hat, nur da kann Vergebung statt haben,
wenn sie überhaupt statt hat.« (UES, 46/IDE, 103 f) Die Verzeihung ist entweder
bedingungslos (also unmöglich) oder es gibt nur das ökonomische Kalkül.

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Jacques Derrida (1930–2004)

unterbricht) nicht ausgehend vom Bewusstsein. Er bestimmt das Be-


wusstsein (und damit auch seinen Gabe-Begriff) ausgehend vom
Ökonomischen, und seine These lautet: Das Bewusstsein selbst funk-
tioniert ausschließlich ökonomisch, es stellt immer Bedingungen auf.
Dies kann man nicht vermeiden. Wenn es etwas außerhalb des Öko-
nomischen geben sollte, sollte es außerhalb des Bewussteins geben.
Folglich: Wenn das Ereignis sich ereignet, gibt es kein Bewusstsein,
das es als Ereignis bestimmen würde. Diese Schlussfolgerung kommt,
wie wir sehen, sehr nahe dem, was schon über die Singularität, Un-
möglichkeit und Unvorhersehbarkeit des Ereignisses gesagt wurde.
Was heißt aber, dass das Bewusstsein ökonomisch funktioniert,
dass es etwas mit Geben und Zurückgeben, Kreis und Zirkulation zu
tun hat, weswegen im und durch das Bewusstsein keine Gabe und
kein anderes Ereignis möglich sind? Wenn das Bewusstsein als
Selbstpräsenz des Präsenten verstanden wird, hat es den engsten Be-
zug zu der Zeit. Die Zeit wird aber als Kreis verstanden:
»Eine der mächtigsten und unvermeidlichsten Metaphern, jedenfalls in der
Geschichte der Metaphysik, ist die Vorstellung von der Zeit als einem Kreis.
Demnach wäre die Zeit stets Prozeß oder eine Bewegung in der Form des
Kreises, folgte der Kreisbahn.« (FG, 18/FM, 19)
Was heißt, dass die Zeit zirkuliert? Das heißt, dass das, was wegege-
ben ist, später zurück kommt. Jeder gegebene Zeitpunkt differenziert
sich, schiebt sich auf, um in der Präsenz zurückerhalten zu werden.
Genauso kann jeder Zeitpunkt damit rechnen, dass er den nächsten
empfangen wird, den er wieder weitergeben wird, um ihn wieder zu-
rückzubekommen. Das Zukünftige, das ich erwarte, wird zur Vergan-
genheit werden, die ich in der Präsenz wieder vergegenwärtigen wer-
de und die wieder ein Zukünftiges in sich tragen wird. Ein Kreis. Die
Präsenz gibt und nimmt, gibt und nimmt. Sie ist selbst das Geben
(Erwartung) und Zurücknehmen: das Aufschieben und die Vergegen-
wärtigung. Etwas, womit man nicht rechnen kann, etwas, was nicht
zurückkehrt, ist in diesem Kreislauf nicht möglich – auch keine Gabe.
Sollte etwas diese Ökonomie unterbrechen, sollte man einen »Augen-
blick« (instant) denken, der nie in die Präsenz als Selbstpräsenz des
Vergangenen zurückkommt, einen Augenblick, »für den man keine
Zeit hat«:
»Daß […] überall, wo die Zeit als Kreis herrscht (ihr »vulgärer« Begriff, wie
Heidegger sagen würde), die Gabe unmöglich ist. Eine Gabe könnte nur
möglich sein, Gabe kann es nur geben in dem Augenblick, wo ein Einbruch

119

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

in den Kreis stattgefunden haben wird: in dem Augenblick, wo jede Zirku-


lation unterbrochen gewesen sein wird, und zu der Kondition dieses Augen-
blicks. Und überdies dürfte dieser Augenblick (der den Zeitkreis unter-
bricht, in ihn einbricht) nicht mehr zur Zeit gehören. […] Gabe gäbe es
nur in dem Augenblick, wo der paradoxe Augenblick […] die Zeit zerreißt.
So gesehen hätte man nie die Zeit für eine Gabe. Auf jeden Fall ist die Zeit
oder die »Gegenwart« der Gabe, ihr »Präsent«, nicht mehr als ein Jetzt
denkbar, das heißt als eine Gegenwart, die in die zeitliche Synthesis einge-
bunden ist.« (FG, 19/FM, 21)
Wenn sich ein Ereignis ereignet, dann ohne die Zeit, die als Präsenz
und ausgehend von der Präsenz verstanden wird; also ohne Selbst-
präsenz, ohne mich. Ich kann nur geben, wenn ich nichts davon weiß;
ich kann nur etwas erfinden, wenn ich nicht weiß, wie es dazu ge-
kommen ist, wenn es mir nicht möglich ist, dies zu wiederholen.
Angenommen, ein Ereignis hat stattgefunden (es gab eine Gabe),
oder wir hoffen, dass es stattfinden wird (wir warten auf die Ver-
gebung). Aber das Ereignis – wie wir gesehen haben – ist unmöglich
für die Präsenz oder ein Zeichen. Wenn es erscheint, verschwindet es
hinter der Erscheinung, es wird zerstört:
»[I]n jedem Fall existiert und erscheint die Gabe nicht. Wenn sie erscheint,
erscheint sie nicht mehr.« (FG, 26/FM, 28) 113
Das Bewusstsein ist also an sich ein Ökonom. Es ist nicht unüberlegt
und verschwenderisch. Es ist rechnend und versammelnd. Hat es eine
Gabe gegeben (hat es zum Beispiel ein Kind zur Welt gebracht), kehrt
es zu diesem Moment zurück, nennt sie beim Namen und behält sie
so. Oft belohnt es sich mit einer Anerkennung, oder eher immer, weil
das Erkennen schon Anerkennen ist. Demzufolge:
»Die bloße Identifikation der Gabe scheint sie zu zerstören.« (FG, 25/
FM, 26)
Gelangt das Ereignis zur Präsenz und Zeichen (was eigentlich das-
selbe ist), gibt es es nicht mehr – es verschwindet in der Allgemein-
heit des Zeichens, in dem Kreislauf des Tausches, in den Berechnun-
gen und Rechnungen. Das Bewusstsein identifiziert, anerkennt,
berechnet, tauscht gegen etwas anderes ein, stellt eine Rechnung,
macht zum Schuldner. Wenn aber ein Ereignis sich ereignet, gibt es
nichts, es wird nichts identifiziert, nichts wird behalten, um später

113 Im Original: »[…] en tout cas, le don n’existe pas et ne se présente pas. S’il se

présente, il ne se présente plus.«

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Jacques Derrida (1930–2004)

gegen etwas anderes eingetauscht werden zu können. Das Ereignis ist


reiner Verlust, allerdings ohne vorherigen Besitz. Das Ereignis ist das,
»was man nicht hat« 114 und deswegen jenseits der Ökonomie, jenseits
des Haushaltes.
Das Ereignis ist das Bedingungslose – das, was ist, ohne be-
stimmt zu werden, ohne überhaupt gesetzt zu werden; das, was man
nicht hat und deswegen auch niemals zurückbekommen wird. Reine
Gabe, unbedingte Gastfreundschaft oder Verzeihung des Unverzeih-
lichen sind einige Fälle des Bedingungslosen, die Derrida analysiert.
Aber seine Bedingungslosigkeit wird nicht vom Bewusstsein be-
stimmt, weil die Bestimmung eine Bedingung ist. Das bedeutet nicht
nur, dass das Ereignis der Bestimmungen des Bewusstseins entzieht,
nämlich, dass es ohne Identifizierung/Nicht-Identifizierung, An-
erkennung/Nicht-Anerkennung, Schuld/Nicht-Schuld etc. verläuft,
um überhaupt sein zu können. Das bedeutet auch, dass es – wenn es
einmal stattgefunden hat bzw. vielleicht einmal stattfinden wird – für
das Bewusstsein, das mit Verspätung kommt bzw. auf es wartet, völlig
unbegreiflich und unlogisch erscheint. Warum und wie, und was
überhaupt ist passiert? Das Nicht-Ökonomische, Alogische, Sinnlose,
Unerklärliche, Absurde etc. des Ereignisses stellt eine Herausforde-
rung für das Bewusstsein – den großen Ökonom – dar, die es nie
bewältigen kann. In diesem Sinne wirkt das Ereignis auf das Bewusst-
sein zerstörerisch. Aber nicht nur auf das Bewusstsein. Angenom-
men, dass das alltägliche Leben eines Einzelnen, die normalen zwi-
schenmenschlichen Beziehungen und die Gesellschaft insgesamt
durch mehr oder weniger bestimmte Regeln organisiert sind, so stellt
das Bedingungslose immer eine Gefährdung der Ordnung dar. Und
trotzdem ist genau es das Objekt des Begehrens. 115 Das Ereignis ist
trotz allem genau das, was man am meisten begehrt, insofern man
überhaupt begehrt.

114Vgl. FG, 10–14/FM, 12–15.


115
In der Tat gebraucht Derrida das Wort »Begehren« (désir) bezüglich der Gast-
freundschaft: »im Begehren nach Gastfreundschaft oder im Begehren als Gastfreund-
schaft« (GF, 91/H, 113).

121

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Alain Badiou (1937)

Die »Sache« der vorliegenden Untersuchung ist das Ereignis als Be-
troffenheit im Sinne des Aus-sich-Heraustretens. Wir haben es in der
Einleitung vorweggenommen und wir werden am Schluss die These
aufstellen, dass dieses Ereignis kein Gegenstand der Phänomenologie
(welche Erscheinungen sie auch immer behandeln würde) sein kann –
obwohl es die Betroffenheit ist und kein Gegenstand der Ontologie
(welches Seiende oder welches Sein sie auch immer behandeln würde)
– obwohl es das Aus-der-Erfahrung-Heraustreten ist. Und wir be-
haupten – mit Levinas – schon im Voraus, dass dieses »Aus-der-Er-
fahrung-Heraustreten« keine Erfahrung des »Aus-der-Erfahrung-
Heraustretens« ist, sondern das, was geschieht. Was der Erfahrung
gegeben worden ist, ist das Zu-spät-Kommen als Spur und Sehnsucht.
Deleuze als ein strukturalistischer Ereignisdenker gab uns die
Möglichkeit, das Ereignis jenseits der Phänomenologie zu denken.
Genauso wie Heideggers Ereignisdenken bietet er eine Topologie an:
Man erfährt nicht das Ereignis, man ist im Ereignis, das wesentlich
eine topologische Verteilung der Elemente (als Sinneseinheiten) ist
(diese Elemente sind zum Beispiel: Ich und Er und Ort der Begeg-
nung; Worte, die wir einander sagen, Auftauchen eines Gefühls etc.).
Obwohl Deleuze, in unseren Augen, zu ontologisch vorgeht, weil er –
durch sein Konzept des »transzendentalen Feldes« – das Bewusstsein
völlig ausschließt, behält er einen Anknüpfungspunkt zur Erfahr-
barkeit des Ereignisses, nämlich weil er es als Sinn sieht. In diesem
Kontext können wir einen weiteren nicht-phänomenologischen Er-
eignisdenker – Alain Badiou – einordnen. Um seiner spannenden
Konzeption des Ereignisses näher zu kommen, ist es hilfreich, sie
mit der von Deleuze zu vergleichen. Dies bereitet keine Schwierig-
keiten, denn Badiou hat einen solchen Vergleich schon vielerorts 116

116Dazu siehe insbesondere sein Buch: Deleuze. La clameur de l’être (1997) und das
Kapitel »L’événement selon Deleuze« in Logiques des mondes (2006).

122

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Alain Badiou (1937)

selbst gemacht. Wir möchten davon einige für uns wichtige Punkte
hervorheben. Erstens hat Deleuze versucht, »das Eine Einzige Ereig-
nis« zu denken, das sich zwar in allen Richtungen und ins Unendliche
erstreckt, aber trotzdem das Ziel der Philosophie ist. Für Badiou heißt
es: »Das Eins ist nicht.« (l’un n’est pas) (SE, 37/EeE, 31) Oder:
»Es gibt nicht »das Eine Einzige Ereignis, von dem alle anderen nur Frag-
mente und Fetzen sind«, und es kann es nicht geben.« (LW, 412/LM, 408)
Es gibt nur Vielheiten. Es gibt kein Ein Einziges Sein. Zweitens un-
terscheidet Deleuze zwar das Ereignis vom körperlichen Sein (darun-
ter auch vom »körperlichen« Sein des Satzes), aber es hat trotzdem
ein »Mindestmaß an Sein«. Das Ereignis bleibt also eine Seinsart oder
– radikal formuliert – alles ist Ereignis, das Sein ist das Ereignis, wäh-
rend für Badiou das Ereignis genau das »Was-nicht-das-Sein-als-Sein
ist« (ce-qui-n’est-pas-l’être-en-tant-qu’être) (SE, 28/EeE, 20) be-
deutet. 117 Drittens ist das Ereignis für Deleuze wesentlich ein Sinn-
Ereignis, während es für Badiou in Verbindung mit der Wahrheit
steht, und sie ist keine geistige, ideelle, sprachliche, verstandene Ge-
stalt, sondern ein unendlicher Bearbeitungsprozess von dem, was aus
dem Nichts – aus dem Ereignis – kommt:
»Als lokalisierte Dysfunktion des Transzendentals einer Welt hat das Ereig-
nis nicht den mindesten Sinn, noch ist es der Sinn. Wenn es nur als Spur
bleibt, heißt das keineswegs, dass es auf die Seite der Sprache kippen muss.
Es eröffnet nur einen Raum von Konsequenzen, in dem sich der Körper
einer Wahrheit zusammensetzt.« (LW, 412/LM, 408)
Viertens gibt es aber eine wesentliche Gemeinsamkeit zwischen bei-
den Denkern, nämlich dass sie beide das Ereignis im Rahmen des Un-
persönlichen untersuchen. Über seine Philosophie schreibt Badiou,
dass
»[…] das Motiv eines unpersönlichen transzendentalen Felds in meiner
ganzen Großen Logik dominiert und darin bis ins feinste technische Detail
als Logik des Erscheinens oder der Welten durchgeführt ist.« (LW, 407/
LM, 403)

117 Diesen Aspekt hat sehr schön Bruno Besana herausgearbeitet. Er schreibt in Bezug

auf Deleuze: »Sein und Ereignis haben eine Bedeutung (Univozität).« (Besana, 323)
Und in Bezug auf Badiou: »Badiou begreift das Sein und das Ereignis als getrennte
Instanzen, als Sein und Außer-Sein (extra-être) […].« (Besana, 326)

123

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

Das will sagen, dass Badiou eine Philosophie (an dieser Stelle die
»Logik des Erscheinens« (logique de l’apparaître)) ohne das Subjekt
(verstanden als Innerlichkeit) anstrebt. In der Tat schreibt er:
»Man versucht hier eine kalkulierte Phänomenologie. Die in diesen Bei-
spielen angewandte Methode steht in der Tat einer Phänomenologie nahe,
aber einer objektiven. Darunter ist zu verstehen, dass man die Konsistenz
dessen, wovon man spricht […], kommen lässt, aber nicht etwa, indem man
wie Husserl seine reale Existenz, sondern ganz im Gegenteil seine inten-
tionale oder gelebte Dimension neutralisiert. Man erprobt die Äquivalenz
zwischen dem Erscheinen und der Logik durch eine reine Beschreibung,
eine Beschreibung ohne Subjekt.« (LW, 56/LM, 48) 118
Damit haben wir die ersten Hinweise darauf gewonnen, wie das Er-
eignis bei Badiou zu verstehen ist: Es gehört nicht zum reinen Sein
und es hat ein wesentliches Verhältnis zu der Wahrheit als einem
vom Ereignis ausgelösten Prozess in der Welt, die als eine konkrete
Erscheinung zu verstehen ist. Um dem Konzept des Ereignisses bei
Badiou näherzukommen, müssen wir von seinem hier bereits mehr-
fach zitierten Werk – Logiques des mondes (2006) –, das die Wahrheit
thematisiert, zu seinem Werk L’être et l’événement (1988) zurück-
kehren.
Wir haben bereits gesehen, dass das Eins nicht ist. Das Sein,
nämlich das, was ist – »das, was (sich) präsentiert« (SE, 38/EeE, 32) 119
– ist immer eine »Vielheit« (multiple), eine »Mannigfaltigkeit« (mul-
tiplicité), wobei gilt, dass »jede Vielheit […] eine Vielheit von Viel-
heiten ist« (SE, 43/EeE, 37) 120. Es gibt also nur Vielheiten, und jede
solche Vielheit, die als eine Vielheit verstanden wird, nennt Badiou
»Situation« (situation):
»Ich nenne Situation jede präsentierte Vielheit. (SE, 38/EeE, 32)
Es gibt überall Situationen: alltägliche, geschichtliche, kleinere, kom-
plexere, traurige, besondere etc. Eine Situation ist, so könnte man
sagen, eine kleine konkrete Welt, etwas, was sich gerade in dem
Moment gibt, sich präsentiert. Es ist wichtig, zu bemerken, dass die

118 In unserer Terminologie würden wir eine solche Phänomenologie bzw. Logik des

Erscheinens »Ontologie« nennen, weil sie das Subjekt ausschließt. Wir weisen aber
darauf hin, dass in der Philosophie Badious die Ontologie fest definiert ist – die On-
tologie als Lehre vom Sein als Sein ist das, was die Mathematik tut: »die Mathematik
ist die Ontologie«, da »die Mathematik das Sein-als-Sein bewacht« (SE, 29/EeE, 21 f).
119 »[…] l’être est ce qui (se) présente […].«

120
»[…] tout multiple est un multiple de multiples.«

124

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Alain Badiou (1937)

Situation als eine Situation existiert – sie bildet eine Einheit, sie hat
ihre Elemente, die in einem Verhältnis zueinander stehen. Mit ande-
ren Worten: »jede Situation [ist] strukturiert« (SE, 38/EeE, 32) 121.
Jede Situation ist eine Vielheit, und jede Vielheit ist wiederum
eine Vielheit. Trotzdem ist jede Situation eine Situation: Sie wird als
eine »gezählt« (compter). Diese Eins, wie wir schon gesehen haben,
ist nicht, präsentiert sich nicht, gehört nicht zur Situation, ist nicht
ihr Element; es ermöglicht, die Situation als eine zu zählen, wird aber
selbst nicht gezählt. Damit ist es in der Situation »das Nichts« (le
rien). Uns wird also gesagt:
»[…] dass das Nichts die Operation der Zählung ist, welche als Quelle des
Eins selbst nicht gezählt wird […].« (SE, 72/EeE, 68)
Das Nichts nennt Badiou »Leere« (le vide). In terminologischer Hin-
sicht ist Folgendes wichtig: Das Eins zählt eine Vielheit zu einer
Vielheit. Damit, so könnte man vielleicht sagen, umfasst es eine Viel-
heit. Wegen dieser Funktion nennt Badiou es »Sein«: das Sein der
vielen Seienden. Aber das Eins ist nicht und damit ist auch das Sein
nicht. Und genau in diesem Kontext müssen wir den folgenden Satz
Badious interpretieren:
»Die Leere ist der Name des Seins […].« (SE, 73/EeE, 69) 122
Wir befinden uns an diesem Moment mitten in einem ontologischen
Unternehmen. Badious Beschreibung der gegebenen Lage ist onto-
logisch-mathematisch. Wenn wir aber diese formalen Analysen ein
wenig veranschaulichen, können wir uns Folgendes vorstellen: Es ist
eine konkrete Situation gegeben, zum Beispiel ein Zimmer. Hier gibt
es einen Tisch, einen Stuhl, ein Fenster, einen Sonnenstrahl, der
durch das Fenster einbricht etc. Wenn man im Zimmer steht, sieht
man dieses Zimmer und alle diese Sachen, aber man sieht nicht das
Eine dieses Zimmers – es ist nirgendwo, es wird nicht präsentiert.
Wirft man den Blick auf den Tisch, so sieht man wiederum vieles:
die Beine, die Oberfläche, die Sachen, die auf ihm liegen, aber nicht
das Eine des Tisches. Es gibt Vielheiten aber nicht das Eine. Dieses
Eine gehört nicht zum Sein, insofern das Sein nur als Vielheit ist,
das Sein-als-Sein aber nicht ist. Und meistens bleibt es auch so. 123

121 »[…] toute situation est structurée.«


122
»Le vide est le nom de l’être […].«
123 »Aber für den Moment genügt es festzuhalten, dass es innerhalb einer Situation

niemals eine fassbare Begegnung mit der Leere gibt.« (SE, 73/EeE, 69)

125

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

Jetzt können wir fragen, wie diese Analysen zum Konzept des
Ereignisses führen? Auf folgende Weise: Es wird gezeigt, dass jede 124
präsentierte Vielheit die Leere an sich hat, die nicht präsentiert ist 125,
die aber genau der Ort ist, an dem ein Ereignis als Überschuss (excès)
über das präsentierte Sein einbrechen kann. Wenn man dies ver-
anschaulicht: Durch das Fenster, das sich durch seinen weißen Rah-
men, durch den Ausblick auf die Straße, durch das Licht der Sonne
präsentiert, kann plötzlich eine leere Stelle auftauchen, durch die eine
Handgranate ins Zimmer geworfen wird und mit einer gewaltigen
Explosion alles zerstört. Nicht das Fenster selbst ist diese Stelle, son-
dern ein Punkt (point) 126 ohne Dimensionen in der Situation selbst.
Er kann überall auftauchen: Deswegen spricht Badiou von seinem
»Umherirren« (errance) (SE, 76/EeE, 70). Er kann auch im Türrah-
men auftauchen und durch ihn kann ein Polizist eintreten und sagen,
dass ich endlich für einen Mord verhaftet werde, den ich vor 11 Jah-
ren begangen habe.
Jede Situation enthält also die Leere, die nicht präsentiert ist – es
gibt nur die Vielheiten. Die Vielheit wird bei Badiou nicht nur einmal
als Eins, sondern doppelt gezählt:
»Aus der Tatsache, dass das Chaos nicht die Form der Seinsgegebenheit ist,
folgt notwendig, dass es eine Verdoppelung der Zählung-als-Eins [rédupli-
cation du compte-pour-un – L. P.] gibt.« (SE, 113/EeE, 110)
Das Resultat dieser Verdoppelung nennt Badiou »Repräsentation«
(représentation) (SE, 114/EeE, 110) oder »Verfassung« (état) (SE,
115/EeE, 111). Was bedeutet das für das Denken des Ereignisses?
Dass die Elemente einer Situation nicht nur da sind, sondern auch
als Elemente dieser Situation erfasst werden. In jeder Situation – in-
sofern sie zum ersten Mal als Eins gezählt wird – irrt unmerklich die
Leere herum. Insofern die Situation zum zweiten Mal gezählt wird,
stellt sich heraus, dass es in ihr Elemente – »Terme« (terme) – gibt,
die da sind, die präsentiert sind, aber nicht repräsentiert werden:

124 Es ist wichtig zu betonen, »dass jede [von mir hervorgehoben – L. P.] existierende
Vielheit ohne Einschränkung die Leere als Teilmenge zulässt« (SE, 108/EeE, 102).
Dies heißt nichts anderes, als dass das Ereignis überall – überall ohne Ausnahme –
auftauchen kann.
125 Badiou schreibt, dass »die Leere in einer Situation das Nichtpräsentierbare der

Präsentation ist« (SE, 74/EeE, 70).


126 Die Leere muss als »reiner Punkt« (pur point) (SE, 97/EeE, 92) gedacht werden:

»Die Leere ist der unpräsentierbare Seinspunkt jeder Präsentation.« (SE, 97/EeE, 92)

126

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Alain Badiou (1937)

»Es gibt immer Teilmengen, die, obwohl sie in der Situation als Zusammen-
setzung von Vielheiten eingeschlossen sind, nicht als Terme gezählt werden
können und also nicht existieren.« (SE, 117/EeE, 113)
Wenn wir also zu unserem Beispiel mit der Handgranate zurückkeh-
ren: In der Situation des Zimmers wandert eine Leere herum. Das
besagt die ontologische Beschreibung der Situation. Die Leere hat
keine bestimme Verortung. Wenn aber die Situation nach der Explo-
sion der Granate erfasst wird, stellt sich heraus, dass sich in ihr vorher
viele Elemente präsentiert haben und repräsentiert waren (Tisch,
Stuhl, Fenster), aber einige (zum Beispiel die Granate) nur in der
Situation da waren, ohne mitgezählt zu werden (jemand hat sich mei-
nem Fenster mit der Granate in der Hand genähert, ich wusste das
aber nicht). Die Granate gehörte nicht zur Verfassung, war unsicht-
bar. Und natürlich ist genau dieser nicht-existierende Term der kon-
krete Ort 127, durch die sich die Leere der Situation öffnet und durch
die das Ereignis einbrechen kann:
»Ein inexistenter Teil ist der mögliche Stützpunkt dessen, was die Struktur
zerstören könnte […].« (SE, 117/EeE, 113)
Einen solchen inexistenten Term nennt Badiou »singulär« (singulier)
(SE, 119/EeE, 115). Er unterscheidet einen solchen Term von einem
»normalen« (normal) Term und einem »Auswuchs«:
»Ich nenne normal einen Term, der zugleich präsentiert und repräsentiert
wird. Ich nenne Auswuchs [excroissance] einen Term, der repräsentiert,
aber nicht präsentiert wird. Ich nenne besonders (singulär) einen Term,
der präsentiert, aber nicht repräsentiert wird.« (SE, 119/EeE, 115)
Und, wie schon darauf hingewiesen, ist ein solches singuläres, d. h.
»anormales« (a-normal) Element einer Vielheit, das wiederum eine
Vielheit ist, der Ort des Ereignisses, die »Ereignisstätte«:
»Ich werde eine solche vollkommen anormale Vielheit, das heißt eine Viel-
heit, die so beschaffen ist, dass keines ihrer Elemente in der Situation prä-
sentiert wird, eine Ereignisstätte [site événementiel] nennen. Die Stätte
selbst ist präsentiert, doch »unter« ihr wird nichts von dem, was sie zusam-
mensetzt, präsentiert, so dass sie kein Teil der Situation ist. Ich werde von
einer solchen Vielheit – der Ereignisstätte – auch sagen, dass sie am Rand
der Leere liegt bzw. dass sie grundlegend ist.« (SE, 200 f/EeE, 195)

127
Die Leere ist dagegen »Nicht-Ort des Ortes« (non-lieu du lieu) (SE, 130/EeE, 128).

127

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

Achten wir darauf, dass dieses Zitat nicht nur eine Vielheit als Ereig-
nisstätte definiert, sondern auch sagt, dass die Stätte selbst präsentiert
ist, während ihre Elemente es nicht sind. Wir werden gleich sehen,
inwiefern das sehr wichtig für das Verständnis des Ereignisses ist.
Vorausgreifend können wir sagen: Die ins Zimmer eingeworfene
Handgranate ist eine Ereignisstätte, aber sie bringt mit sich eine Viel-
heit, die völlig unsichtbar ist und sich erst entfalten muss. Diese Viel-
heit wird sich als Aussagen darüber entfalten, was eigentlich ge-
schehen ist, warum es geschehen ist, was kann dies für die Zukunft
bedeutet etc. Zuerst hat man nur ereignishafte Terme, die »die abso-
lut ersten Terme sind« (termes absolument premiers) (SE, 201/EeE,
196) und »die Fragen nach der zusammenstellenden Herkunft unter-
brechen.« (interrompent le questionnement selon la provenance
combinatoire) (SE, 201/EeE, 196).
In einer Situation taucht also eine Stätte auf. Es taucht entspre-
chend dem Gesetz der Leere, die umherirrt und ein »Nicht-Ort« ist,
auf, also irgendwo – zufällig, unvorhersehbar. Sie taucht auf, wäh-
rend ihre Elemente nicht präsentiert sind. Diese Stätte in einer Situa-
tion ist »Seinsbedingung des Ereignisses« (condition d’être de l’évé-
nement) (SE, 206/EeE, 200) – ohne die Stätte, die aus Nichts
auftaucht, gibt es kein Ereignis. Aber sie ist »nur« (SE, 206/EeE, 200)
eine Seinsbedingung, trotz der Stätte:
»Es kann immer noch sein, dass keines [kein Ereignis – L. P.] stattfindet.«
(SE, 206/EeE, 201)
Was ist das Ereignis für Badiou? Er gibt ihm klare und deutliche
Definition:
»Ich nenne Ereignis der Stätte X eine Vielheit, die sich zum einen aus den
Elementen der Stätte und zum anderen aus sich selbst zusammensetzt.«
(SE, 206/EeE, 201)
Man muss diese Definition sehr genau lesen. Wir haben in einer Si-
tuation eine Vielheit, die die Stätte des Ereignisses ist. Diese Stätte
wird in der Situation präsentiert, sie ist ein Teil der Situation:
»Eine Vielheit ist allein in-der-Situation eine Stätte.« (SE, 202/EeE, 196)
Das heißt: Wenn das Ereignis geschieht, haben wir es eigentlich mit
nichts anderem zu tun als mit einer Situation – wir sind nicht irgend-
wo anders als in der Welt. Aber wir sind natürlich nicht in einer nor-
malen Situation, sondern in einer Situation, die eine Stätte – einen

128

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Alain Badiou (1937)

singulären Term – aufgewiesen hat. Diese Stätte ist erstmal nur eine
Stätte, sie ist noch kein Ereignis – sie muss erst Ereignis genannt
werden:
»Der Akt der Benennung [acte de nomination – L. P.] des Ereignisses ist das,
was das Ereignis herstellt [constitue – L. P.] […].« (SE, 231/EeE, 225)
Genau dies heißt, dass das Ereignis »aus den Elementen der Stätte
und […] aus sich selbst zusammensetzt« ist. Das Ereignis ist einer-
seits nur, insofern etwas ist, etwas präsentiert ist:
»Das Ereignis gehört zur Situation. Vom Standpunkt der Situation aus ge-
sehen, ist es, insofern es präsentiert wird.« (SE, 208/EeE, 202)
Das Ereignis ereignet sich nicht an sich selbst. Es gibt keine Ereignis-
se, es gibt nur Situationen, Stätten in den Situationen, die präsentiert
werden, sodass man bezüglich des Ereignisses sagen muss, dass:
»außer der Stätte nichts stattgefunden hat« (SE, 209/EeE, 203). 128
Andererseits:
»Ein Ereignis ist keine Ereignisstätte (es stimmt mit ihr nicht überein). Es
»mobilisiert« die Elemente seiner Stätte, aber es fügt seine eigene Präsen-
tation hinzu.« (SE, 209/EeE, 203)
Das Ereignis präsentiert also eine Stätte als ein Ereignis. Aber diese
Ereignishaftigkeit bleibt nichtpräsentiert. Das bedeutet, dass man
immer sagen kann, dass sich nichts ereignet hat. Man kann immer
sagen: Es war nichts zwischen uns, das war nur Spaß. 129 Oder mit
Badious Beispiel:
»Und tatsächlich, sollten Sie behaupten, dass die »Französische Revolution«
nur ein bloßes Wort ist, so werden Sie ohne Mühe beweisen, dass – im
Hinblick auf die Unendlichkeit der präsentierten oder nicht präsentierten
Tatsachen – nichts dergleichen jemals stattgefunden hat.« (SE, 209/EeE,
203)
Das Ereignis ist nicht, es ist Überschuss über das Sein. Deswegen
bleibt es immer fraglich, ob sich in einer Situation etwas ereignet
hat oder nicht – es ist »unentscheidbar« (indécidable) (SE, 229/EeE,
223), ob eine Vielheit als Ereignis zu benennen ist oder nicht. Man

128
Dieser Satz steht in Badious Text in Anführungszeichen, weil er hier – wie es sich
später herausstellt (SE, 222/EeE, 215) – Mallarmé paraphrasiert.
129
Mit Badiou: »Am nihilistischen Felsen kann alles scheitern.« (SE, 252/EeE, 244)

129

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

kann nur – hier bezieht sich Badiou auf Pascal und Mallarmé – darauf
»wetten« (parier) (SE, 226/EeE, 219), dass ein Ereignis stattgefunden
hat. Oder mit anderen Worten: Man muss eine »Entscheidung« (dé-
cision) treffen. Man kann nicht wissen, man kann sich nur entschei-
den und diese Entscheidung stellt eine »Wette« dar, die natürlich auch
verloren werden kann, weil diese Entscheidung (wie wir gleich sehen
werden) das Ereignis nicht produzieren kann, sodass es ab dem Punkt
der Entscheidung sicher wäre:
»Da das Ereignis in seinem Wesen eine Vielheit ist, deren Zugehörigkeit zur
Situation unentscheidbar ist, stellt die Entscheidung darüber, ob es ihr zu-
gehört, eine Wette dar, auf deren Gesetzmäßigkeit man nie hoffen kann,
insofern jede Gesetzmäßigkeit auf die Struktur der Situation zurückver-
weist.« (SE, 229/EeE, 223)
Die »Prozedur« (procédure), durch die eine Entscheidung über die
Ereignishaftigkeit einer Vielheit gefällt wird, nennt Badiou »Eingriff«
(intervention) (SE, 230/EeE, 224). Es ist aber sehr wichtig, zu verste-
hen, dass der Eingriff, der eine Situation mit der Ereignisstätte Ereig-
nis nennt, sie nicht wirklich herstellt. Ohne Eingriff, der eine Stätte
als ereignishaft qualifiziert, bleibt das Ereignis unsichtbar: Es gibt es
nicht. Wenn aber die Entscheidung das Ereignis wirklich entscheiden
könnte, wäre das Ereignis nicht unentscheidbar, es wäre Sein und
nicht Überschuss über das Sein. Das Ereignis muss immer unent-
scheidbar bleiben:
»Denn wenn es das Wesen des Ereignisses ist, unentscheidbar zu sein, dann
annulliert die Entscheidung dessen Ereignishaftigkeit.« (SE, 230/EeE, 224)
Wie müssen wir dann das Verhältnis von Ereignis und Benennung/
Eingriff/Entscheidung denken? Sodass die Benennung das Ereignis
zwar konstituiert, aber nicht als »tatsächliches« (réel) – sie ist dem
Realen »hinzugekommen« (advenu) und lässt es bloß als solches se-
hen, was eine Entscheidung fördern/fordern würde:
»Der Akt der Benennung des Ereignisses ist das, was das Ereignis herstellt,
und zwar nicht als tatsächliches – wir werden stets behaupten, dass diese
Vielheit hinzugekommen ist – sondern als eines, das für eine Entscheidung
bezüglich seiner Zugehörigkeit zur Situation empfänglich ist.« (SE, 231/
EeE, 225) 130

130
Wir haben also mit Folgendem zu tun: Einerseits gibt es tatsächliches ein Ereignis,
das es eigentlich nicht gibt (es gibt nur die Situation), andererseits wird das Ereignis
erst durch die Benennung seiend (obwohl er auch dann immer noch unentscheidbar

130

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Alain Badiou (1937)

Eine solche Konzeption kann den Verdacht erwecken, dass Vielheiten


behauptet werden, die jenseits ihrer Konstitution durch die Sprache
(Interpretation) gegeben werden. In der Tat wird ein solcher Verdacht
auch gegen Marion erhoben, weil auch er der Meinung ist, dass, wenn
alles durch den Eingriff des Subjekts entschieden wird, es keine An-
dersheit, kein Ereignis mehr gibt. Nun, im Gegensatz zu Marion, der
in vielerlei Hinsicht den Hermeneutikern nachgegeben hat, stellt sich
Badiou ausdrücklich gegen diese »konstruktivistische« (construc-
tiviste) (SE, 326/EeE, 318) Position, die er »logische Grammatik«
(grammaire logique) und »radikalen Nominalismus« (nominalisme
radical) (SE, 323/318) nennt. Das heißt: Das Ereignis ist zwar ein
Überschuss über das Sein, aber es heißt nicht, dass es eine bloße Kon-
struktion durch die Sprache ist. Wäre es so, gäbe es keine Ereignisse:
»Im Übrigen, und dies ist ein kapitaler Punkt, gibt es in der konstruktivis-
tischen Auffassung des Seins keinen Ort für das Stattfinden eines Ereig-
nisses.« (SE, 326/EeE, 320)
Damit das unentscheidbare Ereignis sich ereignen kann, reicht es nie
mit einer Stätte in der Situation, man muss noch eine Entscheidung
darüber treffen, dass es stattgefunden hat. Steht plötzlich ein Polizist
in meiner Tür, um mich zu verhaften, kann es bloß als die Folge mei-
nes vor 11 Jahren begangenes Verbrechen aufgefasst werden. Aber es
kann auch der Anfang meiner Reue sein, es kann auch Anfang eines
neuen Lebens, das durch Schuld, Vergebung und Frieden geprägt ist,
werden. Um diese neue Möglichkeit (Situation), die vor der Eröff-
nung der Leere in der präsentierten Situation nicht da war und die

bleibt). Damit ist das Ereignis »die Zwei« (le Deux) (SE, 239/EeE, 233). Es ist vor dem
Eingriff, aber eigentlich nur nach dem Eingriff. Es ist zwischen sich selbst und dem
Eingriff. Es ist also »eher ein Intervall als ein Term« (un intervalle plutôt qu’un
terme) (SE, 235/EeE, 228). Der Eingriff steht somit zwischen dem Ereignis und seiner
Benennung, durch die das Ereignis erst ist, und als solcher konstituiert er die Zeit:
»Die Zeit ist […] der Eingriff selbst, als Abstand zwischen zwei Ereignissen gedacht.«
(SE, 238/EeE, 232) Dass genau das Ereignis die Zeit konstituiert, mag vielleicht auf
den ersten Blick seltsam wirken, der Gedanke geht aber schon auf Heidegger (in Sein
und Zeit) zurück, wird von Levinas gedacht (zum Beispiel in Le temps et l’autre) und
gründlich von Claude Romano in seinem Werk L’événement et le temps herausge-
arbeitet. Für Heidegger bringt das Verstehen des Todes das Verstehen der Zeit, der
Zeitlichkeit, der Lebenszeit. Die Erfahrung des Anderen ist für Levinas die Erfahrung
des Zukünftigen – wir erfahren, wie die Zeit (die Zukunft) einbricht, indem wir den
Einbruch des Anderen erfahren. Zu Romanos Konzeption von Ereignis und Zeit wer-
den wir noch kommen. Vorläufig sagen wir nur, dass für ihn genau das Ereignis alle
Modi der Zeit konstituiert.

131

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

den Eingriff gewagt hat, Ereignis zu nennen, aufrechtzuerhalten,


braucht man »Treue« (fidélité): »Man muss sich dem Ereignis anver-
trauen […].« (SE, 247/EeE, 240) 131 Die Treue wird also folgender-
weise definiert:
»Ich nenne Treue die Gesamtheit der Vorgänge (Menge der Prozeduren),
durch die man in einer Situation die Vielheit unterscheidet, deren Existenz
von einer ereignishaften Vielheit abhängt, welche – unter dem überzäh-
ligen Namen, den ihr ein Eingriff zugewiesen hat – in Bewegung gesetzt
worden ist.« (SE, 263/EeE, 257)
Mit dem Begriff von Treue sind wir noch weiter ins Verständnis des
Ereignisses fortgeschritten. Wird das Eintreffen des Polizisten in
mein Zimmer als Ereignis bestimmt, vollzieht die Treue die ganze
Arbeit der Neuinterpretation der Situation: Sie »unterscheidet« näm-
lich die Vielheit, die dann als Ereignis gilt. Es ist die Treue, die sagen
lässt: Dieser Tag (Element Nr. 1), dieses Zimmer (Element Nr. 2), die-
ses Eintreffen (Element Nr. 3), diese Verhaftung (Element Nr. 3), die
darauf folgende Strafe (Element Nr. 5) ist ein Ereignis gewesen. Die
Treue – als »Operation« (opération) (SE, 264/EeE, 258) – unterschei-
det diese Elemente von anderen, die nicht zur ereignishaften Vielheit
gehören, zum Beispiel das, was ich an diesem Tag zum Frühstück
gehabt hatte. Obwohl in einem anderen Fall auch das zum Element
eines Ereignisses werden könnte. Ich würde dann später sagen: Der
Kaffee am Morgen dieses Tages war geschmacklos – verbraucht wie
mein bisheriges Leben. Die Butter hatte ihr Gelb verloren und hoffte
auf eine Veränderung. Und wiederum ist wichtig zu bemerken, dass
durch diese Zusammenfügung der Elemente, die durch die Treue ge-
leistet wird, das Ereignis deswegen nicht seiend wird. Genauso wie
man in Bezug auf die Vielheit »Französische Revolution« immer
noch behaupten kann, dass sie nie stattgefunden hat, kann man in
Bezug auf die neu konstruierte Vielheit – auf die ereignishafte Situa-
tion also – nicht sagen, dass sie real ist: so real, wie die Bäume, Bänke
und Wege eines Parks, die im Verhältnis zueinander stehen und topo-
logisch beschreibbar sind. Die Treue macht nichts seiend, sie ist keine
Verfassung, keine Operation der »Ontologisierung« (ontologisation)
(SE, 269/EeE, 263). Das Ereignis ist nicht. Das Ereignis ist nur eine
Vielheit, der das Ereignis seinen Namen gegeben hat, der es aber des-
wegen nicht seiender macht.

131
»Il faut se confier à l’événement […].«

132

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Alain Badiou (1937)

Wenn die Treue die Prozedur der Unterscheidung einer ereignis-


haften Vielheit ist, so ist die »Wahrheit« (vérité) ihr Ergebnis. 132 An
diesem Punkt muss man sehr aufmerksam sein: Die Treue unter-
scheidet im Namen des Ereignisses eine Vielheit, die nicht präsentiert
ist und in diesem Sinne ein »Ununterscheidbares« (l’indiscernable)
(SE, 369/EeE, 361) darstellt – genauso wie sie vor der Entscheidung
»unentscheidbar« war (und geblieben ist). Die Wahrheit bezieht sich
also auf eine ununterscheidbare Menge, in Bezug auf die eine Unter-
scheidung vorgenommen worden ist. Weil es sich aber um ein Un-
unterscheidbares handelt, können sich die Ergebnisse der Unterschei-
dung – die Wahrheit also – nicht direkt auf es beziehen, d. h. sie kann
es nicht »bezeichnen« (indiquer) (SE, 370/EeE, 362). Die Wahrheit
sagt folglich etwas über etwas aus, aber das, worüber sie etwas sagt,
ist nicht in der konkreten Welt aufzeigbar. Damit unterscheidet sie
sich vom »Wissen« (savoir), das Badiou wie folgt definiert:
»Das Wissen ist die Fähigkeit, in der Situation die Vielheiten zu unterschei-
den, die diese oder jene Eigenschaft besitzen, welche ein expliziter Satz
(oder eine Menge von Sätzen) der Sprache bezeichnen kann.« (SE, 370/
EeE, 362)
Damit hat die Wahrheit in der Philosophie Badious auf keinen Fall
eine negative Konnotation. Es ist richtig, dass sie keinen Sachverhalt
beschreibt – sie beschreibt nicht das, was ist (zum Beispiel mein Zim-
mer); sie produziert nicht »gültige« (véridique), sondern »wahre«
(vrai) Aussagen (SE, 374/EeE, 367); sie generiert das, was sein wird
(Reue und Vergebung); sie produziert das, was jetzt wahr und erst
später gültig sein wird (wenn mir vergeben worden ist, aber jetzt bin
bloß unterwegs zur Vergebung – die Vergebung ist zu diesem Zeit-
punkt wahr, aber nicht gültig). Sie ist damit eine »generische Man-
nigfaltigkeit« (multiplicité générique) (SE, 401/EeE, 391). Es gibt
noch einige ganz wichtige Punkte, die in Bezug auf die Wahrheit ge-

132
Obwohl Badiou genauso auch von der »Wahrheitsprozedur« (procédure de vérité)
spricht. Siehe zum Beispiel: Badiou/Tarby, 17/19, 58/60. Es ist wichtig zu beachten,
dass Badiou grundsätzlich vier Wahrheitsprozeduren zulässt: »Es gibt vier von mir so
genannte generische Prozeduren: die Liebe, die Kunst, die Wissenschaft und die Poli-
tik.« (SE, 31/EeE, 23) Die Philosophie selbst stellt für Badiou keine Wahrheitspro-
zedur dar, sondern beschäftigt sich mit diesen vier in der Welt sich ereignenden Pro-
zeduren. Deswegen sind sie für die Philosophie ihre »Bedingungen« (conditions).
Dazu siehe Badious Werk: Conditions (1992) und die Gespräche mit Fabien Tarby:
La philosophie et l’événement. Entretiens. Suivis d’une courte introduction à la phi-
losophie d’Alain Badiou (2010).

133

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

sagt werden müssen. Erstens: Die Wahrheit beschreibt nicht die Ele-
mente der Situation, sondern fügt verschiedene Elemente zu einer
Vielheit zusammen. Damit produziert sie nicht wahre Aussagen über
die einzelnen Elemente, sondern über die ganze Situation (sie gibt
einer Situation den Namen):
»Denn was die Treueprozedur auf diese Weise erreicht, ist nichts anderes als
die Wahrheit der Situation insgesamt.« (SE, 382/EeE, 374)
Zweitens: Da die Wahrheit über das Ununterscheidbare spricht, kann
ihr Prozess der Unterscheidung nie abgeschlossen werden. Sie wird
unendlich lange die ereignishafte Situation ermitteln, ohne zu einem
endgültigen Ergebnis zu kommen. Sie ist also »unendlich« (infinie):
»Zu sagen, eine Wahrheit sei unendlich, heißt zu sagen, dass ihre Prozedur
eine Unendlichkeit von Ermittlungen enthält.« (SE, 376/EeE, 368)
Diese Eigenschaft der Wahrheit hängt natürlich direkt damit zusam-
men, dass der Konstruktivismus abgewiesen wird: Wenn die Aus-
legung die Situation konstruieren würde, könnte sie nie unendlich
sein. Und eigentlich könnte die Tatsache, dass keine Auslegung end-
gültig ist, zur Überzeugung führen, dass nicht alles, was gegeben ist,
konstruiert ist. Man würde also dann nicht mit der hermeneutisch-
konstruktivistischen These anfangen, sondern – wie Marion – mit der
These über die Gegebenheit des Anderen. Es gibt das Andere – das
sollte die erste These jedes Denkens sein. Mit anderen Worten: Es gibt
das Andere des Denkens. Noch mit anderen Worten: Es gibt das Er-
eignis als die Gegebenheit des Anderen für das Denken und nicht als
das Andere des Denkens.
Die Wahrheit befindet sich also in einem unendlichen Prozess.
Sie entfaltet sich erstmals als nicht-existenter Überschuss über die
präsentierte Situation und kann nicht in Wissen übersetzt werden.
Es gibt aber einen Prozess der Integration der Wahrheit in Wissen
(oder umgekehrt), sodass die wahren Aussagen die neue Situation
als gültige Aussagen beschreiben. 133 In diesem Zusammenhang

133 Die muss man sich folgendermaßen vorstellen: Die Wahrheit schöpft ihre Namen,

ihre Beschreibungen einer ereignishaften Situation aus der Leere, sie bezeichnen im
Sein dementsprechend nichts – diese Namen sind »leer« (vides) (SE, 446/EeE, 436).
Aber sie können allmählich eine Bedeutung gewinnen. Durch den Einbruch des Er-
eignisses ändert sich die Situation, und das, was vorher in ihr nicht präsentiert war,
kann jetzt präsentiert werden: »Der Glaube stützt darauf, dass ein Subjekt mit den
Mitteln der Situation – ihren Vielheiten und ihrer Sprache – Namen generiert, deren

134

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Alain Badiou (1937)

spricht Badiou von »Erzwingung« (forçage) (SE, 385/EeE, 377). Dies


bedeutet, dass
»[…] die Wahrheit einer Situation […] die Situation dazu zwingt, sie auf-
zunehmen […].« (SE, 385/377)
Wenn die Situation die Wahrheit aufgenommen hat, hat sie sich auch
ontologisch verändert – sie ist anders geworden, alles sieht anders
aus, nichts ist so, wie es vorher war. Es geht also um »eine Inkorpora-
tion [incorporation – L. P.] des Ereignisses in der Situation« (SE, 441/
EeE, 431). Für diese Erzwingung und Inkorporation ist ein »Subjekt«
(sujet) notwendig. Im Denken Badious haben wir es aber auf keinen
Fall mit einem Subjekt der Erfahrung und Selbst-Erfahrung zu tun,
sondern mit einem »Operator« (opérateur), der im Falle eines Ereig-
nisses auftaucht, um es in die Situation zu inkorporieren. Den Pro-
zess des »Auftauchens« (émergence) des Operators nennt Badiou
»Subjektivierung« (subjectivation):
»Ich nenne Subjektivierung das Auftauchen (Emergenz) eines Operators,
der einer eingreifenden Benennung folgt. Die Subjektivierung ist in der
Form der Zwei. Sie ist auf den Eingriff in die Umgebungen der Ereignis-
stätte ausgerichtet. Doch sie ist ebenfalls, aufgrund ihrer Übereinstimmung
mit der Regel der Bewertung und der Nähe, welche die generische Prozedur
begründet, auf die Situation ausgerichtet.« (SE, 440/EeE, 430)
Dementsprechend:
»Ich nenne Subjekt jede lokale Konfiguration einer generischen Prozedur,
auf die sich eine Wahrheit stützt.« (SE, 439/EeE, 429)
Es ist zu betonen: Die Wahrheit wird nicht von einem Subjekt kon-
stituiert, das Subjekt hat nicht die Wahrheit. Stattdessen lässt der
Prozess der Wahrheit ein Subjekt entstehen, das diesen Prozess voll-
zieht:
»Es ist also irreführend zu behaupten, dass eine Wahrheit eine Erzeugung
des Subjekts sei. Ein Subjekt ist vielmehr in der Treue zu dem Ereignis
gefangen.« (SE, 455/EeE, 444)

Referent im Futur II steht. Diese Namen werden mit einem Referenten oder einer
Bedeutung »versehen worden sein«, wenn die Situation vorkommt, in der das Un-
unterscheidbare, das nur repräsentiert worden ist, schließlich als eine Wahrheit der
ersten Situation präsentiert wird.« (SE, 446/EeE, 436)

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

An dieser Stelle weisen wir darauf hin, dass das Konzept des Subjek-
tes, seine Gebundenheit an die Wahrheitsprozedur und die Logik die-
ser Prozedur das zentrale Thema in Badious Philosophie ist. Dazu
sind – neben L’être et l’événement und Logiques des mondes – solche
bedeutende Werke zu nennen, wie zum Beispiel Théorie du sujet
(1982) oder Conditions (1992). In dem 2010 von Fabien Tarby geführ-
ten Interview sagt Badiou, dass er an einem weiteren Buch in diese
Richtung arbeitet, das L’immanence des vérités heißen soll (Badiou/
Tarby, 119/125).
Wir können jetzt die Frage stellen, inwiefern Badious Konzep-
tion des Ereignisses mit unserer, die eine der Betroffenheit ist, sich
überkreuzen. In Bezug auf Deleuze haben wir insbesondere seinen
ontologisch-topologischen Ansatz hervorgehoben, der erlaubt, das
Ereignis nicht als ein Gegenüber eines Subjekts (egal ob es als aktiv
oder passiv bestimmt wird) zu sehen, sondern als eine Verteilung.
Das, was in Badious Ansatz faszinieren kann, ist die Herausarbeitung
der Logik des Ereignisses. Er gibt eine sehr klare Definition des Ereig-
nisses und beschreibt es sehr überzeugend (in phänomenologischer
Hinsicht, d. h. seine Beschreibung der Logik des Ereignisses ent-
spricht unseren Erfahrungen des Ereignisses), wie das Ereignis ge-
schieht. Man kann in der Tat zustimmen, dass es eine Ereignisstätte
gibt, die plötzlich irgendwo auftauchen kann; dass das Ereignis eine
Vielheit von Elementen ist, die zu einem Zeitpunkt inexistent ist, um
dann sich selbst den Namen des Ereignisses zu geben. Und es ist rich-
tig, von der Ungewissheit des geschehenen Ereignisses zu sprechen,
von Entscheidung, Treue, Wahrheit und Inkorporation des Ereignis-
ses in die Welt, die die Veränderung der gegebenen Welt bedeutet.
Das sind Punkte, die auch eine phänomenologische Ereignisphilo-
sophie nicht umgehen kann. Es ist etwas, das zur Logik des Ereig-
nisses gehört. Was aber in Frage steht, sind die Vor-Entscheidungen,
die Badious Ereignisphilosophie trifft. Und die weitere Frage ist, ob –
hinsichtlich dieser Vor-Entscheidungen – wir annehmen könnten,
dass Badious »Sache« namens »Ereignis« auch unsere »Sache« ist.
Von welchen Vor-Entscheidungen ist hier die Rede? Vor allem davon,
dass der Name »Ontologie« der Mathematik vorbehalten ist und dass
die Wissenschaften dementsprechend die konkreten Seinsregionen
untersuchen. Unter einer solchen Voraussetzung wird das Ereignis
als Überschuss über das Sein (über eine Situation), als inexistent be-
stimmt. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass das Ereignis eigentlich
doch als eine Vielheit (wenn auch als besondere) definiert wird und

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Alain Badiou (1937)

nur vorläufig inexistent ist, da das Ziel des Ereignisses die Inkorpora-
tion in die Welt ist. In unserer Terminologie heißt dies nichts anderes
als dass das Ereignis als etwas Seiendes untersucht wird und deswe-
gen der Gegenstand einer Ontologie ist, oder, wenn man so will: einer
phänomenologischen Ontologie, insofern die Bestimmungen des Er-
eignisses ihre Quelle in der Erfahrung haben, auch wenn sie danach
mathematisch-ontologisch darstellbar sind. Ein solches seiendes Er-
eignis ist genau das, wonach wir nicht fragen, auch wenn es Über-
schneidungspunkte gibt. Wir fragen auch nach dem, was ein Heraus-
tritt aus dem Sein ist, aber es kann unmöglich – und das ist unsere
These – eine Vielheit (als Objekt für ein Wahrheitssubjekt) sein, son-
dern eher die Zugehörigkeit zu einer Vielheit. Wir stimmen den von
Badiou herausgearbeiteten Bestimmungen des Ereignisses (Entschei-
dung, Treue, Wahrheit etc.) zu, behaupten aber gleichzeitig, dass die-
se nur insofern stimmen, als das Ereignis schon zu einem Gegenstand
geworden ist und damit eigentlich nicht mehr das ist, was es war,
nämlich ein Ereignis.

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Jean-Luc Marion (1946)

Der französische Philosoph Jean-Luc Marion gilt heute vor allem als
Phänomenologe und phänomenologischer Religionsphilosoph. Zu
seinem Werk gehören aber nicht nur phänomenologische Abhand-
lungen – in Frankreich wurde Marion zuerst als Descartes-Forscher
bekannt und hat bisher zahlreiche Bücher zu dessen Philosophie ver-
öffentlicht. 134 Außerhalb von Frankreich, darunter auch in Deutsch-
land, hat Marion zuerst mit seinen theologischen und religionsphi-
losophischen Ideen Ansehen erlangt.
Marions Weg in die Phänomenologie führt über seine Über-
legungen zur Theologie und Religionsphilosophie, in deren Kontext
er eine Phänomenologie entwickelt, die durch zwei Konzepte geprägt
ist – »die Gegebenheit« (donation) und »das gesättigte Phänomen«
(le phénomène saturé), wobei die Idee des gesättigten Phänomens
ganz im Zentrum steht, während die Gegebenheit ihr vorausgeht
und sie erst verständlich macht.
Marion ist ursprünglich kein Ereignis-Philosoph – zumindest
nicht explizit. Das Wort »Ereignis« erlangt den Status eines philoso-
phischen Konzeptes erst in Marions phänomenologischem Haupt-
werk Étant donné (1997). Es spielt dort allerdings noch keine zentrale
Rolle und ist mehrdeutig. Es charakterisiert die Gegebenheit, inso-
fern sie als Prozess der Erscheinung des Phänomens als Gegebenem
– sein »Anbruchsgeschehen« (processus d’avénement) (GS, 124/ED,
96) – verstanden wird. Es charakterisiert aber auch das Gegebene,

134 Schon seine Dissertation ist der Philosophie Descartes’ gewidmet: Sur l’ontologie
grise de Descartes. Science cartésienne et savoir aristotélicien dans les Regulae (1974,
veröffentlicht 1975). Weitere Werke zu Descartes: Sur la théologie blanche de Des-
cartes. Analogie, création des vérités éternelles, fondement (1981), Sur le prisme mé-
taphysique de Descartes. Constitution et limites de l’onto-théo-logie cartésienne
(1986), Questions cartésiennes I. Méthode et métaphysique (1991), Questions carté-
siennes II. L’ego et Dieu (1996) und schließlich Sur la pensée passive de Descartes
(2013).

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Jean-Luc Marion (1946)

insofern es sich selbst ohne einen anderen Geber außer sich selbst gibt
– seine »Nicht-Ursächlichkeit« (incausabilité) (GS, 280/ED, 227).
Schließlich bedeutet es auch das historische Ereignis als eine Art ge-
sättigten Phänomens (GS, 383/ED, 318), das grundsätzlich als etwas
Unbegreifliches definiert wird – als das, was mehr »Anschauung«
(intuition) gibt als der »Begriff« (concept) begreifen kann; als das,
bei dem »die Anschauung mehr, ja unermesslich mehr geben würde
als das, was die Intention jemals angezielt oder vorhergesehen hätte«
(GS, 336/ED, 276 f). Das gesättigte Phänomen ist aber genauso auch
ohne Ursache, das, was deswegen unvorhersehbar eintritt und vor
seinem Anbruch unmöglich ist. Das Konzept des Ereignisses gelangt
aber in Marions späteren Werken – dies ist besonders in Certitudes
négatives (2010) sichtbar – zur Selbstständigkeit und wird faktisch als
Synonym zum »gesättigten Phänomen« gebraucht. Das heißt: Das
Wort »Ereignis« wird nicht mehr als ein Charakteristikum für etwas
gebraucht, sondern erschließt selbst eine Dichte philosophischer Ide-
en, die sich mit der des gesättigten Phänomens im großen Maße über-
lappt. Deswegen kann Marion rückblickend behaupten, dass seine
Philosophie »letztlich von der Frage nach dem Ereignis beherrscht
wird« (RC, 11). Das Ereignis bezeichnet ein Phänomen, das unvorher-
sehbar, ohne Ursache eintrifft, das etwas vorher Unmögliches mög-
lich macht und unbegreiflich für den Menschen bleibt. Und solche
Phänomene sind das Hauptanliegen seiner ganzen Philosophie, auch
wenn sie anfänglich nicht so genannt werden.
In der Tat macht Marion schon in seinen frühren Schriften auf
außergewöhnliche Erfahrungen – zum Beispiel die der Offenbarung –
aufmerksam, allerdings noch ohne sie als gesättigte Phänomene bzw.
Ereignisse zu bezeichnen. Die Möglichkeit, sie als Phänomene zu ana-
lysieren, entsteht erst, wenn Marion sich mit der Phänomenologie
auseinanderzusetzen beginnt, während seine ersten originell-phi-
losophischen Ansätze (außerhalb der Descartes-Forschung) theo-
logisch geprägt sind, wobei es Hans Urs von Balthasar ist, von dem
Marion stark beeinflusst ist. In diesem Kontext müssen vor allem
zwei seiner Werke genannt werden – L’idole et la distance (1977) 135

135 Dieses Werk – im Gegensatz zu Dieu sans l’être – ist noch nicht in deutscher

Sprache erschienen, wohl aber ein Aufsatz Marion zu diesem Thema: Idol und Bild.
In: Phänomenologie des Idols, hrsg. von Bernhard Casper. Freiburg/München: Alber,
1981, S. 107–132. Der Aufsatz erschien ursprünglich 1979: Fragments sur l’idole et
l’icône. Revue de Métaphysique et de Moral, 84 (1979), S. 433–445. In der deutschen
Fassung, wie es hier zu sehen ist, wird »icône« als »Bild« übersetzt.

139

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

und Dieu sans l’être (1982). In L’idole et la distance zeigt Marion zwei
grundsätzliche Weisen des Bezuges zum Göttlichen: Entweder ist das
Göttliche für uns als ein »Idol« (idole) oder als eine »Ikone« (icône)
da. Die Erfahrung eines Idols bedeutet, dass der Mensch nur das er-
fährt, was er selbst ins Idol hineingelegt hat. Also streng genommen
erfährt er gar nicht die Andersheit des Göttlichen, sondern nur sich
selbst: »nous nous éprouvons en situation dans le divin« (IeD, 22).
Das Idol funktioniert so wie ein »Spiegel« (miroir). Die idolatrische
Erfahrung wird Marion später als die Erfahrung charakterisieren, wo
die Anschauung den menschlichen Begriff nicht übertrifft, sondern
ihm entspricht – es wird das gesehen, was der Mensch begreifen kann.
Es gibt hier nichts Unsichtbares als Unbegreifliches. Die Ikone da-
gegen eröffnet im Sichtbaren »Tiefe« (profondeur), die in das Un-
sichtbare und Uneinholbare führt. Sie lässt sich nicht begreifen, ver-
menschlichen – sie hält den »Abstand« (écart), die »Distanz«
(distance) zwischen dem Menschlichen und Göttlichen aufrecht:
»De quoi l’icône offre-t-elle le visage? »Icône du Dieu invisible« (Colos-
siens, I, 15), dit du Christ saint Paul. […] La profondeur du visage visible
du Fils livre au regard l’invisibilité du Père comme telle. […] L’icône recèle
et décèle ce sur quoi elle repose: l’écart en elle du divin et de son visage.«
(IeD, 25)
Die Ikone wird später als die Erfahrung eines Phänomens beschrie-
ben, das sich nicht auf das vom Bewusstsein Konstituierte reduzieren
lässt, sondern als das Andere erscheint und einen »Überschuss« (ex-
cès, surcroît) an das Unsichtbare, eine »Sättigung« (saturation) des
Unbegreiflichen über das Objekthafte bietet.
Dieu sans l’être wird 1982 veröffentlicht und setzt einerseits den
Gedankengang von L’idole et la distance fort. Doch das Hauptanlie-
gen dieses Werkes ist – wie das schon der Titel verrät – die Befreiung
des Göttlichen vom Sein. Diese Problematik ist eng mit dem Idol- und
Ikonebegriff verbunden – das Absolute durch das Sein, gemäß dem
Sein und in den Seinsbegriffen zu denken, heißt Idolatrie. Die Frage
ist also, wie das Göttliche anders als durch das Sein gedacht werden
kann? Zuerst muss aber geklärt werden, wie Marion das Sein ver-
steht. Er versteht das Sein so, wie es in der Metaphysik gedacht wird
– als das Sein des Seienden, als die Weise, wie das Seiende als das
Seiende ist. Und das Seiende ist immer als ein präsentes und ständi-
ges, distinktes und bestimmtes, zugängliches und griffbereites Ding
der Welt. Dementsprechend ist das Sein die Präsenz (Anwesenheit),

140

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Jean-Luc Marion (1946)

Distinktion (Wesen) und Dauer (Beständigkeit). Solche fixierten Din-


ge der menschlichen Welt nennt Marion Idole. Sie fügen sich restlos
in die Welt hinein und spiegeln den Menschen als Halter dieser Welt
wider. Zu sein bedeutet also ein Idol zu sein. Das Göttliche ist kein
Idol, es ist also »ohne das Sein«. Wie diese »Seins«-weise konkret
gedacht werden könnte, darauf gibt Dieu sans l’être erst eine theo-
logische Antwort – als sich selbst gebende Liebe 136 (GoS, 83 ff/DE,
73 ff). Doch Marion sucht noch weitere Möglichkeiten, wie etwas
Nicht-Seiendes gedacht werden könnte und er findet eine solche
Möglichkeit in der Phänomenologie. In einem Gespräch 1997 sagt er:
»In meinen zwei ersten Büchern L’idole et la distance und Dieu sans l’être,
die in mancher Hinsicht Bücher des Umbruchs waren, vertrat ich die Mei-
nung, dass man Gott nicht erst vom Beginn seiner Existenz oder des Seins
an vermuten darf. Was man jedoch statt dessen positiv denken sollte, legte
ich in dieser Zeit noch nicht fest. Ich wollte ebenso nicht vom Verstand zum
Glauben, vom Begriff zum Lobpreis kommen, indem ich die Rationalität
verließ. Der weitere Weg war es also, zu der Frage zurückzukommen, ob
man eine noch begriffliche Abhandlung, die jedoch nicht metaphysisch ist,
verfassen kann. Dies schien mir nur im Rahmen der Phänomenologie mög-
lich.« (RuG, 39 f.)
Wie kann die Phänomenologie die Offenbarung Gottes und auch an-
dere außergewöhnliche Erfahrungen beschreiben? Als ein »gesättig-
tes Phänomen«, als ein Phänomen, dass das Unbegreifliche gibt:
»Die Phänomenologie äußert sich nicht über die Wirklichkeit der Offen-
barung. Sie kann nur auf folgende Frage antworten: Ist eine Offenbarung
grundsätzlich möglich? Nun, ich denke, dass man versuchen kann, die Phä-
nomenologie so zu definieren, dass die Offenbarung möglich und denkbar
wird. Um dies zu tun, konstruiere ich – das ist meine Hypothese – das so-
genannte »gesättigte Phänomen«. […] Meine Hypothese ist es, dass die

136
Die Liebe ist ein ganz besonderes Thema in Marions Philosophie, sodass Kevin
Hart sogar behaupten kann: »Jean-Luc Marion is above all a philosopher of love […].«
(EW, 359) Neben Marions Schriften zu Descartes, Theologie und Phänomenologie
bilden seine Schriften zur Liebe einen vierten Teil seines Gesamtwerks. Zu diesen
Schriften gehören vor allem: Dieu sans l’être (1982), Prolégomènes à la charité (1986)
und Le phénomène érotique (2003). Einen fünften Tätigkeitsbereich Marions bildet
die Thematik der Gabe, die Marion vor allen in der Auseinandersetzung mit Derrida
aufnimmt. Marion hat mehrere Texte zur Gabethematik verfasst. Einige davon sind:
Buch II in Étant donné – Le don – und Kapitel III und IV in Certitudes négatives –
L’inconditionné ou la force du don und L’inconditionné et les variations du don.

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

Offenbarung, phänomenologisch betrachtet, eine Form des Phänomens bie-


tet, in der es mehr Intuition als Bedeutung gibt.« (RuG, 41)
Das Konzept des gesättigten Phänomens entsteht aber im Kontext
einer speziell herausgearbeiteten Phänomenologie – »Phänomenolo-
gie der Gegebenheit« (phénoménologie de la donation), die Marion in
einer »Trilogie« (wie er sie selbst nennt) seiner phänomenologischen
Schriften entwickelt: in Réduction et donation (1989), Étant donné
(1997) und De surcroît (2001), wobei Étant donné als das Hauptwerk
gilt. Wie bekannt, benutzt die Phänomenologie die Methode der Re-
duktion, um das Gegebene auf das Phänomen für das Bewusstsein zu
reduzieren und es so zu beschreiben, wie es sich selbst zeigt, wie es
also ist. In der Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Husserls
und Heideggers stellt Marion allerdings fest, dass die Phänomene, die
sie aufgedeckt haben, nicht die gesuchten »Sachen selbst« sein kön-
nen, da ihnen – trotz der Reduktion – nicht erlaubt worden ist, sich so
zu zeigen, wie sie sich eigentlich geben. Husserl schränkt die Ge-
gebenheit auf die Gegenständlichkeit ein, was heißt, dass für ihn alle
Phänomene objekthaft sind, und Heidegger sieht alles Gegebene im
Horizont des Seins (des Seins – so wie es Marion versteht) (GS, 80/
ED, 59). Dementsprechend fordert Marion eine weitere Reduktion –
»die Dritte Reduktion« (la troisième réduction) –, die endlich weder
bei der Gegenständlichkeit noch beim Sein bleiben, sondern bis zur
»Gegebenheit« fortschreiten würde (GS, 104/ED, 79). 137 Was ist also
die Gegebenheit? Donation charakterisiert das Phänomen, bevor es
zu einem Objekt bzw. Seienden verwandelt wird, also das Phänomen
genau im Moment seines Erscheinens: sein »Anbruchsgeschehen«.
Damit öffnet sich der Weg zur Idee des gesättigten Phänomens –
während ein Gegenstand das ist, was von einem Ich durch einen Be-
griff konstituiert ist, ist das Gegebene viel mehr als das, was das Ich
von ihm entnimmt und überhaupt entnehmen kann; es ist also gesät-
tigt – gesättigt durch sich selbst gegenüber einem Begriff. Das durch
die Begrifflichkeit des Ich eingeschränkte Phänomen nennt Marion
dagegen entweder »armes Phänomen« (phénomène pauvre), wenn
das Phänomen fast keine Anschauung aufweist und sich im Begriff

137 Die Forderung nach einer weiteren Reduktion entspringt einem von Marion for-

mulierten Prinzip der Phänomenologie: »Wie viel Reduktion, soviel Gegebenheit«


(autant de réduction, autant de donation) (RD, 303). Je radikaler also die Reduktion
durchgeführt wird, desto mehr kommt die Selbst-Gegebenheit des Phänomens zum
Vorschein.

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Jean-Luc Marion (1946)

ausschöpft, wie dies zum Beispiel bei den mathematischen und logi-
schen Objekten der Fall ist (GS, 374 f/ED, 310 f.); oder »geläufiges
Phänomen« (phénomène commun), wenn das, was angeschaut wird,
einen Begriff erfüllt, aber nicht über seine Grenzen hinausgeht (wenn
das, was ich sehe, ein Tisch ist und nichts mehr und nichts anderes)
(GS, 375 f/ED, 311 f).
In dem Moment der Begegnung mit dem Phänomen, bevor es
zum Bewusstsein wird, ist das Ich nicht aktiv konstituierend, sondern
passiv empfangend, sich dem Anderen hingebend. Diesem Empfänger
gibt Marion den Namen »adonné«. Der adonné ist nicht nur einfach
empfangend, sondern »derjenige, der sich ganz und gar aus dem emp-
fängt, was er empfängt« (GS, 442/ED, 369). Der adonné empfängt
sich selbst vom Ereignis, weil die Erfahrung der Andersheit ihn ver-
ändert – das Ereignis konstituiert den adonné, statt von ihm konsti-
tuiert zu werden. So ist das, was mit dem adonné geschieht, das, was
er »hervorbringt« nur als »Antwort« (répons) auf den »Ruf« (appel)
(Étant donné § 28) des Ereignisses zu verstehen. Da aber das Ereignis
gesättigt ist, kann die Antwort dem Ruf nie vollständig entsprechen.
Sie vollzieht sich deswegen als eine endlose Serie von Antworten,
d. h. Auslegungsversuchen. Dementsprechend spricht Marion von
einer »endlosen Hermeneutik« (herméneutique sans fin) (DS, 142)
des Ereignisses.
Es ist wichtig zu beachten, dass Marion genauso wie Heidegger
und Levinas mit der Auslegung eines konkreten Ereignisses beginnt –
in seinem Fall mit der Offenbarung Gottes. Aber im Gegensatz zu
diesen beiden Philosophien entwickelt er schließlich einen Rahmen,
in dem man viele und verschiedene Ereignisse beschreiben kann. Die
Idee vom gesättigten Phänomen erlaubt, eine allgemeine und syste-
matische Philosophie des Ereignisses herauszuarbeiten, ohne auf ein
bestimmtes Ereignis fixiert zu bleiben. In der Tat schon in Etant
donné unterscheidet Marion fünf Arten einer möglichen Sättigung,
und zu jeder Art beschreibt er einen beispielhaften Fall des Ereignis-
ses (ED, § 23). So wird gezeigt, wie durch die Phänomenologie des
Ereignisses geschichtliche Ereignisse, Kunstwerke, besondere leib-
liche Erlebnisse, Begegnung mit einem anderen Menschen oder der
Offenbarung begriffen werden können. Auch das Buch De surcroît ist
diesen fünf Beispielen des gesättigten Phänomens gewidmet. Le phé-
nomène érotique (2003) behandelt das Ereignis der Liebe, Le Visible
et le révélé (2005) und Le croire pour le voir (2010) die Offenbarung,
Courbet ou la peinture à l’œil (2014) das Kunstwerk.

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

Wenn das gesättigte Phänomen das Unbegreifliche, das Unmög-


liche für den menschlichen Verstand ist, so ist es doch nicht eine Lee-
re, die dem Menschen gegenübersteht. Es ist eine Fülle, die sich im
Modus der Gewissheit von etwas Unbegreiflichem gibt, wenn dies
auch zuerst widersprüchlich klingt. Diesen Modus der Gewissheit
eines gesättigten Phänomens nennt Marion im Buch Certitudes né-
gatives (2010) »negative Gewissheit« (certitude négative). Es handelt
sich hier um eine Gewissheit von dem, was nicht zu einem »positi-
ven« Objekt der Erkenntnis werden kann, nämlich um eine »certitude
sans objet« (CN, 18). Es ist nicht der Fall, wenn man um seine Un-
wissenheit weiß, sondern der Fall, wenn man weiß, aber nicht weiß,
was man weiß.

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Claude Romano (1967)

Claude Romano ist ein französischer Philosoph, dessen philosophi-


sches Projekt genau das Ereignis als eine ausgezeichnete Erfahrung,
die die Welt des Betroffenen und den Betroffenen selbst verändert,
ins Zentrum seiner Thematik stellt. Er nennt seine Philosophie
»eventiale Hermeneutik« (l’herméneutique événementiale) 138 und
sie ist vor allem in zwei Werken – L’événement et le monde (1998)
und L’événement et le temps (2012) 139 – festgehalten. 140 Seine Phi-
losophie des Ereignisses ist systematisch ausgerichtet, sie setzt sich
mit vielen Erkenntnissen anderer Ereignisphilosophen (zum Beispiel
mit den Stoikern, mit der analytischen Ereignisphilosophie, mit
Nietzsche, Heidegger, Levinas, Deleuze, Badiou und Marion) aus-

138 »L’herméneutique événementiale« ist nicht leicht zu übersetzen. Zuerst muss man

darauf achten, dass »événementiale« im Vergleich zu »événementiele« – »ereignis-


haft« – ein Neologismus ist. Man könnte annehmen, dass es sich hier nur um eine
unbedeutsame Ersetzung eines Buchstaben handelt, und »l’herméneutique événe-
mentiale« als »ereignishafte Hermeneutik« oder besser als »Hermeneutik des Ereig-
nisses« übersetzt werden könnte. Das Wort »événementiale« deutet aber in erster
Linie nicht auf das Wort »Ereignis« hin, sondern auf Heideggers Konzept der »Exis-
tenzialien« als »Seinscharaktere des Daseins« (SZ, 44). Heidegger untersucht den
Menschen ausgehend vom Sein, von der Existenz und deswegen nennt er seine Struk-
turen Existenzialien. Romano setzt sich vom Ansatz Heideggers ab und untersucht
den Menschen ausgehend vom Ereignis. Die Strukturen, die der Mensch aufweist,
nennt er dementsprechend »événementiaux«, die sich als »Eventialien« übersetzen
lassen. »L’herméneutique événementiale« wäre also als »Hermeneutik der Eventia-
lien« oder »eventiale Hermeneutik« übersetzbar.
139 L’événement et le temps erscheint erstmals 1999, wird aber später durch neue

Erkenntnisse, die im Buch L’aventure temporelle (2010) erscheinen, verbessert. Dazu


siehe Bemerkung Romanos im Vorwort zur zweiten Auflage von L’événement et le
temps 2012: ET, xii.
140 In Deutschland ist Romano kaum bekannt. Die Übersetzung eines seiner Texte –

Ereignis oder Kann es eine Phänomenologie des Ereignisses geben? – ist im Sammel-
band Erscheinung und Ereignis (hrsg. von Emmanuel Alloa. München: Fink, 2013)
erschienen. Dieser Text bildet das erste Essay im Buch L’aventure temporelle – L’évé-
nement et sa phénoménalité.

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

einander. Doch – und dies ist ein wesentlicher Nachteil seines An-
satzes – zieht sie nicht Heideggers grundlegende Werke zum Ereignis
in Betracht. So entsteht die Situation (wie oft in Frankreich), dass
Heidegger nur in Gestalt seiner Philosophie vor der Kehre auftritt
und zum Ziel einer unberechtigten Kritik wird.
Die eventiale Hermeneutik arbeitet in mehreren Richtungen:
»Or, cette herméneutique est, premièrement, une phénoménologie; deuxiè-
mement, une interprétation de l’advenant, qui se distingue décisivement du
concept classique de »sujet«; troisièmement, une herméneutique de la tem-
poralité.« (EM, 69)
Diese Hermeneutik ist eine Phänomenologie, insofern sie das Ereig-
nis als ein Phänomen untersucht. Sie ist eine Interpretation des Be-
troffenen durch das Ereignis – des advenant –, insofern sie die Be-
troffenheit durch das Ereignis untersucht. Und schließlich ist sie
eine Hermeneutik der Zeitlichkeit, insofern sie untersucht, wie das
Ereignis den Betroffenen zeitigt. Das Werk L’événement et le monde
ist vor allem den ersten zwei Themen gewidmet, während L’événe-
ment et le temps die Zeit und die Zeitlichkeit behandelt. Hinsichtlich
einer systematischen Logik des Ereignisses sind die Erkenntnisse aller
dieser Richtungen der Untersuchung von Bedeutung. Wir werden
versuchen, sie kurz zusammenzufassen.
Im ersten Schritt seiner Phänomenologie des Ereignisses unter-
scheidet Romano das Ereignis von einem Objekt, wobei das Ereignis
nicht nur kein Objekt, sondern auch keine Bewegung oder Verände-
rung eines Objekts ist. Das Ereignis ist ein reines Geschehnis: »pure
»mobilité« – sans rien qui se meuve« (EM, 1). »Es regnet« oder »es
dämmert« sind Beispiele für das Ereignis. Im zweiten Schritt unter-
scheidet Romano »innerweltliche Tatsachen« (fait intramondain) als
Ereignisse von »Ereignissen im eigentlich eventialen Sinne« (l’événe-
ment au sens proprement événemential) (EM, 40). Der Tod eines
nahen Menschen oder eine Begegnung sind Ereignisse im eigentli-
chen Sinne. Sie unterscheiden sich von innerweltlichen Tatsachen in
vier Punkten. Erstens, im Gegensatz zu einem innerweltlichen Fak-
tum, betrifft das Ereignis jemanden bzw. mich:
»Tandis que le fait intramondain, en effet, ne s’adresse à personne en par-
ticulier et se produit indifféremment pour tout témoin, l’événement est
toujours adressé, des sorte que celui à qui il advient est impliqué lui-même
dans ce qui lui arrive.« (EM, 44)

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Claude Romano (1967)

Zweitens: Die innerweltlichen Ereignisse sind »in der Welt« (dans le


monde) (EM, 40), sie gehören zur Welt. Mit ihrer Aktualisierung
bestätigen sie eine Welt, die als »Totalität des vorbestehenden Mög-
lichkeiten« (totalité des possibles préexistants) (EW, 47 f) verstanden
wird. Sie realisieren also eine vorgegebene Möglichkeit. Die Ereignis-
se dagegen richten eine Welt ein – sie sind »instaurateur-de-monde«
(EM, 56). Das heißt, dass sie neue Möglichkeiten eröffnen, die vorher
nicht da waren. Deswegen haben sie für Romano den Charakter der
»possibilisation« (EM, 61). Weil diese Möglichkeiten erst durch das
Ereignis möglich werden, nennt Romano sie »éventualités« (EM,
112). Drittens: Alle innerweltlichen Fakten befinden sich in der Kau-
salrelation, d. h. sie sind durch die Erkenntnis einer Ursache im Vo-
raus vorhersehbar und im Nachhinein erklärbar. Das Ereignis da-
gegen »löst sich von jeder Kausalität ab« (s’absolve […] de tout
causalité) (EM, 60). Das Ereignis ist unvorhersehbar im Kontext
einer Welt, weil nichts in dieser Welt auf seine Möglichkeit hindeu-
tet, ihm vorausgeht, also es »verursacht«. Weil es später im Horizont
der schon existierenden Welt nicht erklärbar ist, ist es grundsätzlich
durch »Unbegreiflichkeit« (incompréhension) (EM, 208) gekenn-
zeichnet. Viertens sind die innerweltlichen Geschehnisse »datierbar«,
d. h. sie geschehen für uns in der Zeit. Die Ereignisse sind dagegen
nicht in der Zeit, sondern sie »zeitigen« die Zeit, d. h. sie machen die
Erfahrung der Zeit erst möglich:
»[T]andis que le fait se produit dans un présent définitif où tout es accompli
– précisément comme »fait accompli« –, l’événement n’est pas datable: il ne
s’inscrit pas tant dans le temps qu’il n’ouvre le temps, ou le temporalise.«
(EM, 64 f)
Wie diese Zeitigung geschieht, wird eingehend in L’événement et le
temps beschrieben.
Das Ereignis ist also etwas, was eine unersetzbare Selbstheit,
»Ipseität« (ipséité) betrifft, genauer gesagt: was die Ipseität entsprin-
gen lässt. Die primäre Aufgabe einer eventialen Hermeneutik ist also
nicht, das Ereignis selbst zu charakterisieren, sondern das zu be-
schreiben, wie die Ipseität durch das Ereignis geschieht, zu sich selbst
kommt, was aber genauso zu einer systematischen Ereignisphiloso-
phie gehört. Dieser sich ereignenden Ipseität gibt Romano den Na-
men »advenant«. Es handelt sich um »participe présent substantivé«
(EM, 2) und könnte als »der Sich-Ereignende« übersetzt werden. Die
eventiale Hermeneutik fragt also, »comment s’advient l’advenant à

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

partir d’événements« (EM, 74). Genauso wie Marions Begriff vom


adonné, setzt sich der advenant von der Idee des Subjekts ab. Der
advenant entsteht nicht durch sich selbst, er ist nicht der letzte
Grund, sondern wird durch das Andere – durch das Ereignis – voll-
zogen. Wenn der advenant zuerst als derjenige charakterisiert wird,
der nicht sein eigener Ursprung ist, wird die Geburt zum ersten, bei-
spielhaften Thema der eventialen Hermeneutik – die Geburt ist »évé-
nement premier en droit et en fait de tout herméneutique événemen-
tiale«. (EM, 96)
Wie, auf welche »Weise« (manière) – d. h. durch welche Eventia-
lien 141 – geschieht der advenant durch das unvorhersehbare und die
Welt verändernde Ereignis? Vor allem durch das »Verstehen« des Er-
eignisses:
»[…] la compréhension est une modalité de l’aventure, un événemential,
c’est-à-dire une manière, pour l’advenant, de s’advenir […].« (EM, 84)
Um dies zu verstehen, muss Folgendes berücksichtigt werden. Ers-
tens: Was ist überhaupt die Ipseität? Was bedeutet, dass der advenant
selbst ist? Hier soll klar werden, dass unter der Ipseität Romano we-
der die Selbstidentität, die jemand in der Reflexion über sich selbst
bildet, noch einen unveränderlichen transzendentalen Kern, die alle
Erscheinungen des Bewusstseins gründet und begleitet, versteht.
Man ist sich selbst, wenn man sich selbst erfährt. Man erfährt sich
selbst, wenn man etwas erfährt. Man spürt sich selbst, wenn man
zum Beispiel die Wärme spürt. Diese Empfindung bin ich. Die Erfah-
rung der Ipseität ist also »Ausgesetztheit« (exposition) dem Anderen
gegenüber (EM, 196), »Erprobung« (épreuve) des Anderen (EM,
198). 142 Als solche ist die Ipseität durch »Passibilität« (passibilité) als
»Offenheit für das Ereignis« (ouverture à l’événement) (EM, 125),
»Verstrickung« (implication) »in dem, was sich ereignet« (dans ce

141 Die Eventialien sind mit Heideggers Existenzialen vergleichbar, weil sie sich von

ihnen absetzen. Sie setzen sich von ihnen aber dadurch ab, dass sie im Gegensatz zu
den Existenzialien nicht als Strukturen des Subjekts verstanden werden dürfen, weil
dann die Möglichkeit eines Ereignisses in einem transzendentalen Subjekt begründet
wäre. Stattdessen sind sie die »Modalitäten der Antwort des advenant auf den, was
sich mit ihm ereignet« (modalités de réponse de l’advenant à ce qui lui arrive) (ET,
267). Die Eventialien sind also nicht im advenant, sondern geschehen mit ihm als
seine Antwort auf ein Ereignis, wenn es sich ereignet.
142
»Car »je« ne m’adviens comme tel qu’en tant que quelque chose m’arrive, et quel-
que chose ne m’arrive qu’en tant que je deviens moi-même, dans l’épreuve de l’évé-
nement.« (EM, 124)

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Claude Romano (1967)

qui lui arrive) (ebd.) und »Singularität« (singularité) als Unvergleich-


lichkeit (EM, 125 f) ausgezeichnet. Zweitens wird unter dem Verste-
hen nicht ein nachdenkliches Begreifen von etwas verstanden, son-
dern ein »comportement pré-réflexif et pré-théorique« (EM, 85).
Wann verstehe ich auf diese Weise das, dem ich begegne, wann ver-
stehe ich das Ereignis? Wenn ich es erfahre. In der Tat ist die Erfah-
rung der Sinn des Verstehens: »l’ex-pér-ience désigne le sens événe-
mential du comprendre« (EM, 200). Wenn also gesagt wird, dass
durch das Verstehen des Ereignisses der advenant zu sich selbst
kommt, dann bedeutet dies, dass er durch die Erfahrung des Anderen,
das das Ereignis ist, sich selbst erfährt, d. h. ständig zu sich selbst
wird, da durch das Andere die Ipseität ständig verändert wird. Mit
anderen Worten: Dies bedeutet, dass durch die Erfahrung der vom
Ereignis eröffneten Möglichkeiten der advenant immer aufs Neue
zu sich selbst und seiner Welt kommt. Ich bin nicht mein eigener
Grund, ich werde ich selbst durch die Erfahrung des Ereignisses.
Romanos zweites Buch zu einer systematischen Ereignisphiloso-
phie – L’événement et le temps – eröffnet eine weitere Dimension des
Ereignisses. Das Ereignis wird als »Zeitigung der Zeit« (temporalisa-
tion du temps) (ET, 168) bestimmt. Das Ereignis – im Gegensatz zu
einer innerweltlichen Tatsache – ist nicht »in der Zeit«, sondern »ent-
faltet die Zeit«:
»Dès lors, plus qu’il ne se produit dans le monde, l’événement ne survient
davantage dans le temps; il déploie le temps dans la pluralité de ses dimen-
sionnels en survenant lui-même comme sa propre temporalisation.« (ET,
148)
Das Ereignis ist also für Romano der Ursprung der Zeit. Damit setzt
er sich sowohl von der Objektivierung der Zeit, die die Zeit in der
Bewegung und Veränderung der innerweltlichen Objekte sieht (wie
bei Aristoteles), als auch von der Subjektivierung der Zeit, die die
Möglichkeit der Zeit im Bewusstsein begründet (wie bei Augustinus,
Bergson und Husserl) ab. Der advenant ist also nicht der Grund, wa-
rum die Zeit vergeht, warum er die Zeit erfahren kann, sondern er
wird selbst durch das Ereignis gezeitigt. 143 Wie schafft das Ereignis die
Zeitigung der Zeit? Romano beschreibt dies folgendermaßen:

143 »L’advenant est originairement temporalisé, de telle manière qu’il ne peut jamais

s’ériger en origine du temps.« (ET, 255)

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

»[…] il [événement – L. P.] déborde originairement le fait des son effectua-


tion en tant qu’il se précède lui-même, est prospectif, ouvre un avenir, et se
reçoit lui-même de cet avenir qu’il ouvre, depuis lequel et par lequel il ap-
paraît après coup dans la »présence« qui est la sienne […].« (ET, 168)
Dies bedeutet: Das Ereignis »geht sich selbst voraus«, »öffnet eine
Zukunft« in dem Sinne, dass seine Gegenwart noch zu unserer Ge-
genwart werden wird – später, dann, wenn wir mit der »Verspätung«
(retard) und »Verzug« (délai) (ET, 165) zum Ereignis kommen wer-
den. Die Idee Levinas’ von der »unaufholbaren Verspätung«, mit der
wir uns des Ereignisses bewusst werden, ist also auch bei Romano im
Einsatz. Wir erfahren die Präsenz des Ereignisses im Bewusstsein als
seine Zukunft, wir erfahren also die Zukunft. Aber genauso erfahren
wir auch die Vergangenheit durch das Ereignis. Die Präsenz unseres
Bewusstseins, die die Zukunft des Ereignisses ist, ist der Ort, wo das
Ereignis »im Nachhinein erscheint«, wo es »sich selbst empfängt«.
Wenn wir also das Ereignis in der Präsenz unseres Bewusstseins er-
fahren, ist es schon vorbei, aber, insofern es vorbei ist, gibt es uns die
Vergangenheit unserer Gegenwart. Wir erfahren das Vergehen und
die Vergangenheit, weil das Ereignis in der Präsenz schon vergangen
ist. Die Präsenz enthält also nicht von sich selbst den vergangenen
und den zukünftigen Moment, wie dies bei Husserl ist, sondern sie
hat Zugänge zum Vergangenen und Zukünftigen durch das Ereignis,
durch die Begegnung mit dem Anderen. So wie das Ereignis die Zeit
zeitigt, hat es selbst »trois traits phénoménaux« (ET, 169). Erstens
kann es die Zukunft eröffnen, weil es eine »nouveauté radicale« (ET,
169) ist. Wir sind seine Zukunft dadurch, dass wir es weder antizipie-
ren noch entwerfen können. Wenn es für uns nicht radikal neu, son-
dern vorhersehbar wäre, wäre es in der Präsenz und könnte uns nie
die Zukunft zeigen. Zweitens ist es durch »ancienneté« (ET, 169) ge-
kennzeichnet, was bedeutet, dass das Ereignis älter als die Präsenz des
Bewusstseins ist (wir erinnern uns gleich an Merleau-Ponty und Le-
vinas). Drittens zeigt es sich – und hier schließt sich Romano wieder-
um an Merleau-Ponty und Levinas an – nie in der Präsenz, und die
Erfahrung des Ereignisses hat schon immer den Index der Verspä-
tung, durch die auch die Zukunft der Einholung dieser Verspätung
gegeben ist (ET, 169, 179 f).
Die nächste Frage, die Romano in Bezug auf das Ereignis als die
Zeitigung stellt, ist nach dem Bezug des advenant zu der Zeit, d. h.
nach den Eventialien, durch die er der Zeit antwortet und die er ganz

150

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Claude Romano (1967)

allgemein »Temporalität« (temporalité) (ET, 265 f) nennt. Wie wird


die Vergangenheit des Ereignisses dem advenant zugänglich? Nicht
durch das »Gedächtnis« (souvenir) (ET, 201) als die Fähigkeit des Be-
wusstseins, zu einer vergangenen Präsenz zurückzukehren. Da das
Ereignis nie in der Präsenz war, kann man sich auch an es nicht er-
innern. Die Rede ist also – mit Levinas’ Worten – von einer »abso-
luten Vergangenheit« und – mit Romanos Worten – von »einer Ver-
gangenheit, älter als jede erinnerbare Vergangenheit« (un passé
antérieur à tout passé remémorable) (EM, 212). Statt des Gedächt-
nisses, müssen wir von der Erinnerung (mémoire) sprechen, von
»une mémoire de l’immémorial« (ET, 203). Die Erinnerung versucht
nicht, das Unerinnerbare zu vergegenwärtigen, sondern behält es so,
dass der advenant die Möglichkeiten realisiert, die vom Ereignis er-
öffnet worden sind. Die Erinnerung ist die »Ausübung des Mög-
lichen« (exercice du possible) (ET, 206) und so als Verantwortlichkeit
(responsabilité) (ET, 212) strukturiert. Sich an das Ereignis der Liebe
zu erinnern, heißt nicht, zum unbegreiflichen Moment der ersten
Begegnung zurückzukehren, sondern hier und jetzt zu lieben.
Wie wird die Zukunft erfahren? Nicht durch die vom Bewusst-
sein geleisteten »Erwartung« (attente) des Zukünftigen, die es zu
etwas Gegenwärtigem herabsetzt, sondern durch die »Überraschung«
(surprise) (ET, 221). Der advenant ist aber zu einer Überraschung
fähig, weil er nicht ein abgeschlossenes und solipsistisches Subjekt
darstellt, sondern grundsätzlich durch die »Verfügbarkeit« (disponi-
bilité) für das Andere gekennzeichnet ist. So ist die Verfügbarkeit die
»ursprüngliche Er-fah-rung der Zukunft« (ex-pér-ience originaire de
l’avenir) (ET, 227). Unser Bezug zu dem Zukünftigen erfolgt also
nicht, wenn wir die Zukunft planen, sondern dann, wenn wir offen
zu dem sind, was kommt.
Die Gegenwart ist für den advenant nicht dann erfahrbar, wenn
er zu sich selbst kommt, sondern dann, wenn das Ereignis mit ihm
geschieht und ihn ohne seine Teilnahme vor seiner Präsenz transfor-
miert. Die »Transformation« ist das Evential, durch das der advenant
der Präsenz des Ereignisses, die nicht seine Präsenz ist, antwortet:
»L’événemential selon lequel l’advenant se rapporte originairement au pré-
sent apertural où surgit l’événement est donc la transformation.« (ET, 239)
Im Moment der Transformation wird der advenant zu seiner »Singu-
larität« der Erfahrung gebracht (ET, 247).

151

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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE

Entsprechend der Eventialien, durch die der advenant der Zeiti-


gung des Ereignisses antwortet, hat die Ipseität »trois moments
structurels« – Verantwortlichkeit, Verfügbarkeit und Singularität
(ET, 248). Diese drei Strukturmomente entsprechen denjenigen, die
in L’événement et le monde entwickelt worden sind. Die Verantwort-
lichkeit entspricht der Verstrickung, die Passibilität der Verfügbarkeit
und die Singularität ist die Singularität der Transformation (ET,
248 f).

Zum Schluss dieses einleitenden Teiles müssen wir festhalten, dass


für Romano das Ereignis genauso wie für Marion ein Phänomen dar-
stellt: »l’événement est toujours adressé«, ein Empfänger ist im Er-
eignis »impliqué«. Für Deleuze und Badiou gehörte das Ereignis eher
zum Ontischen, während Heidegger, Levinas und Derrida es sowohl
jenseits des Ontologischen und als auch jenseits des Phänomenologi-
schen sahen. Wir werden später in der Tat sehen, dass die Bestim-
mung des Ereignisses als ein Phänomen und seine Behandlung inner-
halb einer Phänomenologie sehr problematisch sein können. Es
handelt sich dabei nicht um eine Kleinigkeit innerhalb des philo-
sophischen Diskurses. Es geht um eine fundamentale Frage, ob solche
»Sachen« wie Abgrund (Heidegger), der Andere (Levinas), bedin-
gungslose Gabe (Derrida), Zur-Welt-Sein (Merleau-Ponty), Liebe
(Marion), Tod und Geburt (Romano) – also die wichtigsten Dinge in
unserem Leben – als Erscheinungen, als Phänomene zu verstehen
und zu beschreiben sind.

152

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II. DIE LOGIK DES EREIGNISSES:
Martin Heidegger, Emmanuel Levinas,
Jean-Luc Marion

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie
Martin Heideggers

1. Das Ereignis in der Philosophie Martin Heideggers

Wenn man den Ort und die Bedeutung des Ereignisses in der Phi-
losophie Heideggers bestimmen will, ist es nützlich, in der ersten
Annährung zur Aufklärung dieser Frage darauf aufmerksam zu wer-
den, wie Heidegger seinen Weg des Denkens des Seins in drei Schritte
einteilt. Im Seminar in Le Thor 1969 sagt Heidegger:
»Drei Worte, die, indem sie einander ablösen, gleichzeitig drei Schritte auf
dem Weg des Denkens bezeichnen: SINN – WAHRHEIT – ORT (τόπος).«
(S, 344)
In dieser Aufzählung finden wir zunächst nicht das Wort »Ereignis«.
Wo es auftaucht, zeigt sich aber, wenn wir Heideggers Erörterung
seines Weges folgen. Der erste Schritt ist bekanntlich die Frage nach
dem »Sinn von Sein« (S, 334) in Sein und Zeit, also danach, wie das
Dasein im Vollzug seines Seins das Sein versteht. Nach diesem
grundlegenden Werk, am Ende der 20er Jahre und Anfang der 30er
Jahre, findet in Heideggers Denken eine »Kehre« statt, wird die
Seinsfrage anders gestellt. Es wird nicht mehr danach gefragt, wie
das Dasein in seinem Sein ist, sondern wie das Sein selbst »ist«. Das
Schlüsselwort zum Seinsverständnis wird »Wahrheit«. 144 Das Ent-
scheidende ist, wie Wahrheit verstanden wird. Die Kehre in Heideg-
gers Denken bedeutet – nicht nur, aber auch –, dass Wahrheit auf eine
ganz bestimmte Art ausgelegt wird. Es ist die Wahrheit als »ἀλή-
θεια«, als »Unverborgenheit«. 145 Sie ist das, durch das Seiendes (das

144 In den Beiträgen heißt es: »Die Seinsfrage ist die Frage nach der Wahrheit des

Seyns.« (BPh, 6)
145 Im Vortrag Vom Wesen der Wahrheit 1930 heißt es: »Die so verstandene Freiheit

als das Sein-lassen des Seienden erfüllt und vollzieht das Wesen der Wahrheit im
Sinne der Entbergung von Seiendem. Die ›Wahrheit‹ ist kein Merkmal des richtigen
Satzes, der durch ein menschliches ›Subjekt‹ von einem ›Objekt‹ ausgesagt wird und

155

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Beständige) anwest, ist. Weil in ihr das Seiende ist, weil in ihr das
Sein des Seienden offengelegt wird, ist sie grundsätzlich die Unver-
borgenheit des Seins:
»Die ›Wahrheit‹ ist des Seyns.« (A, 18) 146
Die Wahrheit ist immer die Unverborgenheit des Seins des Seienden.
Wenn die Wahrheit ist, ist das Sein. Aber auch die Gegenrichtung –
die Kehre – gilt: ist das Sein, so ist die Wahrheit. 147 Das Sein ist die
Wahrheit, es ist dann, wenn Wahrheit ist:
»Das Sein ist die Wahrheit […].« (A, 54) 148

dann irgendwo, man weiß nicht in welchem Bereich, ›gilt‹, sondern die Wahrheit ist
die Entbergung des Seienden, durch die eine Offenheit west.« (VW, 190)
146 Was die Zitate von Heideggers Werken zum Ereignis betrifft, ist Folgendes zu

beachten: 1. Wir setzen voraus, dass Heidegger seine Ereignisphilosophie zwischen


etwa 1930 und 1945 entwickelt hat. Bei der Darstellung der Hauptthesen dieser Phi-
losophie werden die Werke vor allem aus dieser Zeit zitiert. 2. Es ist klar, dass inner-
halb dieser Zeit eine Entwicklung der Herausarbeitung der Ereignisfrage geschieht,
d. h. manche Thesen wiederholen sich durchgängig, manche werden immer klarer und
klarer ausgedrückt, manche werden mit der Zeit detaillierter dargestellt, manche aber
verändert. Wir werden konsequent immer die »letzte«, d. h. »aktuell« gültige These
zu einer Teilthematik zitieren. 3. Wir werden immer die kürzeste, ausdrücklichste
und eindeutigste Formulierung auswählen. Manchmal wird das bedeuten, dass wir
eine spätere Schrift Heideggers zitieren, wo die schon in den früheren Schriften ent-
wickelten Gedanken klarer ausgedrückt werden. Dies betrifft insbesondere den Ab-
schnitt über das Verhältnis von Ereignis und Sprache. 4. Das Ereignisdenken Heideg-
gers erlebt eine bedeutsame Wende, wenn es an dem konkreten Ort gebunden wird.
Hinsichtlich dieses Aspektes können wir nicht die Abhandlungen zwischen 1930 und
1945 zitieren, da diese Wende erst später geschieht. So werden wir im Abschnitt über
die Ortshaftigkeit des Ereignisses spätere Texte zitieren. 5. Die unveröffentlichten
Abhandlungen sind experimentierende Texte, was heißt, dass nicht jede Aussage eine
geltende und durchdachte These darstellt. Wir vermuten hier, dass erst mehrmals sich
wiederholende Aussagen den Charakter einer These aufweisen. Aus diesem Grund
werden wie versuchen, zu einem Zitat immer mehrere Stellen aufzuweisen, wo das-
selbe gesagt wird. 6. In Heideggers Schriften nach 1945 findet man oft Gedanken, die
auf die Ereignis-Abhandlungen zurückzuführen sind. An vielen Stellen werden wir
solche Gedanken besonders hervorheben.
147 Heidegger spricht sehr oft von der Kehre als »Widerwendigkeit« (BPh, 258) von

Sein und Wahrheit im folgenden Sinne: »Die Wahrheit des Seyns ist das Seyn der
Wahrheit.« (BPh, 95) Dies zeigt die grundsätzliche Zugehörigkeit und faktische (d. h.
ereignishafte, nicht begriffliche) Selbigkeit von Sein und Wahrheit – das Sein ist die
Wahrheit und die Wahrheit ist das Sein. Dazu siehe zum Beispiel: BPh, 20, 95, 185,
189, 258; B, 118; A, 43, 53, 59; E, 3, 9, 10, 19, 76, 139, 140, 150.
148
Siehe auch: ÜM, 22.

156

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

Damit sind wir aber unmerklich zum Konzept des Ereignisses ge-
langt. Weil die Wahrheit für Heidegger nicht wie ein Seiendes »ist«,
sondern »west«, sich ereignet, ist sie ein (oder eher das) Ereignis:
»Die Wahrheit des Seyns […] ist das Ereignis.« (BPh, 258) 149
Und damit ist auch das Sein das Ereignis:
»Das Seyn west als das Ereignis.« (BPh, 260) 150
Die Frage nach der Wahrheit ist also die Frage nach dem Ereignis als
dem, wie die Wahrheit und das Sein sind.
Dazu weiter: Die Kehre in Heideggers Denken lässt ihn nicht
mehr die grundlegenden Strukturen des Seins des Daseins – also die
transzendentalen Gründe – für eine Metaphysik suchen, sondern den
Grund der Metaphysik selbst. Heidegger findet diesen Grund der
Metaphysik im ursprünglichen Ereignis der Wahrheit des Seins. Es
handelt sich hier aber um keinen ontologischen oder transzenden-
talen Grund, sondern um einen geschichtlichen Grund als den An-
fang einer Geschichte. Die Wahrheit des Seins als Ereignis ist der
»Anfang«:
»Die ἀλήθεια west als der Anfang.« (E, 9) 151
Die Frage nach der Wahrheit ist also einmal die Frage nach dem Er-
eignis als Geschehnis der Unverborgenheit des Seins (weil die Wahr-
heit sich ereignet) und ein andernmal nach dem Ereignis als dem
Anfang (weil die Wahrheit als Ereignis der Anfang ist). Diese Zwei-
deutigkeit des Ereignisbegriffes deutet, wie wir später sehen werden,
nicht auf eine ungenaue Terminologie hin, sondern liegt in der Logik
des Ereignisses selbst. Das heißt: Man kann nicht anders über das
Ereignis sprechen als nur zweideutig, nämlich so, dass es ein Ge-
schehnis, eine »Wesung« und der Anfang ist.
Der dritte Schritt des Weges Heideggers ist die Frage nach dem
Ort. Diese Verschiebung erklärt er dadurch, dass die Wahrheit nicht
als »Richtigkeit« verstanden werden darf, sondern als »Örtlichkeit
des Seins« (S, 335). Das bedeutet, dass der späte Heidegger den Ort
der Wahrheit nicht im Urteil, wo die Wahrheit (oder Unwahrheit)
über etwas ausgesagt wird, sieht, 152 sondern an einem Ort, wo die

149 Bereits im Teil I zitiert.


150
Bereits im Teil I zitiert.
151 Bereits im Teil I zitiert.
152
Dies behauptet Heidegger schon in einer der ersten Abhandlungen, die in der

157

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Wahrheit des Seins geschieht. Wenn die Wahrheit in Heideggers Phi-


losophie zuerst zum Ereignis wird, dann liegt ein weiterer Schritt
darin, dass dieses Geschehnis an einen Ort gebunden wird – es
schwebt nicht irgendwo, sondern an einem Ort: in der Lichtung. Die
Wahrheit ist die Lichtung, wo das Ereignis der Wahrheit des Seins,
d. h. des Seiend-Werdens des Seienden für das Dasein geschieht:
»Wahrheit ist die zum Seyn als Er-eignis gehörige Lichtung.« (B, 314) 153

Was für ein Ort die Lichtung ist, muss allerdings zuerst noch erklärt
werden. Eines muss man aber festhalten: Das Ereignis der Wahrheit
geschieht an einem Ort. Noch genauer: Es ist ein Ort. Und dies ist
faktisch das wichtigste Strukturmoment der Logik des Ereignisses.
Damit sehen wir, dass wir auch vom Ort aus zum Ereignis ge-
langt sind. Der Ort ist der des Ereignisses der Wahrheit des Seins. In
den letzten zwei Etappen auf dem Denkweg Heideggers wird also das
Ereignis gedacht: das Ereignis der Wahrheit und diese Wahrheit als
Ort. Deswegen kann man Friedrich-Wilhelm von Herrmann nur zu-
stimmen, wenn er, Heidegger folgend, schreibt:
»›Ereignis‹ ist seit 1936 das Leitwort für das Denken Heideggers. Das in
diesem von ihm selbst gegebenen Hinweis angeführte Datum bezieht sich
auf die Beiträge zur Philosophie, deren andere, wesentliche Überschrift
Vom Ereignis lautet. […] Seit dem Durchbruch des Ereignis-Denkens be-
wegen sich alle Wege Heideggers in dieser neu gewonnenen Blickbahn,
auch wenn diese in ihren Wesensbezügen und -zusammenhängen nicht

Kehre entstanden ist, nämlich in Vom Wesen der Wahrheit: »Wahrheit ist nicht ur-
sprünglich im Satz beheimatet.« (VW, 185) Oder noch früher in Sein und Zeit, wo die
Wahrheit nicht als »Übereinstimmung zwischen Erkennen und Gegenstand« (SZ,
218), sondern primär als »Entdeckend-sein« und im zweiten Sinne als »Entdeckt-
sein« verstanden wird (SZ, 220). Die Wahrheit ist also dann, wenn das Dasein ein
innerweltliches Seiendes entdeckt, sieht. Und die Wahrheit ist dann, wenn das inner-
weltliche Seiende entdeckt und sichtbar geworden ist. Ohne Zweifel gibt es eine Pa-
rallelität zwischen dieser Auslegung der Wahrheit in Sein und Zeit und dem späteren,
nach der Kehre entstandenen, Verständnis der Wahrheit. Aber es besteht auch eine
Kluft zwischen diesen beiden Ansätzen, weil in Sein und Zeit die Wahrheit im Dasein
– in seiner »Erschlossenheit« (SZ, 220 f) – gegründet ist, während nach der Kehre die
Wahrheit der Grund ist, der das Dasein gründet.
153 Zur Wahrheit als Lichtung siehe zum Beispiel: BPh, 29, 350; ÜM, 22, 30 f, 63; E,

280; und später: S, 345. Zur Wahrheit als Ort des Ereignisses siehe auch: »Wo aber hat
diese Begegnung zwischen dem, was anwest und dem Seienden, dessen Weise der
Anwesenheit das Sichöffnen für den Empfang dieser Anwesenheit ist, ihren Ort?
Wo, wenn nicht in der ἀλήθεια? Darum kann ἀλήθεια nicht durch »Wahrheit« über-
setzt werden.« (S, 297)

158

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

immer selbst thematisch wird wie in den Beiträgen.« (Herrmann


(1994a), 1) 154
Man muss aber beachten, dass das Konzept des Ereignisses das Den-
ken Heideggers nach Sein und Zeit in der Tat bloß »leitet«. Das be-
deutet nicht, dass es überall im Rampenlicht steht (sonst hätte viel-
leicht Heidegger gesagt, dass sein Thema das Ereignis und nicht die
Wahrheit und der Ort ist), sondern dass es vor allem eine neue Weise
des Denkens des Seins eröffnet und führt. Es wäre falsch zu sagen,
dass Heidegger vom Denker des Seins zum Denker des Ereignisses
wird – eher denkt er das Sein durch das Ereignis. Er denkt das Ereig-
nis des Seins. Und durch das Ereignis denkt er die Wahrheit, Anfäng-
lichkeit und Örtlichkeit des Seins. Wenn man also den Ort und die
Bedeutung des Ereignisbegriffes bei Heidegger bestimmen möchte,
müsste man sehen, dass die Frage Heideggers immer die Frage nach
dem Sein ist und dass das Ereignis ein Rahmen für das Denken des
Seins ab der Kehre anbietet. Es »leitet« – besser kann man es nicht
ausdrücken – das Denken des Seins. 155
Damit stehen wir aber vor einer Schwierigkeit. Wir wollen mit
Heideggers Hilfe die Strukturen des Ereignisses aufdecken. Nicht also
die Strukturen des Ereignisses des Seins, sondern des Ereignisses
überhaupt. Bei einem solchen Vorhaben stellt man bald fest, dass in
Heideggers Denken das Ereignis mit dem Sein sehr stark verwoben
ist, sodass es schwierig ist aufzudecken, worin die Ereignishaftigkeit
des Ereignisses selbst im Ereignis des Seins liegt. 156 Dies fordert eine

154 Herrmann bezieht sich hier auf zwei von Heidegger 1949 gemachte Anmerkungen

zum Brief über den Humanismus. Die erste sagt: »Das hier Gesagte ist nicht erst zur
Zeit der Niederschrift ausgedacht, sondern beruht auf dem Gang eines Weges, der
1936 begonnen wurde, im ›Augenblick‹ eines Versuches, die Wahrheit des Seins ein-
fach zu sagen.« (HB, 313) Die zweite lautet: »Denn ›Ereignis‹ seit 1936 das Leitwort
meines Denkens.« (HB, 316) Siehe auch: Herrmann (1994b), 512. Man muss hier
darauf achten, dass diese Anmerkungen 1949 gemacht werden und sich nicht ohne
Weiteres auf Heideggers ganze spätere Philosophie beziehen lassen. Man kann aber
hinzufügen, dass er 1957 nochmals vom Ereignis als seinem »Leitwort« spricht: »Das
Wort Ereignis soll jetzt, aus der gewiesenen Sache her gedacht, als Leitwort im Dienst
des Denkens sprechen.« (ID, 45)
155 In den Beiträgen – nach der Kehre also – schreibt Heidegger: »Die Frage nach dem

›Sinn‹ […], kurz nach der Wahrheit des Seyns ist und bleibt meine Frage und ist
meine einzige, denn sie gilt ja dem Einzigsten.« (BPh, 10) Es ist immer die Frage nach
dem Sein, nur unterschiedlich gestellt: zuerst als die Frage nach dem Sinn, dann nach
der Wahrheit des Seins, d. h. nach dem Ereignis.
156
Der tiefste Grund dieser »Verwobenheit« liegt darin, dass es für Heidegger nur ein

159

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

grundsätzliche Unterscheidung von strukturellen und inhaltlichen


Aspekten im Ereignis des Seins. Uns interessiert also nicht, wie Hei-
degger das Ereignis des Seins konkret beschreibt, sondern das, was das
Sein ereignishaft macht, was das ist, was jetzt vom Sein als Ereignis
zu sprechen erlaubt. Wir werden feststellen, dass das Ereignis zuerst
den Geschehnis- bzw. Wesungscharakter des Seins bedeutet, der wie-
derum bestimmte Strukturen aufweist, zum Beispiel den Austrags-
oder Anfänglichkeitscharakter. Wir werden sehen, dass das Ereignis
später als Anfang der Wesung des Seins verstanden wird, der das
Geschehnis der Wahrheit des Seins erst möglich macht, also gibt.
Das Ereignis als Anfang wird wiederum eine bestimmte Logik auf-
weisen, zum Beispiel, dass es sich als Anfang entzieht, aber auch eine
Geschichte hinter sich lässt.

2. Die Zweideutigkeit des Ereignisses:


die Wesung und der Anfang

Das Ereignis in der Philosophie Heideggers ist wesentlich das Ereignis


des Seins. Daraus folgt: Wollen wir das Ereignis verstehen, müssen
wir zuerst das Sein verstehen, wir müssen also verstehen, was an dem
Sein das ist, was es als ein Ereignis zu denken erlaubt.
Es gibt vor allem zwei Kontexte, in denen das Sein mit dem Er-
eignis zusammengebracht wird. Einmal, wenn es um die Wesung des
Seins geht, ein andernmal, wenn es um den Anfang der Wesung des
Seins geht. Damit wird schon die »Mehrdeutigkeit« oder Zweideutig-
keit des Ereignisbegriffes in Heideggers Philosophie angedeutet. Ei-
nerseits ist es der Wesungscharakter des Seins, es ist, wenn man das
so ausdrücken könnte, im Sein. Andererseits ist das Ereignis etwas

einziges Ereignis gibt, nämlich das des Seins. Vom Ereignis zu sprechen, ist dasselbe,
wie vom Sein zu sprechen. Allerdings stellt Heidegger eine solche These nicht explizit
auf. Sie stellt eher eine Vor-Entscheidung dar. Man kann diesbezüglich vermuten, dass
für ihn alle anderen Ereignisse (Offenbarung, Liebe etc.) nur als Ereignisse innerhalb
des Horizonts des Seienden geschehen und nicht den Titel des eigentlichen Ereignis-
ses – des Seinsereignisses – verdienen. Dass Heidegger nur »ein einziges Ereignis des
Seins« (un unique événement d’être) setzt, darauf weist auch Claude Romano hin
(EM, 29). Jedes andere Ereignis wird in Heideggers Philosophie »zum Rang des blo-
ßen innerweltlichen Faktums herabgesetzt« (ravalé au rang de simple fait intramon-
dain) (EM, 29). Für eine Philosophie des Ereignisses gibt es selbstverständlich viele
Ereignisse: »Si l’être peut bien être pensé, à la manière de Heidegger, comme un
événement, tout événement n’est pas événement d’être (existence).« (EM, 32)

160

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

vom Sein Separates, nämlich der Anfang als Einbruch des Seins. Was
die »Entwicklung« des Ereignisdenkens Heideggers betrifft, so finden
wir die erste Bedeutung des Ereignisses als Wesung des Seins in sei-
nen ersten seinsgeschichtlichen Abhandlungen (zum Beispiel in den
Beiträgen). Das Ereignis wird vom Sein im späteren Ereignisdenken
(zum Beispiel schon in Über den Anfang) unterschieden, wo es als
Anfang der Wesung des Seins gedacht wird. 157 Man könnte fragen:
Wenn wir sagen, dass das Ereignis als Anfang vom Sein unterschie-
den wird, wie können wir immer noch behaupten, dass das Ereignis
nur im Zusammenhang mit dem Sein gedacht wird? Das Ereignis als
Anfang muss immer zusammen mit dem Sein gedacht werden, weil
der Anfang immer ein Anfang von etwas ist. Die Mehrdeutigkeit des
Ereignisses bedeutet nicht einfach, dass das Wort »Ereignis« zwei Be-
deutungen hat, sondern dass es an sich ein Vieles ist, nämlich der
Anfang und das, was anfängt.
Wir sagen also, dass das Ereignis die Wesung des Seins ist. Doch
was bedeutet »Wesung«? Die »Wesung« ist zwar kein zentrales Wort
in Heideggers Denken, kann aber helfen, das Ereignis zu verstehen.
Das Wort taucht – besonders in den Beiträgen – auf, um das Sein
gegen alle Vergegenständlichungsversuche abzugrenzen. Das Sein
ist nämlich kein Gegenstand, kein Seiendes:
»Doch Da-sein hat alle Subjektivität überwunden, und Seyn ist niemals
Objekt und Gegenstand, Vor-stellbares; gegenstandsfähig ist immer nur
Seiendes und auch hier nicht jedes.« (BPh, 252) 158

157 Auf diese Verschiebung weist Heidegger selbst im Seminar Le Thor 1969 hin: »Es

wird einem nicht gelingen, das Ereignis mit den Begriffen von Sein und Geschichte
des Seins zu denken; ebenso wenig mit Hilfe des Griechischen (über das vielmehr
gerade ›hinauszugehen‹ ist).« Und weiter: »Mit dem Ereignis wird überhaupt nicht
mehr griechisch gedacht.« (S, 366) Noch ein wenig später sagt er: »Sicherlich kann
man sagen: das Ereignis ereignet das Sein […].« (S, 367) Es ist folgendermaßen zu
interpretieren: Das ursprüngliche griechische Denken hat die Wahrheit als Unverbor-
genheit des Seins gedacht. Sie ist ein konkretes Geschehnis, das das Denken in Gang
bringt und so eine Geschichte des Denkens auslöst. Aber das Ereignis ist nicht dieses
Geschehnis und seine Umformungen in der Geschichte, sondern der Anfang dieses
Geschehnisses und dieser Geschichte. Es ist das, was sich ereignet und in diesem Er-
eignen das Sein hervortreten lässt. Das Ereignis wird also als etwas vom Sein Unter-
schiedliches gedacht. Rudolf Wansing formuliert dies folgendermaßen: »Nun wird das
›Ereignis als Ereignis‹ ausdrücklich als etwas vom Sein Unterschiedenes prädiziert.«
(Wansing(2004), 96).
158
Dass das Sein kein Seiendes, kein Gegenstand, nichts Vorstellbares etc. ist, besagt
schon die ontologische Differenz in Sein und Zeit. Man muss aber merken, dass, ob-
wohl die ontologische Differenz nach der Kehre aufgelöst wird und das Sein zum Sein

161

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Ein Seiendes ist etwas Beständiges, etwas ständig Anwesendes:


»Seiend ist, was so, in Beständigkeit und Anwesenheit, sich zeigt.« (BPh,
191)
Die Beständigkeit wird »hier voll begriffen als das Bestehen auf (In-
sistieren) der Beständigung der Anwesung in die dauernde Anwesen-
heit« (E, 40) 159, und die Anwesenheit »ist Gegenwart im Sinne der
Gesammeltheit der Ausdauer« (BPh, 192) 160. Das Seiende ist also das,
was auf der dauernden Anwesenheit besteht. Deswegen ist es. Das
Seiende ist also, und deswegen ist es ja auch das Seiende, weil es so –
in ständiger Anwesenheit – ist. Die Wesung ist aber eine andere
Seinsweise als die des Ist. Sie ist nichts ständig Anwesendes. Deswe-
gen schreibt Heidegger:
»Das Seiende ist. Das Seyn west.« (BPh, 30) 161
»Nicht ist es das Selbe: das im höchsten Sinne Seiende (Seiendste) und das,
was als das reine Sein nie ein Seiendes ist und doch gerade deshalb die reine
Wesung bleibt und anfänglich und einzig ›ist‹ […].« (E, 11)
Die »Wesung« ist also das Gegenwort zum »ist«, das ständige Anwe-
senheit bedeutet. Weil das Sein nicht (beständig) ist, ist es die We-
sung. Es west, es »istet« stattdessen. Und weil es west und istet, ist es
ein Ereignis, das »nicht immer ist«:
»Das ist die Wesung des Seyns selbst, wir nennen sie das Ereignis.«
(BPh, 7) 162
»Das Sein aber istet als das Er-eignis. Es ist nicht immer.« (E, 124) 163
Des Weiteren: Ein ständig Anwesendes ist etwas, wem man immer,
wenn man nur möchte, begegnen kann – es ist da, als etwas Diskretes,
mehr oder weniger Unveränderliches, das auf uns wartet. Die ständi-
ge Anwesenheit impliziert, dass das Seiende, insofern es ist, etwas ist
und als dieses Etwas bleibt:

des Seienden wird, die Bestimmung des Seins als Nichts-Seiendes intakt bleibt: BPh,
29, 252, 263, 480; B, 199; A, 9 f, E, 214, 128 ff, 263.
159 Zum Begriff der Beständigkeit siehe auch: BPh, 192, 272; E, 56.

160 Zum Begriff der Anwesenheit siehe auch: BPh, 272.

161 Das Sein ist nicht, Sein west: BPh, 7, 74, 254, 260, 286, 342, 344.

162
Zur Wesung des Seins als Ereignis siehe auch: BPh, 8, 26, 30, 108, 183, 230, 247,
254, 260, 344; B, 91, 92, 98, 100, 268.
163
Zum »isten« siehe auch: A, 69; E, 263.

162

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

»Die Beständigung in das Verfestigte ist je in sich Abschnürung, Begren-


zung, Vereinzelung, Losriß aus der wesenden Anwesung. / Darin liegt die
Möglichkeit des Seienden vor dem Sein. Darin liegt aber auch die Möglich-
keit der Versteifung auf Für-sich-stehende und so Ab-stehende und Abstän-
dige. Dieses Abständige ergibt die Möglichkeit des Gegenständigen.« (E, 71)
Das Seiende reißt sich von der Wesung des Seins und ist etwas Be-
grenztes, Für-sich-Stehendes, fast Gegenständliches. Es ist etwas Sta-
tisches und Bleibendes. Es ist also ein Wesen, es hat ein Wesen, das
unabhängig von allen Umständen da ist. Die ereignishafte Wesung ist
aber kein Wesen – es ist nichts Beständiges, dem man in der Welt
immer begegnen kann oder im Denken immer als dasselbe vergegen-
wärtigen kann. Es ist nichts, was man denken und immer wieder er-
neut denken kann. Es ist also nichts Vor-stellbares, wenn das »Vor-
stellen: Gegenwärtigen von etwas als etwas« (E, 20) ist:
»Das Wesen als Wesung ist nie nur vor-stellbar […]. Die Wesung jenes,
worin wir einfahren müssen. Das meint hier ›Erfahrung‹ ; einfahren, um
in ihr zu stehen und sie auszustehen, was geschieht als Da-sein und dessen
Gründung.« (BPh, 287–289) 164
Damit ist uns gesagt: Die Wesung, also das Ereignis, lässt sich nicht
auf ein Seiendes reduzieren. Das Ereignis hat nicht die Seinsweise der
ständigen Anwesenheit und des Wesens. Mehr noch: Das Wesen ist
»erstarrte« und »verhärtete« Wesung. 165 Das Wesen ist zum Still-
stand gekommene Wesung, etwas, das die Ereignishaftigkeit verloren
hat. 166 Man könnte auch sagen: Die Wesung ist nicht etwas, sondern
ein Dieses, nicht etwas als etwas, sondern genau dieses, das sich hier
und jetzt ereignet. Das Sein ist nicht etwas: »das Seyn ist nur das
Seyn […]« (A, 23). 167 Es ereignet sich nur, ohne in die Relation, wo
es als etwas bestimmt wird, zu kommen: »Was bleibt zu sagen? Nur
dies: Das Ereignis ereignet.« (ZS, 24).
Wenn also Heidegger das Sein als Ereignis charakterisiert, will er
zeigen, dass das Sein kein beständiges Wesen ist. Das Ereignis ist die

164 Die Wesung gegen das Wesen: BPh, 66, 287, 289, 354 f; ÜM, 23.
165 Das Wesen ist erstarrte, verhärtete Wesung: BPh, 342, B, 203, E, 107.
166 Hier muss man darauf achten, dass Heidegger im seinsgeschichtlichen Denken

nicht immer »Wesung« schreibt, sondern auch »Wesen«, meint aber genau die ereig-
nishafte Wesung des Anfänglichen: »Der Grundsatz des anfänglichen Denkens lautet
daher gedoppelt: alles Wesen ist Wesung. Alle Wesung bestimmt sich aus dem We-
sentlichen im Sinne des Ursprünglich-Einzigen« (BPh, 66).
167
Siehe auch: A, 110.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Wesung. Heißt das, dass das Ereignis ein Prozess, eine Bewegung,
eine Veränderung u. Ä. ist? Nein, insofern auch ein Prozess etwas
Andauerndes, Für-sich-Seiendes, Bestimmtes und Vor-stellbares ist.
Dies alles ist das Ereignishafte nicht. Es ist stattdessen nicht bestän-
dig, augenblicklich, nur dieser Augenblick und, wie uns das oben an-
geführte Zitat sagt, etwas Erfahrbares. Die Wesung und somit das
Ereignis ist kein beständiger, gegenüber uns stehender und in ihrem
Wesen erkennbarer Gegenstand, sondern etwas Erfahrbares. Damit
wird zuerst noch nicht viel gesagt, weil wir noch nicht wissen, was
hier »einfahren«, »Erfahrung«, »in ihr stehen« und »ausstehen« in
einem Dieses heißen. Trotzdem ist uns damit ein weiterer Hinweis
gegeben, was das Sein und somit auch das Ereignis ist: Das Ereignis
ist ein erfahrbares Dieses. Um dieser »Seinsweise« des Ereignisses ein
wenig näher zu kommen, können wir uns vielleicht ein Beispiel er-
lauben. Der Schmerz oder auch das Todesverständnis sind keine Sei-
enden. Und sie werden grundsätzlich als Diese hier und jetzt erfah-
ren. Der Schmerz besteht im Schmerzen, das ich jetzt erfahre, und ist
nicht mir gegenüber als etwas von mir Separates und Gegenständli-
ches, von dem ich das Wesen kennen kann. Aus diesem Grund wäre es
vielleicht nicht ganz falsch, von der Wesung und somit dem Ereignis
des Schmerzes zu sprechen, nämlich in dem Sinne, dass der Schmerz
nicht ist, sondern schmerzt. Allerdings muss man bei diesem Ver-
gleich von der Wesung des Seins und der Wesung des Schmerzes
beachten, dass Heidegger das Ereignis von jedem Erlebnis abgrenzt. 168
Und diese Abgrenzung ist äußerst wichtig für sein Verständnis des
Ereignisses. Eher müssten wir sagen: Das Ereignis ist ein Dieses, in
dem man steht.

168 Bekanntlich spricht der junge Heidegger in der KNS-Vorlesung 1919 über die

Erlebnisse als Ereignisse: »Die Erlebnisse sind Er-eignisse, insofern sie aus dem Eige-
nen leben und Leben nur so lebt.« (KNS, 75) Doch der Kontext, in dem diese Aussage
entsteht, und auch der hier verwendete Begriff des Ereignisses, hat mit Heideggers
späterer Ereignisphilosophie nichts zu tun. In der KNS-Vorlesung wird das Wort »Er-
eignis« gebraucht, um den Gegenstand der »Urwissenschaft« zu bestimmen. Das, was
die Urwissenschaft untersucht, sind nämlich nicht psychische »Vorgänge«, die als
Objekte dem unbeteiligten Untersuchenden gegenüberstehen, sondern »Ereignisse«
als thematisierte Erlebnisse, die man nicht als Objekte beschreibt, sondern auch wei-
terhin lebt: »Das »Er-leben geht nicht vor mir vorbei, wie eine Sache, die ich hinstelle,
als Objekt, sondern ich selbst er-eigne es mir, und es er-eignet sich seinem Wesen
nach. Und verstehe ich es darauf hinblickend so, dann verstehe ich es nicht als Vor-
gang, als Sache, Objekt, sondern als ein ganz Neuartiges, ein Ereignis.« (KNS, 75)

164

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

Das Ereignis ist aber in Heideggers Philosophie nicht nur ein


Charakteristikum des Seins, das das Sein gegen das Seiende ab-
zugrenzen ermöglicht. Das Ereignis ist nicht nur das Sein, insofern
es west, sondern als Nichts-Beständiges und deswegen Augenblick-
liches immer auch der Anfang, der Einbruch des Seins:
»Das Sein beginnt und endet nicht, es besteht auch nicht ›fortwährend‹ in
der Dauer des Seienden. Das Sein fängt an und dies wesenhaft: Es ist der
eignende Anfang.« (E, 147)
»Der Anfang ist das Seyn selbst als Ereignis, die verborgene Herrschaft des
Ursprungs der Wahrheit des Seienden als solchen. Und das Seyn ist als das
Ereignis der Anfang.« (BPh, 58) 169
Während in den früheren seinsgeschichtlichen Abhandlungen das Er-
eignis die Wesung des Seins bedeutet, die auch anfänglich ist, unter-
scheidet die spätere Ereignisphilosophie Heideggers die Wesung (das
Ereignis) des Seins und den Anfang als Ereignis. Das Ereignis des
Seins spaltet sich in Sein, das grundsätzlich als die Wahrheit ge-
schieht, und Ereignis als Anfang. 170 In einem späteren Vortrag – Zeit
und Sein (1962) – ist diese Verschiebung besonders deutlich zu sehen:
das Geben (der Anfang) wird von der Gabe (des Seins) unterschieden:
»Demnach bezeugt sich das Es, das gibt, im »Es gibt Sein«, »Es gibt Zeit«,
als das Ereignis.« (ZS, 24) 171
Das Ereignis als Anfang gibt das Sein als eine Gabe. Doch wie sollte
dieses anfängliche »Es«, das gibt, verstanden werden? Als ein »Ge-
ber« im weitesten Sinne des Wortes, zum Beispiel als eine Ursache,
als eine Bedingung der Möglichkeit? Und wie sollten wir das Geben
denken? Als eine Verursachung, einen Vorgang? Weder noch. Wenn
wir einen Geber und einen Vorgang denken würden, würden wir

169 Das Ereignis der Wahrheit des Seins als Anfang: Beiträge, 17; Besinnung, 192, 313,

349, 405; A, 9, 11, 30, 54, 15, 16, Ereignis, 9, 14, 15, 16, 17, 18 f, 46, 56, 59, 67, 68, 69.
170 Es muss schon gefragt werden, warum die Wesung als Ereignis auch der Anfang

ist, wobei der Anfang des Ereignisses als etwas anderes als die Wesung gedacht wer-
den muss, obwohl er doch gleichzeitig unzertrennlich zum Ereignis gehört, sodass
man sagen kann, dass der Anfang das Ereignis ist. Heidegger gibt keine Erklärung
dafür. Er schreibt sogar: »Befremdlich muß es langehin sein, daß Ereignis und Anfang
innig dasselbe ›sind‹.« (E, 227). Zur Selbigkeit vom Ereignis und Anfang siehe auch:
A, 10 f, E: 147, 150.
171 Zum Ereignis, das gibt, siehe auch: S, 365. 1957 sagt Heidegger »Reichen« (FV,

168).

165

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

immer ein »Etwas« setzen, wir würden ein Seiendes, das ist, ein
Wesen denken, doch:
»Indes: Das Ereignis ist weder, noch gibt es das Ereignis.« (ZS, 29)
Wir können also dem Ereignis nicht als einem Seienden begegnen
und es uns vorstellen. 172 Hier wird aber noch mehr gesagt: Wir kön-
nen es auch nicht erfahren, so wie wir das Sein erfahren und ver-
stehen können – das Ereignis »gibt es nicht«. Das Sein ist nicht, weil
nur das Seiende ist, was das Sein nicht ist, doch es gibt es. 173 Aber das
Ereignis gibt es nicht. Das Sein ist nicht, doch es west, aber das Er-
eignis west nicht: »Das Ereignis »ist« aber selbst nicht mehr in der
Weise eines sonstwie noch wesenden Seins.« (A, 83) Wie »ist« der
Anfang, wenn er nicht ist und nicht west? Vorausgreifend können
wir sagen: Er ist Untergang. Das Fundamentalste des Anfangs ist,
dass er nur anfängt. Er bleibt nicht. Er vergeht:
»Der Anfang muß Untergang sein.« (A, 84)
Wenn der Anfang bleiben würde, wäre er kein Anfang. Wenn man
den Anfang, nur ein kleines bisschen von ihm, behalten könnte, wenn
man ihn nur ein wenig andauern lassen könnte, wäre das kein Anfang
mehr, sondern ein Seiendes. Er »ist« aber nur, insofern er »sich
immer entziehend« (BPh, 57) »ist«. Das Ereignis ist nicht, ist nichts,
west nicht, sondern ereignet sich nur, indem es anfängt und gleich
untergeht. Aber trotzdem – und dies ist wieder ein entscheidender
Moment – fängt der Anfang an, er fängt etwas an.
Wir stellen also fest, dass das Ereignis für Heidegger ein Zwei-
faches bedeutet: die Wesung als die Seinsweise des Nicht-Seienden
und den Anfang als Untergang. Wir können auch noch genauer
sagen, dass die erste Bedeutung das Wort »Ereignis« in den früheren
seinsgeschichtlichen Abhandlungen hat und die zweite in den späte-
ren. Doch weiter: Das gerade Gesagte betrifft das Wort »Ereignis«
und seinen Gebrauch. Und es ist nichts Ungewöhnliches, dass man
ein Wort benutzt, um zwei Sachen zu bezeichnen. Die Situation die-
ses Mal ist aber anders, wenn nicht umgekehrt. Eigentlich geht es um
das Selbe (das Ereignis), das mit zwei Worten – nämlich Wesung und
Anfang – bezeichnet wird. Das Wort »Ereignis« ist zweideutig, aber

172
Siehe auch: »Freilich darf das Ereignis nie unmittelbar gegenständlich vorgestellt
werden.« (BPh, 263)
173
»Wir sagen nicht: Sein ist, Zeit ist, sondern: Es gibt Sein und es gibt Zeit.« (ZS, 9)

166

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

wir wollen hier nicht den Gebrauch dieses Wortes untersuchen, son-
dern das Ereignis selbst. Und dann müssen wir feststellen, dass es von
Anfang an das ist, was zuerst als die Wesung und dann als Anfang der
Wesung beschrieben wird, aber doch immer dasselbe bleibt, was
durch diese beiden Aspekte beschrieben werden kann. Kurz gesagt:
Das Ereignis ist beides – die Wesung und der Anfang der Wesung.
Deswegen kann man auch sagen, dass die Wesung der Anfang ist
und umgekehrt. Das Wort »Ereignis« ist zweideutig, aber es bezeich-
net nicht zwei unterschiedliche Sachen, sondern das, was an sich
zweideutig ist. Wir sagen »zweideutig« und nicht »zweifaltig«, weil
dieses Eins nicht aus zwei Aspekten besteht, sondern man kann nur
im Denken, im Sprechen, im Deuten zwei Aspekte in ihm unterschei-
den. Diese zwei unterschiedenen Aspekte – die Wesung und der An-
fang – sind aber im Ereignis dasselbe. Sie bedeuten nicht dasselbe (die
Sprache über das Ereignis ist immer »zweideutig«), sie sind im Ereig-
nis dasselbe. Das Ereignis, der Anfang, ist das Ereignis der Wesung:
»Hier ist nicht Beginn von etwas innerhalb einer und für eine Folgeordnung
von etwas. / Anfang ist nicht die Art eines Anhebens von etwas, was es
eigentlich gilt. / Der Anfang selbst ist das wesende Sein – Dieses ist An-
fang.« (A, 109) 174
Im Anfang, im Ereignis als Anfang, gibt es nicht den Anfang und
auch noch das, was anfängt. Dann hätten wir ein typisches metaphy-
sisches Schema, wo etwas ein anderes etwas verursacht oder anderes
ermöglicht:

174 Wir bitten um die Beachtung dieser grundsätzlichen Struktur des Ereignisses. Sie

findet man nämlich nicht nur bei Heidegger, sondern auch zum Beispiel bei Levinas
(bei ihm ereignet sich das immer schon entzogene Unendliche als seine Spur im Ant-
litz des Anderen) und Marion (bei ihm ereignet sich die begrifflich uneinholbare Ge-
gebenheit als das Gegebene hier und jetzt). Das Ereignis ist zweidimensional. Darauf
weist auch zum Beispiel Claver Boundja hin, wenn er über das Ereignis bei Levinas
spricht, obwohl er, wie es aussieht, nicht die enorme Bedeutung dieser Aussage für
eine Philosophie des Ereignisses richtig einschätzt. Er schreibt also in Bezug auf den
Ursprung, den er als Ereignis versteht: »Mais l’origine est le lieu où procède quelque
chose. On peut donc distinguer deux dimensions dans l’origine: le pur jaillissement
distinct de toute cause (événement) et le quelque chose qui procède de l’origine.«
(Boundja, 109) Achten wir auf seinen Sprachgebrauch: Er sagt nicht, dass es zwei
Sachen – den Ursprung und das, was entspringt – gibt, sondern dass diese zwei
»Sachen« im Ursprung sind.

167

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

»Und der Anfang ist nicht Anfang von etwas Anderem, als er selbst ist; der
Anfang ist auch nicht der Anfang seiner selbst, als wäre da an ein Herstellen
und Verursachen gedacht.« (A, 18)
»Denn überall regt sich die Frage: ›Was‹ fängt da an? ›Was‹ ereignet sich? /
Gibt es denn einen ›Anfang‹, ein Ereignis, da ›nichts‹ anfängt und nichts sich
ereignet? / Diese scheinbar berechtigten Fragen gleiten unversehens in die
Metaphysik zurück; genauer gesagt: sie kommen noch aus ihr her.« (A, 17)
Doch diese innere Logik der Zweideutigkeit impliziert noch einen
Aspekt. Die Frage Heideggers ist die Frage nach dem Sein. Er kommt
zum Gedanken, dass das Sein als Ereignis zu beschreiben wäre: als
Wesung und Anfang. Der Anfang ist der der Wesung. Sie sind ereig-
nishaft dasselbe, doch begrifflich lassen sie sich gegenseitig erklären
(genau deswegen, weil sie im Ereignis dasselbe sind), sodass die We-
sung etwas über den Anfang sagt und der Anfang über die Wesung
aufklärt. Wenn die Wesung ein Geschehnis ist (als Ereignis also und
nicht als irgendein seiendhafter Prozess, ein Seiendes), dann ist auch
der Anfang eine Wesung, etwas, was geschieht: Der Anfang fängt an,
er ist, mit Heideggers Worten, »Anfängnis des Anfangs«:
»Die Anfängnis bestimmt und ›ist‹ die Wesung des Anfangs.« (A, 13) 175
Der Anfang erstarrt nicht zu einem Wesen. Und wenn die Wesung
ein Dieses ist, so ist auch der Anfang ein Dieses: »das wesende Sein –
Dieses ist Anfang«. Wenn aber der Anfang Anfang und Untergang
ist, so ist auch die Wesung – anfänglich und untergänglich. In wel-
chem Sinne ist die Wesung anfänglich? Wenn man die Wesung als
Wesung der Wahrheit versteht, dann in dem Sinne, dass sie ein Sei-
endes ins Sein hervortreten lässt – das Seiende fängt an zu sein.
Wenn wir vom konkreten Ereignis der Wahrheit abstrahieren, kön-
nen wir sagen, dass jedes Ereignis etwas, was noch nicht war, hervor-
treten lässt (wir werden zu diesem Thema noch zurückkehren, wenn
wir das Verhältnis von Ereignis und Geschichte behandeln werden).
Und die Wesung ist untergänglich, weil sie hinter dem verschwindet,
was sie hervortreten lässt (diesen Aspekt der Logik des Ereignisses
werden wir unter dem Stichwort »Verweigerung« behandeln).

175
Die Anfängnis des Anfangs. Siehe zum Beispiel: A, 16, 37; E, 147.

168

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

3. Das Ereignis als Austrag

Das Ereignis ist also die Wesung eines Dieses, auf die wir uns nicht,
sie vorstellend, beziehen. Das heißt: Diese Wesung als Ereignis ist
nicht ein Wesen, das man als etwas Beständiges – in der Welt oder
im Denken – jederzeit finden bzw. vergegenwärtigen und immer wie-
der finden und vergegenwärtigen kann. Der Bezug zur Wesung, also
zum Ereignis, ist anders, wenn überhaupt von einem Bezug die Rede
sein kann. Aber wie ereignet sich das Ereignis mit dem Betroffenen,
wie verhält sich der Betroffene zum Ereignis? Wir haben Heidegger
zitiert und schon kurz darauf hingewiesen, dass das Ereignis für Hei-
degger »erfahrbar« ist. Doch wie ist das zu verstehen? Und darf man
überhaupt eine These mit nur einem Zitat begründen? In der Tat
nicht. Doch, wie schon erwähnt, war dies nur ein Hinweis auf den
weiteren Gedankengang Heideggers.
Das Ereignis wird also nicht gegenständlich erfahren und vor-
gestellt oder allgemein gedacht, wobei auch die Allgemeinheiten ei-
gentlich Denkgegenstände sind. Es wird stattdessen »ausgetragen« 176,
»erfahren« 177, »ausgestanden« 178, »ertragen« 179, »ausgehalten« 180,
»erharrt« 181, »erlitten« 182 – bis zum Schmerz 183. Mehr noch: Das Er-
eignis ist nicht etwas, was dann ausgetragen, erfahren etc. wird, son-
dern es ist dieser Austrag, diese Erfahrung:
»Seyn ist Er-eignis, austragsames Ereignis: Aus-trag.« (B, 15)
Heidegger denkt das Sein als Ereignis und das Ereignis als Austrag.
Das ist ähnlich, wenn wir zum Beispiel das Brot nicht als ein Objekt,
sondern als das Riechen und Schmecken des Brotes denken würden.
Dann würden wir nicht sagen: Das Brot ist ein Nahrungsmittel, son-

176 Das Austragen, der Austrag des Ereignisses: BPh, 30; B, 61, 83, 84, 88, 93,

115Anm.a, 121, 167, 203, 307, 308, 350; E, 28, 49, 79, 132, 169, 233, 247, 255 ff, 330.
177 Das Erfahren, die Erfahrung des Ereignisses: BPh, 27, 37, 248, 309; B, 248; A, 118;

E, 10, 28, 29, 30, 42, 49, 78, 92, 105, 122Anm.b, 123, 128, 129, 131, 132, 137, 144, 161,
169, 184, 194, 196, 214, 240, 248, 288.
178 Das Ereignis ausstehen: BPh, 27, 31, 44, 45, 61, 64, 227, 255, 256, 260, 301, 309,

318, 321, 331, 342, 352, 384, 390; B, 50, 121, 136, 210, 217, 238; E, 129, 278, 281.
179 Das Ereignis ertragen: BPh, 31, 298, 329, 331; B, 70; E, 68.

180 Das Ereignis aushalten: BPh, 23, 299, 369; B, 60.

181 Das Ereignis erharren, ausharren: BPh, 31, 370, 384; B, 121, 237, 245; A, 53.

182
Das Ereignis erleiden: BPh, 260; B, 64; E, 123.
183 Der Schmerz in der Erfahrung des Ereignisses: E, 49, 68, 78, 105, 129, 137, 144,

169, 181, 184, 190, 194, 210, 211, 218 ff, 233 ff, 242, 248, 250, 275, 276.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

dern: Das Brot ist das Schmecken des Brotes. Und: Das Brot ist nicht
das Schmecken des Brotes (als ob es hier zwei Sachen gäbe, nämlich
das Brot und das Schmecken) und nicht das Schmecken überhaupt,
sondern dieses Schmecken hier und jetzt. Dieser Vergleich hat natür-
lich den Nachteil, dass das Sein nicht mit einem Objekt, das erlebt
wird, gleichzusetzen ist, trotzdem kann dieses Beispiel ein wenig die
Richtung, in die Heidegger denkt, aufklären – zuerst schon in dem
Sinne, dass das Sein außerhalb des gegenständlichen Denkens ver-
ortet wird.
Dass das Ereignis der Austrag, nämlich eine konkrete Erfahrung
vom hier und jetzt, ist, richtet sich vor allem gegen zwei falsche Deu-
tungen des Ereignisses – gegen die Deutung, dass das Ereignis ein
Denken des Ereignisses als eines Objektes ist, und gegen die Gleich-
setzung des Ereignisses mit dem Erlebnis. Versteht man also das Sein
nicht seiendhaft, sondern als Austrag, muss noch klar gemacht wer-
den, dass der Austrag weder ein Denkprozess ist, in dem das Sein als
ein Denkobjekt gesetzt wird, noch ein innerliches Erlebnis.

3.1. Das Ereignis ist kein Denken

»Wenn der Unterschied des Seins und des Seienden von der vorstellungs-
mäßig verstandenen ›Unterscheidung‹ her als deren Gegenstand genom-
men und wenn ›das Seiende‹ als das Wirkliche und dieses als das sinnlich
Wahrgenommene verstanden wird, dann erscheint das Sein sogleich als das
Unwirkliche, und dieses wird, da es nicht völlig ein Nichts ist, als ens ratio-
nis dem ›bloßen‹ Denken und Vorstellen als ›Gegenstand‹ zugewiesen; das
Sein ist so ein bloßer ›Gedanke‹ oder nur ein ›Begriff‹, der Begriff des
Unwirklichen. Und man versteht dann auch nicht recht, was dieses Unwirk-
liche noch ›im Unterschied‹ zum Wirklichen soll; man überläßt es ›der Phi-
losophie‹. / Wenn man von diesem geläufigen Meinen aus das Seinsver-
ständnis ›erklärt‹, dann ist das Sein der Gegenstand des Verstandes; es ist
bloß im ›Verstand‹ – gedacht; und da ja ›das Denken‹ als die Tätigkeit des
›Subjekts‹ gilt, das von den Objekten und dem Objektiven unterschieden
bleibt, ist das Sein etwas nur ›Subjektives‹.« (E, 126 f)
Schon in Sein und Zeit versucht Heidegger, das Seinsdenken vom
setzenden, vorstellenden, auf die Wahrheit als Übereinstimmung
von Erkenntnis und Gegenstand und als Richtigkeit des Schließens
gerichteten Denken abzugrenzen. Eine solche Abgrenzung ist not-
wendig, da das Sein als nicht-gegenständliches in einem vorstellen-

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

den Denken nicht gedacht werden kann. Sein ist doch kein Seiendes!
Doch achten wir auf das gerade angeführte Zitat: Es geht nicht bloß
um den Unterschied zwischen dem Sein und dem Seienden und auch
nicht bloß darum, dass ein Denken (nämlich das setzende) etwas
(nämlich das Sein) nicht denken könnte, sondern um die Verortung
des Seins und damit gewissermaßen auch um die Verortung des Den-
kens des Seins. Was wird hier gesagt? Es wird indirekt gesagt, dass das
Sein nicht »bloß im Verstand ist«. 184 So wie wir dem Schmerz nicht
näher kommen können, indem wir uns den Schmerz nur vorstellen,
indem wir den Begriff vom Schmerz analysieren oder den Schmerz
wissenschaftlich erforschen, so können wir nicht »wissen«, was das
Sein ist, wenn wir es bloß im Denken setzen und etwas darüber aus-
sagen. Das Sein ist Ereignis und Ereignis ist Austrag, Ausstehen, Er-
fahrung und nicht das Denken und Aussagen über etwas:
»Die Grunderfahrung ist nicht die Aussage, der Satz, und demzufolge der
Grundsatz, sei es ›mathematisch‹ oder ›dialektisch‹, sondern das Ansichhal-
ten der Verhaltenheit gegen das zögernde Sichversagen in der Wahrheit
(Lichtung der Verbergung) der Not, der die Notwendigkeit der Entschei-
dung entspringt […].« (BPh, 80)
Dass in Bezug auf das Ereignis des Seins als Austrag das Wort »Den-
ken« verwendet wird, darf nicht zur Missdeutung führen, dass sich
das Ereignis des Seins in unserem Denken ereignen würde, wenn wir
das Sein setzen würden. Der Austrag ist Denken, aber Denken ist
Erfahren:
»Der Austrag ist Denken.« (E, 237)
Aber:
»Das denkerische Denken ist Er-fahrung und zwar er-eignete Erfahrung des
Ereignisses.« (E, 255)
Und:
»Diese Er-fahrung ist das Wesen des seynsgeschichtlichen Denkens, das
selbst wieder die Erfahrenheit gründet, in der das seynsgeschichtliche We-
sen des Menschen das Un-heimische bewahrt, das die Ortschaft des Ab-
grundes ist für den Menschen.« (E, 235) 185

184 »Das Er-denken des Seyns ist niemals ein ›Erzeugen‹ des Seins, so daß dieses gar

nur zu einer Gedachtheit würde.« (B, 131)


185 Zum Zusammenhang von Austrag, Denken und Erfahrung siehe auch: E, 211, 236,

255 f.

171

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Der Austrag wird aber nicht als der Austrag überhaupt verstanden,
als ob wir einen Begriff vom Austrag hätten und dann durch diesen
Begriff das Ereignis definieren würden. Wenn man im Ereignisden-
ken so vorgehen würde, würde man nie das vorstellende und begriff-
liche Denken verlassen. Deswegen geht Heidegger anders vor. Wenn
das Ereignis Austrag ist, fragen wir natürlich, was der Austrag oder
die Erfahrung oder das Ausstehen ist? Heideggers Antwort lautet
aber, dass der Austrag das Ereignis ist:
»Der Austrag ist Er-eignis.« (B, 84)
Wenn wir das Ereignis als Austrag definieren und den Austrag als
Ereignis, befinden wir uns natürlich in einem Kreis. Und dies ist nicht
der einzige Kreis, den wir im Ereignisdenken Heideggers finden. Das
Sein ist Ereignis und das Ereignis ist das Sein. Die Wesung ist der
Anfang und der Anfang ist die Wesung. Zeigt dieses »Kreisen« eine
Verwirrtheit des Denkens, oder gehört es zur Logik des Ereignisden-
kens? Vielleicht wird dadurch ein Hinweis gegeben, dass es gar nicht
so wichtig ist, aus diesem Kreis herauszukommen, weil das, was wir
suchen, nämlich das Ereignis, sich hier – in den Definitionen, in den
Bestimmungen von etwas als etwas – gar nicht befindet. Das Ereignis
ist kein Wesen, das Ereignis ereignet sich. Wir können das Brot den-
ken und definieren und Zitate über das Brot sammeln und ein Buch
darüber schreiben, doch das Brot ereignet sich außerhalb solcher Un-
ternehmen: Es ist im Riechen, Anfassen und Schmecken. Im Denken
gibt es aber nur Wesen, Definitionen und Kreise. Denkend und spre-
chend kann man nur höchstens das Brot anzeigen, indem man aus-
zudrücken versucht, wie das Brot schmeckt, wie das Brot ertragen
wird. Daraus folgt: Will das Denken das Ereignis nur annähernd be-
greifen, kann es nicht eine Definition des Ereignisses geben – es muss
das Ereignis als eine konkrete Erfahrung, einen konkreten Austrag
beschreiben. Mit anderen Worten: Es gibt kein allgemeines Ereignis.
Dann wäre es ein Wesen und keine Wesung. Das Ereignis ist immer
ein konkretes Ereignis. Deswegen gibt das Denken des Ereignisses
keine Definition des Ereignisses, sondern beschreibt immer konkrete
Ereignisse. Und deswegen ist die einzige »Definition« des Austrages,
die wir bei Heidegger finden, der Ausdruck einer konkreten Erfah-
rung, die oft, aber nicht immer, als die Erfahrung des Abgrundes ver-
standen wird:

172

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

»Der Austrag ist der Schmerz (Schrecken und Wonne) der Erfahrung, die
ausständig in die Anfängnis (Gewesenes – Kommendes) inständet im Ab-
grund.« (E, 246)
Damit ist gesagt: Ereignis ist Austrag, Erfahrung, doch der Austrag,
die Erfahrung ist Dieses, »was« ausgetragen, erfahren wird. Das Sein
ist kein Wesen, sondern Ereignis. Ereignis ist Austrag, aber Austrag
ist Austrag des Seins (als der Anfängnis, des Abgrundes etc.). Das
Ereignisdenken »definiert« alle »Begriffe« durch das Konkrete. Das
Denken des Ereignisses fordert, zu einer Singularität, Einzigkeit zu
kommen. 186 Wir können einen Schritt ins Ereignisdenken Heideggers
gehen, um zu sehen, wie eine solche Weise des Philosophierens ver-
läuft. Das Ereignis ist also Austrag. Was ist Austrag? Es gibt keine
allgemeine Definition vom Austrag. Wenn man eine solche geben
würde, würde man das Ereignis verlassen und es als ein Denkobjekt
setzen. Stattdessen lautet eine von vielen Antworten: Austrag ist
Austrag des Abgrundes:
»Er-eignis ist Austrag. / Der Aus-trag trägt den Ab-grund.« (B, 307) 187

186 Es ist äußerst interessant, dass Derrida in seinem Levinas gewidmeten Aufsatz

Violence et métaphysique. Essai sur la pensée d’Emmanuel Levinas (1964) genau so


vorzugehen vorschlägt. Derrida versteht, dass Levinas in dem Denken des Anderen
das ontologische (also setzende und vorstellende) Denken aufgeben will. Doch wie
kann man denken, ohne zu setzen, ohne zu definieren etc.? Die einzige Möglichkeit,
sich der Ontologie einigermaßen zu entziehen, ist, in der Ontologie die Beziehung
von der Ontologie und dessen, was sich ihr entzieht, zu thematisieren und zu be-
schreiben: »Gesetzt, man will durch den philosophischen Diskurs hindurch, dem
man sich unmöglich ganz entreißen kann, einen Durchbruch zu seinem Jenseits ver-
suchen, so hat man nur dann eine Aussicht, in der Sprache (Levinas gibt zu, daß es
kein Denken vor der Sprache und außer ihr gibt) dahin zu kommen, wenn man das
Problem der Beziehung zwischen der Zugehörigkeit und dem Durchbruch, das heißt
das Problem der Geschlossenheit, formal und thematisch stellt.« (SD, 169/EdD, 163)
Die Thematisierung der Differenz zwischen dem Denken und Jenseits des Denkens
verläuft aber nicht als die Setzung des Jenseits (also logisch), sondern als die Beschrei-
bung, Schilderung (»Graphik«) dessen, was die Begriffe nicht einholen können: »For-
mal, das heißt so wirklich und formal, so formalisiert wie nur möglich: nicht aber in
einer Logik, in anderen Worten in einer Philosophie, sondern in einer eingeschriebe-
nen Deskription, in einer Einschreibung der Verhältnisse des Philosophischen und des
Nicht-Philosophischen, in einer Art unerhörter Graphik, in der die philosophische
Begrifflichkeit nur noch eine Funktion erfüllt.« (ebd.) Dies ist eigentlich genau das,
was Levinas teilweise schon in Totalité et infini und ausdrücklich in Autrement
qu’être auch macht – er beschreibt die Begegnung mit dem Anderen in ihrer Einzig-
keit und verweist unermüdlich darauf, dass sie undenkbar ist.
187
Das Ereignis und der Abgrund: BPh, 13, 29, 185, 269, 278, 379; B, 52, 58, 63, 64,

173

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Dieser Abgrund, der im Ereignis des Seins ertragen und ausgetragen


werden muss, ist der Abgrund gegenüber dem Grund, der im Gegen-
satz zum Abgrund ein Seiendes ist – ein besonderes Seiendes, da es
das Seiende erklärt. Dieser Grund ist der Gegenstand des metaphysi-
schen Denkens. 188 So definiert dieses Denken ein Etwas als Etwas und
gibt so eine begriffliche Form durch einen Grundbegriff. Oder es er-
klärt Etwas durch Etwas und liefert so diesem Etwas eine Ursache, es
gibt die Antwort auf die Warum- und Wozu-Frage. Das vorstellende
Denken, zum Beispiel in den Naturwissenschaften oder in der Meta-
physik, denkt den Grund bzw. die Gründe und diese Gründe – mate-
rielle (als physische Ursachen zum Beispiel) oder nur denkbare (als
Begriffe und Ideen zum Beispiel) – sind auch immer ein Etwas, etwas
Bestimmtes, das man fassen und definieren kann. Dieses Wissen und
die Erklärungen des gegenüberstehenden Seienden durch die ebenso
gegenüberstehenden Gründe bringen Sicherheit und Halt ins
menschliche Leben. Der Grund als ein Seiendes, aber auch das Seien-
de überhaupt, ist etwas, an dem man festhalten kann. Und dieses Fest-
halten geschieht durch das vorstellende Denken, d. h. durch die Ein-
stellung, die Gegenstände konstituiert, um an sie festhalten zu
können. Im Abgrund gibt es aber keine Gründe:
»Der Ab-grund ist das Weg-bleiben des Grundes.« (BPh, 379)
Im Abgrund gibt es keine Antworten, Definitionen, Erklärungen 189.
Wer sich hier befindet, muss den »Schrecken des Abgrundes« 190, das
»Unheimische« 191 die »Stützenlosigkeit und Schutzlosigkeit« 192,
»Unruhe« 193, »Anhalts- und Zufluchtslosigkeit« 194 und nie auflösbare

65, 66, 83, 84, 87, 88, 101, 229, 237, 270, 395; ÜM: 62; A, 11, 13; E, 49, 68, 124, 169,
237, 244.
188 »In der Metaphysik wurde das Seiende durch einen Grund (Ursache – Bedingung

für das erklärende Vorstellen) bestimmt.« (B, 275) Siehe auch: B, 343, 388.
189 Mit anderen Worten: Das Ereignisdenken als Austrag des Abgrundes ist keine

»Lehre« oder »Weltanschauung«, kein »Erklären«, »System« oder »Glaube«: B, 23,


50, 52, 77, 144.
190 Das Schrecken des Abgrundes: E, 170, 181, 211, 234, 235.

191 Das Unheimische des Abgrundes: E, 244, 280.

192 Die Stützenlosigkeit und Schutzlosigkeit im Austrag des Abgrundes: BPh, 300,

328, B, 60; E, 68.


193 Die Unruhe: BPh, 314, 400, B, 61, 274.

194
Die Anhaltslosigkeit und Zufluchtslosigkeit: B, 129, 131, 350; E, 68.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

Fragwürdigkeit 195 ertragen. Diesen Abgrund denkt man nicht, son-


dern erfährt ihn, weil es nichts gibt, was man denken könnte. In den
Abgrund fällt man nicht, wenn man die Definition vom Abgrund
kennt, sondern wenn man alle Definitionen aufgibt. Und wir sehen,
dass der Austrag bei Heidegger nicht allgemein definiert, sondern
durch die Einführung in das konkrete Austragen aufgezeigt wird.

Doch es wäre falsch, das Ereignis mit der Erfahrung, die, nicht zu
leugnen, zum Ereignis gehört – da das Ereignis grundsätzlich die Be-
troffenheit ist – mit dem Ereignis gleichzusetzen. Das, was sich ereig-
net, ist nicht bloß ein Austragen. Ohne den Austrag kommt man
nicht ins Ereignis, aber es ist nicht das ganze Ereignis. Das Brot brotet
im Schmecken, aber es ist nicht ganz so, dass das Brot nur dieses
Schmecken ist. Das Brot bleibt immer noch auch das Brot. Wir wer-
den diesen wesentlichen Aspekt des Ereignisses noch in den späteren
Abschnitten behandeln. Hier wollen wir nur kurz durch das Konzept
des Abgrundes, so wie Heidegger es entwickelt, zeigen, dass das Er-
eignis nicht nur eine Erfahrung ist, sondern auch ein Geschehnis.
Nichts Seiendes und trotzdem Geschehnis. Etwas ereignet sich im
Ereignis. Etwas geschieht da. Doch was geschieht im Ereignis? Im
Austrag des Abgrundes west die Wahrheit:
»Der Ab-grund ist aber auch zuvor das ursprüngliche Wesen des Grundes,
seines Gründens, des Wesens der Wahrheit.« (BPh, 379)
Der Abgrund ist das Wesen des Wesens der Wahrheit. In welchem
Sinne? Wenn man das Seiende verlässt, wenn man das Ausbleiben
des Grundes austrägt, eröffnet sich ein Offenes:
»Im Sichversagen bringt der Grund in einer ausgezeichneten Weise in das
Offene […].« (BPh, 379 f)
Dieses Offene, die Lichtung, ist der Ort, wo die Wahrheit des Seins
west. Die Wahrheit des Seins ist aber das Kommen des Seienden (das
allerdings vorher noch nicht »ist«) in die Lichtung, wo es seiend wird.
Das Ereignis ist das »Kommen in die Lichtung«, »Aufgehen«:
»Wie aber kommt dann das Seiende zu diesem Namen des Seins (d. h. der
Seiendheit)? / Weil es (was ›ist‹ es denn?) in den Umkreis der Lichtung des

195 Der Austrag von Fragwürdigkeit, Geheimnis, Rätsel: BPh, 78, 278, 347, 362; B, 77,

78, 219, 229, 269, 275, 358, 359, 361; E, 121, 132, 209, 237, 244, 249.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Seyns kommt, die Lichtung aber nur als das Offene der Er-eignung west. /
Dieses ›Kommen‹ in die Lichtung geschieht mit dem Er-eignis.« (B, 202) 196
Dieses Kommen und Aufgehen ist natürlich kein beobachtbarer Pro-
zess, aber nur im Sinne, dass man darauf nicht zeigen kann und dass
man es nicht jemandem anderen zeigen kann. Trotzdem wäre es nicht
ganz falsch zu sagen, dass man es sehen kann – man kann es den
Abgrund austragend sehen.
Heidegger sagt auch, dass im Ereignis der Unterschied geschieht,
in dem die Unterscheidung möglich wird:
»Die Unterscheidung west im Unterschied. / Der Unterschied ist die We-
sung des Seyns.« (A, 100)
Welcher Unterschied? Welche Unterscheidung? Es geht um die Un-
terscheidung, Differenzierung von Sein, das zur Seiendheit in der
Metaphysik wird, und Seienden. Diese Unterscheidung geschieht im
Unterschied als Ereignis, als Ereignis des vor der Differenzierung von
Sein als Seiendheit und Seienden ursprünglicheren Seins. Der Unter-
schied heißt, dass das Ereignis des Seins das Seiende sein lässt, indem
es sich vom Seienden unterscheidet, verabschiedet, entzieht:
»Die Unterscheidung als Wesung des Seyns selbst, das sich unterscheidet
und so das Seiende aufkommen läßt im Aufgang. Die Unterscheidung ist
anfänglich der Unterschied.« (E, 127) 197
Der Unterschied im Gegensatz zur Unterscheidung ist aber nicht eine
Operation des Denkens, sondern das Ereignis des Seins des Seienden.
Mehr noch: Das Denken könnte keinen Gegenstand setzen, wenn mit
dem Seienden die Wahrheit des Seins sich nicht ereignen würde:
»Das Seiende ist nur möglicher Gegen-stand und Objekt (ἀντί) gegenüber,
weil es im Offenen des Seins west. Gerade wo ein »Gegenüber« ist, da west
Ursprünglicheres, die Lichtung des Inzwischen.« (E, 17) 198
Das Ereignis der Wahrheit des Seins kann man sich schon deswegen
nicht als einen Prozess vorstellen, weil es sich vor jeder Setzung und
jedem Vorstellen ereignet. Ist man auf ein Seiendes gerichtet, hat
man schon das Ereignis verlassen. Es ist der Anfang der Möglichkeit

196 Das Ereignis des Seins als das Aufgehen des Seienden: BPh, 258, 260; A, 119.
197 Das Ereignis des Unterschiedes: A, 68, 71, 72 f, 76; E, 122 ff, 127 ff, 132, 147, 195,
247.
198 Die Gegenständlichkeit setzt das Ereignis des Seins voraus: Siehe auch: BPh, 197,

255, 264, 339, 344, 345, 360; B, 199, 235 f, 314; E, 175.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

der Setzung. Da es sich vor und mit dem Seienden als seine Ermögli-
chung ereignet, spricht Heidegger manchmal vom Ereignis des Seins
als dem »Grund« oder, noch genauer, als dem »Grund des Grundes« 199
in dem Sinne, dass das Sein die Ermöglichung des metaphysischen
Denkens ist, das wesentlich der Grund (als Seiendes) denkt:
»Aber die Metaphysik wäre nicht die Metaphysik, d. h. die Wahrheit des
Seienden als solchen, wenn sie nicht aus dem Seyn weste, da ja auch die
Seiendheit noch vom Wesen des Seyns bleibt. Und deshalb sind in der Me-
taphysik, wenn wir einmal erfahrener geworden, überall doch Anklänge des
Anfangs.« (E, 104) 200
Weil aber dieser Grund des Grundes kein Seiendes ist, ist er Abgrund
– das Sein ist der »ab-gründige Grund« (B, 84) 201. Damit schließt sich
wieder ein Kreis: Das Ereignis des Seins ist der Austrag, Austrag trägt
den Abgrund, Abgrund ist das Ereignis des Seins.

199
Das Sein als Grund: B, 99. Das Sein als Grund des Grundes: B, 267, 274.
200 Ohne die Wesung der Wahrheit gäbe es kein Seiendes und so auch keine Meta-
physik: BPh, 145, E, 31. Folglich: Wenn die Metaphysik da ist, west auch das Sein,
obwohl unmerklich: A, 160; E, 200.
201 Hier sehen wir, wie Heideggers Denken des Ereignisses mit der Suche nach dem

»letzten Grund«, die ihn in seinen ersten philosophischen Bemühungen beschäftigt


hat, zusammenhängt. Der letzte Grund ist kein Grund mehr, sondern der Abgrund,
der Anfang des Grundes und der Metaphysik über den Grund. Mit diesem Gedanken
setzt er sich von der ganzen bisherigen Tradition der Philosophie (und auch seinen
eigenen Ansatz in Sein und Zeit zum Beispiel) ab. Denkt die bisherige Philosophie,
d. h. die Metaphysik, den Grund des Seienden als ein Seiendes (Seiendheit), so denkt
er keine Gründe mehr und damit den »Grund« der Metaphysik. Diese Absetzung von
der Tradition ist besonders in der Vorlesung Der Satz vom Grund (gelesen im Winter-
semester 1955/56) sichtbar. Am prägnanten Beispiel von Leibniz’ Satz vom zurei-
chenden Grund macht Heidegger klar, wie wesentlich wir immer und über Gründe
suchen: »Der Satz vom Grund lautet: Nihil est sine ratione. Man übersetzt: Nichts ist
ohne Grund. Was der Satz aussagt, leuchtet ein. Das Einleuchtende verstehen wir, und
zwar ohne weiteres. Unser Verstand wird nicht weiter bemüht, um den Satz vom
Grund zu verstehen. Woran liegt dies? Daran, daß der menschliche Verstand selbst
überall und stets, wo und wann er tätig ist, alsbald nach dem Grund Ausschau hält,
aus dem das, was ihm begegnet, so ist, wie es ist.« (SG, 3) Sein Seinsdenken dagegen
verlässt die Metaphysik – sie denkt das Sein als Abgrund: »Der Grund bleibt ab vom
Sein. Im Sinne solchen Ab-bleibens des Grundes vom Sein ›ist‹ das Sein der Ab-
Grund.« (SG, 76 f) Der Abgrund des Seins wird nicht als Seiendes, sondern als Ereig-
nis gedacht. Es ist natürlich fraglich, ob Heidegger sich damit wirklich vom Grund-
Denken absetzt, weil er trotz allem denkt, woher alles kommt, wenn auch dieser An-
fang kein Seiendes ist. Zum Sein als Abgrund siehe auch: BPh, 268 f; B, 46, 52, 54, 63,
66, 76, 84, 88, 99, 100, 101, 115, 116, 118, 130, 210, 242, 267, 270, 309; E, 48, 125.

177

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Das Wichtigste ist hier aber etwas anderes: Wenn wir das Ereig-
nis verstehen wollen, nähern wir uns ihm zuerst dadurch, dass wir es
aus dem Denken ausschließen. Jedes Ereignis muss nicht das Ereignis
des Seins sein, aber kein Ereignis ist ein Seiendes, dass uns – wirklich
oder denkerisch – gegenübersteht. Ein Ereignis ist grundsätzlich ein
Ereignis mit uns, etwas, was uns – unser Denken, unsere Existenz –
bewegt, was wir austragen. Und trotzdem ist es auch nicht auf den
Austrag zu reduzieren. Jedes Ereignis ist nicht das Ereignis der Wahr-
heit des Seins, aber jedes Ereignis ist ein Geschehnis – sei es Gott, der
zu dem Menschen spricht, sei es eine Passantin, die vorübergeht
(Charles Baudelaire). Ein Geschehnis allerdings, das nie auf einen be-
obachtbaren, d. h. wirklichen Prozess zu reduzieren ist. Und es ist
nicht auf einen beobachtbaren, d. h. wirklichen Prozess reduzierbar,
weil es eine besondere Bedeutung für uns hätte, die subjektiv statt
objektiv wäre, sondern weil es das ist, worauf wir nicht intentional
gerichtet sein können – weder beobachtend, noch fühlend. Das Ereig-
nis ist das, worin wir sind.

3.2. Das Ereignis ist kein Erlebnis

Das Ereignis ist Austrag. Es ist nicht etwas (ein Wesen), dass dann
noch zusätzlich ausgetragen wird, sondern der Austrag. Die Sterb-
lichkeit des Menschen oder die Fragwürdigkeit der Welt sind keine
bloße Ideen, sondern »etwas«, was nur insofern »ist«, als es tief er-
fahren, ertragen, ausgestanden, erlitten wird. Es sind Ereignisse. Der
Abgrund des Ab-bleibens des Grundes ist keine Sache in der Welt,
sondern Austrag dessen. Das Ereignis ereignet sich dann, wenn es
ausgetragen wird. Es entzieht sich, wenn man es begrifflich fasst.
Doch man könnte jetzt denken, dass das Ereignis so etwas wie ein
Erlebnis vom etwas ist: ein Gefühl, ein innerer Zustand, der jeman-
den ergreifen kann. Doch das ist nicht der Fall. Ein erster Hinweis:
»Man beruft sich auf die flachen Wasserlachen der ›Erlebnisse‹, unfähig, das
weite Gefüge des denkerischen Raumes auszumessen und in solcher Eröff-
nung die Tiefe und Höhe des Seyns zu denken.« (BPh, 19)
»Deuten wir aber die Stimmung nach unserer Vorstellung vom ›Gefühl‹,
dann möchte man hier leicht sagen: das Sein werde statt auf das ›Denken‹
jetzt auf das ›Gefühl‹ bezogen. Aber wie gefühlsmäßig und äußerlich den-
ken wir da über die ›Gefühle‹ als ›Vermögen‹ und ›Erscheinungen‹ einer

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

›Seele‹ ; wie fern stehen wir dem Wesen der Stimmung, will sagen: dem Da-
sein.« (BPh, 256) 202
Das Ereignis besteht also nicht in einem Erlebnis oder einem Ge-
fühl. 203 Doch es wird auch nicht ganz klar, was ein Erlebnis oder ein
Gefühl ist. Vermutlich versteht Heidegger darunter einen Seelen-
zustand, eine innerliche, nicht-gegenständliche Erfahrung, so wie
zum Beispiel Wärmeempfindung, Müdigkeit, Schmerz, Lust, Hoff-
nungslosigkeit etc. Wir sehen, dass Heidegger Abgrenzung von sol-
chen Seelenzuständen sucht und einen Ausweg im Begriff von
»Stimmung« 204 findet. Doch was ist »Stimmung« als die rechte Er-
fahrung des Ereignisses?
»Ereignishaft ist die ›Stimmung‹ nicht ein Gefühlszustand des Menschen,
sondern das Ereignis des Wortes als sich zueignende Aneignung.« (E, 171)
»›Die Stimmung‹ als Wesung des Ereignisses – nicht ›Stimmungen‹ als Zu-
stände.« (E, 217)
Die Stimmung ist also kein subjektives Erlebnis, sondern die »We-
sung des Ereignisses«, obwohl sie irgendwie auch zur Innerlichkeit
des Menschen gehört. Die Stimmung ist in Heideggers Denken nicht
nur etwas, was eine gewisse Verwandtschaft mit Erlebnissen, Gefüh-
len etc. haben könnte, sondern »Stimmung« heißt auch »das ekstati-
sche Sich-be-finden im Da als der Ortschaft des unheimischen Zeit-
tums des Da-seins«:
»Sofern »die Stimmung« in »Sein und Zeit« als »Befindlichkeit« begriffen
ist, sagt das, sie muß aus dem Da-sein erfahren werden. »Befindlichkeit«
meint hier nicht das psychologisch-zuständliche »Wohl«- und »Schlecht«-
befinden. »Befinden« sagt hier das ekstatische Sich-be-finden im Da als der

202
Heideggers Kritik gegen Gefühle, Erlebnisse, seelische Zustände: BPh, 21, 33, 495;
B, 100, 147, 249, 252 f, 274, 320; A, 72, 109; E, 218 f, 220, 221, 234; ID, 8 f.
203
Auch Romano macht klar, dass das Ereignis, das er von einem beobachtbaren Fak-
tum unterscheidet, kein innerer Zustand ist: »[I]l [événement – L. P.] n’est pas dav-
antage une simple »expérience subjective« relevant de la sphère d’une intériorité psy-
chologique.« (EM, 45)
204 Es kann der Eindruck entstehen, dass die Auseinandersetzung mit dem Konzept

von Stimmung bei Heidegger hier zu kurz kommt. Die Stimmung ist schließlich einer
der zentralen Begriffe in Heideggers Philosophie schon seit Sein und Zeit. Wir be-
absichtigen aber nicht, dieses Konzept eingehend zu behandeln, da es nicht direkt mit
der Logik des Ereignisses zu tun hat. Wir benutzen es nur, um auf die Spur der
Räumlichkeit des Ereignisses zu kommen.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Ortschaft des unheimischen Zeit-tums des Da-seins. Zeit als Zeit-tum ist
das Wesen der »Zeitlichkeit« des Da-seins.« (E, 218) 205
Das »Sich-befinden-in …« eröffnet eine neue Dimension der Erfah-
rung des Ereignisses. Ohne diese Dimension ist das Ereignis als er-
fahrbare Wesung nicht verständlich. Das Ereignis ist kein Denk-
objekt, sondern eine Erfahrung. Diese Erfahrung ist kein seelischer
Zustand, sondern Stimmung. Die Stimmung ist aber unter anderem
ein »Sich-befinden-in …«. Worin? In der Wesung des Ereignisses, das
geschieht. In der Tat sehen wir, dass es bei Heidegger konsequent um
den »Aufenthalt in …« 206, die »Inständigkeit in …« 207, »Innigkeit
in« 208, das »Innestehen« 209, »Stehen in …« 210, »Sichhalten in …« 211,
»Innebleiben in …« 212, den »Sprung in …« 213 geht. Und so ist auch
die Erfahrung, die uns als die Erfahrung des Ereignisses schon be-
schäftigt hat, »Einstand«:
»Er fahrung / nicht bloße Kenntnisnahme, / sondern Einstand.« (E, 42)
Dieses In-Sein im Ereignis bedeutet allerdings ein Zweifaches, was
sich auch in der Mehrdeutigkeit der von Heidegger ausgewählten
Wörter zeigt. Es geht darum, dass jemand sich in das Ereignis ein-
bezogen hat, dass er von ihm betroffen ist und sich bleibend zu ihm
verhält. Der Betroffene bewahrt durch sich selbst das Ereignis in sei-
nem Geschehen. Das Ereignis ist kein neutrales Denkobjekt, sondern
etwas, was mit ihm geschieht. Es ist in diesem Sinne innerlich. Es ist
Austrag von Schmerz, Abgrund, Fragwürdigkeit etc. Das Ereignis ist
nicht das Denken von Schmerz, Abgrund und Fragwürdigkeit, son-

205 Schon 1930 schreibt Heidegger: »Die Gestimmtheit (Stimmung) läßt sich jedoch

nie als ›Erlebnis‹ und ›Gefühl‹ fassen […]. Eine Gestimmtheit, d. h. eine ek-sistente
Ausgesetztheit in das Seiende im Ganzen […].« (VW, 192) 1938/39: »Die Rolle der
Stimmung – Gestimmtheit – als (inständliche) Zugewiesenheit in die Wahrheit des
Seyns.« (ÜM, 65) Siehe auch: ID, 25.
206 Der Aufenthalt in …, sich aufhalten in … : B, 78; A, 54, 78; Ereignis, 128, 263.

207
Die Inständigkeit in …, inständig in …, inständen: BPh, 158, 230; B, 78, 85, 88,
103, 113, 117, 118, 119, 120, 131, 135, 145, 210, 219, 229, 237, 276, 362; ÜM, 31, 59,
62, 81; GdS, 24, 61, 87; A, 14, 54, 71, 108, 112, 129; E, 4, 43, 55, 57, 78, 86, 102, 108,
183, 184, 195, 196, 197, 206, 234, 254, 310, 318.
208 Die Innigkeit in … : Ereignis, 275.

209 Das Innestehen: BPh, 34; B, 120, 121, 173; A, 54, 125; E, 28, 306, 312.

210 Stehen in … : BPh, 303, 341, 346, 352, 363; GdS, 37; Hereinstand: BPh, 413.

211
Sichhalten in … : BPh, 369; A, 70; E, 156.
212 Innebleiben in … : E, 213.

213
»Vor-sprung in …«: BPh, 75; »Einsprung in …«: BPh, 76, 80.

180

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

dern deren Geschehen mit uns hier und jetzt. Doch das ist nur eine
Seite. Das »Sich-befinden-in …« ist auch räumlich gemeint. Es geht
nie nur um das Befinden des Betroffenen, sondern immer auch um
das Sich-Befinden. Der vom Ereignis Betroffene befindet sich mitten
drin, er ist zwischen denen, die sich auch an dem Ereignis beteiligen.
Ein Beispiel aus dem alltäglichen Leben könnte das veranschaulichen.
Stellen wir uns folgende Situation vor: Jemand geht die Straße ent-
lang. Er ist in seinen Gedanken versunken, ganz bei sich selbst. Er
überquert die Straße und übersieht dabei ein Auto. Plötzlich hört er
das Hupen und dieses Hupen reißt ihn aus seiner Welt heraus. Er ist
überrascht, verwirrt, er befindet sich wieder in der Außenwelt, mit-
tendrin in diesem Geschehnis, das auf ihn wirkt und von ihm eine
Reaktion erwartet. Jetzt sehen wir, dass das Ereignis nicht seine Über-
raschung ist, seine Angst oder ähnliche Gefühle. Das Ereignis ist aber
auch nicht dieses Geschehen, insofern es von einem Außerstehenden
beobachtet werden könnte. Nein, es ist ein Geschehen, das ihn trifft,
ein Geschehen, das um ihn ist, in dem er ist und das ihn zwingt, aus
sich herauszutreten. Weil das Ereignis so schwierig zu verorten ist,
sagt Heidegger, dass es sich weder innen, noch draußen, noch über
oder um einen herum ereignet:
»Das Seyn aber ›ist‹ weder über uns, noch in uns, noch um uns herum,
sondern wir sind ›in‹ ihm als dem Ereignis. Die einfallende Dazwischen-
kunft des Seyns. Und wir sind nur eigentlich (dem Er-eignis ereignet) ›in‹
ihm als Inständige des Da-seins.« (GdS, 55)
»Das Wesen des Menschen ist eingelassen in das Seyn. Das Seyn ist weder
außerhalb noch innerhalb des Menschen. Eingelassenheit des Wesens des
Menschen in das Seyn in der Weise der Er-eignung des Stimmens.«
(E, 200) 214
Das Dasein ist im Sein, aber Sein war nicht vorher da als ein objekti-
ver Ort in einem objektiven Raum. Doch es ist auch kein Inneres des
Daseins. 215 Das Ereignis der Wahrheit geschieht nicht im Dasein, son-
dern das Dasein ist dort, wo das Ereignis geschieht. Doch dieser Ort
wird durch das In-Sein des Betroffenen erst »konstituiert«. Diese
Konstitution geschieht durch die Erfahrung, durch den Austrag. Oder

214 Siehe auch: »›Innen‹ und ›Außen‹ (des Menschen) sind gleichwenig der ›Ort‹ des

Seyns, das doch wieder einzig den Menschen sich er-eignet, ohne ihm je zu gehören.«
(SG, 60)
215 »Doch der Raum ist kein Gegenüber für den Menschen. Er ist weder ein äußerer

Gegenstand noch ein inneres Erlebnis.« (BWD, 158)

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

eher: Der Ort des Ereignisesses in seinem Raum wird nicht durch die
Erfahrung konstituiert, sondern man wird in den Raum eingelas-
sen 216, wenn man auf gewisse Weise gestimmt ist. Und trotzdem sind
der Raum und seine Orte nicht vorher da. Der Ort schlägt ein und der
Raum schlägt sich auf, wenn sich das Ereignis ereignet. Und absolut
gleichzeitig wird man für es gestimmt – weder das Sein noch das
Dasein ist früher (im transzendentalphilosophischen Sinne). Wir ha-
ben es hier nicht mehr mit einer Transzendentalphilosophie oder
transzendentalphilosophisch ausgerichteten Phänomenologie, die die
Bedingungen der Konstitution vom Gegebenen untersucht, sondern
mit einer Topologie 217 zu tun.

216 Oder wir kehren ins Ereignis ein – Heidegger spricht von ›Einkehr‹ (ID, 41; auch:

ID, 45, 50) oder ›Einfahrt‹ (ID, 42) ins Ereignis.


217 Martin Nitsche in seinem sehr gelungenen Buch Die Ortschaft des Seins (2013)

vertritt die äußerst interessante These, dass die Phänomenologie mit Notwendigkeit
zur Topologie (wörtlich: die Lehre vom Ort) kommen muss: »Doch der Zusammen-
hang der Topologie mit der Phänomenologie, den ich in meiner Studie verfolge, zielt
anderswohin. Im Denken zweier erstrangiger Phänomenologen kommt nämlich das
Motiv des Ortes (griechisch topos) nicht nur im Kontext der Auslegung der topischen
und räumlichen Hinsichten der alltäglichen menschlichen Erfahrungen vor, sondern
auch als ein Mittel des präzisen Ausdrucks von ontologischen Konsequenzen der Phä-
nomenologie. Konkret wird sowohl im Spätwerk von Martin Heidegger als auch von
Maurice Merleau-Ponty auf eine ähnliche Weise die Notwendigkeit der Verkoppe-
lung von Ontologie und Topologie proklamiert.« (Nitsche, 10) Wir sehen, dass es hier
nicht darum geht, dass die Phänomenologie irgendwann dazu kommen muss, dass sie
den Ort beschreibt, sondern darum, dass die ganze Phänomenologie zur Topologie
wird! In welchem Sinne? Sodass durch die Topologie die Phänomenologie die Meta-
physik überwindet, was auch ihr Ziel ist: »Eine Besonderheit des Heideggerschen
Nachdenken über die Ortschaft und seiner Topologie ist, dass sie als Überwindung
der Metaphysik konzipiert wurden.« (Nitsche, 95) »Topologie ersetzt die Ontologie.«
(Nitsche, 91) Wie überwindet die Topologie die Metaphysik? Sodass sie nicht mehr
ein Gegenüber denkt, sondern den Ort, den Boden, wo die konkrete und bodenhaftige
Begegnung mit einem Gegenüber geschehen kann: »Im Blickfeld der Ontologie sind
somit das Sein, das Seiende und ihr […] Verhältnis […]. Die Ortschaft ist nicht nur
das Verhältnis von Sein und Seiendem, welches durch und als das Durchdringen
strukturiert ist. Die Topologie betrachtet die Ortschaft methodisch als ursprünglichen
Boden der Begegnung mit dem, was erst nachträglich als das Sein und das Seiende
unterschieden werden kann (aber auch nicht unterschieden werden muss).« (Nitsche,
97) Und wenn der Ort der Begegnung gedacht wird, wird auch die Begegnung selbst
nicht mehr als Subjekt-Objekt-Beziehung beschrieben, sondern als »Durchdringen«.
Es ist also kein Zufall, dass das Denken des Ereignisses, das die Gegenständlichkeit
und somit die Metaphysik zu überwinden versucht, zum Denken des Ortes kommt.
Das, wem wir nicht gegenüber sind, ist das, worin wir sind und von woher wir ein
eventuelles Gegenüber gewinnen können.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

Durch die Analyse von Sein als Ereignis sind wir also zum Pro-
blem von Ort und Raum gekommen. Das Ereignis steht uns nicht
gegenüber und ist auch nicht innerlich, sondern das, worin wir sind.
Es ist richtig, dass schon Sein und Zeit den Raum und Ort (»Platz«)
behandelt, aber dieser Raum ist »Räumlichkeit des Zeugganzen« (SZ,
104) und der Platz ist »›Dort‹ und ›Da‹ des Hingehörens eines Zeugs«
(SZ, 102). Das bedeutet, dass wir hier mit dem alltäglichen Raum und
seinen Plätzen zu tun haben. Und das Dasein ist in diesem Raum »im
Sinne des besorgend-vertrauten Umgangs mit dem innerweltlich be-
gegnenden Seienden.« (SZ, 104) Im Kontext des Ereignisdenkens
sprechen wir aber von einem ganz besonderen Raum und von ganz
besonderen Orten. Die Besonderheit dieses Raumes liegt darin, dass
er ein ursprünglicher Raum ist, ohne den die anderen Räume (der
alltägliche, mathematische, virtuelle etc.) nicht möglich wären. 218
Das Ereignis ist grundsätzlich die Schaffung eines Raumes und somit
unseres In-Seins in ihm. 219 Es mag sein, dass wir schon immer in der
Welt sind, an ihren Orten und Plätzen, doch erst das Ereignis lässt
dies erfahren.

4. Die Zeit, der Ort und der Zeit-Raum des Ereignisses

Wir haben gesehen, dass das Ereignis eine gewisse unauflösbare


Zweideutigkeit in sich trägt; es ist das Nicht-Gegenständliche, und
es ist auch der Anfang dieses Nicht-Gegenständlichen. Um die
Nicht-Gegenständlichkeit des Ereignisses näher zu kennzeichnen,

218 Der ursprüngliche Raum (das Offene) ist also »vor-räumlich« und ohne ihn gäbe

es keinen uns bekannten Raum. Dazu siehe auch: BPh, 372, 383, 385, 386 f. Später
heißt es: »Erst dieses Offene und nur es räumt dem uns gewöhnlich bekannten Raum
seine mögliche Ausbreitung ein. Das lichtende Einander-sich-reichen von Zukunft,
Gewesenheit und Gegenwart ist selber vor-räumlich; nur deshalb kann es Raum ein-
räumen, d. h. geben.« (ZS, 19)
219 Wir haben darauf hingewiesen, dass zum Beispiel auch Romano das Ereignis nicht

mit einem Gefühl gleichsetzt. Weil er aber, im Gegensatz zu Heidegger, nicht das In-
Sein im Ereignis denkt, kann er nur bei der Bestimmung des Ereignisses als etwas
Äußerem stecken bleiben. Er behauptet zwar, dass das Ereignis kein »innerweltliches
Faktum« ist, das dem Betroffenen gegenübersteht, sondern etwas, was ihn trifft, doch,
wenn er nicht das In-Sein aufdeckt, bleibt er beim Gegensatz vom Innen und Außen
und muss dann das Ereignis zu etwas Äußerem machen. Dass es so ist, zeigt sich auch
darin, dass für Romano das Ereignis ein Phänomen darstellt – seine Philosophie des
Ereignisses ist eine Phänomenologie.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

haben wir versucht zu zeigen, dass es einerseits eine konkrete Er-


fahrung hier und jetzt ist und dass andererseits zu ihm eine gewisse
Außenheit gehört – es ist ein Geschehen, in dem man ist.
Das Ereignis als der Anfang bricht unerwartet ein, überrascht
und erschüttert. Es ist »jäh« 220, es wird bei Heidegger mit dem
»Sturm« und »Erblitzen« verglichen 221. Das Ereignis ist:
»Der Über-fall des Ungeheuren im Plötzlichen.« (E, 43) 222
Der Anfang, weil er etwas anfängt und nicht die bekannte Welt (den
bekannten Zeit-Raum) fortsetzt, geschieht außerhalb von Raum
(»nirgends« und »stättelos«) und Zeit (»niemals« und »stundenfrei«),
sodass:
»[…] die [Wahrheit des Seyns – L. P.], ledig aller Macht des Wirksamen und
nicht verzwungen in die Ohnmacht des nur Vorgestellten, im Nirgends und
Niemals des Seienden zum stättelosen Ort und zur stundenfreien Zeit des
Kampfes der Ereignung sich gründen muß.« (B, 23)
Oder – genauer gesagt – der Anfang hat mit dem Zeit- und Raum-
bruch zu tun. Dies bedeutet, dass das Ereignis sich nicht ohne Zeit
und Ort ereignet, sondern seine eigene Zeitlichkeit und seinen eige-
nen Ort schafft. Die Zeit des Ereignisses ist nicht die Zeit des Seien-
den und seiner Geschichte, sondern die Zeit des Anfangs, anfängliche
Zeit:
»Alle Anfänge sind in sich das unüberholbar Vollendete. Sie entziehen sich
der Historie, nicht weil sie überzeitlich-ewig, sondern größer sind als die
Ewigkeit: die Stöße der Zeit, die dem Sein die Offenheit seines Sichverber-
gens einräumen.« (BPh, 17)
Man muss den »Stoß der Zeit« als den Augenblick 223 denken. Das
Ereignis als Anfang ist nichts Beständiges (und noch weniger Ewi-
ges), sondern augenblicklich. Augenblicklichkeit ist die Zeit des Er-
eignisses. Es ist für einen Moment da und verschwindet sofort – es
ist »Steile und Sturz« (GdS, 93). Warum aber ist das keine Zeit des

220 Die Jähe des Ereignisses zum Beispiel: »Jeder Anfang ist ein Jähes.« (GdS, 27 f)
Oder später: »Steil aus seinem eigenen Wesen der Verborgenheit ereignet sich Seyn
in seine Epoche. Darum müssen wir beachten: Die Kehre der Gefahr ereignet sich
jäh.« (BV, 73)
221 Der Sturm und das Erblitzen des Seins: BPh, 300, 315, 409, 412; B, 64; BV, 74; ID,

120 ff.
222 Siehe auch: Der Anfall des Seins: BPh, 118, 260, 280, 375, 400.

223
Die Augenblicklichkeit des Seins: BPh, 118, 252, 260, 349, 384, 415.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

Seienden? Wir können ja auch in Bezug auf das Seiende von einem
Augenblick sprechen – jedes Seiende ist in der Zeit und im Augen-
blick, es geht von einem Augenblick in den nächsten über. Aber das ist
genau der entscheidende Punkt: Der Augenblick des Seienden ist ein
Punkt auf der Zeitlinie, er ist nie allein, weil noch viele andere da sind,
er ist nie beendet in dem Sinne, dass nach ihm immer noch weitere
Augenblicke kommen. Der Augenblick des Ereignisses, von dem wir
hier sprechen, ist dagegen »vollendet«: Nichts ist vor ihm, nichts ist
nach ihm. Er ist grundsätzlich allein – das Ereignis ist wesentlich
durch, »Einzigkeit« 224 und »Einmaligkeit« 225 ausgezeichnet:
»Die Einzigkeit und Einmaligkeit des Seyns sind nicht angetragene Eigen-
schaften oder gar Folgebestimmungen, die sich aus dem Verhältnis des
Seins zur ›Zeit‹ ergeben könnten, sondern das Seyn selbst ist Einzigkeit,
Einmaligkeit, die je ihre Zeit, d. h. den Zeit-spiel-raum ihrer Wahrheit ent-
springen läßt.« (B, 128)
»Das Wort [›Ereignis‹ – L. P.] ist jetzt als Singulare tantum gebraucht. Was
es nennt, ereignet sich nur in der Einzahl, nein, nicht einmal mehr in einer
Zahl, sondern einzig.« (ID, 45) 226
Weil das Ereignis alleinig ist, weil es nur es selbst ist, ist es durch die
»Unvergleichlichkeit« 227 gekennzeichnet. Mit anderen Worten: Ein-
zig ist das, »was als dieses kein Anderes seinsgleichen kennt« (B,
328 f). Das Ereignis ist also »losgelöst« von allen Bezügen zu anderen
Dingen, und ist in diesem Sinne »absolut«. Es ist unvergleichlich und
deswegen absolut:

224 Die Einzigkeit des Ereignisses: BPh, 6, 62, 74, 77, 91, 97, 118, 122, 151, 177, 206,

221, 228, 249, 252, 255, 260, 314, 347, 375, 382, 385; B, 12, 50, 69, 96, 98, 113, 120,
128, 130, 235, 236, 241, 347; A, 123, 142; E, 48, 67, 88, 149, 150, 160, 161, 170, 177,
215, 285, 286, 302, 304, 318.
225
Die Einmaligkeit des Ereignisses: BPh, 151, 228, 385.
226 Um die Zeit des Ereignisses von einem individuellen Zeitpunkt in der Geschichte

zu distanzieren, unterscheidet Heidegger in einer Passage die Einzigkeit von der Ein-
maligkeit: »Das Einmalige ist nicht schon das Einzige im Sinne des Wesenhaften eines
Anfangs. / Das Einmalige gehört in das Vielmalige, wo von Mal zu Mal schon der
Bogen der Berechnung und Rechnung und Erkundung gespannt ist. / Das Einmalige
ist Gegenstand der Historie. Das Einzige aber ist die Einheit der Selbigkeit des je
anfangenden Anfangs.« (A, 188) Der Zeitpunkt ist einmalig, aber einmalig unter vie-
len. Das Ereignis ist dagegen einzig im Sinne von »alleinig«. Es gibt nicht dieses be-
sondere und dann noch dieses und jenes besondere Ereignis, sondern nur dieses Er-
eignis – nur es selbst.
227
Die Unvergleichlichkeit des Ereignisses: BPh, 252; E, 215.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

»Das schlechthin Unvergleichliche, durch jeden Bezug Untreffbare und da-


her im Wesen los-gelöste, in solchem Sinne Ab-solutum, ab-solut, aber
weder das Höchste noch das Geringste, sondern nur einzig seines Wesens.«
(GdS, 96 f) 228
Des Weiteren gilt, dass der Augenblick des Ereignisses »aus seiner
Einzigkeit jene Seltenheit beansprucht« (B, 130) 229. Dies bedeutet,
dass solche besonderen Stöße der Zeit, Zeitbrüche nur selten statt-
finden können. Eines muss man also festhalten: Der anfängliche Au-
genblick ist nicht in der Zeit (es ist nicht eines von vielen Seienden in
der Zeit), sondern es ist seine eigene Zeit. Das Ereignis ist seine eige-
ne Zeit und die Zeit des Ereignisses ist das Ereignis selbst.
Der Ort des Ereignisses ist nicht ein Ort unter anderen, sondern
das Ereignis schlägt seinen eigenen Ort inmitten des Seienden auf:
»Das Er-eignis ist übereignender Einfall, so zwar, daß es ereignend lichtend
zwischen das (Seiende) sich ereignet als das Inzwischen für seine (des Sei-
enden) Wahrheit.« (E, 183) 230
»[…] darin liegt aber, daß das Sein selbst den Zeit-Ort erwest, ohne je durch
eine Stellenangabe darinnen selbst fest-gestellt werden zu können.«
(E, 10) 231
Das Ereignis als Anfang geschieht also als Einfall des Seins ins Seien-
de. Es ist die Gründung eines Ortes. Dieser Ort wird von Heidegger
»Lichtung« 232 genannt, aber genauso auch »Zwischen« bzw. »Inzwi-
schen« 233, »Mitte« 234, »Eröffnung« 235, »Offene« bzw. »Offenheit« 236,

228 Wir werden später sehen, dass auch Marion das Ereignis als losgelöst und absolut

charakterisiert.
229 Zur Seltenheit siehe auch: BPh, 118, 122, 231, 236, 255, 342, 347, 414; B, 99, 203,

224, 225, 360; A, 123.


230
Der Einfall des Seins und seine Wesung inmitten des Seienden: BPh, 244, 259, 317,
327, 329, 330; B, 53, 59, 63, 94, 145, 202, 309, 310; A, 52, 55, 79; E, 79, 183.
231
Die Zeit und der Ort des Ereignisses ist nicht in unserer Zeit und unter unseren
Orten auffindbar: B, 116, 131; E, 13, 91, 128, 251.
232 Die Lichtung: BPh, 242, 350 ff, 380; B, 92, 93, 100, 112, 118.

233 Zum Inzwischen und Zwischen siehe: BPh, 26, 28, 86, 223, 263, 267, 285, 311, 312,

317, 322, 368, 371, 387, 415, 428; B, 22, 59, 83, 88, 94, 102, 108, 112, 117, 270; ÜM, 22,
30 f; A, 17, 76, 126; E, 79, 85, 133, 144, 183, 192, 210, 215, 222, 288, 331.
234 Die Mitte: BPh, 73, 223, 280, 289, 311, 312, 322, 331, 413, 414; B, 148.

235
Die Eröffnung: B, 109.
236 Das Offene, die Offenheit: BPh, 242, 259, 297, 306, 310, 333, 338 ff, 380; B, 109,

202; E, 13.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

»Riß« 237 oder »Da« 238. Die Lichtung ist der Ort, wo das Ereignis der
Wahrheit des Seins geschieht:
»Die Lichtung ist die Wesung des Offenen, das Offene ist der Durchlaß des
Entgegen und Ankommen (Seienden) aus dem Seinslosen. / Die Lichtung
ist dann doch »leer«; so scheint es, wenn wir vergessen und nie bedacht
haben, daß die Lichtung lichtet und die Helle gibt und daß der Durchlaß
als Lassen eine, ja die Gewahr der Wahrheit ist. Die Ge-wahr gehört zum
Wesen der Wahrheit, sie ist ereignishaft.« (E, 208)
Die Wesung der Wahrheit schafft aber den ursprünglichen »Zeit-
Raum« bzw. »Zeit-Spiel-Raum« 239:
»Der Zeit-Raum als entspringend aus dem und gehörig zu dem Wesen der
Wahrheit«. (BPh, 371) 240
Dieses Entspringen geschieht so, dass die Wahrheit als das Aufkom-
men des Seienden verstanden wird. Sie ist die Erfahrung des Erschei-
nens, Verweilens und Verschwindens des Seienden, also gleichfalls
die Erfahrung der Zeit. Die Zeit gehört zur Wesung der Wahrheit:
»Zeit ist hier verhüllt erfahren als Zeitigung, als Entrückung und somit
Eröffnung; und sie west als solche im Wesen der Wahrheit für die Seiend-
heit.« (BPh, 191 f)
Mit seiner Dreidimensionalität eröffnet die Zeit den Raum:
»Die Zeit als entrückende-eröffnende ist in sich damit zugleich einräu-
mend, sie schafft »Raum«. Dieser ist nicht gleichen Wesens mit ihr, aber
ihr zugehörig, wie sie ihm.« (BPh, 192) 241

237 Der Riß: B, 53, 224.


238 Das Da (verstanden auch als das Da des Daseins) als Ort des Ereignisses: BPh, 236,
239, 273, 330, 371; B, 108, 117; E, 211, 271; WN, 222 f.
239 Der Zeit-Raum, Zeit-Spiel-Raum für die Wahrheit des Seins: BPh, 5, 29, 30, 87,

271, 272.
240 Der Zeit-Raum entspringt der Wesung der Wahrheit: BPh, 372, 375, 376, 377, 379,

383, 386; ÜM; 135.


241 Siehe auch: BPh, 372, 383, 385, 386 f; ÜM, 136. Heidegger wiederholt diesen Ge-

dankengang in Zeit und Sein. Dort heißt es zuerst: »Zeit-Raum nennt jetzt das Of-
fene, das im Einander-sich-reichen von Ankunft, Gewesenheit und Gegenwart sich
lichtet.« (ZS, 18 f) Die Lichtung, das Offene ist also auch die Erfahrung des Zeit-Rau-
mes – man erfährt die Zeit in seiner Länge. Und dies gründet den Raum: »Erst dieses
Offene und nur es räumt dem uns gewöhnlich bekannten Raum seine mögliche Aus-
breitung ein. Das lichtende Einander-sich-reichen von Zukunft, Gewesenheit und
Gegenwart ist selber vor-räumlich; nur deshalb kann es Raum einräumen, d. h. ge-
ben.« (ZS, 19)

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Das Ereignis ist also seine eigene, nicht messbare Zeit; es schlägt an
einem nicht in der Welt auffindbaren Ort seinen eigenen Ort ein und
eröffnet einen Zeit-Raum, einen Raum, wo es geschieht und in den
man hineingeworfen wird, wenn man aus sich heraustritt. Es macht
durchaus einen Sinn, diese von Heidegger im Ereignis des Seins auf-
gedeckte Struktur auf andere mögliche Ereignisse zu übertragen. Es
geht also um den Anfang, Einschlag eines Ortes und Eröffnung eines
Raumes. Nehmen wir zum Beispiel die Liebe auf den ersten Blick.
Wenn der Liebende die geliebte Person sieht, eröffnet sich an dem
ansonsten üblichen Ort (sei es die Straße, der Hörsaal etc.) ein Riss,
durch den die geliebte Person eintritt. Dieser Ort des Eintritts wird
zur Mitte der Welt. Und es bricht ein anderer Zeit-Raum mit seinen
eigenen »Gesetzen« ein. Die geliebte Person steht im Zentrum, das
ganze Licht fällt auf sie, die anderen Menschen rücken von diesem
Zentrum ab in den Schatten, man selbst rückt aber näher, ohne sich
zu bewegen; aus sich selbst transzendieren, ohne jegliche Bewegung,
Intentionalität. Die Geräusche werden leise. Die Zeit steht still, ein
Augenblick dauert länger, diese Länge kann aber nicht ausgemessen
werden. Ewigkeit. In diesem vom Ereignis der Liebe verzerrten Zeit-
Raum geschieht die Begegnung der Liebenden. Doch es ist falsch, hier
von der »Verzerrung« zu sprechen – es ist einfach der Zeit-Raum des
Ereignisses, so wie er vom Ereignis in den alltäglichen Zeit-Raum
eingeschlagen wird. Es gibt keinen Grund, ihn mit dem physika-
lischen, geographischen, lebensweltlichen Zeit-Raum zu vergleichen
und dann als Verzerrung zu bezeichnen; er ist keine subjektive Illu-
sion oder Einbildung – er ist das Ereignis selbst. Das Ereignis ge-
schieht genau dann, wenn sich die Welt plötzlich anders strukturiert.
Das Ereignis geschieht nicht in der Zeit, sondern ist die Zeit – seine
Zeit. Das Ereignis geschieht nicht an einem Ort, sondern es ist sein
Ort, sein Zeit-Raum.
Wir stellen also fest, dass zur Logik des Ereignisses der Ort, der
Zeit-Raum und das In-Sein gehören. So lautet die These. In Bezug
darauf müssen aber einige zusätzliche Hinweise gemacht werden.
Erstens: Im letzten Abschnitt haben wir schon darauf hinge-
wiesen, dass Ort und Raum schon in Sein und Zeit thematisiert
werden, allerdings in einem ganz anderen Kontext. Sein und Zeit
behandelt die alltägliche Räumlichkeit des Zeugganzen und die all-
täglichen Plätze des Zeuges als im Dasein begründet – es gibt Raum,
weil das Dasein räumlich (weltlich) und, schließlich, weil es zeitlich

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

ist. 242 Es gibt Plätze, weil das Dasein sie einteilt. 243 Der Ansatz nach
Heideggers Kehre ist wesentlich anders – es geht hier nicht mehr um
die Begründetheit des Raumes im Dasein, sondern darum, dass das
Dasein in einen (ursprünglichen) Raum eingelassen wird. Aber genau
darin liegt ja die Heidegger’sche Kehre, dass der letzte Grund nicht im
Subjekt (und auch nicht im Objekt) zu finden ist, sondern im Ereig-
nis, wo sie beide erst möglich werden. Im Denken des Raumes spie-
gelt sich die Heidegger’sche Kehre wider. 244
Zweitens: Für die Logik des Ereignisses ist das Bedeutendste in
diesem Fall nicht die Verwandlung des Daseins vom Grund der
Räumlichkeit zum Gegründeten im Raum des Ereignisses, sondern,
dass das Ereignis als nicht Seiendes ein In-Sein fordert. Wir haben
absichtlich zuerst von Nicht-Seiendhaftigkeit des Ereignis gespro-
chen und danach vom In-Sein und von der Schaffung des Raumes.
Das Ereignis ist kein Gegenüber – es ist räumlich. Dies ist der ent-
scheidende Punkt. Weil es räumlich ist, befindet man sich an einem
Ort in ihm. Man kann auch sagen, dass das Ereignis ein Ort ist. Es ist
auf jedem Fall ein Wo. 245

242 »[…] das ontologisch wohlverstandene »Subjekt«, das Dasein, ist in einem ur-

sprünglichen Sinn räumlich. Und weil das Dasein in der beschriebenen Weise räum-
lich ist, zeigt sich der Raum als Apriori. Dieser Titel besagt nicht so etwas wie vor-
gängige Zugehörigkeit zu einem zunächst noch weltlosen Subjekt, das einen Raum
aus sich hinauswirft. Apriorität besagt hier: Vorgängigkeit des Begegnens von Raum
(als Gegend) im jeweiligen umweltlichen Begegnen des Zuhandenen.« (SZ, 111) Und:
»Dann muß aber auch die spezifische Räumlichkeit des Daseins in der Zeitlichkeit
gründen.« (SZ, 367)
243 »Die Plätze selbst werden dem Zuhandenen angewiesen in der Umsicht des Besor-

gens oder sie werden als solche vorgefunden. Ständig Zuhandenes, dem das umsich-
tige In-der-Welt-sein im vorhinein Rechnung trägt, hat deshalb seinen Platz.« (SZ,
103)
244 »Raum muß aber auch hier ursprünglich als Räumung begriffen sein (wie sich

diese in der Räumlichkeit des Da-seins anzeigen, aber nicht vollursprünglich begrei-
fen läßt).« (BPh, 192)
245
Man darf auf keinen Fall versuchen, diese Radikalität des Heidegger’schen Den-
kens, die die Philosophie zur Topologie werden lässt, indem sie den Ort denkt, zu
neutralisieren. Was zum Beispiel Pöggeler tut, wenn er schreibt: »Auch Heideggers
späte Denkversuche sind Topologie, d. h. sie sind eine Ortbestimmung, ein Sagen des
Ortes der Wahrheit des Seins anhand einer Stellen-Lese, einer Sammlung der Leit-
worte und Leitsätze abendländischen Denkens.« (Pöggeler(1983), 134) Das Denken
des Ortes (des Ereignisses als Ort) ist nicht »Sammlung der Leitworte und Leitsätze«,
es ist Verortung der Sammlung der Leitworte und Leitsätze, Verortung des Denkens,
radikales Verlassen eines intentionalen Denkens, das irgendwelche Leitworte und
Leitsätze denkt. Oder wenn Pöggeler schreibt: »Vielleicht ist das, was Heidegger die

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Drittens: Man muss aufmerksam das Verhältnis von Ort und


Raum untersuchen, und noch aufmerksamer das Konzept des Ortes.
Genau deswegen, weil es in Heideggers Denken sehr wichtig und
gleichzeitig unklar ist. In diesem Abschnitt haben wir mit Absicht
zuerst den Ort behandelt, indem wir behaupteten, dass das Ereignis
einen Ort einschlägt und dass an diesem Ort ein Zeit-Raum eröffnet
wird. Dies entspricht Heideggers Hinweis von 1962, wo es um die
»Herkunft des Raumes aus dem zureichend gedachten Eigentüm-
lichen des Ortes« (ZS, 28 f) geht. Dies entspricht auch Heideggers
Einteilung seines Gedankenweges 1969, wenn er als dessen letzten
Schritt den Ort nennt – der Ort ist noch vor dem Raum und erlangt
die Priorität des Denkens. Aber wie soll hier der Ort verstanden wer-
den? Es ist der Ort des Ereignisses. Man kann sagen, dass es der Ort
ist, wo das Ereignis geschieht, obwohl das nicht genau formuliert ist –
das Ereignis ist sein Ort, weil es von ihm geschaffen wird. Es gibt hier
keine Doppelung von Ort und Ereignis:
»Die Ortschaft des Ortes des Seins als solchen ist das Sein selber.«
(WN, 222)
Wir haben schon gezeigt, dass für Heidegger dieser Ort die Lichtung
ist. Das Konzept der Lichtung entsteht während Heideggers Kehre
und charakterisiert die Wahrheit, die, wie bekannt, jetzt auch als Er-
eignis verstanden wird. 1930 wird die Wahrheit als »Entbergung des
Seienden« (VW, 190) und folglich als Ereignis des Seins verstanden.
1936 wird die »Wahrheit als Lichtung« (BPh, 350) bestimmt. Das Er-
eignis des Seins, das die Wahrheit ist, west als die Entbergung des
Seienden und ist Ort, wo das Dasein eingelassen und zum Teil des
»Spieles« der Entbergung des Seienden und des Entzuges des Seins
wird.

»Lichtung« nennt, für das Denken, eine spekulative Mitte, die nur von den einzelnen
Punkten einer Peripherie her angegangen werden kann (von den unterschiedlichen
Sphären her, die sich aus der Lichtung ausgliedern), die sich zudem von jedem Punkt
der Peripherie her anders zeigt und sich in ihrer Dynamik immer auch entzieht.«
(Pöggeler(1983), 170) Die Lichtung ist nicht etwas, was »für das Denken« »sich zeigt«
und »sich entzieht«, sondern das, worin das Denken ist. Die Lichtung ist nicht ein
Thema der Philosophie, sondern ihr Ort. Deswegen ist sie undenkbar, und nicht des-
wegen, weil sie »abgründig« und »ungründig« ist: »Sofern das philosophische Fragen
ein Ausfragen nach einem verfügbaren Grund ist, die Lichtung oder Ortschaft der
Wahrheit des Seins aber als abgründig und ungründig erfahren wird, kann die Lich-
tung überhaupt nicht ›erfragt‹ werden.« (Pöggeler(1983), 162) Den Abgrund aber
kann man immer noch denken, nur nicht mehr, wenn er als Ort verstanden wird.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

Wird aber die Lichtung wirklich als ein Ort verstanden bezie-
hungsweise wird die Lichtung von Anfang an als ein Ort verstanden?
Mit anderen Worten: Denkt Heidegger den Ort schon dann, wenn er
die Lichtung zu denken anfängt? Interessanterweise lässt sich daran
zweifeln. Es ist nicht ausgeschlossen, dass im späteren Ereignisden-
ken (d. h. am Ende der 40er Jahre und am Anfang der 50er Jahre) die
Lichtung als ein Ort gedacht wird, doch man muss ganz genau be-
obachten, wie die Lichtung im früheren Ereignisdenken Heideggers
gedacht wird – und dies eher implizit, nicht ausdrücklich. Die Lich-
tung als ein Ort und damit auch der Zeit-Raum, der um ihn schwebt,
befinden sich »nirgendwo«, oder auch »überall« 246 – überall in dem
Sinne, dass die Wahrheit überall dort wesen muss, wo ein Seiendes
ist. Wo auch immer ein Seiendes wahrgenommen, gezeichnet, ge-
dacht etc. wird, dort geschieht auch die Lichtung, wenn auch völlig
unbedacht. 247 Die so gedachte Lichtung ist noch kein Ort. Die ent-
scheidende Zuwendung zum Ort geschieht erst am Ende der 40er
Jahre – wenn Heidegger das Ereignis an einem bestimmten Ort bin-
det, der zwar auch erst vom Ereignis geschaffen wird und nicht ein
»realer« Ort ist, der aber konkret wird. Erst mit der Bestimmung der
Ortschaft des Ereignisses kann von einem Denken des Ortes die Rede
sein. Und man kann dann – zusammen mit Nitsche – in der Tat sagen,
dass mit so gedachtem Ort die Metaphysik überwunden ist. Wie?
Indem das Ereignis als eine Singularität gedacht wird – es ist das,
was hier und jetzt geschieht. Es ist eine singuläre Situation, in die
wir eingelassen sind und die uns nicht gegenübersteht. Hier gibt es

246 Noch 1949 sagt Heidegger: »Insofern die Gefahr das Seyn selber ist, ist sie nir-

gendwo und überall. Sie hat keinen Ort. Sie ist selbst die ortlose Ortschaft alles An-
wesens.« (BV, 72)
247 Auch Nitsche weist auf diese Eigentümlichkeit des frühen Begriffes der Lichtung

hin: »Die Betonung in dieser Bestimmung liegt darin, dass die Lichtung kein Raum
ist, in den das Seiende als etwas Anwesendes oder Erfahrbares hineintritt, sondern ein
Raum, der zwischen ihnen (quasi ›überall‹) west.« (Nitsche, 56; siehe auch: Nitsche,
57) Nitsche stellt auch fest, obwohl zum Beispiel in den Beiträgen von der Lichtung
die Rede ist, es – begrifflich gesehen – nicht um den Ort geht: »Im Text der Beiträge
wird von der Topologie gar nicht gesprochen, und auch das Wort ›Ort‹ fällt nur sel-
ten.« (Nitsche, 55) Damit ist uns gesagt, dass das Denken der Lichtung nicht gleich das
Denken des Ortes (Topologie) ist, wie das zum Beispiel Pöggeler versteht, wenn er
Heideggers Denkweg interpretiert: »Heidegger selber hat schließlich von drei ent-
scheidenden Phasen seines Denkens gesprochen: der Frage nach dem Sinn von Sein,
nach der Wahrheit als Geschichte oder der Seinsgeschichte, nach der Lichtung.« (Pög-
geler(1992), 139)

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

nicht mehr das Denken eines überall wesenden Grund-Geschehnis-


ses, das in seiner Allgemeinheit fast schon vorstellend und damit es
vernichtend gedacht werden muss. Es geht stattdessen um eine Kon-
kretion und einem vorsichtigen Annährungsversuch, durch den sie in
sich wirklich ein Ereignis aufschlagen könnte. Es ist richtig, dass auch
das frühe Denken des Ereignisses bei Heidegger die Singularität des
Anfanges und das In-Sein denkt, trotzdem wird dieses Denken erst
mit dem Denken des Ortes konsequent durchgeführt.
An welchem Ort geschieht das Ereignis? Die Frage ist natürlich
falsch gestellt, weil sie meint, dass es zuerst einen Ort gibt, wo sich
dann das Ereignis ereignet. Das Ereignis ist sein Ort. Wo ist das? Zum
Beispiel ein Krug (Das Ding, 1950), eine Brücke (Bauen Wohnen
Denken, 1951), ein Kunstwerk (Die Kunst und der Raum, 1969). Im
Vortrag Bauen Wohnen Denken wird eine Brücke (ein Ding) als der
Ort bestimmt, der, erstens, vor dem Raum ist und, zweitens, das Er-
eignis (das Ereignis des Gevierts 248) an-wesen lässt:
»Die Brücke versammelt auf ihre Weise Erde und Himmel, die Göttlichen
und die Sterblichen bei sich. […] Versammlung heißt nach einem alten
Wort unserer Sprache ›thing‹. Die Brücke ist – und zwar als die gekenn-
zeichnete Versammlung des Gevierts – ein Ding.« (BWD, 155)
»Diese Dinge sind Orte, die dem Geviert eine Stätte verstatten, welche Stät-
te jeweils einen Raum einräumt.« (BWD, 157)
Das Ereignis ereignet sich in der Brücke – in meiner bekannten
Brücke, die mir nah ist, auf der ich stehe, über die ich gehe, zu der
ich in meiner Erinnerung zurückkehre. Auf meiner Brücke stehend
erfahre ich das Sein, die Zeit, die Sterblichkeit. Ich erfahre das Auf-
leuchten des Dinges und damit die Eröffnung der Welt. Ich spüre ihre
Materialität, »Erdhaftigkeit« und ahne das Göttliche. Das Ereignis
geschieht hier und jetzt mit mir, und nur wenn ich still, vorsichtig

248 Es ist bemerkenswert, dass das Orts-Denken bei Heidegger mit der Konkretisie-

rung dessen, was sich ereignet, zusammenfällt. Es geht darum, dass das schlichte Er-
eignis der Wahrheit inhaltlich neue und vor allem viele Dimensionen gewinnt. Be-
sonders bekannt ist diesbezüglich das Denken des Gevierts, dessen Gefüge die Erde,
der Himmel, die Götter und die Sterblichen bilden. Das Ereignis der Wahrheit und das
Ereignis des Gevierts sind in der Tat dasselbe Ereignis: »Das noch verborgene Spiegel-
Spiel im Geviert von Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen weltet als Welt.
Die Welt ist die Wahrheit des Wesens von Sein.« (BV, 48) Doch als Geviert ausgelegt
ist das Ereignis der Wahrheit inhaltlich konkreter geworden. Ist das nur ein Zufall,
dass die Verortung des Ereignisses mit der Fülle dessen einhergeht? Wir vermuten
hier, dass dies kein Zufall, sondern eine Konsequenz ist.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

und aufmerksam bin. Es schwebt nicht irgendwo, nirgends und über-


all. Es ereignet sich nicht in dem unendlichen Raum des Denkens. Das
Ereignis ereignet sich hier. Ich stehe in seinem geöffneten Zeit-Raum.

5. Der Anfang und der Untergang

Das Ereignis bricht als ein Augenblick ein. Es lässt etwas ankommen,
was davor nicht war. Es ist der Anfang. Doch als der Anfang kann es
grundsätzlich nur anfangen, es kann nur für einen Augenblick da
sein. Dieser Augenblick ist natürlich nicht feststellbar und er wird
nie zur Präsenz im Geist gebracht. Er ist ohne Ausdehnung, reine
Gegenwart, ohne Retention und Protention, bloße Vergänglichkeit.
Sehr viele ereignisphilosophische Überlegungen Heideggers sind ge-
nau diesem Aspekt des Ereignisses gewidmet.
So heißt es zum Beispiel, dass das »Wesen des Seyns« »Verwei-
gerung« (B, 57) ist. Während das Seiende als beständig Anwesendes
immer (relativ) da ist und sich sehen und begegnen lässt, verweigert
das Sein sich selbst. Während das Seiende sein Wesen zur Schau
stellt, nimmt das Sein sein Wesen zurück. Das Sein ist ursprünglich
– es ist für einen Augenblick da, dann nimmt es sich zurück und ver-
weigert sich:
»Das Seyn ist nie ein Seiendes; dieses Nicht-Seiende ist gegenüber allem
Seienden die Verweigerung, worin das Seyn sich in sein eigenstes Wesen
zurücknimmt und sich als den Ur-sprung anwinkt […].« (B, 58) 249
Die Verweigerung »ist etwas wesentlich anderes als bloße Abwesen-
heit« (BPh, 411) – sie ist die Weise, wie sich das Sein als ein Nicht-
Seiendes erfahren lässt. Das Sein lässt sich nämlich als das »Sichent-
ziehende« 250 erfahren. Es lässt sich nicht als das beständige Wesen
erfahren, sondern als solches, das sich solcher Erfahrbarkeit entzieht.
Jedes Ereignis lässt sich nur so erfahren, dass es sich dem Versuch, ein
Wesen in Bezug auf es zu denken, entzieht. Die Erfahrung des Ereig-
nisses besteht genau in der Spannung zwischen dem Begehren, es
einzufangen (weil sich etwas ereignet, weil doch etwas da ist), und

249 Die Verweigerung des Seins: BPh, 8, 20, 22, 27, 63, 91, 112, 128, 175, 228, 239, 244,

246, 280, 294, 405, 406, 411; B, 83, 84, 93, 96, 97, 112, 120, 130, 131, 135, 200, 203,
255, 277, 308, 311, 312, 313, 349, 358, 367; Ereignis, 227.
250 Das Sichtentziehende und der Entzug des Ereignisses: BPh, 8, 80, 91, 111, 241,

246, 293.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

der Unfähigkeit, es einzufangen (es ereignet sich doch nichts, es ist


schon weg). Mit anderen Worten: Man erfährt das Ereignis nur, wenn
es sich verabschiedet. Das Ereignis ist »Abschied« (E, 126), es hat
»abschiedliches Wesen« (E, 67) 251. Der Abschied ist die Weise, wie
das Ereignishafte ankommt, also da ist, ohne zu einem Wesen zu
werden, und es kehrt sofort in sich zurück:
»Der Abschied ist Ankunft, nicht in die Anwesung eines Vorhandenen,
sondern anfängliche Ankunft, die in sich zurücktritt und ihre fernste Ferne
innehält.« (A, 24)
Das Ereignis zu erfahren heißt also, zu erfahren, dass man es nicht als
ein Wesen erfahren, begreifen, denken kann. Das Ereignis ver-
abschiedet das Wesen und wird als dieser Abschied erfahren.
Und weiter: Das Ereignis als augenblicklicher Anfang ist ein Ge-
ben dessen, was anfängt. Ist die Rede vom Ereignis der Wahrheit, so
wird das Sein des Seienden gegeben, das Seiende wird seiend. Das
Seiende wird entborgen, aber das Ereignis des Seins verbirgt sich –
das Sein ist das »Sichverbergende«:
»Seinsverlassenheit: daß das Seyn das Seiende verläßt, dieses ihm selbst
sich überläßt und es so zum Gegenstand des Machenschaft werden läßt.
[…] daß das Sein das Seiende verläßt, besagt: das Seyn verbirgt sich in der
Offenbarkeit des Seienden. Und das Seyn wird selbst wesentlich als dieses
Sichentziehende Verbergen bestimmt.« (BPh, 111) 252
Mit anderen Worten: Das Seiende kommt zur Offenbarkeit, aber das
Ereignis seines Kommens »versagt sich« – das Sein ist »zögerndes
Sichversagen« (BPh, 15) 253. Das Ereignis des Seienden verschwindet
spurlos – das Sein ist »das Spurlose« (B, 202) 254. Es geht also nicht nur
darum, dass der Anfang sich entzieht, weil er Anfang ist, sondern
darum, dass er etwas hinterlässt, was völlig in den Vordergrund tritt,
was die ganze Szene übernimmt. Er selbst aber entzieht sich in den
Hintergrund, bleibt unmerklich, lässt sich nicht sehen – er »verlässt«
das, was er selbst hervorgebracht hat. Im Seienden gibt es kein Ereig-

251 Das abschiedliche Wesen des Ereignisses: A, 15, 16, 18, 20, 25, 26; E, 129, 132,

147 f, 193, 194, 221, 234, 244, 247, 249, 250, 257, 277, 318.
252 Zur Verbergung des Seins siehe: BPh, 12,15, 80, 174, 252, 341, 342, 346, 385; E,

292 f, 301, 314.


253
Das Sichversagen des Seins: BPh, 29, 78, 80, 268, 341, 346, 375, 381, 382, 384, 385,
388, 411.
254
Das Ereignis als das Spurlose: B, 139, 200.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

nis mehr, keinen Anfang mehr – der Anfang hat sich hinter dem Her-
vorgebrachten verborgen:
»Im Beginn des abendländischen Denkens wird das Sein gedacht, aber nicht
das »Es gibt« als solches. Dieses entzieht sich zugunsten der Gabe, die Es
gibt, welche Gabe künftighin ausschließlich als Sein im Hinblick auf das
Seiende gedacht und in einen Begriff gebracht wird.« (ZS, 12) 255
Deswegen sagt Heidegger auch, dass die »Er-eignung« »Ent-eig-
nung« ist (B, 319). Das Ereignis ist Enteignung, weil es sich vom An-
fangenden entzieht. Das Anfangende fängt zwar an, aber verliert sei-
ne Anfänglichkeit, seine Ereignishaftigkeit:
»Die Enteignung entzieht das Seiende der Zuweisung in den Anfang.«
(E, 165) 256
Wird die Ereignishaftigkeit des Anfangenden noch vermutet, dann
nur so, dass sie selbst zum Seienden, zu einem Wesen wird, zum Bei-
spiel in Gestalt einer Ursache, eines Schöpfers o. Ä. Wenn der Anfang
nur als ein (höheres) Wesen, d. h. Seiendheit gedacht wird, hat er sich
völlig entzogen:
»In diesem Wesen der Seiendheit ist erst dem Seienden das Anfängliche
völlig entzogen. Die Enteignung hat die Seinsverlassenheit des Seienden
ereignet.« (E, 166)
Das Einzige also, was nach dem Ereignis zurückbleibt, ist das Seiende,
sei es ein »übliches« Seiendes, sei es die Seiendheit als Grund des
Seienden. Und dieses Seiende erscheint so, als ob es nie durch den
Anfang angefangen hat:
»Was ist wovon verlassen? Das Seiende von dem ihm und nur ihm zugehö-
rigen Seyn. Das Seiende erscheint dann so, es erscheint sich als Gegenstand
und Vor-handenes, als ob Seyn nicht weste.« (BPh, 115) 257

255 In den früheren Abhandlungen zu Ereignis spricht Heidegger diesbezüglich von

der »Überschattung des Seins durch das Seiende« (B, 391) oder davon, dass das Seien-
de alles andere »übermächtigt« (BPh, 179), dass es den Anfang »verdunkelt« (A, 173).
In den Bremer Vorträgen heißt es: »Dies jedoch so entschieden, daß sogar die ἀλήθεια
selber als solche frühzeitig in die Verborgenheit zurückfällt und zwar zugunsten des
Anwesenden als solchen. Das Anwesende übernimmt den Vorrang gegenüber dem,
worin es einzig west.« (BV, 50)
256 Zur Enteignung siehe auch: B, 311, 367; A, 122; E, 122, 132, 164 ff.

257
Auch Marion in seiner Phänomenologie der Gegebenheit, die grundsätzlich als
Ereignis verstanden wird, weist auf diese Struktur des Ereignisses hin. Die Gabe des
Ereignisses entsteht nur dadurch, dass sie im und durch das Ereignis gegeben wird,

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Zur Logik des Ereignisses gehört also grundsätzlich, dass es sich ver-
weigert. Es gibt, fängt etwas an, zieht sich zurück – es »verlässt« das
Gegebene. Damit sind wir zum Begriff der »Seinsverlassenheit« in
Heideggers Philosophie gekommen. Dieses Begriffswort hängt mit
einem anderen, nämlich dem der »Seinsvergessenheit« zusammen.
Die Seinsvergessenheit ist nicht nur ein Begriffswort unter anderen
in Heideggers Philosophie, sondern zugleich auch die Diagnose der
Zeit, des Abendlandes, die Heidegger schon in Sein und Zeit aufstellt.
Laut ihm leben wir im Zeitalter der Seinsvergessenheit – wir interes-
sieren uns nur für das Seiende und erfahren und denken nie das Sein.
Was aber in Heideggers früher Philosophie als ein Fehlverhalten von-
seiten des Menschen gedeutet wird, wird später im Ereignisdenken
umge-kehrt – es kommt zur Seinsvergessenheit, weil es zur Seins-
vergessenheit kommen muss. Das anfängliche Ereignis wird verges-
sen, weil es so vor sich geht, dass das Sein als Ereignis das Seiende im
Ereignis verlässt, damit es seiend wird, damit seine Seiendheit voll
und ganz in den Vordergrund treten kann. Das Ereignis als Augen-
blick des Anfanges entzieht sich zugunsten dessen, was anfängt, und
deswegen wird es vergessen. Kurz:
»Seinsverlassenheit ist der Grund der Seinsvergessenheit.« (BPh, 114) 258
Der tiefste Grund dafür, warum die Geschichte der Philosophie und
des Abendlandes so verlaufen ist, wie sie verlaufen ist, liegt nicht in
der menschlichen Vergesslichkeit, sondern in der Logik des An-
fanges. 259 Diese Logik besagt, dass der Anfang sich entzieht, dass er

aber sie übernimmt die ganze Szene und lässt das Geben (oder den Geber) nicht mehr
hervortreten. Das Geben bleibt somit unsichtbar, und wenn es unsichtbar wird, kann
auch die Gabe nicht mehr als Gabe erscheinen, da sie nur im Geben durch den Geber
die Gabe ist. Die Gabe wird zum Besitz (so wie bei Heidegger das Seiende ohne das
Ereignis des Seins zum Vorhandenen wird): »Die gegebene Gabe als solche (der Ring)
nimmt auf Anhieb die ganze Sichtbarkeit in Beschlag und verurteilt den Geber dazu,
aus dem Bereich des Sichtbaren zu verschwinden. Infolgedessen findet nicht nur der
Bräutigam als Geber keinen Eingang mehr in das Phänomen der Gabe, sondern auch
das, was die Gabe als gegebene kennzeichnet, wird dadurch ausgelöscht: Der Ring
wird zum Besitz […].« (GG, 118 f/CN, 200)
258 Die Seinsvergessenheit aus der Seinsverlassenheit: BPh, 113, 115, 116, 219.

259 Zu dieser These siehe: BPh, 111; B, 219, 311; E, 111. 1949 heißt es: »Die ἀλήθεια

gerät in die Vergessenheit. Diese besteht jedoch keineswegs darin, daß nur ein
menschliches Vorstellen in der Erinnerung etwas nicht festhält, sondern Vergessen-
heit, das Entfallen in die Verborgenheit, ereignet sich mit der ἀλήθεια selbst zuguns-
ten des Wesens des Anwesenden, das innerhalb der Unverborgenheit anwest.« (BV,
50) Und weiter: »Aber menschliches Denken ist nur deshalb in solcher Vergeßlichkeit

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

sich nicht fortsetzt, dass er »untergeht« und dass alles, was uns bleibt,
sein Untergang ist, nämlich das verlassene Seiende:
»Das Wesen des Anfangs liegt nicht im Beginn, sondern verbirgt sich als die
unausgefaltete vorgreifende Entschiedenheit des Untergangs. Alles An-
fängliche fängt mit dem Untergang an. […] Was verbirgt der Anfang, in-
dem er sich verbirgt? Seinen – den in ihm als entschieden bereitgehaltenen
– Untergang. […] Der höchste Anfang verschließt in sich und fängt daher
an den tiefsten Untergang.« (B, 253) 260
Es ist die Logik des Ereignisses, die diesen Untergang des Anfanges
und damit den Untergang des Abendlandes »notwendig« und »un-
umgänglich« 261 macht. Es ist die »Notwendigkeit aus der Verweige-
rung des Seyns« selbst (B, 226) 262. Und diese Notwendigkeit ist der
Grund, warum das Sein als Ereignis vergessen wird. Mehr noch: Sie
ist der Grund, warum am (ersten) Anfang das Ereignis des Seins über-
haupt »ungefragt« 263, »unbedacht« 264, »unentschieden« 265 und »un-
gegründet« 266 bleibt:
»Der Ur-sprung des Seyns ist die Er-eignung seiner Wahrheit und die mit
ihr sich öffnende, aber noch unentschiedene Entscheidung zur Gründung
dieser Wahrheit oder gegen sie oder ohne sie. Die Versäumnis der Grün-
dung ist das notwendige Geschick des ersten Anfangs. Die Wahrheit ver-
schwindet nicht und kann nicht verschwinden, solange das Sein west und
Seiendes als ein solches ›ist‹. Aber die Wahrheit verirrt sich in die Irre des
Unwesens als Wahrheit im Sinne der Richtigkeit, und das Sein verliert sei-
nen Ursprung […].« (B, 67)

des Wesens des Seins, weil dieses Wesen selber sich als Vergessenheit, Entfallen in die
Verborgenheit, ereignet hat.« (BV, 50)
260 Der Anfang ist schon der Anfang des Untergangs: B, 12, 96, 223, 273, 397; A, 19,

21, 24, 25, 84; E, 67, 108, 113, 142, 147, 195, 221, 250, 278, 279, 280, 285, 301, 304.
261 Die Notwendigkeit und Unumgänglichkeit des Untergangs: BPh, 186, 297, 313,

360, 375; B, 66, 78, 90, 226, 340; E, 13, 15 f. 109.


262 Siehe auch: B, 340.

263 Der Anfang bleibt ungefragt: BPh, 186, 297, 333; B, 334 ff; A, 141; E, 129.

264 Der Anfang bleibt unbedacht: ÜM, 73; A, 141; E, 129.

265 Der Anfang bleibt unentschieden: B, 162, 207.

266
Der Anfang bleibt ungegründet: BPh, 198, 358, 360; B, 95, 96, 110, 135, 154, 184,
323, 391; ÜM, 43, 73; GdS, 9, 24, 62; E, 13, 24, 25, 28, 29, 32, 56, 71, 124, 125, 127, 129,
260; NII, 418.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

6. Das Vergessen des Ereignisses

Das Ereignis als der Anfang ist von Anfang an Untergang seiner
selbst. Gleich nach dem Anfangen zieht er sich zurück und überlässt
den Platz dem, was anfängt. Diese Bewegung des Anfangs in sich
selbst zurück ist der Grund, warum das Ereignis immer von seiten
des Menschen vergessen wird. Die Vergessenheit bedeutet aber den
Untergang einer möglichen Welt, einer Welt nämlich, die das Ereig-
nis bewahren könnte. Auf den ersten Blick scheint es also, dass das
Vergessen des Ereignisses grundsätzlich etwas Negatives an sich hat.
Man könnte denken, dass die Seinsvergessenheit bekämpft werden
muss, was auch Heidegger in seiner Frühphilosophie und dann in
Sein und Zeit versucht. Doch in seiner späteren Philosophie finden
wir einen doppelten Begriff der Seinsvergessenheit, der aus dem Be-
denken des Ereignisses und seiner Logik entsteht und das rechte Ver-
hältnis zum Ereignis thematisiert. Es gibt einerseits die Vergessenheit
im üblichen Sinne des Wortes, wenn etwas ganz einfach außer Acht
gelassen wird. Es geht in diesem Fall um das »Nichtbedenken des
Seyns« (B, 219). Solches Nichtbedenken ist in der ganzen metaphysi-
schen Tradition charakteristisch. Sie denkt nur das Seiende und das
Sein auch als das Seiende – als den Grund des Seienden, nämlich als
die Seiendheit. Für die Vergessenheit des Ereignisses in der Metaphy-
sik ist es wesentlich, dass auch sie selbst vergessen wird – es geht um
die Vergessenheit des Vergessens. 267 Die Metaphysik weiß nichts da-
von, dass sie etwas vergessen hat.
Doch die Vergessenheit des Seins in der Metaphysik, wo etwas
bloß aus der Erinnerung verschwunden ist, gilt als »gleichgültig« und
»oberflächliche« (B, 219). 268 Sie ist gleichgültig und oberflächlich in
dem Sinne, dass ihr das Vergessen und das Vergessene nicht als etwas
Besonderes erscheint. Sie regt sich über ihre Vergesslichkeit nicht
auf: Es ist normal, dass man sich nicht an alles erinnern kann. Und
sie ist oberflächlich, weil es für sie keine große Sache ist, sich an etwas
wieder zu erinnern, es zu vergegenwärtigen und zu denken, wenn es
schon aus der Vergessenheit geholt werden soll. Es scheint leicht zu
sein, etwas wieder zu vergegenwärtigen, was vergessen worden ist,
was sich entzogen hat und nicht festgehalten wurde. Das vorstellende
Denken macht dies schließlich ständig. Es ist an sich die Vergegen-

267 Zur Vergessenheit des Vergessens siehe zum Beispiel: BPh, 114; B, 217; BV, 75.
268
Siehe auch: B, 217, 218.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

wärtigung von dem, was war. Es ist an sich die Erinnerung. Die Frage
ist, ob diese Art Erinnerung dem Ereignis gemäß ist. Und wenn nicht
– welcher ist der richtige Bezug zum Ereignis, welches ist das Denken,
das das Ereignis denken kann? In den vorherigen Abschnitten haben
wir schon gesehen, dass das Ereignis kein vorstellendes Denken, son-
dern der Austrag ist, der seinerseits nicht mit einem Erlebnis zu ver-
wechseln ist. Wir haben gesehen, dass das Ereignis das Sich-Befin-
den-In, das Mitten-Drin in einem Geschehnis ist. Und wir haben
behauptet, dass dieses Geschehnis nicht als vorstellbarer Prozess zu
deuten ist. Und im vorherigen Abschnitt haben wir gesehen, dass
dieses Geschehnis grundsätzlich Verweigerung ist. Die Verweigerung
ist die Verweigerung, zu einem Wesen, zu einem vorstellbaren Seien-
den zu werden. Sie ist nicht Abwesenheit, als ob es nichts gäbe. Es
ereignet sich etwas, bloß weigert es sich, zu einem Wesen zu erstar-
ren. Wir haben es hier also mit einer doppelten Bewegung zu tun,
nämlich mit dem Ereignis als »sich selbst verweigernde[r] Zuwei-
sung« (B, 99) 269 – das Ereignis verweigert sich, aber weist sich auch
zu. Genauer gesagt: Es ist die Zuweisung, die sich verweigert. Diese
sich weigernde Zuweisung ist das, was vergessen wird, weil sie sich
entzieht und untergeht. Aber kann man eine Verweigerung, weil sie
sich auch zuweist, wieder vergegenwärtigen, als ob sie ein Beständi-
ges wäre, dem man immer begegnen kann, das man im Denken als ein
Wesen bewahren kann? Natürlich nicht. Deswegen ist das rechte Ver-
hältnis zum Ereignis nicht die Erinnerung, sondern das Vergessen.
Aber nicht das oberflächliche Vergessen, das nicht um sich selbst
weiß, das nicht versteht, dass die Vergessenheit zur Wesung des Er-
eignisses gehört und das leicht in die Einholung des Vergessenen um-
schlägt, sondern die »ab-gründige Vergessenheit« (B, 217):
»Die Seynsvergessenheit. Sie ist die ab-gründige (d. h. dem Seyn zugekehr-
te) Vergessenheit. Was in ihr vergessen (in einem ausgezeichneten Unbe-
halten behalten) bleibt, ist zunächst Jenes, was ständig im Seinsverständnis
behalten wird und vor allem anderen in einem eigentümlichen Behalt ver-
wahrt bleiben muß […]. Die Zugehörigkeit in die Wahrheit des Seyns und
ihr zufolge die Ausgesetztheit in das Seiende gründet mit in einer Verges-
senheit des Seins.« (B, 217)
Das abgründige Vergessen weiß, dass das Ereignis nicht vorstellbar,
vergegenständlicht und festhaltbar ist, es weiß, dass das Ereignis die

269
Zu diesem Charakteristikum siehe: Besinnung, 237, 248, 295, 312.

199

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Verweigerung des Wesens ist und dass diese Verweigerung nur zu


behalten ist, wenn man nicht versucht, sie als ein Wesen zu behalten.
Das Behalten besteht im »Unbehalten«, im »Verzicht« 270. Das ab-
gründige Vergessen vergisst, indem es nichts behält, aber es auf diese
Weise behält und nichts vergisst. Es ist das vergessende Nichtverges-
sen. Das Verhältnis zum Ereignis ist das »wissende Nichtwissen des
Anfangs« (E, 250). Es ist »Ver-eignung«, die das Ereignis nicht als ein
Seiendes zur Entbergung führt, sondern es in seiner Verbergung be-
wahrt:
»Die Ver-eignung ist die abschiedliche Verwahrung des Ereignisses in den
Abgrund seiner Innigkeit mit dem Anfang. Die Ver-eignung verbirgt den
Anfang in seiner Anfängnis so, daß die Verbergung gelichtet ist und da-
durch in ihrem ereignishaften Wesen gewahrt, nicht etwa in eine Entber-
gung aufgelöst.« (E, 149)
Das Denken besteht also im Vergessen. Es zeigt, dass die Erinnerung
als Einholung eines Wesens das Ereignis nicht bewahren kann. Das
Ereignis muss »abgründig« vergessen werden, damit es das Ereignis
bleibt:
»Im seynsgeschichtlichen Denken wird nur die Oberflächlichkeit der Seins-
vergessenheit durchbrochen, niemals jedoch die Vergessenheit selbst über-
wunden, sondern ›nur‹ in ihre Abgründigkeit eröffnet. Diese Vergessenheit
gehört zur Inständigkeit in der Lichtung des Seienden.« (B, 219)
Es ist richtig, dass Heidegger das seinsgeschichtliche Denken als »er-
innernd« (an den ersten Anfang) und (den anderen Anfang) »vorden-
kend« 271 bezeichnet, doch diese Erinnerung ist nie eine Re-Präsenta-
tion, eine bloße Geschichte von etwas, was war, sondern eher die
»Bereitschaft« zu einer Möglichkeit eines Ereignisses, das vielleicht
irgendwann kommen wird:
»Das seynsgeschichtliche Denken ist Erinnerung in den ersten Anfang als
Vordenken in den anderen. / Aber auch dieses seynsgeschichtliche Denken

270 Dazu siehe zum Beispiel folgende Stelle: »West aber das Seyn als die Verweige-

rung und soll diese selbst in ihre Lichtung hereinragen und als Verweigerung bewahrt
werden, dann kann die Bereitschaft für die Verweigerung nur als Verzicht bestehen.
Der Verzicht ist hier jedoch nicht das bloße Nichthabenwollen und Auf-der-Seite-
lassen, sondern geschieht als die höchste Form des Besitzes, dessen Hohheit im Frei-
mut der Begeisterung für die unausdenkbare Schenkung der Verweigerung die Ent-
schiedenheit findet.« (BPh, 22 f) Siehe auch: BPh, 62.
271 Zum seinsgeschichtlichen Denken als Erinnerung in den ersten Anfang und Vor-

denken in den anderen Anfang siehe zum Beispiel: A, 97, 174; NII. 448.

200

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

denkt nie ›über‹ den Anfang, als sei die Aussage ›über‹ das Wesen des An-
fangs sein Wesentliches -; die Bereitschaft zur Über-eignung in das Er-eig-
nis ist das Einzige.« (A, 141)
In der seinsgeschichtlichen Erinnerung ist das Ereignis nicht an-
wesend als das Beständige. Die Erinnerung ist die Bereitschaft zum
Kommen und Abschied des Ereignisses. Sie ist somit das Verlassen,
das Vergessen der beständigen Anwesenheit, weil das Ereignis Ver-
weigerung ist. Produziert das vorstellende Denken das Wesen, an
das es sich ständig erinnern kann, besteht das erinnernde Denken
des Ereignisses im Vergessen jedes Wesens, das immer vorhat, sein
eigenes Ereignis zu beschatten. Das Ereignis besteht darin, dass
immer ein Wesen anfängt, von dem es sich verabschiedet, und sich
dem Denken entzieht. Das erinnernde Denken des Ereignisses liegt in
ständiger »Destruktion« des vom Ereignis selbst produzierten We-
sens. 272 Nur so werden Unbehalten, Nichtwissen und Verzicht des
Ereignisses gewährleistet. Die abgründige Seinsvergessenheit be-
wahrt den Abschied des Ereignisses, indem sie jedes Wesen vergisst
und nichts behält. Wir reden von einem Denken, das nichts hat,
nichts.
Wir haben zuerst das Denken des Ereignisses als Austrag und
Austrag als den Abgrund bestimmt, in dem die Unruhe, Fragwürdig-
keit, Schutzlosigkeit erfahren werden. Wir haben darauf hingewie-
sen, dass diese Erfahrungen daraus entstehen, dass man es mit einem
Nicht-Seiendem zu tun hat. Bestimmen wir jetzt das Denken als Ver-
gessen, vergessendes Nichtvergessen, vergessende Erinnerung so sagt
dies: Das Denken ist das Vergessen des Wesens, wenn man nichts hat,
an dem man sich festhalten kann – »nichts Bildhaftes, nichts, was dem
Greifen und Handhaben unmittelbar faßlich sein könnte« (E, 236).
»Dies ist die anfängliche Armut.« (E, 236) Aber genau dieses abgrün-
dige Vergessen bewahrt das abschiedliche Wesen des Ereignisses. Der
Anfang wird im Vergessen ausgetragen. 273

272 »Das seynsgeschichtliche Denken ist das untergängliche Denken. Es denkt aus

dem letzten Untergang. Ist es deshalb zerstörerisch? Im Gegenteil. Es ist destruktiv


als Ab-bauen der Verschüttung des Anfangs durch die Metaphysik.« (A, 142)
273 Wir werden später sehen, dass Levinas eine ähnliche Struktur des Ereignishaften

aufdeckt. Er bestimmt das Ereignis als »eine Vergangenheit, die niemals Gegenwart
war«. Das heißt, dass das Ereignis nie präsent ist, sondern schon immer vergangen.
Was aber nicht präsent gewesen ist, kann auch nicht in Erinnerung zurückgerufen
werden – es ist absolut vergangen, es ist wesentlich in Vergessenheit geraten. Die
Vergangenheit bzw. die Vergessenheit ist der Modus, in dem das Ereignis als Ereignis

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

7. Die Machtlosigkeit und Herrschaft des Ereignisses

Das Ereignis bricht ein, es schlägt wie ein Blitz ein. Es bricht die Zeit
und räumt seinen eigenen Ort ein, es fängt etwas an. Es scheint, dass
das Ereignis etwas Mächtiges sei. In der Tat spricht Heidegger von der
»Herrschaft« des Ereignisses (oder sogar von seinem »Königtum«
(E, 168)), die er aber der »Macht« entgegensetzt. Genauer gesagt:
Heidegger setzt die Herrschaft dem Verhältniszusammenhang von
Macht und Ohnmacht im Allgemeinen entgegen und spricht statt-
dessen von der »Machtlosigkeit« des Ereignisses des Seins, die eigent-
lich das Jenseits der Machtverhältnisse bedeutet:
»Das Seyn ist in seinem Wesensgrund niemals Macht und daher auch nie
Ohnmacht. Nennen wir es dann das Macht-lose, so kann dies nicht meinen,
das Seyn entbehre die Macht, vielmehr soll der Name andeuten, daß das
Seyn seinem Wesen nach losgelöst bleibt von der Macht. Dieses Macht-lose
ist jedoch Herrschaft, aber Herrschaft im anfänglichen Sinne bedarf nicht
der Macht; sie waltet aus der Würde, jener einfachen Überlegenheit der
wesenhaften Armut, die eines Unter-sich und Gegen-sich nicht bedarf, um
zu sein und jegliche Abschätzung auf ›groß‹ und ›klein‹ hinter sich gelassen
hat.« (B, 192 f) 274
Das Ereignis des Seins ist also »machtlos« und trotzdem herrscht und
»waltet« es – »aus der Würde«, wie Heidegger hier schreibt, wobei die
Würde des Seins mit seiner Frag-würdigkeit in Zusammenhang ge-
bracht wird 275. Das Sein wird gewürdigt, wenn es nicht als ein Ding
behandelt, sondern in seiner Verweigerung gelassen wird. Wenn es
begehrt und nicht besessen wird. Wie ist aber diese machtlose Herr-
schaft zu deuten? Die Macht wird bei Heidegger mit der gewalttäti-
gen Unterbindung zusammengebracht. 276 Als solche ist die Macht
durch die Wirksamkeit möglich – das, was wirksam ist, was etwas
bewirken kann, ist mächtig, hat die Macht:

west. Die Gegenwart bzw. die Erinnerung als Ver-gegenwärtigung ist nie der Modus
des Ereignisses.
274 Zur Unterscheidung von Macht und Herrschaft und zur Machtlosigkeit des Seins

aus seiner Würde siehe: BPh, 47, 76 f, 282; B, 23, 52, 83, 96, 97, 112, 130, 135, 139,
187 f, 192, 193, 200, 219.
275
Die Würde und Fragwürdigkeit des Seins: BPh, 5, 57, 76; B, 276, 338; E, 138, 168,
196, 201, 241 ff, 248, 249, 328.
276
Siehe zum Beispiel: B, 16 f, 19.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

»Macht – das Vermögen des Wirkens, Sicherstellung und Berechnung und


Einrechnung der Erfolge. Die Wirkung als Wirkend, ohne unmittelbar zu
wirken! Macht aus ›Wirkung‹ – gerade nicht aus Möglichkeit.« (B, 189)
Aber nur das »Wirkliche« hat Wirkung. Und das Wirkliche ist das
Seiende:
»Im höchsten Sinne ›seiend‹ ist, nach der gewöhnlichen Schätzung, das Sei-
ende als wirkliches. Die ›Wirklichkeit‹ gilt am höchsten. Sie bedeutet das
Vorhandensein des Wirkenden; Wirkendheit und nichts anderes.« (B, 187)
»Wirklichkeit als Maßmitte der Modalität, das Mächtige – das Wirkende –
das Seiende.« (ebd.)
Für das Sein dagegen gilt: »das Seyn – das Wirkungsunbedürftige«
(B, 62) 277. Das heißt: Das Sein ist machtlos in dem Sinne, dass es
nichts bewirkt, nichts zu bewirken braucht. Das Sein hat mit der Wir-
kung nichts zu tun, genausowenig wie mit der Wirklichkeit – es ist
nicht das Seiende, es ist nicht. Genau als seiend hat das Seiende die
Macht, sich selbst in seiner beständigen Anwesenheit und Wesen auf-
rechtzuerhalten und die Wirkung in seiner Umgebung auszuüben.
Oder vielleicht auch umgekehrt: Nur weil es die Macht hat, kann es
langfristig sein. Das Sein ist aber nicht so – es ist etwas wesentlich
sich Entziehendes, weil es der augenblickliche Anfang ist. Es ist da in
diesem Moment und dann verschwindet es. Es hat keine Macht, zu
bleiben und zu wirken und auf diese Weise seiend zu sein. Das Sein ist
das Machtlose, weil es sich als das Ereignis verweigern muss:
»Das Macht-lose – was ist Macht, Un-macht? Wie verstanden das -lose?
Aus der Verweigerung. Die Wesensfolge. […] Machenschaft als Grund der
Übermacht des Seienden und der Macht selbst – Ohnmacht des Seins, aber
diese Ohnmacht der Schein der Verweigerung.« (B, 188) 278
Die Machtlosigkeit des Ereignisses ist aber nicht von Anfang da. Das
Ereignis als Einbruch und Blitzschlag ist sehr wohl mächtig, wird aber
dann »entmachtet«:
»Im ersten Anfang der Seynsgeschichte aber mußte das Sein (φύσις) als
»Macht« erscheinen, weil die verborgene Verweigerung zuvor und über-
haupt nur im Überfall offenbar werden konnte. Die Entmachtung der φύσις
aber hat nicht etwa den Machtcharakter, das erstnotwendige Vorgründige

277
Zur Wirkungsunbedürftigkeit des Seins siehe auch: B, 63, 83, 352.
278Zum Zusammenhang von Verweigerung und Machtlosigkeit siehe: B, 101, 136,
200, 203.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

(Begegnishafte), beseitigt, sondern nur geschwächt, so daß es dann überge-


hen konnte in den Charakter der ἰδέα und der Gegenständlichkeit; […].«
(B, 191) 279
Diese »Entmachtung« geschieht natürlich nicht von außen, als ob das
Ereignishafte an irgendwelchen Machtspielen teilnehmen und dann
an Macht verlieren würde, sondern liegt darin, dass das Ereignishafte
Verweigerung ist und deswegen machtlos werden muss. Es übergibt
seine Macht dem, was in ihm entsteht, nämlich dem Seienden:
»Die φύσις wird nicht entmachtet, gleich als sei sie selbst im Wesensgrunde
Macht; wohl aber entäußert sich das Seyn des Vorranges vor dem Seienden
und überläßt diesem die Hervorkehrung des Machtcharakters in dem nur
noch vordergründig begriffenen Sein.« (B, 194) 280
Der Einbruch des Ereignisses kann nicht ohne Macht geschehen – es
ist ein Überfall. Aber genauso ist es auch unvermeidbar, dass das Er-
eignis sich entziehen muss und sich deswegen als das Machlose zeigt,
dass nicht durch eine Wirkung von außen, sondern von sich selbst
aus, seine Macht dem ständig Anwesenden überlässt. Aber das Ereig-
nis hat sich schon ereignet, mit der Verweigerung wird es nicht rück-
gängig gemacht. Ganz im Gegenteil – das Ereignis initiiert eine Ge-
schichte, die aber ihren Anfang notwendigerweise vergisst. Und
genau diese vergessene Anwesenheit des Anfanges in der Geschichte
wird bei Heidegger als die Herrschaft des Ereignisses verstanden. Die
initiierte Geschichte trägt ihren Anfang immer noch in sich, obwohl
er sich schon längst entzogen hat. Deswegen auch die Rede von der
»stille[n] Herrschaft des Seyns« (B, 254) 281, von der Nähe der Ge-
schichte zu ihrem Anfang:
»Auch im Weltalter der Seinsverlassenheit, da der Wille zum Willen einzig
den Vorrang des Seienden betreibt und das Sein vergessen ist, bleibt es doch
in der wesenhaften Nähe, die zur Lichtung seines Bezugs zum Menschen-
wesen geborgen wird. Diese Nähe west aus der geheimnisvollen Wesung

279 Zur Entmachtung siehe auch: BPh, 126; B, 188, 193.


280 Das Seiende wird mächtig durch die Verweigerung des Seins: B, 188, 190 f, 194.
281 Die stille Herrschaft des Seins: BPh, 62; B, 112, 343. Das Ereignis hat wesentlich

die Struktur, dass es immer noch da ist und wirkt, auch wenn es vergessen worden ist.
Romano schreibt diesbezüglich: »Les événements ayant-eu-lieu, qu’ils soient oubliés
ou non comme faits, n’en continuent pas moins à faire sens pour l’advenant, qu’il
puisse se rapporter à ce sens pour le comprendre ou que celui-ci demeure enfoui se
dérobant à lui et structurant son aventure elle-même à son »insu«. Le sens, en effet,
n’a pas à être thématique […].« (ET, 217)

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

des Seins, die, ereignishaft erfahren, als die Enteignung sich offenbart. So
ist die Nähe des Seins unausweichlich. Sie muß daher auch noch in der
Seinsverlassenheit erscheinen und in der Verhüllung sich bekunden.«
(E, 79)
Für das Ereignis des Seins bedeutet die stille Herrschaft, dass auch
dann, wenn der Anfang sich zurückzieht und in die Vergessenheit
geriet und die ganze Macht dem Seienden überlässt, immer noch das
Seiende als Seiendes herrscht – überall, wo das Seiende ist, west sein
Anfang als Aufgehen in die Sichtbarkeit. Überall, wo eine Beziehung
gepflegt wird, west die erste Begegnung. Überall, wo es religiöse
Streitigkeiten gibt, west die Offenbarung Gottes als die anfängliche
Ermöglichung jedes religiösen Streites unter den Menschen.

8. Der Anfang als Gründer der Geschichte

Das Ereignis ist der Augenblick des Einfalles, der sich sofort entzieht.
Es ist machtlos und behauptet sich nicht gegenüber dem Seienden,
sondern lässt es mächtig werden. Doch das Ereignis ist auch unwider-
ruflich geschehen und etwas mit sich gegeben, etwas ermöglicht, in
dem es als sein Anfang unmerklich herrscht – der anfängliche Augen-
blick gründet eine Geschichte. 282 Diesbezüglich spricht Heidegger
vom Ereignis als »Grund der Geschichte« (B, 92) oder »Augenblick
der Geschichte« (B, 98). Das Ereignis ist das, »dem jede künftige Ge-
schichte entspringt« (BPh, 23), es ist die »ursprüngliche Geschichte
selbst« (BPh, 32):
»Sein ›ist‹ der Anfang und also Geschichte / (die Seynsgeschichte).«
(A, 175) 283

282
Jedes Ereignis gründet eine Geschichte. Die Metaphysik ist die Geschichte des
Ereignisses des Seins. Das Ereignis lässt das Seiende sein. Das Seiende kommt zum
Vorschein. Das Ereignis entzieht sich. Das Seiende übernimmt die ganze Szene. Die
Metaphysik entsteht durch das Aufkommen des Seienden – sie als das Denken des
Seienden wird durch das Ereignis in Gang gesetzt. Durch seinen Entzug setzt das
Ereignis aber noch einen Prozess in Gang, nämlich die Seinsvergessenheit. Die Meta-
physik denkt nur das Seiende und so erhält es seine Machtstellung vor dem Ereignis
aufrecht. Die Metaphysik ist die »Vormacht des Seienden« (NI, 429). »Die Metaphy-
sik denkt das Seiende im Ganzen nach seinem Vorrang vor dem Sein.« (NI, 430)
283
Bereits zitiert im Teil I. Siehe auch: A, 64, 171; NII, 447. Jedes Ereignis eröffnet
wesentlich eine Geschichte. Diesen Strukturmoment der Logik des Ereignisses be-
hauptet auch Romano, wenn er zum Beispiel schreibt: »Ainsi, une rencontre ne serait

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Weil das Ereignis der Anfang ist, fängt es etwas an, ist Geschichte.
Dies bedeutet, dass mit dem Einbruch des Ereignisses als dem Anfang
ein Horizont bestimmter nacheinander folgender Möglichkeiten
(»Epochen« 284) eröffnet wird. Es geht darum:
»[…] was der Anfang, vorspringend seiner Geschichte, als Möglichkeiten
setzt und entscheidet.« (B, 223) 285
Das Ereignis gründet also nicht irgendeine Geschichte, sondern seine
– es ist seine Geschichte und die Geschichte ist ihr anfängliches Er-
eignis. 286 Das, was der Anfang gibt, ist von ihm beherrscht, »folgt«
ihm, »ahmt« ihn »nach«:
»Bedenken wir, daß einmal erst in der Geschichte des Seins dieses selbst
Anfang wurde und ist und die Geschichte doch nur eine Nachfolge und
Nachahmung des Anfangs […].« (B, 130)
Im welchen Sinne ahmt die Geschichte den Anfang nach? Indem sie –
welche Gestalt sie auch annehmen würde – an sich das trägt, was sich
am Anfang ereignet hat. Die Geschichte kann (und muss) den Anfang
vergessen, aber trotzdem wiederholt sie die Möglichkeit, die vom An-
fang geschaffen worden ist:

pas une rencontre si elle n’ouvrait un destin ultérieur, si elle ne trouvait son prolon-
gement dans une histoire et s’épuisait dans l’initial face-à-face.« (ET, 178) Man kann
wirklich soweit gehen, dass man behauptet, dass das, was keine Geschichte hat, kein
Ereignis gewesen ist. Die »Geschichte« muss hier aber im breiten Sinne verstanden
werden. Eine Begegnung zum Beispiel hat die Geschichte nicht nur dann, wenn sie zu
einer langjährigen Beziehung wird, aber auch dann, wenn sie den Begegnenden einen
besonderen Moment ihres Lebens ausmacht – eine solche Begegnung ist dann ein
Ereignis, weil sie das Leben der Betroffenen verändert, mitkonstituiert und deswegen
nicht aus dem Leben wegzudenken ist. Wenn sie aber in der Zukunft nach der augen-
blicklichen Begegnung nicht mehr wegzudenken ist, ist sie eine Geschichte – sie ver-
längert sich in die Zukunft, lebt weiter in der Auseinandersetzung der Betroffenen
mit diesem Moment.
284
»Inwiefern ist dann Entbergung Geschichte? Weil die Lichtung des Seyns das We-
sen der Geschichte erfüllt, die dem Er-eignis entstammt und als dieses je das Wesen
der Wahrheit entscheidet und mit dieser Entscheidung eine ›Zeit‹ anhält und ›Epo-
chen‹ gründet, die verborgener wesen und geschieden sind als die Zeitalter der
›Welt‹geschichte.« (E, 19)
285 Für Romano ist das Ereignis »possibilisation« (EM, 61), da es die Möglichkeiten

eröffnet, sie möglich macht. Es ist an sich schon Fülle, »Reserve an Möglichkeiten«
(réserve de possibilités) (ET, 178).
286 »Die Geschichte des Seins ist selbst Ereignis und alles in ihr ereignishaft.« (A, 173)

Siehe auch: GdS, 20, 28, 101, 102.

206

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

»Sogar in der Seinsvergessenheit der Metaphysik, der gemäß sie die Wahr-
heit des Seyns und in ihr das Seyn selbst nie erfahren kann, west noch das
erstanfängliche Wesen des Seins.« (E, 105) 287
Das anfängliche Ereignis gründet seine Geschichte, die es bewusst
oder unbewusst wiederholt, indem sie von ihm beherrscht bleibt.
Man kann aber auch umgekehrt denken: Nicht nur jedes Ereignis
hat seine Geschichte, sondern auch jede Geschichte ihren Anfang.
Keine Geschichte ist lose, sondern immer an einem Horizont der
Möglichkeiten gebunden.
Doch die Geschichte ist nicht bloß ein Haufen verschiedener ver-
wirklichter Möglichkeiten – sie ist zusammengefügt. Zusammenge-
fügt aber nicht so, dass jede Etappe notwendig zu der nächsten führt,
sondern durch die Zugehörigkeit zum Anfang. Der Ablauf der Ge-
schichte ist also nicht determiniert und vorhersehbar, aber trotzdem
auch nicht zufällig, sondern zugehörig:
»Nach dem so zu denkenden Sinn von Geben ist das Sein, das es gibt, das
Geschickte. Dergestalt geschickt bleibt jede seiner Wandlungen. Das Ge-
schichtliche der Geschichte des Seins bestimmt sich aus dem Geschickhaf-
ten eines Schicken, nicht aus einem unbestimmt gemeinten Geschehen. /
Seinsgeschichte heißt Geschick von Sein. […] Die Folge der Epochen im
Geschick von Sein ist weder zufällig, noch läßt sie sich als notwendig er-
rechnen.« (ZS, 12 f)
Wenn man also an einem Punkt in der Geschichte steht, so kann man
nicht den nächsten Punkt errechnen oder erklären, wie der vorherige
Punkt zu dem jetzigen gekommen ist, aber man kann alle Punkte aus
einem Ursprung kommend sehen. 288 Mehr noch: Bestimmt man die
Epochen einer Geschichte als aus einem Anfang kommend, so kann
man behaupten, dass sie sich, zuerst zeitlich gesehen, vom Anfang

287
In der Geschichte sind immer noch die Spuren des Anfangs spürbar: E, 104, 105,
106, 125. Genau in diesem Kontext ist zum Beispiel die Behauptung zu verstehen,
dass »das Ge-Stell«, das, wie bekannt »die vollendete Vergessenheit der Wahrheit
des Seins« (BV, 53) verkörpert, »das Sein selber« ist (BV, 52).
288 »Die Geschichte des Seyns kennt keine Abfolge; die Fügung der Geschichte des

Seyns ist anfänglich und in den Anfang zurück. Wo wir die Entwindung und den
Fortgang zur Metaphysik erfahren, da ist dieses nicht Aufeinanderfolge von Stadien.
Solches findet nur die historische Nachrechnung, die zuvor alles auf das Erklären
gestellt hat, welches Erklären auch schon das bestimmt, woraus und wie abgeleitet
wird. Die Historie kann nicht und nie das Anfängliche denken. Die Geschichte des
Seyns ›ist‹ zumal stets der Anfang. Und der Anfang ist eh und je in jedem, was uns
zunächst, bei der Bekanntmachung, wie eine Phase eines Ablaufes vorkommt.« (E, 76)

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

entfernen. Dieses Sich-Entfernen ist aber nicht zufällig – es ist eine


seinsgeschichtliche Notwendigkeit. In der Tat spricht Heidegger von
der »Notwendigkeit der Seinsgeschichte« (E, 61). 289 Das heißt, dass
die Geschichte als zu einem Ereignis zugehörig doch einer Gesetzlich-
keit folgt, nämlich dem Gesetz des Ereignisses. Worin liegt diese Ge-
setzlichkeit? Ganz einfach: Weil das Ereignis sich entzieht, entfernt
sich die Geschichte von ihrem Anfang. Sie muss sich entfernen, sie
muss das Ereignis vergessen, weil sie zu ihm gehört. So ist die Ge-
schichte des Abendlandes notwendigerweise die Geschichte der
Seinsvergessenheit. Sie ist kein Zufall, sondern folgt der Logik des
Ereignishaften – weil das Ereignis sich entziehen muss, ist die Ge-
schichte die der Seinsvergessenheit. Mehr noch: Je weiter sich ein
Zeitalter vom Anfang befindet, desto stärker die Seinsvergessenheit.
Jedes weitere Zeitalter vergisst das Sein mehr als das Vorherige. 290
Am Ende weiß man überhaupt nicht mehr, woher man gekommen
ist. Oder genauer gesagt: Das Ende ist dann, wenn man nicht mehr
weiß, woher man gekommen ist.
Der Untergang als die Entfernung der Geschichte von ihrem An-
fang ist aber nicht die einzige Notwendigkeit der Seinsgeschichte, die
aus der Logik des Ereignisses hervorgeht. Irgendwann schlägt der
Untergang des ersten Anfangs in den Übergang zum einen neuen –
anderen – Anfang um. Irgendwann schlägt die Metaphysik ins Seins-
denken um:
»[M]an kann immer nur vergessen und sich vom Wissen ausschließen, daß
eine Wahrheit des Seyns als Ereignis jeder Geschichte ihre Geschichtlich-
keit bestimmt und über die Möglichkeit und Notwendigkeit der jeweiligen
Art der Seinsfrage schon entschieden hat. Jetzt stehen wir, ob wir es erfah-
ren oder nicht, ob wir das Erfahrene »wahr« haben wollen oder nicht, im
Übergang von der metaphysischen zur seynsgeschichtlichen Seinsfrage.
Dies deutet auf einen einzigen Augenblick der Geschichte des Seyns.«
(B, 338)
Zur Logik des Ereignisses gehört also nicht nur der Untergang des
Anfangs aufgrund seines Entzuges, sondern auch das Ende der Ge-

289Die Notwendigkeit(en) der Geschichte des Seins: BPh, 205, 208, 221; B, 283.
290Dazu siehe auch: »Der Wink dahin, daß solche Verweigerung sich ereignet, ver-
birgt sich im Geschick des Seins, welches Geschick sich in die Epochen der Seinsver-
gessenheit fügt, so zwar, daß diese Epochen gerade als diejenigen der Entbergung des
Seienden in seiner Seiendheit die abendländische Geschichte bestimmen bis in ihre
heutige Entfaltung zur planetarischen Totalität.« (BV, 51)

208

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

schichte dieses Unterganges, der Übergang zum anderen Anfang, der


allerdings nicht in der Macht des Menschen liegt.

9. Der erste Anfang, der zweite Anfang und


der Zwischenfall

Unvorhersehbar bricht das Ereignis in die Welt ein und gibt der
Menschheit eine Gabe – die Möglichkeit, das Sein zu verstehen, die
Möglichkeit in der offenen Lichtung zu stehen und den Abgrund zu
ertragen. Eine solche Möglichkeit ist nicht natürlich, sie entspringt
nicht den Gesetzen der Natur, sondern wird dem Menschen von
außen geschenkt, sodass er das Natürliche verlässt und zum Dasein
wird.
Die vom anfänglichen Ereignis ausgelöste Geschichte (für Hei-
degger ist das die Metaphysik als das Denken der Seiendheit) ist
ebenfalls kein natürlicher Vorgang, sondern daseinsmäßige Fortset-
zung und Auseinandersetzung mit dem im Anfang Gegebenen. Der
Verlauf dieser Geschichte folgt keinen Vorgaben der Natur. Dies be-
deutet nicht, dass deswegen die Ereignisse der Geschichte zufällig
sind. Nein, sie folgen einer anderen Logik – der Logik des Ereignis-
haften. Wir haben schon zwei Notwendigkeiten der Seinsgeschichte,
die aus dieser Logik entspringen, erwähnt. Erstens ist die Geschichte
des Abendlandes die Geschichte der Seinsvergessenheit. Zweitens
vergisst jedes weitere Zeitalter das Sein mehr als das Vorherige.
Es gibt aber noch eine weitere Notwendigkeit – die Notwendig-
keit des anderen Anfangs. Es ist schon seit dem ersten Anfang (für
Heidegger steht ganz in der Nähe des ersten Anfangs das Denken von
Anaximander, Heraklit und Parmenides) 291 entschieden, dass
»[…] der andere Anfang des Denkens immer nur das Geahnte aber doch
schon Entschiedene bleibt.« (BPh, 4) 292
Es geht also um einen zweiten Anfang nach dem ersten. Man könnte
denken, dass, wenn Heidegger von dem anderen Anfang spricht, dann
von einem anderen diskreten Anfang spricht. So ist es aber nicht. Der
andere Anfang steht im unzertrennlichen Verhältnis zu dem ersten –

291
Siehe auch: E, 55, 56, 61,
292 Der andere Anfang ist die Notwendigkeit des ersten Anfangs: BPh, 169, 328; E,
84 f, 110; NII, 444.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

er ist der andere gegenüber dem ersten, sie beide gehören zu demsel-
ben Ereignis, sie sind dasselbe Ereignis (allerdings nur im anderen
Anfang):
»Der erste und der andere Anfang sind nicht zwei verschiedene Anfänge.
Sie sind das Selbe – aber sind es jetzt im Inzwischen, das sich als Vorbeigang
dem Erfahren öffnet.« (E, 28)
Der erste und der andere Anfang sind nicht »das Selbe«, weil an ihnen
beiden das Selbe geschieht, sondern weil sie zusammengefügt durch
das Gesetz des Ereignisses sind – zum ersten Anfang gehört der an-
dere und der andere ist der andere, weil der erste gewesen ist. 293 Noch
genauer: Der erste Anfang schickt das, was zu seinem Anfang unge-
dacht, unangefangen bleibt und erst im anderen Anfang anfangen
kann, allerdings nur deswegen, weil der erste Anfang es vorher ge-
geben hat:
»Was der erste Anfang ist; was der Anfang ist; was der andere. Der andere
Anfang ist die Anfängnis des unangefangenen (d. h. ersten Anfangs).«
(E, 29) 294
»Der erste Anfang bedarf des anderen, sonst wäre er nicht der erste. Doch
dieses Bedürfen ist nicht ein Mangel, sondern der unausgetragene Reich-
tum des Ersten, das einzig die Vor-läufigkeit des Anfangs in sich birgt.«
(E, 67 f.)
Der erste Anfang bleibt nicht nur deswegen ungedacht und un-
gegründet und geriet in Vergessenheit, weil er sich entzieht, sondern
auch, weil er das gibt, was für die Zukunft bestimmt ist – er ist »vo-
rausgreifend«, niemand kann jetzt begreifen, was er gibt, bevor er in
der Geschichte seine Möglichkeiten gezeigt hat. 295 Erst nachdem der

293 Heidegger sagt oft, dass etwas »das Selbe« wie etwas anderes ist. Die Selbigkeit

denkt er nie als Identität: »Allein das Selbe ist nicht das Gleiche. Im Gleichen ver-
schwindet die Verschiedenheit. Im Selben erscheint die Verschiedenheit.« (ID, 55) Er
denkt sie als Zugehörigkeit zu einander: »Wir legen die Selbigkeit als Zusammen-
gehörigkeit aus.« (ID, 36)
294 Zur These, dass erst im anderen Anfang der erste anfängt und erfahrbar wird,

siehe auch: BPh, 128, 186, 187; GdS, 28; E, 27, 28, 30, 56, 68, 87, 96, 116, 137, 206,
228, 307.
295 Auf diesen Strukturmoment weist auch Romano hin, wenn er von »Aufschub«

(sursis) (ET, 179) der Bedeutung des Ereignisses spricht. Das Ereignis an seinem An-
fang gibt Bedeutungen, die sich erst später in der Geschichte entfalten. In diesem
Sinne ist das Ereignis »prospectif« (ET, 179). Das Ereignis gibt also die Möglichkeiten,
die für die Zukunft vorbehalten sind.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

erste Anfang seine Möglichkeiten erschöpft hat, d. h. an sein Ende


gelangt ist, kann der andere Anfang sich mit der Geschichte auseinan-
dersetzen, sie auf einen Anfang zurückführen und so den ersten An-
fang »wiederholen«, d. h. eigentlich anfangen. 296 Aber es ist notwen-
dig, dass es zu dieser »Wiederholung« genau deswegen kommt, weil
der erste Anfang vorausgreifend ist:
»Der Anfang ist das Sichgründende Vorausgreifende; sich gründend in den
durch ihn er-gründeten Grund; vorausgreifend als gründend und deshalb
unüberholbar. Weil jeder Anfang unüberholbar ist, deshalb muß er stets
wiederholt, in der Auseinadersetzung in die Einzigkeit seiner Anfänglich-
keit und damit seines unumgehbaren Vorgreifen gesetzt werden. Diese
Auseinandersetzung ist dann ursprüngliche, wenn sie selbst anfänglich ist,
dies aber notwendig als anderer Anfang.
Nur das Einmalige ist wieder-holbar. Nur es hat in sich den Grund der
Notwendigkeit, daß wieder zu ihm zurückgegangen und seine Anfänglich-
keit übernommen wird. Wieder-holung meint hier nicht die dumme Ober-
flächlichkeit und Unmöglichkeit des bloßen Vorkommens desselben zum
zweiten und dritten Mal. Denn der Anfang kann nie als dasselbe gefaßt
werden, weil er vorgreifend ist und so je das durch ihn Angefangene anders
übergreift und demgemäß die Wieder-holung seiner bestimmt.« (BPh, 55)
Der erste Anfang greift voraus, er greift bis zu seinem Ende voraus.
Die Geschichte des ersten Anfangs ist von ihrem Anfang »still be-
herrscht«. Es kommt aber notwendig zum Ende dieser Geschichte,
wenn der Anfang seine Möglichkeiten erschöpft hat 297 und wenn das
Denken (und das ganze Menschentum) diese stille Herrschaft nicht
mehr im Verborgenen spürt, d. h. wenn die »Not« erfahren wird. So

296 Genau wegen dieser in den früheren Abhandlungen zum Ereignis herausgearbei-

teten Logik, kann Heidegger später – 1957 – sagen: »Sie [Geschichte – L. P.] ist An-
kunft des Gewesenen.« (ID, 130) Die Geschichte als Entfaltung des ersten Anfangs,
der unbemerkt blieb, lässt ihn irgendwann in der Zukunft noch einmal ankommen.
Auch Badiou wird später sagen, dass das Ereignis wesentlich eine »Zwei« (Deux) (SE,
239/EeE, 233) ist, was nichts anderes heißt, dass es das ist, was absolut anfängt und
nicht erfasst wird, und das, was später als Ereignis benannt wird.
297 »Was meint aber dann ›Ende der Metaphysik‹ ? Antwort: den geschichtlichen Au-

genblick, in dem die Wesensmöglichkeiten der Metaphysik erschöpft sind.« (NII, 179)
Auch Romano definiert das Ende einer Geschichte auf diese Weise: »[U]ne histoire est
›finie‹, non pas quand sont complets les faits qui la composent, mais quand elle a
épuisé ses possibles intrinsèques […].« (ET, 297) Romano – im Gegensatz zu Heideg-
ger – schließt allerdings daraus nicht, dass nach dem ausgeschöpften Ereignis notwen-
digerweise ein anderes Ereignis kommen muss. Und es ist überhaupt fraglich, ob man
eine Regel für das Ankommen des Ereignisses aufstellen kann, wie Heidegger dies tut,
und ob die Ereignisphilosophie damit nicht in die Metaphysik zurückfällt.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

ist es mit dem ersten Anfang schon vorausbestimmt, dass irgend-


wann das Denken die Not des Ereignishaften spüren und es sich not-
wendigerweise in dieser Not an den Anfang als seinen Grund in der
Besinnung erinnern und so den Übergang zum anderen Anfang, in
dem der erste wiederholt werden wird, vorbereiten wird. Diese Not-
wendigkeit entstammt nicht der Natur oder dem logischen Denken,
sondern dem Ereignis selbst, das zu der Not seiner selbst führt:
»Woher aber kommt der künftigen Philosophie ihre Not? Muß sie nicht
selbst – anfangend diese Not erst erwecken?« (BPh, 99)
»Nur aus einer Not kann die Notwendigkeit stammen, und die Not selbst?
Sie gehört dem unbefreiten Überfluß der Wesung des Seyns selbst.«
(B, 317) 298
Wann wird die Not erfahren? In der Zeit völliger Seinsvergessenheit,
d. h. am Ende des ersten Anfangs. 299 Für Heidegger ist aber die Erfah-

298 Aus der Not (des Seins) entsteht die Notwendigkeit (sich an den ersten Anfang zu

erinnern): BPh, 28, 45, 46, 96, 97, 99, 412; B, 41, 307; E, 166, 177.
299 Für Heidegger ist das Ende und die Vollendung der Metaphysik die Philosophie

Nietzsches. Wie aber ist genau Nietzsche der letzte Pfosten der Metaphysik? Weil er
den Gedanken vom »Willen zur Macht« entwickelt hat: »Im Gedanken des Willens
zur Macht vollendet sich zuvor das metaphysische Denken selbst. Nietzsche, der Den-
ker des Gedankens vom Willen zur Macht, ist der letzte Metaphysiker des Abend-
landes.« (NI, 431) Was denkt dieser Gedanke? Zuerst muss er im Kontext des Wert-
gedankens begriffen werden: »Der Wertgedanke ist ein notwendiger Bestandstück der
Metaphysik des Willens zur Macht.« (NII, 83) Der Wert ist das, was als der Grund für
ein Gegründetes verstanden wird: »›Wert‹ ist dann nur ein anderer Name für ›Bedin-
gung‹ der Möglichkeit« […].« (NII, 208) Der Wert ist zwar die Bedingung, er wird
aber selbst gesetzt, nämlich durch den Willen zur Macht: »Nietzsche bestimmt das
Wesen des Wertes dahin, Bedingung der Erhaltung und Steigerung des Willens zur
Macht zu sein, so zwar, daß diese Bedingungen vom Willen zur Macht selbst gesetzt
sind.« (NII, 207) Dies ist der entscheidende Punkt: Der vermeintliche Grund wird
selbst gesetzt – der Wert bedingt den Willen, aber er ist selbst vom Willen gesetzt.
Darin liegt auch Nietzsches »Umwertung« – der Grund wird vom Gegründeten ge-
setzt, verliert damit seinen Wert und die Macht als die Setzung von allem (sogar
einem Grund) wird selbst zum Wert – zum »einzige[n] Grundwert« (NII, 109). Der
Wille zur Macht denkt also den Grund – das Sein – als gesetzt (er will es setzen) und
das ist die höchste Seinsvergessenheit und damit die Vollendung der Metaphysik, da
das Sein der Grund, die Ermöglichung, das Geben ist. Weil ab jetzt nichts mehr (dem
Menschen) gegeben ist, sondern nur (von ihm selbst) gesetzt, d. h. gemacht, spricht
Heidegger vom Zeitalter der »Machenschaft«: »Machenschaft (seynsgeschichtlich
begriffen) / Dieses Wort nennt jenes Wesen des Seins, das alles Seiende in die Mach-
barkeit und Machsamkeit entscheidet. Sein besagt: Sicheinrichten auf die Mach-
samkeit, so zwar, daß diese selbst das Sicheinrichten in der Mache hält. / Metaphysik-
geschichtlich erläutert sich die Machenschaft durch die Seiendheit als Vor-gestelltheit,

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

rung der Not das erste Zeichen für die Möglichkeit des anderen An-
fangs, weswegen das Zeitalter der Not zum Zeitalter des Überganges
wird. Im Übergang fällt der Untergang des ersten Anfangs mit dem
»Anklang« 300 des zweiten Anfangs zusammen – die »Verweigerung
(das Nichthafte des Seyns) im Äußersten« ist dasselbe wie die
»fernste Er-eignung« (BPh, 8); »die ›Seinsverlassenheit‹ ist ›Anklang
des Seyns‹ (BPh, 141):«
»So ist die abendländische Metaphysik an ihrem Ende der Frage nach der
Wahrheit des Seyns am fernsten und doch zugleich am nächsten, indem sie
den Übergang dahin als Ende vorbereitet hat.« (BPh, 201) 301

Heidegger nennt diese Situation »Vorbeigang« – wenn sich das Ende


des ersten Anfangs und der Anklang des anderen Anfangs zu der-
selben Zeit ereignen (dasselbe sind), ohne jedoch von einander zu
wissen – sie gehen einander vorbei:
»Diese Zeit bestimmt sich dadurch, daß die äußerste Seinsverlassenheit als
Herrschaft des Willens zum Willen vorbei geht am Anklang der Verwin-
dung des Seyns in den anderen Anfang, welcher Anklang selbst in jener
Verwüstung vorbei geht.
Der Vorbeigang ist die höchste Konstellation der Seinsverlassenheit
und der Seinsverwindung. Im Zeit-Raum dieser Kon-stellation ereignet
sich die Geschichte des Beginns des eigentlichen Abend-landes.« (E, 92) 302
Dies bedeutet auch, dass es im Zeitalter des Vorbeigangs grundsätz-
lich zwei Haltungsmöglichkeiten gibt: Etweder hält man sich an dem
»Alten«, oder ahnt und will das »Neue«.
Der erste Anfang endet notwendigerweise irgendwann. Sein En-
de ist aber die Notwendigkeit des anderen Anfangs. Diese Notwen-
digkeit wird dadurch realisiert, dass die Not des Ereignishaften aus
dem Ereignishaften selbst herrscht, die am Ende des ersten Anfangs
erfahren wird. In dieser Not »verlangt« (B, 57) und »fordert« (B, 310)
das Sein vom Denken die Erinnerung an den Anfang; das Sein

in der es auf Her-stellbarkeit in jeder Abartung abgesehen ist.« (GdS, 46) Die Machen-
schaft ist das Gegenteil zum Ereignis.
300 In den Beiträgen teilt Heidegger den Übergang zum anderen Anfang in sechs

Etappen ein, die er »Fügungen« der »Fuge« nennt. Diese Fügungen sind: der Anklang,
das Zuspiel, der Sprung, die Gründung, die Zukünftigen und der letzte Gott (BPh, 6).
Der Anklang ist die erste Etappe und bedeutet »die Anerkenntnis der Not« (BPh, 107),
wenn man dazu kommt, dass man ein Fehlen (des Anfanges) spürt.
301 Siehe auch: BPh, 228.

302
Zum Vorbeigang siehe auch: E, 84 f, 86, 92, 95, 138, 161, 248.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

»zwingt« (B, 197) zur Erinnerung. Die Not ist also durch und durch
von der Wesung des Ereignisses selbst beherrscht. Trotzdem gibt es
im Übergang zum anderen Anfang im Vergleich zum ersten Anfang
eine wesentliche Verschiebung. In dem ersten Anfang gehört die gan-
ze Initiative dem Ereignis, und der Mensch ist nur ein passiver Emp-
fänger. Im anderen Anfang darf der Mensch aber nicht völlig passiv
bleiben. Weil seine Passivität im ersten Anfang dazu beigetragen hat,
dass das Sein ungefragt, unentschieden und ungegründet blieb. Der
Mensch war zwar nicht der Grund der Ungegründetheit, sondern die
Verweigerung selbst, aber genau durch ihn konnte die Verweigerung
geschichtlich zur Vergessenheit des Vergessens werden:
»Gegenwendig entspricht dem Da-seyn im Ereignis der Untergang der-
gestalt, daß im Da-seyn erst und hier allein der Untergang geschichthaft
wird.« (E, 150) 303
Das zweite Ereignis, das Ereignis im Übergang zum anderen Anfang
braucht einen Empfänger, der es bewusst aufnehmen kann, sonst
bleibt es immer nur im Verborgenen:
»Weil das Seyn als Verweigerung außerhalb von Macht und Ohnmacht
zumal ist die Not der Nötigung in die Gottschaft der Götter und in die
Wächterschaft des Menschen, muß ihm, anders denn je in seinem ersten
Anfang, der Mensch entgegenkommen; nicht als ob er das Seyn und seine
Wahrheit jemals an sich reißen könnte – die Entgegenkunft ist nur Vor-
bereitung der Bereitschaft für das kaum erzitternde Beben, mit dem der
Abgrund sich zwischen alles Seiende legt und die Entscheidung zwischen
den Göttern und Menschen fordert.« (B, 96 f)
Diesmal hat das Dasein nicht nur die Rolle eines passiven Ortes für
das Geschehen des Seins. Im Übergang zum anderen Anfang hat der
Mensch die wesentliche Rolle, der »Gründer der Wahrheit des Seyns«
(B, 163) zu sein. 304 Die Gründung, wie wir noch später sehen werden,
bedeutet nicht »Erschaffung« des Ereignisses, sondern – insofern das
Sein der Grund ist – das »Grund-sein-lassen« (BPh, 31). Der Mensch
muss ganz bewusst den Anfang Anfang sein lassen. Doch wie kommt

303 »Alle Ereignisse in der Geschichte des Seins, die Metaphysik ist, haben ihren Be-

ginn und Grund darin, daß die Metaphysik das Wesen des Seins unentschieden läßt
und lassen muß, sofern ihr eine Würdigung des Fragwürdigen zugunsten der Rettung
ihres eigenen Wesens von Beginn an gleichgültig bleibt, und zwar in der Gleichgültig-
keit des Nicht-Kennens.« (NII, 418) Siehe auch: E, 206.
304 Dementsprechend ist die vierte Etappe des Überganges in den Beiträgen »die

Gründung«.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

er zum Anfang, der in der Not anklingt und nur entfernt erahnt
wird? Durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte des ersten
Anfangs, also mit der Metaphysik. 305 Diese Etappe des Überganges
nennt Heidegger »Zuspiel«, und ihre Aufgabe ist, die Geschichte auf
ihren Anfang zurückzuführen und so dem Anfang näher zu kommen,
d. h. durch die Geschichte das Zuspiel des Anfangs aufzufangen. Weil
aber eine solche Auseinandersetzung mit der Geschichte nach ihrer
Herkunft und ihrem eigentlichen Wesen fragt, ist sie schon die Über-
windung dieser Geschichte, weil die Metaphysik sich selbst nicht
befragen kann – dazu braucht man eine andere, nämlich die seins-
geschichtliche, Denkweise. 306 Somit ist der Übergang, der sich im
Denken des Ereignisses vollzieht, die Überwindung der Metaphysik:
»Der Wandel ereignet sich im Übergang in den anderen Anfang, der die
Überwindung der Metaphysik ist […].« (E, 164)
Durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte und ihre Überwin-
dung, »springt« der zukünftige Gründer ins Ereignis. 307 Der Sprung
in den Anfang und die Gründung sind also die Eröffnung der Mög-
lichkeit, durch die der erste Anfang endlich anfangen kann, aber sie
sind auf keinen Fall die Auslösung des anderen Anfangs – das An-
fangen liegt nicht in der Macht des Gründers, sondern des Anfangs
selbst.
Der erste Anfang ist derjenige, der mit seiner Gabe vorausgrei-
fend ist – er gibt das, was es noch nicht gibt, was es erst irgendwann in
der Geschichte geben wird. Im Augenblick seines Anfangens bleibt er
deswegen völlig unbegreiflich und ungedacht. Als Anfang entzieht er
sich und verlässt seine von ihm ausgelöste Geschichte, die notwendig
die Geschichte der Vergessenheit ist. Erst in der Geschichte, die in
sich die Spuren seines Anfangs noch trägt, kann der Anfang geahnt
werden, dies aber erst am Ende, in der Vollendung dieser Geschichte,
die am weitesten von ihrem Anfang steht und erst durch das Spüren
des völligen Weg-Seins vom Anfang, ihn denken lässt. Dieser Mo-

305 »Meines Erachtens kann die Einkehr in den Wesensbereich des Da-seins […] –

jene Einkehr, die die Erfahrung der Inständigkeit in der Lichtung des Seins ermög-
lichen würde, – nur auf dem Umweg einer Rückkehr zum Anfang vollzogen werden.«
(S, 394)
306
Das Denken des Anfangs der Metaphysik ist nicht mehr metaphysisch. Dazu siehe
zum Beispiel: BPh, 171 f.
307
Diese Etappe des Übergangs nennt Heidegger in den Beiträgen »den Sprung«.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

ment der Not ist der Übergang zum anderen Anfang. Ist das Ende
einer Geschichte, die ihren Anfang nicht kennt, notwendig, so ist
auch der andere Anfang notwendig. Er ist der andere Anfang in dem
Sinne, dass in ihm der erste Anfang als Anfang verstanden wird und
zum ersten Mal anfangen kann. Dass etwas durch ein Ereignis an-
gefangen hat, versteht man nur, wenn man sich nach seiner Verges-
senheit irgendwann an es erinnert. Nur dann kann es als Ereignis
bewahrt werden – nur im zweiten Anfang. 308 Das, was sich zwischen
zwei Anfängen ereignet, nennt Heidegger »Zwischenfall«. Die Ge-
schichte der Seinsvergessenheit, also die Metaphysik ist der Zwi-
schenfall:
»Die Metaphysik ist seynsgeschichtlich der Zwischenfall der Herrschaft des
Seienden vor dem Seyn dergestalt, daß sich das Seyn in die Seiendheit des
Seienden losläßt und in die Seinsverlassenheit des Seienden sich schickt.«
(E, 103) 309

308
Diese Struktur ist auch bei Marion festzustellen. In dem ersten Gabeakt tritt das
Gegebene vor das Geben (Ereignis), den Geber und vergisst, dass es gegeben worden
ist. Das Geben fordert aber irgendwann seine Anerkennung. Die Gabe soll irgend-
wann später als gegebene Gabe anerkannt werden. Es soll irgendwann ein Prozess
der Erinnerung gestartet werden, der dann zum ersten Mal verstehen lässt, dass da-
mals eine Gabe gegeben worden ist, und durch den die Gabe zum ersten Mal für
immer als die Gabe bewahrt werden kann. Der Prozess der Erinnerung kann laut
Marion auf eine zweifache Weise geschehen: entweder als Opfer (Zurückgabe der
gegebenen Gabe und so die Anerkennung der Gabe) oder als Vergebung (wenn der
Geber die Gabe zum zweiten Mal gibt und so sie voll und ganz als Gabe erscheinen
lässt). Also: »Das Opfer gibt die Gabe an die Gebung, aus der sie herstammt, zurück,
indem es sie an die Verweisungsstruktur zurückweist, die sie in ursprünglicher Weise
konstituiert. […] Es bewahrt die Gabe in ihrem Status als gegebene, indem es sie in
einer Hin- bzw. Preisgabe reproduziert.« (GG, 122/CN, 203) Oder (am Beispiel der
Rückkehr des verlorenen Sohnes): »Der Sohn hatte die Gabe (die Sohnschaft) dadurch
unsichtbar gemacht, indem er sie sich als einen Fonds (ουσία) aneignete. Durch das
Verzeihen, die wiedergegebene Gabe, erstattet ihm der Vater nicht nur zurück, was im
Tausch verloren wurde (den Besitz), sondern er setzt ihn wieder in die Bewegung der
gegebenen Gabe ein, so dass er ihm somit zum ersten Mal als gebender Vater (père
donateur) erscheint und ihn selber zum ersten Mal als beschenkten Sohn (fils dona-
taire) erscheinen lässt. Das Verzeihen lässt zum ersten Mal das vollständige Phäno-
men der Gabe zu Tage treten.« (GG, 160 f/CN, 236) Es ist interessant, dass auch Hei-
degger den anderen Anfang durch das Opfern der gegebenen Gabe (des Seienden)
charakterisiert, wobei dieses Opfern (als Aufgeben des Denkens des Seienden) dazu
führt, dass der Ursprung dieser Gabe (die Wahrheit des Seins des Seienden) sichtbar
wird: »Im anderen Anfang wird alles Seiende dem Seyn geopfert, und von da aus
erhält erst das Seiende als solches seine Wahrheit.« (BPh, 230)
309
Siehe auch: E, 174, 206.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

Warum ist sie Zwischen-Fall und nicht bloß ein von den beiden An-
fängen getrenntes Zeitalter, das deswegen getrennt ist, weil es das
Ereignis nicht kennt? Erstens weil die Geschichte der Seinsvergessen-
heit immer noch die Spuren des Entzuges ihres Anfangs in sich trägt.
Weil der Anfang sich notwendigerweise entziehen muss, ist auch die
Geschichte seiner Vergessenheit notwendig. Zweiten, weil es nur
durch die Metaphysik irgendwann zum anderen Anfang kommen
kann, eben weil sie auf den ersten Anfang zurückweist:
»Der Zwischenfall ist zwischen dem ersten und dem anderen Anfang.
Durch diesen Zwischenfall kommt die Anfängnis des Anfangs zum ersten
Anklang.« (E, 103) 310
Die Vergessenheit des Anfanges ist die im vergessenen Anfang selbst
liegende Möglichkeit und Notwendigkeit, sich selbst noch einmal zu
geben.

10. Die Verschenkung und Unberechenbarkeit


des Ereignisses

Das Ereignis fängt an. Indem es anfängt, gibt es etwas. Indem es


etwas, was sich verweigert, gibt, schickt es eine Geschichte der Ver-
gessenheit des Anfänglichen. Das Ereignis ist »Verschenkung« 311,
»Geschenk« (BPh, 248) und »Schickung« (E, 88), seine Geschichte
ist »Schenkungsgeschichte« (B, 68). Diese Thesen und Bezeichnun-
gen äußern den Gedanken, dass das Ereignis von sich aus etwas gibt.
Es steht nicht in der Macht des Menschen, es ist das Andere gegen-
über dem Menschen und sein Bezug zum Menschen ist das Geben,
das für den Menschen unvorhersehbar und unberechenbar bleibt.
Somit spricht das Ereignisdenken Heideggers als Philosophie des An-
deren und der Gabe eine klare Kritik gegen das anthropo- und sub-
jektzentrische Denken aus, das im Menschen den letzten Grund von
allem Möglichen und Wirklichen sieht. So gesehen ist das Ereignis-
denken auch Heideggers Selbstkritik an der Philosophie von Sein und
Zeit, da hier das Dasein das Sein »schon immer verstanden hat«, was

310
Siehe auch: E, 257.
311 Die Verschenkung des Ereignisses: BPh, 15, 158, 228, 268, 346, 384, 410; B, 12, 58,
93, 97, 113, 117, 129, 131, 138, 202, 219, 243, 277, 309, 312, 313, 337, 347; E, 58, 314.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

heißt, dass das Sein im Dasein gründet; dass es etwas ist, was wesent-
lich für das Dasein ist. Diese Einstellung ändert sich in der Philoso-
phie des Ereignisses, weswegen Heidegger auch von der Kehre in sei-
ner Philosophie spricht. Es geht um die Kehre vom im Dasein
gegründeten Sein zum im Ereignis gegebenen Sein. Das Sein als Er-
eignis ist nicht etwas, was »immer schon« im Menschen liegt, son-
dern das, was an einem Moment vom außen unerwartet und unvor-
hersehbar geschenkt wird.
Wenn das Ereignis als Gabe des Anderen bestimmt wird, müssen
vor allem drei Punkte festgehalten werden. Erstens ist das Ereignis als
Einbruch in die Welt, als Einfall ins Seiende frei von allen Bedingun-
gen seiner Möglichkeit in dieser Welt – seien sie transzendental oder
empirisch. Nichts in der Welt, nichts im Menschen kann dieses an-
fängliche Ereignis aufzwingen, fördern oder hindern. Das Ereignis-
hafte hängt ausschließlich von sich selbst ab. Deswegen spricht Hei-
degger von der »Freiheit des Anfangs« (B, 209) 312. Die Freiheit hängt
aufs engste mit der Unvorhersehbarkeit des Ereignisses zusammen –
das Ereignis ist und bleibt für den Menschen ein Zufall:
»Ob das Seyn als Dazwischenkunft im Offenen des Seienden ankommt und
als Zufall dem Seienden einfällt, bleibt stets zu-fällig.« (A, 39) 313
Zweitens: Genauso wenig wie der Einbruch selbst ist das Denken und
»seine Sache« vom Dasein abhängig. Das Dasein trägt keine trans-
zendentalen Bedingungen für das Denken des Seins in sich, in ihm
liegen keine Voraussetzungen für das Denken des Seins, die im Vo-
raus erkannt werden könnten. Das Sein ist nicht das Ergebnis seines
Denkens. Im Gegenteil: Das Dasein wird zum Denken des Seins, also
zum Dasein, durch das Ereignis des Seins. Das Dasein ist nicht es
selbst vor dem Ereignis, sondern wird zum Dasein durch das Ereignis
verwandelt:

312 Siehe auch: B, 12. Später heißt es: »Es [Seyn – L. P.] wird nicht von anderem
bewirkt, noch wirkt es selbst. Seyn verläuft nicht und nie in einem kausalen Wir-
kungszusammenhang. Der Weise, wie es das Seyn selber sich schickt, geht nichts
Bewirkendes als Seyn voraus und folgt keine Wirkung als Seyn nach. Steil aus seinem
eigenen Wesen der Verborgenheit ereignet sich Seyn in seine Epoche. Darum müssen
wir beachten: Die Kehre der Gefahr ereignet sich jäh. In der Kehre lichtet sich jäh die
Lichtung des Wesens des Seyns.« (BV, 73)
313
Siehe auch: A, 127.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

»Das ›Seyn‹ ist nicht ein Gemächte des ›Subjekts‹, sondern das Da-sein als
Überwindung aller Subjektivität entspringt der Wesung des Seyns.« (BPh,
303) 314
Es ist zwar richtig, dass, wenn der Mensch gar nicht existieren würde
oder anders beschaffen wäre, es auch kein Sein gäbe, kein Ereignis des
Seins. Der Mensch ist derjenige, mit dem sich das Ereignis ereignet:
»[D]as Seyn braucht das Da-sein, west gar nicht ohne diese Ereignung.«
(BPh, 254) 315
Und es lässt sich gleich fragen:
»Wird aber das Seyn nicht abhängig von einem Anderen, wenn dieses
Brauchen sogar sein Wesen ausmacht und nicht nur eine Wesensfolge ist?«
(BPh, 251)
Doch das Sein ist nicht vom Dasein genau deswegen abhängig, weil es
das Dasein erst zum Dasein verwandelt:
»Wie dürfen wir aber da von Ab-hängigkeit reden, wo dieses Brauchen ge-
rade das Gebrauchte in seinen Grund umschafft und zu seinem Selbst erst
überwältigt.« (BPh, 251)
Der Mensch ist also nicht der Grund für das Sein. Es ist umgekehrt –
das Ereignis des Seins ermöglicht sich selbst und auch noch das Da-
sein, das dann das Sein erfährt und denkt. Wir haben hier also mit der
Umkehrung desjenigen Verhältnisses zu tun, das wir aus der subjekt-
zentrischen – unter anderem aus der transzendentalen – Philosophie
kennen. In der Philosophie des Ereignisses liegt der letzte Grund
nicht mehr im Dasein, sondern im Anderen. Und wenn das Ereignis
dem Menschen das Sein schenkt und damit auch seine »Identität«
und Geschichte, kann man in der Philosophie des Ereignisses von
einer gewissen Passivität des Menschen sprechen – der Mensch ist
derjenige, der (nur) empfängt, nicht aber aktiv schafft. Diese Passivi-
tät des Empfangens kann sowohl positiv als auch negativ bewertet
werden. Man kann es ebenso als eine positive Möglichkeit ansehen,
dass der Mensch durch die Gabe begabt wird. Man kann aber auch
einwenden, dass der Mensch damit als einer charakterisiert wird, der

314 Bereits zitiert im Teil I. Zur Verwandlung des Menschen ins Dasein durch das

Ereignis siehe auch: BPh, 14, 455; B, 22, 23, 42, 45, 57, 83, 108, 210; ÜM, 22; ZS, 23.
315 Das Sein braucht das Dasein: BPh, 44, 230, 233, 262, 265, 317, 342; B, 139; A, 13,

29, 30, 125; E, 144.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

etwas Äußerem ausgeliefert ist, seine Freiheit verliert und sein eige-
nes Leben nicht bestimmten kann.
Trotz des Vorrangs des Seins ist das Dasein in Heideggers Phi-
losophie nicht völlig passiv. Das Dasein kann und darf überhaupt
nicht völlig passiv bleiben, da das Denken des Ereignisses eine An-
strengung ist, die mit vollem Bewusstsein ausgetragen werden muss.
Heidegger stellt sogar die These auf, dass am ersten Anfang das Er-
eignis als Entzug in Vergessenheit geriet, weil das Denken sich nicht
angestrengt hat, den Entzug als Entzug zu bewahren, sondern den
leichteren Weg des Vergessens nahm. Wir haben schon gesehen, dass
Heidegger deswegen am anderen Anfang fordert, dass das Dasein
zum »Gründer« des Seins wird. 316 Nur durch die Gründung vonseiten
des Menschen kann der erste Anfang endlich im anderen Anfang an-
fangen. Man könnte diesbezüglich gleich fragen, ob es damit das Da-
sein nicht wieder zum Grund des Seins gemacht wird, sodass die
Möglichkeit des Seins im anderen Anfang vom Dasein und seiner
Aktivität abhängt. Darauf ist ein Zweifaches zu antworten. Erstens
ist der Begriff der »Gründung« für Heidegger »zweideutig«:
»Gründung ist zweideutig: 1. Der Grund gründet, west als Grund. […]
2. Dieser gründende Grund wird als solcher erreicht und übernommen. Er-
gründung: a) den Grund als gründenden wesen lassen; b) auf ihn bauen,
etwas auf den Grund bringen. Das ursprüngliche Gründen des Grundes (1)
ist die Wesung der Wahrheit des Seyns; die Wahrheit ist Grund im ur-
sprünglichen Sinne.« (BPh, 307)
Der ursprüngliche, der letzte Grund ist also das Ereignis. Das ist der
Grund in erster Bedeutung. Wenn Heidegger sagt, dass das Dasein
gründet, meint er nicht, dass es ursprünglich gründet – das Dasein
gründet nur, indem es »den Grund als gründenden wesen lässt« und
»auf ihn baut«. Das Dasein ist der Grund in zweiter Bedeutung. »Den
Grund wesen lassen« ist das »Wesen« und »Bestimmung« des
menschlichen Daseins:
»Die Gründung – nicht Erschaffung – ist Grund-sein-lassen von seiten des
Menschen ([…]), der damit erst wieder zu sich kommt und das Selbst-sein
zurückgewinnt.« (BPh, 31) 317

316
Das Dasein als Gründer des Seins: BPh, 16, 23, 26, 31, 140, 170, 223, 240, 260, 263,
296, 395; B, 167, 210, 255, 322; E, 190.
317
Zu dieser Bestimmung des Daseins siehe auch: BPh, 16; B, 325, 326.

220

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

Damit ist es nochmals gesagt, dass der Mensch nicht der letzte Grund
des Ereignisses ist. Doch damit wird wieder bestätigt, dass das Ereig-
nis nur wesen kann, wenn das Dasein den Grund wesen lässt. Wenn
das nicht der Fall ist, kann das Ereignis immer noch »still herrschen«,
aber es gibt es nicht in dem Sinne, dass es aus der Vergessenheit he-
raustritt und als es selbst bewahrt wird. Dies stellt selbstverständlich
ein Problem dar. Deswegen die zweite Antwort: Die Möglichkeit, den
Grund wesen zu lassen und den ersten Anfang anzufangen, liegt
nicht in der Macht des Daseins – sie ist »Geschenk« (oder »Entzug«)
des Ereignisses und deswegen nicht errechenbar:
»Ob diese Umwerfung des bisherigen Menschen, d. h. zuvor die Gründung
der ursprünglicheren Wahrheit in das Seiende einer neuen Geschichte
glückt, ist nicht zu errechnen, sondern Geschenk oder Entzug der Ereig-
nung selbst, auch dann noch, wenn die Wesung des Seyns bereits in der
jetzigen Besinnung vorausgedacht und in den Grundzügen gewußt ist.«
(BPh, 248) 318
»Der Eintritt des Menschen in die Seinsgeschichte ist unberechenbar […].«
(BPh, 228) 319
Weil das Dasein nur dann den Grund gründen kann, wenn der ur-
sprüngliche Grund schon gründet, nennt Heidegger es den »ge-grün-
dete[n] Gründer des Grundes« (BPh, 239). 320 Diese Passage macht
aber auch deutlich, dass die Aktivität des Denkens des Seins, der Be-
sinnung grundsätzlich nur zum Übergang zum anderen Anfang ge-
hört. Nichts davon, was der Mensch besinnt, vorausdenkt und weiß,
kann den anderen Anfang auslösen. Die Möglichkeit zur Gründung
des Ereignisses hängt vom Ereignis ab, aber auch diese Gründung des
Ereignisses, die Entscheidung, es zu bewahren, bewirkt nicht den Ein-
tritt des anderen Anfangs. Dieses Denken ist nur die Vorbereitung 321
auf die Möglichkeit des Kommens eines Ereignisses, und als Vor-
bereitung verwirklicht es sie nicht. Deswegen behauptet Heidegger

318
Siehe auch folgende Stelle: »Um den Anfang zu denken, müssen wir zum voraus
schon in der Erfahrung des Seins von diesem zu ihr ereignet sein. Wir können uns des
Anfangs nie bemächtigen. Der Anfang kann uns nur in das Da-seyn übereignen.« (E,
229)
319 Die Unberechenbarkeit des Ereignisses (des anderen Anfangs): BPh, 10, 20, 236,

242, 280, 396, 415, 416.


320 Siehe auch: BPh, 31, 32; B, 328.

321
»Ob und wie weit ein solcher Sprung [in den Abgrund, also in den Anfang – L. P.]
des Denkens dem Menschen glückt, liegt nicht bei ihm. Dagegen obliegt uns die Vor-
bereitung des Sprunges.« (FV, 113)

221

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

nie, dass der andere Anfang aufgrund seines Denkens schon einge-
treten ist – wir befinden uns im Übergang zum anderen Anfang, un-
ser Denken ist nur vorbereitend, und dies auch nicht im Sinne des
Auslösens, sondern im Sinne des Bereit-Seins für das Unberechen-
bare:
»Jene Entscheidung wird nicht als ›Akt‹ einzelner Menschen gefällt, sie ist
der Stoß des Seyns 322 selbst, durch den die Machenschaft des Seienden und
der Mensch als das historische Tier gegen den Abgrund des Seyns geschie-
den und der eigenen Ursprungslosigkeit überlassen werden. Deshalb bedeu-
tet Vorbereitung der Entscheidung nicht Anbahnung dieser selbst, als sei sie
ein und noch ein mögliches Gemächte des Menschen. Vorbereitet wird nur
der Zeit-Spiel-Raum, in dem sich die Wesenswandlung (nicht eine bloße
Höher- oder Umzüchtung) des animal rationale geschichtlich ereignen
muß.« (B, 24) 323
Drittens zeigen sich die Unabhängigkeit des Ereignisses vom Subjekt
und der Vorrang jenes vor diesem auf noch eine Art und Weise, die
allerdings von Heidegger nicht allzu oft behandelt wird, die aber
trotzdem ein charakteristischer Zug seines Ereignisdenkens ist. Wir
haben festgestellt, dass die Möglichkeit des Seinsdenkens und damit
des Daseins vom Ereignis selbst geschaffen wird. Es ist nicht der
Mensch, der allein zu diesem Denken kommen kann. Er muss das
Denken zwar vollziehen, aber er ist nicht dessen Grund. Diese These
impliziert aber mehr: Das Ereignis ist nicht nur kein Produkt des (vor-
stellenden) Denkens, sondern es ist überhaupt etwas anderes als das
(vorstellende) Denken. Wir haben schon gesehen, dass das Ereignis
kein vorstellendes Denken ist, sondern ein Denken als Zugehörigkeit
zu einem Geschehen, Sich-Befinden an einem Ort:
»Das Er-denken des Seyns ist niemals ein »Erzeugen« des Seins, so daß die-
ses gar nur zu einer Gedachtheit würde.
Das Er-denken ist das er-eignete Er-reichen der Lichtung der Verwei-
gerung, welche Lichtung als Lichtung der Verweigerung anhalt- und zu-
fluchtlos sich zum Ab-grund entbreitet, der die Wesung des Seyns selbst
als seine Wahrheit ist.« (B, 131) 324

322 Die »Stöße des Seyns«: B, 242, 244, 245, 247, 275.
323 Zur Entscheidung des Seins siehe auch: B, 46, 47 f, 93, 113, 236, 353; GdS, 59. 1973
im Seminar in Zähringen sagt Heidegger: »Die Einkehr in diesen Bereich [Bereich des
Da-seins – L. P.] wird nicht durch das Denken bewirkt […]. […] dies Denken bereitet
den Menschen vor allem darauf vor, der Möglichkeit solcher Einkehr zu entsprechen.«
(S, 390)
324
Siehe auch: E, 312.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

Jetzt können wir unsere These erweitern: Würde das Denken das Sein
erzeugen, wäre es Gedachtheit. Das Denken aber erzeugt nicht das
Sein – es kann nur, wenn das Ereignis es erlaubt, das Sein denken,
aber nur so, dass es in der Lichtung steht. Dass das Ereignis nicht
erzeugt wird, dass es nicht in der Macht des Menschen liegt, impli-
ziert, dass es mehr als Gedachtheit ist. Die Verschenkung und Unbe-
rechenbarkeit des Ereignisses bedeutet also, dass es sich nicht im vor-
stellenden Denken vollzieht. 325

11. Die Wiederholung des Ereignisses: Ort, Sprache, Kunst

Das Ereignis ist kein beständiges Wesen, sondern Wesung. Als dieses
ist es etwas Einziges, es ist Dieses, das sich ereignet. Als das Einzige,
Einzigartige und Einmalige ist das Ereignis immer das Neue – es ist
der Anfang. Der Anfang kann nie gegenständlich gedacht werden. Es
ist nichts, es ist Zeit – seine eigene Zeit als Augenblick seines An-
fangens. Das Ereignis ist »reine Gegenwart« (E, 234), die sich gleich
nach dem Anfangen entzieht. Genauso wenig gegenständlich ist das,
was im Ereignis und untrennbar vom Ereignis gegeben wird – es ver-
weigert sich, die Verweigerung bedeutet: Es lässt sich nicht festhalten,
ohne es zu etwas Seienden zu machen und so zu verlieren. Der vom
Ereignis Betroffene muss ständig gegen die aufdringlichen Vergegen-
ständlichungsversuche kämpfen. Die einzige Möglichkeit das Ereig-
nis als Entzug zu bewahren, ist jedes entstandene Wesen zu destruie-
ren und den Abgrund, das Wegsein des Grundes auszutragen. Das
Ereignis ist kein Wesen, sondern der Austrag vom Nichts, wenn
man nichts hat, wenn man in den Abgrund fällt. Es ist die Erfahrung
und Austrag einer »anfänglichen Armut«. Das Ereignis schickt zwar
etwas, doch es verabschiedet sich von seinem Geschickten, es lässt
sich durch das Gegebene verdunkeln, sodass die ganze Aufmerksam-
keit auf das Gegebene gerichtet wird, das jetzt ereignislos erscheint.
Die Eigenartigkeit des Heidegger’schen Denkens besteht darin,
dass dieses nicht-seiende Ereignis nicht im negativen Sinne uneinhol-

325 Wir werden später sehen, welche unglaublich große Rolle diese Struktur des Er-

eignisses in der Philosophie Levinas’ spielt. Seine These ist, dass, wenn es die Anders-
heit gibt, sie nicht gedacht werden kann, weil die Gedachtheit sie zum Besitz des
Selben, das jede Andersheit ausschließt, macht. Mit anderen Worten: Die Andersheit
im Kopf des Selben ist keine Andersheit mehr. Die Andersheit kann nur in der Nähe
zum Selben sein, also nicht in ihm.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

bar bleibt, sondern wird im positiven Sinne als Raum gedacht, wo ein
Denken erst entsteht und sich aufhält. Dieser Raum ist der Raum des
Wahrheitsgeschehnisses, und es ist uneinholbar nicht deswegen, weil
es keine klare und deutliche Idee von ihm gibt, sondern weil das Den-
ken (und – breiter gefasst – die menschliche Existenz im Allgemei-
nen) in ihm steht. Um diesen Raum zu denken, reicht es nicht, sich
einen leeren Raum (Weltraum) vorzustellen, in dem etwas ist, son-
dern man muss diesen Raum ausgehend vom Ort verstehen: Man
kann den Raum als das In-Sein nur dann verstehen, wenn man es
gelernt hat zu vollziehen, was es heißt, an einem Ort, um den herum
der Raum »räumt« 326, zu sein. An einem Ort zu sein, ist nur augen-
blicklich möglich: Man kann dieses In-Sein nicht anhalten und hal-
ten. Man kann nicht dasjenige halten, was alles hält. Die Augenblick-
lichkeit des Ereignisses impliziert allerdings nicht, dass es hier um
eine messbare kurze Länge der Zeit geht. Der Augenblick ist nicht
messbar kurz – er ist eine Zeit, wo die Zeit stillsteht. Die Zeit entsteht
dann, wenn man anfängt, etwas zu denken, aber damit wird der
Raum des Denkens (nicht nur der Raum des Denkens, sondern der
Raum überhaupt) gleich verdunkelt.
Eins der entscheidenden Momenten in Heideggers Philosophie
liegt in der Tat im Gedanken, dass es für die menschliche Existenz
(gleich ob alltägliche oder wissenschaftliche, politische oder religiöse
etc.) charakteristisch ist, dass sie in ihrer immerwährenden Gerichtet-
heit auf die konkreten Sachen und Probleme immer dasjenige ver-
dunkelt und vergisst, wo sie sich eigentlich aufhält. In Sein und Zeit
wird dieser Raum des Aufenthaltes als die menschliche Existenz über-
haupt bestimmt. Das heißt: Während wir in unserem Leben besorgt
um alles Mögliche herumrennen, haben wir keine Ahnung davon,
wie das menschlichen Leben im Allgemeinen ist. Die Aufgabe von
Sein und Zeit ist, dieses Sein des Daseins, in dem wir sind, wieder
anzuzeigen. Aber nicht nur das: Wie schon darauf hingewiesen, ist
sowohl Heideggers frühe Philosophie und Sein und Zeit als auch
seine späteren seinsgeschichtlichen Ansätze vom Gedanken einer
Selbstbegründung der Erkenntnis – und damit letztendlich der Phi-

326 Heidegger denkt den Raum nicht durch die Vorstellung des Raumes, sondern als

»Räumen«: »Wir versuchen auf die Sprache zu hören. Wovon spricht sie im Wort
Raum? Darin spricht das Räumen. Dies meint: roden, die Wildnis freimachen. Das
Räumen erbringt das Freie, das Offene für ein Siedeln und Wohnen des Menschen.«
(KR, 206)

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

losophie – getragen. Die Frage ist also immer auch: Wo bin ich, wenn
ich denke? Wir fragen nicht also nicht nur, wo wir sind, wenn wir
leben, sondern auch wo wir sind, wenn wir die Frage nach diesem
Leben stellen. Die Antwort auf diese Frage lautet in Sein und Zeit:
in der Existenz. Wenn ich denke, bin ich im Leben, und das Leben ist
Sein-zum-Tode, und es ist in der Zeitlichkeit des Daseins begründet.
Die Antwort in den Beiträgen ist wesentlich anders: Wenn ich denke,
bin ich im Wahrheitsgeschehnis, und dieses Wahrheitsgeschehnis ist
nicht meine, von mir, aus meinem Leben stammende Möglichkeit,
sondern etwas, was mit mir passiert und was mein Leben bestimmen
kann. Im seinsgeschichtlichen Denken Heideggers ist die Wahrheit
nicht mehr die Möglichkeit der menschlichen Existenz, sondern das,
was mit der menschlichen Existenz geschieht, insofern sie überhaupt
menschlich ist. Die menschliche Existenz wird vom Aufleuchten des
Seienden im Aufkommen der Welt getragen. Und dieses Geschehnis
ist das, was verdunkelt wird.
Wir sind mit den Sachen beschäftigt und sehen nicht ihr Auf-
leuchten. Der Grund dafür ist in Heideggers Philosophie zweifach:
einmal die Seinsvergessenheit vonseiten des Menschen (thematisiert
in Sein und Zeit), ein andernmal die Seinsverlassenheit (seit den Bei-
trägen), wobei – wie wir gesehen haben – die erste in der anderen
begründet ist: Wir vergessen, weil sich das Wahrheitsgeschehnis ent-
zieht, und es entzieht sich, weil es an sich selbst keine Beständigkeit
aufbauen kann, weil es anders als das Seiende ist. Der Raum ist an-
ders als das, was in ihm ist. Deswegen ist es unendlich schwierig, den
Raum zu denken. Für das Denken eines Objekts genügen zwei Au-
gen, die auf es gerichtet sind, für das Denken des Raumes bräuchte
man noch zwei Augen hinten, oder die Möglichkeit einer Umdre-
hung, was für das Denken eine Unmöglichkeit ist – nur der Körper
kann sich umdrehen. Man sollte also den Raum mit dem Körper den-
ken, was natürlich absurd klingt, da wir sagen, dass man den Raum
nicht durch das Körperliche, sondern mit dem Körper denken muss.
Vielleicht ist es auch etwas Mögliches, aber wir werden dann, wenn es
möglich geworden wäre, nicht dabei sein und werden nie erfahren,
wie das war – das wird für uns immer eine uneinholbare Vergangen-
heit bleiben. Wie dem auch sei, in Heideggers Philosophie wird ein
Nicht-Seiendes gedacht, das vergessen wird, weil es vergessen wer-
den muss, weil es nur auf eine merkwürdige, ihm eigentümliche Art
und Weise da ist. Dieses Nicht-Seiende – das Sein, das Ereignis – kann
(und für Heidegger auch muss, da der Mensch ohne das Sein, ohne

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

das Offene, ohne den Rückgang auf seinen eigenen Ursprung seine
Menschlichkeit verliert) ins Gedächtnis gerufen werden, allerdings ist
dieses Ins-Gedächtnis-Rufen ein Zusammenspiel von willentlichen
und schicksalhaften Faktoren. Es geht hier darum, dass – einerseits –
das Wahrheitsgeschehnis, das im Verborgenen der menschlichen Ge-
schichte herrscht, zu jedem Moment – und das heißt auch: von sich
aus, unberechenbar – auftauchen kann. Andererseits kann es an die
Oberfläche nur durch einen Menschen kommen, der es will. Er kann
aber seinen ereignishaften Anfang nur deswegen wollen, weil er von
diesem Anfang selbst angefangen worden ist. Alles ist schon im Vo-
raus geschenkt worden. Es verhält sich ein wenig anders, wenn es um
die Notwendigkeit des anderen Anfangs geht. Wir haben versucht zu
zeigen, dass der andere Anfang notwendig nicht im geschichtlichen,
sondern im ereignislogischen Sinne ist. Das heißt: Der andere Anfang
wird nicht zu diesem oder zu jenem Zeit kommen, aber, wenn es dazu
kommen sollte, dass der erste völlig verschwunden ist, dann wird der
andere sich unbedingt aufzwingen. Veranschaulicht: In der un-
menschlichsten Zeit, in der Zeit, wo die Menschen verdinglicht wer-
den, wo sie wie Maschinen behandelt werden, wo sie wie Maschinen
funktionieren müssen, wo die Organe ihrer Körper als Ersatzteile an-
gesehen werden, wo sie massenweise vernichtet und im Labor er-
zeugt werden, wird die Frage nach dem Menschlichen unbedingt auf-
tauchen und etwas verändern. Oder anders: Wo die Kunst das
Hässliche (und auch die Wirklichkeit ist im Grunde genommen
immer hässlich, d. h. nicht perfekt) zeigen will, kommt notwendiger-
weise die Frage nach dem Schönen. Der völlige Untergang ist der
Anklang des anderen Anfangs. Das ist eine der wichtigsten Erkennt-
nisse in Heideggers Philosophie seit den Beiträgen.
In Bezug auf dasjenige, in dem wir sind und das sich im Ver-
bogenen aufhält, unterscheiden wir also – Heidegger folgend – zwei
Arten und Weisen, wie der Anfang, der immer auch Entzug ist, sich
merkbar macht. Er taucht einerseits notwendigerweise dort auf, wo
das, was er angefangen hat, faktisch verloren gegangen ist; und er
kann andererseits zufälligerweise an jedem beliebigen Ort und zu
jeder Zeit der Geschichte auftauchen. So ist zum Beispiel Dichter
Hölderlin aus dem 18. Jahrhundert für Heidegger ein Ort, wo der
Anfang gewest hat noch lange vor einem zukünftigen anderem An-
fang, der mehr oder weniger eine ganze Gemeinschaft einbeziehen
würde – genauso wie der erste Anfang die ganze griechische Gemein-
schaft und Kultur umfasst hat. Und die Behauptung solcher Orte und

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

die Suche nach solchen Orten des Ereignisses ist ein wesentliches
Motiv des Heidegger’schen Ereignisdenkens. Es geht also nicht nur
um die Seinsweise des Ereignisses als Wahrheitsgeschehnis und die
Logik seiner Geschichte, die die Geschichte eines Untergangs ist, son-
dern auch um die Orte einer zufälligen und unverhofften Begegnung
mit dem Ereignis. Es geht also – wie schon vorher gesagt – nicht nur
um die Wahrheit im Allgemeinen, die überall west, sondern auch um
ihre Manifestation an konkreten Orten. Neben dem Denken, insofern
es anfänglich denkt, sieht Heidegger insbesondere in der Sprache,
insofern sie dichterisch ist, und in der Kunst, insofern sie das Seiende
zum Aufleuchten bringt, solche Orte der Begegnung mit dem Sein.
Es geht um Orte, um die herum der Raum des Wahrheitsgescheh-
nisses noch einmal räumt und den Menschen in sich wieder einlässt.
Die Sprache als Sprache kann also dem Ereignis zugehörig wer-
den, allerdings nicht immer. Die Sprache kann das Ereignis nur aus-
sagen, wenn sie nicht mehr als ein Zeichen funktioniert. Dabei geht es
nicht um eine andersartige Sprache, die sich gegen die Sprache als
Zeichen, durch das etwas vorgestellt und dargestellt wird, absetzt.
Die Sprache wird zur Sprache des Ereignisses, wenn sie anders als
die zeichenhafte verstanden wird, obwohl es nicht ausgeschlossen ist,
dass sie dann auch äußerlich anders wirken würde, nämlich wie – im
Falle Heideggers – eine dichterische. 327 Sie darf nicht als das »vom
Menschen betätigte Ausdrücken« (Sp, 12), dessen Zweck im »Vorstel-
len und Darstellen des Wirklichen und Unwirklichen« (ebd.) besteht,
verstanden werden. Stattdessen muss Folgendes gedacht werden:
»Die Sprache spricht.« (Sp, 16)
Was heißt es, dass die Sprache spricht? Die Sprache spricht für Hei-
degger in dem Sinne, dass sie sagt – sie ist »Sage«. Die Sage wird aber

327
Das Geheimnis einer Sprache des Ereignisses liegt also nicht darin, dass sie anders
als die gängige vorstellende Sprache aussieht und wirkt (was eigentlich nicht möglich
ist), sondern dass die Sprache überhaupt anders verstanden wird, nämlich – wie wir es
noch später sehen werden – als zum Ereignis zugehörig, auf es hörend: »Mit der
gewöhnlichen Sprache, die heute immer weitgreifender vernutzt und zerredet wird,
läßt sich die Wahrheit des Seyns nicht sagen. Kann diese überhaupt unmittelbar ge-
sagt werden, wenn alle Sprache doch Sprache des Seienden ist? Oder kann eine neue
Sprache für das Seyn erfunden werden? Nein. Und selbst wenn dies gelänge und gar
ohne künstliche Wortbildung, wäre diese Sprache keine sagende. Alles Sagen muß das
Hörenkönnen mitentspringen lassen. Beide müssen des selben Ursprungs sein. So gilt
nur das Eine: die edelste gewachsene Sprache in ihrer Einfachheit und Wesensgewalt,
die Sprache des Seienden als Sprache des Seyns sagen.« (BPh, 78)

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

als die »Zeige« verstanden und die Zeige wird ihrerseits als »Sich-
zeigenlassen« ausgelegt:
»Das Wesende der Sprache ist die Sage als die Zeige.« (Sp, 242)
»Im Blick auf das Gefüge der Sage dürfen wir jedoch das Zeigen weder aus-
schließlich noch maßgebend dem menschlichen Tun zuschreiben. Das Sich-
zeigen kennzeichnet als Erscheinen das An- und Ab-wesen des Anwesen-
den jeglicher Art und Stufe. Selbst dort, wo das Zeigen durch unser Sagen
vollbracht wird, geht diesem Zeigen als Hinweisen ein Sichzeigenlassen
vorauf.« (Sp, 242 f)
Das Anwesende ist das Sichzeigende. Es ist aber nicht der Mensch, der
auf das Anwesende zeigt und so es erscheinen lässt, sondern es ist die
Sprache, die das Sichzeigende sich zeigen lässt. Das Sichzeigen wird in
der Sprache vollzogen. Nun ist es offensichtlich, dass die Sprache
dasselbe vollzieht, was das Ereignis kennzeichnet. Das Ereignis ist
das Aufkommen des Seienden. Und dasselbe geschieht auch in der
Sprache. In der Tat: Wenn im Sprechen der Sprache etwas erscheint,
sich sein Wesen zeigt, dann kommt es durch die Sprache zu seinem
»Eigenen«. Dieses »Eignen« ist aber genau das, was man unter dem
Ereignis versteht:
»Das Regende im Zeigen der Sage ist das Eignen. / Es erbringt das An- und
Abwesende in sein jeweilig Eigenes, aus dem dieses sich an ihm selbst zeigt
und nach seiner Art verweilt.« (Sp, 246 f)
»Das erbringende Eignen, das die Sage als die Zeige in ihrem Zeigen regt,
heiße das Ereignen. Es er-gibt das Freie der Lichtung, in die Anwesendes
anwähren, aus der Abwesendes entgehen und im Entzug sein Währen be-
halten kann.« (Sp, 247)
In der Sprache ereignet sich also das Ereignis. Die Sprache spricht
nicht über das Ereignis, sondern ist Ereignis. Sie lässt das Anwesende
anwesend sein – sie »heißt kommen« (Sp, 26), »versammelt« (Sp,
203), »be-dingt« (Sp, 220) das Ereignete. »Die Sprache ist das Haus
des Seins.« (HB, 313) Diese bekannte Aussage Heideggers soll genau
in diesem Kontext interpretiert werden, nämlich dass die Sprache das
Ereignis ist:
»Die Sprache wurde das ›Haus des Seins‹ genannt. Sie ist die Hut des An-
wesens, insofern dessen Scheinen dem ereignenden Zeigen der Sage anver-
traut bleibt. Haus des Seins ist die Sprache, weil sie als die Sage die Weise
des Ereignisses ist.« (Sp, 255)

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

Die Sprache und das Ereignis ist ein und dasselbe. So ist die Sprache
ein Ort der Wiederholung des Ereignisses.
Dies bedeutet nicht nur, dass die Sprache Ereignis ist, sondern
auch gleich, dass das Ereignis grundsätzlich »sagend« ist. Die Sprache
ist Ereignis des Seins des Seienden und das Ereignis ist die Sprache:
»Die im Ereignis beruhende Sage ist als das Zeigen die eigenste Weise des
Ereignens. Das Ereignis ist sagend.« (Sp, 251) 328
Die Sage versteht Heidegger allerdings nicht als die Verlautbarung,
sondern als die Stille. Die Sprache als das Sichzeigenlassen und Eig-
nen ist still. Das Ereignis ereignet sich grundsätzlich still. Möglicher-
weise ist es deswegen so, weil es nicht etwas ansagt – es informiert
nicht über sich selbst, über sein Wesen (es hat kein Wesen), es wirbt
nicht für sich (nur das Seiende wirbt für sich, wenn es das Ereignis
überschattet), sondern geschieht nur. Es ereignet sich still, weil es
nichts ist, weil es einfach ist. 329 Da es aber das Seiende als seiend und
so-seiend erscheinen lässt, weil etwas geschieht, bringt es mit sich die
Möglichkeit der Verlautbarung. 330 Mehr noch: Es bringt nicht nur die
Möglichkeit des Aussprechens, sondern es ist auch das Aussprechen,
es »braucht« es, es gehört zu seiner Wesung:
»Die Sage braucht das Verlauten im Wort. 331 Der Mensch aber vermag nur
zu sprechen, insofern er, der Sage gehörend, auf sie hört, um nachsagend
ein Wort sagen zu können.« (Sp, 254)

328 Siehe auch: »Die Sage ist er-eignishaft. Worin liegt: das Ereignis ist sagenhaft. […]

Die Sage »des« Anfangs ist Anfängnis als Sagen. Das Sagen ist Er-eignen in die We-
sung der Wahrheit als entbergende Verbergung. Dieses Er-eignen enthält die Wesens-
fülle dessen, was das Er-eignis zu denken fordert.« (E, 297)
329
»Die verborgene erstanfängliche Sprach-losigkeit ereignet sich in der Erfahrung
dessen, daß das Seyn ist.« (E, 68) Dass das Sein ist, ist abgründig und einfach, ohne
Wesen, ohne Schrei des Seienden.
330 Deswegen ist die Sprache nicht einfach nur Stille als Seinlassen, sondern, indem

sie das Seiende sein lässt, ist sie auch dessen Sagen. Wird etwas seiend, wird es als
etwas seiend und in diesem Sinne fängt es an zu sprechen. Die Sprache ist dement-
sprechend »das Geläut der Stille« (Sp, 27). Es geht um die »Stimme des Seyns« (E,
172) oder – umgedreht – um die »lautlose Stimme des Wortes« (E, 170). Das Ereignis
sagt nichts und doch sagt es etwas. Das Ereignis ist sagend, aber zuerst nichts sagend,
obwohl die Verlautbarung schon in der Sage anwesend ist.
331 Siehe auch: »Der Weg zur Sprache gehört zu der aus dem Ereignis bestimmten

Sagen.« (Sp, 249)

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Man kann also das Ereignis nicht verschweigen, es zwingt gerade


dazu, es auszulegen. 332 Und diese Auslegung – wie wir aus dem Zitat
entnehmen können – ist nicht vor allem das Werk des Menschen, sie
entstammt nicht einer willkürlichen Interpretation 333, sondern dem
»Hören« und »Nachsagen« des Ereignisses. 334
In der Sprache als das Sichzeigenlassen ist das stille Ereignis be-
heimatet. Und in der Sprache als das Sichzeigenlassen des Seienden
spricht das Wesen des Seienden aus, das die Verlautbarung ist. Wenn
die Sprache so verstanden wird, kann sie zum Ort des Ereignisses
werden.
Auch die Kunst, indem sie ein Seiendes aufkommen lässt, wie-
derholt das Wahrheitsgeschehnis. So schrieb Heidegger schon 1935/
36 im Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerks, dass »die Kunst das
Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit« ist (UK, 21), dass im Kunst-
werk die Wahrheit »geschieht« (UK, 23) und dass das Kunstwerk »das

332 Dies gehört zur Logik des Ereignisses, dass es durch sich seine Artikulation for-

dert. Es ist gerade nicht das, »worüber man nicht reden kann«. Es will gesagt werden.
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz formuliert diesen Sachverhalt, indem sie den bekann-
ten Satz aus Wittgensteins Tractatus: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber
muss man schweigen,« umwendet: »Wovon man nicht schweigen kann, davon muss
man reden.« (Gerl-Falkovitz, 7) Heideggers Begründung dafür wäre also, dass das
Ereignis gesagt werden muss, weil es das Sagen (diesmal im Sinne der Verlautbarung)
ist. Die Auslegung ist nicht die Initiative des Menschen.
333 Doch man darf sich die Situation auch nicht so vorstellen, als ob das Ereignis dem

Menschen diktieren würde, was er sagen muss. Eine solche Vorstellung würde das
Ereignis vergegenständlichen und die Sprache in eine vorstellende Sprache verwan-
deln. Das Ereignis sagt nicht, was gesagt werden soll, weil es hier nichts gibt, was
gesagt werden soll. Es fordert nur zur Wiederholung seines Ereignens, die sehr unter-
schiedlich ausfallen kann. Kurz: »Jede Sprache ist geschichtlich […].« (Sp, 253) Die
Auslegung ist immer anders. Und sie kann auch das Ereignis sogar völlig verlassen –
dann sprechen wir von der Seinsvergessenheit. Doch, sogar diese Auslegung ist vom
Ereignis inspiriert worden und in diesem Sinne ist sie auch eine Auslegung des Ereig-
nisses.
334 Dass der Mensch zuerst hörend ist, ist eine fundamentale These in Heideggers

Philosophie. Sie drückt selbstverständlich auch die Kritik gegen das subjektzentrierte
Denken aus. Der Mensch kann nur deswegen sprechen und das sprechen, was er
spricht, weil die Sprache zuerst sagt. Deswegen ist die Sprache durch das Hören kon-
stituiert: »Das Sprechen ist als Sagen von sich aus ein Hören. Es ist das Hören auf die
Sprache, die wir sprechen. So ist denn das Sprechen nicht zugleich, sondern zuvor ein
Hören. […] Wir sprechen nicht nur die Sprache, wir sprechen aus ihr.« (Sp, 243)
Deswegen ist jedes Sprechen schon Antwort auf das ursprüngliche Sagen: »Das ent-
gegnende Sagen der Sterblichen ist das Antworten. Jedes gesprochene Wort ist schon
Antwort: Gegensage, entgegenkommendes, hörendes Sagen.« (Sp, 249; siehe auch:
E, 156, 262)

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

Offene der Welt offen hält« (UK, 31). Im Vortrag Die Kunst und der
Raum 1969 heißt es:
»[…] die Kunst sei das Ins-Werk-Bringen der Wahrheit und Wahrheit be-
deute die Unverborgenheit des Seins […].« (KR, 206) 335
Obwohl die dichterische Sprache und die Kunst als bevorzugte Orte
des Ereignisses angesehen werden können, wäre es vielleicht nicht
falsch anzunehmen, dass das Ereignis doch ausnahmslos überall ein-
schlagen kann – in jedem Ding, zu jeder Zeit. 336

12. Die Fülle und das Sagen des Ereignisses

Wir haben es mit einem Nicht-Seienden zu tun, das im Grunde ge-


nommen undenkbar ist – undenkbar, weil es nicht als Gegenstand des
Denkens gesetzt werden kann, weil das Denken in ihm ist. Es entzieht
sich anfänglich, es wiederholt sich zufällig, aber in diesem Momenten
wird es deswegen nicht mehr denkbar als sonst – es geht nicht darum,
dass es undenkbar bleibt, weil es abwesend ist, sondern darum, dass es
sogar dann, wenn es voll und gar geschieht, sich nicht einfangen lässt.
Und trotzdem versuchen wir das Ereignis zu sagen, zu beschreiben,
was sich in ihm ereignet. Weil es immer das Ereignis von etwas ist,
weil es sagend ist. Aber an sich einfach 337 und arm zeigt das Ereignis
für eine mögliche Auslegung seine »Fülle« 338, »Unerschöpflich-
keit« 339 und »Reichtum« 340, die keine Beschreibung einholen kann.
»Seine [des Seins – L. P.] Nichtigkeit ist seine Armut und diese Armut ist
der Reichtum des Einfachen des Anfangs.« (A, 175) 341
»Das ist die Wesung des Seyns selbst, wir nennen sie das Ereignis. Unaus-
meßbar ist der Reichtum des kehrigen Bezugs des Seyns zu dem ihm ereig-
neten Dasein, unerrechenbar die Fülle der Ereignung. Und nur ein Geringes

335
Siehe auch: »Die Plastik: die Verkörperung der Wahrheit des Seins in ihrem Ort
stiftenden Werk.« (KR, 210)
336 Dazu siehe zum Beispiel den Aufsatz Das Ding (1950), wo ein Krug als Ort des

Ereignisses behandelt wird.


337 Die Einfachheit des Ereignisses: BPh, 16, 18, 20, 59, 137, 151, 197, 241, 401; B, 97;

A, 17, 18, 114; E, 79, 149, 163, 173, 177, 200, 213, 235.
338 Die Fülle des Ereignisses: B, 97, 99; E, 59, 241, 297, 308, 328.

339
Die Unerschöpflichkeit des Ereignisses: BPh, 278, 382.
340 Der Reichtum des Ereignisses: B, 254; E, 50, 58, 68, 170, 182, 261.

341
Siehe auch: GdS, 110.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

kann hier in diesem anfänglichen Denken »vom Ereignis« gesagt werden.«


(BPh, 7)
Diese Eigentümlichkeit des Ereignisses hängt mit seiner Seinsweise
zusammen – sie bestätigt seine Nicht-Seiendhaftigkeit. Für die Aus-
legung ist das Ereignis ein Reichtum, durch den es seinen Abgrund-
Charakter bestätigt – das Ereignis zeigt sich als das, was man durch
das Wesen nicht einholen kann. 342 Man kann tausend Seiten über das
ereignishafte Geschehnis schreiben und doch nichts davon sagen, was
geschehen ist. Nichts davon ist geschehen. 343 Und durch diese Erfah-
rung bestätigt das Ereignis seine Andersheit, seine Abgründigkeit:
»Hieraus können wir […] entnehmen, dass das Seyn gerade niemals end-
gültig und deshalb auch nie nur »vorläufig« sagbar ist, wie jene Auslegung
(die das Seyn zum Allgemeinsten und Leersten macht) vortäuschen möch-
te. Dass das Wesen des Seyns nie endgültig sagbar ist, bedeutet keinen
Mangel, im Gegenteil: das nichtendgültige Wissen hält den Abgrund und
damit das Wesen des Seyns gerade fest.« (BPh, 460)
Das Ereignis ist nie »endgültig sagbar«, es wird immer »zu wenig« 344
gesagt – so muss die Auslegung des Ereignisses in die Länge gezogen
werden. Sie endet nie. Wir werden später bei Jean-Luc Marion sehen,
dass auch er bei der Auslegung des Ereignishaften (und das ist für ihn
das »gesättigte Phänomen«) eine »endlose Hermeneutik« vermutet,
die genau aufgrund der ereignishaften und nicht-seiendhaften Seins-
weise dieses Phänomens endlos ist.
Es ist auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass das Ereignis nicht
irgendeine beliebige Fülle darstellt – jedes Ereignis weist eine inhalt-
liche Struktur auf, die Heidegger »Gefüge« nennt. Das Ereignis ist

342 Und weil sich im Ereignis nichts Gegenständliches ereignet, sind die Wörter und

Sätze »mannigfach« (E, 302), »vielsinnig« (E, 315), »mehrdeutig«: »Das Wort des
anfänglichen Denkens hat die Mehrdeutigkeit des Anfangs […]. […] Ein seyns-
geschichtliches Wort, das stets Anfängliches und das Ereignis nennt, kann seinem
Wesens nach nicht und nie eine einzige Bedeutung haben.« (E, 294; siehe auch: B, 23)
Wenn es nichts gibt, was man mit einem Begriff bezeichnen kann, wie kann ein Wort
etwas Bestimmtes bezeichnen? Es muss vielsinnig bleiben.
343 »Weil der Anfang seinem Wesen nach nie sich ergibt und ausliefert in die Aussag-

barkeit, sondern entgänglich in der Verbergung sich fängt, deshalb ist (ob dieses Sich-
nichtergebens des Anfangs) das Denken ergebnislos.« (E, 318)
344 »[…] weil alle Auslegung zu wenig erreicht von dem, was im anfänglichen Wissen

anfänglich sich entborgen. / Die Auslegung ist in der Tat ungemäß, aber nicht weil sie
zu viel, sondern weil sie zu wenig, immer noch zu Unanfängliches dem Anfang zu
sagt.« (E, 65)

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

zwar unerschöpflich, doch es gibt Elemente, die ein Ereignis inhalt-


lich bestimmbar machen, die in der Auslegung immer wieder auf-
tauchen. 345 Mehr noch: Das Ereignis ist die Zusammenfügung dieser
Elemente, es ist ein »Beziehen«, das das im Ereignis Ereignete ver-
sammelt, zueinander bezieht und zu ihrem Eigenen bringt:
»Das Seyn ist das Er-eignis. Dieses Wort nennt das Seyn denkerisch, grün-
det seine Wesung in ihr eigenes Gefüge, das sich in der Mannigfaltigkeit der
Ereignisse anzeigen läßt. […] So reich gefügt und bildlos das Seyn west, es
ruht doch in ihm selbst und seiner Einfachheit. Wohl möchte der Charakter
des Zwischen […] dazu verleiten, das Seyn als bloßen Bezug zu nehmen
und als Folge und Ergebnis der Beziehung der Bezogenen. Aber das Er-eig-
nis ist ja doch, wenn schon die Kennzeichnung noch möglich ist, dieses
Beziehen, das die Bezogenen erst zu ihnen selbst bringt […].« (BPh,
470 f) 346
Wir müssen also hier in dieser Logik des Ereignisses bei Heidegger
mehrere Momente festhalten. Erstens: Wir haben mit einem unein-
holbaren Anfang zu tun, von dem wir im Grunde genommen nichts
sagen können – alles über ihn Gesagte muss gleich auch verneint
werden. 347 Zweitens: Jeder Anfang ist ein Anfang von etwas, das –
obwohl es von einer vorstellenden Sprache nicht erreicht werden
kann – doch etwas insofern Greifbares ist, dass man von ihm spre-
chen kann (und muss). Doch – drittens – führt jeder Versuch einer

345 Siehe dazu auch: »Niemals läßt sich das herrschaftliche Wissen dieses Denkens in

einem Satz sagen. Aber ebenso wenig kann das zu Wissende einem unbestimmten
flackernden Vorstellen überlassen bleiben.« (BPh, 64)
346 Dieses Beziehen nennt Heidegger auch »Zueignung« und »Übereignung« (BPh,

26, 280, 311, 317, 357; B, 83, 307). In Zeit und Sein heißt sie »Sach-Verhalt« (ZS, 24).
Da das Ereignis Ort ist, kann Heidegger in Freiburger Vorträge sagen: »Wesen ist das
Währen als gewähren und dieses das Ereignen. Das Wesende der Sprache als des
Sagens ist der Be-reich. Dieses Wort wird hier als Singularetantum beansprucht. Es
nennt etwas Einziges, Jenes, worin alle Dinge und Wesen einander zu-gereicht, über-
reicht werden und so einander erreichen und einander zum Heil und Unheil ge-
reichen, einander ausreichen und genügen.« (FV, 168) Das Ereignis ist also Bereich
und: »Der Bereich ist die Ortschaft, in der Denken und Sein zusammengehören.« (FV,
168) Weiter heißt es: »Die Ortschaft ist selber das Ver-hältnis beider [des Denkens
und des Seins – L. P.].« (FV, 168)
347 In der Tat schreibt Heidegger: »Es mag auffallen, daß überall im seynsgeschicht-

lichen Denken das Verneinen spricht. Oft lautet die Rede, das ist nicht … ; diese Ver-
neinung hat ihre wesentliche Notwendigkeit im Austrag, der dem Abschied folgt.«
(E, 257) Wird etwas behauptet, was kein Wesen, sondern Abschied vom Wesen ist,
muss ständig gesagt werden, dass es etwas nicht ist. Die Verneinung ist ein wesentli-
cher Bestandteil der Sprache des Ereignisses.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

adäquaten Auslegung dieser Spur des Anfanges ins Vieldeutige und


Unendliche. Beim Festhalten dieser Momente müssen wir – viertens
– unterscheiden: zwischen der Sprache, die an sich das Ereignis wie-
derholt, und der Sprache, insofern sie das auslegt, was sich ereignet.
Ging es vorher um die Möglichkeit der Wiederholung des Ereig-
nisses an dem Ort der Sprache, so geht es jetzt um die Sprache, die die
Sprache als Ereignis beschreibt. Und es ist schon von Anfang an klar,
dass diese Sprache, die das Ereignis auslegt, keine vorstellende ist – sie
ist also paradox, da sie einerseits sagend und nicht verneinend ist und
andererseits nichts sagt, weil sie nichts einholt.
Noch einmal: Die Sprache als Sprache ist immer das Wahrheits-
geschehnis. Da das Wahrheitsgeschehnis ein Seiendes sein lässt,
spricht in der Sprache das Aufleuchten eines Seienden, das von die-
sem Moment an sein Wesen behaupten kann. Die Sprache dieses We-
sens ist aber anders – sie spricht von einem Seienden. Mehr noch: Sie
ist in der Lage und sie hat den Willen, das Ereignis selbst zu thema-
tisieren und sein Wesen auszulegen, allerdings – wie wir gesehen
haben – erfolglos. Es lässt sich fragen, ob wir es wirklich mit einer
Verdoppelung von Sprache zu tun haben? Gibt es eigentlich zwei
Sprachen? Nun, wir haben gesehen, dass es für Heidegger nur eine
Sprache gibt, die aber auf zweifache Weise verstanden werden kann.
Sie kann entweder als Zeichen und damit als vorstellend verstanden
werden, oder sie kann als Ereignis angesehen werden. Es ist immer
eine und dieselbe Sprache, die ein Seiendes sagt und das Sagen selbst
sagt (wiederholt), indem sie das Seiende sagt. Es gibt keine Sprache
als reines Sagen, und es gibt keine Sprache, die nicht auch das Sagen
selbst wiederholen würde. Genauso wie das Ereignis ist die Sprache
zweideutig. Doch dies bedeutet noch nicht, dass jeder sprachliche
Ausdruck schon deswegen das Ereignis sagen würde, weil er sprach-
lich ist. Wenn es um die Auslegung der Fülle des Ereignishaften geht,
könnte man fragen, ob nicht ein Sagen möglich wäre, das in seinem
Sagen des Seienden nicht gleich das Sagen als solches verdunkeln
würde (so wie das normalerweise der Fall ist), die also durch das Ge-
sagte hindurch noch zum Sagen selbst führen könnte? Wir vermuten,
dass Heidegger eine solche Sprache für möglich hält, und sogar in
zweifacher Ausführung: als die denkerische und als die dichterische
Sprache. 348

348 Die Unterscheidung und Zusammenführung von Denken und Dichten in Heideg-

gers Philosophie fordert eine gesonderte Untersuchung. Wir verbleiben hier nur beim

234

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

Worin unterscheidet sich eine ereignishafte Sprache von einer


vorstellenden? Darin, dass sie das Wahrheitsgeschehnis nicht unbe-
wusst in sich trägt, sondern sich als seine Spur, seine Verlängerung,
die ihm wesentlich zugehört, versteht und so das Ereignis bewusst
wiederholt. Sie versucht das Ereignis nicht zu begreifen, sondern
nur zu wiederholen, zu verlängern, eine neue Dimension seiner Fülle
zu eröffnen. 349 Eine ereignishafte Sprache steht dem Ereignis nicht
gegenüber, sondern in ihm, ist ihm zugehörig:
»Hier wird nicht beschrieben und nicht erklärt, nicht verkündet und nicht
gelehrt; hier ist das Sagen nicht im Gegenüber zu dem zu Sagenden, son-
dern ist dieses Selbst als die Wesung des Seyns. Dieses Sagen sammelt das
Seyn auf einen ersten Anklang seines Wesens und erklingt doch nur selbst
aus diesem Wesen.« (BPh, 4) 350
Dementsprechend ist eine solche Sprache nur ausgehend vom Ereig-
nis verständlich:
»Dieses Sagen verstehen heißt aber, den Entwurf und Einsprung des Wis-
sens in das Ereignis vollziehen.« (BPh, 80)
Wenn also der Betroffene das Ereignis auslegt, will er nichts sagen,
will er nicht eine Aussage über das Sein und So-sein von etwas tref-
fen. Der Sagende versucht das Ereignis selbst zu sagen. So ist sein

Hinweis, dass die Sprache des Denkens »bildlos« ist: »Das Sagen der Denker redet
nicht in ›Bildern‹ und ›Zeichen‹, versucht sich nicht an mittelbaren Umschreibungen,
die alle gleich untriftig sein müßten.« (B, 299; siehe auch: BPh, 470; B, 22, 49, 51; ÜM,
135; A, 92, 161; E, 43, 283, 286, 309, 311, 327). Während »[l]eichter als andere ver-
hüllt der Dichter die Wahrheit in das Bild und schenkt sie so dem Blick zur Bewah-
rung« (BPh, 19).
349 Man kann das Ereignis gar nicht begreifen: Jede konkrete Auslegung wird erst

durch das Ereignis möglich, und als solche kann sie ihren Ursprung nicht einholen.
Die Auslegung kann nicht wissen, was sich eigentlich ereignet, weil sie Teil des Ereig-
nisses selbst ist. Das, was sie sagt, ist das, was sich ereignet, weil sie zum Ereignis
gehört, aber sie holt das Ereignis damit nicht ein, sondern sagt es nur vermittelt (ver-
mittelt durch sich selbst), also nicht »unmittelbar«: »Wir können das Seyn (Ereignis)
nie unmittelbar sagen, deshalb auch nicht mittelbar im Sinne der gesteigerten
»Logik« der Dialektik. Jede Sage spricht schon aus der Wahrheit des Seyns und kann
sich nie unmittelbar bis zum Seyn selbst überspringen.« (BPh, 79) Man kann das
Ereignis wiederholen, aber nicht unmittelbar bzw. mittelbar sagen.
350 Siehe auch: »Die Philosophie handelt nicht ›über‹ etwas, weder ›über‹ das Seiende

im Ganzen noch ›über‹ das Seyn. Sie ist die bildlose Sage ›des‹ Seyns selbst, welche
Sage das Seyn nicht aussagt, als welche Sage es vielmehr west. Die Philosophie ist
solche Sage oder sie ist überhaupt nichts.« (B, 64) Bildlich gesprochen: »Die Sprache
ist so die Sprache des Seins, wie die Wolken die Wolken des Himmels sind.« (HB, 364)

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Sagen das Ereignis, es gehört zu ihm, es ist die Weise, wie das Ereignis
sich selbst an diesem Ort ausdrückt.

13. Die Jemeinigkeit und das verborgene Ereignis der


Gemeinschaft

Das Ereignis ist paradox. Das Paradoxe an ihm weist mehrere Mo-
mente auf: Es ist der Anfang und das, was anfängt; es ist äußerst
innerlich und doch räumlich; es ist der Anfang und der Untergang;
es ist der Anfang und die zukünftige Geschichte; es folgt einer Logik
und ist doch stets unvorhersehbar; es ist überall und doch nur an
seinen Orten; es ist unsagbar, fordert aber eine endlose Auslegung.
In diesem letzten Heideggers Ereignisdenken gewidmeten Kapitel
möchten wir auf noch eine paradoxe Situation innerhalb des Ereig-
nisses hinweisen, die sich auch in einer gewissermaßen widersprüch-
lichen Rede vom Ereignis widerspiegelt. Heidegger folgend legen wir
das Ereignis als Austrag, Erfahrung bis zum Schmerz aus. Dies im-
pliziert die Jemeinigkeit. Die Jemeinigkeit charakterisiert die Erfah-
rung des Seins schon in Sein und Zeit 351 und bleibt – wenn auch auf
veränderte Weise – auch für die Erfahrung des Ereignisses gültig:
»Da-sein ist je meines; was will das sagen? Daß die Inständigkeit im Da –
jene Entäußerung zu aller Äußerlichkeit des Innern des Subjekts und des
›Ich‹ – rein und nur im Selbst zu übernehmen und zu vollziehen ist; […]
Da-sein ist das je meine; die Gründung und Wahrung des Da ist mir selbst
übereignet. Selbst aber heißt: Entschlossenheit in die Lichtung des Seyns.«
(B, 329 f)
Dies bedeutet ganz einfach: Ich stehe in der Lichtung; das Ereignis ist
mein Ereignis, ich trage es aus, ich falle in den Abgrund des Seins. Das
Ereignis braucht mich, um wesen zu können, weil es eine Wesung mit
mir ist. Ich bin sein Ort des Einschlags. Es gibt kein Ereignis, wenn
niemand es austrägt. So könnte man in der Tat solche Textstellen
interpretieren.
Doch wir lesen auch, wie Heidegger – erstens – über das unbe-
dachte, nicht gegründete und unentschiedene Ereignis spricht – im
ersten Anfang ereignet sich das Ereignis, doch es wird als Ereignis

351 Dort heißt es: »Das Sein dieses Seienden [des Daseins – L. P.] ist je meines.« (SZ,
41)

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

nicht erfahren. Und zweitens wird für Heidegger das Ereignis nicht
nur als ein Augenblick des Einfalls verstanden, der als Ereignis erfah-
ren bzw. nicht erfahren wird, sondern auch als seine Geschichte, in
der es sich im Verborgenen ereignet. Wir sprechen also von einem
Ereignis, das überall und doch nirgendwo ist – jenseits aller Jemeinig-
keit. Wir sprechen von der Spur des Ereignisses, in der man zwar lebt,
die aber nicht als Spur angesehen wird und dementsprechend nie zu
einer jemeinigen Explikation kommt. In der Geschichte des Verges-
sens des Ereignisses wird das Ereignis nicht als Ereignis ausgetragen,
es wird aber das In-Sein im Ereignis behauptet – man ist im Ereignis
einmal in dem Sinne, dass das Gegebene des jeweiligen Welthorizon-
tes aus dem Ereignis entsprungen ist, und ein andernmal in dem Sin-
ne, dass man das Ereignis vergessen hat, was seine Verweigerung be-
stätigt.
Diese paradoxe Situation wird noch komplexer, wenn man be-
merkt, dass mit dem Ereignis als Verborgenen der Geschichte die
Rede nicht mehr von »den Seltenen« 352, »den Einzelnen« 353, »den
Einzigen« 354 und »den Ausgezeichneten« (B, 147) 355 ist, die zur »un-
bedingten Einsamkeit« 356 verdammt sind, sondern von allen (einer
Gemeinschaft) im gleichen Maße:
»Weil der geschichtliche Mensch im Unterschied des Seienden und des
Seins inständet, auch wenn er den Unterschied als solchen und in seinem
Wesen nicht erfährt […].« (E, 282)
Das in der Geschichte verborgene Ereignis wird also von allen ohne
Jemeinigkeit ausgetragen. Die Situation spitzt sich zu, wenn man am
Anfang dieses verborgenen Ereignisses einen Augenblick seines Ein-
schlags vermutet, den auch niemand in seiner Person empfangen hat.
Ist das überhaupt möglich? Und wenn ja, was ist das für ein Ereignis,
um das es sich hier handelt? Wird damit nicht höchst spekulativ eine
andersartige Wirklichkeit behauptet, die jenseits der sichtbaren

352 Die Seltenen, die Wenigen: BPh, 11, 28, 96 f, 227, 236, 400; B, 60, 230, 231; E, 54,
99.
353 Die Einzelnen: BPh, 96 f, 414; B, 147, 237, 243, 272, 273, 277.
354 Die Einzigen: BPh, 43; B, 231, 272, 273.
355 »[…] dieses Erstaunen je nur in den Einzelnen und Einzigen der seltenen Denker

seine stimmende Macht entfaltet und niemals ein gewöhnlicher Durchschnitts-


zustand aller werden kann […].« (B, 273)
356 Die Einsamkeit des Denkers des Seins: BPh, 11, 13, 47, 110, 177, 409; B, 55, 56,

100, 139, 243, 247, 361; E, 162.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

menschlichen Welt abläuft und sie bedingt? Ein derartiges Ereignis


wäre nur schwierig mit der Phänomenologie und Metaphysikkritik
zu vereinbaren – mit der Denktradition also, zu der Heidegger gehört.
Doch statt diesen Gedanken gleich zu verwerfen, könnte man durch
ihn zu einem grundsätzlichen Problem einer Ereignisphilosophie
kommen, das teilweise nur im Verborgenen viele Ereignisdenker be-
schäftigt. Die erste annähernde Frage ist, ob wir das, was mit uns
geschieht, darauf reduzieren können, was wir davon, was geschieht,
erfahren? In der Tat nicht. Wir werden später sehen, dass sogar ein-
geschworene Phänomenologen einen Rest im Phänomen sehen, der
dem Betroffenen den Gedanken aufzwingt, dass dieses Phänomen
eine Spur eines uneinholbaren Anfanges ist. Nun, wenn er zu keinem
Bestandteil der sichtbaren Welt werden kann, an welchen Nicht-Ort
der Welt ist er dann? Existiert er nur in der sichtbaren Spur? Er exis-
tiert in der Tat nur in der Sichtbarkeit – hier wird keine zweite Reali-
tät behauptet (man fällt nicht in die Metaphysik zurück), aber ereig-
net er sich ausschließlich als die Spur? Ereignet er sich doch nicht
anders als die Spur, als das Sichtbare, das Seiende? Und wenn es ist
in der Tat eine Differenz vom Ereignis und Seienden gibt, hat dann
nicht Heidegger Recht, wenn er von einem verborgenen und unein-
holbaren Ereignis spricht, das nur manchmal an einem Ort ein-
schlägt, um wieder aus dem Sichtbaren zu verschwinden?
Eine andere Frage betrifft das Verhältnis von Jemeinigkeit und
Gemeinschaftlichkeit hinsichtlich des Ereignisses. Diese Frage eröff-
net ein riesengroßes Forschungsfeld für die Philosophie, und Heideg-
gers Denken trägt zweifellos zur Beantwortung dieser Frage bei. Sei-
ne These ist, dass eine geschichtliche Gemeinschaft in ihrem So-Sein
auf ein anfängliches Ereignis zurückzuführen ist; und dass, während
für die Gemeinschaft im Allgemeinen dieser Anfang verborgen bleibt
und unwissend vollzogen wird, es Orte gibt, wo das Ereignis ein-
schlägt und wo eine neue Geschichte angefangen wird. Diese Orte
sind jemeinig. Das Ereignis als Geschichte ist gemeinschaftlich – es
ist überall. Als Anfang ist er aber jemeinig – an einem konkreten Ort.
Was könnte man daraus schließen? Nicht unbedingt, dass es die ein-
zelnen Persönlichkeiten sind, die die Geschichte lenken, sondern eher,
dass es für eine ereignishafte Erfahrung unmöglich ist, nicht gemein-
schaftlich zu sein – es kann kein jemeiniges Ereignis geschehen, ohne
die Bedeutung auch für die anderen zu gewinnen. Das Ereignis ist
schon ursprünglich etwas nicht nur für einen. Wenn es so ist, wenn
ein einzelnes Subjekt solche gemeinschaftliche und sogar gemein-

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers

schaftsstiftende Erfahrungen in sich austragen kann, sollten solche


Erfahrungen zum Thema der Phänomenologie werden, die grund-
sätzlich jede Erfahrungen schon im Voraus individuiert hat? Man
könnte einwenden, dass es der Phänomenologie – unter großem Ein-
fluss von Hermeneutik – nicht entgangen ist, dass die Erfahrungen
niemals rein individuell sind, sondern gemeinschaftlich konstituiert
und ausgelegt werden. Nun im Falle eines Ereignisses sprechen wir
nicht von einer durch die Sprache, Kultur, Geschichte und andere
Formen der Gemeinschaftlichkeit konstituierte Erfahrung eines Ein-
zelnen, sondern von einer höchst individuierten Erfahrung eines Ein-
zelnen, die die Erfahrungen der Gemeinschaft verändert. Und die
Möglichkeit solcher Erfahrungen stellt eine Herausforderung sowohl
für jede Phänomenologie als auch für jede Philosophie dar, die ihren
Ausgangspunkt in den gemeinschaftlichen Strukturen nimmt. Für
die Phänomenologie stellt sie eine Herausforderung dar, weil sie et-
was an sich hat, was auch alle anderen haben werden – sie ist nie nur
subjektiv. Und für die Gemeinschaftsforschung ist sie eine Erfahrung,
die es im öffentlichen Raum gar nicht gegeben hat – sie ist immer
zuerst jemeinig. Eine Philosophie des Ereignisses versucht, dieses pa-
radoxe Element der menschlichen Welt so zu beschreiben, wie es sich
ereignet – und nicht wie es als Phänomen subjektiv erfahren wird
oder als ein gemeinschaftliches Phänomen existiert. Im Ereignisden-
ken Heideggers ist das Ereignis also etwas, was es nicht gibt, bis es an
einem Ort jemeinig ausgetragen wird, um dann überall zu sein – als
Spur eines uneinholbaren Ankommens.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie
Emmanuel Levinas’

1. Die Philosophie Emmanuel Levinas’ und das Ereignis

Im Vergleich zu Heidegger ist das Wort »Ereignis« (événement) in


der Philosophie Levinas’ kein philosophisch entwickelter Begriff, um
den sich eine Ereignisphilosophie bilden würde. Das Wort »Ereignis«
kommt zwar vor und auch im Zusammenhang mit den wichtigsten
Thesen seiner Philosophie, doch es gelangt nicht zur mehr Wichtig-
keit und inhaltlicher Dichte als im allgemeinen Sprachgebrauch, wo
»événement« – ähnlich wie im Deutschen – ein singuläres, unerwar-
tetes und bedeutsames Vorkommnis oder bloß einen Prozess bedeu-
tet. Nur wenn Levinas sich auf die Philosophie Heideggers bezieht,
verwendet er das Wort »Ereignis« als Begriff und spricht vom »Er-
eignis des Seins« (événement de l’être). Unter dem Ereignis des Seins
versteht Levinas allerdings etwas anderes als Heidegger, auch wenn er
in diesem Zusammenhang eine Interpretation des Heidegger’schen
Denkens vornimmt. Für Levinas ist das Ereignis des Seins – beson-
ders in seinem früheren Werk De l’existence à l’existent – der Vollzug
des Existierens eines Seienden. In Autrement qu’être nennt Levinas
dieses Ereignis des Seins »essence« und zum Beispiel in De la défici-
ence sans souci au sens nouveau (1976, enthalten im Band De Dieu
qui vient à l’idée) »essance« (DI, 78): mit »a«, um »den verbalen Sinn
des Wortes Sein zu bezeichnen« (GE, 79Anm.1/DI, 78Anm.1). Es ist
das »Sich-Vollziehen des Seins« (l’effectuation de l’être) (ebd.). Das
Ereignis des Seins bedeutet für Levinas aber noch deutlich mehr als
nur den Vollzugscharakter des Seins, der es vom Seienden unter-
scheidet. Das Sein eines Seienden ist die Sorge um eigenes Sein,
»Egoismus« (égoïsme):
»Die verbale Form des Wortes ›sein‹, aus der gewiß keine Substantive her-
vorgehen, drückt das Geschehen oder die Tatsache oder das Ereignis des
Seins aus; sie sagt, daß es im Sein darum geht, zu sein, sich zu erhalten […].

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

Daher, im Sein, sofern es Leben bedeutet, ein Zusammenschrumpfen auf


sich selbst, auf ein Für-sich, ein Selbsterhaltungsinstinkt, der schon ums
Überleben kämpft, und, im denkenden Wesen, ein Seinswille, Inter-essiert-
heit, Egoismus.« (ZU, 257 f/EN, 237)
Es ist offensichtlich, dass wir es in Levinas’ Philosophie – anders als
bei Heidegger – mit einer ethischen Interpretation des Seins zu tun
haben. Das Sein des bei sich Bleibenden, mit sich selbst Identischen
(des Selben – le Même) ist grundsätzlich egoistisch: Es interessiert
sich nur für sich selbst und würde sein Sein niemals aufgeben; das
Selbe kennt keinen Anderen (l’Autre, l’Autrui) und würde sich nie-
mals für ihn aufopfern. Weil Levinas mit seinem Denken des Ande-
ren sich von Heideggers egoistischem philosophischen Ansatz abset-
zen will, spricht er in Bezug auf seine eigene Philosophie von einem
»Ereignis der Ethik« (l’événement éthique) (ZU/EN, 8/10, 258/238),
ohne damit dem Wort »Ereignis« eine bestimmte Bedeutung zu ge-
ben. Das ethische Ereignis ist schlicht das Gegenteil des Ereignisses
des Seins.

Es gibt zwei Kontexte, in denen Levinas mit dem Wort »événement«


die Singularität, Unerwartetheit und Bedeutsamkeit eines Vorkomm-
nisses hervorhebt, ohne dieses Wort selbst zu einem philosophischen
Konzept zu erheben. Erstens spricht er – besonders in De l’existence à
l’existent und Le temps et l’autre – vom »Ereignis der Hypostase«
(événement de l’hypostase) (SS, 61/EE, 80). Das Ereignis der Hypo-
stase ist ein besonderer »Augenblick« (instant) (SS, 80/EE, 111), in
dem das Seiende entsteht, indem es sich vom anonymen Geschehen
des Seins löst und sein eigenes Sein zu vollziehen beginnt:
»Wir haben das Erscheinen selbst des Substantivs gesucht. Und um dieses
Erscheinen anzuzeigen, haben wir den Terminus der Hypostase wiederauf-
gegriffen, der in der Geschichte der Philosophie jenes Ereignis bezeichnet,
durch das der in einem Verb ausgedrückte Akt zu einem Seienden wird, das
man mit einem Substantiv bezeichnet. Die Hypostase, das Erscheinen des
Substantivs, ist nicht nur das Erscheinen einer neuen grammatischen Kate-
gorie; sie bedeutet die Aufhebung des anonymen es gibt, das Erscheinen
eines privaten Bereichs, eines Namens. Vor dem Hintergrund des es gibt
taucht ein Seiendes auf. […] Dank der Hypostase verliert das anonyme Sein
seinen Charakter des es gibt. Das Seiende – das, was ist – ist Subjekt des
Verbs sein und übt daher eine Herrschaft über die Fatalität des Seins aus,
das zu seinem Attribut geworden ist. Jemand existiert, der das Sein, von
nun sein Sein, übernimmt.« (SS, 101 f/EE, 140 f)

241

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Das Ereignis der Hypostase wird später – in Totalité et infini – als die
Loslösung des Seienden von der Totalität interpretiert und »Tren-
nung« (séparation) (TU, 145/TI, 75) genannt. In noch späterer Phi-
losophie Levinas’ ist aber das Heraustreten aus dem anonymen Sein
kaum noch ein Thema – dort handelt es sich um das Heraustreten aus
dem egoistischen Sein des schon gebildeten Seienden.
Zweitens, um den Unvorhersehbarkeits- und Einbruchscharak-
ter der Zukunft und damit auch des Zukünftigen schlechthin – des
Todes – zu unterstreichen, spricht Levinas – besonders in Le temps
et l’autre – vom Zukünftigen und Tod als einem Ereignis. Das Zu-
künftige ist ein unvorhersehbares Widerfahrnis, das nicht in der
Macht des Subjekts liegt:
»Das Objekt, dem ich begegne, wird begriffen, und, kurz gesagt, durch mich
konstituiert, während der Tod ein Ereignis ankündigt, dessen das Subjekt
nicht Herr ist, ein Ereignis, in Bezug auf welches das Subjekt nicht mehr
Subjekt ist.« (ZA, 43/TA, 57) 357
Das Zukünftige, das auf das Subjekt zukommt und seinem Zugriff
entzieht, ist für das Subjekt »das Unbekannte« (l’inconnu) – das »Ge-
heimnis« (mystère) (ZA, 43/TA, 56). Es ist das absolut Andere:
»Dieses Nahen des Todes zeigt an, daß wir in Beziehung sind mit etwas
absolut anderem […], mit etwas, dessen Existenz als solche aus Andersheit
[altérité – L. P.] gebildet ist. Meine Einsamkeit wird dergestalt durch den
Tod nicht bestätigt, sondern durch den Tod zerbrochen.« (ZA, 47/TA, 63)
In Le temps et l’autre zeigt Levinas, dass die Beziehung mit dem An-
deren – in diesem Fall: mit dem Weiblichen – genauso strukturiert ist,
wie die Beziehung zu dem Zukünftigen (ZA, 51/TA, 68 f). Dement-
sprechend ist die Rede vom Anderen als einem Ereignis. Der Andere
ist das Geheimnis, das auf mich zukommt und meine Einsamkeit zer-
bricht:
»Indem ich die Andersheit des anderen als Geheimnis setze, […] setze ich es
nicht als Freiheit, die mit der meinigen identisch ist und mit der meinigen
im Kampf liegt, setze ich nicht ein anderes Seiendes mir gegenüber, sondern
ich setze die Andersheit. Ganz wie beim Tod haben wir es nicht mit einem
Seienden zu tun, sondern mit dem Ereignis der Andersheit [événement de
l’altérité – L. P.], mit der Entfremdung.« (ZA, 58/TA, 80)

357
Siehe auch: SS, 51/EE, 68; ZA, 47/TA, 62, ZA, 49/TA, 65.

242

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

Das Wort »Ereignis« dient also zur Charakterisierung bestimmter


»Phänomene«, aber es selbst bleibt eher unbestimmt – wie im all-
gemeinen Sprachgebrauch: ungefähr und ohne tiefere Dimension. In
diesem Sinne kann es in Bezug auf Levinas’ Denken von einer Phi-
losophie des Ereignisses keine Rede sein. Es ist eine Philosophie des
Anderen des Seins, und dieses Andere des Seins wird manchmal – nur
um sich vom Ereignis des Seins bei Heidegger abzusetzen – Ereignis
genannt.
Bei der Auseinandersetzung mit dem Ereignisbegriff in der Phi-
losophie Levinas’ deckt auch Pascal Delhom zuerst einige wichtige
Kontexte auf, in denen das Wort »Ereignis« bei Levinas auftaucht.
Es geht um das Ereignis des Seins 358, das Ereignis der Trennung vom
Sein 359 und das Ereignis der Beziehung mit dem Anderen 360. Doch er
bezweifelt, dass ausgehend von diesem Sprachgebrauch des Wortes
»Ereignis« in Levinas’ Werken von einer Ereignisphilosophie bei Le-
vinas die Rede sein kann:

358
Dies belegt er mit folgender Stelle aus Levinas’ Texten: »Also! Ich denke, dass der
neue philosophische ›Schauer‹ (›frisson‹), den Heideggers Philosophie gebracht hat,
darin besteht, Sein und Seiendes zu unterscheiden und die Beziehung, die Bewegung,
die Wirksamkeit, die bisher im Existierenden lagen, in das Sein zu verlegen. Der
Existenzialismus [damit meint Levinas ausdrücklich Heidegger] bedeutet, die Exis-
tenz – das Verb-Sein – als Ereignis zu empfinden und zu denken. Ereignis, das das,
was existiert, nicht produziert, das nicht die Wirkung (l’action) dessen, was existiert,
auf einen anderen Gegenstand ist. Das reine Faktum des Existierens ist Ereignis.«
(Emmanuel Levinas: Intervention dans »Petite Histoire de l’Existentialisme« de Jean
Wahl. In: Les imprévus de l’histoire. Montpellier: Fata Morgana, 1994, S. 112.) Die
Übersetzung stammt von Delhom selbst: Delhom, 153.
359 Hier zitiert Delhom unter anderem folgende Passage: »Der Psychismus stellt ein

Ereignis im Sein dar […]. Er ist schon eine Seinsweise, der Widerstand gegen die
Totalität. Das Denken oder der Psychismus öffnet die Dimension, die von dieser Weise
gefordert wird. Die Dimension des Psychismus öffnet sich unter dem Druck des Wi-
derstandes, den ein Seiendes seiner Totalisierung entgegensetzt, er ist die Tatsache der
radikalen Trennung.« (TU, 68/TI, 24): Delhom, 157. In der Übersetzung von Nikolaus
Krewani, die Delhom hier zitiert, wird événement nicht als »Ereignis«, sondern als
»Geschehen« übertragen. Delhom schreibt aber »Ereignis«. Dazu siehe seine Bemer-
kung in der Fußnote: Delhom, 157.
360 Dies wird zum Beispiel mit folgender Stelle aus Totalité et infini (TU, 247/TI, 145)

belegt: »Der Rückzug in der Bleibe impliziert ein neues Ereignis. Ich muß mit etwas in
Beziehung gewesen sein, von dem ich nicht lebe. Dieses Ereignis ist die Beziehung mit
dem Anderen, der mich im Haus empfängt, die diskrete Gegenwart des Weiblichen.«:
Delhom, 160. Auch hier übersetzt Krewani événement mit »Geschehnis«, Delhom
schreibt aber »Ereignis«.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

»Nach diesem Parcours durch Levinas’ Philosophie, vom Ereignis des Seins
über das Ereignis der Trennung bis hin zum Ereignis der Transzendenz und
der Sprache, scheint die Frage berechtigt, ob diese Philosophie nicht eigent-
lich eine Philosophie des Ereignisses darstellt oder zumindest ein wichtiges
Denken des Ereignisses beinhaltet, auch wenn dieser Aspekt seines Werkes
bis jetzt kaum berücksichtigt wurde. Ich glaube allerdings, dass eine solche
Behauptung irreführend wäre.« (Delhom, 163)
Man könnte aber denken, dass, wenn Levinas es für berechtigt hält,
bestimmte Geschehnisse mit dem Wort »Ereignis« zu bezeichnen, es
möglich wäre, ausgehend von diesem Gebrauch ein Levinas’sches
Konzept des Ereignisses zu entwickeln und mithilfe dieses Konzepts
nach der Ereignishaftigkeit dieser Geschehnisse zu fragen und so von
einer Philosophie des Ereignisses bei Levinas zu sprechen. Einen sol-
chen Versuch macht Claver Boundja in seinem Buch Philosophie de
l’événement. Recherches sur Emmanuel Lévinas et la phénoménolo-
gie. 361 Aufgrund der von Levinas verwendeten Sprache in wichtigen
Thesen seiner Philosophie schließt er, dass das »Ereignis« ein »fun-
damentales Konzept in der Phänomenologie von Levinas« darstellt:
»Les recherches, dont nous présentons ici les résultats, visent à analyser
l’événement comme le concept fondamental de la phénoménologie d’Em-
manuel Lévinas.« (Boundja, 9) 362

361 Strategisch ähnlich geht Étienne Feron in seinem Aufsatz L’événement (in: Em-

manuel Lévinas et l’histoire, hrsg. von Nathalie Frogneux und Françoise Mies. Paris:
Namur, 1998, S. 103–131.) vor. Auch er will hinter dem bloßen Wortgebrauch ein
entwickeltes Konzept des Ereignisses bei Levinas sehen. Levinas hat aber nur ein ent-
wickeltes Konzept von der Beziehung mit dem Anderen, die er manchmal als Ereignis
bezeichnet. Auch Delhom weist darauf hin, dass »Levinas nicht vom Ereignis als sol-
chem, sondern immer von etwas als Ereignis« (Delhom, 163) spricht.
362 Ähnlich sieht es Bernhard Casper, aber er misst dem Ereignisbegriff bei Levinas

nicht so große Bedeutung wie Boundja bei: »Überblickt man die Schriften von Levi-
nas, so fällt auf, wie früh das Wort ›Ereignis‹ in das Zentrum seines Denkens tritt und
welches semantisches Gewicht es dort durch alle Phasen seines œuvres hindurch be-
hält. Bereits 1935, also noch vor Heideggers Kehre und der darin geschehenden Hin-
wendung zu dem »Ereignisdenken« wird in De l’évasion événement zu einem Leit-
wort […].« (Casper(2009), 164) Dass dieses Wort so früh bei Levinas erscheint,
erklärt Casper durch den Einfluss Rosenzweigs, der von dem »ereigneten Ereignis«
spricht, und durch den frühen Heidegger (Casper(2009), 164 f). Was Casper allerdings
nicht ausführt, ist die Bedeutung, sogar unterschiedliche Bedeutungen und Verwen-
dungen dieses Wortes. In diesem Zitat geht es zum Beispiel um das Ereignis der Hy-
postase als Trennung von der Totalität, das aber nicht die einzige Bedeutung des Er-
eignisses in Levinas’ Philosophie ist. Man kann aber auf jeden Fall vermuten, dass
Casper der Ansicht ist, dass dieses Konzept einen philosophischen Hintergrund im

244

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

Auch Boundja klärt zunächst die verschiedenen Kontexte auf, in de-


nen Levinas vom Ereignis spricht. Zum einen ist das Ereignis das Er-
eignis der Hypostase. 363 Zum anderen ist das Ereignis der Einbruch
der Zukunft, die aber noch eine reine Zukünftigkeit der Zeit bedeutet
und keine besondere Bedeutung für das Subjekt darstellt. 364 Und zum
dritten ist es das Ereignis des Einbruchs des Anderen. 365 Außerdem
sieht er eine »Entwicklung« des Ereignisbegriffes bei Levinas, deren
Höhepunkt die Bedeutung des Ereignisses des Anderen darstellt:
»Ainsi, Lévinas passe d’une acception du concept d’événement à une autre,
mais le sens ultime de l’événement, c’est l’irruption de l’autre.« (Boundja,
17)
Boundja sieht die Philosophie Levinas’ als eine Beschreibung des We-
ges vom Ereignis des Seins (wie bei Heidegger) zum Ereignis des An-
ders-als-Sein, und die anderen Ereignisse – das Ereignis des Hyposta-
se und des Zukünftigen – sind Stationen dieses Weges. Wenn
Heidegger eine Philosophie des Ereignisses des Seins entwickelt, so
entwickelt Levinas eine Philosophie des Ereignisses des Anders-als-
Sein. In seinem Werk versucht Boundja, den Weg zu diesem Ereignis
zu beschreiben und das Ereignis des Anders-als-Sein strukturell zu
fassen.
Obwohl wir grundsätzlich der These von Boundja zustimmen,
dass die Philosophie Levinas’ eine Philosophie des Ereignisses des An-
kommens des Anderen ist, unterscheidet sich unser Versuch, von
einer Philosophie des Ereignisses bei Levinas zu sprechen, wesentlich
von Boundjas Ansatz. Erstens ist es umstritten, dass man ausgehend
vom bloßen Gebrauch des Wortes »Ereignis« von einer Philosophie
des Ereignisses bei Levinas sprechen kann. Noch weniger gibt es hier
eine Entwicklung des Ereignisbegriffes. Wir behaupten stattdessen,
dass es in Levinas’ Philosophie durchaus um das Ereignis geht, jedoch
nur, insofern wir seine Philosophie unter dem Aspekt unseres Ereig-
nisbegriffes betrachten. Das heißt: Wenn wir uns mit unserem –

Sinne einer Philosophie des Ereignisses aufweist. Dies entspräche nicht unserer
These.
363 Boundja, 16. Dabei zitiert er folgende Stelle aus Le temps et l’Autre: »L’événement

de l’hypostase c’est le présent.« (TA, 32)


364 Boundja, 16. Boundja belegt dies mit folgendem Zitat: »L’avenir, c’est l’autre.«

(TA, 64)
365 Boundja, 17. Er zitiert Totalité et infini: »L’événement propre de l’expression con-

siste à porter témoignage de soi en garantissant ce témoignage.« (TI, 176)

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

mehr oder weniger bestimmten – Ereignisverständnis seiner Philoso-


phie nähern, nur dann kann behauptet werden, dass seine Philosophie
vom Ereignis spricht – vom Ereignis der Begegnung mit dem Ande-
ren – und dass seine Philosophie die Logik, die Struktur dieses Ereig-
nisses aufdeckt. Wenn wir also vorwegnehmend vermuten, dass es
etwas Unvorhersehbares, Außergewöhnliches, Erschütterndes, alles
Verwandelndes etc. gibt, was wir ein Ereignis nennen, dann finden
wir es in der Philosophie Levinas’. Es handelt sich hier um ein Ereig-
nis. 366 Doch es geht bei uns nicht darum, seine Philosophie als bloße
Bestätigung unseres Ereignisbegriffes zu sehen, um dann das Ereignis
in seinem Denken mit unserem Ereigniskonzept zu vergleichen und
eventuelle Verschiedenheiten festzustellen. Es geht darum, dass wir
die Philosophie Levinas’ unter einem bestimmten Aspekt – nämlich
dem des unseren noch eher unbestimmten, eingeschränkten Ereignis-
begriffes – betrachten, um dann durch die Philosophie von Levinas
mehr über das Ereignis – über diese »Sache«, die wir Ereignis nennen,
– zu erfahren. Streng genommen sind wir hinsichtlich Heideggers
Ereignisdenken genauso vorgegangen: Wir fragten nicht, was er
überhaupt über das Ereignis geschrieben hat, wie er es bestimmt hat,
sondern was wir über das Ereignis, so wie wir es als eine »Sache«
sehen, von Heidegger erfahren können.
Der zweite Unterschied besteht darin, dass Boundja das konkrete
Ereignis der Beziehung mit dem Anderen analysiert. Wir suchen da-
gegen die allgemeinen Strukturen des Ereignishaften überhaupt und
versuchen sie mithilfe von Levinas’ Philosophie herauszuarbeiten.
Um dies zu erreichen, müssen wir zwischen dem Inhalt des konkreten
Ereignisses und dessen allgemeinen Strukturen, die jedes Ereignis
aufweist, unterscheiden, wobei für uns nur diese Strukturen von In-
teresse sind. Boundja bleibt also bei dem konkreten Ereignis des Ein-
bruches des Anderen, wir dagegen abstrahieren davon und suchen das
für alle Ereignisse Gemeinsame. Auch in Bezug auf Heideggers Er-
eignisdenken sind wir so vorgegangen. Deswegen weil ungeachtet

366 Es ist nicht ausgeschlossen, dass eigentlich auch Boundja auf dieselbe Weise vor-
geht, nur sucht er eine Rechtfertigung seines Ansatzes in der Philosophie Levinas’
(was wir nicht machen). Darauf könnte zum Beispiel folgende Stelle hinweisen:
»C’est le concept d’événement qui convient pour interpréter et traduire ce que Lévinas
dit du visage, car événement, c’est ce qui s’annonce de soi-même comme l’origine de
son propre sens.« (Boundja, 111) Das heißt: Das Konzept des Ereignisses, so wie
Boundja es versteht, ist einfach dazu geeignet die Philosophie Levinas’ zu beschrie-
ben. Wir teilen diese Auffassung.

246

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

dessen, dass Heidegger – im Vergleich zu Levinas – eine explizite


Ereignisphilosophie hat, er nicht vom Ereignis im Allgemeinen, son-
dern nur von einem Ereignis, nämlich dem Ereignis des Seins spricht.
Drittens fassen wir das Ereignisdenken Levinas’ nicht von vorn-
herein als den Gegensatz zu Heideggers Ereignisdenken auf. Zwar ist
das Heidegger’sche Ereignis das Ereignis des Seins und das Ereignis
bei Levinas das Ereignis des Anders-als-Sein, aber diese Entgegenset-
zung stammt von Levinas selbst. Es ist sein Anspruch, einer der größ-
ten Kritiker des Heidegger’schen Denkens zu sein, sein Anspruch,
anders und ursprünglicher als Heidegger zu denken. Damit ist es aber
noch nicht entschieden, ob seine Interpretation des Ereignisses des
Seins, dem gegenüber er das Anders-als-Sein stellt, dem entspricht,
was Heidegger unter dem Ereignis denkt. Es könnte sich sogar he-
rausstellen, dass hinsichtlich der allgemeinen Logik des Ereignishaf-
ten, die wir hier herauszuarbeiten versuchen, Heidegger und Levinas
denkerisch ziemlich nah zueinander stehen. Dies soll nicht heißen,
dass hier als Hauptziel gesetzt wird, die Ähnlichkeit des Heideg-
ger’schen und Levinas’schen Denken unbedingt zu behaupten. Es
geht ausschließlich nur um das Ereignis selbst, um die Logik, nach
der es sich ereignet. Und indem wir unter dem Aspekt unseres Ereig-
nisbegriffes gezielte Fragen an die Texte Levinas’ stellen und indem
wir von den inhaltlichen Motiven des Levinas’schen Ereignisses ab-
sehen, werden wir auf den nächsten Seiten versuchen, die Ereignis-
haftigkeit des Ereignisses aufzudecken und seine Logik zu verstehen.

2. Die Nicht-Phänomenalität und Nicht-Vorstellbarkeit


des Ereignishaften

In der Analyse des Ereignisbegriffes bei Heidegger wurde gezeigt,


dass das Ereignis einmal das im Ereignis Gegebene und ein andernmal
der Einbruch des im Ereignis Gegebenen ist. Diese Zweideutigkeit
gehört wesentlich zum Ereignis in dem Sinne, dass ein Ereignis nur
als ein konkretes Ereignis existiert und nicht von seinem Gehalt zu
lösen ist, und dass der Gehalt nur deswegen ereignishaft sein kann,
weil er wie ein Ereignis einbricht. Ein Ereignis ist beides – der Ein-
bruch und das, was einbricht, oder wie Heidegger fragt: »Gibt es denn
einen ›Anfang‹, ein Ereignis, da ›nichts‹ anfängt und nichts sich er-
eignet?« Das Ereignisdenken kann diese beiden unzertrennlichen As-
pekte voneinander zu lösen versuchen und zum Beispiel das Ereignis

247

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

im Allgemeinen – ohne konkreten Gehalt – beschreiben (so wie wir


das hier machen) oder auch nur den Gehalt ausdrücken (so wie die
Kunst es tut). Doch in jedem Denken des Ereignisses spiegelt sich
diese der ereignishaften Wirklichkeit zugehörige Zweideutigkeit wi-
der: Es ist unmöglich, das Ereignis im Allgemeinen als einen Ein-
bruch, Anfang zu denken, ohne konkrete Beispiele zu nennen oder
ohne zumindest von einem konkreten Ereignis auszugehen. Es ist
sogar notwendig für ein Ereignisdenken, immer auf das Konkrete
hinzuweisen, wenn es nicht das Ereignis in bloßen Begriffen verlieren
möchte. Und es ist unmöglich, etwas Ereignishaftes auszudrücken zu
versuchen, ohne etwas über seinen Einbruch zu berichten. Es gibt nur
eine Beschreibungsweise: diejenige, die beide Aspekte gleichzeitig in
Betracht zieht. Dies ist ein Charakteristikum, das alle unseren wei-
teren Ausführungen in sich tragen.
Wenn wir gesagt haben, dass in der Philosophie Heideggers das
Ereignis – entsprechend der Zweideutigkeit des Ereignisses – das im
Ereignis Gegebene ist, dann haben wir gemeint, dass das Sein das
Ereignishafte im Ereignis als Geben, als Anfang ist und dies im Sinne,
dass das Sein kein Seiendes, sondern ein Ereignis ist. Das Seiende in
der Philosophie Heideggers ist das Anwesende und Beständige. Die
Anwesenheit und die Beständigkeit bedeuten, dass das Seiende greif-
bar ist. Es ist greifbar im weitesten Sinne des Wortes: man kann es im
Sehen fixieren und nicht mehr aus den Augen lassen, man kann es in
die Hand nehmen und von allen Seiten betasten, man kann es in der
Praxis gebrauchen wie ein Zeug ohne eine besondere wissenschaft-
liche Interesse, man kann es mit einem allgemeinen Begriff bezeich-
nen und naturwissenschaftlich erforschen, man kann es auch in sei-
ner Konkretion vorstellen, d. h. denkerisch »abbilden« und in der
Vorstellung mit ihm manipulieren, man kann sich daran zu beliebiger
Zeit und beliebig oft erinnern, es vergegenwärtigen, da es als etwas
Beständiges, nämlich als eine Vorstellung, im Gedächtnis »gespei-
chert« ist. Das Seiende kann auch eine Vorstellung von einer Idee
oder einem allgemeinen Begriff sein, die als etwas Beständiges und
Anwesendes nur im Denken existiert. Im Denken und für das Denken
ist also das Seiende genauso etwas Anwesendes und Beständiges –
nämlich als Vorstellung, d. h. als etwas Gegenständliches, wenn es
auch kein äußerer Gegenstand ist.
Wenn es in der Philosophie Heideggers heißt, dass das Sein kein
Seiendes ist, dann bedeutet es, dass das Sein nichts Anwesendes und
Beständiges ist. Es ist ereignishaft, was aber nicht heißt, dass es ein

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

Prozess ist, weil ein Prozess, eine Bewegung, ein Vorgang genauso
etwas Anwesendes und Beständiges und in diesem Sinne etwas Sei-
endes ist. Das Sein ist ereignishaft in dem Sinne, dass es ein Gescheh-
nis mit dem Dasein ist, das es in seine »surreale«, immer sich bewe-
gende und sich entziehende Situation führt, die sich nicht vorstellen
und erkennen lässt, weil man in ihr ist. Das Ereignis ist ein In- und
Betroffen-Sein. So wie eine Sommernacht, die uns einnimmt, uns
ein- und ausatmet. Sie ist kein Seiendes. Aber sie ist auch kein bloßes
subjektives Erlebnis, weil sie geschieht.
Das Ereignishafte bei Levinas – der Andere als »das Unendliche«
(l’infini), das sich im menschlichen »Antlitz« (visage) manifestiert,
weist eine ähnliche Struktur auf. Das Antlitz als Ort des Einbruchs
des Andern, wo die Situation der Nähe und Verantwortung geschieht,
ist kein Etwas, es ist nichts Greifbares. Die Begegnung mit dem An-
deren ist keine Begegnung mit einem bestimmten und beständigen
Etwas. Das Antlitz erscheint nicht als etwas für das Ich. Es ist kein
Phänomen, das in einem Bewusstsein erscheinen würde:
»Es entgeht der Vorstellung [représentation – L. P.]. Das Gesicht ist gerade
das Ausbleiben der Phänomenalität [phénoménalité – L. P.]. Nicht weil es
für das Erscheinen zu roh oder zu heftig wäre, sondern weil es in einem
bestimmten Sinne zu schwach ist, Nicht-Phänomen, weil ›weniger‹ als das
Phänomen.« (JS, 199/AQE, 112)
Das Phänomen als etwas, als etwas Gegenständliches, worauf das Be-
wusstsein intentional gerichtet ist, hat einen Umriss, eine Form, an
der das Erscheinende festgehalten wird, durch die es sichtbar, greifbar
und erkennbar ist. Im Fall eines Ereignisses wird diese Form auf-
gelöst:
»Während das Phänomen bereits Bild ist, Manifestation, die gefangen ist in
ihrer plastischen und stummen Form, ist die Epiphanie des Antlitzes leben-
dig. Sein Leben besteht darin, die Form [forme – L. P.] aufzulösen, in der
sich jedes Seiende, sobald es in die Immanenz eintritt, d. h. sobald es sich als
Thema darstellt, bereits verbirgt«. (SA, 221/DEHH, 271) 367
Das Antlitz, das Ereignishafte erreicht also nicht den Status eines
Etwas, was erscheint. Es erscheint, ohne zu erscheinen. Und dies kon-
stituiert sein Eintreten als »Rätsel« (énigme):

367
Siehe auch: ZU, 181 f/EN, 166.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

»[…] diese Weise, in Erscheinung zu treten, ohne zu erscheinen, nennen


wir […] Enigma, Rätsel.« (SA, 246/DEHH, 291) 368
Wenn das Ereignis geschieht, flimmert etwas vor unseren Augen,
aber wir können nicht identifizieren, was es ist. Oder genauer gesagt,
nichts flimmert vor unseren Augen – durch alle deutlichen oder un-
deutlichen Erscheinungen werden wir in das Nicht-Erscheinende
schlechthin geführt. Es ist so, als ob wir durch das Sichtbare des Ant-
litzes – seine Merkmale und Mimik – in etwas hineingezogen wür-
den, das keine Rückseite hat, die doch am Ende erscheinen könnte. Es
ist so, als ob wir in eine Leere eingesaugt würden. Levinas zitiert
diesbezüglich Sartre:
»[D]er Andere sei ein bloßes Loch [pur trou – L. P.] in der Welt.« (SA, 227/
DEHH, 276)
Doch die Nicht-Phänomenalität heißt nicht, dass nichts geschieht:
Das Ereignis des Antlitzes ist die Begegnung mit dem Anderen. Das
Antlitz ist bloß nicht ein Etwas, worauf man sich intentional beziehen
könnte, was man vorstellen, festhalten, begrifflich erkennen könnte.
Mit anderen Worten: Es ist eine Bedeutung (signification), die nichts
bedeutet, ein »nichtontologisches Bedeuten« (signifiance non-onto-
logique) (GE, 165/DI, 184) oder – genauer gesagt – eine Bedeutung,
die nichts anderes als nur sich selbst bedeutet. Es bedeutet, nur was?
Es ist herausgerissen aus den Sinnzusammenhängen der Welt, in der
alle Sinngebilde auf einander hinweisen und sich so bestimmen las-
sen; es ist eine Bedeutung »ohne Kontext« (sans contexte):
»Aber die Epiphanie des Anderen trägt ein eigenes Bedeuten bei sich, das
unabhängig ist von dieser aus der Welt empfangenen Bedeutung. Der An-
dere kommt uns nicht nur aus dem Kontext entgegen, sondern unmittelbar,
er bedeutet durch sich selbst.« (SA, 220 f/DEHH, 270)
»Das Antlitz ist Bedeutung, und zwar Bedeutung ohne Kontext.« (EU, 65/
EI, 80) 369

368 Siehe auch: SA, 252 ff/DEHH, 296 ff. In der früheren Philosophie spricht Levinas
in Bezug auf die Erfahrung des Anderen vom »Geheimnis« (mystère). In Le temps et
l’autre schreibt er: »Das Verhältnis zum anderen ist ein Verhältnis zu einem Geheim-
nis.« (ZA, 48/TA, 63) Aber das Wort »Geheimnis« ist natürlich zu unkonkret, um die
Weise des Geschehens des Antlitzes zu explizieren, es lässt diese Struktur nur intuitiv
erahnen. Die Nicht-Phänomenalität des Antlitzes erklärt mehr.
369 Das Antlitz, das sich selbst, ohne Kontext bedeutet: SA, 282/DEHH, 320; HAM,

40/HAH, 50 f.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

Das Antlitz als das Ereignishafte erscheint nicht als etwas und kann
nicht gedeutet werden. Es kann nicht festgehalten werden – es ent-
zieht sich durch das Sichtbare hindurch, bleibt immer abwesend. 370
Würde ein anderes Ereignis als das des anderen Menschen geschehen,
könnte man dieselbe Struktur aufweisen. Wäre das ein Ereignis eines
Duftes, so würde der Betroffene den ganzen Duft in sich hineinziehen
wollen, um das Ende dieses Duftes zu erreichen, mit der Hoffnung,
am Ende ihn verstehen zu können. Doch eher wird der Duft auf-
hören, als man dieses Ende erreichen wird. Der Duft, der seine Phä-
nomenalität hier und jetzt hat, führt den Betroffenen durch sich hin-
durch in eine unerreichbare Zukunft, in der er verstanden werden
könnte, die aber niemals ankommt. Er ist für immer mehr als diese
konkrete Phänomenalität und deswegen nicht als ein Etwas greifbar.
Der Duft ist als etwas da und doch führt er weiter; er entzieht sich
und bleibt uneinholbar. Es ist bemerkenswert – d. h. wichtig im Kon-
text der vorliegenden Arbeit –, dass, während Levinas solchen nicht-
gegenständlichen »Sachen« wie zum Beispiel dem Antlitz die Phäno-
menalität abspricht, Marion von ihnen als »gesättigten Phänomenen«
(phénomènes saturés) spricht. In der Tat behandelt das Kapitel V des
Buches De surcroît das Antlitz als ein gesättigtes Phänomen. Was sagt
uns das? Erstmal, dass das Ereignishafte grundsätzlich kein bestimm-
tes Etwas ist. Wir werden aber sehen, dass das, ob es als ein Nicht-
Phänomen oder als ein gesättigtes Phänomen beschrieben wird, nicht
die entscheidende Frage eines Ereignisdenkens ist.
Ein mit der Nicht-Phänomenalität verwandter Begriff, mit dem
Levinas das Ereignis beschreibt, ist der der Vorstellung im Sinne einer
Gestalt im Ich: Das Ereignishafte ist nicht auf die Vorstellung zu re-
duzieren:
»Das Antlitz, in dem der Andere sich mir zuwendet, geht nicht auf in der
Vorstellung des Antlitzes. Seine Not, die nach Gerechtigkeit schreit, ver-
nehmen, besteht nicht darin, sich ein Bild vorzustellen, sondern sich als
verantwortlich zu setzen, gleichzeitig als mehr und als weniger denn das
Seiende, das sich im Antlitz präsentiert.« (TU, 311/TI, 190)
Doch mit dem Vorstellungsbegriff wird nicht nur angezeigt, dass das
Ereignishafte grundsätzlich kein Etwas ist. Dieser Begriff weist auch
auf die Dimension der Zeitlichkeit des Ereignisses hin: eine Vorstel-
lung ist etwas Statisches, etwas Beständiges, das man deswegen re-

370
Die »Abwesenheit« (absence) des Anderen: SA, 283 f/DEHH, 321 f.

251

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

produzieren, d. h. immer wieder vergegenwärtigen kann. 371 Das Er-


eignis kann man aber nicht vergegenwärtigen. Dieser Aspekt wird
noch später behandelt, wo wir über die Zeitlichkeit des Ereignisses
sprechen werden. Das, was wir jetzt betonen möchten, ist, dass die
Beziehung mit dem Anderen heißt, »sich als verantwortlich zu set-
zen« (se poser comme responsable). Das Ereignishafte ist keine Vor-
stellung, der Bezug zu ihm ist nicht das Vorstellen, sondern das In-
Beziehung-Treten, Antworten, Nähe, Verantwortung. Dem Anderen
bzw. dem Ereignis begegnet man nicht in der eigenen Welt der Vor-
stellungen. Es ist eine Beziehung mit einer radikalen Exteriorität, die
in meine Welt einbricht, mich aus mir wirft und in eine Beziehung
mit ihr eintreten lässt.

3. Das Ereignis als Einbruch in die Welt des Selben

Die Nicht-Phänomenalität und Nicht-Vorstellbarkeit des Ereignis-


haften behauptet Levinas nicht nur deswegen, weil es kein erkenn-
bares Etwas, keine bestimmte Bedeutung für das Wissen ist, sondern
auch deswegen, weil eine Vorstellung, ein Phänomen grundsätzlich
jemandes Vorstellung bzw. Phänomen ist: eines Subjekts bzw. eines
Ich, sodass diese Vorstellung bzw. dieses Phänomen sich vollständig
im Besitz des Subjekts bzw. des Ich befindet. Das Subjekt produziert
die Vorstellung, sie ist seine Vorstellung. Das Subjekt hat etwas außer
sich Seiendes in sich aufgenommen, angeeignet, zu sich selbst ver-
wandelt. Durch die Aneignung gibt es nicht mehr das Andere des
Subjekts, sondern nur das Selbe:
»Als vorgestelltes kommt das Andere dem Selben gleich, obgleich es sich
von ihm abzusetzen scheint.« (SA, 149/DEHH, 197)

Weil das Andere in der Vorstellung und Erkenntnis das Selbe ist,
kann hier von einer Beziehung keine Rede sein: das Subjekt bestimmt
das Andere, ohne selbst durch das Andere bestimmt zu werden. 372
Wenn es das Andere, das Ereignishafte geben soll, so kann die Bezie-

371 Im französischen Wort »représentation« ist die Vergegenwärtigung schon im Be-

griff mitgedacht.
372
Zur Einseitigkeit der Beziehung zum Anderen, wenn das Andere dem Bewusstsein
angepasst wird, das Bewusstsein selbst aber unberührt, identisch mit sich selbst bleibt,
siehe: SS, 106/EE, 148; ZA, 37 ff/TA, 47 ff; TU, 246/TI, 145; SA, 209 ff/DEHH, 161 ff.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

hung zu ihm nicht als Vorstellung, Konstitution, Erkenntnis und


Wissen beschrieben werden:
»Die metaphysische Beziehung 373 kann nicht im eigentlichen Sinne des
Wortes eine Vorstellung sein; denn dann würde sich das Andere im Selben
auflösen: Alle Vorstellung läßt sich wesentlich als transzendentale Konsti-
tution deuten.« (TU, 43/TI, 8)
»Was die Erkenntnis betrifft: Sie ist von ihrem Wesen her eine Beziehung
zu dem, dem man gleicht und das man umschließt, dessen Andersheit man
aufhebt, das immanent wird, weil es meinem Maß und meinem Maßstab
entspricht. […] letztlich liegt im Bereich der Erkenntnis eine Unmöglich-
keit, aus sich herauszutreten; von daher kann die Sozialität (socialité) nicht
die gleiche Struktur haben wie die Erkenntnis.« (EU, 46/EI, 52) 374
Wenn das Ich bei sich ist, sich in der Identität mit sich selbst befindet
und von seiner Sphäre aus um das Andere weiß, ist es mit dem An-
deren in keinerlei Beziehung, weil es kein Anderes gibt.
Das Andere ist also kein Etwas, das durch die Vorstellung und
Erkenntnis zur Sphäre des Subjekts gehört – es ist die »Exteriorität«
(extériorité) gegenüber dem Subjekt und seiner Immanenz, seinem
immanenten Bewusstseinsleben. Es ist das Außen. Das Ich kann sich
nicht von sich aus dieser Exteriorität nähern, weil seine Annährungs-
versuche schon mit der Entscheidung, sich anzunähern, das Andere
zum Selben machen. Nicht das vorstellende, erkennende Subjekt
nimmt eine Beziehung mit dem Anderen auf, indem das Andere als
Ziel seiner Annährung gesetzt und somit zum Selben gemacht wird,
sondern es ist immer das Andere, das in die Welt des Selben einbricht.
Das Andere, das Ereignis ist an sich »Heimsuchung« (visitation):
»Die Bewegung der Begegnung tritt nicht zu dem unbeweglichen Antlitz
hinzu. Diese Bewegung ist in diesem Antlitz selbst. Das Antlitz ist durch
sich selbst Heimsuchung und Transzendenz.« (SA, 235/DEHH, 282)
»Seine [des Anderen – L. P.] Gegenwart besteht darin, auf uns zuzukom-
men, einzutreten. Dies läßt sich so ausdrücken: Das Phänomen, das die

373 Bei dem Gebrauch vom Wort »Metaphysik« bei Levinas ist zu beachten, dass er
damit nicht in einer kritischen Einstellung die Wissenschaft vom objekthaften Seien-
den meint, wie dies zum Beispiel Heidegger und auch wir in dieser Arbeit tun. Meta-
physik ist für Levinas das Gegenteil von Ontologie – dem Denken des Seins – und sie
bedeutet das Denken des Anderen, das Überschreiten des Seins durch die Annäherung
zu dem Anderen (dazu siehe: TU/TI, 35/3, 38/5, 49/12, 66/23, 109/51).
374 Die Erkenntnis führt nicht aus der Immanenz des Selben heraus: EU, 43 ff/EI,

49 ff.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Erscheinung des Anderen ist, ist auch Antlitz, oder auch folgendermaßen
(um dieses Eintreten, das in jedem Augenblick in der Immanenz und Ge-
schichtlichkeit des Phänomens stattfindet, zu zeigen): Die Epiphanie des
Antlitzes ist Heimsuchung.« (SA, 220 f/DEHH, 271)
Diese Passagen bestätigen die vermutete Zweideutigkeit des Ereignis-
ses: Das Ereignis ist das, was ankommt – das Unbegreifliche –, und
das Ankommen. Das Unbegreifliche kommt an, ist an sich ein An-
kommen. Diese beiden Aspekte sind unzertrennlich miteinander ver-
bunden. Wenn das Ereignishafte sich ereignet, geschieht ein Einbruch
in die Welt des Ich. Es ist so, als ob sich eine andere Welt durch die
Störung dieser Welt eröffnen würde:
»Der Eintritt des Antlitzes in unsere Welt geschieht im Ausgang von einer
absolut fremden Sphäre – d. h. aber gerade im Ausgang von einem Absolu-
ten, was übrigens der eigentliche Name der tiefen Fremdheit ist. In ihrer
Abstraktheit ist die Bedeutung des Antlitzes im buchstäblichen Sinne des
Wortes außergewöhnlich.« (SA, 222/DEHH, 271 f)
Allerdings darf man diese andere Welt nicht als eine Welt, als den
Horizont aller bestimmten Bedeutungen denken. Das, was sich er-
öffnet, ist das Jenseits aller Welten: »jenseits der ›Welt‹« (SA, 226/
DEHH, 275) 375. Es ist nur eine plötzliche Tiefe dieser Welt, die kein
Etwas aus dieser Tiefe ankommen lässt. Das, was einbricht, hat keine
eigene Realität – es existiert nur als die »Störung« (dérangement)
(SA, 241/DEHH, 287) 376 der Realität, der Ordnung dieser Welt, und
ist in diesem Sinne »an-archisch« (an-archique) (JS, 224/AQE,
128) 377. Die Störung durch den Anderen bedeutet für das Selbe die
»Unterbrechung« (interruption) des Bei-sich-Seins und den Identi-
tätsverlust: »Nicht-Identität« (non-identité), »Unterbrechung der
unumkehrbaren Identität, die dem sein zugehört« (JS, 47/AQE,
16). 378 Gestört und unterbrochen, findet die »Subjektivität« (subjecti-
vité), die von dem selbstzufriedenen Subjekt zu unterscheiden ist,
keine Ruhe mehr:

375 »L’au-delà est précisément au-delà du »monde« […].« Siehe auch: SA, 228/
DEHH, 276; HAM, 51/HAH, 62.
376 Zur Störung siehe auch: SA/DEHH, 244/289, 248/293.

377 Siehe auch: SA, 248 f/DEHH, 292 f.

378 Zur Nicht-Identität, »Nicht-Übereinstimmung« (non-coïncidence) mit sich selbst

siehe auch: HAM/HAH, 42/53, 92/102 f; JS/AQE, 35/10, 47 f/16 f, 50/18, 119/, 135/
72, 157/86, 207/117, 245/140 f, 255/147, 305/177, 318/184, 255/247, 278/160, 310/
180, 318/184, 335/195; GE, 100/DI, 131.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

»Der Andere-im-Selben der Subjektivität ist die Beunruhigung [inquiétude


– L. P.] des Selben durch den Anderen.« (JS, 69/AQE, 32) 379
Wenn es das intentionale Bewusstsein ist, das das Andere anzielt und
vereinnahmt, und deswegen keine Beziehung mit dem Anderen hat,
so kehrt das Ereignis als Einbruch des Anderen die Intentionalität um,
was die Beziehung zum Anderen ermöglicht. Levinas spricht von der
»Umkehrung der Intentionalität« (inversion de l’intentionnalité) (JS,
115/AQE, 61) und dies heißt: Wenn das Bewusstsein auf das Andere
stößt, kann es nicht mehr bei sich bleiben und aus eigener Sphäre
heraus auf das Andere intentional gerichtet sein – mit dem Ziel, es
in das Bewusstsein aufzunehmen und so zu seinem Phänomen zu
konstituieren. Es passiert das Gegenteil: Das Ich wird aus sich heraus-
geworfen, es wird passiv, dem Anderen, das sich aufdrängt, aus-
gesetzt:
»Das durch alle Anderen besessene 380, alle Anderen ertragende Ich ist
die Umkehrung der intentionalen Ekstase.« (JS, 196Anm.24/AQE,
110Anm.24) 381
Das Ereignishafte gehört also nicht zur Sphäre des Subjekts. Es ist
eine radikale Exteriorität, die sich nie auf eine Vorstellung, ein The-
ma, ein Erkenntnisobjekt reduzieren lässt. Es ist immer mehr als das,
was wir von ihm denken können, weil es es selbst ist und bleibt. Jede
Begegnung mit dem Ereignishaften ist deswegen ein Einbruch in die
Welt, die niemals aufhört, ein Einbruch zu sein, weswegen die Zwei-
deutigkeit des Ereignisses, nämlich dass es gleichzeitig das Ereignis-
hafte und der Einbruch des Ereignishaften ist, unauflösbar ist. Würde

379 Zur Beunruhigung des Selben durch den Anderen siehe auch: SA, 284/321; HAM/

HAH, 43/53, 100 f/109 f; JS/AQE, 35/9 f, 135/72, 157/86, 170/95, 238/136, 255/147,
312/181; ZU, 114/104. In De Dieu qui vient à l’idée lautet es: »Das Hauptanliegen, das
hinter all diesen Bemühungen steckt, besteht darin, das Andere-im-Selben zu denken,
ohne dabei das Andere als ein anderes Selbes zu denken. Das im bedeutet keine Assi-
milierung: das Andere stört oder erweckt das selbe, das Andere beunruhigt das Selbe
oder inspiriert das Selbe, oder das Selbe begehrt das Andere oder wartet auf es […].
[…] Das Selbe ist folglich nicht in Ruhe […].« (GE, 98/DI, 130)
380 Das Ich wird von einer Exteriorität besucht und außer sich geworfen. Diese Situa-

tion wird von Levinas noch radikaler beschrieben: Es ist eine Situation der »Besessen-
heit« (obsession), der »Verfolgung« (persécution), wo ich die »Geisel« (otage) des
Anderen bin. Der Andere drängt sich auf, hat mich im Griff, fordert von mir eine
Antwort als Verantwortung.
381 Zur Umkehrung der Intentionalität siehe auch: TU, 180/TI, 101; SA, 223/DEHH,

273; HAM, 44/HAH, 54; JS/AQE, 118/62, 128 f/69, 247/142.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

das Ereignishafte aufhören einzubrechen, würde er im Selben ver-


schwinden. In der Situation dieses Einbruches wird das Subjekt aus
sich geworfen und transzendiert auf das Andere hin. So findet das
Ereignis weder im Selben, das das Andere zum Verschwinden bringt,
noch im Anderen, mit dem sich das Selbe vereinigt, statt: Die Stätte
des Ereignisses ist das Ereignis selbst. Das Ereignis ist eine Stätte, ein
Ort, τόπος.
Wo und wann begegnen sich laut Levinas das Selbe und der An-
dere so, dass das Selbe den Einbruch des Anderen erfährt und aus sich
für den Anderen heraustritt? Im Werk Totalité et infini findet diese
Begegnung in der »Sprache« (langage), »Rede« (discours) statt, in der
Situation also, wenn der andere Mensch spricht. Es ist nicht wichtig,
was er sagt, sondern dass er es tut 382, dass er sich mit seiner Rede als
eine von mir unabhängige Quelle eines anderen inneren Lebens zeigt,
dass er meine eigene Vorstellungsfolge zerbricht und in sie einbricht,
dass er mich unterbricht. Der Unterschied zwischen der Vereinnah-
mung des Anderen und der Rede zeigt sich zum Beispiel in der Situa-
tion, wenn man sich auf ein Gespräch mit jemandem vorbereitet.
Man hat eine bestimmte Meinung über die andere Person, man ver-
sucht sich vorzustellen, wie das Gespräch verlaufen wird. In allen
diesen Überlegungen ist man bei sich, gefangen in eigenen Gedanken,
völlig in sich immanent, man kennt nichts außer sich, obwohl man an
eine andere Person denkt. Aber wenn dieses Gespräch dann wirklich
stattfindet, verläuft es anders, als man gedacht und geplant hat. Es ist
so, weil der andere Mensch nicht in meiner Macht liegt – er redet
nicht das, was ich mir vorgestellt habe, er macht alles anders. Wenn
ich von Weitem den Anderen beobachte oder nur an ihn denke, passt
er zu meiner Welt, ist ein Teil davon. Wenn ich aber mit ihm rede,
zeigt er sich als eine andere Welt, die die meine berührt, unterbricht,
aber keineswegs zum Teil meiner Welt wird. Im Gespräch ist der An-
dere nicht in mir, sondern wir befinden uns in »Von-Angesicht-zu-
Angesicht« (le face à face):
»In der Tat, das Seiende, das zu mir spricht und dem ich antworte oder das
ich befrage, liefert sich mir nicht aus, es gibt sich mir nicht derart, daß ich
diese Erscheinung übernehmen könnte, sie meiner Innerlichkeit anmessen
und so aufnehmen könnte, als käme sie aus mir selbst. […] Die Exteriorität
der Rede konvertiert sich nicht in Innerlichkeit. […] Die Beziehung zwi-

382 Nicht das »Gesagte« (das Gesagte ist grundsätzlich meins), sondern das »Sagen«

selbst eröffnet die Andersheit des Anderen: TU/TI, 265 f/157 f, 295/179 f.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

schen den getrennten Seienden totalisiert die Seienden nicht, sie ist »Bezie-
hung ohne Beziehung«, niemand kann sie umfassen oder thematisieren.
[…] Die Beziehung zwischen den »Abschnitten« des getrennten Seins ist
ein Von-Angesicht-zu-Angesicht, eine irreduzible und letzte Beziehung.«
(TU, 427/TI, 271) 383
Später – in Autrement qu’être – ist bei Levinas, entsprechend seiner
Radikalisierung des nicht-ontologischen Ansatzes, nicht mehr die
Rede vom sprechenden Anderen, sondern von mir, der spricht. Im
»Sagen« (le Dire), das Levinas vom »Gesagten« (le Dit) unterscheidet
(um wiederum zu zeigen, dass es nicht darauf ankommt, was man
sagt, sondern dass man sagt), nähere ich mich dem Anderen:
»Das Sagen ist eine Annäherung an den Nächsten.« (AS, 191/HS, 211) 384
Es ist diese »Nähe« (proximité) zu dem Anderen, die den Einbruch
des Anderen und das Außer-sich-Sein der Subjektivität bedeutet; die
die Antwort und Verantwortung dem Anderen gegenüber ist. Sie
stellt eine radikale Exteriorität dar und hat deswegen keine Phänome-
nalität. Das Ich erreicht das Ereignis nicht, indem es dieses Ereignis
vorstellend in sich aufnimmt, sondern nur, indem es, in Passivität
versetzt, das Ereignis empfängt, das selbst auf das Ich zukommt. Das
Ereignishafte wirft das Ich aus sich heraus – nach draußen, wo die
wirkliche Begegnung eines Von-Angesicht-zu-Angesicht stattfinden
kann.

4. Das Ereignis und die Innerlichkeit

Wenn Heidegger die Nicht-Seiendhaftigkeit des Seins behauptet, be-


deutet das für ihn unter anderem, dass das Sein keine Vorstellung,
kein Denkobjekt ist, dem gegenüber der Denkende steht, um es aus
einer »neutralen« Position zu beschreiben und zu erkennen. Das Sein

383 Die Rede als die Beziehung mit dem Anderen, in der die Andersheit des Anderen

nicht aufgehoben wird: TU/TI, 44 ff/9 f, 57 f/18, 87 f/37 f, 99/45, 106/50, 138/71, 249/
147, 278 f/168 f, 426 f/271, 429/272 f.
384 Man muss aber beachten: Es ist richtig, dass ich zum Anderen hin im Sagen ge-

öffnet bin. Aber nicht einfach dadurch, dass ich denke: »Ich rede jetzt mit ihm.« Weil
ich kann ja den Anderen immer noch beim unseren Gespräch als ein intentionales
Objekt im meiner Immanenz auflösen. Diese Zuwendung zum Anderen ist tiefer:
Das Sagen als solches, noch vor meinem Ich denke, ist eine Voraussetzung des Ande-
ren und so ein Gespräch mit ihm. Dazu siehe insbesondere: ZU, 198 f/EN, 180 f.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

ist in Heideggers Ereignisdenken der »Austrag«. Es geht darum, dass


das Sein als Ereignis jemanden trifft, betrifft und vom jeweiligen Be-
troffenen in eigener Person erfahren wird. Das Sein ist kein allgemei-
ner Begriff in einer über-persönlichen Vernunft, an der alle vernünf-
tigen Menschen teilhaben, sondern meine Erfahrung des Seins, wenn
sich das Geschehnis des Aufleuchtens des Seienden, d. h. das Ge-
schehnis der Wahrheit ereignet; es ist mein In-Sein im Ereignis, mein
An-dem-Ort-Sein des Ereignisses. Das Ereignishafte für Levinas ist
genauso wenig eine Vorstellung, ein Phänomen – es gehört nicht zum
Selben –, sondern bricht als eine absolute Exteriorität in seine Welt
ein. Aber – von anderer Seite – kann sich das Ereignishafte laut Levi-
nas nur in der und durch die Subjektivität ereignen, d. h. es braucht
einen jeweiligen, unersetzbaren Menschen, der es aufnimmt, um ge-
schehen zu können. Auch in Heideggers Ereignisdenken kommt das
Sein von außen auf den Menschen zu, der es durch sich geschehen
lässt. Es ist zwar kein »Gemächte des »Subjekts««, aber das »Seyn
braucht das Da-sein«, um wesen zu können.
Das Ereignis des Antlitzes wie jedes Ereignis geschieht nicht für
sich – es ist wesentlich ein Verhältnis, eine Begegnung zwischen de-
nen, die sich in dieser Begegnung nicht vereinen, sondern auch ge-
trennt bleiben. Wie in jedem Verhältnis verlangt auch das Antlitz
sein Gegenüber, doch dies kann nicht das Bewusstsein sein, das das
Andere seiner Andersheit beraubt, indem es das Andere zum Inven-
tar seiner eigenen Welt macht. Die Subjektivität, die das Andere emp-
fangen vermag, steht jenseits des Bewusstseins, jenseits des seins. Sie
ist nicht das Bewusstsein, das das Zentrum seiner Welt ist, zu der
auch das Andere mitgehören soll. Sie ist eher ein »Nicht-Ort« (non-
lieu) (JS, 35/AQE, 9) 385 als eine totale Welt, wo alles seinen Platz fin-
det. Aber die Subjektivität als Nicht-Ort und jenseits des Bewusst-
seins, das das Sein und in der Reflexion auch sich selbst erscheinen
lässt, also identisch mit sich selbst ist, und das alles zum Selben
macht, ist auch nicht anonym. Das Jenseits des Bewusstseins ist zwar
das Jenseits der Identität des in der Reflexion mit sich selbst identi-
schen Bewusstseins, aber es ist keine Anonymität. Um eine solche
individuelle und unersetzbare Subjektivität zu bezeichnen, verwen-
det Levinas das Wort »Innerlichkeit« (intériorité). Das Andere kann
nur in der und durch die Innerlichkeit empfangen werden.
Die Innerlichkeit der Subjektivität geschieht zwischen dem ano-

385
Der Nicht-Ort der Subjektivität: JS/AQE, 40/12, 49/17, 55/21.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

nymen Prozess des Seins und dem mit sich selbst identischen Be-
wusstsein. Sie ist »später« als das anonyme, totale Sein, weil von
ihm getrennt, und sie ist »früher« als das Bewusstsein, weil sie noch
keine Freiheit, kein Ursprung, sondern »Passivität« (passivité) ist –
sie empfängt, ohne zu sich selbst zu kommen und alles zu besitzen:
»Das ›Diesseits‹ oder das ›Vor-Ursprüngliche‹ oder das ›Prä-Liminare‹ be-
zeichnen – zwar durch Mißbrauch der Sprache – diese Subjektivität, die
früher ist als das Ich, früher als seine Freiheit und seine Nicht-Freiheit.
Vor-ursprüngliches Subjekt, außerhalb des Seins, in sich. Die Innerlichkeit
wird hier nicht mit irgendwelchen räumlichen Ausdrücken als das Volumen
einer umschlossenen und dem Anderen versiegelten Sphäre beschrie-
ben […]. […] Die Innerlichkeit ist die Tatsache, daß es im Sein etwas gibt,
was dem Anfangen vorausgeht […]. […] Es handelt sich hier um eine un-
übernehmbare Passivität, die sich nicht nennt oder die nur durch Miß-
brauch der Sprache genannt wird, Pro-nomen 386 der Subjektivität.« (HAM,
72 f/HAH, 82) 387
Wenn das Ereignis geschieht, wird das Ich auf seine Innerlichkeit,
seine Passivität zurückgeworfen – es verliert die Identität des reflexi-
ven, mit sich selbst identischen Bewusstseins, um von dem Anderen
betroffen zu werden. Diesen Prozess nennt Levinas »Rücklauf« (ré-

386 Mit dem »Pro-nomen« meint Levinas hier »Sich« (soi) – den Akkusativ der Passi-

vität der Subjektivität, der vor dem Nomen – dem Subjekt – geschieht. Levinas ver-
wendet oft das Wort »Akkusativ«, um die Subjektivität in der Begegnung mit dem
Anderen zu beschreiben. Der Akkusativ bedeutet, dass nicht Ich das Andere meint,
wodurch es zu einem Objekt wird, sondern das Andere meint Mich, bricht in mich
ein, zerstört meine Identität: »Das Subjekt wird beschreibbar als Sich, von vornherein
im Akkusativ (oder unter Anklage!) […].« (JS, 129/AQE, 69)
387 Dieses Früher-als-das-Ich wird bei Levinas unterschiedlich genannt. Wir ziehen

hier den Begriff »Innerlichkeit« vor, aber es kann auch genauso »das Vor-Ursprüng-
liche« (le pré-originaire), »Passivität« (passivité), »Subjektivität« (subjectivité), »der
Andere im Selben« (l’autre dans le même), »Sensibilität« (sensibilité), das Ich »im
Akkusativ« (à l’accusatif) u. a. genannt werden. Es ist interessant, dass Levinas, trotz
seiner grundsätzlich kritischen Einstellung gegenüber Husserl, der für ihn ein Denker
der Selben und der Totalität ist, bei ihm auch diese Idee des Vor-Bewussten, wo das
Andere begegnet wird, sieht. Auf der einen Seite nimmt Husserl alles im Selben auf
(GE/DI, 48/38, 133/159, 199/235; ZU, 105/EN, 97), aber, auf der anderen Seite, durch
die Aufdeckung des Lebens eröffnet er auch den Ort für das Andere vor dem Bewusst-
sein (GE/DI, 68 f/53 f, 196 f/232 f; ZU, 108 f/EN, 99 f). »Die Lebhaftigkeit des Lebens«
(GE, 72/DI, 56), »die passive Synthese der Zeit« (GE/DI, 92/87, 145/169), die Levinas
seinerseits »Geduld« (patience) nennt, »die lebendige Gegenwart« (ZU, 111/EN, 101)
sind Husserls Ideen, die seine Philosophie einer Philosophie des Anderen näher brin-
gen, indem sie einen »Bruch des Selben der Immanenz« (ZU, 111/EN, 102) andeuten.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

currence) 388. Hier kann eine Frage entstehen: Wie kann das Transzen-
dieren aus sich auf das Andere hin, von dem wir vorher gesprochen
haben, mit dem Rücklauf zum Sich des Akkusativs vereinbart wer-
den? Sind das nicht entgegensetzte Richtungen? Handelt es sich hier
nicht um einen Widerspruch des Ereignisdenkens? Eine mögliche
Antwort auf diese Frage wäre: Die Passivität der Innerlichkeit ist das
Sich-Öffnen zum Anderen hin, sie ist das Transzendieren aus sich
heraus. Nur wer sich vor seiner Selbstheit befindet, kann den Ande-
ren in sich aufnehmen. Das Zurücklaufen und das Hinlaufen sind
zwei Seiten einer Medaille – zwei Seiten des Ereignisses. Man ist
gleichzeitig in sich und außer sich.
Diese an das individuelle und unersetzbare Sich gebundene In-
nerlichkeit ist also notwendig für das Ereignis des Anderen:
»Das Individuelle und das Persönliche sind notwendig, damit das Unend-
liche sich als Unendliches ereignen kann.« (TU, 316/TI, 193)
»Das Menschliche heißt Rückkehr zur Innerlichkeit des nicht-intentionalen
Bewußtseins […].« (ZU, 186/EN, 170) 389
Eine weitere Frage kann entstehen, nämlich ob das Ereignis auf ein
Erlebnis reduzierbar ist, das eine Phänomenologie beschreiben könn-
te. Wenn die Philosophie des Ereignisses dazu kommt (und sie kommt
unausweichlich dazu), eine Situation zu beschreiben, in der sich der
vom Ereignis Betroffene vor oder jenseits der Subjekt-Objekt Bezie-
hung, der Noesis-Noema-Korrelation, des Verhältnisses von Er-
kenntnis und Sein befindet, lässt es sich fragen, ob es sich hier um
ein Erlebnis handelt. Wir erinnern uns, dass schon Heidegger in sei-
nem Ereignisdenken dieses Problem behandelt hat: Wenn das vorstel-
lende Denken das Sein nicht denken kann, ist das Sein dann vielleicht
ein Erlebnis, ein Gefühl, ein seelischer Zustand? Heideggers Antwort
auf diese Frage lautete: Das Sein als Ereignis wird gedacht, aber von
einem Denken, das sich nicht gegenüber dem Sein, sondern in ihm
aufhält und aus ihm spricht. Für Levinas wäre die Einführung eines
neuartigen Denkens allerdings keine Lösung, weil jedes Denken the-
matisiert, und indem es thematisiert, macht es das Thematisierte zu
einem Objekt für das Selbe. Aber auch ein Gefühl, der Genuss oder
auch die Unterbrechung des Genusses – Schmerz – sind genauso an

388
Die Rekurrenz: SA, 295–330/Sub; JS/AQE, 227 ff/130 ff, 251/144 f, 253/145 f.
Oder auch »Rückkehr« (retour) (ZU, 186/EN, 170).
389
Bereits in der Einleitung zitiert.

260

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

das Ich gebunden: Sie sind egoistisch, sie kennen das Andere nicht.
Das Ereignis der Begegnung mit dem Anderen ist also weder Er-
kenntnis noch ein präreflexives Erlebnis:
»Bedeutung [d. h. der Andere – L. P.], die dem Thema unangemessen bleibt,
obschon sie sich, um sich zu zeigen, in ihm ausbreitet. Man darf sie deshalb
doch nicht als »erlebte Bedeutung« [signification vécue – L. P.] auffassen.«
(JS, 309/AQE, 180)
»Man ist sogleich geneigt, eine solche Bedeutung Erlebnis zu nennen. Als
wäre die Bipolarität der Erlebten und des Thematisierten – die uns von der
Husserl’schen Phänomenologie her vertraut ist – nicht schon Ausdruck
einer bestimmten Weise, allen Sinn in Abhängigkeit vom Sein und vom
Bewußtsein zu interpretieren. Als könnte die Verantwortung des der-Eine-
für-den-Anderen nichts anderes ausdrücken als die Naivität eines unreflek-
tierten Erlebten, dem aber die Thematisierung verheißen ist.« (JS, 362/
AQE, 212) 390
Wenn die Begegnung mit dem Anderen als Ereignis weder ein Thema
für das Denken noch ein Erlebnis im subjektiven Erlebnisstrom ist,
wobei in beiden Fällen das Andere das Selbe ist, wie ist sie dann zu
beschreiben? Als Transzendieren aus sich selbst zum Anderen hin, als
die Passivität der Innerlichkeit – so wurde die Frage beantwortet.
Aber man darf nicht verwechseln: Das Ereignis ist das Außer-Sich,
aber nicht das Gefühl von Außer-Sich-Sein. Es ist die Versetzung in
die Passivität, aber nicht das Gefühl der Passivität in der Innerlichkeit.
Die Passivität ist nicht »Bewusstmachung dieser Passivität« (ZU, 162/
EN, 148). Genauso wenig ist es ein Gedanke vom Außer-Sich-Sein
oder der Begriff der Passivität. Ich erlebe nicht das Transzendieren
aus mir selbst: Ich transzendiere wirklich. Ich erlebe nicht die Passi-
vität: Sie geschieht mit mir als eine Wirklichkeit. Das Ereignis ist eine
Wirklichkeit, die mit mir geschieht: Es geschieht nicht in mir. Des-
wegen ist auch eine Phänomenologie des Ereignisses nicht möglich.
Ich bin nur ein Teil eines Geschehnisses, die meine unersetzbare In-
nerlichkeit als Passivität in Anspruch nimmt. Ich – genau ich – bin der
Betroffene. Es gibt kein Ereignis ohne ein Ich – ein Ich, verstanden
nicht als ein Bewusstsein, sondern als Einbruchstelle für das Andere;
verstanden als dasjenige, was anders sein kann als es ist.

390 Die Bedeutung ist weder etwas Objektives noch ein subjektives Erlebnis: SA, 200/

DEHH, 241; JS/AQE, 289/167, 391 f/231.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

5. Das Überschreiten des Denkens und


die Undenkbarkeit des Ereignisses

Der Andere in Levinas’ Philosophie ist kein Phänomen: Er ist keine


Vorstellung, sondern Heimsuchung. Das heißt: Er ist nur dort, wo
wir ihm begegnen. Diese Begegnung mit dem Anderen wird nie zu
einem Thema, Objekt eines Subjekts, weil sie nicht im Selben ge-
schieht – weder als sein Gedanke, noch als sein Erlebnis –, sondern
vor dem Bewusstsein, draußen bzw. drinnen, wo die Subjektivität auf
das Andere so trifft, dass sie es nicht zu ihrem inneren Besitz machen
kann. Die Begegnung mit dem Anderen ist ein Ereignis, weil sie nicht
ein Geschehnis des Selben ist, sondern ein Geschehnis mit ihm. Aus
diesem Grund ist sie »Unmaß« (démesure) gegenüber dem Denken,
»Überschreiten« (débordement) des Denkens, die »Unvergleichlich-
keit« (incommensurabilité) des Ereignisses mit dem Denken. Wir
müssen diesen Aspekt des Ereignisses nicht wie ein Merkmal unter
anderen aufnehmen: Er sagt, dass, wenn das Ereignis das Denken
überschreitet, keine Philosophie des Ereignisses möglich ist. Sie ist
unmöglich im Sinne Derridas; sie ist ein wahnsinniges Unternehmen
im Sinne Derridas.
Das Ereignishafte, die Beziehung mit dem Anderen, die Levinas
als »Sprache«, »Begehren« und »Nähe« denkt, ist also ein »Über-
schreiten« des Denkens, »Unmaß« gegenüber dem Denken:
»Die Gegenwart des Anderen oder der Ausdruck, die Quelle aller Bedeu-
tung, ist nicht Gegenstand der Betrachtung wie ein intelligibles Eidos, son-
dern wird verstanden wie die Sprache; darin entfaltet sich die Gegenwart
des Anderen nach außen. Der Ausdruck oder das Antlitz geht über die Bil-
der hinaus, die meinem Denken immer immanent sind, als kämen sie von
mir. Dieses Überschreiten, das nicht auf ein Bild des Überschreitens zurück-
geführt werden kann, ereignet sich nach dem Maß – oder Unmaß – des
Begehrens und der Güte als die moralische Asymmetrie zwischen mir und
dem Anderen.« (TU, 430/TI, 273)
»Die Nähe erscheint als Beziehung zum Anderen, die sich weder in ›Bilder‹
auflösen noch als Thema darstellen läßt; als Beziehung zu dem, was im Ver-
hältnis zur ἀρχή der Thematisierung nicht übermäßig ist, vielmehr ohne
gemeinsames Maß [incommensurable – L. P.] mit ihr, zu dem, was seine
Identität nicht vom kerygmatischen Logos erhält und was jeden Schema-
tismus zum Scheitern bringt.« (JS, 221/AQE, 126)

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

Und weil das Ereignishafte das Denken überschreitet bzw. unver-


gleichlich mit ihm ist, ist es »undenkbar« (impensable):
»Der Wille, der sich gegen den fremden Willen wehrt, muß diesen fremden
Willen als unbedingt äußeren, als unübersetzbar in die eigenen immanen-
ten Gedanken anerkennen. Der Andere kann nicht in mir enthalten sein,
wie groß auch immer der Umfang meiner Gedanken sei; meine Gedanken
werden daher durch nichts begrenzt: Der Andere ist undenkbar – er ist
unendlich und wird als solcher anerkannt.« (TU, 336/TI, 206 f) 391
Das Überschreiten und die Undenkbarkeit des Anderen werden von
Levinas auch so beschrieben, dass das Denken in der Immanenz des
Ich mehr denkt, als es eigentlich denkt:
»Die Andersheit des Anderen wird nicht annulliert, sie schmilzt nicht dahin
in dem Gedanken, der sie denkt. Indem es das Unendliche denkt, denkt das
Ich von vornherein mehr, als es denkt. Das Unendliche geht nicht ein in die
Idee des Unendlichen, wird nicht begriffen; diese Idee ist kein Begriff. Das
Unendliche ist das radikal, das absolut Andere. Die Transzendenz des Un-
endlichen mir gegenüber, der ich davon getrennt bin und es denke, stellt das
erste Zeichen seiner Unendlichkeit dar.« (SA, 197/DEHH, 239) 392
Doch was genau bedeutet dieses Überschreiten des Denkens und da-
mit die Undenkbarkeit des Ereignisses? Was genau wird damit ge-
sagt? Diese Fragen sind schwer zu beantworten, weil wir damit von
etwas zu sprechen versuchen, was nicht thematisierbar ist, zumindest
nicht so, dass es auch im Denken das wäre, was es vorher war. Wollen
wir auch nur den Unterschied zwischen dem Denkbaren und dem
Undenkbaren aufzeigen, kann es uns nicht gelingen, weil mit diesem
Denkakt schon alles zum Denkbaren verwandelt worden ist und da-
mit jeder Unterschied verschwunden ist. Mit anderen Worten: Stellt
das Selbe etwas vor, thematisiert es etwas, so nimmt es dieses Andere
in seinen Besitz, verwandelt es zu sich selbst, sodass alles zum Selben
wird. Levinas spricht in diesem Zusammenhang von der »Differenz«
(différence) (JS, 65 f/AQE, 29 f) zwischen dem Thematisierten und der
Exteriorität. Es gibt eine solche Differenz, aber man kann sie nicht
denken und zeigen, wo sie liegt. Aus folgendem Grund: Um einen
Vergleich zu machen, um einen Unterschied feststellen zu können,

391 Das Überschreiten des Denkens: TU/TI, 29 f/XV, 31/XVII, 58/18, 64/22, 81/33,

181/101 f, 320 f/196, 429 f/273; HAM, 44/HAH, 54; JS, 302/AQE, 175.
392 Das Denken, das mehr denkt als es denkt: SA/DEHH, 201/242, 225/274, 257/300;

HAM, 44/HAH, 54; TU, 81/TI, 33.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

müssen die Verglichenen schon einander ähnlich, einander angegli-


chen sein, zu einer Dimension gehören: in diesem Fall zum Denken.
Wir können also keine Differenz dort aufweisen, wo es sich um ein
Denkobjekt und ein Nicht-Denkobjekt handelt. Wir können um diese
Differenz wissen, aber der Begriff dieser Differenz bleibt leer. Möch-
ten wir ihn erfüllen, so müssen wir die Differierenden zu Denkobjek-
ten machen, womit jeder Unterschied verschwindet. 393
Es gibt also das Denkbare, das Undenkbare und die Differenz. Es
geht für Levinas – als einen Denker des Anderen, des Ereignisses –
nicht einfach um das Andere als das Undenkbare. Anders gesagt: Es
geht nicht darum, das Andere zu thematisieren und zu sagen, dass es
das Denken überschreitet und undenkbar ist. Es geht auch, oder eher
vielmehr, darum, dass es für das Denken des Anderen nie reicht, das
Andere als das Andere, als etwas vom Selben Unterschiedliches, d. h.
als etwas Undenkbares zu setzen, weil das Denken, das immer das
Denken des Selben, des Ich ist, die Differenz zwischen den Unter-
schiedlichen verschwinden lässt. Mehr als das Andere zu setzen und
zu denken, versucht Levinas das Denken selbst zu denken, um zu
zeigen, dass zuerst die verschwindende und undenkbare Differenz
im Denken zu denken ist, um dem Anderen wirklich und nicht nur
illusorisch näher zu kommen. Nicht das Denken des Anderen bringt
uns zum Anderen, sondern das Denken der Differenz zwischen dem
Denkbaren und dem Undenkbaren. Nur durch das Denken der Diffe-
renz kann man verstehen, inwiefern das Andere – das Ereignis – das
Denken überschreitet und undenkbar ist.
Welche Erkenntnisse ergeben sich aus diesem Denken des Den-
kens für das Verständnis der Begegnung mit dem Anderem als einem
Ereignis? Es wird also behauptet, dass das Andere, das Unendliche
keine Vorstellung im Selben ist, kein Thema, kein Denkobjekt für
das Selbe. Es wird behauptet, dass es sich hier um eine radikale Exte-
riorität handelt, die undenkbar ist. Diese These als solche sagt viel-
leicht sogar nichts Besonderes. Sie scheint etwas sogar Plausibles zu
äußern: Natürlich ist das Andere nicht unser Gedanke von ihm.
Selbstverständlich geschieht alles nicht in unserem Kopf, sondern

393 Die nicht aufzeigbare Differenz: JS/AQE, 66/29 f, 105 f/55 f. Die Differenz zeigt

also nicht die Differenz zwischen zwei im Selben gedachten Sachen, weil diese keine
Differenz mehr aufzeigen: »Die absolute Differenz kann nicht von sich aus den in
Differenz Stehenden die gemeinsame Ebene angeben.« (GE, 41/DI, 32) Und deswegen
kann man auch sie selbst nicht denkerisch einholen.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

auch draußen, im wahren Leben – auch die Begegnung mit anderen


Menschen. Und doch erliegt das Selbe, bei sich seiend, vorstellend,
fühlend, denkend einer merkwürdigen Täuschung, die vielleicht
leicht zu bekämpfen ist, die aber nur schwierig sich aufzeigen lässt,
um dann bekämpft zu werden. Levinas versucht diese Täuschung auf-
zudecken und endlich aufzulösen. Worum geht es bei dieser Täu-
schung? Darum, dass ein Bild für das Abgebildete, für das Wirkliche,
Reale gehalten wird, oder, eher gesagt, darum, dass überhaupt die
Welt durch den Bild-Abbild Dualismus betrachtet wird, ohne zu mer-
ken, dass sowohl das Bild als auch das Abgebildete beides nur Bilder
vom etwas sind, das radikal different zu ihnen beiden ist. Wenn man
denkt, dass das Bild und das Abgebildete unterschieden werden kön-
nen (und es ist auch möglich), übersieht man, dass in diesem dua-
listischen Schema auch das Abgebildete nur ein Bild ist. Das Selbe
denkt, dass es diese beiden Gegenteile und die Differenz zwischen
ihnen kennt, obwohl es hier keine Differenz mehr gibt. Die Täu-
schung liegt darin, dass das Abgebildete, das Reale für ein Abgebilde-
tes, für etwas Reales gehalten wird, was es nicht ist. Um nochmals zu
betonen: Die Täuschung liegt nicht darin, dass das Bild für das Wahre
gehalten würde 394, sondern darin, dass das Wahre für das Wahre ge-
halten wird, weil es als das Wahre gesetzt worden ist. 395 Das Problem
liegt also nicht darin, dass das Selbe das Andere für das Selbe halten
würde, sondern darin, dass das Selbe das Andere als das Andere be-
stimmt hat und das so Bestimmte für das Andere hält. Wir können
das Erläuterte mit einem Beispiel veranschaulichen. Wenn man je-
mandem einen Würfel zeigen würde und fragen würde, was das ist,
so würde er antworten, dass das ein Würfel ist. Wenn man danach
eine Zeichnung eines Würfels zeigen und wieder fragte würde, was
das ist, so würde er wahrscheinlich wieder antworten, dass dies ein
Würfel ist. Man könnte ihn bitten, diesen zweiten Würfel zu würfeln.
Das ist natürlich nicht möglich. Es ist gleich zu merken, dass diese
beiden Würfel sich wesentlich voneinander unterscheiden. Man kann
den ersten Würfel zum Beispiel nicht wegradieren oder zusammen-

394 Aber auch diese Täuschung ist durchaus real und lebendig, zum Beispiel, wenn in

der Schule die Schüler die Sonnenfinsternis, die gerade draußen stattfindet, auf der
Leinwand beobachten und denken, dass sie die Sonnenfinsternis sehen.
395 Eine philosophische und kulturkritische Analyse des Verhältnisses zwischen dem

Zeichen und der Wirklichkeit und unserer Auffassung diesbezüglich siehe in den
Werken von Jean Baudrillard, zum Beispiel in seinem Werk Simulacres et Simulation
(1981).

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

falten oder ausschneiden; mit dem zweiten kann man kein Würfel-
spiel spielen oder ihn mit einer bestimmen Fläche nach unten in den
Regal stellen. Und obwohl diese gravierenden Unterschiede zu erken-
nen sind, werden diese beiden so unterschiedlichen Sachen mit ein
und demselben Wort bezeichnet. Und das ist scheinbar berechtigt,
weil trotz aller Unterschiede eine wesentliche Ähnlichkeit zwischen
beiden Würfeln besteht. Hier handelt es sich nicht um die Homo-
nymie, sondern wirklich darum, dass scheinbar dieselbe Sache mit
gleichem Wort bezeichnet wird. Es ist durchaus möglich, dass man
irgendwann zum Schluss kommt, dass der Unterschied zwischen
einem Würfel, mit dem man eine Sechs würfeln kann, und einem
Würfel, den man ausschneiden kann, so gravierend ist, dass man sie
nicht mit ein und demselben Wort bezeichnen darf. Also, einer der
Würfel ist kein Würfel. Wenn man den ersten Würfel als »Würfel«
bezeichnen möchte, dann müsste man unter den anderen schreiben:
»Dies ist kein Würfel.« So hat das René Magritte in seinem berühm-
ten Werk La trahison des images (1926) mit dem Abbild einer Pfeife
gemacht. Kein Bild einer Pfeife, so perfekt es auch sein mag, ist eine
Pfeife. Wenn man Levinas’ Texte liest, dann scheint es, dass er un-
ermüdlich auf die Abbildungen des Anderen in uns – sei es eine Vor-
stellung, ein Begriff, ein Gedanke – zeigt und sagt: »Dies ist nicht das
Andere.«
Doch damit ist die Täuschung noch nicht aufgelöst. Wie gesagt,
liegt sie nicht darin, dass ein Bild für das Abgebildete gehalten würde.
Es ist leicht einzusehen, dass man mit einem Bild nicht würfeln kann,
dass es nur ein Bild ist. Und man könnte vielleicht alle diese Über-
legungen für Haarspalterei halten und vorschlagen, dass, wenn schon
jemand so akribisch ist, er immer zu einem Bild sagen kann: »Das ist
ein Bild von …« Als handle es sich hier nur um den Sprachgebrauch,
nämlich um eine Abkürzung im Sinne, dass man sagt: »Das ist …,«
aber denkt: »Das ist ein Bild von …« Die Täuschung bleibt, weil diese
dualistische Bild-Abbild-Weltansicht nicht in Frage gestellt wird. Es
gibt Bilder und es gibt das, was abgebildet wird, abgebildet auf unter-
schiedlichste Art und Weise – gezeichnet, bezeichnet, vorgestellt, be-
grifflich gedacht etc. Man weiß und versteht, dass das so ist. Es wird
stillschweigend angenommen, dass man, wenn man darum weiß,
leicht und ohne Probleme, wann immer man es will, vom Bild zum
Abgebildeten überspringen kann: so wie in diesem Fall mit dem Wür-
fel. Wenn man den realen Würfel möchte, muss man sich ihm nur
zuwenden. Aber genau hier liegt die Falle. Der wirkliche Würfel, der

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

als Gegensatz zum im Bild dargestellten Würfel erscheint, ist nur ein
Bild von einem Würfel – er ist ein schon im vorstellenden Denken
begrifflich bearbeiteter Würfel, dem solche Merkmale wie »real«,
»mit viereckigen Flächen«, »rot« etc. zugeschrieben werden. Es ist
nur ein Bild, weil nur ein Bild mit einem Bild verglichen werden
kann, und die Absicht war, einen Vergleich zu machen, die Differenz
herauszuarbeiten. Diesen Sachverhalt kann man wieder mit einem
Werk von Magritte veranschaulichen. Auf seinem Gemälde Les deux
mystères (1966) ist eine Staffelei abgebildet, die sich in einem Zim-
mer befindet und auf der das Werk La trahison des images steht. Über
dieser Staffelei schwebt eine Pfeife in der Luft. Sie könnte eine Zeich-
nung auf der Wand sein. Andererseits könnte sie – im Vergleich zum
auf der Staffelei stehenden Bild – den gleichen Realitätsgrad wie das
Zimmer haben, in dem diese Staffelei steht. Man könnte das Werk
Les deux mystères so auffassen, dass es die Idee des Werkes La trahi-
son des images zeigt – zeigt, dass es eine reale Pfeife gibt und ein
Abbild von dieser Pfeife und dass dieses Abbild keine Pfeife ist. Hier
kann man deutlich sehen, dass wir zu sagen neigen, dass die Pfeife, die
in der Luft schwebt, eine reale Pfeife ist – im Vergleich zur Pfeife, die
als ein Abbild dargestellt wird. Doch sie ist auch nur ein Abbild auf
einem Gemälde (die Zweideutigkeit dieser Pfeife wird dadurch ge-
zeigt, dass es nicht klar ist, ob sie wirklich oder nur abgebildet ist).
Aber das merkt man erst später, wie kurz auch die Verzögerung sein
möge. Zuerst wird die schwebende Pfeife als eine solche aufgefasst,
die mehr real ist als die Pfeife im Kunstwerk auf der Staffelei. Es gibt
noch andere Werke von Magritte, die diese Eigentümlichkeit unserer
Auffassung illustrieren können, zum Beispiel La condition humaine
(1933 und 1935). Im Gemälde La condition humaine von 1933 ist
wieder eine Staffelei zu sehen, auf der ein Bild von einer Landschaft
zu betrachten ist. Dieses Kunstwerk steht vor einem Fenster, aus dem
diese Landschaft zu sehen ist. Und das Bild passt perfekt zu dieser
Landschaft, als ob es ein reales Stück von ihr wäre. Das zeigt, erstens,
dass wir das Bild für die Realität halten, aber das zeigt auch, dass,
wenn wir diese Täuschung auflösen, wir einer neuen Täuschung er-
liegen, nämlich, dass wir ein Bild für realer halten als ein anderes. Im
Werk La condition humaine von 1935 ist wieder ein Kunstwerk zu
sehen, das die Realität – diesmal einen Strand – ergänzt, ein Stück
von ihr ist, sie ersetzen kann. 396

396
Eine äußert interessante philosophische Interpretation zum Werk Magrittes gibt

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Für eine Philosophie des Anderen, des Ereignisses, reicht es also


niemals zu sagen, dass das Andere nicht eine Vorstellung im Selben
ist, es muss auch noch gesagt werden, dass das Denken, das diese
Unterscheidung macht, das Andere nicht erreicht, weil es wieder ein
Denken des Selben ist, in dem alles aus dem Denken, aus dem Selben
gemacht worden ist. Wie auf einem Bild alles Unterschiedliche aus
Farbe besteht, so besteht im Denken alles aus Denken: Es gibt keine
Differenzen. Alles ist ein und dasselbe, das Selbe. Wenn es aber die
Exteriorität gibt, überschreitet sie das Denken, bleibt undenkbar und
dies in zweifacher Bedeutung: Sie ist nicht nur undenkbar, sondern so
undenkbar, dass man sie nicht als undenkbar setzen kann. Wenn
Levinas über das »Mehr als Denken« spricht, dann definiert er nicht
das Andere als undenkbar, weil es das Andere gegenüber dem Selben
ist, sondern, indem er die Eigentümlichkeit des Denkens des Selben
thematisiert, zeigt, dass das Andere auch undenkbar in der Gegen-
überstellung vom Selben und Anderen ist. Es ist radikal außerhalb
jedes Denkens. Das Andere, das im Denken als das Andere im Gegen-
satz zum Selben gesetzt wird, ist nichts anderes als das Selbe. Die
abgebildete wirkliche Pfeife ist nicht wirklicher als die abgebildete
Pfeife. Das ist es, was Levinas in seinem Denken des Denkens zu zei-
gen versucht, um dem Ereignishaften in seiner radikalen Exteriorität
näher zu kommen.
Aber die Undenkbarkeit des Ereignisses heißt nicht, dass es keine
Beziehung zu dem Anderen gibt. Und dies zu sagen, ist genauso wich-
tig, wie die Undenkbarkeit und die Undenkbarkeit der Undenkbarkeit
zu behaupten ist. Unermüdlich wiederholt Levinas, dass es eine Be-
ziehung zu dem Anderen gibt, dass sie kein Wissen ist, sondern des-
sen Überschreitung; und dass das Außer-sich der Immanenz etwas
»Besseres« als das Denken ist:
»Das Unendliche, das Transzendente, den Fremden denken, heißt also nicht,
einen Gegenstand denken. Aber das zu denken, was nicht die Konturen des
Gegenstandes hat, heißt in Wirklichkeit, mehr oder Besseres zu tun als zu
denken.« (TU, 61/TI, 20)
Der philosophische Diskurs muss also zuerst die Differenz zwischen
dem Denkbaren und Undenkbaren denken, aber dieses Denken be-
steht nicht einfach darin, etwas Undenkbares zu setzen, sondern zu-

Michel Foucault in seinem kleinen Buch Ceci n’est pas une pipe (1968) (deutsche
Übersetzung von Walter Seitter: Dies ist keine Pfeife. München: Hanser, 1974).

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

letzt darin, auf die »irreduzible Struktur des Psychismus« (DI, 193),
auf das Lebendige des Lebens zu verweisen. 397 Das Bessere als das
Denken ist das Leben: Es ist die Überschreitung des Denkens. Dem
Anderen begegnet man im Leben. In Autrement qu’être heißt es: Wir
transzendieren aus uns, wir tun etwas mehr und besseres als zu den-
ken, wenn wir durch unsere Sinnlichkeit die Welt in ihrer Lebendig-
keit erleben, wenn wir in der Nähe zu den Anderen sind.
Hinsichtlich des Ereignisses muss man also festhalten, dass das
Ereignis mehr als das Denken ist. Es geschieht nicht im Denken und
dies im radikalen Sinne des Wortes: Das Ereignis wird nicht nur als
Überschreiten des Denkens gesetzt, sondern geschieht auch wirklich
nur dann, wenn das Ich aus sich heraus geworfen wird. Und es wird
aus sich geworfen, wenn es der Gegenwärtigkeit ausgesetzt wird und
sich nicht in die Repräsentation bei sich zurückzieht. 398 Die Undenk-
barkeit des Ereignisses ist also nicht formal, sie definiert es nicht,
sondern geschieht wirklich. Das Überschreiten des Denkens und die
Denkbarkeit sind selbst ereignishaft: Sie sind keine Eigenschaften,
sondern Geschehnisse, die mit jemandem geschehen. Und weil sie
keine Eigenschaften sind, sondern Ereignisse, kann man über sie
nicht sprechen. Man kann nur etwas über den Begriff des Ereignisses
sagen, nicht aber über das Ereignis selbst: Es ist undenkbar. Das Den-
ken des Ereignisses ist kein Ereignis. 399 Und genauso wenig ist das

397
Ein Denken, das alles nicht gleich macht, ist – erstens – »das von einer irreduzier-
baren Differenz beherrschte Denken« (GE, 209/DI, 243). Und es ist – zweitens – ein
»[…] Denken, in dem die Nähe des Nächsten, das auf die Erfahrung nicht reduzier-
bare Verkehren mit dem Anderen, die Annäherung an den ersten Besten bedeutet.«
(GE, 211/DI, 244)
398 Das Andere ist die »Gegenwart« (présence) des Anderen, also nicht etwas, sondern

der Moment, in dem es da mit mir ist. Dazu siehe zum Beispiel: TU/TI, 88/38, 93/41;
SA, 283/DEHH, 321.
399 Das Ereignis ereignet sich, man kann es nicht ins Denken verlagern. Trotzdem

passiert es immer wieder, dass man das Ereignis in seinem Abbild zu finden glaubt:
in der Kunst, in der Dichtung oder auch in der Philosophie. So schreibt zum Beispiel
Boundja, der die Philosophie des Ereignisses bei Levinas behandelt: »Les recherches,
dont nous présentons ici les résultats, visent à analyser l’événement comme le concept
fondamental de la phénoménologie d’Emmanuel Levinas. Cette phénoménologie elle-
même se présente comme un événement. Phénoménologie qui laisse advenir la diffé-
rence de l’autre: la venue de l’autre dans sa différence est un événement, et la pensée
qui tente de dire cette venue est aussi un événement. […] La pensée de l’événement
est, en même temps, un événement de la pensée.« (Boundja, 9) In diesem Kapitel
haben wir versucht zu zeigen, dass dies unmöglich stimmen kann. Das Denken des

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Ereignis in der Kunst darstellbar. Es kann höchstens nur wiederholt


werden, um es selbst bleiben zu können.

6. Aus sich heraustreten: das Begehren

Das Andere ist kein Objekt für ein Subjekt, sondern eine wirkliche
Beziehung zum Anderen. Die Philosophie Levinas’ stellt keine Phi-
losophie des Anderen dar, die das Andere als eine Substanz themati-
sieren würde, sondern eine Philosophie der Beziehung zum Anderen,
die auffordert, diese Beziehung nicht nur zu thematisieren und zu
denken, sondern wirklich zu vollziehen. Im gewissen Maße findet
diese Beziehung schon immer statt, weil jedes Denken ein Sich-
dem-Anderen-Zuwenden, ein Gespräch ist, das die Anderen schon
immer vorausgesetzt hat. Doch nur als eine Beziehung, die nie auf-
hört einzutreten, ist sie ein Ereignis. Das Ereignis ist die wirkliche
Beziehung mit dem Anderen, oder – wenn wir von dem inhaltlichen
Aspekt des Levinas’schen Ereignis absehen – das Sich-Befinden in
einer Situation, in einem Zusammenhang der Dinge und Gescheh-
nisse.
Die Beziehung zu dem Anderen als Ereignis ist das Überschrei-
ten des Denkens, mehr als das Denken, weil sie ein Transzendieren
aus sich heraus zum Anderen hin ist. Um diese Art der Bewegung des
Selben zu beschreiben, verwendet Levinas – vor allem in Totalité et
infini – den Begriff »Begehren« (désir). Im Jahr 1957 schreibt er:
»Die Idee des Unendlichen ist ein Denken, das in jedem Augenblick mehr
denkt, als es denkt. Ein Denken, das in jedem Augenblick mehr denkt, als es
denkt, ist Begehren.« (SA, 201/DEHH, 242)
Im Vergleich zu den späteren Versuchen, die Beziehung zu dem An-
deren außerhalb der Immanenz des Ich zu verorten, beschreibt das
Konzept des Begehrens diese Bewegung aus dem Selben heraus eher
negativ, d. h. als die Unmöglichkeit, das Andere als ein Objekt im
Selben zu beinhalten. Weil es nicht im Selben ist und weil die Relati-
on zu ihm nicht im Selben stattfindet, ist es unendlich 400 und absolut.
Diese Unmöglichkeit, die radikale Exteriorität zu erreichen, wird als

Ereignisses ist nie dasjenige Ereignis, das gedacht wird: Es kann höchstens ein anderes
Ereignis sein, zum Beispiel der Einfall einer genialen Idee.
400 Der Andere ist unendlich, das Unendliche – hier bezieht sich Levinas auf Descartes

und seine Idee von der unendlichen Substanz, die nicht im Ich enthalten werden kann.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

eine ontologisch-ethische Situation des Selben charakterisiert und


vom inneren »Bedürfnis« (besoin) unterschieden. Die Ursache des
Bedürfnisses ist innerlich und es ist auf der Suche nach seiner Befrie-
digung, die es auch findet. Die Ursache des Begehrens ist dagegen das
Andere, weil es radikal anders ist und weil es ständig dem Zugriff des
Selben entzieht. Das Begehren ist eine unaufhörliche Bewegung zum
Anderen hin, das keine Befriedigung findet:
»Das Begehren ist ein Streben, das vom Begehrten belebt wird; es entsteht
von seinem ›Gegenstand‹ her, es ist Offenbarung. Das Bedürfnis dagegen ist
eine Leere des Seele, es geht vom Subjekt aus.« (TU, 81/TI 33)
»Das Begehren ist Begehren des absolut Anderen. Unabhängig vom Hun-
ger, den man sättigt, vom Durst, den man löscht, von den Sinnen, die man
befriedigt, begehrt die Metaphysik das Andere jenseits aller Befriedigung.«
(TU, 37/TI, 4) 401
Dieses Begehren hat nicht nur etwas Negatives an sich im Sinne, dass
es einen Bezug charakterisiert, in dem es unbefriedigt bleibt. Dieses
Verhältnis ist positiv als die Beziehung zu der Andersheit zu ver-
stehen, in der die Andersheit als Andersheit verstanden und bewahrt
wird:
»Begehren ohne Befriedigung, das gerade darum das Wachsen der Ferne,
die Andersheit und die Exteriorität des Anderen versteht [entend – L. P.].
Für das Begehren hat diese Andersheit, die der Idee inadäquat ist, einen
Sinn. Sie wird verstanden als die Andersheit des Anderen und des Er-
habenen.« (TU, 37/TI, 4) 402
Das Begehren heißt, zu verfolgen und nicht im Selben als ein Besitz –
in der Art einer Vorstellung, eines Phänomen oder eines Themas –
aneignen zu können; immer auf dem Weg zum Anderen zu sein, ohne
je ankommen zu können. In der Tat bewahrt das Begehren nicht nur
die Andersheit des Anderen, sondern fühlt sich auch nicht »unbe-
friedigt«. Das Begehren unterscheidet sich vom Bedürfnis dadurch,
dass es seine Nicht-Erfüllung nicht negativ wahrnimmt. Ganz im
Gegenteil: »[D]ie soziale Beziehung ist besser als das Sich-selbst-Ge-
nießen.« (GE, 147/GI, 171) Das Begehren ist »besser« (vaut mieux)
als ein Bedürfnis zu befriedigen. Einen Anderen zu begehren ist bes-
ser, als ihn zu haben.

401
Das Begehren, das Begehren im Gegensatz zum Bedürfnis: TU/TI, 35 ff/3 ff, 260 f/
154, 433 f/275; SA, 201 f/DEHH, 242 f; HAM, 37 f/HAH, 48 f; EU, 71/EI, 86 f.
402
Das Begehren als Beziehung mit dem Anderen: TU, 260 f/TI, 154; EU, 71/EI, 86 f.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Das Verhältnis im und zum Ereignis im Allgemeinen kann als


ein Begehren charakterisiert werden. Das Begehren heißt, das zu ver-
folgen, was verfolgt werden will, und das sich doch immer entzieht.
Wenn man zum Beispiel einen Satz hört und ihn im Gedächtnis be-
halten will, so ist es ohne Probleme möglich: Man »kopiert« das Ge-
sagte und »speichert« im Gedächtnis. Man besitzt diesen Satz. Wenn
ein Bedürfnis besteht, sich an ihn zu erinnern, ruft man ihn einfach
ins Gedächtnis zurück. Dies stellt die Grundstruktur des Selben da:
anzueignen, was anzueignen ist, zu besitzen, nach Belieben zu ver-
gegenwärtigen, auf seinen Besitz zurückzugreifen. Im Gegensatz zu
einem Etwas fällt das Ereignis aus diesem Schema heraus. Wenn je-
mand von einer Landschaft beim Sonnenuntergang überwältigt wird,
will er selbstverständlich diesen Moment für immer behalten. Um
ihn behalten zu können, muss er diesen Augenblick, diese Situation,
dieses Ereignis begreifen, d. h. auf eine gegenständliche Bedeutung zu
reduzieren. Aber dadurch gewinnt man nur Bruchstücke des Ereig-
nisses: die Berge, den Wald etc. Dieser Augenblick selbst als ein Gan-
zes, als ein Ereignis entzieht sich dagegen diesem Zugriff. Aber man
will ihn haben. Und das ist die Situation des Begehrens: das haben zu
wollen, was nicht zu haben ist, was von sich selbst einbricht, sich
nicht begreifen lässt und sich jeder Vergegenwärtigung entzieht.
Auch der andere Mensch äußert sich auf sichtbare und verständliche
Art und Weise: durch Worte, Gestik, Verhaltensweise etc. Aber seine
radikale Andersheit liegt darin, dass er die nicht erreichbare Quelle
dieser Ausdrücke ist, dass er eine unauslotbare Tiefe hinter der Sicht-
barkeit ist. Man kann die Worte des Anderen besitzen – im Sinne,
dass man sie versteht, weitergibt oder sogar aufzwingt – aber diese
Tiefe ist nicht zu begreifen und zu besitzen – sie ereignet sich wie ein
Ereignis. Das Ereignis des Anderen ist die Begegnung mit dieser Tiefe
des Anderen und diese Tiefe ist das, was das unerreichbare Ziel des
Begehrens darstellt. Jedes Ereignis hat hinter dem Sichtbaren, hinter
dem Greifbaren diese Tiefe, die ein Begehren auslöst, das unstillbar
bleibt.
In der Philosophie nach Totalité et infini versucht Levinas, den
Bezug zum Anderen nicht nur negativ als Unerreichbarkeit zu be-
stimmen, sondern positiv: Er sucht die Möglichkeit, irgendwelche Si-
tuationen aufzuzeigen, in der das Selbe und das Andere miteinander
sind, ohne dass das Andere seine Andersheit im Selben verloren wür-
de. Eine solche Situation ist die der Sinnlichkeit (sie trifft aber nicht
das Andere als den anderen Menschen), eine andere – die der Nähe

272

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

(der zwischenmenschlichen Nähe). In dieser Gedankenentwicklung


gewinnt auch der Begriff des Begehrens eine positive Bedeutung und
entwirft den Gedanken von solcher Art der Beziehung zu dem Ande-
ren, die dann als Nähe, Verantwortung und Stellvertretung ausgelegt
wird. Im Aufsatz La trace de l’autre (1963) ist diese Veränderung des
Begriffes des Begehrens und seine Ähnlichkeit mit dem Begriff von
Nähe und Verantwortung deutlich zu erkennen. Hier ist das Begeh-
ren nicht mehr die Unmöglichkeit, den Anderen zu vereinnahmen,
sondern die Bewegung zum Anderen hin:
»[D]em Subjekt, dem es nach der Formel Heideggers ›in seinem Sein um
dieses Sein selbst geht‹ ; dem Subjekt, das sich derart als Sorge um sich
selbst bestimmt – und das im Glück sein ›Für-sich‹ vollzieht –, stellen wir
das Begehren des Anderen entgegen, das von einem schon erfüllten und
unabhängigen Seienden ausgeht und das nichts für sich selbst verlangt. Be-
dürfnis dessen, der keine Bedürfnisse mehr hat, gibt es sich zu erkennen in
dem Bedürfnis nach dem Anderen, dem Anderen als Mitmensch;« (SA,
218 f/DEHH, 269)

7. Aus sich heraustreten: die Sensibilität

Das Verhältnis zum Ereignishaften ist kein Subjekt-Objekt Verhält-


nis, in dem das Ereignishafte unser durch das Denken gesetztes The-
ma ist und seine Exteriorität und Andersheit schon verloren hat. Das
Ereignishafte überschreitet das Denken, die Prozesse der Immanenz.
Es ist in einer Differenz zur Immanenz des Bewusstseins, in einer
Differenz, die so radikal ist, dass man sogar nicht sagen kann, worin
sie liegt, weil jedes Differieren ein Denken ist, das alles zum Denk-
objekt verwandelt. Das Denken selbst kann die Differenz also nicht
feststellen, nur das Ereignishafte selbst kann sich von ihm differieren.
Und es differiert sich, es geschieht. Kann es ein Bezug zu diesem Er-
eignis des Ereignishaften geben, der es nicht zerstört? Eine Möglich-
keit ist das Begehren, obwohl es noch fraglich ist, ob das Begehren ein
wirkliches Im-Ereignis-Sein und nicht bloß eine Bewegung der In-
tentionalität in Richtung seines Gegenübers ist. Eine andere Möglich-
keit für das Geschehen des Ereignisses, ist die »Sensibilität« (sensi-
bilité), die grundsätzlich an die Leiblichkeit gebunden ist. 403 Genau

403 Dass das Ereignis bei Levinas zumindest teilweise in der Sensibilität zu verorten

ist, behauptet auch Boundja: »Cette recherche nous permettra de comprendre commet

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

durch den Leib ist uns die Exteriorität in ihrer Transzendenz, Gegen-
wärtigkeit und Wirklichkeit gegeben. Der Leib gibt uns ursprüng-
lichere Erfahrung von der Welt als die Erkenntnis. Man muss natür-
lich beachten, dass das Konzept des Leibes bei Levinas – genauso wie
in der ganzen phänomenologischen Tradition seit Husserl und ins-
besondere bei Merleau-Ponty – nicht dem traditionellen Begriff des
Leibes entspricht. Für die Phänomenologie ist der Leib nicht bloß ein
Organ der Sinnlichkeit, das Daten sammelt, die dann zu den Sinnes-
objekten konstituiert werden und als Vorstufe des Wissens oder des-
sen Material gelten. 404 Die Sensibilität des Leibes hat nichts mit der
Erfahrung oder Erkenntnis zu tun, sondern ist das Transzendieren
nach außen, Passivität, Ausgesetztheit dem Anderen, Unmittelbar-
keit, Nähe. Das denkende Subjekt tritt aus sich heraus nicht durch
das Denken, sondern durch den Leib. Durch den Leib ist die Subjek-
tivität bei dem Anderen, in ihm:
»Der Sprung der Transzendenz, der von der Seele zum Körper geht, ist
absolut. In einem ›bestimmten Augenblick‹ ist der Springer wahrhaftig nir-
gends; Die Transzendenz geschieht in der Kinästhese 405; in ihr überschreitet
sich das Denken nicht dadurch, daß es einer objektiven Realität begegnet,
sondern indem es eine leibliche Bewegung vollzieht.« (SA, 149/DEHH,
196)
»Das Denken geht nicht über sich hinaus, indem es auf eine objektive Rea-
lität trifft, sondern indem es in diese vermeintlich weit entferne Welt ein-
tritt. Der Leib, Nullpunkt der Vorstellung, ist jenseits dieses Null; er ist
schon in der Welt, die er konstituiert, sie sind ›nebeneinander‹ und gleich-
zeitig ›gegenüber‹ ; er bildet die Mischung, die Merleau-Ponty fundamen-
tale Geschichtlichkeit nennen wird.« (SA, 180/DEHH, 221 f)
»Fühlen, das heißt, darinsein […].« (TU, 192/TI, 108) 406

la relation avec autrui se réalise dans la sensibilité, comme événement du sensible.«


(Boundja, 38; siehe auch: Boundja, 110 f)
404 Dazu siehe: JS, 142 ff/AQE, 77 ff.

405 Levinas interpretiert hier Husserl. Für Husserl sind die Kinästhesen die Bewegun-

gen des Leibes, durch die ein sinnliches Objekt konstituiert werden kann. Kinästhesen
können zum Beispiel die Bewegungen der Augen sei, um einen großen Gegenstand zu
fassen, oder das Betasten eines Gegenstandes mit den Händen, um seine Form zu
erkunden. Siehe auch: SA, 177/196.
406
Der Leib als das Aus-sich-Heraustreten, das In-Sein: SA/DEHH, 95 f/166 f, 145/
193 f, 148 ff/195 ff, 174/217, 179/221; TU/TI, 186 f/104 f, 195 f/111; HAM, 19/HAH,
27.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

Die Sensibilität bedeutet, unmittelbar am Anderen zu sein. Die Un-


mittelbarkeit bedeutet, etwas so zu erfahren, wie es hier und jetzt ist,
wie es wirklich ist 407, nicht wie es später durch ein Bild im Denken
vermittelt wird. Das Ereignishafte ist nur in einer solchen Unmittel-
barkeit möglich: durch die Passivität, die die Leiblichkeit ist, die das
Einzige ist, das in die Wirklichkeit eintritt und so das Ereignis ge-
schehen lässt. Eine abgründige Differenz besteht zwischen einer
schönen Frau, an die man denkt, und dieser Frau, wenn man sie sieht,
wenn man ihr gegenübersteht. Es ist die Differenz zwischen dem
Denken und der Wirklichkeit, die sich durch die Unmittelbarkeit der
Sensibilität des Leibes ereignet.
Die Sensibilität – von Levinas auch »Genuss« (jouissance) oder
»Genießen« (le jouir) genannt 408 – wird allerdings auch nicht als Ge-
genstück zum Bewusstsein, zum Denken aufgefasst, sondern eher als
ein einverleibtes, inkarniertes Denken, das anders als begriffliches
Denken »denkt« und seine eigene Intentionalität hat. In der Sensibi-
lität, im Genuss oder Schmerz, wird die Exteriorität anders »ange-
zielt« und »verstanden« als im vorstellenden Denken – sie wird ge-
nossen oder auch schmerzhaft erfahren, aber auf diese Weise als
Exteriorität bewahrt:
»Die Intentionalität des Genusses kann durch den Gegensatz zur Intentio-
nalität der Vorstellung beschrieben werden. […] Sie [Intentionalität des
Genusses – L. P.] besteht darin, an der Exteriorität, die von der in der Vor-
stellung implizierten transzendentalen Methode aufgehoben wird, fest-
zuhalten. An der Exteriorität festzuhalten, ist nicht einfach gleichbedeutend
damit, die Welt zu bejahen, sondern besteht darin, sich in ihr leiblich zu
setzen. Der Leib ist die Erhebung, aber auch das ganze Gewicht der Set-
zung.« (TU, 179/TI, 101) 409
Aber das, was die Sensibilität genießt, ist kein Etwas. Sie ist keine
Objektbezogenheit:
»Im Augenblick kommt es uns darauf an zu zeigen, daß die Sinnlichkeit
dem Bereich des Genusses angehört und nicht dem Bereich der Erfahrung.
Die so verstandene Sinnlichkeit ist nicht identisch mit den noch schwan-

407 Die Unmittelbarkeit, Hier und Jetzt, Wirklichkeit: SA/DEHH, 94 f/165 ff, 172/

215, 274 ff/314 f, 279/317 f.


408 Zum Zusammenhang zwischen Sensibilität und Genuss siehe zum Beispiel: TU,

190, JS, 146 ff.


409 Zur Intentionalität der Sinnlichkeit siehe auch: SA/DEHH, 93/165, 95/166, 145/

193.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

kenden Gestalt des ›Bewußtseins von‹. […] Die Sinnlichkeit intendiert kei-
nen Gegenstand, auch nicht einen noch unausgebildeten Gegenstand. […]
aber ihre eigentliche Leistung besteht im Genuß, der jedes Objekt im Ele-
ment, in dem der Genuß badet, auflöst.« (TU, 194 f/TI, 110)
Mit anderen Worten: Das, was die Sensibilität liefert, ist keine sinn-
liche Anschauung. Levinas ist der Ansicht, dass die sinnliche An-
schauung, so wie sie in ihrer klassischen Interpretation als Vorstufe
oder Gegensatz zum begrifflichen Denken gedacht wird, die Exterio-
rität in ihrer Unmittelbarkeit nicht erreicht, weil sie schon eine »be-
griffliche Bearbeitung« erlitten hat, weswegen sie bereits gegenständ-
lich ist. 410 Diese Interpretation setzt voraus: Wenn wir anschauen,
etwas sehen, fühlen, hören etc., ist dieses Sehen, Fühlen, Hören schon
ein Sehen, Fühlen und Hören von etwas, von einem Objekt, das aber
vom Denken gesetzt wird. Das Gesehene, Gefühlte, Gehörte wird nur
zur sinnlichen Qualität eines Objekts, das gedacht wird. Bei der sinn-
lichen Anschauung geht es also letztendlich um ein Objekt für ein

410
Die »sinnliche Anschauung« (intuition sensible) ist schon eine begrifflich bearbei-
tete Erfahrung, weswegen sie die Exteriorität nicht erreicht: SA, 275 f/DEHH, 315, JS/
AQE, 145 f/79, 151 f/83, 154/84. Zu der »klassischen« Interpretation der Sinnlichkeit
zählt Levinas auch Husserls und Heideggers Ansatz. Genauer gesagt: Levinas ist der
Auffassung, dass sie das Unmittelbarste nicht erreicht haben und dem Intellektualis-
mus verhaftet geblieben sind (zum Husserl siehe: SA, 263 f/305 f; JS/AQE, 89 ff/45 ff,
150 ff/82 ff, 181/101; zu Heidegger siehe: JS/AQE, 155/85, 181/101, ZU, 14 f/EN, 16).
Levinas Bezug zu Husserl ist in diesem Punkt allerdings nicht eindeutig. Auf der
einen Seite ist er der Meinung, dass die Husserl’sche Phänomenologie nur das Be-
wusstsein, das Objekthafte für das Bewusstsein analysiert. Diese Interpretation geht
auf seine erste Auseinandersetzung mit Husserl in seinem ganz frühen Werk Théorie
de l’intuition dans la phénoménologie de Husserl (1930) zurück. Auf der anderen
Seite sieht er – wie das in seiner Auseinandersetzung mit Husserl in En découvrant
l’existence avec Husserl et Heidegger (1949) und in späteren Werken zu beobachten
ist – in solchen Konzepten Husserls wie Urimpression, Vor-Prädikative, Leib und Kin-
ästhese, Horizont die Eröffnung zum Vor-Objekthaften, zu dem, was geschieht, bevor
das Objekt konstituiert wird (siehe zum Beispiel: SA, 93 ff/164 ff, 99 f/170, 132 f/183 f,
144 ff/192 ff, 165 f/210 f, 172/215, 176/218 f). Levinas schreibt in Bezug auf Husserl:
»Was alle Analysen geprägt hat, ist diese rückschreitende Bewegung vom Objekt weg,
hin zur konkreten Fülle seiner Konstitution, in der die Sinnlichkeit die erste Rolle
spielt.« (SA, 88 f/DEHH, 161) Auch Boundja weist darauf hin, dass genau durch die
Auseinandersetzung mit Husserls Konzept der Sensibilität Levinas die Möglichkeit
einer nicht-objekthaften Begegnung mit dem Anderen entdeckt bzw. explizieren
kann: »C’est en analysant Husserl que Lévinas découvre le sensible comme lieu de
l’individuation du sujet, en deçà de la représentation, qui permet de fonder l’éthique
sur une intentionnalité non théorétique; irréductible au savoir.« (Boundja, 31n.42)

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

Subjekt, das es konstituiert. Jede Transzendenz einer Exteriorität, ihre


Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit ist damit schon verloren-
gegangen: die sinnliche Anschauung ist dasselbe wie das Selbe. Die
Sensibilität konstituiert dagegen keine Objekte, sie geschieht vor dem
Bewusstsein, sie ist ursprünglicher als es. Die Sinnesempfindungen
sind kein subjektiver Aspekt eines Objekts, sondern ursprünglicher
als das Objekt und wirklicher als es, näher der Wirklichkeit als das
Bewusstsein es je könnte, in der Wirklichkeit, das Genießen:
»In der Geschmacksempfindung ereignet sich nicht eine Art Überlagerung
des anvisierten Sinns durch seine Illustration, durch eine ›leibhafte‹ Prä-
senz. In der Geschmacksempfindung wird ein Hunger gestillt. Erfüllen, be-
friedigen – der Sinn des Schmeckens – das meint gerade die Bilder über-
springen, die Ansichten, die Spiegelungen oder die Abschattungen, die
Phantomerscheinungen, die Phantasmen, die Schalen der Dinge, die dem
Bewußtsein von … genügen. […] Dieses Überspringen der Bilder ›frißt‹
die Distanz auf radikalere Weise, als sie zwischen Subjekt und Objekt zu
überwinden ist.« (JS, 165/AQE, 91)
Solche vor-bewußten Empfindungen sind keine »Bilder« für das Be-
wusstsein und deswegen können sie auch nicht vergegenwärtigt wer-
den. Sie existieren nur in dem Moment, in dem sie geschehen, dann
fließen sie weg und können nicht mehr durch die Vergegenwärtigung
eingeholt werden.
Wir haben gesehen, dass das Andere, verstanden als die Exterio-
rität, statt vom Bewusstsein vorgestellt zu werden, leiblich vor jedem
Bewusstsein und außerhalb jedes Bewusstseins in seiner lebendigen
Gegenwärtigkeit, d. h. Wirklichkeit begegnet. Wobei die Leiblichkeit,
die Sensibilität nicht als das Sammeln irgendwelcher Sinnesdaten
verstanden werden darf, sondern als die Anwesenheit in der Wirk-
lichkeit, an dem Ort, wo die Exteriorität geschieht. Sie muss nicht
unbedingt auf einen leiblichen Kontakt reduziert werden. Damit ist
gesagt, dass, wenn das Ereignis außerhalb des Denkens geschieht, es
durch die Sensibilität geschieht, die die Leiblichkeit voraussetzt. Die
Leiblichkeit als meine leibliche Präsenz in der Exteriorität und meine
passive Ausgesetztheit dem Anderen durch den Leib garantieren die
Wirklichkeit des Ereignisses, also das Ereignis selbst. Dem Anderen
zu begegnen heißt, sein Gesicht zu sehen, ihn reden zu hören, sich
ihm durch die Antwort auszusetzen, sich für ihn einzusetzen etc.
Wenn ich nur seinen Begriff denke und ihn definiere, begegne ich
ihm nicht. Genauso wenig begegne ich ihm, wenn ich, ihn nicht ken-

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

nend, ihm anonym Geld spende. Ich spende das Geld nur meiner Vor-
stellung. Sogar das Heidegger’sche Ereignis des Geschehnisses der
Wahrheit kann ohne Leiblichkeit nicht erfahren und gedacht werden.
Das Da-sein in seiner Jemeinigkeit steht in der Mitte der Lichtung,
die sich um es bildet. Diese Mitte ist aber durch sein Da definiert, das
seinerseits nur durch den Leib definiert werden kann: Ich, mein Leib
ist da, ich existiere, ich bin ein Seiendes, ich stehe in der Lichtung, ich
sehe, wie die Wahrheit geschieht. Im jeden Ereignis geschieht das
Transzendieren nach Außen. Dies geschieht wesentlich als leibliche
Erfahrung: Etwas wird gehört, gesehen, gespürt etc. Dies muss nicht
eine physische Realität sein, aber es ist auch nicht ein Geschöpf des
Bewusstseins. Das Ereignis ist keine Halluzination: Es ist eine kör-
perliche Begegnung mit einer Exteriorität. Heideggers Geschehnis
der Wahrheit, wo das Seiende als das Seiende und als das, was es
konkret ist, in Erscheinung tritt, ist keine physische Erscheinung,
die man mit den Augen als Organen sehen könnte. Aber es ist auch
nicht eine Einbildung und deswegen eine völlig subjektive Vorstel-
lung. Eher ereignet sich dieses Ereignis mit einem Seienden, bei dem
ich bin, und ich kann es irgendwie sehen und so sehen, als ob es außer
mir geschehen würde: in seinem eigenen, vom Ereignis gegründeten
Zeit-Raum.
Wenn jedes Ereignis die Sensibilität voraussetzt, könnte man
fragen, ob jede leibliche Erfahrung ein Ereignis ist? Nun, jede leib-
liche Erfahrung könnte ein Ereignis sein, oft aber verschwindet sie
hinter dem Gegenstand oder wird mit der Rückkehr des Bewusstseins
zu sich selbst annulliert. Die Aufnahme des Wassers im Akt des Trin-
kens wird zum Beispiel funktionalisiert, d. h. vergegenständlicht: Es
ist etwas, was man tut, um Durst zu löschen. Wenn man trinkt, achtet
man darauf, ob das Wasser seine Funktion erfüllt. Man kann auch den
Trinkakt genießen, aber auch in diesem Fall reflektiert das Bewusst-
sein diesen Akt und so verliert es ihn: Es ist bei sich. Aber die Wasser-
aufnahme kann auch ein Ereignis sein. So wie sie zum Beispiel von
Antoine de Saint-Exupéry in seinem Roman Terre des hommes
(1939) beschrieben wird. Nach mehreren in der Wüste verbrachten
Tagen, ohne Wasser, mit kaum Hoffnung auf die Rettung, ist die
plötzliche und unverhoffte Möglichkeit, wieder zu trinken und zu
leben, mehr als eine Möglichkeit der Befriedigung eines Bedürfnisses:
Sie ist die Öffnung einer anderen, davor nicht erahnten Welt. Der
Durst und das Löschen des Durstes, die an sich völlig sinnlich sind,

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

können mehr als das Sinnliche bedeuten; durch sie kann etwas Trans-
zendentes in die Welt einbrechen, und dann geschieht ein Ereignis. 411

Eines müssen wir aber noch festhalten. Zwar ist die Sensibilität für
Levinas die Passivität, durch die das Andere aufgenommen und in
seiner Andersheit vor dem Bewusstsein erfahren wird, doch der leib-
liche Bezug zur Exteriorität wird von Levinas vor allem in Bezug auf
die äußere Welt erwähnt. Wenn es um die Beziehung zu dem anderen
Menschen geht, dann spricht Levinas von der »Nähe« (proximité), in
der ich dem Anderen antworte, ohne den körperlichen Abstand zwi-
schen uns aufzuheben. Auch die Nähe hat ihre sensible Seite, aber sie
kann nicht auf sie reduziert werden: sie wird grundsätzlich durch die
Verantwortung konstituiert.

411 Wir beziehen uns hier auf die folgende Passage aus dem oben genannten Roman,

in der die Rettung für die beiden in der Wüste verschollenen Hauptfiguren durch
einen Araber geschildert wird: »Wir haben auf seine Rückkehr gewartet, die Stirn in
den Sand gepreßt. Und nun trinken wir, auf dem Bauch liegend, den Kopf im Becken
wie die Kälber. Der Beduine erschrickt und zwingt uns alle Augenblicke einzuhalten.
Aber kaum lässt er uns frei, so tauchen wir auch schon das ganze Gesicht ins Wasser.
Wasser!
Wasser, du hast weder Geschmack noch Farbe, noch Aroma. Man kann dich nicht
beschreiben. Man schmeckt dich, ohne dich zu kennen. Es ist nicht so, daß man dich
zum Leben braucht: Du selber bist das Leben! Du durchdringst uns als Labsal, dessen
Köstlichkeit keiner unserer Sinne auszudrücken fähig ist. Durch dich kehren uns alle
Kräfte zurück, die wir schon verloren gaben. Dank deiner Segnung fließen in uns
wieder alle bereits versiegten Quellen der Seele. Du bist der köstlichste Besitz dieser
Erde. Du bist auch der empfindsamste, der rein dem Leib der Erde entquillt. Vor einer
Quelle magnesiumhaltiges Wasser kann man verdursten. An einem Salzsee kann man
verschmachten. Und trotz zwei Liter Tauwasser kann man zugrunde gehen, wenn sie
bestimmte Salze enthalten.
Du nimmst nicht jede Mischung an, duldest nicht jede Veränderung. Du bist eine
leicht gekränkte Gottheit!
Aber du schenkst uns ein unbeschreiblich einfaches und großes Glück.
Du aber, unser Retter, Beduine aus Libyen, du wirst mir aus dem Gedächtnis schwin-
den! Deines Gesichtes kann ich mich nicht entsinnen. Du bist der Mensch und er-
schienst mir mit dem Antlitz aller Menschen! Du hattest uns nie zuvor gesehen und
hast uns doch erkannt!
Du bist mein geliebter Bruder, und ich werde dich in allen Menschen wiedererkennen!
Du erscheinst mir voll Adel und Leutseligkeit, ein großmächtiger Herr, in dessen
Macht es stand, Wasser zu reichen. Alle meine Freunde, alle meine Feinde kommen
mir in deiner Person entgegen, und ich habe keinen einzigen Feind mehr auf der
Welt.« (Antoine de Saint-Exupéry: Wind, Sand und Sterne. Übersetzt von Henrik
Becker. Düsseldorf: Karl Rauch, 1956, S. 205 ff)

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

8. Aus sich heraustreten: die Nähe und die Verantwortung

In seiner Philosophie versucht Levinas, eine Beziehung zwischen dem


Selben und dem Anderen aufzudecken, in der der Andere nicht im
Selben aufgelöst würde. Weder die Erkenntnis noch die Einfühlung
kann dieses Kriterium erfüllen. In Totalité et infini wird diese Be-
ziehung als Begehren charakterisiert, das sich in der Situation der
Rede vollzieht. Im Gespräch tritt das Selbe aus sich, weil es den An-
deren nicht vereinnahmen kann. Und indem es den Anderen will,
aber nicht haben kann, begehrt es ihn. Später spricht Levinas von
der Nähe als die Situation, in der sich die Beziehung zur Andersheit
stattfindet. 412 Wie man das schon vermuten kann, versteht Levinas
unter der »Nähe« keine messbare Nähe zwischen zwei Objekten in-
nerhalb eines homogenen Raumes: die Nähe »setzt die Menschlich-
keit voraus« (JS, 182/AQE, 102). Mit der Nähe wird auch nicht die
Tatsache beschrieben, dass der Mensch sich in seiner Welt zusammen
mit anderen Menschen aufhält. 413 Die Nähe ist mehr als Faktum, dass
man auf der Welt nicht allein ist, dass man immer von andern Men-
schen umgeben ist, dass man mit ihnen hier zusammen ist. Die Nähe
geschieht nämlich nicht dann, wenn man einen anderen Menschen
vorstellt, an ihn denkt, ihn erkennen und verstehen möchte, also
wenn man intentional auf ihn gerichtet ist, oder wenn man denkt,
dass man zu ihm nah ist, bloß weil man irgendeine Beziehung mit
ihm hat:
»Die Maßlosigkeit der Nähe ist zu unterscheiden von der Verbindung, die
Subjekt und Objekt in der Erkenntnis und der Intentionalität eingehen.«
(JS, 202/AQE, 114)
»Die Nähe löst sich nicht in das Bewußtsein auf, das ein Seiendes von einem
anderen Seienden gewinnen mag, das es für nah erachtet, insofern dieses
andere sich vor seinen Augen oder in seiner Reichweite befindet und inso-
fern es ihm möglich ist, dieses anderen Seienden habhaft zu werden, es zu
halten oder sich mit ihm zu unterhalten, in der Gegenseitigkeit des Hände-

412 Dies bedeutet nicht, dass das Konzept der Rede keine Rolle mehr in der Beschrei-

bung der Beziehung zum Anderen spielt. In der Rede geschieht die Nähe: »Man muß
also zugestehen, daß in der Rede eine Beziehung zu einer Singularität stattfindet, die
außerhalb des Themas der Rede steht und nicht in der Rede thematisiert wird, der
man sich aber nähert. Die Rede und ihr logisches Werk wurzelten also nicht in der
Erkenntnis des Anderen, sondern hielten sich in seiner Nähe.« (SA, 274/DEHH, 313)
413
Vgl.: JS, 183/AQE, 102 f.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

drucks, der Liebkosung, des Kampfes, der Zusammenarbeit, des Handels,


des Gesprächs.« (JS, 186/AQE, 104) 414
Wir haben schon gesehen, dass die Vorstellung, die Erkenntnis, das
Denken oder auch die Einfühlung die Aneignung des Anderen im
Selben, die Verwandlung des Anderen zum Objekt für das Selbe be-
deutet und dass es deswegen keine Beziehung zum Anderen gibt. Das
Ich kann auch äußerlich die unterschiedlichsten Beziehungen zu dem
Anderen haben, aber sofern diese Beziehungen über Vorstellungen
gepflegt werden, kommt das Ich dem Anderen nicht näher. Einen in
einer Beziehung vorzustellen, heißt in sich verschlossen zu bleiben,
seinen inneren Kern zu bewahren, unerschütterlich zu bleiben und
ein Bild des Anderen in sich zu tragen, das das Ich nicht berührt, nicht
beunruhigt. So ist einer der Vermieter, einer ist der Kollege, der sich
immer verspätet, ein anderer ist jemand, mit dem man gerne am Fei-
erabend ein Bier trinkt, mit einem anderen kann man über die Kunst
reden. Und man pflegt entsprechende Beziehungen: Man zahlt die
Miete, man arbeitet zusammen, man trinkt zusammen, man redet
über die Kunst. Das Ich bleibt bei sich, es pflegt nur irgendwelche
nach bestimmten Regeln verlaufenden Beziehungen, in denen auch
er selbst für die Anderen nur eine Vorstellung ist. In solchen Bezie-
hungen, die über Vorstellungen nach bestimmen Regeln verlaufen,
gibt es keine wahre Nähe. 415
Wenn die Nähe nicht geschehen kann, wenn ich den Anderen
nur denke und bei mir abgesichert bleibe, dann muss ich mich – damit
die Nähe möglich wäre – dem Anderen aussetzen, ich muss ihn mich
als entblößt sehen lassen. Ich muss das Zentrum meines inneren Kö-
nigreichs zersprengen, das mir die Sicherheit gibt, das mir die Mög-
lichkeit zur Kontrolle über mich selbst, über diese Beziehung und
sogar über den Anderen gibt. Ich muss zum Mitglied dieser Bezie-
hung werden, statt an ihr nur formal teilzunehmen und ständig die
Macht über die Geschehnisse zu haben. Ich muss zulassen, dass der

414 Die Nähe, die Beziehung mit dem Anderen ist keine Beziehung der Vorstellung

oder Erkenntnis: SA, 274/DEHH, 314; SA/Sub, 296/488, 298/489; JS/AQE,


120Anm.35/63n.35, 180/101, 195/110, 217/123, 270Anm.26/156n.26; EU, 74/EI, 93 f.
415 Es gibt natürlich auch solche Beziehungen, die von Anfang an nicht auf der Ebene

des Vorstellens, der Erkenntnis geschehen, zum Beispiel die erotische Beziehung oder
die Beziehung in der Vaterschaft. Levinas hat viel über diese Beziehungen zum Bei-
spiel in Le temps et l’autre und Totalité et infini geschrieben.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Andere mich berührt und von mir eine Antwort einfordern kann, ob
ich sie geben will oder nicht:
»Die Nähe ist das sich nähernde Subjekt und konstituiert so eine Bezie-
hung, an der ich als Beziehungsglied teilnehme, in der ich jedoch mehr –
oder weniger – als ein Beziehungsglied bin.« (JS, 184 f/AQE, 103 f) 416
»[…] Nähe, die nur möglich ist als ein Sich-Öffnen, als unvorsichtige Aus-
gesetztheit für den Anderen, rückhaltlose Passivität bis hin zur Stellvertre-
tung und folglich als Aussetzung der Ausgesetztheit 417, eben als Sagen, Sa-
gen, das nicht etwas sagt, das bedeutet, Sagen, das als Verantwortung die
Bedeutung selbst ist, der-Eine-für-den-Anderen [l’un-pour-l’autre – L. P.],
Subjektivität des Subjekts, das sich zum Zeichen macht, aber das man miß-
verstände, hielte man es für den stammelnden Ausdruck eines Wortes, denn
es bezeugt die Herrlichkeit des Unendlichen.« (JS, 330 f/AQE, 192)
Mit anderen Worten: Die Nähe geschieht dann, wenn ich verantwort-
lich bin:
»Die Nähe des Anderen wird in diesem Buch als die Tatsache präsentiert,
daß der Andere mir nicht nur räumlich oder als Verwandter nahe ist, son-
dern sich mir wesentlich dadurch nähert, daß ich für ihn verantwortlich
bin.« (EU, 73 f/EI, 93) 418
Die »Verantwortung« (responsabilité) muss hier in spezifisch Levi-
nas’schen Bedeutung verstanden werden, nämlich durch den Begriff
der »Antwort« (réponse), die der Andere von mir fordert und die
nicht meine Wahl ist. Das Antlitz bricht in meine Welt ein, spricht
mich an, führt mich zu meiner Passivität zurück, wo ich nicht frei bin,
wo ich nichts kontrolliere: Ich soll ihm antworten. Es geht nicht um
die Antwort auf eine irgendeine Frage, sondern er selbst ist die »Fra-
ge« (question). 419 Und weil ich dem Anderen ausgesetzt bin und ant-
worten soll, bin ich verantwortlich. 420 Die Nähe wird also durch mei-

416
Verkürzt bereits in der Einleitung zitiert.
417 Unter »Aussetzung der Ausgesetztheit« versteht Levinas die »Aussetzung« (ex-
position), die nie mehr zu sich zurückkehrt, sondern sich immer weiter aussetzt.
418 »[D]as Andere ist der Andere; das Herausgehen [sortie – L. P.] aus sich selbst ist

die Annäherung an den Nächsten; die Transzendenz ist Nähe, die Nähe ist Verant-
wortung für den Anderen, Stellvertretung für den Anderen, Sühne für den Ande-
ren […].« (GE, 43/DI, 33)
419 Insbesondere in De Dieu qui vient à l’idée beschreibt Levinas den Anderen als die

Frage.
420
»Die Epiphanie des absolut Anderen ist Antlitz, in dem der Andere mich anruft
und mir einen Befehl erteilt […]. Seine Gegenwart ist eine Aufforderung zu antwor-
ten. Das Ich macht sich diese Notwendigkeit zu antworten nicht bloß bewußt, als ob es

282

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

ne Ausgesetztheit und Passivität der Antwort konstituiert. Ich bin


dem Anderen nah, wenn ich antworten soll, ohne zu mir selbst zu-
rückzukehren.
Wenn die Nähe keine Vermittlung durch die Erkenntnis oder
Einfühlung zulässt, wenn sie grundsätzlich Nicht-Identität, Entblö-
ßung und Verantwortung ist, dann bietet sie – genauso wie die leib-
liche Sensibilität – eine Möglichkeit, unmittelbar bei der Exteriorität
da zu sein. Mehr noch: Sie ist die Sensibilität. 421 Sie ist die Berüh-
rung. 422 Und genauso wie die Unmittelbarkeit der Sensibilität kann
auch die Nähe nur außerhalb jeder Thematisierung, jeder Setzung
und jedes Denkens geschehen:
»Die Nährung ist nicht die Thematisierung irgendeiner Beziehung, sondern
diese Beziehung selbst, die als an-archische der Thematisierung widersteht.
Diese Beziehung zu thematisieren heißt schon, sie zu verlieren, heißt schon,
aus der absoluten Passivität des Sich herauszutreten.« (SA, 323/Sub, 504)
Weil die Nähe eine solche Unmittelbarkeit, ein solches Aus-sich-He-
raustreten und In-Beziehung-Treten ist, ist sie ereignishaft und un-

sich um eine Verpflichtung oder um eine besondere Aufgabe, über die es zu entschei-
den hätte, handeln würde. Es ist in seiner Stellung selbst durch und durch Verant-
wortlichkeit […].« (HAM, 43/HAH, 53)
421 Die Nähe hat ihre sensible Seite. Wir haben schon gesehen, dass die Subjektivität

als solche, die den Anderen empfängt, grundsätzlich leiblich ist, und dass die Be-
gegnung sich grundsätzlich durch die Sensibilität ereignet: durch das Sehen, Hören
etc. Die Begegnung geschieht durch die »Berührung« (contact). Oder man kann auch
sagen (und Levinas tut dies), dass die Nähe Sensibilität, Berührung ist, aber dann
muss die Sensibilität so verstanden werden, dass sie nicht nur den leiblichen Kontakt,
sondern auch das spezifisch Menschliche bedeutet, nämlich die Verantwortung. In der
Tat schreibt Levinas: »Die Berührung ist Zärtlichkeit und Verantwortung.« (SA, 275/
DEHH, 314) Auch Boundja weist auf den grundsätzlichen Zusammenhang von Nähe,
Sensibilität, Sprache (Rede) und Verantwortung hin: »Le langage originel est pro-
ximité, mais la proximité, entendue comme événement originel du langage, définit la
signification de la sensibilité. C’est la sensibilité qui révèle le sens premier du langage.«
(Boundja, 85) Oder: »La relation de proximité qu’établit le sensible, en tant que langage
sans mots ni propositions, se comprend comme relation éthique.« (Boundja, 87) Oder:
»L’événement éthique s’enracine dans le sensible.« (Boundja, 88)
422 »Als Bedeutung, als der-Eine-für-den-Anderen ist die Nähe keine Konstellation,

die in der Seele entsteht. Sie ist Unmittelbarkeit, älter als die Abstraktion der Natur;
auch keine Vereinigung. Sie ist Berührung des Anderen. In Berührung sein: weder
den Anderen einsetzen und damit seine Andersheit zunichte machen noch mich selbst
im Anderen aufheben. In der Berührung genau sind Berührendes und Berührtes ge-
trennt, als entfernte sich das Berührte, das immer schon Andere, als hätte es mit mir
nichts gemeinsam.« (JS, 193/AQE, 108 f)

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

denkbar. Die Verantwortung als der Bezug zum Anderen vollzieht


sich in der Nähe, ist die Nähe, konstituiert sie und stellt deswegen
ein Ereignis dar. Diese Struktur der durch die Verantwortung konsti-
tuierten Nähe könnten alle zwischenmenschlichen Ereignisse teilen,
obwohl sie auch auf alle Ereignisse anwendbar wäre. Man könnte
zum Beispiel an eine Begegnung zweier Liebenden denken, die die
Betroffenen aus ihnen selbst herauswirft, sodass sie nicht mehr ver-
suchen, den Anderen und die Situation selbst unter ihre Kontrolle zu
bringen, indem sie den Anderen und die Situation manipulieren. Der
Liebende tut, manchmal sogar gegen seinen Willen, das, was die Liebe
ihm befiehlt. Er fügt sich passiv in die Situation ein, er antwortet den
Worten und Taten des Anderen, ohne nachzudenken, als ob er nur ein
Medium der Liebe wäre. Der Satz »Ich liebe dich« wird nicht als eine
Mitteilung aufgefasst, mit der man frei umgehen könnte, sondern als
Aufforderung, dasselbe zu sagen, und der Liebende folgt passiv dieser
Aufforderung, ohne in sich zu verweilen und darüber zu reflektieren.
Damit macht er sich natürlich verwundbar. Wer sich nicht in sich
zurückzieht und sich offen hält für das, was mit ihm geschieht, macht
sich verwundbar, aber gleichzeitig ist das die einzige Möglichkeit, in
etwas zu sein, was einen übersteigt. Das Ereignis des Anderen über-
steigt die Identität des Einzelnen und es lässt ihn die Nähe des Ande-
ren spüren, die durch das Antworten auf die Aufforderung des Ande-
ren entsteht.

9. Das Ereignis als Zeitbruch

In den vorherigen Abschnitten haben wir versucht, den Ort des Er-
eignisses zu bestimmen. Wir haben festgestellt, dass das Ereignis
nicht im Selben, im Ich geschieht – es lässt das Ich aus ihm trans-
zendieren und ereignet sich draußen. Dieses Draußen ist nicht die
Außenwelt in ihrer physischen Objektivität, sondern der Zeit-Raum
des Ereignisses selbst, die Nähe. Und weil das Ereignis nicht im Sel-
ben geschieht, ist es unsichtbar, unvorstellbar und undenkbar. In den
folgenden zwei Abschnitten werden wir uns der zeitlichen Dimension
des Ereignisses widmen. Es geht darum, dass das Ereignis in die Zeit
des Bewusstseins einbricht, dass das Ereignis ein Zeit-Bruch, der Ein-
bruch einer anderen Zeit als die des Bewusstseins, die »Diachronie«
(diachronie) ist, in der sich ein anderer Ursprung als der des Bewusst-
seins selbst ereignet.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

Schon im Werk Le temps et l’autre eröffnet die Zeitanalyse die


Möglichkeit des Verständnisses des Anderen. Levinas denkt die Zeit
in kritischer Einstellung gegenüber den Theorien der Zeit von Berg-
son bis Sartre, einschließlich Husserl und Heidegger. Diese Theorien
fassen die Zeit als etwas Einheitliches und Ununterbrochenes auf, in
dessen Fließen alle Zeitmodi – Vergangenheit, Gegenwart und Zu-
kunft – miteinander verbunden sind, ineinander übergehen. So ent-
wirft zum Beispiel das gegenwärtige Jetzt schon den zukünftigen
Moment. Das Zukünftige ist schon da, vergegenwärtigt. Dieser Auf-
fassung setzt Levinas sein Verständnis der Zeit entgegen, laut dessen
die Zukunft nicht der Gegenwart folgt, sondern auf sie zukommt,
einbricht. Als solche gehört die Zukunft nicht dem Erlebnisstrom
des Ich, sondern ist das Andere dem Ich gegenüber:
»Die Vorwegnahme der Zukunft, das Entwerfen der Zukunft, durch alle
Theorien von Bergson bis Sartre als das Wesentliche der Zeit glaubhaft
gemacht, sind nur die Gegenwart der Zukunft und nicht die authentische
Zukunft; die Zukunft ist das, was nicht ergriffen wird, was uns überfällt und
sich unser bemächtigt. Die Zukunft, das ist das andere. Das Verhältnis zur
Zukunft, das ist das eigentliche Verhältnis zum anderen. Von Zeit zu spre-
chen in einem Subjekt allein, von einer rein persönlichen Dauer zu spre-
chen, scheint uns unmöglich.« (ZA, 48/TA, 64) 423
Und genauso wie die Zukunft in die Gegenwart, ausgehend von sich
selbst, einbricht, so kommt auch das Andere unvorhersehbar von au-
ßerhalb auf uns zu und zwingt uns, ihn passiv aufzunehmen. Oder
eher im Gegenteil: Dadurch, dass wir so die Ankunft des Anderen
erfahren haben, können wir jetzt die Zeit anders verstehen, nämlich
nicht als die Zeit des Selben, sondern als die Beziehung zu dem An-
deren:
»Ich definiere den anderen nicht durch die Zukunft, sondern die Zukunft
durch den anderen, da gerade die Zukunft des Todes in seiner totalen An-
dersheit bestanden hat.« (ZA, 54/TA, 74)
»Das Verhältnis zur Zukunft, die Anwesenheit der Zukunft in der Gegen-
wart, scheint sich allerdings zu vollziehen in der Situation des Von-Ange-
sicht-zu-Angesicht mit dem anderen. Die Situation des Von-Angesicht-zu-
Angesicht wäre der eigentliche Vollzug der Zeit; das Übergreifen der Ge-
genwart auf die Zukunft ist nicht die Tat eines einsamen Subjekts, sondern
das intersubjektive Verhältnis. Die Bedingung der Zeitlichkeit liegt im Ver-

423
Verkürzt bereits im Teil I zitiert.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

hältnis zwischen menschlichen Wesen oder in der Geschichte.« (ZA, 51/TA,


68 f) 424
Währen in Le temps et l’autre die Zeit des Anderen als die Zukunft
bestimmt wird, tritt in der späteren Philosophie Levinas’ die Vergan-
genheit als die Zeitlichkeit des Anderen in den Vordergrund. 425 Weil
das Ereignis als eine andere Zeit in die einheitliche Zeit des Bewusst-
seins einbricht, ist es nicht von diesem Bewusstsein einholbar: Es
stellt eine »unvordenkliche Vergangenheit« (passé immémorial) dar,
die von der Erinnerung durch die Vergegenwärtigung nicht erreicht
werden kann. Der Zeitbruch vollzieht sich als das Schon-Geschehen-
Sein eines absolut Vergangenen.
Um die Eigentümlichkeit dieser Vergangenheit zu verstehen,
muss zuerst nach dem Bewusstsein, das diese Vergangenheit nicht
einholen kann, gefragt werden. Das Bewusstsein ist Zeit: die erlebte
Zeit des Erlebnisstroms, der sich als ein Kontinuierliches, Ununter-
brochenes und Ganzes darstellt. Alle Momente dieses Zeitflusses sind
miteinander verbunden. So wie die Zukunft aus der Gegenwart ent-
worfen wird, so kann auch das Vergangene durch die Gegenwart zu-
rückgeholt werden:
»Vom Bewußtsein zu sprechen heißt von der Zeit sprechen. Es heißt jeden-
falls von der wiedereinholbaren Zeit sprechen.« (JS, 83/AQE, 41)
»Die Immanenz meint zugleich diese Versammlung des zeitlich Verschie-
denen in die Gegenwart der Vergegenwärtigung.« (GE, 202/DI, 237)
Das Bewusstsein ist also die Gleichzeitigkeit vom gegenwärtigen
Jetzt, der erinnerten Vergangenheit und entworfenen Zukunft. Im

424 Die Behauptung, dass die Beziehung mit dem Anderen der Zeitlichkeit zugrunde

liegt, kann wieder als ein Versuch, Heidegger weiter zu denken, aufgefasst werden.
Während Heidegger den letzten Grund in der Zeitlichkeit des Daseins sieht, besteht er
für Levinas in der zwischenmenschlichen Beziehung noch vor der Zeitlichkeit.
425 Die Zukunft wird aber als Thema in Levinas’ späterem Denken wieder aufgenom-

men. In einem Interview 1988 charakterisiert er die »Verpflichtung gegenüber dem


Nächsten« als »Vergangenheit, die niemals Gegenwart war« (wir werden gleich sehen,
was dies bedeutet) und das »Sterben für den Anderen« als »Zukunft, die niemals
meine Gegenwart sein wird« (ZU, 278/EN, 264). In der Verantwortlichkeit gegenüber
dem Anderen bis zum Sterben für ihn eröffnet sich für mich eine Zeit, die da sein
wird, obwohl ich nicht mehr da sein werde, um diese Zeit in mir zu haben, um sie zu
dem Selben zu machen. Diese Zukunft ist das Andere, dem ich in der Verantwortung
zwar begegne, aber nicht zu meiner machen kann. Der Andere ist die Zeitigung der
Zukunft als des Anderen. Der Andere ist unvordenkliche Vergangenheit und un-
erreichbare Zukunft.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

Bewusstsein sind also alle Zeitmodi im gegenwärtigen Moment ge-


genwärtig. Das Bewusstsein ist somit synchron. Und alle diese Zeit-
momente gehören zu demselben Bewusstsein: Sie tragen seinen In-
dex und konstituieren so die Identität des Bewusstseins in seinem
Fließen. Hier gibt es keine Transzendenz:
»Die Gegenwart schließt letztendlich jegliche Transzendenz aus.« (GE, 206/
DI, 240)

Das Ereignis bricht in das synchrone und synchronisierende Be-


wusstsein ein als ein Augenblick, der zu diesem Bewusstsein nicht
passt, als eine andere Zeit oder – besser – als der Bruch der Zeit, der
sich nicht systematisch in die Identität des Bewusstseins einordnen
lässt, das sich nicht vergegenwärtigen – synchronisieren – lässt und
so eine »Diachronie« ist:
»Die Andersheit, die unendlich verpflichtet, spaltet [fendre – L. P.] hier die
Zeit durch eine unüberwindbare Zwischen-Zeit [entre-temps – L. P.]: ›der
Eine‹ ist für den Anderen auf die Weise eines Seins, das sich losläßt, ohne
sich in einer Synthese, die sich als Thema darstellt, an seine Seite stellen zu
können;« (HAM, 5/HAH, 10)
»[…] es muß in dieser wiedereinholbaren Zeitigung, in der Zeitigung ohne
verlorene, ohne zu verlierende Zeit, in der das Sein der Substanz sich voll-
zieht – ein unwiederbringlicher Zeit-lauf [laps de temps sans retour – L. P.]
sich ankündigen, eine Diachronie, die aller Synchronisierung gegenüber
widerständig bleibt, eine transzendente Diachronie.« (JS, 37 f/AQE, 11)
»Diese Diachronie der Zeit beruht nicht auf der Länge des Intervalls, so daß
die Vorstellung es nicht umfassen könnte. Sie meint Auseinanderfallen der
Identität, in der das Selbe nicht mehr das Selbe erreicht: Nicht-Synthese,
Müdigkeit.« (JS, 126/AQE, 67)
»Man kann dies apokalyptisch Zersplittern [éclatement – L. P.] der Zeit
nennen. Doch handelt es sich um die verwischte und gleichwohl nicht zu
bändigende Dia-chronie einer nichthistorischen, ungesagten Zeit, die sich
nicht durch die Erinnerung und die Historiographie in eine Gegenwart hi-
nein synchronisieren läßt und in der die Gegenwart nur die Spur einer un-
vordenklichen Vergangenheit ist.« (JS, 200/AQE, 113) 426
Wenn das Ereignis sich ereignet, wird die Zeit des Selbst, sein Bei-
sich-Sein, sein Erlebnisstrom unterbrochen. Das Bewusstsein erfährt

426 Der Zeitbruch: SA/DEHH, 249 f/293 f, 256/299; JS/AQE, 200/113, 225 f/129,

308 f/179.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

diese Störung, es kann aber nicht zu diesem vergangenen Zeitpunkt


zurückkehren, weil es nicht zu ihm gehört, nicht seiner ist und lässt
auch nicht durch das »Abbilden« zu seiner machen. Es kann unmög-
lich wissen, was geschehen ist. Zum Ereignis gehört wesentlich die
Frage: »Was war das, was mit mir geschehen ist?« Diese Frage bleibt
aber für immer ohne endgültige Antwort.
Das Geschehene gehört nicht dem Selben, es ist nicht von ihm
konstituiert, vorgestellt, ausgelöst, vorhergesehen worden; es ist
nicht sein Ursprung, sein Anfang, sein Prinzip, entsprechend dem
das Ereignis geschieht. Deswegen beschreibt Levinas die diachrone
Transzendenz als »vor-ursprünglich« (pré-originelle) (JS, 40/AQE,
13) 427 und »an-archisch« (anarchique) 428. Sie ist vor-ursprünglich,
weil sie ihren Ursprung nicht in mir hat. Sie ist anarchistisch, weil
sie ihr eigenes Prinzip ist, durch das sie meine Bewusstseinsordnung
stört. Mit anderen Worten: Das Ereignis geschieht vor meiner Frei-
heit, wenn meine Freiheit als Ursprung meiner ganzen Existenz ver-
standen wird. Es geschieht vor-zeitig, wenn die Zeit meine Zeit ist, in
der ich alles für mich haben kann:
»Die Verantwortung für den Anderen – in ihrer Vorzeitigkeit [antériorité –
L. P.] gegenüber meiner Freiheit […].« (JS, 50/AQE, 18) 429
Weil das Ereignishafte sein eigener Ursprung ist, geschieht es un-
abhängig von mir – es geschieht mit mir und vor mir. Versuche ich
es zu begreifen, so kann ich es nicht: Ich bin schon zu spät gekommen.
Das Ereignis ist schon mit mir geschehen – in Bezug auf das Ereignis
befinde ich mich in einer »unaufholbaren Verspätung« (retard irré-
cupérable):
»Er hat mich verlangt, bevor ich gekommen bin. Unaufholbare Verspätung.
›Ich öffnete … er war entschwunden.‹« (JS, 199/AQE, 112) 430
»Vom Nächsten bin ich befallen, bevor er mir auffällt, als hätte ich ihn ver-
nommen, bevor er spricht. Was als Anachronismus eine andere Zeitlichkeit
bezeugt als die, die dem Bewußtsein den Takt schlägt. Sie demonstriert die

427 Die Vor-Ursprünglichkeit: HAM, 72 ff/HAH, 82 ff; JS/AQE, 136/73, 150/82, 335 f/

195.
428 Die An-archie: SA, 298 f/Sub; JS/AQE, 40/12, 125/66, 224 f/128, 227/129; GE,

225/DI, 255.
429 Die Vor-Zeitigkeit des Ereignisses: JS/AQE, 46/16, 198 f/112, 223/127, 272 f/157.

430
Levinas zitiert hier das Hoheslied: 5, 6.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

wiedereinholbare Zeit der Geschichte und der Erinnerung, in der die Vor-
stellung kontinuierlich weitergeht.« (JS, 198/AQE, 112) 431
Weil das Ereignis des Anderen sich selbst gegen meine Bewusstseins-
ordnung auftreten und mich immer zu spät kommen lässt, ist es un-
vorhersehbar:
»Die Rede ist das Ereignis von Sinn [production de sens – L. P.]. Der Sinn
ereignet sich nicht als eine ideale Wesenheit – er wird gesagt durch die
Gegenwart, durch die Gegenwart wird man in ihm unterwiesen. Die Unter-
weisung [enseigné – L. P.] reduziert sich nicht auf die sinnliche oder intel-
lektuelle Anschauung; diese ist das Denken des Selben. Ihrer Gegenwart
einen Sinn geben ist ein Ereignis [événement – L. P.], das sich nicht auf die
Evidenz zurückführen läßt. Dieses Ereignis geht nicht in eine Anschauung
ein. Es ist gleichzeitig eine direktere Gegenwart als die sichtbare Erschei-
nung und eine ferne Gegenwart – die des Anderen. Gegenwart, die den, der
sie empfängt, beherrscht. Sie kommt aus der Höhe, unvorhersehbar [im-
prévue – L. P.], und lehrt folglich ihre eigene Neuheit [nouveauté – L. P.].«
(TU, 88 f/TI, 38) 432
Wenn das Ereignis vor-ursprünglich und vor-zeitig ist, kann ich mich
für es auch nicht entscheiden. Das Ereignis ist schon mit mir gesche-
hen, bevor ich eine Entscheidung hätte treffen können:
»Ausgesetztsein dem Anderen, ohne dieses Ausgesetztsein selbst noch ein-
mal übernehmen zu können […].« (JS, 50/AQE, 18) 433
Wenn ich mich für das Ereignis nicht entschieden habe, so ist es »ge-
gen meinen Willen« (contre mon gré) (JS, 42/AQE, 14), (malgré soi)
(JS, 123/AQE, 65) geschehen. 434 Doch diese Unfreiwilligkeit oder Wi-
derwilligkeit des Ereignisses heißt nicht, dass ich vorher, vor dem Er-
eignis etwas gewollt habe, was nicht eingetroffen oder anders einge-

431 Zu der Verspätung siehe auch: SA, 250/DEHH, 294; JS/AQE, 200/113, 330/192.

Der Gedanke Levinas’ von der Verspätung gegenüber dem Ankommen des Anderen
wird mehrfach in der Ereignisphilosophie übernommen. Zum Beispiel bei Jean-Luc
Marion in Certitudes négatives (CN, 249) oder bei Claude Romano in seinem Werk
L’événement et le temps (ET, 169).
432 Siehe auch: TU, 327/TI, 200. Übrigens lässt diese Textpassage, wo der Sinn mit

dem Ereignis zusammengebracht wird, an Deleuze denken. Wobei auch Levinas –


genauso wie Deleuze – den Sinn nicht im Bewusstsein, sondern außerhalb dessen
verortet.
433 Das Ereignis ist nicht meine Wahl, meine Entscheidung: HAM, 76 ff/HAH, 85 ff;

JS/AQE, 40 f/12 f, 50/18, 136 f/73, 169 f/94, 248/142, 257/148, 272/157, 300/174.
434 Das Ereignis gegen den eigenen Willen: HAM, 82/HAH, 90; JS/AQE, 122 ff/65 ff,

131/70, 136/73.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

troffen ist, als ich es mir vorgestellt habe, und das ich jetzt alles so
hinnehmen muss, wie es ist. Ich habe vor dem Ereignis nichts ge-
wollt 435 – meine Unfreiwilligkeit ist das Vor-dem-Willen-Sein des Er-
eignisses. 436 Das Ereignis ist grundsätzlich etwas, was mit mir ge-
schieht und nicht ein Resultat meiner Freiheit, meiner Aktivität. Es
ist auch nicht Resultat eines bewussten Empfangens, für das ich mich
entscheiden hätte können. Ich tue hier nichts, im Ereignis bin ich
absolut passiv – ich empfange das, was mit mir geschieht:
»Das Einstehen-für, die Stellvertretung, ist nicht ein Akt, es ist eine in den
Akt nicht überführbare Passivität, das Diesseits der Alternative Akt-Passi-
vität […].« (JS, 259/AQE, 149)
»Diese Vorzeitigkeit der Verantwortung im Verhältnis zur Freiheit bedeu-
tete die Güte des Guten: die Notwendigkeit für das Gute mich zuerst zu
erwählen, bevor ich imstande bin, das Gute zu wählen, das heißt seine Wahl
anzunehmen. Darin liegt mein vorursprüngliches Empfangen. Passivität
vor aller Rezeptivität. Transzendent. Vorzeitigkeit vor aller vorstellbaren
Vorzeitigkeit: unvordenkliche Vorzeitigkeit. Das Gute vor dem Sein. Dia-
chronie: unüberbrückbare Differenz zwischen ungleichzeitigen, nicht zu-
sammenpassenden Termini, zwischen dem Guten und mir. Doch auch
Nicht-Indifferenz in dieser Differenz.« (JS, 272 f/AQE, 157)
Weil das Ereignis vor jeder meiner Aktivität geschieht, habe ich keine
andere Wahl, als es aufzunehmen:
»Die Wille ist frei, diese Verantwortung zu übernehmen, wie es ihm gefällt;
er ist nicht frei, diese Verantwortung selbst abzulehnen, er hat nicht die
Freiheit, die vernünftige Welt, in die ihn das Antlitz des Anderen einge-
führt hat, nicht zu kennen.« (TU, 317/TI, 194) 437
Wegen seiner Vorzeitigkeit, die die Zeit des Bewusstseins unterbricht,
wegen seiner Vor-Ursprünglichkeit, die in meiner Freiheit einen an-
deren Willen sein Werk tun lässt, wird das Ereignis immer als etwas
Mächtiges erfahren. Diese Mächtigkeit wird vor allem dadurch erlebt,
dass der Betroffene im ersten Augenblick des Ereignisses antwortet

435 Es ist etwas, was »weder gewählt noch nicht-gewählt ist, zu dem das Subjekt viel-
mehr erwählt wird« (HAM, 78/HAH, 87).
436 Weil ich nichts gewollt habe, werde ich vom Ereignis auch nicht unterdrückt – die

Unterdrückung gibt es nur dort, wo es Freiheit gibt, die gibt es hier aber nicht. Dazu
siehe: HAM, 74 ff/HAH, 84 ff.
437
Die Unmöglichkeit, das Ereignis abzuweisen, sich der Verantwortung zu entzie-
hen: TU, 289/TI, 175; SA, 224/DEHH, 273; JS/AQE, 48/17, 126/67, 129/69, 135/72 f,
190/107, 234/134, 249/143.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

und antworten muss, ohne seine Reaktion, seine Antwort vorher


überlegen zu können. Er kann sich nicht kontrollieren, er ist außer
sich: im Ereignis. Erst später, wenn sein Bewusstsein mit der Verspä-
tung angekommen ist, kann er eine Haltung gegenüber dem Ereignis
einnehmen. Er kann es zum Beispiel als einen Zwang gegen seine
freie Entscheidung empfinden. Er kann das Ereignis als etwas auffas-
sen, das ihn etwas tun ließ, was er nicht tun wollte. Er kann ver-
suchen, das Ereignis unter Kontrolle zu bringen, und sich einreden,
dass es doch seine (falsche) Wahl gewesen ist. Doch das ist nur die
zweite Antwort nach der ersten, die nicht mehr als nicht geschehen
verworfen werden kann. Das Ereignis ist geschehen so, wie es das
wollte, und man kann da nichts mehr ändern. Man kann aber im Er-
eignis auch eine neue Möglichkeit sehen, die man weiter bewusst
aufnehmen und verwirklichen kann, eine Neuheit, die unvorherseh-
bar durch den Zeitbruch eingebrochen ist.

10. Die unvordenkliche Vergangenheit und


die Unerinnerbarkeit des Ereignisses

Das, was in die synchrone Zeit des Ich einbricht und vor seiner Ent-
scheidung geschieht, das, in Bezug worauf das Ich immer zu spät
kommt, ist laut Levinas eine »unvordenkliche Vergangenheit«: eine
»verlorene« und »uneinholbare« (irrécupérable) (JS, 19/AQE, 18),
»unumkehrbare« (irréversible) (HAM, 54/HAH, 65) und »absolute«
(absolu) (TU, 183/TI, 103) Vergangenheit. 438 Es handelt sich darum,
dass das Ereignis für das Ich in einem Zeitmodus geschieht, den das
Ich kraft seiner Erinnerung als Vergegenwärtigung nicht einholen
kann:
»Die Andersheit, ereignet sich als ein Abstand und eine Vergangenheit, die
keine Erinnerung zur Gegenwart zu erwecken vermöchte.« (SA, 249/
DEHH, 293)
»Eine lineare Rückwärtsbewegung – eine Retrospektive, die entlang der
Zeitenfolge auf eine sehr weit entfernte Vergangenheit zuginge – wäre nie-
mals in der Lage, die absolut diachrone Vor-ursprünglichkeit zu erreichen,

438
Eine unvordenkliche, uneinholbare, unumkehrbare, absolute Vergangenheit: SA/
DEHH, 229 f/277 f, 232/279, 234/281, 256/299, 259/301; HAM, 53 ff/64, JS/AQE,
114/60, 198/112, 298/172.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

die nicht wieder einholbar ist durch die Erinnerung und die Geschichte.«
(JS, 39/AQE, 12) 439
Dass jetzt behauptet wird, dass die Zeit des Ereignisses eine durch die
Vergegenwärtigung nicht einholbare Vergangenheit ist, steht nicht
im Widerspruch zum vorher Gesagten, dass das Ereignis sich nur
gegenwärtig ereignet. Das Ereignis ist uneinholbar für die Erinne-
rung, für das immer später ankommende Bewusstsein und Denken.
Die Gegenwart, in der sich das Ereignis ereignet, ist dagegen nicht die
Gegenwart als Zeitmodus des Bewusstseins, sondern die Gegenwart
des Ereignisses selbst, die Unterbrechung des Bewusstseins. Und die-
se ursprünglichere Gegenwart ist eine absolute Vergangenheit für das
Bewusstsein, das mit einer Verspätung das Ereignis noch festzuhalten
versucht.
Wenn die Unvordenklichkeit des Ereignisses seine Unerinner-
barkeit bedeutet, muss zuerst diese befragt werden. Der Grund dafür,
dass das Bewusstsein sich nicht an das Ereignis erinnern kann, liegt
nicht in seiner Schwäche; er liegt nicht in der Komplexität oder Ver-
drängung 440 des Erinnerungsinhaltes. Man kann sich nicht an das er-
eignishafte Geschehen erinnern, weil es niemals eine Gegenwart im
Bewusstsein war. Es handelt sich um:

439 Die Unerinnerbarkeit des Ereignisses: HAM, 53/HAH, 64; JS/AQE, 209/118,

224 f/128.
440 Dies ist ein sehr wichtiger Punkt. Es ist in der letzten Zeit in der Tat üblich gewor-

den, das traumatische Ereignis unter anderen Ereignissen (wie Liebe, Kunst, Tod,
Geburt etc.) zu behandeln, als ob es dieselbe »Sache« wäre. Das ist aber nur dadurch
möglich geworden, dass man bestimmte wesentliche Unterschiede nicht gesehen hat.
Levinas versucht dagegen, den Unterschied zwischen einem ethischen Ereignis und
einem traumatischen Ereignis auszumachen. Siehe zum Beispiel eine längere Fuß-
note: SA, 323 fAnm.19/Sub, 504n.18. Es geht hier selbstverständlich nicht darum,
dass ein Trauma »schlecht«, das Ereignis dagegen »gut« wäre. Das Ereignis ereignet
sich jenseits von Gut und Böse – schon aus dem Grund, dass es sonst das Gute (oder
das Böse) nicht in die Welt einführen könnte. Es geht darum, dass das Trauma ein
Ereignis des Bewusstseins ist, das verdrängt worden ist, während es Ereignisse gibt,
die dadurch ausgezeichnet sind, »daß sie von der Totalität ausgenommen sind«.
Streng genommen haben sie also mit dem Bewusstsein nichts zu tun. Sie sind kein
Bei-sich-Sein, kein Leiden im Inneren, sondern »Passivität«, die »empfänglich für
Schmerz, Schmach und Elend« ist. Diese »Empfänglichkeit« ist nach Außen gerichtet
– als »Verantwortung«. Verdrängte Erfahrung des Missbrauchs in der Vergangenheit
lässt niemals für den Anderen sterben – die Verdrängung ist egoistisch und würde
lieber andere Menschen töten als für sie zu sterben.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

»[e]ine Vergangenheit [passé – L. P.], die älter [plus ancien – L. P.] ist als
jede Gegenwart – eine Vergangenheit, die niemals Gegenwart war [qui ja-
mais ne fut présent – L. P.] und deren an-archisches Alter niemals auf das
Spiel von Verbergen und Offenbaren »hereingefallen« ist […]« (JS, 68/
AQE, 31). 441
Etwas kann im Bewusstsein nur als etwas Beständiges und dem Sel-
ben Zugehöriges – als ein Phänomen, eine Vorstellung, ein Thema
o. Ä. – gegenwärtig sein. Sich an etwas zu erinnern, heißt, das schon
einmal im Bewusstsein Präsente zu repräsentieren. Wenn das Ereig-
nis, wie wir gesehen haben, kein Phänomen im Bewusstsein, kein
Thema für das Denken ist, dann kann es auch nicht später, nachdem
es schon geschehen ist, vergegenwärtigt werden.
Doch man kann auch versuchen, sich an etwas zu erinnern, was
nie etwas Präsentes im Bewusstsein gewesen ist, wie das der Fall ist,
wenn der Betroffene sich in das Ereignis noch einmal hineinversetzen
möchte oder zu verstehen versucht, was mit ihm geschehen ist. Die
Frage ist, ob dies gelingen kann. Es kann nicht gelingen, weil, um sich
zu erinnern, das Bewusstsein etwas zu seinem Inhalt machen muss;
das Bewusstsein muss es thematisieren, vergegenwärtigen. Wenn
aber das Ereignishafte als ein Bewusstseinsinhalt auftritt, hat es
schon seine Ereignishaftigkeit verloren. Eine solche Erinnerung wäre
also nur eine vermeintliche und keine Erinnerung an das wirklich
Geschehene. Man kann das Ereignis denken, doch nur als einen Be-
griff, nicht als ein wirkliches Geschehnis. Deswegen sprechen wir von
der Undenkbarkeit des Ereignisses. Und man kann sich an das Ereig-
nis erinnern, aber das, was hier als der Bewusstseinsinhalt auftritt, ist
kein Ereignis. Deswegen ist das Ereignis unerinnerbar. Es lässt sich
vermuten, dass die Struktur der Undenkbarkeit mit der der Uner-
innerbarkeit eng zusammenhängen. Gewissermaßen bedeuten die
Undenkbarkeit und die Unerinnerbarkeit des Ereignisses sogar ein
und dasselbe. Weil etwas zu denken und sich an etwas zu erinnern,
wenn es um etwas schon Geschehenes (und ein Ereignis ist es immer)
geht, heißt etwas sehr Ähnliches zu tun. Um etwas Geschehenes den-
ken zu können, muss man es durch die Kraft der Erinnerung, d. h.
durch die Vergegenwärtigung in die Gegenwärtigkeit des Denkens

441
Das Ereignis ist niemals eine Gegenwart gewesen: SA, 249 f/DEHH, 294; JS/AQE,
198 f/112, 217 f/124, 337/196 f. Levinas nennt diesen Umstand auch »Anachronis-
mus« (anachronisme). Siehe zum Beispiel: SA, 249/DEHH, 294.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

bringen, wobei diese Vergegenwärtigung als das Abbilden, Sich-Vor-


stellen geschieht, das für das Denken charakteristisch ist:
»Jede Vorgängigkeit des Gegebenen geht auf in der Augenblicklichkeit des
Denkens, gleichzeitig mit dem Denken taucht sie in der Gegenwart auf.
Dadurch erhält sie einen Sinn. Vorstellung, repräsentatio, das heißt nicht
nur, »wieder« gegenwärtig zu machen, vorstellen heißt, eine aktuelle Wahr-
nehmung, die verfließt, auf die Gegenwart zurückführen. Vorstellen, das
heißt nicht, ein vergangenes Geschehen in einem gegenwärtigen Bild wie-
deraufnehmen, sondern alles, was davon unabhängig scheint, auf die Au-
genblicklichkeit eines Denkens zurückführen.« (TU, 178 f/TI, 100)
In den beiden Fällen – im vergegenwärtigenden, vorstellenden Den-
ken und in der vergegenwärtigenden, vorstellenden Erinnerung –
wird das Wirkliche, das Wirkliche als das immer schon Geschehene,
nie erreicht. Es kann auf diese Weise nie erreicht werden. Die Un-
denkbarkeit und Unerinnerbarkeit heißen hier Unerreichbarkeit
durch Vorstellung. Das Ereignis ist unerinnerbar, weil die Erinnerung
es sich vorstellen muss, um sich an es zu erinnern. Das Ereignis lässt
sich aber nicht in der Vorstellung fangen. 442
Das Denken, Sich-Vorstellen, Sich-Erinnern und Vergegenwär-
tigen sind derselbe Prozess des Selben, durch den das Selbe das An-
dere zum Selben macht. Die Unerinnerbarkeit des Ereignisses ist die
Undenkbarkeit des Ereignisses. Aber mit der Charakterisierung des
Ereignishaften als undenkbar wollten wir einen bestimmten Aspekt
akzentuieren, nämlich dass es eine radikale Exteriorität zum Denken
ist, dass das Denken es nie denken kann, weil es das Denken mit
seiner lebendigen Gegenwart überschreitet, während das Denken
nur irgendwelche Denkobjekte denken kann, die »aus Denken« ge-
macht sind und die auf illusorische Weise vom Denken für wirklich
gehalten werden. Mit der Charakterisierung des Ereignishaften als

442 Wenn die vorstellende Erinnerung das Ereignis nicht einholen kann, könnte es

eine Erinnerung geben, die sich nichts vorstellt und die den Betroffenen wirklich
zum Ereignis zurückbringen könnte, ohne es zu zerstören? Es wäre eine sehr merk-
würdige Erinnerung. Erstens, weil ihr Ursprung nicht im Subjekt liegen würde, son-
dern in der Initiative der Erinnerung selbst. Dadurch wäre sie dem Ereignis ähnlich.
Zweitens könnte man nach ihrem Stattfinden nicht mehr wissen, woran man sich
erinnert hat. Man könnte sich also nicht mehr daran erinnern, woran man sich gerade
erinnert hat. Könnte man es wissen, wäre das keine Erinnerung an ein Ereignis. Was
könnte man also mit einer solchen Erinnerung anfangen? Sie geschieht selbst als ein
Ereignis – als ein (unmögliches) Ereignis der Zeitreise, als eine Störung des Zeit-
ablaufs.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

unerinnerbar möchten wir den Akzent darauf setzen, dass das Ereig-
nis nicht durch die Erinnerung einholbar ist und das es wieder eine
Täuschung ist, wenn man denkt, dass man dem Ereignis durch die
Erinnerung näher kommen kann, dass man sich in das Geschehene
nochmals und immer wieder hineinversetzten kann. Es ist unmög-
lich, weil die Erinnerung sich als die Vorstellung vollzieht, die die
Exteriorität in das Selbe einsaugt, aus ihrem eigenen Gewebe nach-
macht, bildlich, d. h. gegenständlich, darstellt, zu einem beständigen,
überzeitlichen Objekt, zu einem Thema macht und der Illusion ver-
haftet bleibt, dass sie das Vergangene wirklich gefangen hat. Levinas
schreibt diesbezüglich:
»Das Historische definiert sich nicht nur durch das Vergangene, und das
Historische und das Vergangene bestimmen sich als Themen, von denen
man sprechen kann. Sie sind thematisiert, gerade weil sie nicht mehr spre-
chen. Das Historische ist auf immer von seiner eigentlichen Gegenwart
abwesend. Wir wollen damit sagen, daß es hinter seinen Erscheinungen
verschwindet – seine Erscheinung ist immer oberflächlich und zweideutig,
sein Ursprung, sein Prinzip, sind immer woanders. Es ist ein Phänomen –
Realität ohne Realität.« (TU, 86/TI, 36)
Im Gegensatz zum Thema ist das Ereignis nicht beständig, sondern
sich nur gegenwärtig ereignend, ursprünglich und gleich nach dem
Ereignen verfließend. Das Ereignis bricht ein, ohne dabei zu einem
Phänomen, zu einem Objekt des Denkens zu werden und es vergeht,
ohne als ein Objekt für die Erinnerung und Geschichtsschreibung zu
bleiben.
Denken wir an eine Situation, in der einer durch den Wald geht
und plötzlich von dem Duft der Walderdbeere überrascht wird. Für
einen kurzen Augenblick ist er außer sich, von dem Duft verschlun-
gen, in der Zeit des Ereignisses. Doch gleich kehrt er zu sich zurück –
er versucht, den Duft zu genießen; er denkt: »Sind das Walderdbee-
ren? Aus welcher Richtung kommt der Duft? Sie duften so schön«
etc. Mit der Rückkehr zu sich ist das Ereignis schon vergangen – ver-
lorengegangen. Und es geht immer verloren, weil man immer zu sich
zurückkehrt. Doch man weiß, dass es eine Störung der Bewusstseins-
zeit stattgefunden hat – sie wurde erfahren. Man versucht, das Ge-
schehene zurückzuholen. Man kann da stehen und den Duft ein- und
ausatmen, doch das ist nicht mehr das, was den Betroffenen über-
rascht hat, sondern schon ein innerlicher, egoistischer Genuss oder
auch ein identifizierter Duft als die sinnliche Qualität eines Objektes.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Das Ereignis ist kein Erlebnis oder ein Denkobjekt, oder mit dem
Denken schon vermischte sinnliche Wahrnehmung, sondern das, wo-
ran wir uns nicht erinnern können, was wir nicht durch die vorstel-
lende Vergegenwärtigung einholen können, was wir nicht durch uns
selbst – zum Beispiel durch unseren Genuss – produzieren oder wie-
derholen können. Das Ereignis ist nur der Augenblick, in dem der
Selbe außer sich war.
Das Ereignis ist für das Bewusstsein, das es anzuhalten, zu be-
greifen, wiederholen und kontrollieren versucht, immer schon ver-
gangen. Das Bewusstsein kommt zu spät und findet nur sich selbst
wieder und nicht das Geschehene. Es findet Erlebnisse, Vorstellun-
gen, Wahrnehmungen eines Objekts, Begriffe, aber nicht das Gesche-
hene. Es atmet den Duft ein, es hat eine Erdbeere vor sich, es erfährt
ihr Aussehen, es tastet ihre Form etc., aber die ursprüngliche Begeg-
nung ist schon vorbei. Was ist Geschehen, was hat man erfahren?
Nichts Vorstellbares, also nichts. Nichts, was man jemals begreifen
könnte. Es ist nichts passiert. Es ist alles und nichts passiert:
»Die großen ›Erfahrungen‹ unseres Lebens sind nie im eigentlichen Sinne
des Wortes erlebt worden.« (SA, 250/DEHH, 294)
Es ist alles passiert und man kann kein einziges Wort darüber sa-
gen. 443 Nur die Erinnerung der Störung ist geblieben, die die Sehn-
sucht nach einem zukünftigen Ereignis in sich trägt – einem zukünf-
tigen Ereignis, das aber genauso schon vergangen ist.

443
Das Ereignis wird bei Levinas (genauso wie bei Heidegger und später bei Derrida)
nie zum etwas Präsenten, Sichtbaren, Beständigen. Deswegen produziert es diesen
Effekt des Nicht-Seins – als ob nichts geschehen wäre. Man kann diesen Effekt auch
anders – wie dies zum Beispiel Marion, Badiou und Romano tun – beschreiben. Das
Ereignis geschieht, als ob nichts geschehen würde, weil es nicht auf einer Tatsache,
einen (vorstellbaren) Sachverhalt zu reduzieren ist. Alles, was geschieht, ist – wenn
wir es mit Badiou formulieren – die Situation, die Stätte (Wald, Duft etc.):
»[…] nichts wird stattgefunden haben außer der Stätte […]« (SE, 222/EeE, 215) Das
Ereignis bildet dagegen einen Überschuss über die Situation, die stattfindet – einen
Überschuss, der völlig nichts ist. Geht man – wiederum mit Badiou – einen Schritt
weiter, kann nur eine »Entscheidung« (décision) (SE, 229/EeE, 223) und kein Wissen
bestimmen, ob eine Situation ereignishaft war oder nicht.

296

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

11. Die Spur des Ereignisses

Das Ereignis ereignet sich, ohne ins Bewusstsein zu gelangen, um


dort als ein immer greifbarer Besitz für das Bewusstsein zu bleiben,
denkbar und erinnerbar. Doch es ist nicht so, dass wir das Ereignis
überhaupt nicht erfahren und das nichts von ihm bleibt. Wir erfahren
die Bewusstseinsstörung, sie hinterlässt eine »Spur« (trace), die die
Verbindung zum Vergangenen aufrechterhält, ohne es aber einzu-
holen:
»Die Spur ist die Gegenwart dessen, was eigentlich niemals da war, dessen,
was immer vergangen ist.« (SA, 233/DEHH, 280)
»Wie aber sich auf eine irreversible Vergangenheit beziehen, d. h. auf eine
Vergangenheit, die dieser Bezug selbst nicht zurückbringt, im Gegensatz
zum Gedächtnis, das die Vergangenheit wiederholt, im Gegensatz zum Zei-
chen, das das Bezeichnete einholt? Es bedürfte einer Anzeige [indication –
L. P.], die zugleich den Rückzug des Angezeigten bestätigt, statt eines Be-
zugs, der es einholt. Dieser Art ist die Spur dank ihrer Leere und ihrer Ver-
lassenheit.« (SA, 243/DEHH, 289)
Die Spur, die das Sich-Entziehende anzeigt, ist auch die Manifestation
des Ereignisses – nicht im Sinne, dass das Ereignis dadurch selbst
sichtbar würde, sondern genau im Sinne, dass es eine sichtbare Spur
hinterlässt. Das Ereignis manifestiert sich und das heißt – es ge-
schieht immer in einer Konkretion: Es geschieht irgendwann, irgend-
wo, irgendwie, mit irgendjemandem. Und diese »Tatsachen« sind das,
was bleibt, wenn das Ereignis zurückgezogen hat, ohne jemals gegen-
wärtig zu werden. 444 Bei Levinas geht es um das Ereignis der Begeg-
nung mit dem Anderen als Spur des Unendlichen, also nicht um ir-
gendeine Begegnung mit einem anderen Menschen, sondern um eine
ethische Begegnung, in der das Ereignis des Unendlichen geschieht.
Das Unendliche ist das Ereignishafte bzw. das Ereignis, von dem wir
nichts wissen können, weil es nie zu einem Phänomen, zu einem
Thema geworden ist und nicht werden kann. Aber wir können etwas
von diesen »Umständen« sagen, in dem es sich ereignet, von der Spur,
die es hinterlässt. Wir müssen nicht in bloße Negativität der Aus-
sagen versinken:

444 Diese Struktur erinnert an Heideggers Ereignis als Anfang und Geben: das Ereig-

nis ereignet sich, gibt das Sein und entzieht sich, weswegen es vergessen wird. Das
Sein bleibt, aber schon als eine sichtbare Spur, nämlich als Seiendheit, die sich im
Gegensatz zu Ereignis thematisieren lässt.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

»Als Aufklaffen eines Abgrundes in der Nähe unterscheidet sich das blin-
kende Unendliche, das sich den gewagten Spekulation versagt, vom bloßen
Nichts, dadurch, daß es den Nächsten meiner Verantwortung aufträgt.« (JS,
209/AQE, 118)

»Alle negativen Attribute, die das Jenseits-des-sein aussagen, werden zu


Positivität in der Verantwortung […].« (JS, 43/AQE, 14) 445

445 Zur Positivität des Ereignisses siehe auch: HAM, 73/HAH, 83, JS/AQE, 44/14,

316/184, 328 f/191. Damit grenzt sich Levinas klar von der negativen Theologie ab.
Ist das Ereignis des Unendlichen nie erreichbar, so hat uns doch die Spur erreicht. Wie
stehen hier nicht vor etwas völlig Unerkennbarem und Unsagbarem: »Aber man darf
nicht schweigen. Wir befinden uns nicht vor einem unsagbaren Geheimnis.« (GE,
131/DI, 157) Auch Dirk Westerkamp in seinem bekannten Buch Via negativa bestä-
tigt dieses Verhältnis Levinas’ zur Negativität: »Lévinas’ Normativismus verschärft
zwar einerseits die epistemische These der negativen Theologie, drängt auf der ande-
ren Seite allerdings die negationstheoretische Frage durch deren positiv-moralphi-
losophische Umwandlung zurück.« (Westerkamp, 192) Doch das ist noch nicht alles.
Und die genaue Aufklärung des Bezuges von Levinas zur negativen Theologie würde
entscheidend zum Verständnis seines Ansatzes beitragen. Levinas behauptet also, dass
das Ereignis undenkbar ist und in diesem Sinne folgt er dem negativen Weg. Anderer-
seits verlässt er die Negativität, um die »Positivität der Verantwortung« (JS, 44/AQE,
14) zu behaupten. Westerkamp interpretiert dies so, dass Levinas eingesehen hat, dass
auch die Verneinung eine Setzung und Prädikation ist und deswegen das absolut An-
dere schon verpasst hat: »Als Gestalt des theoretischen Wissens löst sich die negative
Attributenlehre auf.« (Westerkamp, 193) In der Tat schreibt Levinas: »Verstehbarkeit,
deren Ungewohntes sich nicht auf eine negative Theologie reduzieren läßt. Die Trans-
zendenz des Unendlichen wird nicht in Aussagesätzen eingeholt, und seien diese auch
negativ.« (GE, 168/DI, 186) Weil weder die Affirmation noch die Verneinung uns der
Transzendenz näher bringt, braucht man – wie Westerkamp dies formuliert – einen
»dritten Weg«, der die »Überwindung von Negation und Affirmation« ist (Wester-
kamp, 194). Und laut Westerkamp geht Levinas diesen dritten Weg der Negation der
Negation: »In der Erkenntnis, daß sich das abwesende, nicht-seiende Eine allen For-
men theoretischen Wissens verschließe und nur im Praktischen, als sittliches Handeln
erfahrbar werde, ist eine doppelte Negation negativer Theologie beschlossen.« (Wes-
terkamp, 200) Dies alles klingt sehr logisch. Und genau darin liegt das Problem. Es
klingt logisch: Wenn man das Unendliche behauptet, kann es nicht im Denken gesetzt
und als etwas gedacht werden. Folglich muss man alle es beschreibenden Prädikate, die
im Denken entstehen, leugnen. Jede Leugnung ist aber auch Setzung, folglich funk-
tioniert auch der negative Weg nicht. Also muss es einen negativ-negativen also po-
sitiven Bezug zum Unendlichen geben, der sowohl bloße Affirmation als auch bloße
Negation verlässt. Das Problem liegt darin, dass damit der Eindruck entsteht, dass
man zum Unendlichen bzw. zum Ereignis durch logische Überlegungen kommt. Was
ist Ereignis? Es ist das, was man dann erreicht, wenn man in Bezug auf es nichts
behauptet und nichts verneint, weil es nämlich undenkbar ist. Es ist also das, in Bezug
worauf man ständig alles Gesagte negieren muss. Die Philosophie des Ereignisses
wäre also eine Art via negativa, die alle positiven Behauptungen in Bezug auf Ereignis

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

Die hier erwähnte Situation der Verantwortung ist aber nur eine Va-
riante der Manifestation des Ereignisses des Unendlichen bei Levinas.
Er spricht vor allem von zwei Weisen, wie das Unendliche sich mani-
festiert: einmal als das Antlitz des Anderen und ein andernmal als
meine Antwort auf einen Befehl, meine Verantwortung dem gegen-
über, was geschehen ist:
»[…] als hinterlasse das Unsichtbare, das ohne Gegenwart auskommt, eben
dadurch, daß es ohne Gegenwart auskommt, eine Spur. Eine Spur, die als
Gesicht des Nächsten leuchtet […].« (JS, 44/AQE, 14) 446

»Das Unendliche zeigt sich durch seinen Befehl, sich dem Nächsten zu-
zuwenden, nicht einer Subjektivität an, die schon fertige Einheit wäre. In-
dem sie sich an die Stelle des Anderen setzt, bricht die Subjektivität in
ihrem Sein das sein auf. Als der-Eine-für-den-Anderen – löst sie sich auf
in Bedeutung, in Sagen oder Wort des Unendlichen.« (JS, 47/AQE, 16) 447

negiert und auch noch die Negation negiert. Aber – und das ist entscheidend – das
gegenwärtige Denken des Ereignisses ist nicht logisch. Es beschäftigt sich nicht damit,
einen logischen Weg zum Anderen einzuschlagen. Es verweist auf etwas, was jenseits
aller Logik liegt – auf das Leben. Jede negative Theologie, wie ausgeklügelt und
scharfsinnig sie auch wäre, ist nicht das, was das Denken des Ereignisses macht. Levi-
nas setzt sich nicht einfach von der negativen Theologie ab, weil die Verneinung Set-
zung und eine Art Prädikation ist (wie das Westerkamp behauptet), sondern weil
dieser Weg ein denkerischer, ein logischer Weg ist! Er weiß wohl, dass das Denken
des Anderen mit den Negationen arbeitet, weil es auf das Jenseits des Denkens ver-
weisen muss, aber er weist darauf hin, dass seine Negationen nicht logisch, formal
arbeiten, sondern das Logische »widerrufen« müssen. Levinas (und auch andere Den-
ker des Ereignisses) müssen die Negierungen verwenden, aber nicht im Kontext einer
Logik, einer Rationalität, sondern um auf das Außerhalb dieses Kontextes zu verwei-
sen. Deswegen nennt Levinas seine Verneinungen nicht – wie üblich – Negationen,
sondern findet einen Begriff, der diese Art von Negation, die sich von der der negati-
ven Theologie unterscheidet, bedeutet. Er spricht nämlich vom »Widerrufen«: »Alle
Negationen, die in die Beschreibung dieses ›Verhältnisses zum Unendlichen‹ eingrei-
fen, beschränken sich nicht auf den formalen und logischen Sinn der Negation, sie
konstituieren keine negative Theologie! Sie sagen all das, was eine logische Sprache –
unsere Sprache – durch das Aussagen und das Widerrufen [par le dire et le dédire –
L. P.] von der Dia-chronie ausdrücken kann […].« (ZA, 10Anm.1/TA, 11n.1) Kurz
gesagt: Levinas betreibt keine negative Theologie, weil er nicht aus logischen Gründen
etwas negiert, sondern versucht, die Logik zu widerrufen.
446 Das Gesicht als Spur: SA, 228/DEHH, 276 f; JS, 217 f/AQE, 123 f.

447 Die Verantwortung als Spur: HAM, 77/HAH, 86. Hier fasst er fast sein ganzes

philosophisches Werk zusammen: »Wir meinen, daß die Idee-des-Unendlichen-in-


mir – oder meine Beziehung zu Gott – mir in der Konkretheit meiner Beziehung
zum anderen Menschen zukommt, in der Sozialität, die meine Verantwortung für
den Nächsten ist: Verantwortung, die ich in keiner ›Erfahrung‹ vertraglich eingegan-

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Das Antlitz oder meine Antwort und Verantwortung sind nicht zwei
Arten der Manifestation, sondern zwei Momente derselben Manifes-
tation, wobei Levinas in der früheren Philosophie mehr das Antlitz
als die Spur des Unendlichen in Betracht zieht, in der späteren Phi-
losophie aber den Betroffenen selbst – als den Ort, wo das Unendliche
sich ereignet, wo es als Verantwortung bedeutet. Das Antlitz und
meine Verantwortung gehören zum ein und demselben Ereignis des
Unendlichen.
Doch die Spur verfolgend, kommen wir nie zu dem, was diese
Spur hinterlassen hat. Bei der Analyse der Nicht-Phänomenalität des
Ereignishaften haben wir gesehen, dass das, was geschieht (die Spur),
in gewissen Maßen, aber nur in gewissen Maßen, erscheint – zum
Beispiel als das Gesicht eines konkreten Menschen hier und jetzt. Es
wurde aber behauptet, dass diese »Erscheinung« nie den Status eines
Phänomens erreicht, weil sie durch die »Erscheinung« ins Unerreich-
bare führt. Die Nicht-Phänomenalität bedeutet genau das, dass dieses
Nicht-Phänomen eine Spur ist. 448 Es ist eine Spur, indem es mehr als
die Erscheinung hier und jetzt ist, aber es ist auch weniger als diese
Erscheinung, weil es deswegen nie zu einem Phänomen wird. Die
nicht-phänomenale Manifestation führt nicht zu ihrem Ursprung zu-
rück. Die Beziehung zwischen der Manifestation und dem Mani-
festierten, d. h. die Beziehung zwischen der Erscheinung und dem
Unendlichen, das sich in dieser Erscheinung manifestiert, ist kein Be-
zeichnen und die Spur ist kein »Zeichen« (signe). 449 Die Erscheinung
des Antlitzes kann nicht das Unendliche bezeichnen und zu ihm füh-
ren, weil es sich entzieht, schon immer abwesend ist:
»Das Wunder des Antlitzes rührt her vom Anderswo, von wo es kommt
und wohin es sich auch schon zurückzieht. Aber diese Ankunft von Woan-
ders verweist nicht symbolisch auf dieses Woanders als Zielpunkt. Das Ant-
litz stellt sich dar in seiner Nacktheit; es ist nicht eine Gestalt, die einen
Hintergrund verbirgt und eben dadurch auf ihn verweist, nicht eine Er-
scheinung, die ein Ding an sich verhüllt und eben dadurch verrät. […] Der
Andere kommt her vom unbedingt Abwesenden. Aber seine Verbindung
mit dem absolut Abwesenden, von dem er herkommt, bezeichnet dieses

gen bin, aber zu der das Antlitz des Anderen, aufgrund seiner Andersheit, aufgrund
eben seiner Fremdheit, das Gebot spricht, von dem man nicht weiß, woher es gekom-
men ist.« (GE, 18 f/DI, 11)
448
Vgl. SA, 228/DEHH, 276.
449 Die Spur im Vergleich zum Zeichen: SA, 229 ff/DEHH, 277; HAM, 55 ff/HAH,

66 ff.

300

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

Abwesende nicht, enthüllt es nicht; und dennoch hat das Abwesende im


Antlitz eine Bedeutung. Aber dieses Bedeuten des Abwesenden ist nicht
eine Weise, in der Anwesenheit des Antlitzes qua Hohlform zur Gegeben-
heit zu kommen;« (SA, 227/DEHH, 276) 450
Dass die Spur nicht zum Unendlichen führt, heißt nicht, dass sie
überhaupt nicht führt und bei sich bleibt, sondern dass »das Bedeuten
der Spur darin besteht, zu bedeuten, ohne in die Erscheinung zu ru-
fen« (SA, 230/DEHH, 278).
Diese Struktur der Spur, nämlich, dass sie kein Phänomen, kein
bestimmtes Zeichen für etwas, sondern das Bedeuten des Ereignisses
selbst ist, weist auf eine der wichtigen Thesen der Ereignisphilosophie
hin: Das Ereignis der Spur ist das Ereignis selbst. Wenn wir am An-
fang über das Antlitz als ein Ereignis und dann über das Andere als
das Ereignis und das Antlitz als die Spur dieses Ereignisses gespro-
chen haben, dann nur deswegen, weil es eigentlich ein und dasselbe
ist. Das, was konkret geschieht, bedeutet mehr, als das, was geschieht,
aber dieses »mehr« ist kein etwas, was man sich separat von dem
Geschehnis vorstellen und festhalten könnte, weil es sich schon
immer entzogen hat:
»Das Jenseits, von dem das Antlitz herkommt, bedeutet als Spur. Das Ant-
litz hält sich in der Spur des Abwesenden auf, das absolut vergangen, abso-
lut vorübergegangen ist;« (HAM, 53/HAH, 64) 451
Es gibt hier also keine Doppelung von dem Zeichen und Bezeichne-
ten, der Wirkung (die Spur) und Ursache (das Unendliche), dem Ge-
gebenen und Geber. Es gibt nur dieses Ereignis, das sich ereignet. 452
Das Ereignis des Unendlichen ist das Ereignis des Antlitzes bzw. mei-
ner Verantwortung. Es gibt nur ein einziges Ereignis, das aber an sich
als an etwas Zweifaches denken lässt: Es ist zweideutig, wie wir bei
Heidegger gesehen haben. In diesem Kontext spricht Levinas von der
»Zweideutigkeit« (ambiguïté) der Spur. Es scheint so, als ob das Ant-

450 Das Ereignishafte lässt sich nicht durch die Spur verfolgen: HAM, 53/HAH, 64;

JS/AQE, 45/15, 257 f/149, 324/188, 328/191.


451 Dass das Ereignis das Ereignis seiner Spur ist, verbietet, verschiedenen Ereignissen

eine und gemeinsame Bedeutung zu unterstellen, zum Beispiel jede Außergewöhn-


lichkeit als Offenbarung Gottes zu deuten. Jedes Ereignis bedeutet nur das, was seine
Spur bedeutet, wenn auch diese Bedeutung uneinholbar ist.
452
Dieser Aspekt des Ereignisses, nämlich dass es sich nur ereignet und sich nicht in
dem Gegebenen, Geber und Akt des Gebens spalten lässt, ist – wie wir später sehen
werden – eins der Hauptmotive in Marions Ereignisdenken.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

litz die Spur von irgendetwas hinterlassen würde und dass es dieses
irgendetwas ahnen lässt, aber gleichzeitig ist sie nur »Spur seiner
selbst« (trace de lui-même) (JS, 211/AQE, 119). Die Spur bedeutet
etwas anderes, aber auch nur sich selbst. 453 Die Zweideutigkeit des
Ereignisses, nämlich dass es etwas Sichtbares ist und dass es über das
Sichtbare hinaus noch etwas anderes bedeutet, und dass es doch nicht
diese andere Bedeutung einholen lässt, zeigt sich immer darin, dass
wir nicht verstehen, »was« sich ereignet, darin, dass es immer Zweifel
gibt, ob überhaupt sich etwas ereignet. So wie wir immer zweifeln
können, ob sich in dieser oder jener Beziehung wahre Liebe er-
eignet. 454
Diese Zweideutigkeit des Ereignisses wird von Levinas auch mit
dem Konzept des »Zeugnisses« (témoignage) aufgewiesen. Die Spur
bezeugt, ist ein Zeugnis dafür, dass sich etwas ereignet hat, was nie zu
einer Gegenwart geworden ist und nie zu einer Gegenwart werden
wird. Die Spur bezeugt nicht, indem sie das Ereignete aussagt und
zum Thema werden lässt, sondern indem sie sich ereignet, indem sie
selbst ein Ereignis ist. Meine Verantwortung ist Zeugnis dafür, dass
im Antlitz des Anderen das Unendliche geschieht. Wäre nichts ge-
schehen, wäre ich nicht verantwortlich geworden. In meiner Verant-
wortung thematisiere ich aber nichts, sondern setze mich für den An-
deren ein. Meine Verantwortung ist nur eine Anzeige darauf, dass
etwas passiert ist, es führt nicht zu ihm, holt es nicht ein:

453 Die Zweideutigkeit der Spur: JS, 209 ff/AQE, 118 ff.
454 Marion schildert diese Situation perfekt: »Die Erfahrung des Rufs besteht genau
darin, dass wir die Identität des Rufenden nicht kennen können. Wir können auch
nicht wissen, ob es allgemein einen Rufenden gibt. Deshalb ist die Erfahrung des
Gerufenseins so schrecklich. Es braucht eine Entscheidung. So ist es z. B. in der Erfah-
rung der Liebe. Auch sie ist eine Erfahrung des Rufes. Ich frage mich dann: Bin ich
geliebt oder nicht? Habe ich Liebe oder nicht? Diese Erfahrung kann auch die Erfah-
rung einer vollkommenen Illusion oder ein Wahnsinn sein. Aber es kann auch die
Wahrheit sein. Der Kern des Problems liegt in der Identität des möglichen Rufenden.
Die Schwierigkeit besteht darin, dass ich mir nicht sicher sein kann, ob es einen Ru-
fenden gibt. […] Sicher ist nur der Ruf selbst.« (RuG, 58) Aus diesem Grund spricht
Badiou vom Ereignis als »Unentscheidbaren« (indécidable), auf dessen Wirklichkeit
(also darauf, dass es wahr ist, dass es stattgefunden hat) man ausschließlich »wetten«
(parier) kann: »Die Poesie ist die ›sterngeborene‹ Annahme jenes reinen Unentscheid-
baren, das – auf leerem Grund – eine Handlung darstellt, von der man insofern wissen
kann, ob sie stattgefunden hat, als man auf ihre Wahrheit wettet.« (SE, 220/EeE, 214)

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

»Das Unendliche gibt sich im Zeugnis nicht als Thema kund. Ich bezeuge
das Unendliche – im Zeichen, das dem Anderen gilt […].« (JS, 326/AQE,
190)
»Für den Anderen Verantwortung zu übernehmen ist für jeden Menschen
eine Art und Weise, von der Herrlichkeit des Unendlichen Zeugnis abzu-
legen und inspiriert zu sein.« (EU, 87/EI, 111)
Wenn aber das, was sich ereignet, sich völlig entzieht und nicht selbst
zum Thema wird, sondern nur in meinem Zeugnis besteht, muss ich
– radikal gedacht – zugestehen, dass mein Zeugnis des Unendlichen
nur meins ist, es ist meine Antwort, die die Frage nicht aufdecken
lässt:
»Gebot, das erhaben ist, doch ohne Zwang und Beherrschung und das mich
außerhalb jeder Korrelation zu seiner Quelle läßt; es bildet sich keine
›Struktur‹ zu irgendeinem Korrelativ aus, derart eben, daß das Sagen, das
mir zukommt, mir einfällt, mein eigenes Wort ist.« (JS, 329/AQE, 191)
Ich bin zwar vom Ereignis inspiriert worden, doch gleichzeitig auch
der »Urheber« (auteur) des Sagens des Ereignisses. Das Zeugnis der
Inspiration durch das Ereignis ist also zweideutig: Es bezeugt etwas
anders als mich und doch nur mich. Ich bin von einer Seite der Inspi-
rierte, »Vermittlung« (truchement) zur Quelle der Inspiration und
auch der »Anfang« (commencement) meiner Antwort (JS, 326/AQE,
189). Levinas spricht diesbezüglich von der »Ambiguität der Inspira-
tion« (ambiguïté de l’inspiration) (ebd.). Doch diese Ambiguität ist
genau die Art und Weise, wie das Ereignis ohne Doppelung von Frage
und Antwort geschieht:
»Doch dieser einzigartige Gehorsam gegenüber dem Befehl, sich zu er-
geben, ohne noch den Befehl zu vernehmen, dieser Gehorsam, der früher
ist als die Vorstellung, diese Treuepflicht vor jedem Treueid, diese Verant-
wortung, die dem Engagement vorausgeht, ist genau der-Andere-im-Sel-
ben, Inspiration und Prophetie, ist das Sich-Vollziehen, das Passieren des
Unendlichen.« (JS, 330/AQE, 192)
Die Spur, das Zeugnis ist die Art und Weise, wie sich das Ereignis des
Unendlichen manifestiert, ohne sich zu manifestieren, da es unein-
holbar bleibt. Doch was wir hier festhalten müssen, ist, dass die Spur,
das Zeugnis ein konkretes Ereignis ist, das solche Erscheinungen auf-
treten lässt, an die wir uns später erinnern können, von denen wir
später berichten können:

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

»Daß dagegen das Gute in seiner Güte das durch es hervorgerufene Begeh-
ren von sich ablenkt, indem es das Begehren hinlenkt auf die Verantwor-
tung für den Nächsten – wahrt die Differenz in der Nicht-Indifferenz des
Guten, das mich erwählt, bevor ich es aufnehme; es wahrt seine Illeität 455 so
weit, daß sie von der Untersuchung ausgeschlossen bleibt, mit Ausnahme
der Spur, die sie in den Worten oder dem »Bedeutungsgehalt« in den Vor-
stellungen hinterläßt […].« (JS, 274/AQE, 158) 456
Dies heißt: Das Ereignis des Unendlichen, was auch das Ereignis des
Guten ist, entzieht sich völlig der Thematisierung: »[E]s wahrt seine
Illeität«. Das Ereignis wahrt die Differenz, die – wie wir schon gese-
hen haben – die Differenz zwischen dem Nicht-Thematisierbaren
und Thematisierten ist. Das Nicht-Thematisierbare bleibt nicht-the-
matisierbar. Doch auch etwas »Fassbares« kommt zum Vorschein: die
Verantwortung für den Nächsten. Auch dieses »Fassbare« ist ein Er-
eignis und in diesem Sinne nicht fassbar, aber es ist ein konkretes
Ereignis, weswegen es von sich in gewissem Maße berichten lässt.
Wenn die Rede zum Beispiel vom Ereignis des Duftes der Walderd-
beeren ist, kann man vom Sommer, Wald, Spaziergang erzählen; man
kann von der Überraschung der plötzlichen Begegnung, von der Süße
des Duftes sprechen. Dieses Gesagte kann das Ereignis zwar nicht
einholen, aber es thematisiert die Spur des Ereignisses, weist so die
»Koordinaten« des Ereignisses in dieser Welt auf und bezeugt es.

12. Das Ereignis als Anfang von etwas Neuem

Das Ereignis entzieht sich, hinterlässt aber eine Spur. Diese Spur ist
etwas Greifbares, obwohl ihre Quelle völlig unbegreiflich bleibt. Die
Spur ist etwas, was man erfahren, verstehen, formulieren und ana-
lysieren kann. Weil das Ereignis der Einbruch einer anderen Welt ist,
bringt die Spur etwas Neues in die Welt ein, was weiterhin zu dieser
Welt gehören kann. Es geht darum, dass das Ereignis eine fortwäh-

455 Die »Illeität« (illéité) ist das, was auf mich zukommt, sich gleichzeitig entzieht und
nur einen Befehl für mich hinterlässt: »Die Illeität des Jenseits-des-Seins aber meint:
daß ihr Auf-mich-Zukommen ein Abschied ist, der mich eine Bewegung zum Nächs-
ten ausführen läßt.« (JS, 46/AQE, 15) Siehe auch: HAM, 54/HAH, 65; JS, 329/AQE,
191.
456
Der letzte, für uns wichtigste Teil dieses Zitates lautet im Original: »sauf la trace
qu’elle laisse dans les mots ou la »réalité objective« dans les pensées«. Zur Überset-
zung dieser Passage siehe die Anmerkung des Übersetzers: JS, 274.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

rende Spur hinterlässt, die die bisherige Welt – sei es eine individuelle
oder gemeinschaftliche Welt – verändert. Das Ereignis öffnet neue
Möglichkeiten.
In Heideggers Ereignisdenken ist dieser Aspekt des Ereignisses
sehr ausgeprägt. Man könnte sogar behaupten, dass dies die wichtigs-
te Struktur des Ereignishaften bei ihm darstellt. Der Einbruch des
Seins, das erste Aufleuchten des Seienden ist der Anfang des Den-
kens, das sich gleich in die Metaphysik verwandelt, die im Laufe der
Geschichte verschiedene Gestalten einnimmt und trotzdem die Spur
des anfänglichen Ereignisses bleibt. Da die Metaphysik das Wesen der
europäischen Kultur ist, ist das Ereignis des Seins der Anfang des
Abendlandes selbst und seiner Geschichte. Das Ereignis entzieht sich,
wird vergessen, aber es löst eine Welle aus, die durch die »sichtbare«
Geschichte oder – besser gesagt – als diese Geschichte weiterzieht.
Ohne dieses Ereignis wäre das Abendland nicht möglich gewesen. Es
ist der geschichtliche Anfang dieser neuartigen Kultur, die sich als
Spur des Anfangs in das Sichtbare äußert.
Levinas spricht nicht von der Geschichte des Abendlandes, des-
sen Anfang im Ereignis des Seins liegt. Er spricht vom Einbruch des
Ethischen, des Menschlichen ins egoistische Subjekt, aber dadurch
auch über den Einbruch der Idee der Gerechtigkeit in die zwischen-
menschliche Welt. 457 Es geht aber in beiden Fällen um den Einfall
einer Andersheit in die Welt und Gründung einer neuen Welt. Wenn
wir über den Einbruch des Ethischen ins egoistische Subjekt bei Levi-
nas sprechen, dann muss man festhalten, dass die Beschreibung dieses
anfänglichen Ereignisses unterschiedlich in Totalité et infini und Au-
trement qu’être erfolgt. In Totalité et infini stellt das Ethische eine
Etappe der menschlichen Seinsweise dar, in der der Mensch das Sta-
dium des Genusses verlässt und in die Beziehung zu dem Anderen
eintritt. 458 Dieser Sprung von einer Etappe in eine andere ist ein on-

457 Aber in Humanisme de l’autre homme geht Levinas weiter, wenn er behauptet,

dass die ganze Kultur die ursprüngliche Erfahrung des Antlitzes voraussetzt. Diese
Erfahrung, von »oben«, von »Jenseits des Seins« kommend, bricht in das Seins-
geschehnis ein, gründet die menschliche Welt und bleibt als transzendent deren Maß:
»Aus dem Vorhergehenden können wir schließen, daß sich die Bedeutung früher als
in der Kultur und früher als im Ästhetischen im Ethischen ereignet; dieses Ethische
wird von jeder Kultur und von jeder Bedeutung vorausgesetzt. Die Moral gehört nicht
zur Kultur: sie erlaubt vielmehr, sie zu beurteilen, sie entdeckt die Dimension der
Hoheit. Die Hoheit gebietet dem Sein.« (HAM, 47 f/HAH, 58)
458 Entsprechend dem Werk Totalité et infini können folgende Stadien bzw. Sprünge

unterschieden werden: Zugehörigkeit zur Totalität des Seins als die bloße Tatsache des

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

tologisches Ereignis – es ist horizontal, weil es ein Punkt auf einer


Strecke ist, wenn auch die Quelle dieses Ereignisses transzendent,
von oben kommend, ist. Der Einbruch des Anderen in Autrement
qu’être ist dagegen von vornherein vertikal – etwas bricht in das
horizontale Seinsgeschehen von oben ein. 459 Nichtsdestotrotz spre-
chen wir in beiden Fällen von außergewöhnlichen Ereignissen, die
eine Veränderung mit sich bringen. Und diese Veränderung gilt nicht
für eine kurze Zeit, sondern leitet eine ganze Geschichte ein, aus der
diese anfängliche Veränderung nicht wegdenkbar ist und die nicht
anders verlaufen kann als so, wie ihr Anfang es bestimmt hat. Wir
haben schon bei Heidegger gesehen, dass der Umstand, dass der An-
fang eine ganze Geschichte bestimmt, keinen Determinismus bedeu-
tet, sondern nur, dass der Anfang einen bestimmten Horizont für das
Weitere eröffnet. Wenn jemand eine Offenbarung erfährt, dann kann
sein weiteres Leben nicht mehr so sein wie früher, und dieses weitere
Leben trägt immer die Spur dieser Offenbarung, es trägt sie weiter
auf welche Weise auch immer. Mit anderen Worten: Das Anfängliche
wird zum Ursprünglichen, das jeder sichtbaren Gestalt in dieser
Geschichte zugrunde liegt. Jedes ethische System zum Beispiel grün-
det sich in der Offenbarung des Ethischen im Antlitz des anderen
Menschen.
Versuchen wir, die Struktur des Ereignisses als Anfang einer Ge-
schichte am Beispiel der Begegnung mit dem Anderen zu veranschau-
lichen, so wie sie in Totalité et infini geschildert wird. Die Seinsweise
des Selben vollzieht sich so, dass es sich zuerst von der Anonymität
des Seinsereignisses löst. Durch diese »Trennung« (séparation) ge-
winnt es seine Innerlichkeit, und in seinem Inneren genießt es das,
was aus der Außenwelt zu ihm gelangt. Genauer gesagt: Indem das
Selbe genießen kann, trennt es sich von der Totalität:

Existierens, Trennung von der Totalität als Herausbildung der Innerlichkeit, Stadium
des egoistischen Genusses, Bleibe und Arbeit, Begegnung mit dem Anderen, die ero-
tische Beziehung und Vaterschaft, in der das Selbe zum Anderen wird.
459 Diese Vertikalität wird hier ganz klar ausgedrückt: im Menschen selbst, in seiner

weltlichen (horizontalen) Entwicklung gibt es das Ethische nicht. »Es ist klar, daß es
im Menschen die Fähigkeit gibt, nicht zum Anderen hin zu erwachen; es gibt die
Fähigkeit zum Bösen. Das Böse ist die Seinsordnung schlechthin – und im Gegensatz
dazu ist Zum-Anderen-gehen das Einbrechen des Menschlichen ins Sein, ein »anders
als Sein«.« (ZU, 145/EN, 132) Und weiter: »Das Menschliche ist ein Skandal im
Sein […].« (ZU, 146/EN, 133)

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

»Die Innerlichkeit des Genusses ist die Trennung an sich, die Weise, der
gemäß ein Geschehen [événement – L. P.] wie die Trennung sich in der
Ökonomie des Seins ereignen kann.« (TU, 210/TI, 121) 460
Im »Genuss« (jouissance) ist der Genießende bei sich selbst, aber er
kennt auch das Andere – das, was er genießt, obwohl er das Andere
nicht als das Andere anerkennt und es in sich auflöst:
»Wenn der Genuß der eigentliche Wirbel des Selben ist, so ist er nicht Un-
kenntnis des Anderen, sondern seine Ausbeutung. Die Andersheit dieses
Anderen wird vom Bedürfnis, das der Genuß als Erinnerung festhält und
das seine Glut entfacht, überwunden.« (TU, 161/TI, 88)
Das Genießen wird aber von der »Unsicherheit« (insécurité) (TU,
202/TI, 115), von der »Sorge um das Morgen« (souci du lendemain)
(TU, 215/TI, 124) betrübt. Um gegen diese Unsicherheit bestehen zu
können, braucht das Selbe ein Zu-Hause, eine »Bleibe« (demeure),
die es von der Außenwelt trennen würde. In der Bildung eines Zu-
Hause, die Levinas die »Sammlung« (recueillement) nennt, begegnet
das Selbe zum ersten Mal dem Anderen. Diese Beziehung mit dem
Anderen ist noch keine ethische – das Selbe begegnet dem »weibli-
chen Antlitz« (visage féminin), das ermöglicht, dass das Selbe ein Zu-
Hause haben und in der Trennung von der bedrohlichen Außenwelt
wohnen kann:
»Dieser Empfang des Antlitzes ereignet sich in ursprünglicher Weise in der
Sanftmut des weiblichen Antlitzes; hier kann sich das getrennte Seiende
sammeln, dank der Sanftmut wohnt es, und in seiner Bleibe vollzieht es
die Trennung.« (TU, 216/TI, 124) 461
Wie schon erwähnt, ist diese Nähe zu dem weiblichen Anderen keine
ethische Beziehung, es ist keine Beziehung mit einem Gesprächspart-
ner, sondern eine Ich-Du Beziehung, Intimität ohne Worte (TU, 122/
TI, 129).

460 In der Tat kann man die Trennung als Bruch mit der Totalität und Herausbildung

der Innerlichkeit als einen Sprung, also als ein Ereignis verstehen. In De l’existence à
l’existent spricht Levinas in diesem Zusammenhang – wie wir wissen – von dem »Er-
eignis der Hypostase«. Dieser Ereignisbegriff entspricht aber nicht dem unsrigen. Die
Trennung ist kein Ereignis, weil sie als ein unbeteiligter, ontologischer Übergang von
einem Entwicklungsstadium zum anderen geschieht, während das Ereignis eine Er-
fahrung der Störung des Bewusstseins ist.
461 Über das Zu-Hause und das Weibliche als seine Voraussetzung siehe auch: TU,

217 ff/TI, 125 ff.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Des Weiteren konstituiert sich das Selbe durch die »Arbeit« (tra-
vail), durch das Greifen in das »Element (élément)«, in das »Elemen-
tale« (l’élémental) 462 die Objekte und eröffnet so die Welt:
»Die Elemente stehen dem Ich weiterhin zu Verfügung – es kann sie neh-
men oder lassen. Unter dieser Voraussetzung entreißt die Arbeit den Ele-
menten die Dinge und entdeckt so die Welt.« (TU, 225/TI, 130)
Doch auch hier gibt es noch keinen Anderen, da diese Objekte da sind,
um durch die Arbeit zum Besitz des Selben zu werden:
»In ihrer ersten Intention ist die Arbeit dieser Erwerb, diese Bewegung auf
sich zu. Sie ist keine Transzendenz.« (TU, 229/TI, 133) 463
Im Vollzug jeder Etappe seiner Seinsweise – des Genusses, der Bleibe
und der Arbeit – bleibt das Selbe bei sich, es kennt nur sich selbst.
Doch dann kommt die Erschütterung des Selben durch den Anderen.
Und sie kommt nicht nur als eine seiner Entwicklungsphasen, son-
dern als das Ereignis der Transzendenz. Dies geschieht genau da-
durch, dass das Ich den Anderen als den Anderen erfährt, den es nicht
zu seinem Besitz machen kann, den es nicht beherrschen und unter-
drücken kann. Kurz: Der Andere bricht ein, indem er meinen Ego-
ismus in Frage stellt; er ist »Infragestellung meiner Freiheit« (la mise
en question de ma liberté) (SA, 202/DEHH, 243) 464. Die erste und
grundlegende Weise, wie diese Infragestellung geschieht, ist das Ge-
bot, das mir verbietet, den Anderen zu töten:
»Er kann meinen Besitz nur anfechten, weil er sich mir nicht von Außen,
sondern von Oben nähert. Das Selbe vermöchte sich dieses Andere nicht zu
bemächtigen, ohne es zu vernichten. Aber die unüberbrückbare Unendlich-
keit dieser Negation des Mordes kündigt sich gerade in dieser Dimension
der Erhabenheit an, in der der Andere auf mich zukommt, und zwar kon-
kret in der ethischen Unmöglichkeit, diesen Mord zu begehen.« (TU, 247/
TI, 145 f)

462 Das Elementale, die Elemente sind das, was der Genuss genießt. Der Genuss ge-
nießt – wie wir gesehen haben – keine Objekte, sondern »reine Qualitäten ohne Trä-
ger, ohne Substanz« (TU, 195/TI, 111). Der Genuss besitzt nicht die Elemente und
steht ihnen auch nicht gegenüber, sondern »badet« (baigner) (TU, 185/TI, 105) in
ihnen.
463
Zu der Arbeit und dem Besitz siehe: TU, 226 ff/TI, 131 ff.
464 Der Andere stellt meine Freiheit in Frage: SA, 202 ff/DEHH, 243 ff; TU/TI, 64/22,

103/48, 249/146, 280/169 f; HAM, 42 f/HAH, 53; JS, 246 f/AQE, 142.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

Als ein genießendes Subjekt möchte und könnte ich den Anderen,
den ich nie als einen Anderen erfahren habe, vernichten, weil er ne-
ben mir einen Anspruch auf die Objekte meines Genusses oder mei-
ner Arbeit erhebt. Da aber ein Ereignis geschieht, will und kann ich es
nicht. Nach irgendeinem Ereignis, das schon vergangen ist, bleibt für
mich das Antlitz des Anderen und das Gebot in mir, das mir verbietet,
zu töten. Das Ethische besteht aber nicht nur im Verbot zu töten. Es
geht im Allgemeinen darum, dass ich den Anderen bei mir aufnehme,
dass ich für ihn verantwortlich bin, dass ich mich für ihn einsetze
etc. 465 Das Ereignis des Anderen leitet also eine neue Phase ein – ich
bin nicht mehr allein, ich bin nicht mehr frei im Sinne, dass ich alles –
auch andere Menschen – als der alleinige König der Welt besitzen
kann. Stattdessen soll ich mit dem Anderen reden, ihm antworten,
auf ihn zukommen, mich für ihn einsetzen.
In Autrement qu’être versucht Levinas die Entstehung des Ethi-
schen nicht mehr mit der ontologischen Entwicklung des Selben zu-
sammenzubringen. Es geht nicht mehr so sehr darum, zu zeigen,
wann der Andere einbricht, sondern wie. Es geht um diejenigen Sinn-
zusammenhänge, die den Sinn des Ethischen, der darin besteht, die
Verantwortung für den Anderen zu übernehmen, konstituieren. Eine
kurze und sehr aufschlussreiche Beschreibung dieser Logik des Ein-
bruchs des Ethischen finden wir in einem Interview mit Levinas aus
dem Jahre 1982 (abgedruckt im Sammelband Entre nous), wo Levinas
sagt:
»In meiner Analyse ist das Antlitz keineswegs eine plastische Form, etwa
wie ein Porträt; das Verhältnis zum Antlitz gleichzeitig das zu einem abso-
lut Schwachen – dem, das absolut entblößt, nackt und ausgesetzt ist, das
Verhältnis zum Entblößtsein und folglich zu dem, was allein ist und die
äußerste Vereinzlung erleiden kann, die der Tod gibt; es gibt daher im Ant-
litz des Anderen immer den Tod des Anderen und so, gewissermaßen, An-
stiftung zum Mord […] und gleichzeitig, und das ist das Paradox, ist das
Antlitz auch das »Du-wirst-nicht-Töten«, Du-sollst-nicht-Töten, das man

465Siehe zum Beispiel: JS/AQE, 47/16, 262/151; EU, 93/EI, 117. Bernhard Casper
weist darauf hin, dass, entsprechend der talmudischen Einsicht, jede göttliche Wei-
sung zwei Seiten hat: »Sie bestehe immer zugleich in einem Gebot und einem Ver-
bot.« (Casper(2009), 21) So hat auch das von Levinas aufgedeckte Verbot eine positive
Seite: »In der Grundbefindlichkeit der Verantwortlichkeit besteht das Verbot in dem
Imperativ: »Töte den Anderen nicht!«. Die positive Seite dieser göttlichen Weisung
aber besteht in dem Gebot: »Laß den Anderen in seiner Sterblichkeit nicht allein!«.
(ebd.; er zitiert hier ein Interview mit Levinas)

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

auch noch viel näher explizieren kann, es ist der Tatbestand, daß ich meinen
Nächsten nicht alleine sterben lassen kann, es ist wie ein Appell an mich;«
(ZU, 133 f/EN, 122)
Wie kommen wir also konkret zur Verantwortung für den Anderen?
Wir haben schon gesehen, dass das Antlitz für Levinas kein Etwas,
keine Bedeutung ist, es löst alle Formen auf – es führt in etwas Unbe-
greifliches und Uneinholbares. Weil das Antlitz keine deutbaren Ei-
genschaften, Attribute trägt, spricht Levinas von der »Nacktheit«
(nudité) (TU, 102/TI, 7) des Antlitzes. 466 Wegen dieser Nacktheit er-
fahren wir die Verletzlichkeit, die Sterblichkeit des Anderen. Sie stif-
tet zum Mord an 467, aber lässt auch dem Du-sollst-nicht-Töten gehor-
chen, das die Verantwortlichkeit für den Anderen mit sich bringt. Aus
dem eben oben angeführten Zitat wird es noch nicht klar, wie die
Sterblichkeit, die im Antlitz des Anderen eingeschrieben ist, zur Ver-
antwortung führt. Dies erklärt Levinas in einem anderen Text:
»Der Tod des anderen Menschen bezieht mich ein und stellt mich in Frage,
so als ob ich durch meine Indifferenz der Komplize dieses für den Anderen,
der sich ihm aussetzt, unsichtbaren Todes würde; und so als ob ich, noch
bevor ich ihm selbst geweiht bin, diesen Tod des Anderen zu verantworten
hätte und ich den Anderen nicht dem Alleinsein überlassen dürfte.« (GE,
213/DI, 245)
Das heißt: Wenn wir das Antlitz in seiner Verwundbarkeit und Sterb-
lichkeit sehen, erreicht dies uns nicht nur als Verbot, den Anderen zu
verwunden. Wir haben auch immer das Gefühl, dass wir daran schuld
sind. Wir sind nicht tatsächlich schuldig – es ist die Schuld, die der
Andere uns gibt. Wir sind »für alles angeklagt, doch ohne Schuld«

466 Die Nacktheit des Antlitzes: TU, 100 f/TI, 46; SA, 222/DEHH, 271 f; HAM, 41/

HAH, 52. Diese Nacktheit nennt Levinas auch »Abstraktheit« (abstraction): SA/
DEHH, 222/272, 226 f/275; HAM/HAH, 41/52, 51/63.
467 Wir würden eher vermuten, dass nicht die Verletzlichkeit des Anderen zum Mord

anstiftet, sondern das Unbegreifliche und Uneinholbare, zu dem die Nacktheit des
Antlitzes führt (genauer gesagt: zu dem sie nicht führt). Man begehrt die Transzen-
denz (die Transzendenz ist überhaupt das Einzige, was man begehren kann, insofern
man überhaupt in der Lage ist, zu begehren) im Anderen und manchmal wird dieses
Begehren »krankhaft«: es wird, erstens, zum zwanghaften Willen, diese Transzendenz
unbedingt zu besitzen, und, zweitens, denkt es, dass dieses Besitzen durch das kör-
perliche Besitzen des anderen Menschen erfolgt: durch sexuellen Kontakt, der zum
Vergewaltigung führt, durch Folter und Mord. Deswegen ist es richtig, wenn man
sagt, dass zum Beispiel Folter nicht die Ent-Menschlichung des Anderen, sondern –
im Gegenteil – die Bestätigung derer ist – leider nur eine gestörte Bestätigung.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

(GE, 225/DI, 255). Der Andere klagt uns an und macht so uns für ihn
verantwortlich. Dies ist eine der wichtigsten Thesen in Levinas’
Ethik: Die Verantwortung, die man für den Anderen trägt, ist abso-
lut. Ich bin »verantwortlich für alles und für alle« (JS, 253/AQE, 145).
Wie? Weil ich auch dafür die Verantwortung trage, was ich gar nicht
getan habe:
»Verantwortung ohne Schuld, in der ich dennoch einer Anklage ausgesetzt
bin, die weder das Alibi noch die Nicht-Gleichzeitigkeit entkräften können,
ja in der es so scheint, als ob diese die Anklage begründeten.« (GE, 218/
DI, 249)
Hier wird es also noch radikaler ausgedrückt: Ich bin verantwortlich
ohne schuldig zu sein, weil der Andere mich anklagt, und ich kann
mich nicht rechtfertigen, indem ich sage: »Ich war nicht dabei, das
war ich nicht.« Solche Rechtfertigungen machen genau die Anklage
gültig: »Du bist schuldig, weil du nicht da warst, um das Übel zu ver-
hindern.« Die Idee dieser absoluten Verantwortung wird von Levinas
durch das Konzept »Stellvertretung« (substitution) gedacht. Es geht
um die »Stellvertretung« als den »letztendlichen Sinn der Verantwor-
tung« (sens ultime de la responsabilité) (GE, 98/GI, 130). Die Stell-
vertretung besagt, dass ich dafür verantwortlich bin, wofür jemand
anderer verantwortlich ist – sie ist die Verantwortung für die Verant-
wortung eines anderen (GE, 41/GI, 32). Im Antlitz eines Häftlings im
Konzentrationslager oder eines vor Hunger sterbenden Kindes in
Afrika wird wie durch einen transzendenten Strahl die Anklage an
mich eingraviert, die mich schuldig macht, obwohl ich dann und dort
nicht gewesen bin und nichts damit zu tun habe. Trotzdem muss ich
die Verantwortung übernehmen. Diese Verantwortung für den An-
deren und meine Sorge um ihn, wenn ich ihn auch nicht kenne und
ihm nichts angetan habe, ist das Ereignis des Ethischen in der Welt
des Egoismus, es ist das Außer-Gewöhnliche in der gewöhnlichen
Ordnung. Überraschung. Etwas Neues. Etwas anderes als das, woran
wir und gewöhnt sind. Es ist auch deswegen gegen jede Ökonomie,
gegen Vernunft und Logik – etwas Idiotisches, wenn wir an Dosto-
jewskis Roman Der Idiot denken. Fürst Myschkin stellt für diese Welt
einen Idioten dar. Warum? Weil er – wenn wir es mit Derrida aus-
drücken wollen – im Gegensatz zum ökonomischen Kreislauf bedin-
gungslos handelt. Er gibt eine reine Gabe in einer Welt, die bereit ist,
nur vergiftete Gaben zu geben.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Wenn das Ereignis durch ein Verbot und Gebot einbricht und so ver-
schiedene Anforderungen an das Subjekt stellt, lässt sich fragen, ob
das Subjekt sich eingeschränkt vom Anderen fühlt, unfrei; ob dieses
Ereignis einen Zwang ausübt. Vielleicht will ich gar nicht verantwort-
lich für die ganze Welt sein? Ist das Ereignis nicht eine Situation, die
man sich nicht gewünscht hat, die aber doch eingetreten ist und je-
manden zu solchen Handlungen zwingt, die er gar nicht ausführen
will, die er aber ausführen soll, weil das Ereignis schon geschehen ist?
Levinas’ Texte bieten uns mehrere Hinweise darauf, wie diese Fragen
beantwortet werden könnten. Erstens übt das Ereignis keinen Zwang
auf den Betroffenen aus:
»[…] es [das Gute – L. P.] hat mich gewählt, bevor ich es gewählt habe.
Niemand ist gütig aus freien Stücken.« »Und wenn niemand gütig ist aus
freien Stücken, so ist doch auch niemand Sklave des Guten.« (JS, 41/
AQE, 13) 468
Dies bedeutet: Der Zwang besteht nur dann, wenn es vor dem Ereig-
nis eine freie Wahl gibt und wenn durch das Ereignis das Gegenteil
vom Bevorzugten eintritt, das man trotzdem hinnehmen muss. Da
aber das Ereignishafte dem Selben transzendent ist, steht es ihm nicht
zur Wahl, sondern bricht unvorhersehbar ein. Es verletzt nicht seine
Sphäre der Freiheit, wo es frei wählen kann, sondern bietet etwas
Neues an, was man vorher nicht wählen konnte. Deswegen – und
das ist der zweite Punkt – wird das Ereignis als befreiend entgegen-
genommen. Das Ereignis zwingt nichts auf, sondern befreit eine Welt
von ihr selbst, indem es einen neuen Horizont eröffnet:
»In dieser Stellvertretung […] löst sich das Sich von sich selbst ab. Freiheit?
Eine andere Freiheit als die der Initiative. […] In der unvergleichlichen Be-
ziehung der Verantwortung begrenzt der Andere nicht mehr den Selben;
was er begrenzt, das trägt ihn. […] In dieser passivsten Passivität wird das
Sich auf ethische Weise von jedem Anderen und von sich selbst befreit.
Seine Verantwortung für den Anderen – die Nähe des Nächsten bedeutet
nicht Unterwerfung unter das Nicht-Ich, sie bedeutet die Offenheit, in der
das sein des Seienden in der Inspiration überboten wird […].« (JS, 254/
AQE, 146) 469

468Das Ereignis ist kein Zwang, keine Sklaverei: TU/TI, 247 ff/146, 440/279 f.
469Das Ereignis befreit mich von meiner Eingeschränktheit in mir selbst: TU, 249/TI,
146; JS, 277/AQE, 159 f. Übrigens hat auch Heidegger dies ähnlich gesehen. Das Er-
eignis »erzwingt« nichts, es schenkt nur eine Möglichkeit, die, wenn sie mal eröffnet
worden ist, zum dem wird, was man will, was man begehrt, was als »Not« empfunden

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

Drittens, indem das Ereignis von außen kommend mir eine Forde-
rung stellt, liefert es damit einen Grund und eine Begründung für
mich und meine Tat. Ich kann mich nicht aus mir selbst begründen.
Wenn ich auf die Frage: »Warum tust du das?« antworte: »Weil ich es
so will,« dann stellt meine Antwort keine Begründung dar: Meine
Wahl und Handlung erscheinen willkürlich und sinnlos – sowohl für
die anderen als auch für mich selbst. »Die Freiheit rechtfertigt sich
nicht durch die Freiheit.« (TU, 441/TI, 280) Ein Grund kann nur von
außen kommen – durch ein Ereignis. Nur wenn ich im Ereignis bin,
das mir etwas befiehlt, finde ich eine Rechtfertigung:
»Das Andere aber, das absolut anders ist – der Andere – begrenzt nicht die
Freiheit des Selben. Indem der Andere die Freiheit zur Verantwortung ruft,
setzt er sie ein und rechtfertigt sie [il l’instaure et la justifie – L. P.]. Das
Verhältnis zum Anderen als Antlitz heilt von der Allergie. Es ist Begehren,
empfangene Unterweisung und friedlicher Gegensatz der Rede.« (TU, 282/
TI, 171) 470
Wenn das Ereignis einbricht, fühlt man sich also nicht unfrei, als ob
die freie Wahl eingeschränkt worden wäre; man fühlt sich nicht ge-
zwungen etwas zu tun, was man nicht tun will. Eher wird das Ereignis
als eine neue, überraschende Möglichkeit aufgefasst, sogar als eine
Gabe, für die man sich als auserwählt sieht. Ein neuer Wille wird
erweckt: das zu tun, wofür das Ereignis befähigt hat. Und die Taten,
die man jetzt von sich aus vollbringt, erscheinen nicht sinnlos, son-
dern – dadurch, dass sie durch das Ereignis gestiftet worden sind, –
begründet.

Doch das, was das Ereignis des Antlitzes mit sich bringt, ist nicht nur
eine neue und neuartige Beziehung mit dem Nächsten, sondern auch
eine Beziehung zu allen Menschen. Diese Beziehung nennt Levinas
»Gerechtigkeit« (justice). Was das Ereignis des Unendlichen hinter-
lässt, ist nicht nur die Verantwortung bis zur Stellvertretung gegen-
über dem Nächsten, sondern auch die Gerechtigkeit gegenüber allen.
Es ist so, weil man eigentlich nie nur einem Menschen, meinem
Nächsten, begegnet – die Anderen, d. h. »der Dritte« (le tiers) ist auch
immer schon dabei. Wie entsteht die Idee der Gerechtigkeit aus der
Anwesenheit des Dritten, der schon immer hier ist? So, dass die An-

wird: »Das Seyn versetzt in Not, ernötigt, nicht erzwingt einen Wesenswandel des
Menschen;« (ÜM, 22)
470
Siehe auch: TU, 366/TI, 229.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

wesenheit des Dritten die Frage entwirft: Wie ich mich gegenüber sol-
chen Menschen verhalten muss, die nicht meine Nächsten sind? Da-
mit aber, dass, wie es sich herausstellt, mir ein Sollen auch gegenüber
den anderen auferlegt ist, wird meine absolute Verantwortung gegen-
über dem Nächsten eingeschränkt und gleichmäßig auf alle verteilt:
»Wie kommt es, daß es Gerechtigkeit gibt? Ich sage darauf, daß das in der
Tatsache der Vielzähligkeit der Menschen liegt, in der Gegenwart des Drit-
ten neben dem Anderen, wo beide die Gesetze bedingen und das Recht be-
gründen. Solange ich mit dem Anderen alleine bin, schulde ich ihm alles;
aber es gibt den Dritten. Weiß ich, was mein Nächster im Verhältnis zum
Dritten ist? Weiß ich, ob der Dritte mit ihm in Übereinstimmung ist oder ob
er sein Opfer ist? Wer ist der Nächste für mich? Man muß daher abwägen,
denken, beurteilen, indem man Unvergleichbares miteinander vergleicht.
Die interpersonale Beziehung, die ich mit dem Anderen herstelle, muß ich
auch mit den anderen Menschen herstellen; es besteht also die Notwendig-
keit, dieses Privileg des Anderen einzuschränken; daher die Gerechtigkeit.«
(EU, 68 f/EI, 84) 471
Mit der Entstehung der Frage nach der Gerechtigkeit ändert sich auch
mein Status. Ich bin nicht mehr nur einzig und unersetzbar, der für
den Anderen vorbehaltlos einzutreten hat, ohne vom Anderen das-
selbe für mich einfordern zu können (Asymmetrie). Ich werde selbst
zu einem Knotenpunkt in einem in der Reflexion gegebenen Bezie-
hungsnetz und kann von Anderen die Gerechtigkeit für mich einfor-
dern (Symmetrie). Die Gerechtigkeit darf aber die Verantwortung
gegenüber dem Nächsten nicht aufheben. Levinas’ Vorstellung von
einer Gemeinschaft enthält beide Momente: sowohl die Gerechtig-
keit, die sich auf alle Menschen erstreckt und sie gleich behandelt,
als auch die Beachtung des Rufes, der im Antlitz eingeschrieben ist
und der mich betrifft:
»Die Gerechtigkeit bleibt Gerechtigkeit nur in einer Gesellschaft, in der
zwischen Nahen und Fernen nicht unterschieden wird, in der es aber auch
unmöglich bleibt, am Nächsten vorbeizugehen; in der die Gleichheit aller
getragen ist von meiner Ungleichheit, durch den Mehrwert meiner Pflich-
ten über meine Rechte. Die Selbstvergessenheit bewegt die Gerechtigkeit.«
(JS, 347/AQE, 203) 472

471 Zur Anwesenheit des Dritten und Entstehung der Gerechtigkeit: TU, 307 f/187 f;

JS/AQE, 205Anm.33/116n.33, 285/165, 342 ff/200 ff; GE, 101 f/DI, 132 f; ZU, 132 f/
EN, 121 f.
472
Siehe auch: GE, 34 f/DI, 27.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

Das Ereignis, das selbst uneinholbar und unbegreiflich bleibt, hinter-


lässt eine sichtbare Spur, die die Welt verändern kann. Heideggers
Ereignis des Seins setzt sich fort in Gestalt der Philosophie, Metaphy-
sik und Wissenschaft. Levinas’ Ereignis des Jenseits des Seins begrün-
det die Ethik und Politik. Die Geschichte als die Auseinandersetzung
mit dem Anfänglichen, dessen Fortsetzung und Wiederholung sie ist,
stellt eine wesentliche Struktur des Ereignisses dar.

13. Vom Ereignis sprechen

Kann man vom Ereignis sprechen? Das Sprechen als solches – wie wir
dies in der zwischenmenschlichen Beziehung bei Levinas gesehen ha-
ben – kann durchaus zum Ereignis gehören, doch welches Verhältnis
besteht zwischen dem Ereignis und der reflexiven, philosophischen
Sprache? Heideggers Antwort diesbezüglich lag darin, dass die Spra-
che sowie auch das Denken überhaupt selbst ereignishaft sind – sie
sind Momente des Ereignisses. Mehr noch: Sie setzen das Ereignis
voraus und dies im zweifachen Sinne. Einmal sind das Denken und
damit die Sprache des Denkens durch ein Ereignis entstanden. Sie
tragen dessen Spur, sie tragen es in sich, auch wenn sie scheinbar über
diese Voraussetzung sprechen. Deswegen ist es ein falscher Eindruck,
dass die Sprache über das Ereignis spricht und so sich von ihm ab-
setzt, weil sie eigentlich aus ihm spricht und es nie verlassen kann.
Ein andermal ist das Ereignis, insofern es nicht als der Anfang, son-
dern als eine konkrete Erfahrung gedacht wird, die Eröffnung der
Möglichkeit, so zu sprechen, wie die Sprache über es spricht. Auf
diese Weise ist die Sprache die Bestätigung und der Ausdruck des
Ereignisses. In diesem Fall besteht zwar die Gefahr, dass die Sprache
das Ereignis nicht richtig ausdrückt, aber wenn der Denker sich be-
müht, wenn er auf eine objektivierende Sprechweise verzichtet, ist es
möglich, die Worte ins Ereignis zu integrieren. Durch das Sprechen
von dem, was mit ihm geschieht, gehört der Denker zum Ereignis
hinzu. Das Ereignis und die Sprache des Denkens sind also bei Hei-
degger miteinander versöhnt. Wenn auch er die begriffliche Sprache
der Metaphysik für ihre Unmöglichkeit, das Ereignis auszusagen,
scharf kritisiert, so ist diese Kritik nur ein Zwischenschritt zum Ver-
ständnis der Sprache der Metaphysik als vom Ereignis kommend. Der
Begriff kann in der Tat das konkrete Ereignis nicht erreichen (dafür
braucht man eine dichterische Sprache), er spricht dem Ereignis vor-

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

bei, aber letztendlich gehört auch er selbst zum Ereignis als dessen
geschichtliche Spur.
Für Levinas, der, wie wir gesehen haben, die Undenkbarkeit des
Ereignisses behauptet, sind das Ereignis und die Sprache der Philoso-
phie grundsätzlich einander entgegengesetzt – zumindest auf den
ersten Blick. Philosophie ist an sich Thematisierung. Indem sie the-
matisiert, hat sie schon das Ereignis verloren – sie hat es zum Thema
verwandelt. Die Aussagen der Philosophie sprechen also nicht von
oder aus dem Ereignis, sondern nur über ein Denkobjekt, das mit
dem wirklichen Ereignis nichts mehr zu tun hat – das Ereignis ist
schon geschehen, das, was die philosophischen Texte behandelt, sind
nur objektivierte Überbleibsel eines wirklichen Geschehnisses. Diese
Aussagen, die das Ereignis später, wenn es schon vergangen ist, als ein
Thema behandeln, nennt Levinas das »Gesagte« (le Dit). Das wahre
Geschehen ist dagegen das »Sagen« (le Dire). Das Sagen, wie wir es
schon gesehen haben, heißt nicht, etwas zu sagen, egal ob in einer
thematisierenden, teilnehmenden oder einer anderen Einstellung.
Das Sagen heißt, im Ereignis, in der Nähe zu sein, dem Anderen zu
antworten, die Verantwortung zu übernehmen. Das Sagen ist das Er-
eignis – es ist durch die »Unfähigkeit, im Gesagten zu erscheinen«
(incapacité d’apparaître dans le dit) (HAM, 73/HAH, 83) gekenn-
zeichnet. Das Gesagte ist seinerseits außerhalb des Ereignisses – ob
über ihm in der Reflexion, nach ihm in der Geschichtsschreibung
oder vor ihm in der Planung, dies spielt keine Rolle. Das Gesagte ist
immer ontologisch, es spricht ontologische Sprache, es sagt etwas
über etwas, objektiviert und prädiziert und spricht an dem Ereignis
vorbei. 473
Doch: Wenn man etwas über das Ereignis sagen möchte, wenn
man es sich zeigen lassen möchte, so gibt es keine andere Möglichkeit,
als es sichtbar zu machen, d. h. zu thematisieren. 474 In der Themati-
sierung wird es aber unterdrückt und, indem das Thema vor ihm vor-
gezogen wird, »verraten« (trahir):

473 Wichtige Stellen zum Sagen, Gesagten und zu ihrer Unterscheidung siehe: JS/

AQE, 105 f/55, 110 ff/58 ff, 144/78, 390 ff/231 ff.
474 Dies trifft auch Levinas’ eigene Philosophie: »Die Philosophie wie die Wissen-

schaft wie die Wahrnehmung strebt nach einem Wissen: sie sagt, ›wie es damit ist‹,
ihr theoretisches Wesen ist kaum zu leugnen. Das gilt auch für unseren eigenen Dis-
kurs, von seinem ersten bis zu seinem letzten Satz.« (GE, 266/DI, 266)

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

»Wie dem auch sei, das vor-ursprüngliche Sagen wandelt sich in eine Spra-
che, in der das Sagen und Gesagtes sich wechselseitig bedingen, ja in der das
Sagen seinem Thema sich unterordnet.« (JS, 30/AQE, 7)
»Die Korrelation von Sagen und Gesagtem, das heißt die Unterordnung des
Sagens unter das Gesagte, unter das linguistische System und unter die
Ontologie, ist der Preis, den die Manifestation verlangt.« (JS, 30/AQE, 7) 475
Sobald man also über das Ereignis spricht, verschwindet es und sein
Platz wird vom Denkobjekt »Ereignis« eingenommen. Wir erkennen
hier gleich Derrida. Doch, wenn das vielleicht Derridas letztes Wort
diesbezüglich ist, so nicht für Levinas. Er ist der Ansicht, dass das
Sagen im Gesagten nicht völlig verschwunden ist, dass es eine Spur
hinterlässt bzw. hinterlassen kann und jenseits des Gesagten bedeu-
tet. 476 Diese Bedeutung des Sagens wäre dann nicht die Bedeutung
einer Aussage, sondern das Ereignis selbst. Die Sprache, der Gedan-
kengang eines Textes kann so gestaltet werden, dass er diese Spur
enthält und verfolgen lässt. 477 Zuerst ist es aber notwendig, dass die
Sprache überhaupt nicht als ein Zeichensystem aufgefasst wird, das
etwas bezeichnet, was schon gesetzt und objektiviert worden ist, son-
dern als die Spur wirklicher Geschehnisse. Mit anderen Worten: Die
Sprache muss so aufgefasst werden, dass sie nicht aus Nomen, son-
dern aus Verben besteht, wo die Verben direkt auf die Prozesse, die
sich ereignen, hinweisen. In diesem Sprachverständnis stehen im Fo-
kus nicht die Nomina, zum Beispiel »Stuhl«, den man sich vorstellt,
sondern das Verb »sitzen«, das die wirkliche Erfahrung des Sitzens
bedeutet. Mehr noch, die Entwicklung der Sprache könnte so inter-
pretiert werden, dass die Sprache ursprünglich das Verb ist, das dann
nominalisiert wird. Genauso wie Heidegger ist also Levinas der Mei-
nung, dass zuerst das Verständnis der Sprache im Allgemeinen ver-
ändert werden muss, damit die Sprache des Ereignisdenkens richtig,
d. h. ereignisgemäß gelesen werden könnte. 478
Die Sprache als das Gesagte, als das Nomen trägt also in sich die
Möglichkeit, zum Sagen, zum Verb zurückzukehren. Diese Rückkehr

475 Das Gesagte verrät das Sagen, aber es ist auch die einzige Möglichkeit, wie das

Sagen geschehen kann: HAM, 97/HAH, 106; JS/AQE, 32/8, 58/23, 160/88, 298/173,
303/176.
476 Das Sagen hinterlässt eine Spur im Gesagten, die jenseits der Bedeutung des Ge-

sagten bedeutet: JS/AQE, 58/23, 89 ff/44 ff, 96/49, 112 f/59 f, 331 ff/193 ff.
477 Siehe zum Beispiel: JS/AQE, 334/194, 338 ff/197 ff, 367 f/215 f.

478
Zum Levinas’ Verständnis der Sprache siehe: JS/AQE, 87 ff/43 ff, 96 ff/49 ff.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

erfolg laut Levinas durch »Reduktion« (réduction) bzw. »Wider-Ruf«


(le dédit):
»Auf dieses Diesseits gilt es zurückzugehen, von der Spur aus, die das Ge-
sagte, in dem alles sich zeigt, von ihm behält. Der Rückgang auf das Sagen
ist die phänomenologische Reduktion, in der das Unbeschreibbare be-
schreibbar wird.« (JS, 129/AQE, 69)
»Es gilt, auf ihre Bedeutung jenseits oder diesseits des Verständnisses von
Aktivität und Passivität im Sein zurückgehen, jenseits oder diesseits des
Gesagten, jenseits des Logos und jenseits oder diesseits der Doppeldeutig-
keit von Sein und Seiendem. Die ›Reduktion‹ erfolgt in diesem Zurück-
gehen. Es umfaßt eine positive Phase: das Aufweisen der eigenen Bedeu-
tung des Sagens, die diesseits der Thematisierung des Gesagten liegt.« (JS,
106/AQE, 56) 479
Diese Reduktion stellt im Gegensatz zu Husserls Reduktion keinen
methodischen Schritt, keine intellektuelle Arbeit, keine logische
Schlussfolgerung (wie in der negativen Theologie) 480 dar, sondern ist
der Vollzug des Ereignisses. Wenn es um die Begegnung mit dem
Anderen geht, dann ist die Reduktion vom Gesagten zum Sagen nicht
der Übergang von einem Sinngebilde zum anderen, sondern das In-
die-Beziehung-Treten mit dem Anderen:
»Reduktion, die nicht durch Einklammerung erfolgen kann, ist diese doch
Schriftarbeit; Reduktion, die aus der Kraft der ethischen Unterbrechung des
sein lebt.« (JS, 107 f/AQE, 56) 481
Selbstverständlich kann die Reduktion auf das Sagen nicht im Gesag-
ten stattfinden – sie muss mit dem Gesagten brechen. Der philosophi-
sche Text, wenn er beabsichtigt, der Spur des Sagens zu folgen, kann
und muss die Bruchstellen aufweisen. Er muss zum Bruch führen,
wenn er auch selbst den Bruch nicht durchführen kann. Er kann dies
realisieren, indem er ständig sein Gesagtes als etwas dem Ereignis
nicht Gemäßes zurückruft. Die Philosophie ist dementsprechend kei-

479 Zur Reduktion: JS/AQE, 107 f/56, 109 f/57 f, 117Anm.34/62n.34, 129/69, 153/84,
163/90. Der Widerruf: JS, 386/AQE, 228. GE, 111/DI, 141.
480 Hierzu siehe unsere Anmerkung über Levinas’ Verhältnis zur negativen Theo-

logie in Abschnitt 11.


481 Eine ähnliche Struktur ist später bei Marion zu finden, wenn er in seinem Buch Le

phénomène érotique (2003) über die »erotische Reduktion« (réduction érotique)


spricht. Die erotische Reduktion wird nicht im Denken vollzogen, sondern heißt, in
die Liebe einzutreten, zu lieben, in einer Liebesbeziehung zu sein.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

ne Darstellung von Thesen, sondern Wider-Ruf des Gesagten, das sie


selbst äußert:
»Ich habe irgendwo vom philosophischen Sagen (dir) als von einem Sagen
gesprochen, das unter der Notwendigkeit steht, sich ständig zu wider-rufen
(se dédire). Ich habe aus diesem Wider-Ruf sogar einen eigenen Modus des
Philosophierens gemacht. Ich stelle nicht in Abrede, daß die Philosophie
eine Erkenntnis ist, insoweit sie das benennt, was nicht benennbar ist, und
thematisiert, was nicht thematisierbar ist. Aber indem sie dem, was mit den
Kategorien des Diskurses bricht, die Form des Gesagten gibt, drückt sie
möglicherweise dem Gesagten die Spuren dieses Bruches auf.« (EU, 82 f/
EI, 103 f) 482
Wenn ein Text seiner Struktur nach unausweichlich das Gesagte ist,
das uns etwas vorstellt, und wenn der Text doch die Möglichkeit hat,
eine Bruchstelle zu eröffnen, durch die die Spur des Sagens des wirk-
lichen Ereignisses verfolgt werden kann, dann bleibt noch die Frage:
Zu wem genau führt diese Spur? Es gibt grundsätzlich drei Möglich-
keiten. Erstens kann das Gesagte über das Ereignis berichten, sodass
der Adressat das Ereignis sich vorstellt. So wie, wenn jemand erzäh-
len würde, wie er sich erschrocken hat und alle Zuhörenden sich diese
Situation, darunter auch seine Angst, vorstellen würden. Zweitens
kann das Gesagte, indem es das Sagen berührt, selbst ein Ereignis
schaffen. So wie ein Kunstwerk, das eine ereignishafte Situation für
den Betrachter eröffnet, indem es eine Landschaft abbildet. Drittens
kann das Gesagte darauf hinweisen, dass es Ereignisse geben könnte,
die sich jedem Gesagten entziehen. Ein philosophischer Text kann
zum Beispiel ein solches Gesagte sein. Der erste und der dritte Fall
sind gewissermaßen unproblematisch. Im ersten Fall erreicht die
Sprache das Ereignis nicht, weil sie es thematisiert. Es gibt keine Spur,
die das Gesagte transzendieren lässt. Im dritten Fall will die Sprache
das Ereignis nicht erreichen, weil es unerreichbar ist. Der Text spricht
von der Unerreichbarkeit durch das Gesagte und auf diese Weise ver-
wischt er alle Spuren, die zu dem führt, was sich entzieht, hofft aber
trotzdem, dass man dadurch dem Ereignis näher kommt. Aber im
zweiten Fall geschieht die Hervorbringung eines Ereignisses mittels
des Gesagten. Und die Frage ist, welchen Status dieses Ereignis hat.
Ist es überhaupt ein Ereignis und nicht nur ein Pseudo-Ereignis, das

482
Über die Philosophie als Bruch mit der Thematisierung und Erkenntnis, als Wi-
derruf des Gesagten angesichts des Sagens: JS/AQE, 107/56, 353/206, 358/210; GE,
270 f/DI, 270.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

nur vorgibt, ein Ereignis zu sein, während es nur ein Denken bzw.
egoistischer Genuss ohne die Transzendenz ist? Levinas ist offen-
sichtlich der Ansicht, dass auch der Text bzw. die Kunst überhaupt,
der Ort der Begegnung mit dem Transzendenten sein kann. 483 Ein
Beispiel solcher Texte ist die Bibel:
»Gewiß kann ich auch den bezeugten Sinn als Gesagtes zur Sprache brin-
gen. Doch als außer-ordentliches Wort, das einzige, das sein Sagen weder
erstickt noch in sich aufsaugt, aber auch nicht bloßes Wort bleiben kann.
Umstürzendes semantisches Ereignis des Wortes Gott, das die von der Illei-
tät ausgehende Subversion bezwingt. Die Herrlichkeit des Unendlichen, die
sich einschließt in ein Wort und sich darin zu Seiendem macht, aber schon
ihre Wohnung auflöst und sich schon zurücknimmt, ohne sich in Nichts
aufzulösen […].« (JS, 331/AQE, 193) 484
Mit der Vermutung aber, dass es solche Texte geben könnte, die er-
eignishaft sind, die etwas Anderes in die Welt des Selben einbrechen
lassen, die das Selbe ansprechen, kehren wir zum am Anfang dieses
Abschnittes erwähnten Verhältnis von Sprache und Ereignis zurück.
Ein Text – die Kunst – kann mich wie ein Anderer ansprechen; ein
Text und ich – wir können zu einem ereignishaften Gespräch kom-
men. Dies geschieht allerdings nicht mit jedem Text und nicht auf der
Ebene des Gesagten, sondern dadurch, dass er hinter dem Gesagten
eine Andersheit begehren lässt. Damit merken wir, dass sich Levinas’
Position über das Verhältnis zwischen dem Ereignis und der denken-
den, aussagenden Sprache doch nicht wesentlich von der Heideg-
ger’schen unterscheidet. Eine Aussage kann das Sagen verwischen,
aber sie kann auch zu ihm führen; es kann einen Text geben, der
selbst ereignishaft ist, der zum Ereignis gehört.
Die Möglichkeit eines ereignishaften Sagens ist allerdings nicht
der einzige Punkt, wo Heidegger und Levinas in Bezug auf das Ver-
hältnis von Ereignis und Sprache einig werden könnten. Wir haben
gezeigt, dass die begriffliche Sprache der Metaphysik für Heidegger
erstmals gegen das Ereignis arbeitet: Sie verdeckt es, lässt es verges-
sen und führt das Denken immer in die falsche Richtung. Aber letzt-
endlich gehört auch sie zum Ereignis – sie bestätigt es als ihren An-

483 Die Kunst als Ereignis: JS, 100 ff/AQE, 51 ff.


484 Siehe auch: EU, 15 f/EI, 13 f. Es ist nicht ausgeschlossen, das zumindest einige phi-
losophische Texte Levinas’, genauso wie die philosophischen Texte Heideggers nach
seiner sog. Kehre, beanspruchen, selbst ereignishaft zu sein, obwohl sie gleichzeitig
auch die Uneinholbarkeit des Ereignisses im Text behaupten.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’

fang. Ein ähnliches Kunststück vollzieht auch Levinas. Alles Sagen


kann nur im Gesagten gesagt werden, das es verrät. Manches Gesagte
trägt die Spur des Sagens, manches nicht. Die Ontologie zum Beispiel
macht den Anderen zum Selben – ohne Widerruf. Wenn die Ontolo-
gie spricht, gibt es nicht den Anderen, gibt es keine Beziehung zu dem
Anderen. Das ist richtig und doch nicht richtig. Weil – und dies ist
Levinas’ These – jedes Sprechen, wie ontologisch es auch wäre, je-
manden anspricht, ihn als einen Gesprächspartner schon voraussetzt:
»[I]ch nenne die Person, mit der ich in Beziehung trete, Sein, aber indem ich
sie ›Sein‹ nenne, appelliere ich an sie. Ich denke nicht bloß, daß sie da ist, ich
spreche zu ihr. Sie ist mein Verbündeter geworden, in der Beziehung, die sie
mir nur gegenwärtig machen sollte.« (ZU, 18/EN, 19) 485
Ich kann in meiner Ontologie den Anderen thematisieren, aber da-
durch, dass ich überhaupt etwas sage, sage ich dies zu einem anderen
Menschen, den ich nicht mehr als ein Thema fasse, sondern in dessen
Nähe ich bin. Alles Sprechen ist Beziehung zum Anderen als
Anderen.

485
Siehe auch: ZU, 198 ff/EN, 180 ff.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie
Jean-Luc Marions

1. Das Ereignis in der Philosophie Jean-Luc Marions

»Me frappe aujourd’hui, rétrospectivement, la cohérence de l’ensemble, que


dominent finalement la question de l’événement, l’approche de la présence à
partir du présent entendu comme un don.« (RC, 11)
Wie diese 2012 gemachte Äußerung Marions in der Vorbemerkung
zu den Gesprächen mit Dan Arbib zeigt, ist die Frage nach dem Er-
eignis ein ganz zentrales Motiv seines Denkens, der rote Faden, das,
was seine Philosophie als »Ganzes« »beherrscht«. Dies könnte auf
den ersten Blick verwunderlich klingen, da die Philosophie Marions
vor allem durch seine Idee des gesättigten Phänomens bekannt ist.
Diese mögliche Verwirrung verschwindet, wenn es klar wird, dass
für Marion, insbesondere in seinen letzten Werken, diese beiden
Wörter – das »gesättigte Phänomen« und das »Ereignis« – als Syno-
nyme gebraucht werden. Das gesättigte Phänomen ist grundsätzlich
Ereignis, es ist ereignishaft, weil die Sättigung von der Ereignishaf-
tigkeit abhängt:
»Plus un phénomène apparaît comme événement (s’événementialise), plus
il s’avère saturé d’intuition.« (CN, 307) 486
Und das Ereignis ist das gesättigte Phänomen, insofern nur dieses
ereignishaft ist. So teilt Marion zum Beispiel in Certitudes négatives
(2010) alle Phänomene in »Objekte (geschwächte Phänomene)« und
»Ereignisse (saturierte Phänomene)« ein (CN, 280). 487
Doch diese begriffliche Gleichsetzung vom gesättigten Phäno-
men und Ereignis erscheint erst nach dem Werk Étant donné (1997).
In Étant donné bedeuten diese beiden Begriffswörter auf keinen Fall
ein und dasselbe. Während das gesättigte Phänomen als solches Ge-

486
Siehe auch: RC, 270.
487Siehe auch: »Nous l’avons vu, le phénomène saturé n’est pas un étant ni un objet
par moi constitué, mais un événement qui advient et me surprend.« (RC, 157)

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

gebene 488 verstanden wird, das seine Gegebenheit uneingeschränkt


und vollständig entfaltet und zeigt, wird das Ereignis als nur eine
unter anderen »Bestimmungen« (détermination) 489 des Gegebenen
definiert (ED, Buch III, § 17). Und während das gesättigte Phänomen
als dasjenige Phänomen, dessen Anschauung die Intentionalität und
den Begriff übertrifft, definiert wird, stellt das Ereignis nur einen be-
stimmten »Typus« (type) 490 des gesättigten Phänomens dar, nämlich
den »der Quantität nach« (ED, Buch IV, § 23). Daraus lässt sich schlie-
ßen, dass in Étant donné, in dem das Wort »Ereignis« überhaupt zum
ersten Mal in Marions Philosophie eine für ihn charakteristische Be-
deutung erhält und zum wichtigen Teil seines philosophischen Sys-
tems wird, vor allem in zwiefacher Bedeutung verwendet wird. 491

488 Streng genommen, müssen die Begriffe »das Gegebene« (donné) und »das Phäno-
men« (phénomène) auseinandergehalten werden. Das Gegebene ist das, was durch die
Entfaltung seiner Gegebenheit, die ursprünglicher ist als Phänomenalität, gegeben
wird. Das Phänomen ist aber das, was sich zeigt bzw. gezeigt wird. Da die Gegebenheit
ursprünglicher ist als Phänomenalität, gilt die Formel »Was sich zeigt, gibt sich zu-
erst […].« (GS, 23/ED, 10) Die Gegenrichtung gilt aber nicht, weil das, was sich gibt,
muss sich nicht unbedingt zeigen, d. h. zum Phänomen werden: »[L]a réciproque ne
vaut pourtant exactement: tout ce qui se donne ne se montre pas pour autant – la
donation ne se phénoménalise pas toujours.« (DS, 38) Die Phänomenalität kann sich
auf zwei Weisen entfalten: Entweder wird das Gegebene gezeigt und zum Objekt
konstituiert oder es zeigt sich selbst und kommt so als ein gesättigtes Phänomen
zum Vorschein. In dem Phänomenalen gibt es also nicht nur objekthafte Phänomene,
sondern auch solche, die ihre Selbst-Gegebenheit selbst manifestieren: »Il ne reste
donc qu’une seule voie: tenter de cerner, dans l’espace de la manifestation, des régions
où des phénomènes se montrent, au lieu de se laisser simplement montrer comme des
objets.« (DS, 38) Wenn wir also vom Gegebenen sprechen, sprechen wir von dem, was
sich selbst gibt, ohne unbedingt zu einem Phänomen zu werden. Wenn aber von dem
gesättigten Phänomen die Rede ist, dann sprechen wir von einem Gegebenen, das sich
selbst gibt und sich auch noch zeigt, aber nicht zu einem Objekt wird. Das Phänomen
im Allgemeinen kann sowohl das objekthaft Sichtbare als auch das gesättigt Sichtbare
bedeuten, aber es ist auf jeden Fall im Bewusstsein angekommen, also sichtbar ge-
worden. Man muss aber beachten, dass Marion die Begriffe vom Gegebenen und
(gesättigten) Phänomen oft ohne Unterscheidung verwendet. Meistens spricht er ein-
fach vom Phänomen, meint aber damit das Selbst-Gebende und Selbst-Zeigende, das
gegebenenfalls auch noch etwas Unsichtbares gibt.
489 Die anderen »Bestimmungszüge« sind: »Anamorphose« (anamorphose) (ED,

Buch III, § 13), »Eintreffen« (arrivage) (§ 14), »vollendetes Faktum« (fait accompli)
(§ 15) und »Vorfall« (incident) (§ 16).
490 Die anderen Typen des gesättigten Phänomens sind: »Idol« (idole) (ED, Buch IV,

§ 23), »Leib« (chair) (ED, § 23) und »Ikone« (icône) (ED, § 23).
491 Marion hat sich selbstverständlich auch mit Heideggers Ereignisbegriff auseinan-

dergesetzt. Merkwürdigerweise sieht er in diesem Konzept Heideggers keine Ähn-

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Erstens wird das Ereignis als eine Bestimmung des Gegebe-


nen 492, insofern es seine Gegebenheit entfaltet, verstanden. Das Er-
eignis charakterisiert das gegebene Phänomen genau hinsichtlich des-
jenigen Aspekts, dass es sich selbst gibt und zeigt und dass es auch
noch sein »Sich« (soi), »sich selbst« (soi-même) im »Sich-Geben«
und »Sich-Zeigen« zeigt:
»Das Sich des Phänomens zeichnet durch seine Bestimmung, sich zu ereig-
nen, aus. 493 Es kommt herbei, es kommt auf, es geht von sich selbst aus und
zeigt bei seinem Sich-Zeigen auch das Sich, insofern dieses die Initiative,
sich zu geben, ergreift (oder abtritt). Auf ein Ereignis kann ich warten (ob-
schon es mich zumeist überrascht), ich kann mich seiner erinnern (oder es
vergessen), doch ich kann es nie tun, hervorbringen, hervorrufen. Eine Be-
schreibung des Ereignisses, bei dem das Sich-Geben des Phänomens soweit
gehen kann, dass es sich selbst zeigt, steht nun an.« (GS, 279/ED, 226) 494

lichkeit mit seinem eigenen Anliegen. Ganz im Gegenteil: Heideggers Ereignis, das
das Sein und die Zeit gibt (ZS, 20), stellt für ihn das Aufgeben der Selbst-Gegebenheit
(des Seins) dar. Würde Heidegger bei dem Sein bleiben, das sich schenkt oder entzieht
(B, 248), würde er die Selbst-Gegebenheit bestätigen, die aber mit der Einführung
eines Gebers, nämlich des Ereignisses, verloren geht: »Das Anwesen (Sein) auf eine
der Gabe gehörige Gegebenheit zu reduzieren, diese erste Denkhandlung wird von
einer zweiten vollendet (und aufgehoben), bei der Gegebenheit im Ereignis abge-
schafft wird. Heidegger erkennt Gegebenheit jenseits des oder außerhalb von Sein
nur an, um diese sogleich in der Annahme zu verkennen, diese gäbe (sich) nur noch
diesseits des Ereignisses und unter seiner Ägide. Er spricht zwar von Gegebenheit,
aber nur als Ort eines schnellen Übergehens vom Sein zum Ereignis, als simple Zwi-
schenstation bzw. als Provisorium.« (GS, 78 f/ED, 58) Wir haben aber gesehen, dass
Heidegger das Ereignis auf keinen Fall als einen Geber, also ein Seiendes versteht,
weswegen seine Ereignisphilosophie nicht so leicht abgetan werden kann.
492 Es ist zwar richtig, dass im dritten Buch von Étant donné von jedem Gegebenen die

Rede ist und nicht nur vom gesättigten Phänomen (also vom Ereignis), aber man
muss beachten, dass Marion schon in Étant donné die These entwickelt, dass jedes
Phänomen in irgendwelchem Grad gesättigt ist. Es geht also um die These von der
»Banalität der Sättigung«, auf die wir noch später kommen werden. Das heißt aber,
dass jede Rede vom Gegebenen überhaupt auch die Rede vom gesättigten Phänomen
ist. Ereignis ist also die Bestimmung des gesättigten Phänomens, insofern es sich gibt.
493 Dass das Ereignis die Bestimmung des Gegebenen ist, in der es sein Sich zeigt, ist

im Originaltext besser zu lesen: »Le soi du phénomène se marque dans sa détermina-


tion d’événement […].« Also wörtlich: »Das Sich des Phänomens zeichnet sich in
seiner Bestimmung des Ereignisses an […].«
494 Zur Bestimmung des sich selbst gebenden Phänomens als Ereignis siehe auch De

surcroît: »Il fixe du même coup le caractère originairement événementiel de tout phé-
nomène en tant que d’abord il se donne avant que se montrer.« (DS, 64) Auch im
Vorwort zur deutschen Übersetzung von Étant donné charakterisiert Marion 2014

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

Mit anderen Worten: Die Selbst-Gegebenheit als Ereignis bedeutet,


dass das Phänomen keinen vorausgehenden »Geber« zulässt, der
seine Gegebenheit auslösen könnte. Es geht um die »Nicht-Ursäch-
lichkeit bezüglich eines gegebenen Phänomens, insofern sich dieses
ereignet« 495 (GS, 280/ED, 227), darum, dass die Initiative dem Phäno-
men selbst gehört. Das Ereignis ist das sich selbst gebende Phänomen,
insofern es »ohne Ursache« ist. Es charakterisiert das Phänomen als
ohne Ursache gebend. 496
Zweitens wird das Wort »Ereignis« nicht als eine der Bestim-
mungen des Gegebenen verstanden, sondern als ein konkreter Typus
solches Gegebenen, insofern es ein gesättigtes Phänomen darstellt,
nämlich als historisches Ereignis:
»Gesättigte Phänomene bezeugen sich zunächst in Gestalt von Ge-
schichtsphänomenen [phénomène historique – L. P.] oder Ereignissen, so-
fern man diese schlechtinnig versteht.« (GS, 383/ED, 318)
Aber schon in Étant donné wird dem Ereignisbegriff eine Bedeutung
beigemessen, die es mehr als nur zu einem Teilaspekt des Gegebenen
macht und so die spätere Gleichsetzung mit dem gesättigten Phäno-
men einleitet. Die Ereignishaftigkeit ist nämlich nicht nur eine von
mehreren Bestimmungen des Gegebenen, sondern eine fundamen-
tale, eine solche, die alle anderen in sich zusammenfasst:
»Diese Bestimmungsgrößen gegebener Phänomene lassen sich schließlich
in dem bündeln, was Ereignisse eben definiert, nämlich keine ›Begriffe von
ihrer Ursächlichkeit‹ zu haben.« 497 (GS, 293/ED, 239) 498

das Ereignis als das, »das niemals von einem anderen, stets von sich her ankommt«
(GS, 15).
495 Im Original: »l’incausabilité de l’événement du phénomène donné«.

496 Siehe auch: GS, 293 f/ED, 245 f.

497 Im Original: »Ces déterminations du phénomène donné se résument enfin en

celle, qui définit proprement l’événement: »sans la notation des sa cause«.«


498 Siehe auch: GS, 283/ED, 229, wo Marion schreibt, dass »der Charakterzug von

Ereignishaftigkeit alle zuvor dem gegebenen Phänomen zuerkannten Charakterzüge


in sich vereint [rassemble – L. P.].« Hier geht es um das Ereignis auch als »äußerste
[ultime – L. P.] Bestimmung gegebener Phänomene« (GS, 305/ED, 249). Auch in
späteren Werken hebt Marion die Ereignishaftigkeit als ein grundlegendes Charakte-
ristikum des Phänomens hervor. In De surcroît spricht er zum Beispiel von »le ca-
ractère essentiellement et originairement événementiel du phénomène« (DS, 43) oder
von »déterminations canoniques du phénomène comme événement« (DS, 46). Da das
»Ereignis« sowohl das historische Ereignis, eine Bestimmung des Gegebenen als auch
seine »äußerste« Bestimmung bedeutet, spricht Shane Mackinlay von einem drei-
fachen Gebrauch des Wortes »Ereignis« in den Werken Marions: »So, three different

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Wenn also die grundlegendste Bestimmung des Gegebenen seine


Selbst-Gegebenheit ohne Ursache ist, und wenn das Ereignis genau
das ist, was ohne Ursache geschieht, dann wird verständlich, warum
in den späteren Werken Marion unterschiedslos vom (gesättigten)
Phänomen als Gegebenen, das sich selbst gibt, und Ereignis spricht 499,
während die anderen Bestimmungen des Gegebenen zu Charakteris-
tika dieses Ereignisses und entsprechend die anderen Figuren des ge-
sättigten Phänomens (darunter auch das historische Ereignis) zu den
Figuren des Ereignisses überhaupt werden. In der Tat bestätigt Mari-
on diese Bedeutungsverschiebung in Certitudes négatives:
»[…] l’événementialité ne caractérise pas seulement l’un des types de phé-
nomène saturé (l’événement stricto sensu par opposition à l’idole, la chaire
er l’icône): non seulement elle détermine chacun de ces types, qui la mettent
tous en œuvre, mais elle définissait déjà le phénomène comme donné en
général.« (CN, 307 f)
Das Ereignis ist also das, was sich selbst gibt. Das (gesättigte) Phäno-
men ist ein Ereignis, weil es als Gegebenes sich selbst gibt; und das
Ereignis ist das (gesättigte) Phänomen, insofern dieses wesentlich
sich selbst gibt – es gibt keine Ereignisse außerhalb der Selbst-Gege-
benheit des (gesättigten) Phänomens.
Das Ereignis als sich selbst Gebendes weist verschiedene Struk-
turen auf, d. h. sein Ankommen, Sich-Ereignen und Verschwinden

uses of the two senses of event are evident in the structure laid out in Figure 1. First,
Marion uses event in a narrow sense, where it refers to one type of phenomenon.
Second, he uses event in a broad sense, where it refers to eventness as a characteristic
of all phenomena. Third, he distinguishes this eventness from other characteristics of
phenomena by assigning it priority over them.« (Mackinlay, 80) Was Mackinlay au-
ßer Acht lässt, ist, dass diese Gebrauchsweise faktisch nur Étant donné betrifft, ein
wenig noch in De surcroît zu beobachten ist und völlig in Certitudes négatives ver-
schwindet.
499 Der eigentliche Grund dieser Synonymie liegt also darin, dass die Ereignishaftig-

keit zu der grundlegenden Bestimmung der Gegebenheit erklärt wird. Die Sättigung
ist von den »Graden« (degrés) der Gegebenheit abhängig – je mehr Gegebenheit, d. h.
je ausgeprägter die Bestimmungen (im Plural!) der Gegebenheit, desto gesättigter das
Phänomen. Schon in Étant donné wird die Vermutung gemacht, dass die Gegebenheit
verschiedene Grade aufweisen könnte und dass dementsprechend verschiedene Klas-
sen von Phänomenen (vor allem arme und gesättigte Phänomene) unterschieden wer-
den könnten (GS, 306/ED, 249 f). Und wenn die Bestimmungen der Gegebenheit auf
die Ereignishaftigkeit reduziert werden, hängt die Saturierung von der Ereignishaf-
tigkeit ab. Je mehr Ereignishaftigkeit, desto mehr Sättigung: »[L]’événementialité fixe
le degré de la saturation et la saturation varie selon l’événementialité.« (CN, 307)

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

geschieht nach einer bestimmten Logik, die wir jetzt untersuchen


wollen. Doch bevor wir anfangen, müssen wir darauf aufmerksam
werden, dass das Wort »Ereignis« in der Philosophie Marions neben
seiner Bedeutung als Selbst-Gegebenheit, als das Sich-von-sich-aus-
Geben, noch eine andere Bedeutung aufweist, die allerdings ganz im
Hintergrund bleibt, ohne die aber das Wesentliche des Ereignisses
unerkannt bleibt. In den Texten Marions gibt es nur überall verstreu-
te Hinweise auf dieses Wesentliche des Ereignisses, die wir im Ab-
schnitt Das Jetzt des Ereignisses zusammenzufassen versuchen wer-
den. Es geht darum, dass dieses Sich-von-sich-aus-Geben als der
Augenblick des Auftretens (Geschehens) im Hier zu verstehen ist.
Schon einige Textstellen in Étant donné bestätigen diese Verwendung
des Wortes »Ereignis«, zum Beispiel:
»Gegebenheit eröffnet sich als Zwiefalt [pli – L. P.] des Gegebenen, insofern
sich die gegebene Gabe in dem ihr eigenen Sich-ereignen [événement –
L. P.] gibt. Die sich ausfaltende Gegebenheit verbindet gelenkhaft die (mög-
licherweise ohne Ursprung, ohne Genealogie, Abhängigkeit etc.) gegebene
Gabe mit ihrem Anbruchsgeschehen [processus d’avénement – L. P.] (das
möglicherweise durch diese verdunkelt, zurückgehalten wird oder einfach
unerkennbar bleibt).« (GS, 124/ED, 96) 500
Vielleicht geschieht mit dieser Bedeutung des Ereignisses – verstan-
den als das »Anbruchgeschehen« – in Marions Texten dasselbe, was er
hier in Bezug auf das Verhältnis von Gabe und Gegebenheit sagt,
nämlich dass die Gabe ihren Anbruch »verdunkelt« und »zurück-
hält«, dass das Anbruchsgeschehen »unerkennbar bleibt«. Das Ver-
ständnis von Ereignis als Anbruch von etwas hier und jetzt ist überall
spürbar, doch es kommt nur selten wirklich zum Vorschein – im Vor-
dergrund steht das Phänomen, das gesättigte Phänomen als Ereignis.
Und sogar dann, wenn vom Ankommen des Phänomens die Rede ist,
ist es das Ankommen dieses Phänomens. Aber immer, wenn es um
das Ereignis als das Selbst-Gebende geht, wo die Ereignishaftigkeit
die Selbst-Gegebenheit bedeutet, impliziert diese Selbst-Gegebenheit
nicht nur die Selbst-Gegebenheit des Gegebenen, sondern auch sich
selbst: pures Ereignis, das allerdings völlig uneinholbar ist. Es kann ja
nur scheinbar durch das Phänomen, das es hervortreten lässt und das
sein Ereignis gleich »verdunkelt«, eingeholt werden. Das Ereignis ist

500
Die Gegebenheit ist also das Ereignis des Gegebenen, wenn es sich gibt. Dazu siehe
auch: GS/ED, 116 f/89 f, 121 f/95. In De surcroît beschreibt Marion die Gegebenheit
als »mouvement par lequel le phénomène se donne« (DS, 38).

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

also die Selbst-Gegebenheit des Phänomens bzw. das Phänomen, in-


sofern es sich gibt, aber es ist auch die Selbst-Gegebenheit in ihrem
eigenen Augenblick.

2. Die Selbst-Gegebenheit des Ereignisses

Das Ereignis ist das Phänomen, insofern es die Selbst-Gegebenheit,


die grundsätzlich ereignishaft ist, entfaltet. Das Ereignis ist also vor
allem und grundlegend sich selbst gebend. Die Selbst-Gegebenheit,
außer der Tatsache, dass das Ereignis als es selbst gegeben ist, deutet
darauf hin, dass das Ereignis sich ausschließlich ausgehend von sich
selbst gibt:
»Das Entspringen der Gegebenheit/Gebung bleibt dem Selbst 501 der Phäno-
mene, ihrem reinen ohne Prinzip oder Ursprung zu denkenden Selbst, über-
stellt. So weist die Selbstgebung zum einen zwar darauf hin, dass sich Phä-
nomene leibhaftig [en personne – L. P.] geben, doch zum anderen und vor
allem auch darauf, dass sie sich selbst von selbst und von sich selbst aus
geben.« (GS, 49 f/ED, 33)
Die Selbst-Gegebenheit bedeutet also, dass sie kein anderes »Prinzip«
(principe) und keinen anderen Ursprung (origine) als nur sich selbst
kennt. Anderswo spricht Marion davon, dass das Phänomen »ohne

501
Das »Selbst«/»Sich« (soi) des Phänomens gehört zu den Grundbegriffen der Phä-
nomenologie Marions, oder eher: Es könnte zu ihnen gehören, wenn es mehr heraus-
gearbeitet wäre. Mackinlay bemerkt aber völlig richtig: »Marion explicitly refers to
such a »self« on many occasion, though he never specifies exactly what this ›self‹ is.«
(Mackinlay, 17) Während das Konzept der Selbst-Gegebenheit die von sich selbst aus-
gehende Erscheinung des Phänomens ohne andere Ursache bedeutet, bleibt das Wort
»Selbst« unbestimmt, obwohl Marion es sogar in Heideggers Philosophie zu finden
glaubt – er behauptet sogar, dass das Sich etwas ist, »von dem Heidegger eingehenden
Gebrauch macht, ohne es aber als solches zu denken« (GS, 132/ED 102). Ein Wesen,
überhaupt ein Etwas unter dem »Selbst« zu vermuten, wäre aber mit Marions phäno-
menologischem Projekt nicht kompatibel. Dieser Begriff bezeichnet eher nur eine
Funktion und stellt sie dem Selbst des aktiv konstituierenden Ich gegenüber (GS,
413 f/ED, 343 f). Deswegen kann man Mackinlay wieder völlig zustimmen, wenn er
schreibt: »However, his concern is not so much with the phenomenon’s self per se, but
rather with using this concept to reinforce his claim that ›in the appearing, the ini-
tiative belongs in principle to the phenomenon, not the look‹ (BG, 159/ED, 225).
Ascribing a ›self‹ to phenomena is a way of excluding claims about the role of sub-
jectivity in phenomenality.« (Mackinlay, 18; BG – Being Given, die amerikanische
Übersetzung von Étant donné)

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

definierbaren Vernunftgrund« (sans raison définie) (GS, 278/ED,


225), »ohne Ursache« (sans cause) (CN, 281), »ohne Begrenzung
durch einen Horizont oder ohne sich auf ein Ich zu reduzieren« (sans
les limites d’un horizon, ni la réduction à un Je) (GS, 368/ED, 305)
oder dass es »ohne Bedingung« (sans condition) (CN, 274) erscheint.
Die Ausdrucksweise Marions hängt vom jeweiligen Philosophen ab,
den er in Betracht zieht und an dem er Kritik übt. Im Grunde geht es
aber immer darum, dass das Ereignis, um gegeben zu sein und um als
gesättigt zu erscheinen, nichts anderes braucht als nur sich selbst.
Nichts und niemand gibt es. Es gibt sich selbst. Das bedeutet, dass
seine Gegebenheit ihm »immanent« und »intrinsisch« ist (GS, 215/
ED, 169) 502 – sie wird nicht von außen bewirkt 503 und sie bestimmt es
»für immer«, weswegen das Gegeben-Sein wesentlich zu seiner De-
finition gehört. 504
Wenn Marion über das Ereignis als »ohne bestimmten Grund«
eintretend spricht, bezieht er sich vor allem auf Leibniz. Wenn Leib-
niz das principium rationis sufficientis formuliert 505, bedeutet dies für
Marion, dass, laut dieser Auffassung, jedes Phänomen einen zurei-
chenden Grund haben muss, um überhaupt erscheinen zu können.
Die Möglichkeit zur Erscheinung liegt also nicht im Phänomen selbst,
sondern in einer anderen Instanz:
»[…] so reicht bereits der zureichende Vernunftgrund dazu aus, das, was
ohne ihn unmöglich geblieben wäre, möglich zu machen.« (GS, 313/
ED, 254 f)

502 Es geht um »die immanente und intrinsische Zuweisung des Gegebenheitscharak-

ters an Gabe« (BG, 119/ED, 169). Die deutsche Übersetzung ist aber ein bisschen
irreführend. Im Original sieht es so aus: »en assignant au don le caractère immanent
et intrinsèque de la donation«. Es geht also nicht um »die immanente und intrinsische
Zuweisung«, sondern um den »immanenten und intrinsischen Gegebenheitscharak-
ter«. Es ist die Gegebenheit, die immanent und intrinsisch ist.
503 »Allgemeiner gesprochen: Gegebenheit durchschreitet Gabe nicht in einem tran-

sitiven Sinne, sondern sie verbleibt in ihr auf Dauer. Die Zwiefalt von Gegebenheit ist
zu eigen, die Gabe einzurichten und der von Manifestation, sie aufzuhalten. Gegeben-
heit wird so als die für Immanenz schlechthinnige Instanz aufgedeckt.« (GS, 210/
ED, 166 f)
504 »Immanente Gegebenheit bleibt in dem, was sie gibt, sie bestimmt es folglich für

immer.« (GS, 217/ED, 171)


505 Marion zitiert hier (GS, 312/ED, 254) eine der Formulierungen dieses Prinzips aus

Die Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade (1714): § 7.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

»In der Metaphysik gehört die Möglichkeit, zu erscheinen, niemals dem


erscheinenden Was, gehört die Phänomenalität niemals den Phänomenen
an.« (GS, 314/ED, 255)
Wie auch immer der zureichende Grund interpretiert wird – als Gott,
die menschliche Vernunft, Ursache etc. –, gilt Folgendes: wenn er die
konkrete Erscheinung schafft, konstituiert, verursacht etc., verliert
das Phänomen sein Recht auf Selbst-Gegebenheit, die Marion dem
Phänomen zurückgeben will.
Wenn Marion vom Ereignis als »ohne Bedingung« spricht, be-
zieht er sich vor allem auf Kant. Auch hier liegt die Möglichkeit der
Erscheinung nicht in ihr selbst – etwas kann nur erscheinen, wenn es
mit den formalen Bedingungen der Erfahrung übereinkommt. 506 So
stellt Marion fest:
»Im Klartext: Die Möglichkeit von Phänomenen resultiert nicht aus ihrer
eigenen Phänomenalität, sondern aus einer versetzten, anderen, wenn nicht
gar aus einer externen Instanz, nämlich derjenigen der Bedingungen der
Erfahrung für und durch das Subjekt.« (GS, 311 f/ED, 253).
Das Ereignis ist dagegen bedingungslos. Es ermöglicht sich selbst. Es
gibt sich selbst die Möglichkeit der Erscheinung. Aber die Bedingun-
gen der Möglichkeit der Erfahrung bei Kant bestimmen laut Marion
nicht nur die Möglichkeit des Phänomens, sondern schränken es auch
deutlich ein, sodass es seine Gegebenheit nicht vollständig entfalten
kann. Es geht darum, dass für Kant jede Erfahrung objekthaft sein
soll:
»L’objet domine en effet la raison pure dans tous ses usages du début à la
fin.« (CN, 277) 507

506 Marion zitiert hier (GS, 311/ED, 253) Kritik der reinen Vernunft: »Was mit den

formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach)
übereinkommt, ist möglich.« (KrV A 218/B 265)
507 Marion zitiert hier (CN, 277) KrV A290/B346: »Ehe wir die transzendentale Ana-

lytik verlassen, müssen wir noch etwas hinzufügen, was, obgleich an sich von nicht
sonderlicher Erheblichkeit, dennoch zu Vollständigkeit des Systems erforderlich
scheinen dürfte. Der höchste Begriff, von dem man eine Transzendentalphilosophie
anzufangen pflegt, ist gemeiniglich die Einteilung in das Mögliche und Unmögliche.
Da aber alle Einteilung einen Eingeteilten Begriff voraussetzt, so muß noch ein höhe-
rer angegeben werden, und dieser ist der Begriff von einem Gegenstande überhaupt
(problematisch genommen, und unausgemacht, ob er Etwas oder Nichts sei).« Nach
dieser Äußerung schwächt Marion allerdings seine Kritik gegen Kant, indem er ver-
mutet, dass Kant auch etwas Nicht-Objekthaftes zugelassen hat, nämlich das Ding an
sich. Während die Bedingungen der Erfahrung und somit auch der Gegenständlich-

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

Es geht hier also nicht nur darum, dass die Erscheinung selbst sich
nicht geben könnte und dass sie etwas außerhalb ihrer selbst bräuch-
te, was sie in Gang brächte, sondern auch darum, dass es voraus-
bestimmt wird, was überhaupt erscheinen kann. Und in diesem Fall
sind es nur Objekte. Alles, was erscheint, muss etwas Objekthaftes
sein. Vielleicht ist das konkret gegebene Phänomen nicht objekthaft,
dann wird es aber für überhaupt nicht erscheinend oder für bloß sub-
jektiv erklärt oder auch auf ein Objekt reduziert. Diese Prozeduren
sind genau das, was Marion unter Einschränkung versteht: Das Phä-
nomen sich nicht so zeigen lassen, wie es sich eigentlich gibt, sondern
es normativ behandeln entsprechend den im Voraus definierten Be-
dingungen.
Wenn Marion das Phänomen als sein eigenes »Prinzip« 508 und
seinen eigenen »Ursprung« denkt und es als »ohne Grenzen eines
Horizonts« und »ohne Reduktion auf ein Ich« bestimmt, wendet er
sich gegen die Einschränkungen, die dem Phänomen die Husserl’sche
Phänomenologie auferlegt. Einerseits sieht er ein, dass Husserl das
Phänomen von jedweden Einschränkungen zu befreien versucht, in-
dem er auffordert, dass das, was originär in Anschauung gegeben ist,
so hingenommen werden muss, wie es sich gibt. 509 Andererseits sieht
Marion auch hier Einschränkungen der Gegebenheit des Phänomens
– durch den Horizont und das Ich.
Die Husserl’sche Phänomenologie – so Marion – besagt, dass
jede lebendige Anschauung, die jetzt und hier stattfindet, sich in
einen Horizont, der schon antizipiert ist, einschreiben lässt. Das

keit nur im Bereich des Phänomens gelten, den sie auch eigentlich definieren, bleibt
der Bereich des Noumenon frei von diesen Bedingungen (CN, 279 f). Dies heißt al-
lerdings nicht, dass die nicht-objekthafte Gegebenheit des Phänomens bei Marion so
wie das Ding an sich bei Kant interpretiert werden könnte. Vor allem deswegen nicht,
weil das Ding an sich nicht erfahrbar ist, während die Gegebenheit das Reich des
Phänomenalen erweitern soll. Es geht um etwas Erfahrbares, was doch kein Objekt ist.
508 Siehe zum Beispiel: »Denn Gegebenheit hält als Prinzip geradezu fest, dass den

Phänomenen nichts vorangeht, es sei denn ihre eigene Erscheinung von sich selbst
her. Dies läuft darauf hinaus, dass Phänomene ohne die weitere Hilfe eines Prinzips
nur als sie selbst ankommen.« (GS, 44/ED, 29) Im Original lauten die letzten Worte:
»le phénomène advient sans autre principe que lui-même«. Der französische Text
lässt besser erkennen, dass das Phänomen sein eigenes Prinzip ist.
509 Marion zitiert oft das »Prinzip aller Prinzipien« aus dem § 24 in Husserls Ideen I:

»[…] daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei,
daß alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär, (sozusagen in seiner leibhaften
Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur
in den Schranken, in denen es sich da gibt […].« (Hua III, 52)

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

heißt: Jede originäre Gegebenheit wird immer als ein »Teil« der Er-
fahrung von etwas aufgefasst. Die drei originär gegebenen Seiten
eines Kubus werden als drei Seiten eines Kubus interpretiert. Der
ganze Kubus, der nur intelligibel und begrifflich existiert, bildet den
Horizont für das hier und jetzt Gegebene, wodurch das hier und jetzt
Gegebene eingeschränkt wird – es muss die drei Seiten eines Kubes
geben. Man fragt nicht, was es gibt, sondern was es geben muss. Und
das, was es geben muss, besagt der jeweilige Horizont. 510 Marion
schreibt diesbezüglich:
»Damit sich jedes Phänomen nämlich einem Horizont einzuschreiben ver-
mag (und darin seine Möglichkeitsbedingung findet), muss dieser Horizont
(und so lautet seine Definition) begrenzt und das Phänomen somit end-
licher Natur bleiben.« (GS, 336/ED, 276)
Mehr noch: Auch das, was noch nicht gegeben wird, wird schon im
Voraus einem Gegebenen zugeordnet. Das heißt konkret: Die drei
noch nicht gesehenen Seiten des Kubus werden vorhergesehen und
als die drei Seiten des Kubus bestimmt. Nichts radikal Neues ist hier
noch möglich. 511 In dieser Beschreibung ist es leicht zu erkennen, dass
Marion Husserl wegen noch einer Einschränkung des Phänomens
verdächtigt – das Phänomen wird durch den Horizont eines antizi-
pierten Objekts bedingt, d. h. es muss als ein Objekt erscheinen. Das,
was erscheint, ist immer etwas von einem schon antizipierten Ob-
jekt. 512
Der andere Schritt, den die Husserl’sche Phänomenologie macht
und mit dem sie die Selbst-Gegebenheit des Phänomens unterbindet,
liegt in der unbezweifelten These, dass das Phänomen vom Ich kon-
stituiert wird. Das Phänomen gibt sich nicht selbst und zeigt sich
nicht selbst – es wird konstituiert und gezeigt. 513

510
GS, 317 ff/ED, 259 f.
511 GS, 319 f/ED, 260 f.
512
Marions Auslegung von Husserls Reduzierung der Gegebenheit auf Gegenständ-
lichkeit und seine Kritik dazu: GS, 61–70/ED, 45–50. Für Marion schränkt sowohl
Kant als auch Husserl die Erfahrung auf die Erfahrung eines Objekts ein. Vermutet
er selbst eine nicht-objekthafte Erfahrung, so nennt er sie »Gegen-Erfahrung« (con-
tre-expérience): »Gegenerfahrung bedeutet hier nicht das Gleiche wie Nicht-Erfah-
rung, sondern das Gleiche wie die Erfahrung eines Phänomens, das nicht beobachtet
oder auf das im Sinne von Gegenständlichkeit nicht Obacht gehabt werden kann, ein
Phänomen, das den Vergegenständlichungsbedingungen also widersteht.« (GS, 363 f/
ED, 300). Siehe auch: GS, 363 ff/ED, 300 ff; SB, 126 ff/BS, 182 ff; CN, 314.
513
GS, 321 f/ED, 262 f.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

Wenn das Ereignis selbst-gebend ist, gibt es kein Objekt in


einem schon vorausbestimmten Horizont und es wird nicht von
einem Ich konstituiert:
»Allein gesättigte Phänomene erscheinen wahrhaft als sie selbst, von selbst
und von sich selbst her, weil nur sie ohne Begrenzung durch einen Horizont
oder ohne sich auf ein Ich zu reduzieren erscheinen, und weil nur sie sich
selbst konstituieren, insofern sie sich als ein Sich geben.« (GS, 368 f/ED,
305)
Seine Selbst-Gegebenheit gegen einen schon vorausbestimmten Ho-
rizont und ein Ich verwirklicht das Ereignis, indem es diesen Horizont
überschreitet und sich nicht vom Ich konstituieren lässt, sondern eher
das Ich konstituiert. Die Überschreitung des Horizonts und die Bewe-
gung gegen die Konstitution vonseiten des Subjekts sind genau das,
was das gesättigte Phänomen charakterisiert. Wir werden diese zwei
wesentlichen Strukturen des gesättigten Phänomens (den »Exzess«
und die »Gegen-Intentionalität«) später noch ausführlich analysie-
ren, hier geht es vorerst um die Bestimmung des Ereignisses als
grundsätzlich sich selbst Gebendes.
Während Kant und Husserl die Gegebenheit und damit die Phä-
nomenalität laut Marion auf Gegenständlichkeit einschränken und so
demjenigen verbieten, seine Gegebenheit zu entfalten und zu erschei-
nen, das nicht objekthaft ist, begrenzt Heideggers Phänomenologie
die Gegebenheit auf eine andere Art und Weise. Sie lässt nämlich
nur das zu, was seiend ist und »exclut donc ce qui n’a pas à être« (RD,
304). Es ist zwar richtig, dass Heidegger etwas zulässt, was kein Sei-
endes ist, nämlich das sich gebende Sein, aber mit der Einführung des
Konzepts des Ereignisses, das das Sein gibt, wird auch das Sein – so
Marion – zu etwas Gegebenem, also zum Seienden gemacht und in
den einschränkenden Horizont der Seiendheit eingeschrieben. 514 Die
Selbst-Gegebenheit des Phänomens kann sich dementsprechend nicht
vollständig entfalten:
»Heidegger und Husserl verfahren somit auf gleiche Art und kommen zum
gleichen Endpunkt. Der eine wie der andere greift faktisch auf Gegebenheit
zurück und gesteht ein, dass ihr die Funktion eines letzten Prinzips zu-
kommt. […] Aber dem einen entgleitet die Gegebenheitsthematik, wenn
er zur Gegenständlichkeitskategorie gelangt, während der andere sie preis-
gibt, indem er Seiendheit dem Ereignis gutschreibt.« (GS, 80/ED, 59)

514
GS, 70 ff/ED, 50 ff.

333

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Das Ereignis wird von Marion auch als »ohne Ursache« charakteri-
siert. Mehr noch: Wir haben schon gesehen, dass die Ereignishaftig-
keit überhaupt die »äußerste Bestimmung gegebener Phänomene« ist
und dass »keine »Begriffe von ihrer Ursächlichkeit« zu haben«
grundsätzlich die Ereignisse definiert. Es lässt sich vermuten, dass
unter »Ursache« Marion ganz allgemein alle möglichen »Bewirker«
versteht, die dazu beitragen könnten, dass etwas eintritt – sei es eine
Naturursache, ein subjektiver Grund, ein konstituierendes Ich, eine
Inszenierung, Provokation, Produktion o. Ä. Marion plädiert für die
absolute »Souveränität« (CN, 281) des Ereignisses:
»L’événement n’a pas de cause et ne plaide aucune cause, surtout pas la
sienne. Il n’a besoin que de soi pour s’accomplir: il passe et se passe, donc il
se passe de ce qui n’est pas lui-même.« (CN, 282)
Es gibt also keinen Grund des Ereignisses, außer demjenigen, den es
sich selbst gibt. Das Ereignis ist bedingungslos – keine Bedingungen
der Möglichkeit müssen erfüllt werden, damit es sich ereignen könn-
te. Kein Ich konstituiert es – es kann nur empfangen werden, so wie es
sich gibt. Man kann für das Ereignis keine Naturursache finden und
man kann es auch nicht auf die Inszenierung durch ein Subjekt zu-
rückführen. Das Ereignis ereignet sich von sich selbst und so wie es
sich ereignen will – es duldet keine Einschränkungen seiner Erschei-
nung, zum Beispiel durch Gegenständlichkeit oder Seiendheit.

3. Die Selbst-Gegebenheit des Ereignisses. Zwei Probleme

3.1. Die Selbst-Gegebenheit und die Reduktion

Man muss festhalten, dass die Behauptung, dass das Ereignis ohne
Ursache (im weiten Sinne des Wortes) ist, eine phänomenologische
und keine ontologische Aussage ist. Das heißt: Sie behauptet nicht,
dass das Ereignis wirklich keine Ursache hat, sondern dass es so er-
scheint, als hätte es keine Ursache. Die Möglichkeit einer Ursache
wird in diesem Fall »in Klammern gesetzt« und bleibt unentschieden.
Wie erscheint das Ereignis ohne Ursache? Erstens:
»Der natürlichen Einstellung nach gehört es notwendigerweise zur Wir-
kung, nach der Ursache zu kommen.« (GS, 285/ED, 231)
Aber:

334

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

»Der reduktiven Einstellung nach sieht man überdies, dass sich die Wir-
kung radikal gibt, wie ein in der Kausalbeziehung anhebendes, aufbrechen-
des Phänomen, während sich die Ursache bestenfalls in ihrem Erscheinen
durchhält, dieses zumeist aber aufhebt.« (GS, 285/ED, 231)
Das alltägliche Bewusstsein bewegt sich ständig zwischen den Ursa-
chen und Wirkungen oder eher – wenn man es breiter fassen möchte
– innerhalb bestimmter Abläufe, in denen ein Vorausgehendes und
ein Nachkommendes aufeinander bezogen sind, wenn auch zwischen
ihnen keine Kausalität im strengen Sinne des Wortes besteht. Man
sieht ständig voraus (ausgehend von einer »Ursache«) und kehrt stän-
dig zu dem Vorangegangenen (zur »Ursache«) zurück. Wenn der
Himmel wolkig ist, erwartet man Regen. Wenn man um die Ecke
geht, erwartet man das Weiterlaufen der Straße. Gibt es unterwegs
einen Stau, fragt man, warum. Sieht man einen schönen Garten,
denkt man an denjenigen, der ihn eingerichtet hat, oder an die forma-
len Voraussetzungen, die einen Garten schön machen könnten. Man
verweilt eher in der Vergangenheit (bei den Ursachen, die zu dem
Jetzigen geführt haben) oder antizipiert die Zukunft (für die die Ur-
sachen jetzt geschehen), aber man ist nicht jetzt. Für dieses Bewusst-
sein, das durch die Retention und Protention alle Phänomene syn-
chronisiert, d. h. gleichzeitig macht, folgt die Wirkung der Ursache.
Dies gehört zur Logik der natürlichen Einstellung. Diese Logik hat
ihren Grund der Möglichkeit im synchronisierenden Bewusstsein,
d. h. – in der Terminologie Husserls – im inneren Zeitbewusstsein. 515
Der phänomenologische Blick kann sich dagegen nur auf die Wir-
kung, die in diesem Moment erscheint, konzentrieren und nicht die
Ursache beachten, die einfach da ist oder auch gar nicht erscheint oder
die es vielleicht gar nicht gibt. Das Ereignis ist ohne Ursache, weil
man nicht die Ursache sieht und nicht nach den Ursachen sucht, weil
man schlicht nicht in der wissenschaftlichen Einstellung ist. So muss
man in der phänomenologischen Einstellung schlussfolgern:
»Ereignisse gehen ihrer Ursache (oder ihren Ursachen) voraus.« (GS, 287/
ED, 233).
Nur irgendwann nach dem Ereignis wird nach dem Vorangegangenen
(und Zukünftigen) gefragt. Wenn jemand, der mich nicht kennt und

515
Oder man kann auch wie Kant vermuten, dass die Relation Ursache-Wirkung ein-
fach zu den apriorischen Strukturen der Erfahrung gehört – man kann nicht anders,
als überall die Ursachen und Wirkungen zu sehen.

335

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

den ich nicht kenne, mich plötzlich so anblickt, als ob wir uns seit
Ewigkeit kennen würden oder als ob wir geheime Verbündete wären,
so bin ich völlig auf diesen überwältigenden Blick fixiert und nicht
darauf, wie es dazu gekommen ist, dass er mich jetzt so anblickt. Ich
könnte das auch gar nicht, weil dieses Ereignis für mich unvorherseh-
bar war. Der jetzige Moment ist und war von der Vergangenheit (und
auch von der Zukunft) abgeschnitten. Deswegen erreicht mich dieses
Ereignis – phänomenologisch gesehen – vor jeder Ursache und lässt
mich nicht aus seinem Geschehnis heraustreten und nach Gründen,
nach dem Vorausgegangenen, fragen. Die Logik der natürlichen Ein-
stellung, die diesen Moment als Teil einer Kausalität sieht und als
eine Wirkung (und dann als die Ursache vom Weiteren) bestimmt,
wird unterbrochen. Das Ereignis unterbricht das synchrone Bewusst-
sein, die Phänomenologie unterbricht die Ontologie. 516
Des Weiteren: Wenn das Ereignis sich ereignet hat, beginnt man
immer, die Gründe für seine Möglichkeit zu suchen. Warum? Genau
deswegen, weil die natürliche Einstellung sich wieder einschaltet,
aber die Gründe nicht gleich sichtbar sind, weil sie nicht erschienen
waren. Wären sie offensichtlich, müsste man nicht nach ihnen su-
chen. Aber diese Situation der Unwissenheit setzt sich fort – die
Ursache, das Vorangegangene ist nicht erschienen und jede Ursache,
die man nachträglich findet, zeigt sich als »inadäquat« für das Ge-
schehene. Und das ist die zweite These Marions:
»Als gegebenes Phänomen hat ein Ereignis keine adäquate Ursache, es
kann keine solche haben. (GS, 289 f/ED, 235)
Der Grund dafür ist der, dass immer mehr geschieht, als eine Ursache
(oder eine begrenzte Zahl bestimmter Ursachen) erklären könnte. 517
Kann zum Beispiel nur ein Wunsch, mich anzusehen, diese überwäl-
tigende Kraft, diese Fülle des Augenblicks erklären? Er kann höchs-
tens das erklären, dass er mich anblickt – er kann nur diese Tatsache
erklären, nicht aber das Ereignis. Weil es durchaus möglich ist, dass er

516 Wir sehen, dass Marion das Ereignis als das charakterisiert, was keine Vergangen-
heit (also keine Ursache) hat. Nichts hat es bewirkt. Aber wenn wir überlegen, dass
das Ereignis überhaupt aus dem Zeitfluss heraustritt, können wir vielleicht vermuten,
dass das Ereignis auch ohne Zukunft ist. Natürlich hat jedes Ereignis Folgen (das
gehört sogar zu seiner Logik), aber es setzt sich selbst nicht fort. Es ist nur ein Augen-
blick, der keine Zukunft in dieser Welt hat. Das Bewusstsein antizipiert in diesem
Augenblick nichts, ist unfähig etwas zu entwerfen.
517
GS, 290 f/ED, 235 f.

336

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

mich anblicken möchte, was aber nur zum bloßen Anblicken ohne
Ereignis führen würde. Kann zum Beispiel eine Körperbewegung in
meine Richtung aufgrund dessen, dass etwas Auffälliges in dieser
Richtung wahrnehmbar wird (zum Beispiel ein Schrei), diesen Blick
erklären? Natürlich nicht. Es kann wiederum nur die Tatsache, dass
unsere Blicke sich gekreuzt haben, erklären, aber nicht die lebendige
Fülle dieses Ereignisses. Auf dieselbe Weise kann man unendlich viele
Ursachen finden, die eigentlich keine Ursachen sind – hätte sein
Freund nicht danebengestanden, hätte er nicht Hunger gehabt und
nicht auf einen Eisverkäufer gezeigt, in dessen Nähe aber ich mich
befand, so hätte er mich nie angeblickt. 518 Marion weist genau darauf
hin, dass in solchen Fällen sehr viele, eine »Überfülle« (surabon-
dance) von Ursachen sich vermuten lassen; da sie sich aber alle als
inadäquat erweisen, zeigen sie um so mehr die Souveränität des Er-
eignisses:
»So steht es also um die Interaktion und um die nicht weiter aufzulösende
Verstrickung von unendlich ineinander übergehenden Ursachen. Dennoch
lässt ihre Überfülle paradoxerweise durchscheinen, dass das Ereignis von
absolut keiner Ursache abhängt.« (GS, 292/ED, 237)
Das Ereignis ist ohne Ursache in dem Sinne, dass das Phänomen sich
zuerst gibt, keine Ursache ihm vorausgehen lässt und mit seiner Fülle
jede nachträgliche Ursache leugnet, die zwar vermutet werden kann,
das Ereignis aber nicht erklärt. Dies ist seine Selbst-Gegebenheit.
Hier zeigt sich aber ein Problem. Achten wir auf die Ausdrucksweise
Marions. Er schreibt nämlich: »Der reduktiven Einstellung
nach …« 519 Das heißt: Normalerweise fassen wir die Erscheinungen
als verursacht auf, also als solche, denen etwas vorausgeht, die eine
Wirkung von etwas sind, aber in der phänomenologischen Einstel-

518
Den Gedanken, dass jede aufgedeckte Ursache nur den Sachverhalt, nicht aber das
Ereignis selbst erklären kann, formuliert Romano im folgenden, sehr gelungenen
Satz: »Non que l’événement ne serait préparé ni préfiguré par rien, non qu’il n’aurait
point d’ancrage dans une histoire et surgirait mystérieusement sans aucun rapport à
elle; de l’événement, au contraire, on peut dire qu’il a, tout comme le fait intramon-
dain, ses causes: mais ses causes ne l’expliquent pas, ou plutôt, si elles l’»expliquent«,
ce dont elles rendent raison ce n’est précisément jamais que du fait, et non point de
l’événement en son sens événemential.« (EM, 38) Für Slavoj Žižek heißt es dann: »In
einer ersten Annährung erscheint das Ereignis also als Effekt, der seine Gründe zu
übersteigen scheint – und der Raum eines Ereignisses ist derjenige, der von dem Spalt
zwischen einem Effekt und seinen Ursachen eröffnet wird.« (Žižek, 9)
519
Im Original: »Selon l’attitude de réduction …« (ED, 231)

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

lung können wir sie als selbst gebend sehen. Für diese Interpretation
spricht auch der Satzteil: »Als gegebenes Phänomen hat ein Ereig-
nis …« 520, weil das Phänomen erst durch die (dritte) Reduktion (d. h.
durch die Reduktion des Phänomens auf seine Selbst-Gegebenheit)
als gegeben, als selbst gebend erscheint, während vorher es auch als
ein konstituiertes Objekt, also als verursacht angesehen werden kann.
Dass die Gegebenheit, d. h. die Ereignishaftigkeit von der Prozedur
des Phänomenologen, d. h. von seiner frei gewählten Einstellung ab-
hängt, besagt eine der grundlegendsten Thesen von Réduction et
donation und Étant donné:
»Wie viel Reduktion, soviel Gegebenheit.« 521
Wir können also das Erscheinende sowohl als verursacht als auch als
ohne Ursache auffassen – dies hängt davon ab, ob wir das Phänomen
auf die Gegebenheit reduzieren oder nicht. Also streng genommen
hängt die Möglichkeit des Ereignisses als sich selbst Gebendes von
uns und nicht von ihm ab. Damit wird aber seine Selbst-Gegebenheit
in Frage gestellt. Wie kann das Ereignis noch als souverän gelten,
wenn wir es zu dem machen, was es ist? Dieses Problem wird noch
sichtbarer, wenn es um die sogenannte »Banalität der Sättigung«
geht. Während in Étant donné noch deutlich zwischen armen und
gesättigten Phänomenen unterschieden wird, entwickelt Marion in

520 Im Original: »En tant que phénomène donné, événement …« (ED, 235)
521
»Autant de réduction, autant de donation.« Erstmals formuliert in Réduction et
donation (zum Beispiel: RD, 303). Siehe auch: GS/ED, 38/23, 44/27, 104/78 f; DS, 57.
Noch radikaler formuliert Marion es in einem Gespräch 1998: »Die Antwort auf Ihre
Frage, ob es eine Gegebenheit ohne Reduktion gibt, lautet deshalb meinerseits ein-
deutig: Nein.« (RuG, 66) Die Reduktion, von der Marion hier spricht, ist natürlich
eine phänomenologische – sie reduziert mithilfe der phänomenologischen Epoché
etwas auf ein Phänomen im Bewusstsein und lässt es so sich zeigen, wie es ist. Marion
vermutet aber, dass sowohl Husserl als auch Heidegger dieses Sich-Zeigende nicht
vollständig sich zeigen ließen, sondern nur in bestimmten Grenzen, nämlich als ein
Objekt im Horizont der Gegenständlichkeit bzw. als ein Seiendes im Horizont der
Seiendheit. Dies bedeutet für Marion, dass sie die Reduktion nicht genügend radikal
vollzogen haben, also bis zu dem Punkt, wo das Phänomen sich selbst, ohne jede Ein-
schränkung geben könnte. Damit die Selbst-Gegebenheit endlich erreicht würde, ist
nach Husserls und Heideggers Reduktion noch eine »dritte« (la troisième) Reduktion
notwendig: »Für die Gegebenheit gibt es nur eine einzige Bedingung, und das ist die
Reduktion. In der Reduktion gibt es einen Dreischritt: Die Erste Reduktion ist die
transzendentale Reduktion, die sich auf das Objekt bezieht. Die zweite Reduktion ist
die ontologische, die sich auf das Seiende richtet. Die dritte Reduktion zielt schließlich
auf das Gegebene (donné).« (RuG, 65).

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

nachfolgenden Jahren die These, dass alle Phänomene als gesättigt


begriffen werden können, wenn man sie nur als gesättigt ansieht, also
wenn man sie auf ihre Selbst-Gegebenheit, d. h. auf ihre Ereignishaf-
tigkeit reduziert. 522 In seinem bekannten Aufsatz La banalité de la
saturation (2005) schreibt er:
»Auch bedeutet es a contrario nicht, dass das gesättigte Phänomen unwei-
gerlich als seltene Ausnahmeerscheinung vorkommt, die sich auf die Rand-
gebiete gewöhnlicher, für die Norm gehaltene Phänomenalität zurückzieht.
Wenn man von der Banalität des gesättigten Phänomens spricht, dann soll,
in einem ganz anderen Sinne, nahe gelegt werden, dass die Mehrzahl der
Phänomene, wenn nicht sogar alle zur Sättigung veranlassen können durch
den ihnen innewohnenden Überschuss der Anschauung über Begriff und
Bedeutung. Mit anderen Worten, die Mehrheit der Phänomene, die in
einem ersten Zugang als anschauungsarm erscheinen, könnte man nicht
nur wie Gegenstände beschreiben, sondern auch wie Phänomene, deren An-
schauung sättigt und jeden univoken Begriff übertrifft« (SB, 109/BS, 169).
Die Sättigung, also die Ereignishaftigkeit des Phänomens hängt von
unserer Einstellung zu ihm ab. Es gibt also innerhalb Marions Phä-
nomenologie der Gegebenheit einen gewaltigen Widerspruch zwi-
schen der absoluten Selbst-Gegebenheit des Ereignisses und der Rolle
des Phänomenologen, der offensichtlich diese Selbst-Gegebenheit er-
möglicht und somit vernichtet. 523

522 Es ist zwar wahr, dass in Étant donné zwischen armen und gesättigten Phänomen

unterschieden wird, aber schon hier gibt es Hinweise darauf, dass für Marion die
Sättigung mehr als nur ein Charakteristikum spezieller Phänomene bedeutet, dass
sie das Phänomen im Allgemeinen kennzeichnen könnte. Marion schreibt zum Bei-
spiel, dass das saturierte Phänomen als ein »Paradigma« (paradigme) für die Beschrei-
bung des Phänomens im Allgemeinen dienen könnte: »Zwar sind nicht alle Phäno-
mene als gesättigte Phänomene einzuordnen, doch erfüllt sich in allen gesättigten
Phänomenen das Paradigma von Phänomenalität. Besser noch: Gesättigte Phänomene
allein haben das Vermögen zu deren Veranschaulichung.« (GS, 381/ED, 316; siehe
auch: GS, 368 f/ED, 304 f) Was genau kann das gesättigte Phänomen in Bezug auf die
Phänomenalität überhaupt »veranschaulichen« (illustrer)? Natürlich die Selbst-Ge-
gebenheit jedes Phänomens. Jedes Phänomen gibt sich, aber insbesondere das ge-
sättigte Phänomen zeigt, dass es sich gibt. Später vermutet Marion, dass die Sättigung
eigentlich von der Gegebenheit abhängt, d. h. sie sind eigentlich ein und dasselbe. So
entsteht die These von der Banalität der Sättigung. Weil jedes Phänomen sich gibt, ist
es auch gesättigt. Und weil jedes Phänomen sich gibt, ist es auch ereignishaft. So
spricht Marion in De surcroît von »le caractère originairement événementiel de tout
phénomène« oder von »l’universalité de l’acception du phénomène comme événe-
ment« (DS, 64).
523
Es ist verständlich, dass wegen dieses Problems Marion in die Kritik geraten ist.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Möglicherweise als ein Versuch, die These, laut deren die Gege-
benheit von der Reduktion abhängig ist, zu schwächen, könnten eini-
ge andere Ausdrücke von Marion gelesen werden. In einem Text von
2003 – La raison du don 524 – spricht Marion zum Beispiel von »von
Natur aus reduzierten« (naturellement réduit), »immer schon redu-
zierten« (toujours déjà réduit) (GG, 60/RdD, 17) 525 Phänomenen, also
von solchen Phänomenen, die schon an sich ereignishaft, gesättigt
sind, ohne dass sie zu solchen reduziert werden müssen. Theoretisch
kann man alle Phänomene auf ihre Ereignishaftigkeit reduzieren,
aber einige brauchen das nicht und bestätigen somit ihre Selbst-Ge-
gebenheit im vollen Maße. Und in diesem Fall verwandelt sich der
Phänomenologe von demjenigen, der die Reduktion vollzieht, zu
dem, der sie nur bestätigt. 526 Das Ereignis wäre somit das, was sich
auch als Ereignis gibt, was seine Selbst-Gegebenheit nicht einer Re-
duktion verdankt. Solche völlig selbstgebenden Phänomene wären

Mackinlay zum Beispiel spricht hier von »unresolvable difficulties« (Mackinlay, 112).
Er beschreibt diese Schwierigkeiten folgendermaßen: »Because of the role Marion
gives to the perceiving subject in forcing a saturated phenomenon to appear as an
unsaturated phenomenon – or in refraining from such a reduction – saturated pheno-
mena must once more be regarded as dependent upon the subject. This undermines
Marion’s own ambition to invert the constitutive relation of Kantian subjectivity,
making the recipient’s interpretation part of the very structure of phenomenality,
and perhaps even reinstating a form of constitution.« (Mackinlay, 105)
524 Diesen Text hat Marion auf mehreren Tagungen in verschiedenen Versionen vor-

getragen. Die letzte Version wurde 2003 als The reason of the gift in Mater Dei In-
stitute von Dublin City University gehalten und wurde im Sammelband Givenness
and God (hrsg. von Ian Leask und Eoin Cassidy. New York: Fordham University Press,
2005, S. 101–134) veröffentlicht. Inzwischen war sie auch in Frankreich erschienen:
La raison du don. In: Philosophie 78 (2003), S. 1–32. Vor Kurzem ist dieser Text auch
in der deutschen Sprache zugänglich: geteilt in zwei Teile (mit den Titeln Der Grund
und Un-Grund der Gabe und Gabe und Vaterschaft) im Sammelband Gabe und
Gemeinwohl (hrsg. von Walter Schweidler und Émilie Tardivel. Freiberg/München:
Alber, 2015, S. 21–35 und 53–83).
525
Die volle Textstelle, auf die wir Bezug nehmen, lautet: »Eine auf die Gegebenheit
von Natur aus reduzierte Gabe also – ein Ausnahmefall, wo die Schwierigkeit nicht
darin besteht, die natürliche Einstellung um der Reduktion willen hinter sich zu las-
sen (um mit Husserl zu sprechen), sondern wo es darum ginge, vor einem immer
schon (von Natur aus) reduzierten Phänomen sozusagen dasjenige zu rekonstituie-
ren, von dem her das Phänomen sich reduziert findet. Welches Phänomen könnte
diesen auf den Kopf gestellten Kriterien genügen, nämlich nur als immer schon redu-
ziertes Phänomen zu erscheinen? Unser Vorschlag: die Vaterschaft.« (GdG, 60/RdD,
17)
526
DS, 59.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

dementsprechend von »künstlich« reduzierten zu unterscheiden. In


der Tat schreibt Marion in Certitudes négatives:
»Tous les phénomènes ne se réduisent pas à des objets, mais certains advien-
nent comme des événements.« (CN, 276)
Das heißt: Kein Phänomen ist ein bloßes Objekt – jedes hat seinen
Grad der Sättigung. 527 Aber während bei manchen diese Sättigung
durch eine bestimmte Einstellung provoziert werden muss, sind man-
che Ereignisse schon von Anfang an Ereignisse. Diese These wird in
Certitudes négatives auch dadurch verstärkt, dass Marion in Bezug
auf die Unterscheidung von Objekten und Ereignissen zwar eine
»doppelte Interpretation« (double interprétation) jedes Phänomens
zulässt, ihren Grund aber in der Erscheinungsweise des Phänomens
selbst sucht. Das heißt: Man kann ein Phänomen sowohl als gesättigt
mit Anschauung (ereignishaft) als auch als objekthaft (anschauungs-
arm) auslegen, aber die Interpretation ist nicht ganz so frei – sie grün-
det darin, wie das Phänomen sich selbst zeigt. Und es kann sich
entweder als ereignishaft oder als objekthaft zeigen. Die Ereignis-
haftigkeit bzw. Gegenständlichkeit ist also auch etwas, was zu dem
Phänomen selbst gehört und nicht von außen aufgezwungen wird:
»Il ne dépend que de mon regard que même une pierre puisse, parfois,
apparaître comme un événement […] ou, inversement, que même Dieu
puisse parfois apparaître comme un objet […]. La distinction des phéno-
mènes en objets et événements trouve donc un fondement dans les varia-
tions de l’intuition. Plus un phénomène apparaît comme événement (s’évé-
nementialise), plus il s’avère saturé d’intuition. Plus il apparaît comme objet
(s’objectivise), plus il s’avère pauvre en intuition.« (CN, 307)
Damit also das Konzept des sich selbst gebenden Ereignisses nicht in
sich widersprüchlich wäre – wie das zum größten Teil in Marions
Phänomenologie der Fall ist, da er alle Phänomene als selbst gebend
charakterisiert –, sollten nur diejenigen Phänomene als Ereignisse
anerkannt werden, die sich von sich aus ohne Ursache geben und ihr
Selbst-Gegebenheit nicht der Reduktion verdanken, d. h. nur diejeni-

527 Dass Marion von natürlich reduzierten Phänomenen spricht, die er solchen Phä-

nomenen gegenüberstellt, die zuerst als Objekte erscheinen, heißt nicht, dass er auf
seine These über die Banalität der Sättigung verzichtet. Ganz im Gegenteil: Noch
2012 in den Gesprächen mit Dan Arbib sagt Marion: »C’est une chose, il est vrai, sur
laquelle j’ai dû insister et que j’ai mis moi-même un certain temps à comprendre: il y a
une grande banalité de la saturation.« (RC, 150)

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

gen Phänomene, die bei ihrer phänomenologisch vermuteten Selbst-


Gegebenheit diese auch selbst bestätigen und nicht darauf warten, bis
es der Phänomenologe tut.

3.2. Die Selbst-Gegebenheit und der adonné

Das zweite Problem betrifft die Rolle des Bewusstseins. Während das
erste Problem die Reflexion über die Bewusstseinsgegebenheiten be-
trifft und die aktive Rolle der Reflexion bei der Ereigniskonstitution
bezweifeln will, da das Ereignis sich selbst geben soll, wird hier nach
dem Bewusstsein und seiner möglichen Aktivität bei der Ereignis-
konstitution gefragt. Laut Marion ist das selbst gebende Phänomen
weder von einem Ich konstituiert, noch duldet es die Bedingungen der
Möglichkeit seiner Erscheinung, deren Träger das transzendentale Ich
ist, noch lässt es sich durch eine von außen auferlegte Normativität
(zum Beispiel, dass alles als ein Objekt, ein Seiendes oder eine Wir-
kung erscheinen soll) einschränken. Während eine in der Reflexion
gewählte Norm für die Erscheinung noch zu vermeiden wäre, indem
man – wieder in der Reflexion – auf sie verzichtet, sieht es anders mit
dem Ich und den Bedingungen der Möglichkeit der Erscheinung für
das Ich aus. Kann man überhaupt daran zweifeln, dass das Ich (es
muss nicht unbedingt ein bewusstes Ich sein – es geht hier bloß um
einen Ort der Erfahrung, um einen Empfänger) das Phänomen in
seine Strukturen hineinzwingt, damit es so sichtbar (also im All-
gemeinen erfahrbar) wird, wie das Ich es überhaupt sehen kann?
Man kann auf eine gewisse Interpretation des Ereignisses verzichten,
sie in Klammern setzen, aber kann man dasselbe mit dem Ich und
seinen Bedingungen der Möglichkeit tun? Man könnte wie vorher
argumentieren, dass es hier nicht um eine ontologische, sondern um
eine phänomenologische Beschreibungsweise geht und dass für die
phänomenologische Einstellung das Ereignis als solches erscheint,
das nicht vom Ich konstituiert wird und das nicht ein Ich braucht,
um, auf welche Weise auch immer, möglich für das Bewusstsein bzw.
Un-Bewusstsein (es ist in diesem Moment unwichtig, was für einen
Empfänger man annimmt) zu werden. Doch dieses Argument ist
nicht möglich, denn es ist genau die Phänomenologie, die ein Ich, ein
Bewusstsein voraussetzt, indem sie Bewusstseinsgegebenheiten be-
schreibt. Das ist keine ontologische Annahme, die man phänomeno-
logisch reduzieren könnte, sondern eine phänomenologische Voraus-

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

setzung. Deswegen ist dieses Mal umgekehrt: Die Ontologie könnte


behaupten, dass es Ereignisse ohne ein Ich gibt, nicht aber die Phäno-
menologie. Für die phänomenologische Einstellung ist das Ereignis
ein Ereignis für ein Ich, es braucht jemanden, damit es sich ereignen
könnte. 528
Doch das Ich – wenn die These von der Selbst-Gegebenheit gel-
ten soll – darf das Ereignis nicht aktiv konstituieren, sondern höchs-
tens nur in sich so aufnehmen, wie es sich gibt. In der Tat ersetzt
Marion das aktiv konstituierende Subjekt durch den passiven Emp-
fänger des Phänomens, den er attributaire 529 oder adonné nennt:
»Im Mittelpunkt steht also keinerlei ›Subjekt‹, sondern ein Hingegebener
[adonné – L. P.]. Das ist derjenige, dessen Funktion darin besteht, das zu
empfangen, was sich ihm ohne Maß gibt […]«. (GS, 526/ED, 442)
Der adonné wird als die Gegenfigur zum aktiven Subjekt gedacht 530 –
er konstituiert das Phänomen nicht, er empfängt nur seine Selbst-
Gegebenheit. Insofern behält das Phänomen seine Souveränität.
Doch Marion geht weiter. Und er muss weitergehen, weil er – im
Gegensatz zu Levinas zum Beispiel – seine Ereignisphilosophie inner-
halb einer Philosophie des Bewusstseins, nämlich der Phänomenolo-
gie aufbaut. Um das Ereignis des Anderen der konstituierenden und
vereinnahmenden Macht des Bewusstseins zu entziehen, hat Levinas
den Anderen als solchen bestimmt, den das Bewusstsein nie erreicht,
der nie erscheint und für das Bewusstsein schon immer vergangen ist.
Wenn aber Marion das Ereignis als ein Gegebenes für das Bewusst-
sein bestimmt, so lässt er es wieder vom Bewusstsein abhängig wer-
den, obwohl er keine Konstitution des selbst gebenden Phänomens im
Sinne Husserls zulässt. Denn auch als passiv gesetztes Bewusstsein
bleibt es aktiv. Zuerst – was noch relativ harmlos ist – ist der adonné
als das passiv empfangende Bewusstsein in dem Sinne aktiv, dass er
überhaupt das Phänomen aufnimmt, was schon eine Aktivität dar-
stellt:
528 Diese Struktur des Ereignisses haben wir schon bei Heidegger und Levinas gese-

hen. Bei Heidegger impliziert dies die These »das Seyn braucht das Da-sein« und bei
Levinas der Begriff der »Innerlichkeit«, die die absolute Individualität des Betroffenen
bedeutet. Es ist aber zu beachten, dass weder das Dasein, das zum Ereignis des Seins
gehört, noch die Innerlichkeit, die vor dem Bewusstsein geschieht, mit dem phäno-
menologischen Begriff des Bewusstseins gleichzusetzen ist. Trotzdem geht es immer
noch um jemanden, den das Ereignis betrifft.
529 Thomas Alferi übersetzt dieses Wort als »Zuweisungsempfänger«: GS, 413.

530
Siehe: GS, 414/ED, 344.

343

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

»L’adonné se caractérise donc par la réception. La réception implique certes


la réceptivité passive, mais exige aussi la contenance active; car la capacité
(capacitas), pour s’accroître à la mesure du donné et pour en maintenir
l’arrivée, doit se mettre en travail – travail du donné à recevoir, travail sur
soi-même pour recevoir.« (DS, 60)
Aber dann, indem der adonné das Phänomen aufnimmt, macht er das
Phänomen sichtbar. Der adonné verwandelt das Unsichtbare, das, was
das Bewusstsein noch nicht erreicht hat (das radikal Andere bei Levi-
nas), in eine Erscheinung:
»Cette opération – phénoménaliser le donné – revient en propre à l’adonné,
en vertu de son difficile privilège de constituer le seul donné dans lequel il y
aille de la visibilité de tous les autres donnés.« (DS, 60) 531
Um jeden Verdacht zu vermeiden, dass der adonné die Konstitution
des Phänomens ausübt und um die Operation zu beschreiben, die er
vollzieht, vergleicht Marion den adonné mit einem »Filter« (filtre)
oder »Prisma« (prisme) (GS, 436/ED, 364) – »der Filter entfaltet sich
zunächst wie ein Empfangsschirm« (GS, 437/ED, 365). Der adonné
ähnelt einem »Bildschirm« (écran) in dem Sinne, dass er, anfangs in-
aktiv, zu leuchten anfängt, wenn Teilchen auf ihn treffen. Er konsti-
tuiert das Bild nicht, sondern macht nur das sichtbar, was an sich
unsichtbar auf ihm explodiert. 532 Er funktioniert auch wie ein Prisma,
indem er das unsichtbare, weiße Licht bricht und es in unterschiedli-

531 Siehe auch: »Für den Zuweisungsempfänger [attributaire – L. P.] bedeutet Emp-

fangen also nichts weniger als Gegebenheit zu vollziehen, wobei er diese in Mani-
festation umwandelt […].« (GS, 436/ED, 364) Ohne diese Operation seitens des Be-
wusstseins könnte nichts erscheinen: »Wie könnte auch etwas Prä-Phänomenales
diesseits von (Bewusstseins-)Immanenz, wie könnte es vor der Empfangsfläche und
vor dem Prisma auftauchen, wodurch der Hingegebene anonym Gegebenes in Sich-
Zeigendes konvertiert? […] Den Phänomenen zuvor ist nichts zu sehen bzw. vorher-
zusehen.« (GS, 500/ED, 365) Siehe auch: DS, 61 f.
532
Marion vergleicht den adonné mit einem Bildschirm in Étant donné (GS, 437/ED,
365) und auch später in De surcroît (DS, 61). Mit diesem Vergleich möchte er nicht
nur illustrieren, wie das rezeptive Bewusstsein das Gegebene sichtbar macht, sondern
auch, wie das Bewusstsein selbst entsteht, wenn das Gegebene auf es aufprallt: »Dans
cette ligne, on se risquera à dire que le donné, invu mais reçu, se projette sur l’adonné
(la conscience, si l’on préfère) comme sur un écran; tout la puissance de ce donné vient
comme s’écraser sur cet écran, provoquant une double visibilité d’un coup. a) Celle du
donné bien sûr […]. […] b) Mais la visibilité surgie du donné provoque de pair la
visibilité de l’adonné. En effet, l’adonné ne se voit pas lui-même avant de recevoir
l’impact du donné.« (DS, 61)

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

chen Farben sichtbar werden lässt. 533 Ist aber die Verwandlung in das
Sichtbare keine Verwandlung des Gegebenen für das Bewusstsein? Ist
das rote Licht nicht etwas anderes als das weiße?
Marions These ist auch, dass das Bewusstsein nicht nur das Phä-
nomen nicht konstituiert, sondern eher selbst vom Phänomen kon-
stituiert wird – es empfängt sich selbst durch das, was sich gibt:
»Allerdings geht der Zuweisungsempfänger seiner prismatischen Bedeu-
tung entsprechend nicht dem voraus, was er formt. Er resultiert daraus.
[…] Er empfängt sich in exakt dem Augenblick, wo es das, was sich gibt,
empfängt, um sich endlich, dank seines eigenen Empfangens, zu zeigen.«
(GS, 437/ED, 365) 534
Das Bewusstsein also hätte nichts und wüsste nicht von sich selbst,
wenn das Selbst-Gebende sich nicht gegeben hätte. Dies heißt aller-
dings nicht, dass deswegen der adonné das Gegebene nicht auf eine
ihm eigentümliche Art und Weise sichtbar werden lässt. Wenn der
adonné das Phänomen sieht, sieht er so, wie er das Phänomen sehen
kann, also er konstituiert es gewissermaßen. Wenn wir uns an die
Argumentation Levinas’ erinnern, hat er gezeigt, dass das, was im
Bewusstsein gelandet ist, seine Andersheit verloren hat und zum Be-
wusstsein geworden ist. Das Bewusstsein ist an sich eine Institution,
die verwandelt. Nichts im Bewusstsein hat noch seine Selbst-Gege-
benheit. Es ist also unmöglich zu behaupten, dass der adonné als die
Passivität und trotzdem das Bewusstsein, die das Selbst-Gebende
sichtbar macht, noch etwas mit der Selbst-Gegebenheit zu tun hat
und keine Einschränkungen dem Ereignis auferlegt. 535 Es legt dem
Ereignis eine fundamentale Einschränkung auf, es bedingt es – damit

533 »On pourrait songer aussi au modèle d’un prisme qui arrête la lumière blanche,

jusque-là invisible, et la décompose en un spectre de couleurs élémentaires, elles enfin


visibles.« (DS, 61)
534 Siehe auch: DS, 61.

535
Aber Marion schreibt genau das Gegenteil: »Denn im Bereich von Gegebenheit
hat das Phänomen des Anderen erstmalig nichts mehr von einer extra-territorialen
Ausnahme gegenüber der Phänomenalität an sich, sondern es gehört ihr mit vollem
Recht, wenn auch als Paradoxie (gesättigtes Phänomen) an. Den Anderen zu emp-
fangen, dies ist zunächst gleichwertig damit, Gegebenes zu empfangen und sich da-
raus zu empfangen. Zwischen dem Anderen und dem Hingegebenen steht kein prin-
zipielles Hindernis mehr.« (GS, 527/ED, 442) Marion ist also der Ansicht, dass durch
seine Einführung eines passiven Bewusstseins er dem Anderen ermöglicht, im Be-
wusstsein zu erscheinen und trotzdem unangetastet vom Bewusstsein zu bleiben.
Genau dies ist äußerst fraglich.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

es das Ereignis für das Bewusstsein gibt (was davor geschieht, steht
außerhalb der Betrachtung, insofern es sich hier um eine Phänome-
nologie handelt), muss es sichtbar werden. Sollte die Selbst-Gegeben-
heit sich vollziehen können, so musste sie auch von den Schranken
des Sichtbaren befreit werden. Marion ist sich dieses Problems be-
wusst, deswegen schreibt er:
»Denn die beiden in unseren Augen unstrittigen Thesen (Gegebenheit
kennt keine Ausnahme, alles Sich-Zeigende gibt sich) 536 führen nicht
zwangsläufig dahin, dass sich ein universelles Manifestieren, ohne Rest
und ohne Einschränkung, einstellt. […] Soll sich alles Sich-Zeigende zu-
nächst geben, dann tritt gelegentlich der Fall ein, bei dem Sich-Gebendes –
trotz allem – nicht zu seinem Sich-Zeigen gelangt. […] Derjenige, der die
Phänomenwerdung von Sich-Gebendem ins Werk setzt, muss nämlich ein
Gegebenes beleuchten, das sich ausgehend von seinem irreduziblen Sich
vollzieht und sich daher zuweilen, ja sogar oft, nicht auf die Empfangskapa-
zität des Hingegebenen einstellen und dessen Grenzen überschreiten kann.
[…] Da Endlichkeit nun aber den Hingegebenen wesenhaft bestimmt, ver-
mag er – per definitionem – Gegebenes, so wie es sich gibt, d. h. grenzen-
und restlos, nicht adäquat zu empfangen. Und deshalb kann auch die End-
lichkeit, insofern sie auch in der vom Hingegebenen ins Werk gesetzten
Phänomenwerdung liegt, zwangsläufig nicht all das, was an diesen heran-
tritt, sichtbar machen.« (GS, 507/ED, 425)
Der adonné ist also per definitionem endlich und wenn er etwas fasst
– wenn er also etwas sichtbar macht, d. h. wenn er sich etwas bewusst
wird –, schränkt er dieses ein. Sollte die Selbst-Gegebenheit stattfin-
den können, so sollte sie eine solche sein, die ein Ich nicht sieht, die es
nicht in sich, in seinem Bewusstsein, haben kann, die es nicht ein-

536 Die zwei hier erwähnten Thesen sind grundlegend für Marions Phänomenologie.

Die eine (»Gegebenheit kennt keine Ausnahme«) besagt, dass alles, was uns erreicht,
sich uns gegeben hat. Es gibt nichts, was nicht gegeben ist: »[…] nichts ist, kommt an,
erscheint oder affiziert uns, es sei denn, es erfüllt sich jeweils und notwendig als
Gegebenheit.« (GS, 105/ED, 79 f) Die andere (»alles Sich-Zeigende gibt sich«) besagt,
dass alles was die Phänomenalität, d. h. das Bewusstsein erreicht, sich zuerst gegeben
hat. Wir haben schon erwähnt, dass noch in Étant donné auch die Gegenrichtung gilt,
nämlich dass das, was sich gibt, sich auch zeigt: »Sich geben kommt somit dem sich
zeigen gleich. Was sich gibt, zeigt sich.« (GS, 131/ED, 101 f) In De surcroît gilt die
Gegenrichtung nicht mehr (DS, 38). Auch im Vortrag 2008, veröffentlicht im Sam-
melband von Marions Vorträgen – The Reason of the Gift –, sagt Marion:
»[…] everything that shows itself must first give itself (even if everything that gives
itself nevertheless does not show itself without remainder) […].« (RoG, 19) Diese
Verschiebung ist sehr wichtig, weil sie das Phänomen von den Schranken der Sicht-
barkeit befreit.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

holen, ergreifen kann und die sich ihm trotzdem gibt. 537 Dieses Un-
sichtbare, diesen »Rest« (reste) der Selbst-Gegebenheit, den der Emp-
fänger in seiner Eingeschränktheit nicht aufnehmen kann, nennt
Marion in De surcroît l’invu (»das nicht Gesehene«):
»Par ›invu‹, nous entendons purement et simplement ce qui, de fait, ne
parvient pas ou pas encore à la visibilité, alors que je pourrais de droit l’ex-
périmenter comme un possible visible.« (DS, 137)
Dieses Invu unterscheidet Marion vom Nicht-Gegenwärtigen und
trotzdem Mit-Gegebenen, das schon die Husserlsche Phänomenolo-
gie kennt. Der Unterschied liegt darin, dass das Unsichtbare bei Hus-
serl das Unsichtbare eines Objekts ist: Es ist die andere Seite eines
Gebäudes, die schon das Bewusstsein erreicht hat bzw. die noch nicht
im Bewusstsein gegenwärtig war:
»Il s’agit donc de faire droit à un invisible qui ne se réduise pas à l’invu, s’en
distingue et le préserve. Or, l’invu résulte de ce que l’intentionnalité de
l’objet ne peut (et sans doute ne doit pas) donner sens à tous le vécus et
toutes le esquisses pourtant à elle donnés.« (DS, 140)
Das Invu für Marion ist das Gegebene als solches, aus dem das Be-
wusstsein etwas herausgreifen und sehen kann. Das Invu bildet nicht
einen Teil der Gegenstandskonstitution, sondern gibt sich vor jeder
Konstitution eines Objekts und bleibt während des Sichtbarwerdens
von etwas ein unerreichbarer und trotzdem gebender Hintergrund
dieses Sichtbarwerdens, das allerdings nicht mit einer Konstitution

537 Dies ist der Streitpunkt in der Diskussion über die Grenzen der Phänomenologie

und ihr Verhältnis zur Theologie – in der Diskussion, die vor allem seit Dominique
Janicauds Buch Le tournant théologique de la phénoménologie française (1991) am
Laufen ist. Die Frage ist: Wenn die Phänomenologie behauptet, dass es etwas Unsicht-
bares, ein unangetastetes Anderes gibt, ist dies dann nicht die Setzung einer onto-
theologischen Transzendenz und damit die Überschreitung der Grenzen der Phäno-
menologie? In der Tat nicht unbedingt: Es geht um eine Erfahrung des Unerfahrbaren
und nicht um seine ontologische Setzung. Es gibt Erfahrungen, die unbegreiflich sind,
und insofern die Phänomenologie solche Erfahrungen beschreibt, überschreitet sie
noch nicht die Grenzen der Phänomenologie. Das ist unser Standpunkt zu dieser
Frage. Zu dieser Diskussion siehe u. a. folgende Literatur, die direkt dem Buch Le
tournant théologique de la phénoménologie française folgte: Jean-François Courtine
(Hrsg.): Phénoménologie et théologie. Paris: Criterion, 1992; Janicaud, Dominique: La
phénoménologie éclatée. Paris: Éclat, 1998; Faulconer, James E. (Hrsg.): Transcenden-
ce in Philosophy and Religion. Bloomington and Indianapolis: Indiana University
Press, 2003; Jonkers, Peter und Welten, Ruud (Hrsg.): God in France. Eight Contem-
porary French Thinkers on God. Leuven/Paris/Dudley(MA): Peeters, 2005.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

gleichzusetzen ist. 538 Da aber dieser Hintergrund unaufhörlich gibt,


wird es mehr und mehr auch Sichtbares, sodass man vom »Sichtbaren
in Überschreitung« (le visible en excès) (DS, 137) sprechen kann. Der
Exzess des Sichtbaren zeigt unvergleichlich mehr als ein Objekt je
zeigen kann. 539
Wenn auch im Falle eines Ereignisses ein Betroffener notwendig
ist, um überhaupt die Betroffenheit feststellen und eventuell phäno-
menologisch beschreiben zu können, konstituiert er das Ereignis
nicht, sondern empfängt es nur. Mehr noch: Er ist sogar nicht in der
Lage, das Ereignis in sich aufzunehmen, es sich anzueignen und zu
begreifen. Er wird von etwas Größerem betroffen als er selbst ist.
Wenn das Ereignis geschieht, hat man immer das Gefühl: »Das ist

538 Man muss aber beachten, dass das invu eine spätere Lösung des hier zu behan-
delnden Problems darstellt. Zu dieser Zeit wird auch behauptet, dass nicht alles, was
sich gibt, sich zeigt. In Étant donné herrscht noch die These, dass beide Richtungen
dieser Formel gelten – alles, was sich zeigt, gibt sich, und alles, was sich gibt, zeigt sich.
Und obwohl Marion in der oben angeführten Passage zugibt, dass die Sichtbarkeit
eine Einschränkung für die Gegebenheit sein könnte und deswegen von ihr befreit
werden muss, entwickelt er trotzdem im nächsten Stritt die These, dass die Tatsache,
dass die Gegebenheit nicht zur Sichtbarkeit gelangt, im Willen (vouloir) des Empfän-
gers liegt, der die Gegebenheit nicht zur Sichtbarkeit bringen will (GS, 514/ED, 431).
Das bedeutet, dass Marion den Grund einer eventuellen Unsichtbarkeit nicht in einem
Befreiungsversuch des Phänomens, sondern in dem Nicht-Wollen des Empfängers
sieht. Und das heißt wiederum, dass, theoretisch gesehen, alles Gegebene sichtbar
werden könnte, wenn nur der adonné das wollte. Alles hängt vom adonné ab und
damit wird die Selbst-Gegebenheit des Phänomens wieder in Frage gestellt. Sollte sie
befreit werden, soll das Unsichtbare behauptet werden.
539 Dieses Nicht-Gesehene muss nicht nur vom Unsichtbaren eines Gegenstandes

unterschieden werden. Es ist auch nicht dasselbe wie das Unsichtbare (l’invisible)
eines Bildes, einer Ikone, mit dem sich Marion in L’idole et la distance (1977) oder
Dieu sans l’être (1982) beschäftigt und das er auch später thematisiert, wenn er zum
Beispiel vom Antlitz (als Ikone) spricht. Das Unsichtbare einer Ikone ist das, was über
das Sichtbare hinausführt, es ist die Tiefe des Sichtbaren, die eine Dimension eröffnet,
die nicht abgebildet werden kann. Das Invu dagegen ist etwas vor dem Sichtbaren, das
Mehr des Sichtbaren, die Quelle, aus dem das Sichtbare schöpft, die Gegebenheit. In
La croisée du visible (1991) unterscheidet Marion: »Das Ungesehene ist nicht ge-
sehen, genau wie das Ungehörte nicht gehört, das Ungewusste nicht gewusst, das
Unberührte nicht berührt und sogar wie das Ungenießbare nicht genießbar ist. Das
Ungesehene rührt sicher vom Unsichtbaren her, lässt sich mit diesem aber nicht ver-
wechseln, da es dieses übertreten kann, gerade indem es sichtbar wird. Während das
Unsichtbare auf immer ein solches bleibt […], zeigt das Ungesehene – das nur pro-
visorisch Unsichtbare – seinen ganzen Anspruch auf Sichtbarkeit, um darin manch-
mal auch zwangsläufig einzubrechen. Das Ungesehene gibt keine Ruhe, um nur im
Sichtbaren aufzutauchen.« (ÖS, 48/CV, 51)

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

nicht meines, das kommt nicht von mir; es ist etwas, was auf mich
zukommt, was mir geschenkt wird«. Dieses Gefühl ist die Art und
Weise, wie sich die Selbst-Gegebenheit des Ereignisses, insofern es
nicht von einem Ich konstituiert wird, zeigt. Aber nicht nur das: Der
Betroffene fühlt sich unfähig zu begreifen, was geschehen ist. Das
Ereignis ist wie Sand, der zwischen den Fingern fließt und von dem
man nur einzelne Körner in der Hand behalten kann, die aber nichts
vom Ereignis als Ganzem verraten. Das Ereignis ist immer mehr, als
man behalten, fest in der Hand haben kann. Es ist so, weil es sich nie
den Einschränkungen unserer Erfahrungsfähigkeit, unserem begriff-
lichen Verständnis unterwirft – es sprengt jede Einschränkung, die
wir ihm entweder in der Reflexion oder durch unsere natürliche Be-
schaffenheit auferlegen. Es gibt mehr, als wir mit unseren Einschrän-
kungen fassen können. Deswegen sagt Marion, dass es im Exzess (ex-
cès)einen Zusatz (surcroît) gibt.

4. Das unmöglich mögliche Ereignis

Dass das Ereignis ohne Ursache gibt, heißt, dass nichts es bewirkt.
Nichts im weitesten Sinne des Wortes geht ihm voraus, das auch im
geringsten Maße zu ihm führen könnte. Keine mögliche nachträgli-
che Ursache kann es erklären. Rückblickend, wenn man alles Voraus-
gegangene durchsucht, stellt das Ereignis etwas dar, was man – auf-
grund der Erkenntnis des Vorausgegangenen – nicht vorhersehen
konnte. Mit anderen Worten: Rückblickend erscheint es als unmög-
lich. Im Moment vor dem Ereignis, war es nicht möglich:
»Ils ne peuvent pas se prévoir, puisque leurs partielles causes non seulement
restent toujours insuffisantes, mais ne se découvrent qu’une fois le fait ac-
compli de leur effet. D’où il suit que leur possibilité, ne pouvant se prévoir,
reste à strictement parler une impossibilité au regard du système des causes
antérieurement répertoriées.« (DS, 45) 540

540 Siehe auch: GS, 297 f/ED, 243 f. Oder: »Comment définir l’événement? Comme

l’impossible, ce qui n’était pas possible ou pensable avant d’apparaître effectif, donc
comme ce qui se fait effectif sans pour autant avoir été jamais pensable […].« (RC,
270) Oder auch: »Aussi bien nous apparaît-il au fond toujours comme impossible,
voire comme l’impossible, puisqu’il n’appartient pas au domaine du possible, de ce
que nous pouvons.« (CN, 282)

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Um die »Unmöglichkeit« (impossibilité) des Ereignisses zu verstehen,


muss man zuerst fragen, was überhaupt »möglich« heißt. Üblicher-
weise und auch in der Metaphysik, gilt als möglich dasjenige, was
unter Umständen wirklich werden kann. Es ist nichts Notwendiges,
das unbedingt eintreffen muss, aber es kann zur Aktualität werden.
Es ist sehr wichtig zu merken, dass das Mögliche etwas ist, von dem
man weiß, dass es möglich ist. Es ist folglich etwas, was man kennt,
was man schon begriffen hat, das aber noch nicht zur Wirklichkeit
geworden ist:
»Umgekehrt ließe sich Möglichkeit (im Wesen) als eine Existenz definieren,
die bereits vollständig begriffen ist und nur noch auf ihre Bewirkung war-
tet.« (GS, 298/ED, 243)
Was möglich ist, kann man auf unterschiedliche Art und Weise be-
stimmen. Man kann sich auf bestimmte, schon entdeckte Gesetz-
mäßigkeiten, Präzedenzfälle, im Voraus definierte Bedingungen der
Möglichkeit der Erfahrung o. Ä. stützen. Es ist möglich, dass irgend-
wann ein Meteorit die Erde trifft. Ein Baum ist möglich. Auch der
Niedergang einer Kultur ist möglich, genauso wie die wahre Liebe.
Wenn das Mögliche etwas schon Vorbegriffenes ist, was aktuell wer-
den kann, so ist das Ereignis das Unmögliche. Diese Behauptung for-
dert allerdings einige Erläuterungen.
Erstens ist es richtig, dass das Ereignis nicht schon im Voraus
antizipiert werden kann, aber nur im Sinne, dass es den gewöhnlichen
Ablauf der Dinge, in dem die Dinge einander folgen und zu einander
führen, unterbricht. Das bedeutet, dass das Ereignis ganz allgemein
doch als möglich gelten kann, sein konkretes Eintreffen bleibt aber
reine Selbst-Gegebenheit und deswegen unmöglich. Der Ausbruch
eines Bürgerkrieges war durchaus möglich, aber dessen Ausbruch in
der Ukraine 2014 war vorher unmöglich. 541 Es kann natürlich auch
geschehen, dass das Ereignis nicht etwas schon Mögliches unvorher-
sehbar eintreffen lässt, sondern mit seinem Auftauchen ohne Ursache
eine ganz neue Möglichkeit eröffnet. Der erste Bürgerkrieg war ein

541Deswegen sagt Badiou, dass man das Ereignis »nur denken kann« – man kann
nämlich um das Ereignishafte nur abstrakt wissen, die Vorhersage genauso wie die
Beobachtung seiner Verwirklichung ist aber unmöglich: »Es ist das Ereignis, welches
auf einer Begriffskonstruktion beruht, und zwar in dem doppelten Sinne, dass man es
nur denken kann, indem man seine abstrakte Form antizipiert, und dass man es nur in
der Rückwirkung einer eingreifenden und selbst vollkommenen reflektierten Praxis
bewahrheiten kann.« (SE, 205/EeE, 199)

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

Ereignis in diesem Sinne. Wenn Husserl vom Ursprung des Abend-


landes durch die Entstehung der Philosophie oder Heidegger vom Er-
eignis des Seins als Ursprung der Metaphysik und somit auch der
abendländischen Welt spricht, so geht es hier um ein solches radikales
Ereignis, das eine Möglichkeit erst eröffnet. Wenn es also richtig ist,
dass das Mögliche das schon Antizipierte, aber noch nicht Wirkliche
darstellt, das Unmögliche dagegen das nicht Vorgreifbare ist, so kann
das Ereignis als unmöglich im zweifachen Sinne des Wortes gelten.
Entweder ist es radikal unmöglich, indem es mit seinem Auftauchen
eine völlig neue Möglichkeit eröffnet, oder ist es unmöglich in dem
Sinne, dass es das Mögliche unvorhersehbar wirklich werden lässt.
Zweitens ist das Ereignis unmöglich noch in einer dritten Bedeu-
tung. Das Ereignis kann unmöglich bleiben sogar dann, wenn es vor-
her antizipiert wurde. Wie ist das möglich? Dadurch dass die Vorher-
sage begrifflich geschieht, sie ist eine Operation des Denkens. Die
Wirklichkeit, die geschieht, ist aber – wenn wir uns an Levinas er-
innern – radikal vom Denken different. 542 Das, was das Bewusstsein
vorgreifen kann, entspricht eigentlich nie dem, was wirklich ge-
schieht, auch wenn es dieses Geschehnis vermeintlich vorhersieht.
Ich kann vorhersehen, dass ich im nächsten Augenblick noch einen
Schluck Tee zu mir nehmen werde, aber kann ich in meinem Be-
wusstsein das Trinkerlebnis selbst schon antizipieren, als ob ich in
meinem Denken den Tee schon wirklich trinken würde? Ich kann
nur die Tatsache, dass ich den Tee trinken werde, nicht aber diesen
lebendigen Augenblick vorhersehen. Für das Denken, das aufgrund
des Vorausgegangenen (nämlich, dass ich am Tisch sitze, eine Tasse
Tee vor mir habe und schon ein paar Schlucke genommen habe) vor-
hersieht, dass ich noch einen Schluck trinken werde, bleibt die leben-
dige Gegenwart unvorhersehbar und in diesem Sinne unmöglich,
auch wenn es einiges (nämlich dass ich den Tee trinken werde) vor-
hersehen kann. Dies ist damit zu erklären, dass das Ereignis immer
mehr gibt, als die Tatsache enthalten kann, also als das Ich erfahren,
begreifen und denken kann. 543

542 Deswegen wäre es eigentlich völlig falsch, das Mögliche mithilfe der Wirklichkeit

oder die Wirklichkeit mithilfe der Möglichkeit zu definieren, da sie radikal unter-
schiedlich voneinander sind. Das Mögliche ist nicht noch nicht aktuell gewordene
Wirklichkeit, sondern das, dem als etwas Gedachtem die Wirklichkeit schon per de-
finitionem entzogen ist.
543 In diesem Sinne ist laut Marion Gott (und eigentlich auch jedes gesättigtes Phä-

nomen) für den Menschen unmöglich. Der Mensch hat den Namen »Gott«, kann ihn

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Das Mögliche ist noch nicht realisierte Aktualität. Dadurch dass


das Ereignis sich dem jeweiligen Horizont des Möglichen entzieht,
indem es entweder überhaupt etwas Neues anbietet oder in einem
bestimmten Kontext nicht ahnen lässt, oder einfach etwas mehr und
anders gibt, als man antizipieren kann, gilt es rückblickend als un-
möglich. Doch merkwürdigerweise behält das Ereignis die Auszeich-
nung des Unmöglichen auch dann noch, wenn es gerade eintrifft, also
möglich (und in derselben Zeit auch wirklich) wird, oder schon einge-
troffen ist. Marion gibt uns ein äußerst spannendes Beispiel dafür:
»Ainsi, les attentats du 11 septembre 2001 n’étaient (apparemment) pas
prévisibles. Or, quand ce quelque chose d’imprévisible se produit effective-
ment, comme il paraît a priori que nos concepts ne peuvent pas le concevoir,
il relève de l’impossible, puisque le possible équivaut au concevable, au
cogitabile. Des lors, le principe métaphysique selon lequel ne devient pas
effectif que ce qui est d’abord possible se trouve invalidé. Ici devient effectif
quelque chose dont nous disons, même une fois qu’il est effectué: ›Ce n’est
pas possible!‹ L’événement reste en dehors de l’horizon de notre possible,
même et parce qu’il s’avère pourtant effectif. Le 11 septembre, quand les
tours s’écroulaient (je me trouvais ce matin-là devant la télévision au milieu
de mes étudiants à Boston College, dans la ville d’où les terroristes prirent
leur vol), chacun voyait bien qu’elles s’écroulaient, rien n’était plus effectif
et, en même temps, nous disions que cela était impossible. Pourquoi? Nous
voulions dire: inconcevable, sans concept adéquat à l’énormité (en tant
qu’absence de norme) de l’intuition. Dans un tel événement, il se passe donc
une chose très étrange: une fois cet impossible devenu effectif, il reste im-
possible d’en concevoir la possibilité, mais il devient pourtant possible de
redéfinir le champ du possible à partir de lui.« (RC, 145 f)
Wie wir aus dieser Passage entnehmen können, vermutet Marion für
diese Situation, nämlich dass das Ereignis auch nach der Verwirk-
lichung trotzdem unmöglich bleibt, zwei Erklärungen. Erstens liegt
es an dem Exzess, an der Saturierung des Phänomens. In einem Mo-

aber nie anschauen, oder begreifen, weil Gott mehr ist, als unsere eingeschränkte
Erfahrung erfahren oder unser eingeschränktes Denken denken kann. Diese Unmög-
lichkeit bedeutet aber auf keinen Fall die Nicht-Existenz Gottes. Wenn es Gott gibt,
muss er unmöglich für den Menschen sein. Vielleicht muss auch seine Existenz un-
möglich für den Menschen erscheinen. Gott ist »das dem Menschen Unmögliche«.
Siehe dazu Marions Aufsatz: L’impossible pour l’homme – Dieu (In: Conférence 18
(2004), S. 329–369). Die deutsche Übersetzung: Das dem Menschen Unmögliche –
Gott ist im Sammelband Unmöglichkeiten (hrsg. von Ingolf U. Dalferth, Philipp
Stoellger und Andreas Hunziker. Tübingen: Mohr Siebeck, 2009, S. 233–263) zu fin-
den. Siehe auch das zweite Kapitel von Certitudes négatives: Le propre de Dieu.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

ment geschieht so unfassbar vieles (nicht unbedingt im quantitativen


Sinne), dass man es nicht begreifen kann. Das Mögliche ist, wie schon
erläutert, per definitionem etwas im Denken begrifflich Erfasstes. Der
Begriff des Möglichen lässt sich einfach nicht auf die Lebendigkeit
und Fülle der Wirklichkeit anwenden. Das Denken begreift die Tat-
sache des Einsturzes und noch viele andere Tatsachen, nicht aber das
Ganze des Moments, insofern es hier und jetzt geschieht. In diesem
Sinne sollte man sagen, dass das Leben überhaupt für das Denken
unmöglich erscheint. Das Leben versetzt das Denken in Erstaunen.
Und je mehr man denkt, desto unmöglicher ist alles, weil genau in
dieser Spannung zwischen dem Versuch, zu begreifen, und der Le-
bendigkeit die Lebendigkeit ihre Unbegreiflichkeit zeigt. Zweitens
könnte die Erklärung darin liegen, dass man im Fall eines Ereignisses
eigentlich mit zwei Begriffen des Möglichen manipuliert. Es gibt die
metaphysische Möglichkeit und die des Ereignisses. Die metaphysi-
sche Möglichkeit ist vorausbestimmt. Tritt etwas unvorhersehbar ein,
ist es unmöglich – also unmöglich im metaphysischen Sinne des
Wortes.
Doch man kann auch nicht leugnen, dass das Ereignis möglich
und wirklich wird:
»Selbstverständlich ist die Möglichkeit des Ereignisses prinzipiell anders als
nach dieser metaphysischen Auffassung zu beschreiben.« (GS, 298/ED,
243)
Welche Art der Möglichkeit charakterisiert das Ereignis, wenn es
doch metaphysisch unmöglich bleibt? Es ist nicht die Möglichkeit,
die vor dem Wirklich-Werden vorausbestimmt ist, sondern solche,
die erst dann entsteht, wenn das Ereignis schon aktuell geworden ist,
eine solche also, die das Unmögliche möglich macht:
»So findet die Phänomenologie am Leitfaden des gesättigten Phänomens zu
ihrer äußersten Möglichkeit. Dabei geht es nicht nur um die Möglichkeit,
die die Wirklichkeit übersteigt, sondern auch um die Möglichkeit, die die
Bedingungen der Möglichkeit selbst übersteigt, also: um die Möglichkeit
unbedingter Möglichkeit oder, anders gesagt: um die Möglichkeit des Un-
möglichen, um gesättigte Phänomene.« (GS, 368/ED, 304) 544

544 Siehe auch: GS, 299/ED, 243 f, CN, 288 f, RC, 271. Darauf, dass die Möglichkeit des

Ereignisses anders als die klassische Interpretation der Möglichkeit zu denken ist und
dass das Ereignis nicht ein Mögliches wirklich macht, sondern eine Möglichkeit erst
schafft, weist auch Derrida hin. In demselben Jahr, in dem Étant donné veröffentlicht
wurde, sagt er im Seminar Dire l’événement, est-ce possible? Folgendes: »Um zum

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Das Ereignis macht sich selbst möglich, indem es unvorhersehbar und


ohne Ursache wirklich wird. Also von einer Seite ist es unmöglich,
von anderer Seite – möglich, wobei es nur dann als ein Ereignis mög-
lich ist, wenn es für die Metaphysik als unmöglich erschient. Seine
Möglichkeit liegt in seiner Unmöglichkeit:
»Für denjenigen, der sich aber dem, was sich als Sich-Gebendes zeigt, aus-
setzt, bezeichnet diese Unmöglichkeit die Möglichkeit von Phänomenalität
selbst.« (GS, 299/ED, 244)
Das Ereignis ist also unmöglich möglich, und als solches tritt es
immer auf.

5. Die fünf Bestimmungen des sich selbst gebenden


Ereignisses

Das Ereignis ist das Sich-selbst-Gebende – keine Institution bringt es


hervor. Es ist das Unmögliche des Grundes – kein begriffliches Vo-
raus- oder Rückgreifen kann seine Fülle begreifen. Diese sind manche
der Strukturen des Ereignisses, die wir in den Texten Marions auf-
decken können. Aber auch Marion selbst gibt uns einige Strukturen
des Gegebenen an, insofern es seine Selbst-Gegebenheit entfaltet.
Diese Strukturen werden als »Bestimmungszüge« (déterminations)
des Gegebenen im dritten Buch von Étant donné behandelt. Das Ge-
gebene wird hier durch fünf solche Bestimmungen charakterisiert:
Anamorphose (anamorphose) (§ 13), Eintreffen (arrivage) (§ 14),
vollendetes Faktum (fait accompli) (§ 15), Vorfall (incident) (§ 16)
und Ereignis (événement) (§ 17). Wir haben schon gesehen, dass die
Ereignishaftigkeit als Selbst-Gegebenheit die anderen Bestimmungen
»in sich vereint« und als die »äußerste Bestimmung gegebener Phä-
nomene« gilt. Das heißt: Jede Bestimmung des Gegebenen ist die Be-
stimmung des Ereignisses, und immer, wenn wir das Gegebene be-
schreiben, beschreiben wir das Ereignis. Dementsprechend werden

Schluss zu kommen und Ihnen das Wort zu überlassen, würde ich sagen, dass diese
Reflexion über das Möglich-Unmögliche […] uns dahin führen müsste, den ganzen
Wert der Möglichkeit, der die philosophische Tradition des Abendlands kennzeichnet,
neu zu denken. […] Man muss hier vom un-möglichen Ereignis sprechen. Von einem
Un-Möglichen, das nicht nur unmöglich, nicht nur das Gegenteil des Möglichen ist,
sondern gleichermaßen die Bedingung oder die Chance des Möglichen. Von einem
Un-Möglichen, das die Erfahrung des Möglichen selbst ist.« (UES, 40 f/IDE, 100 f)

354

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

wir weiter die ersten vier Bestimmungen des Gegebenen als die Be-
stimmungen des Ereignisses, dessen Hauptmerkmal – die Selbst-Ge-
gebenheit – wir bereits behandelt haben, analysieren.

5.1. Die Anamorphose

Das gegebene Phänomen vergleicht Marion mit einer Anamorphose.


Der Begriff der Anamorphose, der ursprünglich ein ästhetischer Be-
griff ist und ein Bild bezeichnet, das nur unter einem bestimmten
Blickwinkel zu sehen bzw. zu erkennen ist, kann uns Marions Mei-
nung nach einiges über das gegebene Phänomen als solches verraten:
»Diese ästhetische Vorlage bietet nun aber Analogien, um die Phänomene
zu bestimmen, die sich nur insoweit zeigen, als sie sich geben.« (GS, 221/
ED, 175)
Bei der Anamorphose wird der Blick in eine Situation versetzt, wo er
etwas sieht und gleichzeitig anerkennen muss, dass das, was er sieht,
nicht das ist, was sich zeigen will. Die Anamorphose lässt den Blick
nicht bei dem bleiben, was er sieht, sondern zwingt ihn, das zu su-
chen, was sich gibt und nicht von Anfang an sichtbar ist. Es ist eine
Situation, wo sich die Selbst-Gegebenheit des Bildes vollzieht; wo das
Bild den Blick seiner Macht unterwirft; wo es sichtbar wird, wenn es
den Blick nicht mit sich selbst zufrieden sein lässt und zu seiner
Selbst-Gegebenheit führt:
»Wenn sie so in ihrer Endform eingefasst sind, dann erscheinen Phänomene
nicht mehr ab dem Zeitpunkt, wo ich meine Augen öffne und sie darauf in
der Weise richte, wie man einen Gegenstand vor den ihn herstellenden Blick
zitiert. Das Umgekehrte ist der Fall: Phänomene treten auf, wenn mein
Blick den Anforderungen der Perspektive, folglich dem Selbsterscheinen
dessen, was sich von selbst her zeigt, genügt.« (GS, 223/ED, 176)
Folglich ist das Ereignis eine Anamorphose – es gibt sich selbst, es
zeigt sich selbst und ist deswegen nie in einem Augenblick fassbar.
Nur das, was das Bewusstsein selbst konstituiert hat, ist für es auch
gleich erkennbar. Das Ereignis kommt dagegen von »anderswoher«
(ailleurs) (GS, 223/ED, 176), d. h. von sich selbst und lässt sich somit
suchen, und es wird erst (zumindest teilweise) sichtbar, wenn man
ihm folgt. Das Ereignis ist immer eine Situation des Suchens, des
Folgens dem, was geschieht. Wie vor einer Anamorphose der Be-

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

trachter sich bemühen muss, um das bestimmte Bild zu sehen, so


bemüht sich der von einem Ereignis Betroffene zu verstehen, was
mit ihm geschehen ist, was sich ihm gegeben hat. 545
Die Situation des Suchens entsteht aber dadurch, dass das Phä-
nomen sich selbst gibt, d. h. dadurch, dass das Phänomen eine Macht
über den Betroffenen ausübt. Als Anamorphose kommt das Phäno-
men selbst zum Betroffenen, es zwingt sich auf. Diese mächtige Ge-
gebenheit nennt Marion »Kontingenz« (contingence) (GS, 223/ED,
177), die allerdings nicht direkt (wohl aber indirekt) die Zufälligkeit
im Gegensatz zur Notwendigkeit, sondern eher die Auf-fälligkeit,
wenn etwas (unvorhersehbar) auffällt und zu sich zieht, bedeutet:
»Worauf weist eine solche Kontingenz hin? Bevor Kontingenz einfach den
Gegensatz zu Notwendigkeit aussagt, spricht sie von dem, was mich be-
rührt, was mich erreicht und somit was bei mir (im Sinne des lateinischen
Ausdrucks) ankommt oder (im Sinne des deutschen) was ›einfach so fällt‹,
also ›was auf mich drauf fällt‹.« (GS, 224/ED, 177)
Marion unterscheidet drei »Figuren« (figures) der Auf-fälligkeit, d. h.
der Art und Weise, wie das Phänomen sich aufzwingt: »Entweder
Phänomene treffen bei mir ein, oder sie kommen mir zu, oder sie
stellen sich in mir ein (und imponieren mir).« 546 (GS, 224/ED, 177)
Welche Weise der Auf-fälligkeit das Phänomen aufweist, hängt von
seiner Beschaffenheit ab. Das, was einfach »eintrifft«, »ankommt«
(arrive), ist jedes »Bewusstseinserlebnis« (vécu de conscience) und
jeder »erlebniseigene Intentionalgegenstand« (objet intentionnel des

545 In Bezug auf diese Situation, wo der Betroffene sich gezwungen fühlt, dem Phä-

nomen zu folgen und es aufzunehmen, spricht Marion von der »Annehmbarkeit«


(recevabilité) (GS, 235/ED, 187). Die Annehmbarkeit des Phänomens heißt, »sich
von sich selbst her annehmen zu lassen« (GS, 235/ED, 187). Genauso wie die »Geb-
barkeit« (donabilité) (die die »intrinsische Eigenheit, sich von sich selbst und von sich
allein ausgehend zu geben« (GS, 235/ED, 187) bedeutet) stellt sie eine »weitere, in-
trinsische Eigenheit« (autre propriété intrinsèque) (GS, 235/ED, 187) des Gegebenen
dar. Man könnte vermuten, dass der Charakter der Anamorphose deswegen das Phä-
nomen auszeichnet, weil es grundsätzlich »empfangbar« ist, d. h. weil es zwingt, es zu
empfangen. Doch man muss auch beachten, dass Marion nur sehr wenig von dem
Konzept der »recevabilité« Gebrauch macht – eigentlich nur in dem kleinen Abschnitt
L’acceptabilité im § 11 über die Gabe. Eher muss sie als ein Teilaspekt der Gegebenheit
angesehen werden – das Gegebene ist vor allem das, was sich selbst gibt, alle anderen
Eigenschaften sind mehr oder weniger dieser einen untergeordnet. So ist auch die
Anamorphose eine Ausdrucksform der Selbst-Gegebenheit.
546 Im Original: »[…] le phénomène soit m’arrive, soit m’advient, soit enfin s’impose

(et m’en impose) […].« (ED, 177).

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

vécus), der für den mehr oder weniger nicht beteiligten Blick konsti-
tuiert ist. 547 Das, was »sich ereignet« (advient), ist das, was auf mich
»zukommt«, sich mit mir ereignet, mich einbezieht, um auf diese
Weise sich geben zu können. Ohne dass ich mich mit ihm beschäfti-
gen würde, könnte es nicht geschehen. Und es sind die »Gebrauchs-
gegenstände« (phénomènes ustensiles), die sich so geben. 548 Damit,
d. h. mit der Behauptung, dass sowohl das Objekt als auch das Zeug
auf-fallen, wird wieder die These bestätigt, dass alle Phänomene
selbst-gebend, ereignishaft und gesättigt sind – die These von der
»Banalität der Sättigung« also. Wir müssen uns aber daran erinnern,
dass Marion immer besonders solche Phänomene hervorhebt, die –
im Vergleich zu den Objekten für die theoretische oder praktische
Behandlung – besonders ihre Selbst-Gegebenheit (oder ihren Cha-
rakter der Anamorphose, wie wir jetzt sagen können) bestätigen. Es
gibt also drittens solche Phänomene, die »sich aufzwingen«. Ein Phä-
nomen zwingt sich dann auf (s’impose), wenn es nicht direkt für uns
– für unsere Erkenntnis oder unseren Gebrauch – da ist, sondern ein-
fach für sich selbst da ist, also einfach da ist, sich selbst öffnet und uns
in seine, uns immer unbekannte und fremde Welt einlädt (es »s’ouvre
comme un monde«). Es wird nicht von unserem Interesse, unserem
Voraus-Griff konstituiert, sondern zwingt uns sein Interesse, sich
uns zu zeigen, wie es ist, auf. Weil wir uns damit in einer Situation
befinden, wo wir uns dem Interesse und der Gegebenheit des Phäno-
mens anpassen müssen, wo wir uns an es gewöhnen müssen, nennt
Marion solche Phänomene »Gewohnheitsphänomene« (phénomènes
d’habitude). 549
Das Ereignis als die Selbst-Gegebenheit weist die Struktur der
Anamorphose auf. Das heißt: In der Reihe der »Bilder«, die das Be-
wusstsein automatisch für sich produziert, fällt etwas auf, was als eine
andere Dimension durch eine Spalte in dieser Bilderreihe einbricht
(sich selbst gibt) und zu sich zieht, sich suchen lässt. Eine solche
Struktur kann auch ein ganz gewöhnliches, d. h. banales Phänomen
aufweisen. Es kann passieren, dass man zum Beispiel beim Einkaufen,
wo das Bewusstsein sich grundsätzlich in der praktischen Einstellung

547 GS, 224 ff/ED, 177 ff.


548 GS, 226 ff/ED, 179 ff.
549 GS, 229 ff/ED, 182 ff. Es ist wichtig zu beachten: »Der Ausdruck »Gewohnheit«

verweist dabei keinesfalls zuerst darauf, dass deren Agieren von längerer Dauer als
das anderer Phänomene wäre […], sondern dass wir uns an sie wesenhaft gewöhnen
müssen.« (GS, 231/ED, 183 f)

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

befindet und nur Objekte für seinen Gebrauch sieht, plötzlich von
einem intensiven Rot (zum Beispiel einer Tomate) überrascht wird,
sodass man die Tomate als etwas Essbares vergisst, sodass man das
Einkaufen vergisst und mit dem Blick das Rote sucht und bei ihm
verweilt und sich in seiner Welt verliert und sich dieser Welt anpasst.
Beim Ereignis als Anamorphose geht es also immer um »zwei Phäno-
menalitätstypen in einem einzigen Phänomen« (GS, 221Anm.1/ED,
174n.1), d. h. um den Einbruch einer Phänomenalität, die die zuerst
gegebene Phänomenalität unterbricht, die auffällt und sich für sich
interessieren, sich suchen lässt. Wäre dieses Ereignis eine andere Per-
son, so könnte man sagen, dass das Ereignis als Anamorphose nie das
Gefühl gibt, dass man den Anderen anschaut und unter Kontrolle hat,
sondern dass man angeschaut wird, dass man den Blick des Anderen
spürt, diesen Blick sucht, findet und ihm antwortet. In De surcroît
veranschaulicht Marion diese Struktur mithilfe der Freundschaft
(von Michel de Montaigne und Étienne La Boétie). Die Situation der
Anamorphose ist also folgende:
»[J]e prends pour moi son point de vue sur moi, sans le réduire à mon point
de vue sur lui[.]« (DS, 46)
Das Ereignis als Anamorphose schaut mich an, ich spüre sein Kom-
men zu mir von einem anderen Punkt als dem, den mein frontaler
(angreifender) Blick sieht. Ich kehre mich um (ich kehre auch meine
Einstellung um, ich werde passiv), um dieses Kommen zu empfangen,
was ein Kommen von anderswoher ist. Und das ist der Moment des
Ereignisses.

5.2. Das Eintreffen

Das Ereignis ist eine Anamorphose, weil es auf-fällt, es ist ein Ein-
treffen, weil es zu-fällig ist. Das Ereignis als arrivage ist der Zu-fall.
Aber die Zu-fälligkeit versteht Marion nicht im Gegensatz zur
Notwendigkeit, sondern als eine »ursprünglichere Kontingenz« (con-
tingence plus originelle) (GS, 234/ED, 186), die als »phänomeno-
logisch höherwertig« (phénoménologiquement supérieure) (GS,
244/ED, 196) gilt und die in »compatibilité« (GS, 238/ED, 190) mit
der Notwendigkeit steht bzw. sowohl die Zufälligkeit als auch die
Notwendigkeit in sich »übernimmt« (reprendre) (GS, 244/ED, 196).
Die »ursprünglichere Kontingenz« des Eintreffens bedeutet ein

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

Zweifaches. Erstens geht es darum, dass das sich selbst gebende Er-
eignis unvorhersehbar, unerwartet, überraschend – also zufällig – an-
kommt:
»Eintreffen [arriver – L. P.] muss hier im ganz buchstäblichen Sinne ver-
standen werden. Es geht um kein durchgehendes, gleichförmiges Ankom-
men, bei dem miteinander identische, voraussehbare Einzelelemente gelie-
fert werden, sondern um unstetige, unvorhergesehene und völlig
ungleichartige Ereignisse des Eintreffens. […] Statt vom Ankommen [arri-
vées – L. P.] sollte man also besser von ihrem Eintreffen [arrivages – L. P.]
sprechen, und zwar von einem Eintreffen in seinem stoßweis-unstetigen,
überraschend-unvermuteten, zerstückelten, windstoßartigen Rhythmus,
dem immer etwas Zufälliges eignet.« (GS, 234/ED, 186)
Unter Berufung auf Aristoteles und seinem Konzept von συμβεβη-
κός unterscheidet Marion diesbezüglich zwei Arten dieser Zufällig-
keit. Es kann passieren, dass etwas ankommt, was überhaupt nicht
antizipiert wurde (es gab keine Ursache), zum Beispiel, wenn »man
beim Graben im eigenen Garten einen Schatz auffindet« (GS, 267/
ED, 216). 550 Es kann aber auch sein, dass das zukünftige Ergebnis
durchaus antizipiert wurde und sogar erreicht wird, aber anders als
vorgestellt: wie zum Beispiel, wenn »ich in Ägina (das ich erreichen
wollte) eintreffe, aber als Gefangener oder als ein von der Strömung
Mitgerissener« (GS, 268/ED, 216). 551 In diesem Fall ist es ein Zufall,
dass Ägina erreicht wurde, obwohl man dorthin wollte, weil es anders
erreicht wurde. Der erwarteten Ursache-Wirkung-Kette kommt also
etwas Unerwartetes hinzu, das sie damit eigentlich unterbricht und
zu einem Zufall führt. Marion spricht in diesem Fall von einem »Zu-
sammenfallen« (co-incidence) (GS, 268/ED, 217), wenn die ursprüng-

550 Marion zitiert hier Aristoteles: Metaphysik, V, 30, 1025a.


551
An dieser Stelle modifiziert Marion ein wenig das Beispiel, das Aristoteles in
Metaphysik, V, 30, 1025a angibt. Aristoteles spricht nämlich davon, dass »es ein Ak-
zidens für jemanden war, nach Aigina zu kommen, wenn er nicht deshalb hinkam,
weil er hinkommen wollte, sondern vom Sturme verschlagen oder von Räubern ge-
fangen.« (zitiert aus der folgenden Ausgabe: Aristoteles: Metaphysik, griechisch-
deutsch, übersetzt von Hermann Bonitz. Hamburg: Meiner, 3. Aufl. 1989.) Für Aris-
toteles findet in diesem Fall ein Akzidens/Inzident deswegen statt, weil es für das
Ankommen in Ägina eine zufällige Ursache gab. Marion erweitert das Beispiel so,
dass es sehr wohl eine bestimmte Ursache geben kann (ich wollte und fahre schon
nach Ägina), aber trotzdem kann noch etwas dazwischen kommen (ein Sturm oder
ein Raubangriff), sodass mein Ankommen letztendlich doch ein Zufall ist, obwohl es
meine Intention war.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

liche Intention, die letztendlich erfüllt wird, mit seinem Gegenteil,


nämlich dem Zufall, zusammenfällt. 552
Zweitens ist diese Zufälligkeit »ursprünglicher« als der Gegen-
satz von Zufälligkeit und Notwendigkeit. Die Zufälligkeit und Not-
wendigkeit sind metaphysische Kategorien zur Beschreibung der
Modalitäten des Seins: dessen, was ist, was schon da ist. Die Phäno-
menologie der Gegebenheit dagegen beschreibt das, was sich gibt, um
eventuell dann zu sein. Für diese Phänomenologie ist nicht manches
in seinem Sein notwendig und manches zufällig, sondern alle Phäno-
mene sind ursprünglich kontingent – weil sie sich selbst geben, weil
sie auffallen, weil sie das Andere gegenüber uns verkörpern:
»Die Kontingenz aller Phänomene bündelt sich nicht darin, dass einige un-
ter ihnen ohne Notwendigkeit und Voraussicht eintreffen, sondern dass alle
eintreffen.« (GS, 234/ED, 186)
Diese Kontingenz ist ursprünglich, weil das Phänomen sich zuerst
geben muss – und es gibt sich zufällig und unvorhersehbar, weil es
das Andere ist –, um dann in der Erkenntnis als zufälliges oder not-
wendiges Sein beschrieben zu werden. Das Andere ist immer ein un-
vorhersehbarer Zufall für das Selbe.
Doch das Ereignis bringt mit sich nicht bloß die Erfahrung der
Zufälligkeit, der Unvorhersehbarkeit und Überraschung. Wenn wir
über die Möglichkeit und Unmöglichkeit des Ereignisses gesprochen
haben, haben wir gesehen, dass das Ereignis sich in einem Span-
nungsfeld zweifacher Erfahrung befindet. Es ist unmöglich und doch
überzeugt es mit seiner Möglichkeit, die möglich wird, wenn das Er-
eignis diese Möglichkeit durch die Wirklichkeit, Faktizität möglich
macht. Es ist eine Erfahrung des unmöglich Möglichen oder des Un-
möglichen, das möglich ist. Und eine solche Spannung ist auch hier
der Fall: Das Ereignis als arrivage ist laut Marion gleichzeitig zufällig
und notwendig. Die Rede ist von der Erfahrung einer »Notwendig-
keitskontingenz« (contingence nécessaire) 553 (GS, 241/ED, 192), die
im Gegensatz zur metaphysischen Kontingenz, die von der Notwen-

552 »Das Hinzu-/Vorfallen [incidence – L. P.] ließe sich – einzig in diesem Fall – als

Zusammenfallen verstehen: Mit oder anstelle des Was, das eintreffen soll (sollte),
trifft auch (etiam) ein, was gegen alle Erwartungen zu-fällt.« (GS, 268/ED, 217)
553 Die deutsche Übersetzung könnte hier ein wenig irreführend sein, als ob es hier

darum ginge, dass die Notwendigkeit eigentlich kontingent ist. Aber es geht darum,
dass die Kontingenz notwendig ist, d. h. dass es notwendig ist, dass alle Phänomene
sich ohne Ursache geben, also zufällig sind.

360

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

digkeit ausgeschlossen wird, als »phänomenologische Kontingenz«


(contingence phénoménologique) (GS, 243/ED, 194) zu bezeichnen
ist und die als »phänomenologisch höherwertig« gilt, da sie auf para-
doxe Weise beide dieser Bestimmungen in sich zusammenhält. Die
Erfahrung der notwendigen Kontingenz besteht darin, dass im Fall
eines Ereignisses eine absolute Evidenz der Gegebenheit herrscht –
das Ereignis ereignet sich und es ereignet sich so und nicht anders.
Es ist notwendig, d. h. unvermeidbar da und an sich unanfechtbar.
Aber es ist das Andere – es gibt sich selbst immer so, dass es auch
nicht da oder anders hätte sein können, dass es sich immer, wann es
nur wollte, entziehen oder verändern könnte. In einem Wort: Es gibt
sich als zufällig:
»[…] Gegebenheit (Notwendigkeit) schließt ›prinzipiell nie aus […]‹ 554,
dass das von ihr Gegebene möglicherweise auch nicht sein könnte (Kontin-
genz). Um diese Paradoxien in ihr Recht zu setzen, wäre ein Phänomen
daher folgendermaßen zu definieren: als das, was als Gegebenes stets so
erscheint, als hätte es jedes Mal auch nicht erscheinen können.« (GS, 244/
ED, 195 f)
Mit dem Begriff des arrivage bezeichnet Marion diese paradoxe Be-
stimmung des Ereignisses 555, nämlich dass es notwendigerweise ein
unvorhersehbarer Zufall ist, weil es sich ausgehend von sich selbst
gibt; dass es zufälligerweise notwendig ist, da es sich unvermeidbar
nur ausgehend von sich selbst und willkürlich gibt; dass es gleich-
zeitig notwendig und zufällig ist, weil es immer, wenn es ankommt,
mit der Macht seiner Anwesenheit die Unbedingtheit ausstrahlt und
doch nie das Gefühlt gibt, man hätte es in der Hand für immer und
ewig. 556

554 Marion zitiert hier kurz Husserl. Die vollständige Stelle (zitiert in GS, 241/ED,

193) lautet: »Während ich die Welt wahrnehme und überhaupt erfahre, und in noch so
großer Vollkommenheit wahrnehme, während sie also für mich in ungebrochener
Gewissheit als selbstgegeben bewusst ist, als eine, an deren Existenz ich schlechthin
nicht zweifeln kann, hat sie doch eine beständige Erkenntniskontingenz, und zwar des
Sinnes, dass diese leibhaftige Selbstgegebenheit ihr Nichtsein prinzipiell nie aus-
schließt.« (Edmund Husserl: Erste Philosophie II, Hua VIII, § 33. Den Haag: Martinus
Nijhoff, 1959, S, 50.)
555 Siehe: GS, 244 f/ED, 196.

556 Das Ereignis ist immer eine Erfahrung der Unerwartetheit, genauso wie es immer

eine Erfahrung der Unmöglichkeit ist. Aber es ist auch möglich, wenn es selbst seine
Möglichkeit schafft. So könnte man fragen, ob es notwendig nicht nur im Sinne seiner
Unanfechtbarkeit ist, sondern auch so, dass es die Notwendigkeit im Sinne eines Sol-
lens mit sich bringt. Das Ereignis könnte das Gefühl vermitteln, dass es unbedingt

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

5.3. Das vollendete Faktum

Das Ereignis ist Auf-Fall, Zufall und das, was der Fall ist, nämlich ein
»Faktum« (fait):
»Stets verlangt das Erscheinen der Phänomene i. A., dass letztlich auf das
Faktum, mit dem etwas aufbricht, zurückgegangen wird, dass es faktisch zu
einem Aufbrechen kommt.« 557 (GS, 248/ED, 198 f)
Mit der Charakterisierung des Ereignisses als Faktum will Marion vor
allem zwei Erfahrungen des Ereignishaften hervorheben. Erstens,
dass wir im Fall des Ereignisses mit der Gegebenheit eines Faktums
konfrontiert werden, und zweitens, dass dieses Faktum unwiderruf-
lich ist.
Das Ereignis kommt ohne Vorwarnung an, überraschend. Es ist
plötzlich da – evident, d. h. notwendig – und stellt uns vor die Tat-
sache seiner Gegebenheit. Wir haben uns nicht für seine Gegebenheit
entschieden. Wenn es schon angekommen ist, können wir es weder
akzeptieren noch ablehnen – wir stehen schlicht vor einer Tatsache,
die vollendet ist:
»Un tel événement se donne en effet d’un coup: il laisse sans voix pour le
dire, il laisse aussi sans autre voie pour s’y soustraire, il laisse enfin sans
choix pour le refuser ou même l’accepter volontairement. Son fait accompli
ne se discute pas, ne s’évite pas, ne décide pas non plus. Il ne s’agit même pas
là d’une violence, car la violence implique un arbitraire, donc un arbitre et

eintreffen sollte, obwohl es ganz bestimmt nicht unbedingt eintreffen sollte. So sagen
doch die Liebenden, dass sie für einander bestimmt sind, d. h. dass sie sich unbedingt
begegnen sollten, obwohl sie diese Begegnung auch als völlig unvorhersehbar be-
schreiben. Diese »Widersprüchlichkeit« in der Rede vom Ereignis könnte damit er-
klärt werden, dass das Ereignis zufällig eine Notwendigkeit schafft, die erst im Nach-
hinein für notwendig erklärt werden kann. Wenn also das Ereignis eine unmögliche
Möglichkeit ist, könnte es auch eine zufällige Notwendigkeit sein. Allerdings nicht im
Sinne, dass das Ereignis unbedingt zufällig eintreffen sollte (dies würde die Abschaf-
fung aller Zufälle bedeuten), sondern nur so, dass, wenn es schon zufällig eingetroffen
ist, es das Gefühl gibt, dass alles so sein sollte, wie es jetzt ist. Aber das, wie es jetzt ist,
bleibt auch immer noch Zufall. So läuft die Logik des Ereignisses ab.
557 Im Original: »Apparaître demande toujours, pour le phénomène en général, d’en

venir finalement au fait de surgir et de surgir de fait.« Also: »Stets verlangt das Er-
scheinen der Phänomene i. A., dass es letztlich zum Faktum des Aufbrechens und des
Aufbrechens des Faktums kommt.« Kurz: Jedes Ereignis der Gegebenheit kommt
letztlich dazu, dass das Phänomen da ist – als ein Faktum.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

déjà un espace de liberté. Il s’agit d’une pure nécessité phénoméno-


logique […].« (DS, 55) 558
Das Ereignis als »vollendete Tatsache« (fait accompli) bedeutet für
Marion durch seine »Faktizität« (facticité) (GS, 248/ED, 198) genau
dieses Mit-einem-Faktum-konfrontiert-Werden – einem Faktum, das
uns einfach gegeben ist, das ohne Wenn und Aber einfach der Fall ist.
Die Faktizität des Ereignisses entspringt natürlich seiner Selbst-Ge-
gebenheit – nur weil das Ereignis sich ausgehend von sich selbst er-
eignet, kann es uns vor eine vollendete Tatsache stellen.
Ist ein Faktum einmal gegeben, kann nichts es nicht-gegeben
machen – es ist »unwiderruflich« (irrévocablement) geschehen:
»Was einmal geschehen ist, ist nicht wieder ungeschehen zu machen, und
jedes künftige Losmachen vermag lediglich zu bestätigen, dass geschah, was
geschah. […] Faktizität spricht dem Phänomen als Gegebenem sein Faktum
zu, womit es als unwiderrufliches Geschehen-sein vorgefunden wird.«
(GS, 249/ED, 199)
Es ist wichtig zu bemerken, dass Marion unter der Faktizität des Ge-
gebenen nicht die Faktizität einer »bloßen Tatsache« (factum brutum,
fait brut) versteht, nämlich dass etwas ist. 559 Um diese andersartige
Bedeutung der Faktizität zu klären, beruft er sich zuerst auf Heideg-
ger und sein Konzept von der Faktizität des Daseins, die nicht darin
besteht, bloß vorhanden oder zuhanden zu sein, sondern im Verste-
hen des Seins, das nur das Dasein auszeichnet. 560 Doch diese Berufung
auf Heidegger bedeutet nicht, dass das Gegebene die Faktizität des
Daseins verkörpern würde. Sie stellt nur einen Zwischenschritt dar,
um dann zu zeigen, dass die Faktizität nicht nur das Dasein charakte-
risiert, sondern alle Phänomene 561 und dass sie so beschaffen ist, dass

558 Erinnern wir daran, dass auch Levinas die Gewalt, den Zwang in Bezug auf das

Ereignis leugnet. Die Gewalt kann nur dort stattfinden, wo man freie Wahl hat und
wo man gezwungen ist, das Entgegengesetzte des Gewünschten zu akzeptieren. Wo
man dagegen einfach mit einem vollendeten Faktum konfrontiert wird, kann man
nicht von der Gewalttätigkeit dieses Faktums sprechen. Man muss einfach mit ihm
leben lernen.
559 »Wir halten daran fest, dass Faktizität nicht auf die Tatsächlichkeit roher Fakten

reduziert werden kann […].« (GS, 258/ED, 208)


560 GS, 252 f/ED, 202 f.

561 In diesem Zusammenhang spricht Marion von einer »erweiterten Faktizität«

(facticité élargie) (GS, 258/ED, 208). Er schreibt: »Umgekehrt sind wir darum be-
müht, Faktizität universal zu verstehen und auf die allgemeine Phänomenalität zu
beziehen.« (GS, 250Anm.1/ED, 200n.1) Diese These ist natürlich im Zusammenhang

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

durch sie erst die Faktizität des Daseins möglich wird. 562 Wie ist diese
Faktizität des Gegebenen zu verstehen, vorausgesetzt, dass sie nicht
die eines factum brutum oder des Daseins ist? Wenn man vor eine
Tatsache gestellt wird, ist dies eine Situation, wo – erstens – erfahrbar
wird, dass diese Tatsache vorher nicht da war, dass sie nicht bekannt
war. Man erfährt genau diesen Moment des Auftauchens einer Tat-
sache. Man erfährt nicht, dass etwas (schon) vorhanden oder zu-
handen ist, sondern das, wie etwas in die Welt einbricht, um von ihr
ein Bestandteil zu werden. Zweitens ist es eine Situation, die man
nicht schafft, sondern in der man sich plötzlich befindet – man stellt
sich nicht selbst vor die Tatsache, sondern man wird vor die Tatsache
gestellt. Das heißt: Die Faktizität des Phänomens ist die Faktizität der
Gegebenheit in dem Moment, in dem sie geschieht. Sie ist die Fak-
tizität des Ereignisses des Auftauchens und nicht die der Vorhanden-
heit. Und sie ist selbstverständlich die Faktizität der Selbst-Gegeben-
heit des Phänomens, wo das Phänomen noch einmal seine Initiative
bestätigt – ohne das Phänomen wäre dem Phänomen nicht zu be-
gegnen:
»Wir können damit den Gedanken herausstellen, dass Faktizität, wenn sie
entgegen geht, dazu führt, dass Phänomene sich begegnen […].« (GS, 258/
ED, 208)
Das Ereignis als fait accompli, als das, was der Fall ist, ist durch seine
Faktizität als Gegebenheit das, was uns vor eine vollendete und un-
widerrufliche Tatsache stellt.

mit der These von der »Banalität der Sättigung« zu betrachten. Alle Phänomene sind
gesättigt, alle sind ereignishaft, alle sind mit der Faktizität ausgezeichnet etc.
562
GS, 257 ff/ED, 207 ff. Es geht um die schon erwähnte These Marions, dass erst das
Phänomen das Bewusstsein bzw. die Erschlossenheit des Daseins möglich macht.
Würde das Phänomen sich nicht geben, könnte die »Funktion« des Bewusstseins bzw.
des Daseins nie »aktiviert« werden. Der erste Stoß für die Erschlossenheit kommt von
außen. Siehe zum Beispiel folgende Stelle: »Phänomene können ihr Erscheinen nur
vollziehen, wenn sie sich auf einen Empfangsschirm stützen, also diesen belasten
können. Als vollendete Fakten treffen sie auf mich ein, sind sie Fakten für mich, nicht
von mir, sondern auf meine Kosten. Sie gehen auf meine Rechnung. Durch sie werde
ich zum Faktum geschaffen.« (GS, 257/ED, 207; der letzte Satz lautet im Original:
»[P]ar lui, je suis fait.«)

364

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

5.4. Der Vorfall

Bei der Beschreibung des Ereignisses als incident – Vorfall – versucht


Marion, die Logik des Verhältnisses des klassischen philosophischen
Begriffspaares von οὐσία und συμβεβηκός (incident) – Seiendheit
und Zufall/Zusammenfall, Zugrundeliegendes und Hinzukommen-
des, Substanz und Akzidens oder wie auch immer wir es hier ver-
stehen wollen 563 – auf das Verständnis des sich selbst gebenden Phä-
nomens zu übertragen.
Man könnte ganz allgemein vermuten, dass die Begriffe οὐσία
und συμβεβηκός eine zeitliche und eine dingliche Dimension in sich
verbergen. Ist οὐσία die Anwesenheit und Beständigkeit, sogar Not-
wendigkeit von etwas, so ist συμβεβηκός der Zufall – von etwas, was
nicht ist, aber sein könnte bzw. von etwas, was ist, aber auch nicht sein
könnte; von etwas, was irgendwann unvorhersehbar auftreten bzw.
verschwinden könnte. Würde dies auf das Phänomen übertragen, so
könnte man sagen, dass das Phänomen ein Zufall ist. Es ist nichts
Beständiges. Es gibt sich selbst und nimmt sich selbst zurück völlig
unvorhersehbar und frei. Wir haben schon die Zufälligkeit des Ereig-
nisses behandelt. Es ist nicht nötig, die These noch einmal zu wieder-
holen. Es ist nur wichtig darauf hinzuweisen, dass Marion, wenn er
συμβεβηκός (und somit das Phänomen) thematisiert, zuerst seinen
Zufallscharakter betont. 564
Fasst man οὐσία als Substanz, Zugrundeliegendes und συμβε-
βηκός als Hinzukommendes, Akzidens auf, so ist es möglich, neue
Aspekte des Ereignisses zu enthüllen. 565 Marion spricht von einer be-
sonderen Art der Zufälligkeit, die das Ereignis in diesem Kontext auf-
weist:
»Was Vorfall bedeutet, dürfte hinsichtlich seiner dritten Gestalt über-
raschen, insofern diese gemeiner Akzidentialität nachdrücklich wider-

563
In dem kurzen Abschnitt, wo der Inzident behandelt wird (ED § 16), vertritt Ma-
rion – so scheint es – keine einheitliche Interpretation dieses Begriffspaares. Er greift
verschiedene Motive auf, um mithilfe von ihnen bestimmte Aspekte der Logik des
Ereignisses deutlicher zu machen.
564 GS, 264 ff/ED, 213 ff.

565 Natürlich schließt die Auslegung von οὐσία als Wesen die zeitliche Dimension

nicht aus – das Wesen ist das Beständige. Und συμβεβηκός ist das, was zufällig hin-
zukommen und weggehen kann. Die zeitliche und dingliche Dimension sind in diesen
beiden Begriffen unzertrennlich miteinander verbunden – das Beständige und die
Beständigkeit, das Zufällige und die Zufälligkeit.

365

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

spricht und dennoch Vorfälle als solche mit definitiver Bestimmtheit ans
Licht hebt.« (GS, 269/ED, 217)
Wenn die ersten zwei Figuren von συμβεβηκός die übliche Zufällig-
keit – den unvorhersehbaren Zufall und Zusammen-Fall, die wir vor-
her behandelt haben, – bestätigen, so geht es hier um eine Form von
συμβεβηκός, die der gemeinen Akzidentialität sogar »widerspricht«
(contredit). Was ist das Ereignis als ein Akzidens/Inzident? Fassen
wir einige wichtige Punkte zusammen, auf die Marion in diesem Zu-
sammenhang hinweist. Erstens: Das Wesentliche des Akzidens liegt
darin, nicht in der Substanz enthalten zu sein:
»Nicht der οὐσία, d. h. nicht der Wesenheit, nicht der Substanz, kurzum:
nicht der seinsmäßigen Seiendheit angehörig zu sein, darüber definieren
sich Vorfälle.« (GS, 270/ED, 218) 566
Zweitens: Obwohl das Akzidens nicht im Wesen ist, d. h. nicht ist,
weil es keine Dauer aufweist, ist es gegeben – es kommt zufällig von
sich aus (von außen) dem Wesen zu (adveniens extra):
»Das adveniens extra impliziert von sich aus die Forderung nach der Mög-
lichkeit von seinslosem Erscheinen.« (GS, 272/ED, 220)
Drittens: Weil es kein Wesen ist, ist das Akzidens nicht erkennbar:
»Einerseits wird für den Hinzu-/Vorfall jeder theoretische Zugang abge-
wiesen […].« (GS, 266/ED, 215)
Viertens: Obwohl das Akzidens für den theoretischen Blick uneinhol-
bar ist, ist es genau das, wodurch das Wesen überhaupt (unmittelbar)
erkennbar wird, da nur es eine Phänomenalität besitzt:
»Insofern sie sich zurückhält und sich so in sich verschließt, wird Substanz
(substantia, οὐσία) keinesfalls zum Phänomen, für sie ist da keine Phäno-
menwerdung möglich.« (GS, 274/ED, 222)
»Allein der Vorfall zeigt sich, weil er allein sich gibt – was sich zeigt, das gibt
sich.« (GS, 276/ED, 223)
»Denn tatsächlich lässt sich die Substanz nur indirekt und vermittels von
Attributen (Vorfällen), die alleine als hier gegenwärtige Seiende wahr-
genommen werden, erkennen.« (GS, 275/ED, 222)

566 Siehe auch später in De surcroît: »[C]ette sorte d’accident ne renvoie plus à aucune

substance.« (DS, 46)

366

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

Wie ist dies phänomenologisch im Hinblick auf das Ereignis zu inter-


pretieren? Der entscheidende Punkt liegt darin, dass das Akzidens die
Gegebenheit ohne Sein (Wesen) ist und deswegen unerkennbar. Was
ist eigentlich das Wesen? Das Wesen ist das Beständige, das, was das
aktive, repräsentierende, konstituierende, reflektierende Bewusstsein
selbst schafft und ständig wiederholt. Das Wesen ist erkennbar, weil
es von der Erkenntnis geschaffen worden ist. Laut Marion sind solche
Wesen nicht die »Sachen selbst«, falls die Philosophie noch Wert
darauf legt, nach den Sachen selbst zu suchen. Die Sache selbst ist
für Marion die Selbst-Gegebenheit von »etwas«, das sich vor dem
Eingreifen des konstituierenden Bewusstseins gibt. Somit ist das sich
selbst Gebende nicht ein Etwas, kein Wesen. Trotzdem erreicht es uns,
bleibt aber unbegreiflich, unerkennbar. 567 Dieses sich selbst Gebende
entspricht dem, was in der Phänomenologie unter dem lebendigen
Augenblick der Erfahrung (in dem passiven, nur aufnehmenden Be-
wusstsein) verstanden wird. 568 In der Tat ist das Wesen nicht ur-
sprünglich gegeben – es besitzt nur eine sekundäre Phänomenalität
im aktiven Bewusstsein. Das, was ursprünglich gegeben ist, ist das,
was kein Wesen ist, was nur auf uns zu-kommt, was uns zu-fällt.
Und es ist in der Tat so, dass ein Wesen nur dann vermutbar ist, wenn
etwas sich gibt, nämlich seine Akzidenzien in der lebendigen, leib-
lichen Erfahrung. Das Ereignis als Akzidens/Inzident, als Vorfall ist
die lebendige Selbst-Gegebenheit des Phänomens, die das Bewusst-
sein nur berührt, ohne zu seinem Produkt (beständigen Wesen) zu
werden.
Der Inzident ist jenseits des Wesens, d. h. jenseits des Denkens
und der Erkennbarkeit. Er ist das Andere des Wesens. Für das Denken
erscheint er als eine unbeherrschbare Fülle des Lebens, als das Mehr
(Exzess) des Begreifbaren, als die Sättigung eines armen Denkobjekts:

567
Das Ereignis hat kein Wesen, nach dem es erkennbar sein könnte. Das, was es gibt,
ist nur es selbst und nichts für die Erkenntnis: »[…] le phénomène qui se donne de la
sorte ne donne rien d’autre que lui-même; son sens ultime reste inaccessible, parce
qu’il se réduit à son fait accompli, à son incidence.« (DS, 46)
568 In De surcroît macht Marion dies deutlich: »Soit le donné obtenu par la réduction;

il peut se décrire comme ce que Husserl nomme le vécu ou Erlebnis. Or – on mé-


connaît souvent ce point capital –, comme tel, le vécu ne se montre pas, mais reste
invisible par défaut; on dira, faute de mieux, qu’il m’affecte, s’impose à moi et pèse
sur ce que l’on ose nommer ma conscience (précisément parce qu’elle n’a pas encore la
claire et évidente conscience de quoi que ce soit lorsqu’elle reçoit le donné pur). Le
donné, à titre de vécu, reste un stimulus, excitation, à peine une information; l’adonné
le reçoit, sans que, en aucun cas, il ne se montre.« (DS, 61)

367

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

»Als Gegebene bewahren alle Phänomene in sich gleichsam einen Überhang


gegenüber demjenigen, der sie empfängt. Sie mögen uns auch noch voll-
ständig ausgeliefert worden sein – die Tatsache, dass sie sich im Exil gegen-
über der οὐσία befinden, dass sie defizitär in Bezug auf Ursächlichkeit sind,
belässt sie schließlich in einer Ungleichheit gegenüber dem adäquaten Er-
kennen. Doch diese Ungleichheit bedeutet für das Denken keine Pleite.
Vielmehr bedeutet sie den Überschuss [excès – L. P.] des Denkbaren.«
(GS, 277/ED, 224)
Das Ereignis als Inzident stellt eine Erfahrung des Unbegreiflichen
dar, aber nicht eine denkerische und formale Erfahrung der Un-
erkennbarkeit, zu der man kommt, wenn man denkt, sondern die Er-
fahrung einer Fülle, eines Zu-Falls noch zu dem, was begreifbar ist.
Das Ereignis als Inzident ist nicht bloß ein Zufall im Sinne eines un-
vorhersehbaren Ankommens, sondern auch Zu-Fall als das Mehr zu
dem, was der Fall ist, als das Mehr zu einer bloßen, erkennbaren und
begreifbaren Tatsache. Diese Struktur haben wir schon in der unmög-
lichen Möglichkeit des Ereignisses gesehen – das Ereignis in seiner
exzessiven Selbst-Gegebenheit bleibt immer für das Denken unmög-
lich, auch dann noch, wenn das Denken die Tatsache, das, was der Fall
ist, vorhersieht, begreift und wiederholt.

Das Ereignis als die Selbst-Gegebenheit ohne jede Ursache und ohne
jeden Grund ist also Auf-Fall (es zwingt seine Gegebenheit auf), Zu-
fall (es ist unvorhersehbar), Fall (die vollendete Tatsache) und Zu-Fall
(das Mehr zu dem, was der Fall ist).

6. Das sättigende Ereignis

6.1. Die Idee des gesättigten Phänomens

Die Idee eines »gesättigten Phänomens« (phénomène saturé) 569 ent-


springt in der Philosophie Marions der Vermutung, dass das im Be-
wusstsein gegebene Phänomen als ein Etwas (Wesen), von dem es das

569 Der erste Text Marions, der das saturierte Phänomen behandelt, erscheint 1992 im

Sammelband Phénoménologie et théologie (hrsg. von Jean-François Courtine, Paris:


Criterion, 1992) mit dem Titel Le phénomène saturé. Eine verbesserte Auslegung
dieser Idee findet man später in Étant donné. In De surcroît erreicht dieser Gedanke
einen vorläufigen Abschluss.

368

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

Bewusstsein gibt, nicht das letzte (für die philosophische Erkenntnis)


bzw. das erste (ursprünglichste) Phänomen, d. h. die Sache selbst ist.
Hinter einem im Bewusstsein begrifflich erfassten Objekt will er ein
nicht-objekthaftes Phänomen behaupten. Da das objekthafte Phäno-
men grundsätzlich dadurch gekennzeichnet ist, dass es vom Bewusst-
sein konstituiert wird, spricht Marion in Bezug auf das Phänomen
von dem Objekt von der Gegebenheit, die grundsätzlich die Selbst-
Gegebenheit des Phänomens bedeutet. Die Sache selbst ist für die
Phänomenologie das Phänomen, das sich selbst gibt. Das Phänomen,
insofern es sich selbst gibt, ist in der Terminologie Marions ein Er-
eignis. In den vorherigen Abschnitten haben wir schon in einigen
Punkten gezeigt, wie das Ereignis mit dem Betroffenen »arbeitet«,
wie es seine Logik vollzieht.
Neben der Beschreibung des Phänomens durch den Begriff der
Gegebenheit (d. h. Ereignishaftigkeit, die die fundamentalste Struk-
tur der Gegebenheit darstellt), bietet Marion noch eine andere Be-
schreibungsweise dieses vor-objekthaften Gegebenen, dieses Ereig-
nisses an: Er nennt es das gesättigte Phänomen. 570 Was ist das
gesättigte Phänomen? In Marions üblicher Formulierung wird das
saturierte Phänomen durch das Verhältnis von »Anschauung« (intui-
tion) und »Begriff« (concept) definiert und so von einem »armen
Phänomen« (phénomène pauvre) im allgemeinen Sinne des Wortes
unterschieden. Man sieht, dass Marion hier die in der Kant’schen und
Husserl’schen Philosophie etablierten Konzepte verwendet, um die
Idee eines saturierten Phänomens deutlich zu machen. In der Philoso-
phie Kants und Husserls sieht Marion zwei Möglichkeiten, wie sich
die Anschauung zum Begriff verhalten kann. Entweder erfüllt sie
einen Begriff vollständig oder sie kann auch den Begriff nicht voll-
ständig erfüllen und weist ein Defizit auf. Es geht also um das Ver-
hältnis zwischen dem intentionalen Blick, der auf etwas gerichtet ist,
wobei dieses Etwas nur durch einen Begriff konstituiert werden kann,
und der gegebenen sinnlichen, lebendigen Erfahrung. Intendiert der
erkennende Blick, der in der Philosophie Kants und Husserls die ak-

570 Wir wiederholen noch einmal, dass es hier um eine Synonymie, um eine zweifa-

che oder sogar dreifache Beschreibungsweise derselben Sache geht. Das sich selbst
gebende Phänomen ist ein Ereignis, weil es sich selbst gibt. Und weil es sich selbst gibt
und nicht ein Objekt des Bewusstseins ist, ist es gesättigt. Gegebenheit, Ereignis-
haftigkeit und Sättigung bedeuten ein und dasselbe. Und das heißt: Beschreiben wir
das Gegebene, insofern es sich selbst gibt, beschreiben wir das Ereignis; beschreiben
wir das gesättigte Phänomen, beschreiben wir wieder das Ereignis.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

tive und prioritäre Rolle übernimmt, etwas in der erfahrbaren Welt


und erfährt es auch wirklich, sodass alles vom im Begriff Gedachten
die Bestätigung findet, spricht man von einer vollständigen Erfüllung
des Begriffes. Diese ist allerdings in ganz wenigen Fällen möglich: nur
in Bezug auf die Begriffe, die eine geringe Anschauung benötigen,
zum Beispiel in Bezug auf mathematische und logische Objekte, die
aus diesem Grund als arme, »dürftige« (pauvres) Phänomene
zählen. 571 Intendiert der Blick dagegen etwas, von dem er nur teilwei-
se die Bestätigung im Erfahrbaren findet, spricht man vom Defizit der
Anschauung. Und dies ist fast immer der Fall, wenn wir die Objekte
der Welt erkennen möchten – das Ganze der Erfahrung eines Objekts
ist nicht auf einmal gegeben, wir können die Objekte nur allmählich
erkennen und auch nicht endgültig, da immer wieder neue Erfahrun-
gen dazukommen. Heute haben wir immer zu wenig Erfahrung da-
von, was wir zu erkennen intendieren. Ein solches Erfahrungsobjekt
nennt Marion »geläufiges Phänomen« (phénomène commun), »ge-
meinrechtliches Phänomen« (phénomène de droit commun), das ge-
wissermaßen auch ein armes Phänomen ist, da es am Defizit der An-
schauung leidet. Wir haben mit einem geläufigen Phänomen auch
dann zu tun, wenn wir nicht nur die erfüllende Anschauung nicht
erreichen können, sondern es auch nicht wollen, wenn wir auf das
Objekt ohne lebendiges Erlebnis gerichtet sein wollen. Das ist der Fall
zum Beispiel in der industriellen Herstellung der Produkte, wo nur
ihre (immer re-produzierbare) Form zählt. 572 Aber das ist auch sehr
oft in unserem alltäglichen Leben der Fall, wenn wir uns meistens auf
die (begrifflich bestimmte) Funktion einer Sache (eines Zeuges) kon-
zentrieren und ihr nicht erlauben, sich in ihrer Fülle zu geben.
Marion bietet noch eine dritte Variante des Verhältnisses von
Anschauung und Begriff an, wobei sich in diesem Fall auch die Be-
ziehung von Bewusstsein und Phänomen umkehrt – es geht um die
Situation, wo nicht mehr die Intention nach Bestätigung sucht und
nur noch teilweise zufriedengestellt wird, sondern wo die Intention
durch das Ankommen eines Phänomens überrascht wird und wo sie
mehr Anschauung erhält als sie begreifen kann. 573 Das ist der Fall des
gesättigten Phänomens,

571 GS/ED, 327 f/268, 374 f/310 f.


572
GS/ED, 328 f/269, 375 f/311 f.
573 »Mit dieser ersten Phänomenbestimmung liegen von Kant und Husserl her zwei

Möglichkeiten vor, die Elemente Begriff und Anschauung ins Verhältnis zu setzen.

370

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

»où certes demeure la dualité entre intention (signification) et intuition


(remplissement), de même que la corrélation noético-noématique, mais où,
au contraire des phénomènes pauvres et communs, l’intuition [se] donne en
excédant ce que le concept (signification, intentionnalité, visée, etc.) peut en
prévoir et montrer« (DS, 141). 574
Ein solches Phänomen nennt Marion auch »Paradox« (paradoxe), da
es »entgegen der Erwartung einer Vorstellung, einer Intention oder,
kurz gesagt, eines Begriffs eintrifft« (GS, 380/ED, 315). 575
Das gesättigte Phänomen im Allgemeinen wird also durch das
Verhältnis von Anschauung und Begriff beschrieben, wo die An-
schauung den Begriff übersteigt. Doch es kann seine Sättigung auf
unterschiedliche Art und Weise entfalten. Hier verwendet Marion
wieder einige Begriffe aus der Philosophie Kants, nämlich die der Ver-
standeskategorien (Quantität, Qualität, Relation, Modalität), um die
vier »Typen« (types) (GS, 382/ED, 317) gesättigter Phänomene auf-

Entweder löst sich Wahrheit in der Erfahrung vollkommener Evidenz ein, wenn die
Anschauung völlig den Begriff auffüllt und ihn so restlos gültig macht: Dabei handelt
es sich um die musterhafte und gerade deshalb um die seltenste aller Situationen.
Oder aber die Anschauung erfüllt, in einer teilweisen Ratifizierung, den Begriff nur
unvollständig, aber sie würde immerhin so weit reichen, ihn zu sichern und zu veri-
fizieren: Dabei handelt es sich um die geläufigste Situation (Wahrheit dem allgemei-
nen Sinnen nach als Verifizierung, Gültigmachung, Bestätigung), die gleichwohl un-
befriedigend erscheinen mag. Das Neue, das wir [in diese Problematik] eingeführt
haben, baut erst auf den ersten beiden Relationen auf: Es liegt darin, auf eine dritte
Möglichkeit, wie das Verhältnis zwischen Anschauung und Begriff zu bestimmen sei,
aufmerksam zu machen. Gegenläufig zu der Allgemeinsituation, dass der Begriff die
Anschauung übersteigt oder zu der Ausnahmesituation der Egalität beider, sollte die
Anschauung nun über den Begriff hinausgreifen […].« (SB, 97 f/BS, 160 f)
574 Dieses Zitat stammt aus De surcroît, dessen Untertitel lautet Études sur les phé-

nomènes saturés. Doch dieser Gedanke wird im schon erwähnten Aufsatz Le phéno-
mène saturé (1992) entwickelt: »Au phénomène que caractérisent le plus souvent un
défaut d’intuition, donc une déception de la visée d’intuition et, exceptionnellement,
l’égalité entre intuition et intention, pourquoi ne répondrait pas la possibilité d’un
phénomène où l’intuition donnerait plus, voir démesurément plus, que l’intention
n’aurait jamais visé, ni prévu?« (PhS, 102 f) Eine sehr ähnliche Stelle finden wir später
in Étant donné (GS, 336/ED, 276 f). Und in Certitudes négatives lautet es: »Il s’agit
dès lors d’un phénomène saturé, où l’intuition déborde la capacité du concept, tou-
jours manquant et tardif.« (CN, 287) Diese Idee vom Mehr des Ereignisses als man
begreifen kann, übernimmt Romano, wenn er 1998 in L’événement et le monde von
»infinité d’un sens« (oder auch »le surcroît absolu du sens«: EM, 209) des Ereignisses
gegenüber der »finitude de la compréhension« (EM, 206) spricht. Weil das Ereignis
unendlich viel mehr gibt als das Verstehen verstehen kann, ist es »das Unbegreifliche«
(l’incompréhensible) (EM, 208).
575
Siehe auch: GS, 365/ED, 302; DS, 141 f.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

zuzeigen. 576 Die Natur des gesättigten Phänomens fordert aber, dass
diese Verstandeskategorien »umgekehrt« werden. So zeigt sich das
gesättigte Phänomen gemäß den vier Gruppen der Verstandeskatego-
rien als »unanvisierbar« (invisable) der Quantität nach, »unerträg-
lich« (insupportable) der Qualität nach, »abgelöst« bzw. »absolut«
(absolu) der Relation nach und »unbeobachtbar« (irregardable) der
Modalität nach. 577 Die Phänomenologie der Gegebenheit lässt neben
diesen vier Typen der Sättigung noch eine weitere Möglichkeit der
Sättigung zu, nämlich wenn ein Phänomen alle vier dieser Sätti-
gungsarten in sich vereinen würde. Eine solche »paradoxe Paradoxie«
(paradoxe des paradoxes) (GS, 394/ED, 327) könnte als ein »fünfter
Typus« (GS, 393/ED, 327) der Sättigung angesehen werden, aller-
dings nicht im Sinne, dass damit eine neue Weise der Sättigung auf-
gedeckt würde, sondern so, dass man hier von einer »Sättigung der
Sättigung« (saturation de saturation) (GS, 394/ED, 327) sprechen
könnte.
Diese Weisen der Sättigung, die mithilfe von Kants Terminolo-
gie charakterisiert und herausgearbeitet werden, können auch durch
das Prisma der Phänomenologie Husserls angesehen werden, und
zwar so, dass die ersten drei Weisen der Sättigung das beschreibt,
wie das saturierte Phänomen den Horizont (d. h. den Begriff) über-
schreitet, und die vierte Weise zeigt besonders das, wie es sich der
Konstitution durch das Ich entzieht, wie es also das Ich selbst über-
schreitet. 578

576 Das Ereignis durch die neu interpretierten Verstandeskategorien Kants zu be-

schreiben, hat schon Deleuze versucht. Siehe: LS, 133/123.


577 GS, 341/ED, 280. Genauso wird das gesättigte Phänomen auch in De surcroît be-

schrieben: DS, 141.


578 GS, 341/ED, 280. Diese Beschreibungsweise entspringt teilweise Kants Bestim-

mungen von Verstandeskategorien, bei denen Marion beobachtet, dass sich die ersten
drei auf die Gegenstände und ihre Relationen beziehen, während die Kategorie der
Modalität die Relation vom Gegenstand zum Ich beschreibt: GS, 359/ED, 296 f.
Man muss einsehen, dass, obwohl sich Marion bei der Definition, Typisierung und
Beschreibung gesättigter Phänomene auf Kant (und Husserl) bezieht, dieser Bezug als
ziemlich frei angesehen werden muss. Das heißt: Er zwar zitiert und interpretiert
zwar Kant (und Husserl), aber diese Interpretation ist sehr frei (wenn nicht »quite
problematic« (Mackinlay, 59)) und dient vor allem dazu, die Idee des gesättigten Phä-
nomens zu verdeutlichen. Natürlich beansprucht Marion auch, mit seiner Philosophie
die vorherige Tradition zu revidieren und etwas Neues beizutragen. In dieser Hinsicht
muss natürlich gefragt werden, wie adäquat er die Tradition auslegt und inwiefern er
sich von ihr absetzen kann. Dies ist eine wichtige Frage, die wir hier nicht stellen. Uns
interessieren in erster Linie die Strukturen des Ereignisses und nicht die Frage, wie

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

Marions Beschreibung des gesättigten Phänomens, das genau


deswegen gesättigt ist, weil es sich selbst gibt, also ereignishaft ist,
gibt uns entsprechend eine weitere Möglichkeit, die Logik des Ereig-
nisses herauszuarbeiten. Und obwohl die Beschreibung des gesättig-
ten Phänomens sich zumindest teilweise mit den Bestimmungen des
Gegebenen, die wir vorher behandelt haben, deckt und sogar sich de-
cken muss, weil es immerhin um die Beschreibung derselben Sache
geht, wird mit der Aufdeckung verschiedener Typen der Sättigung
auch viele neue Aspekte des Ereignisses sichtbar. 579

6.2. Unanvisierbar

Dass das Ereignis nicht anvisierbar ist, heißt, dass es nicht in den Blick
genommen werden kann, dass man es nie vollständig überschauen
kann. Mit keinem Begriff kann man alles – zuerst im quantitativen
Sinne – erfassen, was sich ereignet, da wir es hier mit einer »immen-
sité des vécus« (DS, 141) zu tun haben. Zum Vergleich: Ein Objekt
kann man in einem Blick fassen. Dies geschieht so, dass man durch
den Begriff, der die wesentlichen Aspekte einer Sache definiert, eine
bestimmte Menge lebendiger Erfahrung herausfiltert und nur sie
auch sieht. Ist man mit einem objektivierenden Blick auf ein Haus
gerichtet, so konstituiert man es als ein Objekt und sieht nur seine
entsprechende geometrische Form, die für die Bewohnbarkeit geeig-
net ist, Fenster, Türen und vielleicht noch einiges. Auch die einzelnen
Aspekte, zum Beispiel die Tür, werden durch den Begriff anvisiert,
sodass sie überschaubar werden. In Bezug auf die Tür sieht man nur
ihre Form, die Türklinke, aber ihre Farbe, das Relief ihrer Oberfläche,

Marion die Philosophie von Kant und Husserl interpretiert, ob er die von ihrer Phi-
losophie übernommenen Konzepte richtig auslegt und inwiefern er Recht dazu hat,
seine Phänomenologie als Umkehrung und Erweiterung der Philosophie von Kant
und Husserl zu sehen. Dies wäre die Aufgabe einer anderen Arbeit.
579 Die Beschreibung des gesättigten Phänomens muss sich mit den Bestimmungen

des Gegebenen überdecken, weil jedes gesättigte Phänomen ein Gegebenes ist. Das
gesättigte Phänomen ist aber ein gesättigtes Gegebenes und deswegen bringt es neue
Aspekte mit sich (GS, 404/ED, 337). Man darf aber nicht vergessen, dass auch die
Bestimmungen des Gegebenen die Bestimmungen eines gesättigten Phänomens, d. h.
Ereignisses sind, weil jedes Gegebene gesättigt ist, wie das die These von der Banalität
der Sättigung besagt. Deswegen stellen wir sowohl die Aspekte des Gegebenen über-
haupt als auch die Aspekte des gesättigten Phänomens in einer Reihe auf und definie-
ren sie als Strukturen des Ereignisses.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

die Abnutzung etc. werden außer Acht gelassen. Aber nicht immer:
Unter bestimmen Umständen kann auch die Farbe der Tür wichtig
werden, doch wieder als ein Objekt, das durch den Begriff angeschaut
wird, der seinen Farbton quantitativ bestimmt. Oder aber auch kann
die Farbe zum Objekt des Gefallens bzw. Nichtgefallens werden.
Dann wird nur eines bei der Farbe anvisiert, nämlich ob sie einem
gefällt oder nicht. Ein Ereignis wäre aber dann der Fall, wenn es dem
Blick verbieten würde, bestimmte definierte Aspekte herauszufiltern,
wenn es stattdessen vor diesem Blick als eine Explosion unendlicher
Einzelteile erscheinen würde, die er nicht überblicken kann. Stellen
wir uns vor, dass sich ein Haus uns mit dem Gewicht der Gesamtheit
aller seiner Einzelheiten – jeder Zier, jeder Spur eines Pinselstriches,
jeder Geschichte jeder seiner Ecken (der Einrichtung des Esszimmers,
des Farbwechsels der Außenwände, des Materials der Fenster, der
Schnitzereien von Kindern auf den Möbeln) etc. – aufzwingen würde.
Es wäre eine Überwältigung für den Blick, der dies alles auf seine
übliche Art bewältigen wollte. Sein Begriff von diesem Haus würde
mit all diesen Anschauungen überflutet, d. h. gesättigt, sodass er
dieses Phänomen nicht mehr überschauen könnte.
Man könnte natürlich einwenden, dass eine solche sättigende
Erfahrung eines Hauses zwar durchaus möglich ist (wenn es zum Bei-
spiel um das Haus der Kindheit oder ein geschichtlich bedeutsames
Gebäude geht), aber sie muss nicht unbedingt als etwas Ereignis-
haftes im Sinne einer besonderen Erfahrung aufgefasst werden.
Darauf könnte man antworten, dass in der Tat es sich hier um eher
ein »künstlich« geschaffenes gesättigtes Phänomen handelt, doch das
schließt nicht aus, dass es auch solche Ereignisse geben könnte, die
diese Struktur, nämlich die Sättigung der Quantität nach, »naturge-
mäß« aufweisen würden und ereignishaft wären. Marion behauptet,
dass ein geschichtliches Ereignis, zum Beispiel eine Schlacht 580, poli-
tische Revolution, Krieg, Naturkatastrophe, Sports- oder Kulturver-
anstaltung 581 ein quantitativ gesättigtes Phänomen darstellt. Im Falle
einer historischen Schlacht zum Beispiel befindet man sich mitten-
drin im Geschehnis, über das man keine Übersicht hat, über das über-
haupt niemand eine Übersicht hat; man kennt nur einige Einzel-
aspekte, die aus eigener Perspektive erfahrbar sind. Es geht um die

580 Das Beispiel in: GS, 383 f/ED, 318 f.


581
Marion nennt diese Beispiele in: DS, 45.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

Begegnung mit etwas (quantitativ) zu Großem, als dass man es über-


blicken und dementsprechend kontrollieren könnte. Man ist mitten-
drin und hat keine Übersicht und keine absolute Kontrolle über das
gewaltige Geschehnis. Was das »künstlich« reduzierte Phänomen
eines Gebäudes nicht aufweist, wird hier deutlich sichtbar: Das Ge-
schehnis geschieht aus sich selbst, man ist nur ein Teil davon, man ist
ein Zahnrad in einem immensen Mechanismus, der sich von selbst
dreht:
»Die Schlacht zieht vorüber, sie geschieht von alleine, ohne dass irgendwer
sie streng genommen macht oder über sie entscheidet. Sie zieht vorüber,
und alle sehen, wie sie vorüberzieht, sich abzeichnet und dann wieder ent-
schwindet, so wie sie eingetreten ist – von sich selbst aus. […] Für diejeni-
gen aber, die sie in sich hineinzieht und umgreift, reicht kein mitgebrachter
(Individual-) Horizont dazu aus, sie auf einen Punkt hin zu vereinheitli-
chen, sie als solche auszusagen und schon gar nicht, sie vorherzusehen.«
(GS, 383 f/ED, 318)
Natürlich kann man einiges überblicken, vorhersehen und beherr-
schen, doch vielleicht ist es genau diese Möglichkeit, die später vor
dem Hintergrund der unanvisierbaren Quantität diese eigentliche
Unkontrollierbarkeit noch ausgeprägter erfahren lässt. Es geht da-
rum, dass man versucht (später), das Phänomen zu rekonstruieren,
es also nachträglich zu überblicken, aber ohne Erfolg, da seine Im-
mensität eine unendliche Beschreibung – die Marion »endlose Her-
meneutik« (herméneutique sans fin) (DS, 142) 582 nennt – fordert, die
aber wegen seiner Unendlichkeit nicht erfüllbar ist. Insbesondere die
Nachforschungen zeigen, dass es unendlich viele Perspektiven, un-
endlich viele Einzelaspekte des Geschehnisses gibt, sodass man es
nicht als ein Objekt konstituieren und ihm gegenüber treten kann.
Unzählige empirische Materialien, Berichte, Interpretationen über-
schwemmen den Namen eines Krieges, der nur dadurch definiert
wird, dass er ein Weltkrieg war, der von 1939 bis 1945 gedauert hat.
Und findet man seinen eigenen Namen auf einem der unzähligen
Dokumente, die in diesem Krieg entstanden sind, versteht man, dass

582 Siehe zum Beispiel folgende Stelle: »En effet, devant l’événement, je ne puis

assigner une seul signification à l’immensité des vécus qui m’adviennent – je ne puis
qu’en poursuivre, par des significations sans cesse multipliées et modifiées, une her-
méneutique sans fin.« (DS, 141 f) Siehe auch: DS, 45. Vom Konzept der endlosen
Hermeneutik in der Philosophie Marions wird noch später die Rede sein.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

man auch damals nur ein Knotenpunkt in einem unüberschaubaren


Netzwerk gewesen ist. 583
Dieselbe Ohnmacht gegenüber dem Unanvisierbaren zeigt sich,
wenn man die Ursachen für das konkrete Geschehnis im Nachhinein
zu finden versucht. Ist das Phänomen quantitativ gesättigt, explodiert
auch die Zahl der möglichen Ursachen. Explodiert die Zahl der mög-
lichen Ursachen, von denen – wie wir es schon gesehen haben – keine
für die adäquate erklärt werden kann, muss das Ereignis als unmög-
lich (nichts wies vorher auf seine Möglichkeit hin) und unvorherseh-
bar (kontigent und sich selbst gebend) qualifiziert werden:
»Ils [événements – L. P.] ne peuvent pas se prévoir, puisque leurs partielles
causes non seulement restent toujours insuffisantes, mais ne se découvrent
qu’une fois le fait accompli de leur effet. D’où il suit que leur possibilité, ne
pouvant se prévoir, reste à strictement parler une impossibilité au regard du
système des causes antérieurement répertoriées.« (DS, 45)
Wenn für das Ereignis keine bestimmte Ursache gefunden werden
kann, kann es auch nie identisch reproduziert werden, weswegen es
durch die »Unwiederholbarkeit« (irrépétabilité) (DS, 45) gekenn-
zeichnet ist.
Das quantitativ gesättigte Ereignis ist also unanvisierbar (es gibt
zu viel) und unkontrollierbar (es geschieht von sich selbst), wenn es
sich ereignet; es ist unanvisierbar, wenn es zu Ende ist (die endlose
Auslegung kann nie abgeschlossen werden); es ist unanvisierbar im
Sinne der Unvorhersehbarkeit (keine Ursache ließ es vorhersehen);
schließlich ist es unanvisierbar in dem Sinne, dass man nicht vor-

583 Das Beispiel mit der unüberblickbaren Schlacht gibt es übrigens schon bei Mer-

leau-Ponty. In Phénoménologie de la perception schreibt er: »Fabrice wollte die


Schlacht von Waterloo sehen, so wie man eine Landschaft betrachtet, und er sah bloß
verworrene Episoden. Sah der Kaiser auf seiner Karte wirklich die Schlacht? Sie zog
sich ihm auf ein keineswegs lückenloses Schema zusammen: Warum kommt jenes
Regiment nicht von der Stelle? Warum treffen die Reserven nicht ein? Endlich glaubt
der Historiker, der nicht in der Schlacht engagiert ist und sie von allen Seiten zugleich
sieht, die mannigfaltigen Zeugnisse versammelt hat und ihren Ausgang kennt, sie in
ihrer Wahrheit zu fassen. Doch er gibt nur eine Vorstellung von der Schlacht, er trifft
sie nicht selbst, da im Augenblick ihres Geschehens ihr Ausgang eben noch ungewiß
war, im Augenblick der Erzählung des Historikers aber es nicht mehr ist;« (PhW, 415/
PhP, 416) Und auch Deleuze greift auf dieses Beispiel zurück: »Wenn die Schlacht kein
Ereignisbeispiel unter anderen ist, sondern das Ereignis in seiner Essenz, dann zwei-
fellos deshalb, weil sie auf vielfältige Weise gleichzeitig abläuft und jeder Teilnehmer
sie auf einer unterschiedlichen Verwirklichungsebene in ihrer Gegenwart erfassen
kann […].« (LS, 132/122)

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

haben kann, es zu wiederholen (dazu müsste man die Ursache ken-


nen). Es vermittelt aber auf jeden Fall das Gefühl der Unfähigkeit,
eine gewaltige Größe zu bewältigen.

6.3. Unerträglich

Das Ereignis ist unerträglich, weil es sich qualitativ so intensiv gibt,


dass man nicht mehr in der Lage ist, die Anschauung zu bewältigen,
d. h. in Bezug auf sie einen Begriff anzuwenden. In diesem Fall geht es
nicht mehr so viel darum, dass man quantitativ viele (inadäquate)
Begriffe hat, sondern darum, dass man die Macht verliert, überhaupt
welche zu suchen und anzuwenden. Mit anderen Worten: Man er-
trägt etwas nur, insofern man sich durch es nicht überwältigen lässt
– in diesem Fall, insofern man mit dem Begriff gegen die Fülle der
Anschauung noch kämpfen kann. Findet die Überwältigung statt,
wird man von der Fülle des Phänomens überschwemmt. Dies kann
man nicht mehr ertragen – so wie eine übermäßige Kälte ohne pas-
sende Kleidung oder die Hitze ohne etwas zu trinken ertragen kann.
Die Unerträglichkeit entsteht also aus der Spannung zwischen dem,
was sich gibt, und dem, was man aufnehmen bzw. nicht aufnehmen
kann. Kann man etwas nicht mehr (kontrolliert) aufnehmen, in die-
sem Fall begreifen, wird es unerträglich. Man gibt irgendwann auf,
wenn man nicht schon von Anfang an aufgegeben hat. Man ist dem
sich aufzwingenden Phänomen ausgesetzt, man ist von ihm be-
herrscht.
Die Unerträglichkeit des Ereignisses bedeutet also, dass man
nicht mehr in der Lage ist, einen Begriff zu suchen und zu finden.
Sollte die Anwendung eines Begriffes bedeuten, dass man etwas kon-
stituieren und erkennen kann, so hat man in der Situation der Un-
erträglichkeit nichts mehr. Man sieht nichts mehr, konstituiert nichts
mehr, erkennt nichts mehr. So ist das gesättigte unerträgliche Phäno-
men für Marion ein solches, das »blind macht«:
»[D]ie Anschauung, die im Bereich dürftiger bzw. geläufiger Phänomene
vermeintlich ›blind‹ ist, erweist sich – in radikaler Phänomenologie – viel-
mehr als blind machend [aveuglante – L. P.]. Der Blick kann sie ebenso
wenig ertragen wie ein Licht, das blendet [éblouit – L. P.] und wie Feuer
brennt.« (GS, 346/ED, 285)

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Aber es geht nicht darum, dass man tatsächlich nichts sieht, als ob
man in einem dunklen Raum herumtasten würde. Man sieht nichts
in dem Sinne, dass man kein Objekt sieht. Trotzdem gibt es hier ein
Sichtbares: »ein Sichtbares, das von unserem Blick nicht ausgehalten
werden kann« (GS, 347/ED, 285). Die Ereignisse sind also »zugleich
unanschaulich und anschauungsgesättigt« (à la fois vides et saturés
d’intuition) (GS, 408/ED, 340).
Für diese Art des Ereignisses gibt Marion zwei Beispiele: das Idol
im theologischen Kontext, das er sehr eingehend in seinen früheren
Werken behandelt 584, allerdings ohne es als ein gesättigtes Phänomen
zu bezeichnen, da dieses Konzept noch nicht entwickelt ist, und das
Gemälde, das ein bedeutendes Thema in seiner aktuellen Philosophie
darstellt 585. Bei der Behandlung dieser Beispiele wird es sehr deutlich,
dass das unerträgliche Phänomen nicht nur verbietet, einen Begriff
anzuwenden, und deswegen nichts sehen lässt, sondern auch sätti-
gend, überwältigend ist. Dies lässt noch weitere Strukturen des Ereig-
nisses aufweisen. Erstens ist das überwältigende Sichtbare 586 kein Ob-
jekt, sondern der Schein, die Erscheinung selbst, die unaufhörlich aus
sich heraus strahlt, fließt, gibt. Das Sichtbare ist also nicht ein Etwas,
sondern die »Sichtbarkeit« (visibilité) selbst. Marion erklärt die Mög-
lichkeit eines solchen Sichtbaren dadurch, dass es alles Unsichtbare
als das Mit-Gegebene eines Sichtbaren in einem eingeschränkten
Horizont verloren hat. Das, was hier und jetzt ankommt, erlaubt
nicht, hinter oder in ihm noch etwas zu vermuten, es erlaubt auch
nicht, neben ihm noch was zu sehen, d. h. es in einen Kontext ein-
zuordnen. Das Sichtbare, so wie es jetzt erscheint, wird zur einzigen
Sache auf der ganzen Welt, ohne Dimensionen, ohne Tiefe, ohne
Kontext. Nur es wird gesehen und es wird nur gesehen, es geschieht
nichts Weiteres:

584 Siehe insbesondere L’idole et la distance (1977) und Dieu sans l’être (1982), sowie

auch einen kürzeren Aufsatz Fragments sur l’idole et l’icône (Revue de Métaphysique
et de Morale 84 (1979), S. 433–445), dessen deutsche Übersetzung als Idol und Bild in
Phänomenologie des Idols (hrsg. von Bernhard Casper, Freiburg/München: Alber,
1981, S. 107–132) enthalten ist. In diesen Schriften entwickelt Marion eine ganze
Theorie von Idol und Ikone, deren Thesen auch in späteren seiner Werke zu begegnen
ist, zum Beispiel bei der Herausarbeitung des Konzepts vom gesättigten Phänomen.
585 Siehe zum Beispiel: Courbet ou la peinture à l’œil (2014).

586
Es geht natürlich nicht nur um das Sichtbare als das, was man mit den Augen
sehen kann. Das Sichtbare muss hier als alles, was das Bewusstsein erreicht, was also
erscheint, verstanden werden. In diesem Sinnen ist auch ein Duft etwas Sichtbares.

378

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

»Voici le tableau: l’espace non physique où le visible seul règne, abolit l’invu
(l’invisible par défaut) et réduit le phénomène à la visibilité pure.«
(DS, 84) 587
Dieses Sichtbare jenseits des physischen Raumes, ohne Unsichtbares
nennt Marion »bloß Gesehenes« (le vu pur) (DS, 93). 588 Wenn das
Phänomen aber mit den Gesetzen der Räumlichkeit unserer Welt
und der Wahrnehmung überhaupt bricht, erscheint es als nicht von
dieser Welt kommend und diese Welt nichtig machend. Es ist alleinig,
weil es von woanders kommt und die Objekte dieser Welt annulliert:
»Elle [peinture – L. P.] ajoute au visible du monde un visible qui ne lui
appartient plus, le transcende et l’annule.« (DS, 85 f) 589
Darin lässt sich – zweitens – noch eine weitere Struktur des Ereignis-
ses ahnen. Wenn im bloß Gesehenen nichts Unsichtbares bleibt, so
kann der Blick nicht mehr fortschreiten. Er bleibt stehen, er ist ge-
fesselt an dem, was er sieht. Doch dieses Gefesselt-Sein ist nicht leer
als eine bloße Unmöglichkeit, nicht weiterkommen zu können. Es
sind die »Bewunderung« (admiration) und die »Faszination« (fasci-
nation), die den gefesselten Blick erfüllen:
»En effet, l’admiration doit s’entendre ici comme le plus puissant exercice
possible du regard, tel qu’il se fixe à demeure, quasi fasciné, sur de qu’il
rencontre ou plutôt lui advient, au lieu de vagabonder à la manière de la
simple vue, qui erre sans s’y attarder d’un visible à l’autre.« (DS, 75) 590
Der Blick bleibt also gefesselt und fasziniert, weil ihm dieses Sicht-
bare begegnet, das alles Unsichtbare um sich herum abschafft, das
alles um sich herum verschwinden lässt und so zum alleinigen Sicht-
baren, zur Sichtbarkeit selbst wird. 591 Schon seit seinen früheren
Werken nennt Marion dieses Sichtbare »erstes Sichtbares« (premier

587
Siehe auch: DS, 79.
588 Dass man nur dieses Sichtbare sieht und dass man es ohne Weiteres – ohne Re-
flexion zum Beispiel – sieht, stellt eine Weise der Erfahrung dar, durch die Marion
schon in Dieu sans l’être das Idol charakterisiert hat: »Das Idol verdient es zu keinem
Zeitpunkt, dass man es als etwas Trügerisches abqualifiziert, denn es wird ja, zwang-
läufig, gesehen – eidōlon, das, was man sieht (*eidō, video). Es besteht sogar nur
darin, dass man es sehen kann, dass man nur es sehen kann.« (GoS, 26/DE, 18)
589 Siehe auch: DS, 76.

590 Siehe auch: GS, 385/ED; DS, 74 f.

591
In Dieu sans l’être heißt es: »Das Idol fasziniert und hält den Blick gefangen, eben
weil sich in ihm nichts finden lässt, was sich nicht zugleich auch schon dem Blick
aussetzen muss, ihn anziehen, erfüllen und festhalten muss.« (GoS, 26/DE, 18)

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

visible), weil es ein Sichtbares ist, das zum ersten Mal für den Blick
wirklich sichtbar wird, d. h. ihm nicht mehr erlaubt, wegzusehen. 592
Die Unerträglichkeit des Ereignisses geschieht also als die Un-
möglichkeit, einen Begriff auf die Anschauung anzuwenden, die dies-
mal nicht bloß zu viel gibt, sodass man nicht genügend Begriffe zu-
sammentragen kann, sondern etwas gibt, was überhaupt keinen
Begriff zulässt, nämlich die Erscheinung, die Gegebenheit selbst.
Einerseits macht sie blind: Sie schlägt auf das Erkenntnisvermögen
des Betroffenen zu. Andererseits sättigt sie, weil sie alles gibt, indem
sie alles andere – jede andere Sache, jeden Kontext, jede Geschichte,
jede Zukunft – einfach verschwinden lässt. Darin liegt auch die Fas-
zination ihr gegenüber, die der Blick, der an sie gefesselt bleibt, spürt.
Diese Strukturen des Ereignisses können natürlich nicht nur ein Idol
oder ein Gemälde aufweisen, die an sich, erstens, mit den Augen
sichtbar und, zweitens, inszeniert sind. Ein solches Ereignis kann sich
auch in einer alltäglichen Situation ereignen. Es kann vorkommen,
dass man sich an einem grauen und regnerischen Tag durch die Men-
schenmenge in der Stadt bewegt und plötzlich unter einer Überfüh-
rung eine hohe Melodie einer Geige hört. In dem ersten Moment
interessiert man sich nicht dafür, was, wie oder warum gespielt wird.
Nur das Klingen der Melodie selbst zwingt sich vor jeder Erkenntnis
auf. Für einen Augenblick gibt es nur sie, alles andere zieht sich in den
Hintergrund. Man ist nicht mehr in der Lage, etwas zu denken, man
kann sich nicht mehr konzentrieren, ist orientierungslos, so bleibt
man stehen und ist wie gefesselt an die Erscheinung dieses Phäno-
mens, die genau deswegen, weil man ihr gegenüber den Kopf verliert,
unerträglich ist. Unerträglich – aber vielleicht auch nur für denjeni-
gen, der sie bändigen will.

6.4. Absolut

Was unter der »Absolutheit« oder in diesem Kontext zuerst eher un-
ter der »Abgelöstheit« 593 verstanden wird, können wir schon aus den

592 »Statt über das Sichtbare hinauszugehen und es nicht zu sehen und es unsichtbar

zu machen, entdeckt er sich selbst nun vom Sichtbaren überwältigt, eingenommen


und zurückgehalten. Das Sichtbare wird für ihn endlich sichtbar, weil es ihn buch-
stäblich überwältigt. Das Idol, das erste Sichtbare, will als Erstes bei einem Blick Ein-
druck schinden, der bis dahin unersättlich war.« (GoS, 29/DE, 20 f)
593
Im Latein bedeutet absolutus sowohl losgelöst als auch vollendet, uneingeschränkt

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

vorherigen Überlegungen erahnen. Wird die Unerträglichkeit da-


durch definiert, dass man das Unbegreifliche nicht begreifen kann
und von ihm überschwemmt wird, dass man blind und fasziniert ist,
so bestimmt die Abgelöstheit näher das, was die Unbegreiflichkeit
bedeuten könnte. Und sie hängt damit zusammen, wie Marion das
besondere – erstmalige und alleinige – Sichtbare charakterisiert. Nur
dieses Sichtbare wird nämlich gesehen und es wird nur gesehen: Es ist
herausgerissen aus allen Relationen, d. h. abgelöst.
Im Falle eines armen Phänomens wird die Anschauung als die
Anschauung von etwas erkannt. Man erkennt etwas Wahrgenom-
menes zum Beispiel als einen Hund. Hier besteht also eine Relation
zwischen dem Phänomen und dem Begriff, durch den es erkannt
wird, dem Horizont, in den es eingeordnet wird. Durch diese erste
und einfache Relation entstehen weitere Relationen – die erkannte
Anschauung wird in das ganze Netzwerk der Begriffe und Horizonte
aufgenommen. Aber – streng genommen – ist die Anschauung, der
lebendige Augenblick der Gegebenheit mit der Aufnahme in die An-
schauung-Begriff-Relation schon verlorengegangen: sie ist zum Ob-
jekt der Erkenntnis geworden, verarmt, intelligibel, wiederholbar. Ei-
gentlich ist diese in die Begrifflichkeit aufgenommene Anschauung
nicht nur eine veränderte (begriffene, verarmte etc.) lebendige An-
schauung, sondern – wie wir das schon bei Levinas gesehen haben –
etwas absolut anderes, das mit der lebendigen Anschauung überhaupt
nichts mehr zu tun hat. Also: In den meisten Fällen, da wir in den
meisten Fällen mit den armen Phänomene zu tun haben, begegnen
wir Objekten, die in sich schon eine Relation von Anschauung und
Begriff tragen und die sich in einem Netzwerk von Relationen zu
anderen Objekten befinden.
Aber stellen wir uns vor, dass wir einmal etwas erfahren könn-
ten, das das Verhältnis zu einem Begriff, zu einem Horizont also und
so auch zum ganzen Netzwerk der Begrifflichkeit verbieten würde.
Dies wäre eine Erfahrung des von allen Relationen Abgelösten, des
Unbegreiflichen also und damit des Ereignisses. Die Möglichkeit sol-
cher Ereignisse muss nicht weit gesucht werden. Jede leiblich-leben-

u. a. Thomas Alferi übersetzt das französische Wort absolu meistens als absolut, aber
auch mit abgelöst (zum Beispiel: GS, 341). Dem Sinn nach ist die Übersetzung als
absolut völlig richtig, aber die Bedeutung dieses Wortes ist ziemlich unklar und mehr-
deutig. Die Übersetzung als abgelöst bringt dagegen den Gedankengang gleich in die
richtige Richtung. Wir werden deswegen zuerst von der Abgelöstheit des Phänomens
sprechen.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

dige Erfahrung hier und jetzt lässt sich nicht begreifen und verbietet
ihre Einschreibung in einen Horizont, die sie als etwas definieren
würde, als ob sie nur dazu wäre, eine Bedeutung zu erfüllen. 594 Jede
Erfahrung des Leibes verbietet, eine Relation zwischen dem An-
geschauten und dem Begriff, d. h. zwischen dem Erlebnis und dem
Denken, das auf es gerichtet ist, zu entwickeln, weil es in dieser Er-
fahrung keinen Unterschied zwischen dem Erlebten und dem, der
erlebt, gibt:
»Comment peut-on définir la phénoménalité d’une telle chair qui me donne
à moi-même? Évidemment, on ne le peut, si l’on s’en tient à une définition
commune du phénomène – l’adéquation entre l’apparaître et l’apparaissant,
l’intuition et la signification, la noèse et le noème, etc. Car dans la chair cette
distinction ne peut précisément pas encore se repérer: puisque dans ce seul
cas le perçu ne fait qu’un avec le percevant, la visée intentionnelle s’accom-
pli forcément dans une immanence essentielle, où ce que je pourrais viser se
confond avec le remplissement éventuel.« (DS, 124) 595
Es gibt hier keine Unterscheidung zwischen dem Wahrgenommenen
und der Wahrnehmung, weil der Leib – hier bezieht sich Marion auf
eine der Hauptthesen in der Philosophie Michel Henrys – gleich-
zeitig, ohne Unterscheidung von etwas (Heteroaffektion) und von
sich selbst (Autoaffektion) affiziert wird (»l’hétéro et l’autoaffection«
(DS, 126)). Das heißt: Man kann natürlich auch jede leibliche Er-
fahrung benennen und beschreiben, aber diese Erfahrung, die eine
Relation in sich hat, ist nicht die einzig mögliche, mehr noch: Sie ist
nicht die ursprüngliche Erfahrung, die Sache selbst. Es gibt die Mög-
lichkeit einer Erfahrung, die vor der Relation geschieht, die dort ge-
schieht, wo zwischen dem, was empfangen wird, und dem Empfänger
keinen Unterschied sieht. 596 Wenn man einen Schmerz fühlt, kann
man es natürlich auch objektivieren, aber wenn man diese Reflexion
und damit die Beziehung zum Erlebnis verlässt, um nur zu erleben,
sieht man die Unmöglichkeit, dieses Erlebnis, so wie es jetzt ist, zu
begreifen. Es ist nur das, was es jetzt ist. Es ist nichts anderes, es ist
nicht als etwas da, es ist nur da. Es gibt keine Bezeichnung für es. Mit

594 »Donc, dans l’hypothèse d’une phénoménalité du donné, la chair devient aussitôt

le cas le plus simple et contraignant de ce que nous nommons par ailleurs un phéno-
mène saturé ou paradoxe.« (DS, 124)
595
In Étant donné heißt es: »Leiblichkeit definiert sich nämlich als Identität […] des
Affizierten mit dem Affizierenden […].« (GS, 387/ED, 321). Siehe auch: DS, 115, 142.
596
Zur Ursprünglichkeit des Leibes (auch bei Husserl): DS, 112.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

anderen Worten: Die leibliche Erfahrung bedeutet nichts, hat keine


Bedeutung als etwas, sie bezieht sich nicht auf eine eventuelle Bedeu-
tung, sondern bedeutet nur sich selbst – sie ist nicht etwas (als etwas
für etwas), sondern nur sie selbst in der Identität von Erlebtem und
Erlebnis, ohne Bezug. Diese Struktur haben wir auch bei Levinas ge-
sehen – das Antlitz bedeutet nichts, es gibt keinen Übergang von ihm
zu irgendeiner Bedeutung, die das Antlitz selbst vergessen ließe. Das
Antlitz bedeutet nur sich selbst: Es ist das, was es ist. Es ist die »Be-
deutung ohne Kontext«. Es ist zwar auch die Spur des Unendlichen,
aber nicht so, dass es als ein Zeichen zu diesem Unendlichen führen
würde. Seine Bedeutung ist ja genau die, dass es die Spur ist. Sie ist
nur die Spur, von der aus man nicht weiterzieht. Und wir haben diese
Struktur auch bei Heidegger gesehen: Das Ereignis ereignet sich nur,
es gibt keinen Bezug zu ihm, es ist nicht etwas, zu dem man ein Ver-
hältnis haben kann.
Wenn aber etwas von der Relation zum Begriff abgelöst ist, ist es
unbegreiflich – es gibt keinen adäquaten Begriff für es. Und es er-
scheint nicht nur als bloß abgelöst, sondern auch als absolut im Sinne
der Vollendetheit, Vollkommenheit, Uneingeschränktheit etc. Das Er-
eignis gibt das Vollendete, weil die Zeit, die Geschichte, alle zeitlichen
Zusammenhänge verschwunden sind. Das Ereignis gibt das Erste und
das Letzte. Man kann ihm nichts mehr irgendwann in der Zukunft
hinzufügen. Es ist schon immer vollkommen. Das Ereignis gibt das
Unvergleichliche, weil keine Vergleiche mehr möglich sind. Das Er-
eignis gibt das Unendliche und Uneingeschränkte, weil das, was es
gibt, das Einzige ist, was es überhaupt gibt. Es gibt keine Grenzen,
auf den es stoßen könnte. Nur es wird gesehen, weil es nur es gibt.
Und es wird nur gesehen, weil hier in diesem Moment alles vollendet
ist. Es gibt keine Zeit mehr. Das geschieht, wenn sich das Ereignis
ablöst. Und wir dürfen hier nicht denken, dass abgelöst und absolut
nur ein göttliches Wesen sein kann. Das erste Lächeln des Kindes in
dieser biologisch-ökonomischen Welt oder die Umarmung eines ge-
liebten Menschen nach jahrelanger Einsamkeit und Verzweiflung
sind genauso absolut und vollkommen. Das Ereignis ist die Erfahrung
der Herausgerissenheit aus allen Verhältnissen: den begrifflichen,
aber auch zeitlichen und räumlichen. Und diese Herausgerissenheit
konstituiert seine Absolutheit.
Was geschieht, wenn man von einem solchen abgelösten Ereig-
nis sprechen will, da doch bekannt ist, dass es in keiner Relation zu
einem Begriff steht? Laut Marion gibt es drei Möglichkeiten, die je-

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

weils dem entsprechen, wie das Phänomen den begrifflichen Hori-


zont, den man ihm auferlegt, aufsprengt, d. h. sättigt. In der ersten
Möglichkeit »vollzieht sich die Sättigung noch innerhalb eines Hori-
zontes« (GS, 355/ED, 293). Das bedeutet, dass man für das Phänomen
einen Begriff finden kann, obwohl er gleichzeitig auch als inadäquat
disqualifiziert werden muss, weil die Anschauung ihn »überflutet«
(déborde) (GS, 355/ED, 293). Dies wäre zum Beispiel dann der Fall,
wenn man zwar feststellen könnte, dass man den Duft einer Schoko-
ladentorte riecht, sollte man aber auch gleichzeitig zugeben, dass die-
ses Wort die lebendige Erfahrung nur absolut verarmt wiedergibt.
Die zweite Möglichkeit ist, dass das Phänomen die Grenzen eines be-
stimmten Horizontes überschreitet und »in mehreren Horizonten …
gleichzeitig« (GS, 356/ED, 294) gelesen werden muss. Das wäre wahr-
scheinlich dann der Fall, wenn man nicht festlegen könnte, mit was
man es zu tun hat und müsste noch das passende Wort dafür finden,
wobei sich die Suche nach einer adäquaten Beschreibung durch die
Vielfalt von Ansichtpunkten, Auslegungen, Interpretationen voll-
ziehen würde. Die dritte Möglichkeit liegt darin, »dass sich nämlich
die Sättigung verdoppelt, indem sie die ersten beiden Fälle in sich zu-
sammenlegt.« (GS, 357/ED, 295). Dass bedeutet, dass auch mehrere,
sogar alle Horizonte das Phänomen immer noch nicht begreifen
könnten:
»Dann wäre aber nicht nur kein Horizont, sondern auch keinerlei Kombina-
tion aus Horizonten imstande, die Absolutheit des Phänomens zu ertra-
gen […]. Kurz gesagt: Es würde ein Phänomen erscheinen, das in einem
solchen Maße gesättigt wäre, dass die Welt (in allen Bedeutungen des Wor-
tes) es nicht akzeptieren könnte.« (GS, 357 f/ED, 295)
Man könnte also sagen, dass das absolute Ereignis in seiner radikals-
ten Form etwas gibt, was nicht von dieser Welt ist, da es sich von den
Zusammenhängen dieser Welt ablöst; andererseits gibt es eine ganz
andere Welt: seine, nur von ihm, von seiner ihm immanenten Bedeu-
tung beherrschte Welt, die allerdings nicht eine Welt an sich ist, son-
dern nur als die Störung dieser Welt besteht.

6.5. Unbeobachtbar

Die ersten drei Typen des gesättigten Phänomens zeigen, wie die An-
schauung den Begriff überschreitet: Die Anschauung gibt entweder

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

quantitativ zu viel für den Begriff oder qualitativ zu viel (zu intensiv),
sodass man irgendwann nicht mehr in der Lage ist, einen Begriff an-
zuwenden, oder sie löst sich überhaupt von der Relation zu irgend-
einem Begriff. Der vierte Typ des gesättigten Phänomens enthüllt
seine Besonderheit nicht im Verhältnis zum Begriff, sondern zum
Ich selbst. Das Ereignis ist nicht beobachtbar in dem Sinne, dass das
Ich es nicht unter Kontrolle halten kann, sondern eher selbst dem
Phänomen ausgesetzt ist.
Hier ist es notwendig, zuerst auf Marions Unterscheidung zwi-
schen »beobachten« (regarder) und »sehen« (voir) aufmerksam zu
machen:
»Phänomene zu beobachten bedeutet folglich nicht dasselbe, wie sie zu se-
hen. Vielmehr bedeutet es, dass man Phänomene im Verfolg einer stets
dürftigen und geläufigen Phänomenalität in sichtbare Gegenstände um-
wandelt […].« (GS, 362/ED, 299)
Beobachten heißt also, einen Gegenstand zu konstituieren, und nicht
etwas so zu empfangen (sehen), wie es sich gibt. Beobachten heißt,
das konstituierte Phänomen unter der Kontrolle zu halten und ihm
nicht die Initiative der Selbst-Gegebenheit zu übergeben:
»[E]s geht um das Ausüben dieser Kontrolle, bei der man auf Sichtbares in
seiner Sichtbarkeit Obacht hat – und dies, ohne ihm die Initiative des Er-
scheinens zu überlassen […].« (GS, 362/ED, 299)
Hält man das Phänomen unter Kontrolle, so hält man es in den Gren-
zen eines Begriffes. Es ist das, was ich will, dass es ist. Streng genom-
men sehe ich es gar nicht: Ich sehe nur das, was ich von ihm sehen
will. Das ist ähnlich wie, wenn man von einem Menschen, den man
noch nicht kennt, verschiedene Gerüchte gehört hat, und wenn man
ihn dann kennenlernt, lässt man sich von den Gerüchten so beein-
flussen, dass man buchstäblich nicht mehr hört, was er sagt, sondern
überall nur die Bestätigung für das Vorurteil findet, das man über ihn
schon gebildet hat.
Welche Situation würde entstehen, wenn das Phänomen sich der
Kontrolle des Ich entziehen könnte, wenn es also nicht beobachtbar
wäre? Eine ähnliche Situation, wie wenn man den Anderen wirklich
aussprechen ließe. Das Phänomen könnte sich endlich zeigen. Es wäre
nicht mehr ein Objekt für das Ich, sondern ein gleichwertiger Ge-
sprächspartner, der die Intention hat, mir etwas zu sagen und so zu
sagen, dass es selbst in diesem Sagen manifest wird. Marion nennt

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

diese Situation »Gegen-Intentionalität«. Es ist die Situation, wo nicht


das Ich das Phänomen zur Erscheinung bringt, sondern es sich selbst
gibt und manifestiert und wo das Ich nicht befiehlt, sondern an-
gesprochen wird:
»En cette posture, le phénomène, qui nous advient et survient, inverse
l’ordre de la visibilité, en ce qu’il ne résulte plus de mon intention, mais de
sa propre contre-intentionnalité.« (DS, 142) 597
Wird das Ich vom Phänomen angesprochen, so ist das Phänomen als
der »Ruf« (appel) und das Ich als die »Antwort« (réponse) bzw. »Re-
sponsum« (répons) konstituiert. 598 Die Unbeobachtbarkeit des Ereig-
nisses vermittelt also die Erkenntnis, dass man es mit dem Anderen
zu tun hat, das von sich ankommt, sich selbst konstituiert und
schenkt. Es ist die Erfahrung des »Anderswo« (ailleurs) (GS, 219 f/
ED, 173 f). Ich bin nicht allein, was man denken könnte, wenn man
alles Gegebene auf Objekte reduzieren würde, die zu meiner Welt
gehören. Es gibt ein Anderswo, von woher das Andere zu mir kommt
und seine eigene, für mich unbegreifliche Welt eröffnet. Ich bin nicht
derjenige, der diese Welt konstituiert, sondern (nur) deren »Zeuge«
(témoin):
»[…] weit davon entfernt, dieses Phänomen konstituieren zu können, er-
fährt sich das Ich selbst von ihm konstituiert. Auf das konstituierende Sub-
jekt folgt also der – konstituierte – Zeuge. Als konstituierter Zeuge bleibt
das Subjekt aber bei der Auffindung von Wahrheit am Werk. Allerdings
kann es deren Hervorbringung nicht mehr für sich selbst beanspruchen.«
(GS, 365/ED, 302) 599

597 Wir haben gesehen, dass Levinas von der »Umkehrung der Intentionalität« ge-

sprochen hat, wo das Subjekt mit seiner Intentionalität das Andere nicht mehr an-
greift, sondern sich ihm aussetzt, sich ansprechen lässt. Marion bezieht sich auf Levi-
nas diesbezüglich: GS, 440/ED, 367 f.
598 Dazu siehe insbesondere: Étant donné § 28. In Certitudes négatives wird dies noch-

mals bestätigt: »Alors que l’objet apparaît pour répondre à question (»Que sais-je?«,
»Que puis-je savoir?«), l’événement se constitue comme un phénomène exigeant une
réponse.« (CN, 289) Und: »L’événement advient comme un appel.« (CN, 290)
599 Dazu siehe noch eine bedeutende Stelle: »Das ›Sich‹ des Phänomens – sobald es

sich der Gegenständlichkeit entgegenstellt – wandelt das Ich […] entschieden in einen
Zeugen [témoin – L. P.] um. Es kehrt nämlich den Nominativ […] in einen ursprüng-
licheren Dativ um, der […] das ›Wem oder Was‹ des Empfängers bezeichnet, dem es
zugewiesen wird. Und ein solcher Zuweisungsempfänger tritt die Nachfolge dessen,
was die Metaphysik unter ›Subjekt‹ verstand, natürlich nur an, weil es sich diesem
radikal entgegenstellt.« (GS, 414/ED, 344).

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

Die Rolle des Zeugen erschöpft sich aber nicht darin, bloß das Phäno-
men zu sehen, zu empfangen, insofern er da ist, wenn es geschieht, –
er muss auch noch für das Gesehene Zeugnis ablegen und vielleicht
sogar im Sinne der Verteidigung (damit wäre er ein Zeuge der Ver-
teidigung), sodass er sich damit – sogar »gegen sein unmittelbares
Interesse« – für das Gesehene, Gehörte etc. einsetzt. 600
Der Begriff des Zeugen ist allerdings ein spezifischer Begriff. Für
den Empfänger im Allgemeinen behält Marion – wie wir gesehen
haben – den Namen attributaire (Zuweisungsempfänger) oder
adonné. 601 Ein wesentliches Charakteristikum des adonné ist, dass er
nicht nur das Phänomen empfängt, sondern dadurch auch sich selbst:
»So wird der Hingegebene geboren, der kraft eines Rufes auf das »Subjekt«
folgt, nämlich als derjenige, der sich ganz und gar aus dem empfängt, was er
empfängt.« (GS, 442/ED, 369) 602
Ein ganz prägnantes Beispiel dieser Art Ereignisse ist das Antlitz des
Anderen, wo genau das geschieht, dass man das Antlitz des Anderen
nicht beobachtet, d. h. als ein Objekt betrachtet, sondern seinen Blick,
der anblickt, der mich anblickt, sieht. Noch genauer gesagt: Man sieht
sogar den Blick nicht, sondern man erlebt bloß, wie man selbst ange-
sehen wird. Man sieht ihn nur, insofern man sieht, dass er sieht:

600 Zum Begriff des Zeugen bei Marion siehe: SB, 135 ff. Insbesondere folgende Stelle:

»Der Zeuge sieht das Phänomen, aber er weiß nicht, was er sieht und wird nicht
erfassen, was er gesehen hat. Unstrittig sieht er es, in vollkommener Klarheit, in der
ganzen erforderlichen Anschaulichkeit, oft mit einem Überschuss an Anschauung,
der ihn tief und anhaltend affiziert, vielleicht verletzt hat. Er weiß, dass er gesehen
hat und er weiß es so gut, dass er bereit ist, wieder und wieder, oft auch gegen sein
unmittelbares Interesse, dafür Zeugnis zu geben« (SB, 136 f/BS, 189). Dass der Zeuge
»oft auch gegen sein unmittelbares Interesse« handeln muss, bedeutet, dass er vom
Phänomen selbst aufgefordert wird, das Zeugnis abzulegen. Es ist auch klar, dass die
Rolle eines Zeugen nie leicht sein kann, weil der Zeuge immer etwas, wie wir gesehen
haben, Unmögliches und Unbegreifliches bezeugen muss.
601
Zur Unterscheidung vom Zuweisungsempfänger und adonné, den Thomas Alferi
als »der Hingegebene« übersetzt, siehe: »Bestimmt sich der Zuweisungsempfänger als
ein Denken, das Gegebenes in Manifestes umwandelt und das sich aus dem empfängt,
was es empfängt, oder, kurz gesagt, wird er aus dem Hervorbrechen selbst des Phäno-
mens als einem Gegebenen geboren, d. h. aus einem Gegebenen, das den bloßen Ein-
schlag seiner Ereignishaftigkeit vollzieht, was geschieht dann, wenn ein gesättigt-
gegebenes Phänomen hervorbricht? Antwort: Der Einschlag wird dann die radikale
Form eines Rufes und der Zuweisungsempfänger die eines Hingegebenen an-
nehmen.« (GS, 438/ED, 366)
602
Siehe auch: GS/ED, 437/365, 466/390; DS, 53, 56.

387

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

»Le visage partage le privilège de la chair: de même que celle-ci ne sent


qu’en se sentant sentir, celui-là ne se donne à voir qu’en voyant lui-même.«
(DS, 143) 603
Man kann sagen, dass jedes Ereignis auf mich gerichtet ist, mich an-
sieht und anspricht (ruft) aber im Falle des Antlitzes muss dies auch
im buchstäblichen Sinne verstanden werden. Aber nicht nur das:
Wenn der Andere zu mir spricht, will er, fordert er mich auf, dass
ich zuhöre, dass ich ihn verstehe (dass ich zu seinem Zeugen werde),
und, wenn ich ihn verstehe, dass ich folglich mich für ihn einsetze
(zuerst so, dass ich ein Zeugnis für ihn ablege). Wenn man dem An-
deren wirklich zugehört hat, kann man ihn nicht mehr als ein Mittel
(ein Objekt) für eigene Zwecke sehen, sondern nur als Zweck: also als
einen solchen, dessen Person und Persönlichkeit durch mich (als Mit-
tel), durch meine Einsatzkraft, realisiert werden muss. Aber die Mög-
lichkeit für einen solchen Bezug zum Anderen kommt nicht von einer
externen Autorität, die ihr Gesetz diktiert, und liegt auch nicht in mir
(im vernünftigen Subjekt wie das bei Kant ist), sondern wird in einer
ursprünglichen, vor-begrifflichen Erfahrung vom Anderen selbst ge-
geben und aufgezwungen (wie das bei Levinas und Marion der Fall
ist).
Das Ereignis ist also die Selbst-Gegebenheit, die nicht in einem
Begriff verstummt, den das konstituierende Ich ihr auferlegt, sondern
indem sie ihre eigene Intentionalität gegenüber dem Ich besitzt, es
anspricht, spricht und es als ihren Zeugen aufruft. Für das Ich ist dies
eine Situation des Angeblickt-, Gerufen-Werdens und schließlich
auch die des Sich-für-das-Andere-Einsetzens.

6.6. Die Sättigung der Sättigung

Wir haben schon erwähnt, dass neben den vier Typen des gesättigten
Phänomens Marion noch einen fünften Typus vermutet, der aller-
dings nur darin besteht, dass er alle der vier Weisen der Sättigung

603 Siehe auch: GS, 389 ff/ED, 323 ff, wo unter anderem auch vom Antlitz die Rede ist.

Ein anderes Beispiel für diesen Typ gesättigter Phänomene ist die Ikone (im Gegen-
satz zum Idol): »Wir nennen diesen letzten Typ gesättigter Phänomene Ikone, da er
dem Blick keinerlei Schauspiel mehr darbietet, keinen Zuschauerblick duldet, sondern
– gegenläufig dazu – sich ein eigener Blick an dem vollzieht, der ihm gegenübersteht.
Der Beobachter tritt an die Stelle des Beobachteten.« (GS, 389/ED, 323)

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

aufweist und so eine »Sättigung der Sättigung« darstellt. Eine solche


Möglichkeit wäre an sich, d. h. phänomenologisch gesehen, über-
haupt nicht problematisch. Was aber bestreitbar ist, ist Marions Be-
hauptung, dass ausschließlich das Offenbarungsphänomen (in die-
sem Fall das Jesusereignis) alle Weisen der Sättigung in sich vereint:
»Offenbarungsphänomen lässt sich nicht nur als Sättigung (als Paradoxie im
Allgemeinen) einordnen, sondern allein in ihm [sur lui seul – L. P.] bündeln
sich die vier Typen gesättigter Phänomene, sodass es sich zugleich als Ge-
schichtsereignis, Idol, Leib und Ikone (Antlitz) gibt.« (GS, 393/ED, 327) 604
Wir wollen hier nicht die Möglichkeit eines Offenbarungsphänomens
bestreiten, da es selbstverständlich eine phänomenologische Möglich-
keit bleibt. Was wir fragen, ist nur, ob es wirklich das einzige gesättigt
gesättigte Phänomen ist, ob es nicht eher so ist, dass eigentlich die
meisten (zumindest sehr viele) gesättigten Phänomene mehrere oder
sogar alle Sättigungsweisen aufweisen und dass nur wenige bloß eine
Sättigungsform für sich beanspruchen. Nehmen wir ein ganz banales
Beispiel eines Geschmackserlebnisses. Es wäre vielleicht schwierig, es
als ein historisches Ereignis, in dem quantitativ sehr viel geschieht, zu
beschreiben. Aber es könnte durchaus als unerträglich, absolut und
unbeobachtbar gelten – schon deswegen, weil es ein leibliches Phäno-
men hier und jetzt ist. Es könnte als unerträglich bezeichnet werden,
wenn es so viel Genuss anbietet, dass man es nicht mehr bewusst
genießen kann. Wer nach dem Fasten ein erstes Stück Braten in den
Mund nimmt, der genießt nicht einfach den Braten, nimmt also nicht
eine Anschauung durch einen bestimmten Begriff auf, sondern erlebt
die ganze Existenz und Güte, also eine Fülle, die man nicht mehr
beherrscht, die so gut ist, dass man es nicht ertragen kann. Aber auch
ein Schmerz könnte sättigend und unerträglich sein. Dieses Ge-
schmackserlebnis ist natürlich auch absolut: Es gibt keinen Begriff,
keine Beschreibung dafür, es geschieht hier und jetzt in meinem Leib,
wo ich es bin und es ich bin. Es ist auch absolut in dem Sinne, dass es
alleinig und vollkommen ist. Und es ist unbeobachtbar, weil ich es
nicht produziere – es kommt zu mir und lässt mich genießen, was

604 Siehe auch: »Das Offenbarungsphänomen (§ 24) definiert sich also als Phänomen,

das als Einziges [en soi seul – L. P.] die vier Bedeutungen gesättigter Phänomene (§ 23)
in sich bündelt […].« (GS, 395/ED, 328) Über die Unvorhersehbarkeit des Jesusereig-
nisses als geschichtlichen Ereignisses siehe: GS, 396 f./ED, 329 f); die Unerträglichkeit:
GS, 398 f/ED, 331 f; die Absolutheit: GS, 399 f/ED, 332 f; die Unanschaulichkeit: GS,
401 f/ED, 334 f.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

aber kein egoistischer Genuss ist, sondern schmerzhaft genussvolle


Begegnung mit der Andersheit, mit der Fülle des Lebens, die ich nicht
ertragen kann.
Die Liebe auf den ersten Blick könnte aber in allen vier Hinsich-
ten gesättigt sein. Sie ist ein geschichtliches Ereignis, weil sie ein Mo-
ment in der Geschichte darstellt, der selbst unendlich viele Einzel-
momente aufweist, aus einer genauso verwickelten Vergangenheit
kommt und bedeutsame Folgen mit sich bringt. Noch jahrelang, noch
ihr ganzes Leben lang können die Liebenden nicht aufhören, die Ge-
schichte über diese Begegnung zu erzählen; und jedes Mal kommt
etwas Neues dieser Geschichte hinzu. Die Liebe – der Geliebte – ist
unerträglich, absolut und unbeobachtbar schon deswegen, weil er
eine andere Person ist. 605 Er ist unerträglich wegen der Tiefe, Fülle
und Unerreichbarkeit seines inneren Lebens, die er in seinem Antlitz,
durch seinen Blick und indem er spricht zeigt. Ich kann es nicht er-
tragen, dass ich den Anderen – insbesondere denjenigen, den ich lie-
be, weil nur zu ihm ich ja absolut nah sein will, – nie vollständig
erreichen und verstehen kann. Er ist absolut, weil man für die Erfah-
rung der Andersheit keinen Begriff finden kann. Er ist das, was er ist
– er ist nicht als etwas da. Würde ich ihn als etwas sehen – als einen
Mann, einen Wissenschaftler, einen Weißen, einen Deutschen etc., –
würde ich ihn vergegenständlichen. Ich kann natürlich versuchen,
ihn irgendwie zu beschreiben, aber kein Horizont oder Zusammenfü-
gung von Horizonten wird jemals dafür ausreichend sein. Sofern ich
ihn als den Anderen sehe, ist er absolut: alleinig, einzigartig, eine
Welt außerhalb dieser Welt. Und er ist natürlich nicht beobachtbar:
Er ist nicht mein Objekt; und unsere Begegnung wird nicht von mir
inszeniert: Er kommt zu mir, er spricht mich an und ich kann ihn
niemals unter meiner Kontrolle haben.

Das sich-selbst-gebende Ereignis kommt aus einer dem Ich entgegen-


gesetzten Richtung an. Es gibt sich selbst dem Ich, läuft aber seiner
Kontrolle, die sich im Verstehen, Begreifen, Erkennen realisiert, ent-
gegen, um so seine Andersheit gegenüber dem Ich zu bewahren. Die
Bewahrung der Andersheit vollzieht sich als Sättigung des durch das
Ich gegebenen Begriffes. Die Situation der Sättigung ist die Situation

605
In der Tat schreibt Marion in Bezug auf das Antlitz (Ikone): »Sie [Ikone – L. P.]
vereint die spezifischen Eigenschaften der drei vorangegangenen Typen gesättigter
Phänomen in sich.« (GS, 391/ED, 324)

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

der Unmöglichkeit, das Gegebene mit einem Begriff zu bewältigen.


Und diese Unmöglichkeit lässt sich unterschiedlich erfahren. Ein Phä-
nomen kann quantitativ zu viel für die Begrifflichkeit geben und so
ein Gefühl der Unfähigkeit vermitteln, die ganze Menge des Gegebe-
nen jemals begreifen und kontrollieren zu können. Es kann aber auch
etwas so intensiv, so andersartig (im Vergleich zur Begrifflichkeit)
geben, dass es für den Empfänger unerträglich wird. Das Ereignis ist
auch immer eine Begegnung mit etwas Einzigartigem, Noch-nie-da-
Gewesenem, das den Grund seiner Einzigartigkeit niemals verrät, da
es sich außerhalb von jedem Kontext zeigt. Und das Ereignis kann
auch zu einer Erfahrung des Angerufen-Seins werden, die auch darin
begründet ist, dass das Phänomen seine Andersheit bestätigt.

7. Das Jetzt des Ereignisses

Damit kommen wir zur möglicherweise wichtigsten Struktur des Er-


eignisses, ohne die das Ereignis als Ereignis überhaupt nicht verstan-
den werden kann. Doch diese Struktur ist denkerisch auch am schwie-
rigsten einholbar. Deswegen weil sie am weitesten davon entfernt ist,
eine Struktur von etwas darzustellen, die man denken könnte. Sie ist
denkerisch eigentlich uneinholbar, d. h. der Versuch, sie zu denken,
soll dazu führen, dass man sie und damit das Ereignis überhaupt samt
allen seinen Strukturen, die es in Wirklichkeit nicht hat, weil es nicht
ist (im Sinne des Seins, mit dem das Denken übereinstimmt), als un-
denkbar anerkannt.
Wir haben bisher mehrere Strukturen des Ereignisses heraus-
gearbeitet, wir haben gezeigt, wie sich das Ereignis ereignet, welcher
Logik es folgt. Dabei trat in den Vordergrund das gesättigte Phäno-
men als Ereignis – das Phänomen, das sich selbst gibt und zeigt, das
seine Selbst-Gegebenheit gegenüber dem Ich bestätigt und es mit sich
selbst überflutet. Wir haben die Logik der Erscheinung dieses Phäno-
mens als Ereignis, dass sich selbst mit dem Exzess gibt, zu fassen ver-
sucht. Ganz kurz und ein wenig übertrieben gesagt: Wir haben ein
Phänomen beschrieben, seine Wesensmerkmale. Wir wissen jetzt,
was Ereignis (als Phänomen) ist und welche Merkmale es hat. Wür-
den wir einem Phänomen begegnen, könnten wir es mit unserem
Ereignisbegriff vergleichen, um festzustellen, ob es ein Ereignis ist.
Es lässt sich fragen: Wenn die Philosophie des Ereignisses den An-
spruch erhebt (und sie erhebt diesen Anspruch), die Metaphysik, d. h.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

die Frage nach dem Seienden (nach dem Wesen, nach dem Begriff,
nach den Ursachen etc.) zu überwinden, um dem Sein, das aber nicht
mehr das vorgestellte Sein für das Denken ist, sondern das Uneinhol-
bare für das Denken bleibt und dieses Denken sättigt, näher zu kom-
men, wie kann dann unsere bisherige Vorgehensweise dies leisten?
Wie können wir behaupten, dass wir das Wesen überwunden haben,
wenn wir doch gerade ein Wesen beschrieben haben? Wie können wir
behaupten, dass wir mit den bisherigen Analysen dem Ereignis näher
gekommen sind, wenn unsere Denkweise – wie wir gerade festgestellt
haben – durch und durch metaphysisch war? Ja, sie war in der Tat
metaphysisch, auch dann noch, wenn ich sie nicht-metaphysisch an-
zusetzen versuchte. Aber der Punkt ist, dass sie notwendigerweise
metaphysisch war. Aus einem zweifachen Grund: Erstens mussten
wir metaphysisch anfangen, weil die Überwindung der Metaphysik
nur durch die Metaphysik hindurch geschehen kann. Das heißt: Zu-
erst muss es die Metaphysik geben, damit man bei ihrer Destruktion
das Nicht-Metaphysische andeuten könnte, das allerdings niemals
zum Thema für eine neue Metaphysik wird, sondern sich immer nur
indirekt, unendlich und unerreichbar tief hinter den Trümmern der
Metaphysik ahnen lässt, hinter den Trümmern allerdings, die sich
ständig wieder aufbauen und immer wieder von Neuem zertrümmert
werden müssen. 606

606 Diese These entwickelt Walter Schweidler in seinen Büchern Die Überwindung
der Metaphysik. Zu einem Ende der neuzeitlichen Philosophie (Stuttgart: Klett-Cot-
ta, 1987) und Das Uneinholbare. Beiträge zu einer indirekten Metaphysik (Freiburg/
München: Alber, 2008). Es geht darum, dass die Überwindung des metaphysischen
Denkens, die Schweidler Philosophie nennt, die Metaphysik überholt, indem sie diese
denkt, allerdings nicht als ein übliches Denkobjekt, sondern sie begründend, d. h.
ihren Ursprung suchend. Denkt die Philosophie die Metaphysik, wird sie selbst zur
Metaphysik (der Metaphysik) und fragt nach ihrem eigenen Ursprung, den sie aber
nicht einholen kann. Wenn aber die Philosophie etwas Uneinholbares anerkannt, ist
sie nicht mehr Metaphysik in dem üblichen Sinne des Wortes: Sie ist Metaphysik und
doch auch ihre Überwindung gleichzeitig. Die Überwindung der Metaphysik ist also
gleichzeitig die Metaphysik des Ursprunges und das Denken der Uneinholbarkeit die-
ses Ursprunges. Sie kann nicht nur die Überwindung sein – dann wäre sie nur die
Metaphysik des Ursprunges, ohne das Uneinholbare. Sie braucht ständig das, was sie
überwindet, was sie selbst durchschauen lässt, nämlich das Uneinholbare: »Es gibt
daher keine Philosophie ohne Metaphysik; das bedeutet: Es gibt keine Philosophie,
die sich selbst voll zu durchschauen vermöchte. Umgekehrt gibt es keine Metaphysik
ohne jenen philosophischen Grundimpuls, der darauf gerichtet ist, sich selbst voll zu
durchschauen.« (Schweidler(1987), 183) Die Überwindung der Metaphysik und damit
auch die Philosophie des Ereignisses ist beides: die Metaphysik und das, was die Me-

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

Zweitens mussten wir metaphysisch anfangen, d. h. ein Phäno-


men, eine Wesenheit beschreiben, weil sogar noch dann, wenn man
etwas anderes als eine Wesenheit beschreiben möchte, beschreibt
man eine – deswegen, weil die Gegenständlichkeit im allgemeinsten
Sinne des Wortes (als ein x der Setzung) immer in den Vordergrund
tritt und das, was vermutlich kein Gegenstand ist, seinen Ursprung
nämlich, verschwinden lässt. Das x überschattet seine Setzung, das
Seiende überschattet das Sein, das Phänomen: die Erscheinung und
das Gegebene: seine Gegebenheit:
»Gegebenes, das aus dem Prozess [gebender] Gegebenheit hervorgeht, er-
scheint, es lässt aber [gebende] Gegebenheit in seiner Verborgenheit zu-
rück, die dadurch enigmatisch wird.« (GS, 130/ED, 100)
Man braucht eine besondere Einstellung, eine besondere Denkweise,
um zu dem, was durch das Etwas verdeckt wird, zu gelangen: die
Transzendentalphilosophie zum Beispiel, die die Setzung von x hinter
dem x sucht; die Phänomenologie, die hinter dem Phänomen seine
Konstitution beschreibt; die Seinsphilosophie, die hinter dem Seien-
den nach dem Sein fragt; oder die Philosophie der Gegebenheit, die
hinter dem Gegebenen das Ereignis seiner Selbst-Gegebenheit ver-
mutet. Aber sogar dann noch, wenn die Philosophie sich fest ent-
schlossen hat, hinter die Setzung eines Etwas zu gehen, und so die
Metaphysik zu überwinden, setzt sie wieder etwas, das seinerseits
wieder destruiert werden muss. In der Überwindung der Metaphysik
in Gestalt einer Philosophie der Gegebenheit zeigt sich das so, dass
man die Gegebenheit des Gegebenen zu denken versucht, bleibt aber
immer wieder beim Phänomen stecken, um dann allerdings immer
wieder zur Gegebenheit zurückzukommen. Diese Logik der Überwin-
dung der Metaphysik, die ein ständiges Hin und Her ist, zeigt sich
auch in den Texten Marions (und auch in unserem Text). Stellen die
vorherigen Abschnitte eine metaphysische Auslegung des ereignis-
haften Phänomens dar, wird dieser Abschnitt versuchen, es wieder
gutzumachen.
Wenn auch Marions Phänomenologie der Gegebenheit oft das

taphysik überwindet. Doch man darf nie vergessen, dass das, was die Metaphysik in
der Metaphysik überwindet, nicht in der Metaphysik präsent, sondern in ihr nur
indirekt gegeben ist. Deswegen nennt Schweidler die Philosophie »indirekte Meta-
physik«: eine Metaphysik also, in der indirekt das Uneinholbare gegeben ist. Man
kann durchaus sagen, dass die Philosophie des Ereignisses eine indirekte Metaphysik
ist.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Ereignis als gesättigtes Phänomen in den Vordergrund treten lässt


bzw. treten lassen muss, statt das zu zeigen, was sie eigentlich zu
zeigen beabsichtigt und worauf schon der Titel dieser Philosophie
hindeutet, nämlich die Gegebenheit, so bedeutet das nicht, dass sie
in die bloße Metaphysik zurückfällt. So wie jedes Gegebene »die Spur
von Gegebenheit an sich trägt« (GS, 130/ED, 100), wenn auch es das
Geschehnis dieser Gegebenheit verdeckt, so versteckt sich hinter
jeder Zeile von Marions Text über das Phänomen das Denken über
seine Erscheinung, das auch oft genug explizit wird. Natürlich stoßt
man hier auf ein weiteres Problem: Wie kann man das zeigen, was
kein Etwas ist und keine Setzung, d. h. kein Darauf-Zeigen erlaubt?
Kann man das überhaupt denken/zeigen? Nein, man kann es nicht
denken/zeigen, zumindest nicht direkt. Doch eine nicht-metaphysi-
sche Philosophie hat keine andere Möglichkeit, als zu versuchen, ir-
gendwie indirekt auf das Undenkbare hinzuweisen.
Was ist dieses Undenkbare, das in Marions Philosophie vom
Phänomen verdeckt wird und zu dem sie einen Zugang finden möch-
te? Wir haben schon mehrmals seinen Namen gesagt: Es ist die Ge-
gebenheit des Gegebenen, sein »Auftreten« (surgissement) (GS, 121/
ED, 93), »Ankommen« (advenue) (GS, 121/ED, 93), »sein Ereignis-
geschehen« (processus de son événement) (GS, 124/ED, 96). Kurz: Es
ist das Ereignis. Wir haben ja bisher auch beansprucht, dieses Ereignis
– also das Ankommen des Phänomens – zu beschreiben, aber nur so,
dass vor allem das Phänomen ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit
geriet. Also: Obwohl wir dieses Phänomen als ein Ereignis beschrie-
ben haben, haben wir genau das außer Acht gelassen, was es zu einem
Ereignis macht, nämlich das Ereignis. Aber wir haben doch die Ereig-
nishaftigkeit beschrieben: als die Selbst-Gegebenheit und Unvorher-
sehbarkeit, und Sättigung etc.! Ja, aber wir haben dies alles als die
Strukturen des Phänomens angegeben und damit das Ereignis ver-
deckt. Wir haben versucht, es direkt – durch ein Phänomen, durch
einen Begriff – zu zeigen, und haben es damit verdeckt. Hier muss
es versucht werden, auf das Ereignis als Ereignis hinzuweisen. Aber
es kann nicht so geschehen, dass wir jetzt das Ereignis als ein Gesche-
hen ohne Phänomen, als ein Auftreten des Phänomens ohne das Phä-
nomen thematisieren. Würden wir so vorgehen, würden wir das Er-
eignis vergegenständlichen – so, wie wenn man die Bewegung ohne
das, was sich bewegt, denkt. Das Ereignis würde sich dann in diesem
Fall in der Begrifflichkeit völlig auflösen. Das Ereignis ist ein Ereignis
von etwas. Man kann es nicht vom Phänomen trennen. Doch wenn

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

das Phänomen als eine Wesenheit gedacht wird, wird auch sein Er-
eignis als eine Wesenheit begriffen und somit verloren. Welche
Lösung bietet sich hier an? Solche, dass man das Ereignis als die Ge-
gebenheit nicht einer Wesenheit, sondern einer absoluten Singula-
rität zu beschreiben versuchte: einer Individuation, Einmaligkeit, Un-
wiederholbarkeit, die übrigens deswegen nicht mehr denkbar – also
kein Wesen – wäre. So stellt sich heraus, dass, wenn wir das Ereignis
durch das Phänomen zu denken versuchen, das Phänomen aufhört,
eine Wesenheit zu sein, zu etwas Undenkbaren wird und so endlich
als ein Ereignis gedacht werden kann. In der Tat macht das Ereignis
das Phänomen ereignishaft, aber nicht als eine Struktur einer Wesen-
heit, sondern als das Geschehen eines Phänomens, das nicht denkbar
ist, sondern eine absolute Singularität darstellt. Diese absolute Sin-
gularität ist nicht mehr von seinem Geschehen zu trennen: Sie ist das
Ereignis. Der indirekte Weg zum Ereignis führt also durch das Den-
ken einer absoluten Singularität. Nur so können wir denkerisch dem
Ereignis näher kommen, das – später begrifflich gedacht – die von uns
schon herausgearbeiteten Strukturen aufweist. Würden wir aber nur
die Strukturen eines Phänomens denken, würden wir nie verstehen,
was es zu einem Ereignis macht, was also seine Ereignishaftigkeit
ausmacht. Das Ereignis ist die absolute Singularität. Wir haben hier
mit einem »événement absolument unique« (DS, 40) zu tun.
Wie denkt Marion dieses absolut individuierte, singuläre, einzig-
artige und unwiederholbare Phänomen, das das Ereignis ist? Zuerst
genau so, dass es sich der Begrifflichkeit entzieht, dass es nicht das ist,
was der Begriff selektierend und verwandelnd sieht, was er vorher-
sieht und sogar verursacht, was er nachträglich nacherzählt und re-
produziert, wenn er die Ursachen aufgeklärt hat:
»Kommen Ereignisse aus unbekannter Ursache von sich her und ohne dass
ihnen etwas vorangeht, dann sind sie bleibend etwas Vorgefundenes und
absolut Einzigartiges. […] Es hat kaum Sinn, nach Kriterien zu fragen, die
es erlauben würde, Ereignisse zu identifizieren bzw. ihre Individualität zu
bestimmen. Deren Individualität bestimmt sich über die Ereignisse selbst.
Und es wäre als eine Widersinnigkeit einzuordnen, wollte man diese Kri-
terien in Ursachen ausfindig machen. Ereignisse werden nur dadurch indi-
viduell, dass sie sich auf Ursachen nicht reduzieren lassen.« (GS, 295/
ED, 240 f) 607

607 Dementsprechend können vom Begriff beherrschte Phänomene nie als individua-

lisiert gelten: »Daraus folgt, dass gemeinrechtliche Phänomene – ganz genauso wie

395

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

Doch die Phänomenologie erlaubt noch eine andere Beschreibungs-


weise der Singularität, nämlich durch den Zeitbegriff. In der Tat be-
schreibt Marion das Ereignis – das, was kein begrifflich geformtes
Objekt für das Denken darstellt, – als grundsätzlich zeitlich:
»[L]a temporalité opère originairement l’arrivage de l’incident selon son fait
accompli, sans raison ni cause, mais en imposant l’anamorphose; bref, elle
permet de comprendre la phénoménalité sur le mode d’événement, contre
toute objectivité, qui, au mieux, en devient un cas résiduel, provisoirement
permanent, illusoirement subsistant.« (DS, 48)
Wollen wir die möglichen Missverständnisse vermeiden: Die Zeit-
lichkeit bedeutet hier nicht die Ausgedehntheit in der Zeit. Diese In-
terpretation der Zeitlichkeit in Bezug auf das Ereignis könnte viel-
leicht dadurch provoziert werden, dass man das Ereignis als ein
Geschehen versteht. Dann würde das Ereignis durch die Zeitlichkeit
als ein anhaltender Prozess gedacht. Aber es ist ganz im Gegenteil:
Die Zeitlichkeit als Ausgedehntheit in der Zeit, d. h. Permanenz
(wenn auch vorläufige) und Beständigkeit (wenn auch illusorische)
betrifft das Objekt. Das Objekt geschieht in der Zeit, von einem Mo-
ment zum anderen. Das Objekt ist ein Geschehnis in dieser Bedeu-
tung. Das Ereignis dagegen ist das Geschehnis in dem Sinne, dass es
vergeht. Das Ereignis ist ein »Aktgeschehen« (acte) (GS, 116/ED,
89 f), aber als Vorübergehen:
»Sie [Gegebenheit – L. P.] tritt heran und erfüllt sich, kommt hinzu und
zieht vorüber, bricht auf und versenkt sich. Nicht besteht sie, nicht dauert
sie an, nicht zeigt sie sich oder lässt sie sich sehen.« (GS, 116/ED, 90) 608
Das Ereignis zeigt sich nicht und lässt sich nicht sehen, weil es kein
Objekt ist, das andauert. In Bezug auf das Ereignis hat man keine Zeit,
es zu sehen (und damit auch zu denken) – es ist schon längst weg. Das
Ereignis, das vorübergeht und gar nichts zeigt, nennt Marion ein »pu-
res Ereignis« (pur événement) (DS, 49). 609 In Bezug auf das, was nur

dürftige Phänomene sich streng genommen nicht individualisieren können.« (GS,


379/ED, 314)
608 Zum Vergehenscharakter des Ereignisses siehe auch: DS, 47 ff; CN, 249, 276, 285,

286, 287, 292. Um das Vorübergehen des Ereignisses zu bezeichnen, verwendet Mari-
on oft das Wort »se passer«.
609 Ein pures Ereignis ist nach Marion der Tod (DS, 48 ff). Man muss aber gleich hin-

zufügen, dass Marion ein Philosoph ist, der völlige Unsichtbarkeit niemals akzeptie-
ren wird. Nicht einfach deswegen, weil das absolut Unsichtbare außerhalb der Phäno-
menologie befindet, sondern deswegen, weil es wirklich keinen Sinn macht über ein

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

darin besteht, um zu vergehen, befinden wir uns immer in der »Ver-


spätung« (retard) – wenn wir endlich da sind, ist das Ereignis schon
vergangen:
»Dans le cas de l’événement, la compréhension arrive toujours en re-
tard […]. […] Avec l’événement du phénomène non objectif, nous nous
découvrons en fait toujours et d’emblée après son événement; car il appar-
tient à l’événement précisément de se passer, exactement de s’être dès le
début déjà passé, donc de nous avoir toujours dépassés; ainsi nous en s-
ommes encore à nous demander après coup, déjà trop tard, »que s’est-il
passé ?«, alors que tout s’est déjà passé.« (CN, 249) 610
Wenn die Zeitlichkeit das Ereignis als Nicht-Beständigkeit und Ver-
gehen, als immer schon vergangen konstituiert, welcher Zeitmodus
entspricht dem Ereignis? Natürlich die Gegenwart – das Jetzt:
»Le présent« – »lui seul échappe à l’objectité« (DS, 51). 611
Das Ereignis ist das Jetzt – es ist durch die »Augenblicklichkeit« (in-
stantané) (CN, 287) konstituiert. Aber nicht durch den Begriff des
Jetzt, der einen Punkt in der kontinuierlichen Linie der Zeit denkt,
sondern durch das Jetzt des Phänomens im Jetzt, also genau jetzt.
Ganz kurz gesagt: Das Ereignis ist das Jetzt des Ereignisses. Es ist der
einmalige, unvergleichbare und deswegen unwiederholbare 612 Au-
genblick, der jetzt vorübergeht. 613
Das, was vorübergeht, ohne zu einem Objekt konstituiert zu
werden, ohne ins Bewusstsein zu gelangen, ist das Jetzt (des Jetzt).
Als ein Jetzt des Jetzt gilt es als absolut individuiert: Es kann immer
nur dieses Jetzt sein. Weil es so ist, wäre es vielleicht falsch zu be-

Ereignis zu sprechen, das niemand erfährt. So ist der Tod zwar ein pures Ereignis, aber
die Geburt ist ein »perfektes Ereignis« (événement parfait) (DS, 50). Sie ist zwar auch
unsichtbar, aber sie löscht nicht das Bewusstsein aus und bleibt als eine Spur in jedem
weiteren Gegebene bestehen. Über die Geburt in diesem Zusammenhang siehe auch:
CN, 293 f, 298.
610
Die Verspätung: GS, 473 ff/ED, 396 ff; CN, 285, 286, 287, 288 f.
611 Die Gegenwart des Ereignisses beschreibt Levinas als »eine Vergangenheit, die

niemals Gegenwart war«. In der Tat ist diese Gegenwart auch bei Marion schon
immer vergangen, ohne sichtbar zu werden. Sie ist die Gegenwart, in Bezug worauf
das Bewusstsein, das das Gegebene sichtbar macht, zu spät kommt und die es nur als
vergangen bestimmen kann. Im gewissen Maß weist auch Heideggers Ereignis diese
Struktur auf, da es sich als der Anfang gleich nach dem Anfangen entzieht und für den
Betroffenen nur die Spur hinterlässt.
612 Zur Unwiederholbarkeit: GS, 295/ED, 240 f; DS, 40, 45; CN, 285.

613
Vgl. GS, 245 f/ED, 196 f.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

haupten, dass es die Zeit ist, die das Ereignis individuiert. Die Zeit in
ihrem Jetzt-Modus individuiert das Objekt, indem sie ihm die zeit-
liche Koordinate gibt. Aber das Verhältnis von Zeit und Ereignis ist
umgekehrt: Das momentane Vergehen des Ereignisses konstituiert
das Jetzt der Zeit. Wir wissen vom Jetzt der Zeit, weil das Ereignis
das Jetzt dieses Jetzt ist. 614 Das Ereignis ist nicht einfach ein singulärer
Punkt auf der Zeitlinie, der unwiederholbar ist. Es ist genau dadurch
individuiert, dass es – wie wir gesehen haben – nichts Objekthaftes an
sich hat und ereignishaft ist. Das Ereignis kann ein absolutes Jetzt, das
Jetzt des Jetzt, sein, weil es etwas Absolutes gibt – etwas, was abgelöst
von allen Beziehungen ist. Es gibt sich selbst außerhalb der Kontinui-
tät der Zeit und des Raumes, außerhalb des Geflechtes der Objekte
und Begriffe. Es ist unwiederholbar nicht deswegen, weil es eine Zeit-
koordinate aufweist, die nur einmal vorkommt, sondern weil es sich
nicht auf die Zeitachse des Koordinatensystems markieren lässt. Es ist
das absolute, abgelöste Jetzt, und deswegen unwiederholbar – auch
dann noch, wenn es sich tausendmal ereignen würde. Weil es sich
jedes Mal davon ablösen wird, was es als das bestimmen könnte, das
sich tausendmal schon wiederholt hat. Um dies zu veranschaulichen:
Wenn man seine eigene Hand kopiert, sind die gemachten Kopien alle
gleich. Eine Möglichkeit, sie von einander zu unterscheiden, ist den
Zeitpunkt zu bestimmen, wann jede von ihnen gemacht worden ist.
In der Tat sind sie alle in einem anderen Jetzt entstanden. Das Jetzt
des Objektes (der Kopie) wäre also die Anfertigungszeit der Kopie der

614 In der Tat ist das Jetzt das Ereignis: »Le présent surgit comme premier et le premier

advient à titre d’événement pur – imprévisible, irréversible, irrépétable comme tel,


aussitôt passé et dépourvu de cause ou de raison.« (DS, 51) Jedes Jetzt, d. h. jedes
Phänomen in einem Jetzt, d. h. jeder lebendige Augenblick ist ein Ereignis und ein
Ereignis ist der lebendige Augenblick. Es ist wichtig zu bemerken, dass die Zeit für
Marion keine Form der Erfahrung darstellt, die diese organisieren würde, sondern
grundsätzlich die erlebte Zeit ist, und diese erlebte Zeit wird als Ereignis, d. h. als der
Einbruch des nächsten Momentes erfahren. Erinnern wir uns daran, wie zum Beispiel
bei Heidegger die Zeit erfahren wird: durch den Tod. Denkt man an den eigenen Tod,
fühlt man die Zeit. Bei Levinas, Marion und Romano wird die Zeit wiederum anders
erfahren – dadurch, dass man sieht, wie der nächste Augenblick als unvorhersehbar
und andersartig in die Welt einbricht und sie fortsetzt. Die Zeit ist also bei Marion als
Ereignis strukturiert: »Ces déterminations renvoient évidemment toutes au temps,
que l’événement présuppose radicalement. Mais l’événement ne présuppose-t-il pas
le temps que comme l’une de ses composantes ou de ses conditions? Certes, non. Car le
temps lui-même advient le premier sur le mode d’un événement.« (DS, 50) Und auch
Romano – wie wir gesehen haben – stellt die These auf, dass das Ereignis nicht in der
Zeit ist, sondern die Zeit konstituiert.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

Hand. Das Ereignis ist aber weder die Hand selbst, noch die Kopie,
sondern die Berührung der Glasfläche, um zu kopieren. So ist sein
Jetzt nicht die Zeit, wann die Berührung gemacht worden ist, sondern
diese Berührung selbst. Die Zeit des Ereignisses ist nicht in der mess-
baren Zeit, sondern es ist selbst seine Zeit. Von dem, was in der Zeit
ist – von der Hand –, kann man tausende Kopien anfertigen, aber
keine von der Berührung selbst, die diese Kopien erst möglich ge-
macht hat. Diese Berührung ist aber das Ereignis. Wenn man seine
eigene Hand kopiert, macht man eine Kopie von der Hand, nicht aber
von der Berührung. Und genauso ist es mit dem Denken: Wenn man
denkt, denkt man Objekte, kopiert sie, was aber undenkbar bleibt, ist
die Berührung, die das Denken berührt hat, damit es denken ver-
möchte.
Einiges muss hier allerdings noch hinzugefügt werden. Erstens:
Wir haben einen Gedankengang vollzogen, indem wir fragten, wie
das Ereignis eigentlich zu denken ist. Wir haben gezeigt, dass es
weder als eine Wesenheit, noch als ein von der Wesenheit (vom Phä-
nomen) abstrahierter Prozess, noch als ein Geschehen einer Wesen-
heit überhaupt begreifbar ist, da es in allen diesen Fällen genau zu
dem gemacht wird, was es nicht ist, nämlich einem Objekt bzw. Denk-
objekt. Und wir sind dazu gekommen, dass das Ereignis das Ereignis
eines undenkbaren »Einzeldinges«, eines – phänomenologisch ge-
sprochen – erfüllten und erlebten Jetzt des Bewusstseinsstromes ist,
mit dem es zusammenfällt. Das Jetzt des Ereignisses ist das Ereignis
des Jetzt. Das Jetzt und das Ereignis sind absolut ein und dasselbe, hier
kann man nicht mehr das Gegebene von der Gegebenheit trennen.
Doch das, wie wir diesen Gedankengang vollzogen haben, lässt einen
falschen Eindruck entstehen, nämlich als ob wir denkerisch zur Mög-
lichkeit gekommen wären, wie das Ereignis zu beschreiben ist. Eine
solche Ansicht würde die Ordnung der Sache völlig verdrehen und
sogar im Widerspruch zu dem ganzen Projekt einer Ereignisphiloso-
phie stehen, weil sie impliziert, dass es das Denken ist, das das Ereig-
nis entdeckt (also gibt) und sein Geschehen (Gegebenheit) entfalten
lässt. Aber es ist ganz umgekehrt: Das Ereignis gibt sich der Philoso-
phie und zwingt die Beschreibungsweise auf, die ihm philosophisch
entspricht. Die Philosophie folgt dem Ereignis (sowohl zeitlich als
auch im Sinne, dass sie den Anweisungen des Ereignisses folgt) und
in diesem Sinne (aber zuerst nur in diesem Sinne) ist sie eine Phäno-
menologie und nicht eine (ontologische) Theorie, die ausgehend von
irgendwelchen Axiomen, die vor dem zu erkennenden Gegenstand da

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

sind, mittels des logischen Schließens zu weiteren Thesen kommt, die


voll und ganz aus dem Denken selbst entstehen.
Zweitens: Wir sind zur Einsicht gekommen, dass das Ereignis
das Jetzt des Jetzt ist. Wir fassen dies als die Grundstruktur des Ereig-
nisses auf und nur durch sie sind alle weiteren seine Strukturen ver-
ständlich. Seine Selbst-Gegebenheit ist sein unvorhersehbares, un-
mögliches Auftauchen und seine vollendete Tatsache im Jetzt des
Bewusstseins, die es nur als schon gegebene empfangen kann. Seine
lebendige Fülle entzieht sich jedem Begriff bzw. sättigt ihn. Und es ist
nur ein Augenblick, der immer schon vergangen ist, wenn das Be-
wusstsein kommt. Doch es lässt sich fragen: Erklärt wirklich unsere
Bestimmung des Ereignisses als Jetzt die anderen Strukturen, seine
Logik? Anders gefragt: Haben wir mit der Bestimmung des Ereignis-
ses als Jetzt das erreicht, was wir wollten, nämlich das Ereignis? Na-
türlich nicht. Erinnern wir uns an die Argumentation bezüglich des
Anderen bei Levinas – es reicht niemals zu sagen, dass der Andere das
absolut Andere des Begriffes ist, weil auch dieser Gedanke den Ande-
ren schon begrifflich gefasst hat. Der Andere ist außerhalb des Den-
kens, in der Nähe. Er ist niemals hier – hier, wo sich jetzt unsere
Gedanken befinden. Und mit dem Ereignis ist es genauso – es reicht
niemals zu sagen, dass das Ereignis das Jetzt ist. Es ist nicht das Jetzt,
das wir als Jetzt erfahren und denken, sondern genau dieses Jetzt.
Jetzt. Das was jetzt war.
Drittens: Es kann eigentlich kein Zweifel daran bestehen, dass
für Marion die Philosophie des Ereignisses eine Phänomenologie ist.
Das Ereignis ist das gesättigte Phänomen, das die Aufgabe der Phäno-
menologie ist. Und wie Marion das richtig sieht, überschreitet das
gesättigte Phänomen die Grenzen der Phänomenologie nicht, wenn
es auch kein objekthaftes Phänomen ist – es erweitert sie bis zu der
Fülle der Gegebenheit. Die Situation wird aber anders, wenn wir das
Ereignis als das Jetzt bestimmen. Erstens: Natürlich wird das Ereignis
als das charakterisiert, das die Einschränkungen jedes Begriffes auf-
sprengt, indem es mehr gibt, als der Begriff begreifen kann. Aber als
ein Phänomen ist es immer noch ein Etwas: eine Erscheinung für das
Bewusstsein. Doch Marion bleibt nicht dabei. Durch die Bestimmung
des Ereignisses als das Hier und Jetzt des Erlebnisses behauptet er
nicht einfach, dass das Ereignis mehr gibt, als der Begriff begreifen
kann – er behauptet, dass das Ereignis absolut anders als der Begriff
gibt, dass es überhaupt kein etwas ist, dass es von allen Beziehungen
abgelöst ist. Und dies bedeutet, dass das Ereignis für Marion eigent-

400

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

lich kein Phänomen ist. Diese Behauptung, die wir hier wagen, wird
besonders dadurch verstärkt, dass Marion den Unsichtbarkeits- und
Vorübergehenscharakter des Ereignisses behauptet. Das Ereignis ver-
geht, ohne ins Bewusstsein zu gelangen, also ohne zum Phänomen zu
werden. Es ist unsichtbar. Es erscheint nicht als unsichtbar (nicht-
objekthaft) – es ist unsichtbar. Und wir können nur fragen, wie eine
Erscheinung (Phänomen) unsichtbar sein sollte. Hier wird – so unsere
Vermutung – etwas außerhalb des Phänomens behauptet, nämlich
das Ereignis. Man kann natürlich einwenden und sagen, dass die
Sichtbarkeit nur durch den Begriff möglich ist, und wenn etwas mehr
ist als ein durch den Begriff konstituiertes Objekt, dann kann es als
unsichtbar klassifiziert werden. Es ist dann unsichtbar für den Be-
griff, aber nicht für das Bewusstsein, für den passiven Empfänger,
weswegen es sich hier nicht um eine ontologische Unsichtbarkeit
handelt. In der Tat ist auch das Nicht-Gegenständliche, im passiven
Bewusstsein Gegebene, für Marion das Sichtbare, sogar der Exzess an
Sichtbaren. Und trotzdem behauptet er, dass das Ereignis vergeht,
ohne sichtbar zu werden. Wir schließen daraus, dass Marion sehr
gerne möchte, dass das Ereignis als ein Phänomen ein Thema der
Phänomenologie wäre, aber, indem er als ein Phänomenologe ganz
ehrlich das Ereignis beschreibt, kann er es nicht ohne Rest in die Phä-
nomenologie hineinzwingen. Das Ereignis als das Jetzt des Ereignis-
ses erreicht nicht das Bewusstsein – es schwingt irgendwo draußen.

8. Die Erfahrung der Zeit im Ereignis

Das, was das Ereignis an sich ist, nämlich das Ereignis des Ereignisses,
das Jetzt des Jetzt, ist – wie wir es einsehen – nicht das, was wir er-
fahren, was wir denken können. Es ist das absolut andere der Kopie,
mit der das Denken und die Kommunikation arbeiten. Doch wir he-
ben hier auch nicht den Anspruch, das Ereignis einholen zu können.
Ganz im Gegenteil: Wir behaupten diese Uneinholbarkeit. Doch es ist
auch genügend interessant, die Spuren des Ereignisses im Denken zu
untersuchen. Und wir möchten uns in diesem Abschnitt der zeit-
lichen Dimension der Erfahrung des Ereignisses zuwenden, so wie
sie in Marions Philosophie beschrieben wird.
Erstens: »Der Vergangenheit entsprechend« (selon le passé) (DS,
39) weist das Ereignis die Struktur des »schon« (déjà) (DS, 40) auf:

401

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

»Car, en tant que toujours déjà là, disponible à notre entrée et notre usage,
cette salle 615 s’impose à nous comme préalable à nous, étant sans nous,
quoique pour nous, qui donc surgit à notre vue comme un fait inattendu,
imprévisible, venant d’un passé incontrôlable. […] elle s’impose à moi en
m’apparaissant; j’y entre moins qu’elle ne m’advient d’elle-même, m’en-
globe et m’en impose. Ce ›déjà‹ atteste l’événement.« (DS, 39 f)
Das bedeutet: Wenn man dem Ereignis begegnet, ist es immer die
Erfahrung, als ob das, dem man begegnet, schon vor mir da war. Ich
weiß immer, dass es nicht mit mir entstanden ist. Durch dieses
»Schon« bestätigt das Ereignis sein Sich, seine Andersheit gegenüber
dem Ich, sein »Anderswo«. In Bezug auf das, was in der Welt vor-
kommt, ist es leicht sich vorzustellen, dass etwas schon da war, bevor
ich ihm begegne. Aber man muss auch festhalten, dass dies auch in
Bezug auf das gilt, was zum ersten Mal – als das Unmögliche – in die
Welt kommt, da das radikale Ereignis eigentlich der Welt etwas Neues
hinzufügt. Es kann ein wenig widersprüchlich erscheinen, dass das
Neue, das nicht vorher war und sogar völlig unvorhersehbar eintritt,
die Struktur des Schon aufweist. Und doch weist es diese Struktur
auf. Obwohl der Ruf, das Ansprechen des gesättigten Phänomens erst
durch mich hörbar wird (wir werden noch zu diesem Thema zurück-
kommen), klingt er so, als ob er vor mir, vor meinem Hören mich
schon gerufen hat. Doch trotz dieser Struktur des Phänomens macht
die Phänomenologie keinen Schluss auf das ontologische Vor-Sein
dessen, was ruft, was anspricht. Sie vermutet keine »parallele Welt«,
die dann irgendwann mich erreicht, sie – wie Marion das immer be-
tont – vermutet keinen Geber außerhalb der Gegebenheit des Phäno-
mens selbst. Dieses Schon ist dem Phänomen intrinsisch, es sagt
nichts über seine ontologische Beschaffenheit aus – eine solche Aus-
sage würde die Überschreitung der phänomenologischen Einstellung
bedeuten.
Zweitens: »Der Gegenwart entsprechend« (selon le présent)
(DS, 40) hat das Ereignis die Struktur des »dieses Mal, ein für alle-
mal« (cette fois, une fois pour toutes) (DS, 41). Das Ereignis gibt sich
als solches, das seine Gegebenheit hier und jetzt bestätigt – es ist
gegeben, es ist für immer gegeben so, wie es jetzt gegeben ist. Das

615
Die Rede ist von La Salle des Actes, in der dieser Vortrag über das Ereignis ge-
halten wurde. Marion verwendet dieses Beispiel, um die Strukturen des Ereignisses zu
veranschaulichen.

402

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

Ereignis vermittelt nicht die Erfahrung eines »ewigen« Objekts, das


man jederzeit und überall und in jedem Denkenden wiederholen
kann, sondern die Erfahrung dieses unvergleichlichen Moments:
»Car il ne s’agit plus de la Salle des Actes en tant que telle, en général, telle
qu’elle subsisterait, dans sa vacuité indifférente, entre telle ou telle occasion
de la remplir d’un public indifférencié. Il s’agit de cette Salle ce soir, remplie
pour telle occasion, entendre tels orateurs, sur tel thème. […] Le ›cette fois,
une fois pour toutes‹ atteste donc aussi le soi du phénomène.« (DS, 40–41)
Dieses Jetzt – wie wir das schon ahnen können – wird als vollendete
Tatsache erfahren, als Bestätigung, dass das Ereignis sich selbst gege-
ben hat und uns mit dieser Gegebenheit hier und jetzt konfrontiert.
Es geht um die Erfahrung einer von sich aus vollendeten Gegenwart.
Drittens: »In der Zukunft« (au futur) (DS, 41) zeigt die Ereignis-
haftigkeit die Struktur des »ohne Ende« (sans fin) (DS, 41 f):
»Enfin, au futur, aucun témoin, aussi instruit, attentif et documenté soit-il,
ne pourra, même après coup, décrire ce qui se passe à l’instant présent. […]
Une telle herméneutique devrait se déployer sans fin et en un réseau indé-
fini. Aucune constitution d’objet, exhaustive et répétable, ne saurait avoir
ici lieu. Par conséquent le »sans fin« atteste que l’événement advint à partir
de lui-même, que sa phénoménalité surgissait du soi de sa donation.«
(DS, 41 f)
Diese These kann folgendermaßen interpretiert werden: Die Gegen-
wart gibt kein Objekt, ihr vollendetes Faktum hat tausende von Di-
mensionen. Und wir sind mittendrin im Geschehnis, ein Teil davon.
Die Gegenwart steht uns nicht gegenüber, sondern wir sind in ihr. Zu
jeder solchen Gegenwart kommen wir mit unserer Begrifflichkeit und
Reflexion zu spät – wir befinden uns also stets im zukünftigen Mo-
ment hinsichtlich des gegenwärtigen Ereignisses. In diesem zukünf-
tigen Moment stellen wir fest, dass das Ereignis mehr gegeben hat, als
wir je begreifen können. Und wir wissen, dass mit der Gegenwart, zu
der wir zu spät kommen, eine unendliche Zukunft entworfen wird:
die Zukunft, in der wir versuchen werden, das, was geschehen ist, zu
begreifen. Das Ereignis gibt uns die Zukunft, in der wir uns dem
nähern werden, was sich in einer uneinholbaren Vergangenheit er-
eignete. Wenn das Ereignis kommt, sind wir nicht nur von einer aus
sich kommenden Vergangenheit überrascht, befinden wir uns nicht
nur verstrickt in einem absoluten Jetzt ohne Reflexion, sondern er-

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

fahren auch, wie dadurch unsere eigene Zukunft durch das »ohne
Ende« des Ereignisses entworfen wird. 616

9. Das Ereignis und die Geschichte

Etwas hat sich mit uns ereignet, sonst wären wir nicht da, wo wir
sind. Etwas ereignet sich jetzt, zu dem wir allerdings zu spät kommen.
Und es ist möglich, dass sich etwas wieder ereignen wird: völlig an-
dersartig und völlig unvorhersehbar. Doch denken wir zunächst über
dasjenige ursprüngliche Ereignis nach, aus dem jeder von uns kommt.
Dieses Ereignis kann man unterschiedlich denken: eine Möglichkeit
ist die Geburt. Hätte es meine Geburt nicht gegeben, wäre ich nicht
hier. Vor der Geburt war ich nicht seiend, ich war unsichtbar, in der
Welt, so wie sie war, versteckt (konkret gesprochen, im Bauch eines
anderen Menschen). Durch das Ereignis der Geburt wurde ich in die
Welt gestoßen. Damit hat sich die Welt verändert: zuerst die Welt
meiner Eltern, aber auch die Welt überhaupt. Mit meiner Geburt
kam der Welt etwas Neues, noch nie Gewesenes hinzu, eine neue
Möglichkeit. Und genau wie die Geburt müssen wir das Ereignis
überhaupt verstehen: Es ist der Stoß, mit dem in die Welt (meine
Welt, unsere Welt, gemeinsame Welt) etwas Neues, eine neue Mög-
lichkeit hineingestoßen wird, die den Horizont der Welt erweitert. Es
ist der Anfang einer neuen Situation:
»Da Ereignisse ja über die vorauslaufende Situation hinausschießen, schrei-
ben sie sich dieser nicht nur nicht ein, sondern sie definieren, wenn sie sich
einstellen, eine Situation neu, sei es partiell oder vollständig anders. Weil
Ereignisse nie noch einmal von vorne anfangen, bilden sie den Neuanfang
zu einer Phänomenreihe, wobei frühere Phänomene – nicht ohne Gewalt,
aber mit dem den Ereignissen eigenen Recht, Horizonte eröffnen zu dürfen
– neu ausgerichtet werden.« (GS, 297/ED, 242) 617

616 Diese Erfahrungen der Zeit im Ereignis arbeitet Marion erstmals im Aufsatz

L’événement, le phénomène et le révélé (Transversalité. Revue de l’Institut Catholi-


que de Paris, 70 (1999), S. 4–25) heraus. In Étant donné finden wir erst ein kleines
Samenkorn zur Entwicklung dieses Gedankens: »Es geht um Ereignisse bzw. um (von
der Vergangenheit aus) nicht vorhersehbare, um (von der Gegenwart aus) nicht aus-
schöpfend verstehbare, um (in Zukunft) nicht reproduzierbare Phänomene, kurz ge-
sagt: es geht um absolute, einzigartige, herantretende (§ 17) Phänomene. Man kann
auch sagen: reine Ereignisse.« (GS, 352/ED, 290)
617
Siehe auch: GS/ED, 224/177, 297/242; RC, 270 f. Dass das Ereignis neue Möglich-

404

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

Doch man darf nicht verwechseln: Das Ereignis ist nicht das neue
Gegebene in der Welt, zum Beispiel ich als Körper und Person, mein
Gesagtes und meine Handlungen oder ein Kunstwerk, eine neue
Theorie über die Welt, ein neues Gesetz als Folge von bestimmten
sozialen Ereignissen etc., sondern die Gegebenheit dieses Gegebenen,
der Moment seines Einbruchs, der Moment, in dem dies alles möglich
wird: möglich in dem Sinne, dass es ab jetzt für die Welt möglich ist,
also zu ihr gehört. Das Ereignis ist also nicht ein Gegebenes, ein
Bestand der Welt, sondern – wie wir das schon gesehen haben – etwas,
was außerhalb von οὐσία ist, ein Vergehen, ein Anfangen und
Vorübergehen. Und weil es das ist, was sich jedem Wesen entzieht,
ist es uneinholbar für die Erinnerung und für das Denken überhaupt.
Was uns bleibt, ist das Gegebene. Das Verhältnis zwischen dem Er-
eignis, das nicht zur Welt gehört, sondern in sie einbricht, und dem
Gegebenen, das in der Welt bleibt, kann unterschiedlich beschrieben
werden. Wir haben zum Beispiel bei Heidegger gesehen, dass das Er-
eignis als Anfang, der sich sofort entzieht, ein Zeitalter auslöst. Es ist
also der Anfang einer Geschichte, eines Zeitlaufes einer Menschheit,
innerhalb dessen alles Gegebene sich in einem vom Ereignis be-
stimmten Horizont verwerklicht. Ein Zeitalter ist deswegen ein, weil
in ihm nur bestimmte Möglichkeiten realisiert werden können. Man
ist immer in einem Horizont der Möglichkeiten, man ist nie jenseits
einer Welt. Und es ist das Ereignis, dass diese Welt initiiert. Levinas
fasst diese Relation vor allem durch das Konzept der Spur – das Er-
eignis hinterlässt eine Spur, die sichtbar ist, die also etwas mit dem
Objekthaften und Begreifbaren zu tun hat, obwohl sie auch immer
auf ihren unsichtbaren Ursprung hinweist, weswegen es nie als Phä-
nomen, ein objekthaftes Phänomen begriffen werden kann. Die Be-
gegnung mit dem Anderen hinterlässt zum Beispiel das Ethische im
Sinne des Sich-für-den-Anderen-Einsetzens. Das Ethische, das alles,
was ich ab jetzt für den Anderen tue, ist etwas, was man in der Welt
sehen kann, wofür man ein Gesetzt formulieren kann, aber es ist die
Spur eines ursprünglichen und unsichtbaren Ereignisses, wovon man
nichts weiß, außer dass es diese Spur hinterlassen hat.
In Marions Phänomenologie haben wir zuerst mit dem Begriffs-
paar von Gegebenheit (Ereignis) und Gegebenen zu tun. Wir haben

keiten eröffnet, ist eins der wesentlichen Merkmale, durch das sowohl Badiou im
Werk L’être et l’événement (1988) als auch Romano in seinem Werk L’événement et
le monde (1998) das Ereignis charakterisieren.

405

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

aber schon gesehen, dass eine solche Unterscheidung nur analytisch


möglich ist und eigentlich – wenn man das Ereignis verstehen möchte
– gar nicht gemacht werden darf, weil die Gegebenheit in diesem Fall
zu einem Gegebenen gemacht wird. Sie muss immer als die Entfal-
tung des Gegebenen gedacht werden, das dadurch wiederum auf sein
ereignishaftes Jetzt zurückgeführt und als undenkbar eingestuft wird.
Das Ereignis ist das Ereignis des Ereignishaften, das sich nur ent-
ziehen kann – es ist immer schon vorbei. In der Tat bestätigen auch
Heidegger und Levinas diese Struktur des Ereignisses. Aber weder bei
ihnen noch bei Marion ist dies das letzte Wort. Das Ereignis ver-
schwindet nie ganz, als ob es nie gewesen wäre. Es hinterlässt ein
Gegebenes, das bleibt. Wenn das Ereignis nichts hinterlassen würde,
könnten wir überhaupt nicht anfangen, über es zu sprechen und sogar
irgendwelche Strukturen seiner Logik herauszuarbeiten. Ein Ge-
gebenes zu hinterlassen, gehört grundsätzlich zu seiner Logik. Und
die Frage ist also, in welchem Verhältnis das Gegebene zum Ereignis,
das es in die Welt hineingestoßen hat, steht. Das ist die Frage danach,
wie dieses Gegebene beschaffen ist, da das Ereignis als Anfang dieses
Gegebenen unzugänglich bleibt. Dies ist nicht mehr die Frage nach
den Strukturen des Gegebenen als Ereignis, die wir bisher gestellt
haben, sondern die Frage nach dem Gegebenen, insofern wir zur Ein-
sicht gekommen sind, dass das Ereignis geschichtlich und denkerisch
uneinholbar ist.
Das Verhältnis zwischen dem Ereignis und dem, was es hinter-
lässt, beschreibt Marion durch das Begriffspaar von »Ruf« (appel)
und »Antwort« (répons) 618, die sich als eine »endlose Hermeneutik«
(herméneutique sans fin) vollzieht. Oder auch umgekehrt: Die Her-
meneutik vollzieht sich als die Antwort auf den Ruf:
»Ainsi l’herméneutique dépend de la structure de question et de réponse 619,
c’est-à-dire de la structure de l’appel et de la réponse, donc de la structure du

618
Bezüglich der Struktur Ruf-Antwort im Ereignis spricht Marion auch statt von
réponse von répons, das Thomas Alferi als Responsum übersetzt: »Eine solche Ant-
wort, bei dem die Sichtbarkeit eröffnet und dem Ruf das Wort erteilt wird, eine solche
Antwort, das dieses Rufen zu einem Phänomen macht, anstatt ihm mit einer Wider-
rede zu begegnen und es dadurch herabzustufen, nennen wir Responsum.« (GS, 475/
ED, 397) Siehe auch unsere Überlegungen im Abschnitt 6.5.
619 Marion bezieht sich hier auf Gadamer, der den hermeneutischen Prozess als durch

die Frage-Antwort-Struktur konstituiert gesehen hat: Hans-Georg Gadamer: Wahr-


heit und Methode (1960), Teil II, Abschnitt 2, Punkt 3, β: Die Logik von Frage und
Antwort.

406

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

donné articulé sur le visible: l’herméneutique elle-même constitue un cas


du jeu entre se donne et ce qui se montre, entre l’appel du donné et la
réponse (par le sens) de ce qui s’y montre. D’où cette première thèse: l’her-
méneutique doit s’entendre suivant l’entente du donné, sous les figures de
l’appel et de la réponse. Loin que l’herméneutique outrepasse la donation ou
s’y substitue, elle s’y déploie, presque comme un cas particulier du rapport
originel entre ce qui se donne et ce qui se montre.« (GH, 44 f) 620
Daraus können wir Folgendes entnehmen: Das Ereignis gibt sich (und
es erschöpft sich nicht in der Sichtbarkeit) und das, was es hinterlässt,
ist das, was sich zeigt: das, was wir sehen können, wenn das auch kein
Objekt ist. Die Hermeneutik ist das Verhältnis zwischen diesen bei-
den Aspekten des Phänomens, nämlich seinem unsichtbaren Ereignis
und der sichtbaren Spur, die es hinterlässt. Sie ist der Prozess, in dem
das unsichtbare Gegebene manifestiert, »verstanden« wird, wenn
man so will. Das Gegebene ruft und das Sichtbare antwortet, indem
es diesen Ruf sichtbar macht. Und dieser Prozess ist für Marion her-
meneutisch. Aber ist es nicht ungewöhnlich, dass man die Herme-
neutik nicht dem menschlichen Dasein zuschreibt, das die Welt bzw.
den Text versteht, wie das bei Heidegger und Gadamer der Fall ist,
sondern dem, was dem Menschen gegeben ist? Aber man muss ein-
fach beachten, dass es in Marions Phänomenologie der adonné ist, der
als ein Bildschirm das Gegebene auffängt und in die Sichtbarkeit ver-
wandelt. Also man könnte auch sagen, dass die Hermeneutik der Pro-
zess ist, in dem der adonné das unsichtbare Gegebene versteht. Und

620 Dieses Zitat stammt aus einem sehr polemischen Text (nämlich dem zweisprachig

(französisch – amerikanisch) 2013 erschienenen Givenness and Hermeneutics), in


dem Marion sich mit der Kritik gegen sein Konzept der Hermeneutik auseinander-
setzt. Die Aufgabe dieses Textes ist zu zeigen, dass die Hermeneutik – nämlich die
Auslegung des Gegebenen – doch eine Rolle in der »Konstitution« des Phänomens
spielt und dass wir hier nicht mit einer nahezu realistischen These zu tun haben, dass
es so etwas wie bloße, nicht interpretierte Gegebenheiten gibt, die sich also aus-
schließlich selbst geben. Schon in dem angegebenen Zitat von Marion sehen wir, dass
die Phänomenalität bei Marion ohne Hermeneutik nicht auskommen kann. Aber er
kann niemals behaupten, dass das Gegebene von einer Interpretation abhängt und
durch und durch von ihr beherrscht wird. Wenn er dies behaupten würde, würde er
die Andersheit des Gegebenen völlig aufgeben. Das Gegebene ist nicht das, was wir
von ihm denken. Deswegen nimmt Marion die Position ein, dass die Hermeneutik ein
dem Phänomen selbst immanenter Prozess ist – es interpretiert sich selbst, was das
»Sich-Zeigen« auch eigentlich bedeutet. Es geht um eine »Interpretation«, die das
Phänomen in uns und für uns vollzieht. Das Phänomen ist interpretiert (es ist nicht
»rein«), aber es ist von ihm selbst interpretiert (siehe: GH, 40 f) und bleibt so frei von
unserer Willkür, obwohl nicht vollständig.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

trotzdem ist es sehr wichtig festzuhalten, dass es hier in derselben


Zeit um einen Prozess innerhalb des Ereignisses geht, weil der Emp-
fänger das Empfangene zwar auslegt, versteht, sichtbar macht, aber
seine Auslegung konstituiert es nicht: das Gegebene manifestiert sich
selbst durch den adonné. Dies ist Marions Antwort auf den Vorwurf,
der ihm (nicht aber zum Beispiel Romano, der grundsätzlich eine
hermeneutische Phänomenologie vertritt) gemacht worden ist, näm-
lich, dass er die Gegebenheit »reiner«, nicht hermeneutisch ausgeleg-
ten Phänomene behaupte, indem er den »Rest« an der Andersheit in
der Erfahrung behält, der außer der Erfahrung ist. Nun wir sehen,
dass es nichts außer der Erfahrung, des Verstehens, der Hermeneutik
ist, aber nicht alle Erfahrung kann begriffen werden, was heißt, dass
es eine Auslegung gibt, die der adonné nicht beherrscht. Es gibt keine
reinen Phänomene, was aber nicht heißt, dass die ausgelegten Phäno-
mene vom adonné ausgelegt sind. Und es ist dieser kleine Zwischen-
raum, wo man noch die Andersheit des Anderen verorten kann, näm-
lich in einer Erfahrung ohne Erfahrung.
Die Antwort holt also das Gegebene nie ein, obwohl es gesagt
wird, dass es sich in ihr selbst manifestiert. Eine Antwort, das Zeigen,
eine restlose Übersetzung in die Bedeutung würde die Andersheit des
Rufes, der Gegebenheit, die Saturierung des Absoluten annullieren.
Unsere Behauptung, dass das Gegebene unerreichbar bleibt, findet
eine mehrfache Bestätigung in Marions Texten. Zum Beispiel darin,
dass der Ruf die »Anonymität« (anonymat) behält:
»Dem Ruf ist wesenhaft und prinzipiell zu eigen […], dass er sich gibt, ohne
seinen Namen anzugeben.« (GS, 489/ED, 409)
»Ein Ruf, der seinen Namen sagen würde, riefe nicht mehr, sondern er
würde den Rufenden in Szene setzen, ihn zurückführen auf die bloße Sicht-
barkeit desjenigen, der die Welt besetzt, er würde einfach seine Stimme in
einem Schauspiel von Evidenz ersticken lassen.« (GS, 493/ED, 413) 621
Man kann nie sagen, was sich eigentlich ereignet hat, obwohl man
mit etwas Sichtbarem zu tun hat. Würde aber das Ereignis sich wirk-
lich in der Welt zeigen, hörte es auf, ein Ereignis zu sein, es würde
seine radikale Andersheit verlieren. Es ist immer etwas, was nicht zu
dieser Welt gehört. Die Unerreichbarkeit des Gegebenen wird auch
darin behauptet, dass im Falle eines Ereignisses wir nicht mit zwei
Sachen zu tun haben, nämlich mit dem anonymen Ruf und seiner

621
Siehe: GS, 499 ff/ED, 408 ff.

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

Auslegung in der Antwort, von denen der Ruf eine unsichtbare und
die Antwort eine sichtbare Sache wäre. Der Ruf ist keine unsichtbare
Sache – der Begriff einer »unsichtbaren Sache« ist schon an sich
widersprüchlich, da die Sache das Sichtbare schlechthin ist. Weil der
Ruf keine Sache ist, ist er eigentlich nicht. So kann man ihn nicht
fassen. Wir haben (im Sinne des Besitzes) nur das Sichtbare. Es gibt
nur die Antwort. Man weiß etwas vom Ruf ausschließlich durch die
Antwort, die nicht er ist, sondern nur seine Erscheinung:
»Den Phänomenen zuvor ist nichts zu sehen bzw. vorherzusehen. Das Re-
sponsum sieht also nichts, bevor es sich diesem nicht hingibt.« (GS, 500/ED,
419) 622
Wenn es nur die Antwort, die Spur, das Phänomen gibt, dann müssen
wir – erstens – einsehen, dass das Ereignis immer das Ereignis der
Spur ist. Wir haben diese These in der Herausarbeitung der Struk-
turen des Ereignisses bei Levinas entwickelt und sie bestätigt sich
auch hier: das Ereignis des Rufes ist das Ereignis der Antwort. Es gibt
keinen unerreichbaren Ruf, der sich als eine Sache, eine Aussage oder
wie auch immer ereignen würde. Er ist das Geschehnis der Antwort.
Aber – und das ist das Paradoxe hier – die Antwort ist immer eine
solche, als ob sie nicht das Letzte, das Ganze, das Einzige wäre. Sie als
Ereignis verweist immer auf eine Andersheit, auf etwas, was sie nicht
ist, sie gibt etwas Unbegreifliches. Mit anderen Worten: Es gibt kei-
nen Ruf vor der Antwort, er ist in der Antwort, aber er ist in der
Antwort und er ist in ihr, als ob es ihn schon immer gegeben hat, als
ob er vor der Antwort als das Erste vor ihr war. Wir müssen also
einsehen,
»dass sich der Ruf – phänomenologisch gesehen – nur dann gibt, wenn er
sich zuerst in einer Antwort zeigt. Die Antwort, die nach dem Ruf gegeben
wird, zeigt diesen gleichwohl als Erstes« (GS, 470/ED, 470).
Der Ruf ist der Antwort immanent und doch verweist sie auf ein
Anderswo. Wie Levinas dies beschreibt: Die Spur bedeutet nur sich
selbst, aber sie bedeutet auch das Andere. Dies ist ohne Zweifel eine
paradoxe Situation. Und dieses Paradox kann man nicht so auflösen,
dass man das Andere auf das Selbe reduziert, indem man sagt, dass
diese Andersheit nur als Andersheit erscheint, ist aber nur ein Kon-

622
Siehe auch: GS/ED, 472/395, 473/396, 503/422. Dass »der Anruf [erst] in der Ant-
wort verstehbar wird […],« hat schon Levinas behauptet. Marion zitiert Levinas dies-
bezüglich in: GS, 473/ED, 396.

409

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

strukt des Bewusstseins. Der Punkt ist, dass diese Andersheit nicht
nur ein Schein ist, sie ist nicht nur, »als ob« es sie gäbe. Sie kann nicht
auf das solipsistische Bewusstsein reduziert werden. Wenn die An-
dersheit auf das Bewusstsein reduzierbar wäre, hätte es dies schon
längst getan, und wir müssten hier nicht darüber noch etwas schrei-
ben. Die Andersheit wird nicht konstituiert, aber die Phänomenologie
macht auch keinen Schluss auf die ontologische Existenz dieser An-
dersheit. Obwohl man auch fragen könnte, ob die Weigerung, das
Konstituiert-Werden des Anderen anzuerkennen, nicht schon diese
ontologische Annahme enthält? Und wenn sie diese nicht enthält,
welchen Status hat dann das Andere überhaupt?
Wenn es nur die Antwort gibt, sodass der Ruf sich völlig entzie-
hen kann, müssen wir – zweitens – eingestehen, dass die Antwort nur
unsere Auslegung des Ereignisses ist. »Nur Auslegung« nicht im Sin-
ne einer Willkürlichkeit, sondern der Unmöglichkeit das Unbegreif-
liche zu begreifen, auch wenn es sich zeigt und auch wenn wir dem,
was sich zeigt, gehorsam folgen. Auch Levinas – wie wir gesehen
haben – hat die Schlussfolgerung gezogen, dass die Antwort nur
»mein eigenes Wort ist«. Und was auf den ersten Blick als die Schwä-
chung des Anspruches unserer Auslegung des Ereignisses aussieht,
ist eigentlich unsere Rettung vor uns selbst. Das Ereignis rettet uns
vor uns selbst, indem es alles Gegebene, das es hinterlässt, als etwas
von uns Geschaffenes aussehen lässt, während es selbst unbegreiflich
bleibt. Wenn das so nicht wäre, wenn wir den Anspruch auf die letzte
und richtige Auslegung des Ereignisses erheben könnten, da es doch
in der Tat sich selbst zeigt, würden wir damit, erstens, eine gefähr-
liche Ideologie erzeugen und, zweitens, uns von der Verantwortung
für die Worte und Taten innerhalb dieser Ideologie lösen. Weil aber
wir wissen, dass wir nichts wissen, sind wir vorsichtig, wenn wir eine
Behauptung aufstellen, wir wissen, dass wir immer selbst dafür ver-
antwortlich sind, was wir im Namen einer Offenbarung sagen oder
tun. Das Ereignis offenbart nie eine Ideologie und es sagt auch dies: Es
zeigt, dass es dies nicht macht. Und wenn jemand in seinen Worten
und Taten sich auf eine Offenbarung beruft, die ihn dies oder das
machen lässt, so beruft er sich nie auf eine Offenbarung, sondern
nur auf sich selbst. So kann er auch nicht die Verantwortung auf die
Offenbarung verschieben und sich durch sie rechtfertigen. Das Ereig-
nis nimmt dem Menschen die Verantwortung nicht ab, sondern för-
dert sie. Nicht die Offenbarung kann die Welt gefährden, sondern nur
die Menschen, die denken, dass sie die absolute Wahrheit erreicht

410

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

haben. Es ist genau das Ereignis, das die Möglichkeit gibt, sich vor den
falschen Offenbarungen zu retten, weil es die Freiheit von uns selbst
gibt, indem es immer das Andere irgendwo erahnen lässt. Das Ereig-
nis gibt nicht nur neue Möglichkeiten für die Welt, sondern, indem es
die Spuren hinterlässt, die allerdings nicht zu ihm führen, auch die
Freiheit der Möglichkeiten, die sich ihrerseits nicht in einer festen, in
einer für allemal bestimmten, unveränderlichen Ordnung des Gege-
benen (der Antwort) realisiert, sondern sich in der Geschichte der
verschiedenen Ordnungen erfüllt. Die Geschichte, die Veränderung
entsteht durch die Antwort auf das Ereignis, die sich ständig fortsetzt,
die sich immer korrigiert. Das Ereignis mit seinem Ruf, der eine sich
ständig ändernde Antwort fordert, gibt die Geschichte:
»Es [Responsum – L. P.] allein beginnt ja damit, das auszusagen, was der
Ruf verschweigt. Doch es vermag niemals, ihn abschließend auszusagen. So
eröffnet sich seine Geschichtlichkeit.« (GS, 498/ED, 417)
»Der Ruf geht dem Responsum voraus. Letzteres lässt nicht darin nach,
seine Verspätung einzusehen und auszufüllen durch die Vervielfältigung
seiner Antworten, in deren Abfolge sich nichts weniger als die dem Hinge-
gebenen eigene Geschichte auftut. Die Geschichte des Hingegebenen liegt
in der Summe der Antworten, die ihn dem Ruf zugleich annähern wie ihn
von ihm entfernen.« (GS, 486/ED, 407) 623
Das Ereignis gibt nicht eine Möglichkeit, sondern immer Möglich-
keiten, die sich in einer Geschichte einreihen. Und diese Geschichte
ist das Zeichen der Freiheit, dass das Ereignis mit sich bringt, indem
es als eine endlose Antwort eines unbegreiflichen Rufes strukturiert
ist. Diesen endlosen Prozess, in dem der gehorsame und passive adon-
né dem folgt (antwortet), was sich zeigt und doch uneinholbar ent-
zieht, nennt Marion »endlose Hermeneutik« 624. Sie vollzieht die vom
Ereignis gegebene Geschichte seiner von ihm eröffneten frei wähl-
baren Möglichkeiten, für die wir selbst die Verantwortung tragen,

623
Siehe auch: GS, 475/ED, 398, GS, 498/ED, 418.
624 Zur endlosen Hermeneutik siehe zum Beispiel: GS, 384/ED, 319; DS, 39, 155; EPh,
303/PhE, 324. Der Grund für die Endlosigkeit der Hermeneutik ist die Unbegreiflich-
keit des Ereignisses, die ihren Grund wiederum in der Saturierung findet: »Im Fall
eines gesättigten Phänomens überschreitet die Anschauung nämlich per definitionem
das, was eine Hermeneutik des Begriffs an Sinn beibringen kann, eine Hermeneutik,
die von einem endlichen Ich vollzogen wird, verfügt dieses (in seiner Begrifflichkeit,
Intentionalität, Bedeutung, Noesis etc.) doch stets über weniger gebbaren Sinn als er
von gegebener Anschauung verlangt wird.« (GS, 366/ED, 302 f) Siehe auch: EPh,
302 f/PhE, 324.

411

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

obwohl ihr Anfang im Transzendenten liegt. Dieser Anfang dient


nicht als Grund, gibt keine Rechtfertigung für die von uns gelebte
Geschichte.

10. Das Ereignis der Gabe

Damit kommen wir zum letzten Anschnitt in der Herausarbeitung


der Strukturen des Ereignisses in der Philosophie Marions. Dieser
Abschnitt stellt aber weniger die Fortsetzung dieses Kapitels als den
Übergang zum dritten Teil dieser Arbeit dar. Es geht grundsätzlich
um den philosophischen Status des Ereignisses und die Möglichkeit
einer Philosophie des Ereignisses.
Das Ereignis lässt sich nicht nur als die Selbst-Gegebenheit oder
das gesättigte Phänomen beschreiben. In der Philosophie Marions
taucht es in noch einem anderen Kontext auf, nämlich im Zusam-
menhang mit der Gabethematik. Natürlich ist die Gabe nur eine Art
des Gegebenen, doch gleichzeitig stellt sie ein »Modell« (modèle) 625
des Gegebenen dar und dies heißt: Das, was von der Gabe gesagt wird,
betrifft auch das Gegebene, insofern es sich gibt, also das Ereignis.
Dass Marion überhaupt das Gegebene mithilfe des Konzepts der
Gabe und die Gabe als ein Gegebenes beschreibt 626, geht auf Derridas

625 Die Stelle lautet: »Wieso sollte man auch nicht die Vermutung anstellen dürfen,

dass Gabe […], wenn sie denn einmal von ihren empirischen Auswüchsen gereinigt
ist, uns zumindest ansatzweise ein Modell für Gegebenheit liefern könnte […].« (GS,
140 f/ED, 108) Weil die Gabe ein Modell für das Gegebene überhaupt anbieten kann,
ist sie ein »vorrangig verstandenes Phänomen« (phénomène privilégié) (GS, 141/ED,
108).
626 Marion hat mehrere Texte zur Gabethematik verfasst. Die bedeutendsten davon

sind: Buch II in Étant donné – Le don – und Kapitel III und IV in Certitudes négatives
– L’inconditionné ou la force du don und L’inconditionné et les variations du don. Eine
besondere Beachtung verdienen auch: 1) Artikel La raison du don (Philosophie 78
(2003). Diese Abhandlung bildet später das dritte Kapitel von Certitudes négatives.
In deutscher Fassung ist sie, wie schon ausführlich erklärt, im Sammelband Gabe und
Gemeinwohl erschienen; 2) eine auf Englisch erschienene Sammlung von einigen
Texten Marions zur Gegebenheit und Gabe (entstanden um 2008) – The Reason of
the Gift (2011). Der letzte Beitrag in diesem Sammelband – Sketch of a Phenomeno-
logical Concept of Sacrifice – bildet in leicht veränderter Form die Paragraphen §§ 19–
21 (im Kapitel IV) von Certitudes négatives.
Übersetzt von Rolf Kühn ist auch § 24 aus Certitudes négatives in deutscher Sprache
zugänglich, und zwar zweimal: in Jean-Luc Marion: Studien zum Werk, hrsg. von
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz. Dresden: Text & Dialog, 2013, S. 35–46 und in Religio

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

Buch Donner le temps I: La fausse monnaie (1991) zurück, das seine


Inspiration wiederum im bekannten Werk von Marcel Mauss – Essai
sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques
(1925) – findet. La fausse monnaie ist der Anfang einer langjährigen
Auseinandersetzung über den Charakter der Gabe zwischen Derrida
und Marion 627, die ihre Kulmination in der Diskussion in Villanova
University 1997 erreicht. 628 In den folgenden Ausführungen werden
wir nicht versuchen, diese ganze Auseinandersetzung zu verfolgen.
Uns interessieren nur diejenigen Aspekte der Gabe, die zum Ver-
ständnis des Ereignisses beitragen können. In der Tat betrifft die Aus-
einandersetzung zwischen Derrida und Marion den Kern der Ereig-
nisproblematik. 629
In La fausse monnaie bezieht sich Derrida auf Mauss und unter-
scheidet drei wesentliche Momente der Gabe: den Geber, die Gabe
und den Empfänger. Ohne diese Momente bleibt – so scheint es auf
den ersten Blick – das Geben als solches »bedeutungslos« (FG, 22/
FM, 24). 630 Gibt es nicht jemanden, der etwas jemandem anderen
gibt, so gibt es auch keine Gabe. Diese drei Aspekte bilden die Voraus-
setzung, damit es die Gabe gibt, damit in einer konkreten Situation
von einer Gabe gesprochen werden könnte. Doch dann dreht Derrida
(ganz im Geiste Derridas) alles um:

und passio: Texte zur neueren französischen Religionsphilosophie, hrsg. von Rolf
Kühn. Würzburg: Echter, 2014, S. 300–312.
627
Zwar konnte man schon das Buch von Marion – Réduction et donation (1989) – als
den Ausgangpunkt dieser Diskussion setzen, aber Derrida bezieht sich in La fausse
monnaie auf dieses Werk nur in einer Fußnote (FG, 71Anm.23/FM, 71n.1), während
dem La fausse monnaie das ganze zweite Buch von Étant donné gewidmet ist. Genau
dieses Werk von Derrida löst eine Diskussionswelle über die Gabe aus – auch zwi-
schen ihm und Marion.
628 Die Vorträge und Diskussionen sind veröffentlicht in: Caputo, John D. und Scan-

lon, Michael J. (Hrsg.): God, the Gift, and Postmodernism. Bloomington/Indianapolis:


Indiana University Press, 1999.
629
Und dies tut nicht nur die Auseinandersetzung über die Gabe, sondern auch ihre
Diskussion über Gott und negative Theologie. Deswegen ist es kein Wunder, dass
diese beiden Themen in einer – der schon erwähnten – Diskussionsrunde behandelt
wurde. Wo liegt der Kern der Ereignisproblematik? In der Frage nach der Präsenz,
nach dem Verhältnis zwischen Bewusstsein und Ereignis.
630 Die Stelle lautet: »[D]amit es Gabe, ein Gabenereignis gibt, muß irgend »einer«

irgend »etwas« [quelque »chose«] irgendeinem anderen geben, ansonsten bleibt »ge-
ben« bedeutungslos […].« (FG, 22) Im Original: »[P]our qu’il y ait don, événement de
don, il faut que quelqu’›un‹ donne quelque ›chose‹ à quelqu’un d’autre, sans quoi
›donner‹ ne voudra rien dire.« (FM, 24)

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

»[D]iese Bedingungen der Möglichkeit ergeben [produire] oder definieren


die Annullierung, die Vernichtung, die Zerstörung der Gabe.« (FG, 22/
FM, 24)
Warum ist es so? Aus folgendem Grund: Wenn die Gabe als die Gabe
erscheint, wird sie zum Tausch, in dem die Regeln der Ökonomie
gelten, nämlich, dass der Empfänger in Gebers Schuld steht, dass die
Gabe die Gegengabe fordert, dass der Geber selbst sich die Gabe der
Anerkennung für das Geben gibt etc. 631 Als Tausch aber wird die freie,
bedingungslose, »reine« Gabe, die nur für das Geben selbst gibt, an-
nulliert. So schließt Derrida: Wenn die Erscheinung der Gabe, die
Gabe zerstört, darf sie nicht »erscheinen« (apparaître):
»Die Gabe als Gabe dürfte letztlich nicht als Gabe erscheinen: weder dem
Gabeempfänger noch dem Geber.« (FG, 25/FM, 26)
Für Marion bedeutet der Ausschluss der Gabe aus der Phänomenali-
tät ihre Nicht-Existenz – wenn niemand um die Gabe weiß, gibt es sie
nicht:
»A la limite, si mon herméneutique ne me permet pas de (ou ne veut pas) le
reconnaître comme donné, le don disparaît comme tel.« (CN, 198) 632
Deswegen darf die Gabe, wenn es sie geben sollte, nicht völlig ihre
Phänomenalität verlieren. Von anderer Seite darf sie auch nicht zum
Tausch werden, der die drei schon erwähnten Momente voraussetzt
und durch sie erscheint. Die Gabe darf also nicht zum Tausch werden
und doch muss sie erscheinen, um zu sein. Welche Lösung bietet sich
hier für Marion an? Und zwar eine solche, dass man nach einer Gabe
suchen muss, die mindestens einen von den sie bedingenden Momen-
ten – entweder den Geber oder den Empfänger oder das gegebene
Objekt – nicht aufweist. Eine solche Gabe wäre eine Gabe außerhalb
der Ökonomie. Phänomenologisch hieße dies, die Gabe im Horizont

631 FG, 22 ff/FM, 24 ff.


632
Wir müssen unbedingt beachten, dass für Derrida die Nicht-Phänomenalität der
Gabe nicht ihre Nicht-Existenz bedeutet. Im Gegenteil: Sie ist die Voraussetzung,
damit es die Gabe überhaupt geben könnte: »I tried to precisely displace the proble-
matic of the gift, to take it out of the circle of economy, of exchange, but not to
conclude, from the impossibility for the gift to appear as such and to be determined
as such, to its absolute impossibility. I said, to be very schematic and brief, that it is
impossible for the gift to appear as such. So the gift does not exist as such, if by
existence we understand being present and intuitively identified as such. So the gift
does not exist and appear as such; it is impossible for the gift to exist and appear as
such. But I never concluded that there is no gift.« (OG, 59)

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

der Gegebenheit zu beschreiben, indem man die drei Momente – den


Geber, die Gabe und den Empfänger – reduziert. Es gibt die Gabe,
wenn in Bezug auf sie mindestens der Geber oder der Empfänger oder
das gegebene Objekt reduziert ist:
»Wenn Reduktion hier zum Einsatz kommen sollte, dann könnte dies –
selbst im Falle von Gabe und Gegebenheit – nicht anders geschehen als so,
wie sich in der Phänomenologie Reduktion immer vollzieht: durch das Ein-
klammern von Transzendenzen – von welcher Art diese auch sein mögen.
[…] Die Reduktion von Gabe auf Gegebenheit und Gegebenheit auf sich
selbst bedeutet demnach, Gabe unter Absehung von der dreifachen Trans-
zendenz, unter deren Einfluss sie bislang stand, zu denken: Gabe zu denken,
indem man nacheinander die Transzendenz des Gabe-Empfängers, die
Transzendenz des Gebers und schließlich die Transzendenz des Tausch-
objektes einklammert.« (GS, 156 f/ED, 122)
Dass die Gabe, die sich dem ökonomischen Kreislauf entzieht, nicht
nur eine theoretische reduktionsgemäße Konstruktion ist, sondern
auch wirklich existiert, zeigt Marion mit vielen Beispielen. Erstens
gibt es solche Gaben, bei denen der Empfänger in Klammern gesetzt
ist. Wenn man zum Beispiel einer humanitären Organisation spen-
det, weiß man nicht, wem man gibt – für mich, den Geber, bleibt der
Empfänger völlig abwesend. Weil der Empfänger anonym bleibt, wird
keine Gegengabe gefordert: »dieser Gabe-Empfänger kassiert faktisch
ein, aber ohne zurückzugeben« (GS, 163/ED, 126). Ohne die Gegen-
gabe bleibt die Gabe außerhalb des Kreislaufs der Güter. Die Nicht-
Existenz der Gegengabe wird noch möglicher, wenn man seinem
Feind gibt – er leugnet, der Empfänger meiner Gabe zu sein, und gibt
mir somit keine Chance auf eine Rückgabe. »Seinem Feind geben
heißt vergeblich, für nichts, grundlos geben.« (GS, 166/ED, 129)
Auch im Falle eines »undankbaren Menschen« (ingrat) ist die Mög-
lichkeit der Gegengabe ausgeschlossen – ein undankbarer Mensch
sieht es nicht ein, dass er etwas empfangen hat, und er ist ein solcher,
»der sie [Gabe – L. P.] (aus Undank) nicht erträgt, der sie nicht er-
widern will und dies ferner auch nicht kann« (GS, 168/ED, 131). In
diesen drei Fällen gibt es also keinen Empfänger, deswegen auch keine
Gegengabe und somit auch keinen Warentausch. Es gibt auch keinen
Empfänger, wenn man einem Leidenden gibt, um so an Jesus zu ge-
ben, da Jesus unsichtbar bleibt (GS, 170/ED, 132 f). Oder wenn man
einer Gemeinschaft gibt: »kein Einzelmensch könnte sich für ein sol-
datisches Opfer bedanken. Ebenso könnte kein Einzelmensch her-

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

gehen und die Verantwortung für Kollektivschuld übernehmen« (GS,


172/ED, 134).
Zweitens gibt es solche Gaben, bei denen der Geber abwesend ist.
Ein Beispiel ist die Erbschaft. Der Geber hat mir gegeben und ist ge-
gangen. Dies schließt die Gegengabe aus und befreit sie vom Kreislauf
von Gabe und Gegengabe: »Ich komme in den Genuss einer Gabe und
kann sie nicht erwidern« (GS, 178/ED, 139). Es gibt es auch keinen
Geber, wenn der Geber nicht weiß, was er gegeben hat. Es geschieht
oft, dass jemand unbewusst und ungewollt jemandem etwas gibt – das
Bewusstsein des Gebers »weiß noch nicht um den Effekt, den es auf
einen potentiellen Gabe-Empfänger ausübt« (GS, 179/ED, 140).
Wenn man gibt, ohne es zu wissen, erwartet man auch keine Rück-
gabe. Dass eine Gabe ohne Geber existiert, zeigt sich auch überall,
wenn wir sehen, was uns alles gegeben ist, von dem wir nicht wissen,
woher es kommt. Schließlich sind wir uns selbst gegeben: »das Sich
als solches, das Sich des Bewusstseins, empfängt sich direkt als (ge-
gebene) Gabe ohne (gebenden) Geber« (GS, 182/ED, 142).
Drittens, während im Tauschhandel immer etwas gegenseitig
getauscht wird, was auch deswegen eindeutig bestimmbar, messbar
ist und einen berechneten Wert hat, gibt es die Gabe, wenn sie nichts
Vergleichbares gibt, wenn sie also kein Objekt gibt: »Gabe kann sich
oft ohne den geringsten Gegenstand vollziehen« (GS, 189/ED, 148).
Man kann zum Beispiel die Macht geben (GS, 190 f/ED, 149), oder
sich selbst einen Anderen geben (GS, 191 f/ED, 149 f) oder das Wort
geben (GS, 192 f/ED, 150 f). Man kann Leben, Zeit, Tod, Vertrauen,
Liebe und Freundschaft schenken (GS, 197/ED, 155).
Es gibt auch Gaben, bei denen alle drei Momente des Tausches in
Klammern gesetzt sind. Im Vortrag La raison du don zeigt Marion,
wie sich im Falle der Vaterschaft die Gabe im Horizont der Gegeben-
heit einschreiben lässt. Im Vergleich zur Mutter, zeugt der Vater das
Kind, muss aber dann zurückziehen – das Kind bleibt in der Mutter.
Er zieht sich auch später zurück, wenn er das Kind durch seine Arbeit
außerhalb der Familie versorgen muss. Er gibt, bleibt aber abwesend:
»über den Vater lässt sich immer nur mutmaßen« (GG, 64/RdD, 20).
In der Vaterschaft gibt es auch keinen Empfänger im ökonomischen
Sinne des Wortes, weil das Kind dem Vater unmöglich erwidern kann:
»weil es ihm nämlich niemals gegeben sein wird, seinem Vater das
zurück zu geben, was es von ihm empfangen hat: das Leben« (GG,
65/RdD, 20). Und schließlich, was hier gegeben und empfangen wird,
stellt kein Objekt dar: »[d]er Vater gibt dem Kind nichts als das Leben

416

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

(und einen Namen, mit dem er dieses Leben anerkennt und beglau-
bigt)« (GG, 65/RdD, 21).
Während Derrida die Erscheinung der Gabe und die drei Bedin-
gungen der Gabe, die in dieser Erscheinung sichtbar werden, als die
Zerstörung der Gabe bestimmt, zeigt Marion, dass die Gabe erschei-
nen kann, aber sie muss mindestens eine von diesen Bedingungen
reduzieren. Die Erscheinung zerstört nicht die Gabe, sie wird sogar
von der Gabe vorausgesetzt. Die Gabe gibt es, sie entzieht sich dem
Kreislauf der Güter, wenn es keinen Geber, keinen Empfänger und
kein Objekt gibt. Diese Charakterisierung ist auf jedes Phänomen,
insofern es im Horizont der Gegebenheit beschrieben wird, übertrag-
bar, da auch die Gabe genau durch ihre Gegebenheit bestimmt wird
und in diesem Sinne wie jedes andere Phänomen erscheint. Dass das
Phänomen ohne Geber ist, haben wir schon gesehen – das Phänomen
wird nicht gegeben, es gibt sich selbst. Wir haben festgestellt, dass der
Empfänger nicht so leicht auszuschalten ist, da das Phänomen als
Phänomen per definitionem ein Bewusstsein voraussetzt. Es muss
ein Empfänger geben. Doch das Phänomen befreit sich von den
Schranken des Empfängers dadurch, dass es immer mehr gibt, als
der Empfänger empfangen kann. Dieser Rest bleibt gegeben, aber
nicht empfangen. Er ist folglich die Gabe außerhalb der Ökonomie.
Schließlich ist das Phänomen, insofern es im Horizont der Gegeben-
heit erscheint, kein Objekt – das, was sich gibt und zeigt, ist nicht ein
bestimmtes Etwas, es überschreitet die Grenzen eines durch einen
Begriff konstituierten Objekts:
»Gesättigte Phänomene weigern sich, sich als Gegenstände beobachten zu
lassen, eben weil sie mit einem vielfachen und unbeschreiblichen Über-
schuss erscheinen, der jede Konstitutionsbemühung zunichte macht. Ein
gesättigtes Phänomen ist als ein ungegenständliches oder besser: als ein
nicht zu vergegenständlichendes Phänomen zu bestimmen.« (GS, 361/
ED, 298 f)
Achten wir darauf, dass die Nicht-Objektivität des Phänomens nicht
seine Nicht-Erscheinung bedeutet. Das Phänomen wird vom passiven
adonné empfangen und sichtbar gemacht, obwohl nicht konstituiert
und somit völlig beherrscht – es bleibt immer ein unbeherrschbarer
exzessiver Rest an dem, was sich zeigt. Es ist aber interessant, dass in
seinen späteren Werken (zum Beispiel in De surcroît) Marion auch an
solchen Phänomenen arbeitet, die überhaupt nicht erscheinen. Es
geht um solche Phänomene, die weder Objekte noch exzessive und

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

nicht objekthafte Phänomene darstellen, sondern überhaupt nicht er-


scheinen und sich trotzdem geben. Ein solches Phänomen ist für Ma-
rion der Tod, ein anderes: die Geburt. Im Ereignis des eigenen Todes
erscheint nichts (oder eher, man kann nicht wissen, ob etwas er-
scheint oder nicht), weil mit dem Tod das Bewusstsein selbst stirbt:
»[S]i la mort passe sur moi (à supposer d’ailleurs qu’un phénomène appa-
raisse en ce passage), comme je trépasse avec lui, je ne puis jamais en voir
l’événement. […] Ce que donne la mort – un événement ou un néant de
phénoménalité? –, nous l’ignorons.« (DS, 49 f)
Im Ereignis der Geburt erscheint nichts, weil das Bewusstsein noch
nicht entstanden ist:
»Pourtant, ce phénomène indiscutable, je ne peux par principe pas le voir
directement. […] ma naissance me montre précisément le fait que mon
origine ne se montre pas, ou qu’elle ne se montre que dans cette impossibi-
lité même à paraître […].« (DS, 52)
Damit kommen wir allmählich zum Punkt, an dem sich zeigt, wo
Marions Auseinandersetzung mit Derrida über die Gabethematik die
Kernfrage des Ereignisdenkens berührt. Genau in dieser Problematik
wird es auffällig dass Marions Ansatz phänomenologisch ist und dass
dies bei der Behandlung des Ereignisses problematisch ist. Das Er-
eignis wird in der Phänomenologie als ein (saturiertes) Phänomen
gedacht. Das Phänomen ist das, was dem Bewusstsein erscheint. Ob-
wohl man festhalten muss, dass Marion auch solche Phänomene ver-
mutet, die nicht erscheinen und sich trotzdem geben. Wenn auch das
Phänomen nicht erscheint (als gegenständlich), wird es empfangen,
wenn auch nicht ohne Rest. Es gibt und es muss immer jemanden
geben, der um das Gegebene Bescheid weiß, ob er es begreift oder
nicht. Das Ereignis ist, insofern es jemanden gibt, der sich dessen
bewusst ist. Es ist dieses Bewusstsein (aktiv, passiv oder sogar unbe-
wusst: das spielt hier keine Rolle). Das Ereignis des Spaziergangs mit
dem Liebenden durch die Sommernacht ist das Bewusstsein von die-
sem Spaziergang. Und dieses Bewusstsein des Ereignisses beschreibt
die Phänomenologie. Ist aber dieser Spaziergang, die Geburt, der Tod,
die bedingungslose Vergebung ein Phänomen, das man sieht (wenn
auch als gesättigt) und beschreibt (wenn auch in einer endlosen Her-
meneutik)? Oder müssen sie völlig anders gedacht werden? Dies ist
genau die Frage, die Derrida in La fausse monnaie stellt. Seine
Hauptthese ist, dass das Bewusst-Werden und Beschreiben das Ereig-

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

nis (der Gabe) vernichtet. Es gibt die Gabe, es kann sie geben, aber nie
als ein Phänomen. Die Gabe duldet keine Phänomenalität. Es gibt
entweder das Ereignis oder die Erscheinung, aber nicht die Erschei-
nung des Ereignisses, und deswegen auch keine Phänomenologie des
Ereignisses. Oder noch genauer: Es kann sehr wohl eine Philosophie
bzw. eine Phänomenologie des Ereignisses geben, aber dann behaup-
tet sie das zu geben (nämliche eine Philosophie des Ereignisses), was
sie eigentlich nicht gibt und nicht geben kann:
»Man könnte so weit gehen zu sagen, daß selbst ein so monumentales Buch
wie der Essai sur le don von Marcel Mauss von allem möglichen spricht, nur
nicht von der Gabe […].« (FG, 37/FM, 39)
Mit anderen Worten: Mauss gibt uns ein Buch, von dem er behauptet,
dass es ein Buch von der Gabe ist, aber es ist kein Buch von der Gabe,
die es gibt, sondern nur vom Phänomen der Gabe, die keine Gabe ist.
Mauss gibt uns also Falschgeld und gibt es für wahres Geld aus. 633
Würde man verstehen, dass das Phänomen des Ereignisses nicht das
Ereignis ist, würde man verstehen, dass die Phänomenologie des Er-
eignisses Falschgeld ist, und wollte man kein Falschgeld dem Leser
geben, sollte man dieses Buch auch so benennen, nämlich »Falsch-
geld«:
»denn Falschgeld ist nur falsch, wenn es seinen Titel/Gehalt nicht angibt«
(FG, 117/FM, 114).
Wir sehen, dass Derrida sein Buch über die Gabe »Falschgeld« ge-
nannt hat, um zu zeigen, dass es kein Buch über das Ereignis (der
Gabe) ist, obwohl oder eher genau deswegen, weil es die Gabe behan-
delt. Das Ereignis ist für das Bewusstsein, für das Denken, für die
Behandlung »das Unmögliche« (l’impossible). (FG, 43/FM, 45) Das
Denken, dass das Unmögliche für das Denken zu denken versucht,
ist keine Phänomenologie, die das Phänomen des Unmöglichen be-
schreibt, weil die Phänomenologie das Unmögliche schon längt ver-
lassen hat.
Es ist bemerkenswert, wie sehr Marions Antwort auf Derrida
seine eigene Position ans Licht bringt. Während Derrida behauptet,
dass das Ereignis (der Gabe) in der Phänomenalität aufhört, so zu
sein, wie es sich gibt, ist für Marion die Phänomenalität die Bedin-
gung der Gabe. Wenn niemand um die Gabe weiß, wenn niemand sich

633
FG, 81 ff/FM, 81 ff.

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DIE LOGIK DES EREIGNISSES

ihrer bewusst ist, gibt es sie nicht. Diese Bedingung bleibt in Kraft
auch dann noch, wenn man die Reduktion vollzieht. Schaltet man
den Geber aus, so muss der Empfänger die Gabe bestätigen:
»Doch die Beschreibung des Gabe-Phänomens kann – da es hier der Geber
ist, der ausbleibt – nur vom Gabe-Empfänger aus, der die Rolle eines reinen
phänomenologischen Bewusstseins innehat, unternommen werden. […] So
erfüllt sich die Gabe selbst ohne Geber, da ihr Sich-Zeigen genügt, um sich
dem Gabe-Empfänger zu geben.« (GS, 187/ED, 146 f)
Schaltet man den Empfänger aus, so muss der Geber die Gabe identi-
fizieren:
»Dem Geber käme insofern zu, die Gabe ohne Gabe-Empfänger phäno-
menologisch zu bezeugen. […] Der Geber spielt dann […] die Rolle eines
Gabe-Empfängers, insofern sich Gabe just an ihn richtet, um erscheinen zu
können. So vollzieht sich die Gabe – selbst ohne Gabe-Empfänger –, genügt
es doch, dass sie sich gibt, um sich zu zeigen.« (GS, 173 f/ED, 135 f)
Es muss so sein, weil es die Gabe gibt, nur insofern sie bewusst ist –
sie ist dieses Bewusstsein. Deswegen ist auch eine Phänomenologie
der Gabe völlig möglich – sie formuliert bewusst das, was bewusst ist.
Sie vernichtet nichts, sie verliert nichts, sie gibt kein Falschgeld. Als
ein Text kann sie natürlich das Gegebene nicht so wiedergeben, wie es
sich gibt, aber dies stellt nur eine Verschiebung innerhalb des Be-
wusstseins dar. Es stellt nicht das Bewusstsein selbst in Frage, so wie
es Derrida macht. Gegen Derrida schreibt Marion, dass ein Denken
der Gabe, so, wie es von Mauss entwickelt wird, »legitim« bleibt,
genauso wie Derridas Versuch zum Falschgeld:
»Es ist weiterhin voll und ganz legitim, sowohl einen ›Versuch zur Gabe‹
anzustrengen (M. Mauss) als auch diesen formal zu kritisieren (J. Derri-
da) […].« (GS, 204/ED, 161)
Es ist keine Sache der Meinung, die man frei auswählen kann – es
geht um den philosophischen Status des Ereignisses. Ist es ein Phäno-
men oder nicht? Ist das, was geschieht, wenn es geschieht, das Be-
wusstsein davon, auch wenn kein gegenstandbezogenes Bewusstsein
da ist, wie das bei Marion der Fall ist? Sowohl für Levinas als auch für
Derrida ereignet sich das Ereignis außerhalb von dessen Bewusstwer-
dung. Es ist unmöglich für das Bewusstsein und Denken. Dies bedeu-
tet allerdings nicht, dass das Ereignis völlig ohne uns geschieht, dass
wir es nicht merken: Wir sind dabei, wir sind drin, mitten im Ereignis,
ohne dessen Manifestation im Bewusstsein. Es gibt das Ereignis, er-

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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions

scheint es aber, so ist es nicht mehr. Marion bestimmt dagegen das


Ereignis als Phänomen. Man darf natürlich nicht außer Acht lassen,
dass er auch solches Gegebene zulässt, das nicht erscheint. Natürlich
ist es immer noch problematisch, ob das Ereignis etwas Gegebenes,
wenn auch nicht Erscheinendes, sein könnte, aber wir können erstmal
nicht leugnen, dass auch Marion etwas zulässt, was das Bewusstsein
nicht erreicht, was den Horizont des Bewusstseins und somit den
letzten Horizont überhaupt übertrifft, also etwas, was wir Ereignis
nennen könnten. Ist das noch ein Phänomen? In der Diskussion in
Villanova University sind die Antworten Marions und Derridas ganz
deutlich. Marion sagt Folgendes:
»I said to Levinas some years ago that in fact the last step for a real pheno-
menology would be to give up the concept of horizon. Levinas answered me
immediately: ›Without horizon there is no phenomenology.‹ And I boldly
assume he was wrong.« (OG, 66)
Darauf antwortet Derrida:
»I am also for the suspension of the horizon, but, for that very reason, by
saying so, I am not a phenomenologist anymore.« (OG, 66)

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III. UNTERWEGS ZU EINER
PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES:
Zusammenfassung und Ausblick

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

1. Die Logik des Ereignisses

Wenn wir den zweiten Teil mit einem Zitat von Derrida abgeschlos-
sen haben, so heißt es nicht, dass wir ihm das letzte Wort über das
Ereignis überlassen. Dieses Zitat soll bloß den Übergang zu diesem –
dritten – Teil vorbereiten, in dem nach der philosophischen Bestim-
mung des Ereignisses gefragt wird. Wie müssen wir das Ereignis den-
ken? Die Auswahl der Möglichkeiten ist natürlich schon dadurch ein-
gegrenzt, dass wir ganz bestimmte Ereignisse (»Sachen«) behandeln,
nämlich solche, die einen Betroffenen haben. Heideggers Ereignis des
Seins ist ein Ereignis, das den Menschen ins Dasein verwandelt und
ihm eine bestimmte Geschichte eröffnet. Levinas’ Ereignis des Ande-
ren lässt dem Selben ursprünglich und radikal seinen ontologischen
Egoismus überwinden. Marions Ereignis lässt dem Empfänger das
Andere und sich selbst empfangen. Merleau-Pontys Wahrnehmung
als Begegnung mit der Welt, Derridas Gastfreundschaft, die Liebe bei
Badiou, Romanos trauriges Ereignis des Todes eines nächsten Men-
schen etc. – sie sind keine empirischen Ereignisse und deswegen kön-
nen sie nicht zum Gegenstand irgendwelcher Ontologie werden, die
ein in der Objektivität gesetztes und so vorausgesetztes Seiendes er-
forscht. Es geht hier um Ereignisse, die es nur insofern gibt, als je-
mand sie erfährt. Die Liebe kann nicht von außen beobachtet oder
begrifflich gesetzt werden – sie ist ausschließlich durch die Liebenden
da. Aus diesem Grund entsteht die Frage nach einer möglichen »Phä-
nomenologie des Ereignisses« – einer Beschreibung, die den Betrof-
fenen, der von einem Phänomen betroffen ist, – den Phänomeno-
logen selbst – hineinziehen und sich so der spekulativen Sachlichkeit
einer Ontologie entziehen würde. 634 Es scheint in der Tat, dass die

634 Dies ist in der Tat die erste Aufgabe, die Husserl der Phänomenologie aufträgt,

nämlich dass sie nicht mehr bloß etwas über etwas behauptet (weil es herkömmlich,
gängig, scheinbar »logisch« etc. ist), sondern versucht, alles Gesetzte und Voraus-
gesetzte zu veranschaulichen und auf diese Weise überprüft, die Spekulationen aus-
scheidet. In den Logischen Untersuchungen heißt es: »Also dieses Gegebensein der
logischen Ideen und der sich mit ihnen konstituierenden reinen Gesetze kann nicht
genügen. So erwächst die große Aufgabe, die logischen Ideen, die Begriffe und Geset-
ze, zu erkenntnistheoretischer Klarheit und Deutlichkeit zu bringen. / Und hier setzt
die phänomenologische Analyse ein. / Die logischen Begriffe als geltende Denkein-
heiten müssen ihren Ursprung in der Anschauung haben; […] Bedeutungen, die nur
von entfernten, verschwommenen, uneigentlichen Anschauungen – wenn überhaupt
von irgendwelchen – belebt sind, können uns nicht genug tun. Wir wollen auf die
›Sachen selbst‹ zurückgehen. An vollentwickelten Anschauungen wollen wir uns zur

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

Phänomenologie die richtige Zugangsweise zum Ereignis ist – sogar


unausweichlich, wenn wir uns an die Worte von Françoise Dastur, die
wir in der Einleitung zitiert haben, erinnern, nämlich »daß es kein
mögliches Denken des Ereignisses gibt, welches nicht zugleich und
prinzipiell ein Denken der Phänomenalität ist« (Dastur, 234/173) 635.
Es scheint in der Tat, dass die Denker des Ereignisses zumindest teil-
weise phänomenologisch arbeiten und arbeiten müssen; es scheint,
dass die Denker des Ereignisses zumindest teilweise mit Phänomenen
zu tun haben. Doch bevor wir zu dieser »Meta-Frage« über die phi-
losophische Bestimmung des Ereignisses übergehen, fassen wir zu-
erst die Ergebnisse kurz zusammen, zu denen wir in dem vorherigen
Kapitel gekommen sind. Wie beschreiben Heidegger, Levinas und
Marion das Ereignis, wie geschieht es, was ist sein Wie des Gesche-
hens, seine »Logik«? Wir werden gleich sehen, dass, insofern wir nur
die bloße Beschreibung dieser »Sache« anschauen, viele Ähnlichkei-
ten zwischen diesen drei Denkansätzen aufweisbar sind, aber auch
entscheidende Unterschiede.

1.1. Das Ereignis und ein Etwas

Wir kennen Ereignisse – sie geschehen mit uns. Wenn wir über sie
nachdenken, stellen wir fest, dass wir es in Bezug auf sie nicht mit
einer »klaren und deutlichen Idee« zu tun haben. Das Ereignis ist
nicht ein Etwas, das wir als etwas Bestimmtes mit den Händen, Au-
gen oder Gedanken fassen könnten. In Bezug auf das Ereignis hat
man immer das Gefühl, dass man es nicht hat. Es ist wie im Traum,
wenn man irgendwohin gelangen muss, kommt aber immer anders-
wo an: Man wird aufgehalten, überall gibt es irgendwelche Hinder-

Evidenz bringen, dies hier in aktuell vollzogener Abstraktion Gegebene sei wahrhaft
und wirklich das, was die Wortbedeutungen im Gesetzesausdruck meinen […].« (Hua
XIX/1, 9 f) Etwas zu veranschaulichen kann aber nur der jeweilige Denker. Also nur
durch das Hineinziehen des Phänomenologen können die »Sachen selbst« beginnen
zu sprechen. Was ist Brot? Es ist kein Lebensmittel mehr – es ist das Stillen des
Hungers (Levinas). Was ist die Zeit? Sie ist keine Folge von Jetzt-Punkten mehr,
sondern das Verstehen des Todes (Heidegger). Was ist die Welt? Nicht mehr die ob-
jektive Anwesenheit, sondern das, worin wir hineingeboren sind, worin wir philoso-
phieren und worin wir sterben (Husserl, Merleau-Ponty).
635
Viele von in diesem Kapitel angeführten Zitaten sind bereits im vorherigen Text
dieser Arbeit zitiert. Wir führen sie aber noch einmal mit der Quellenangabe an,
damit dieses Kapitel auch separat vom übrigen Text gelesen werden könnte.

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

nisse, hinter der richtigen Tür liegt ein falsches Zimmer etc. Es ist wie
in Kafkas Werk Das Schloss. »Seyn ist niemals Objekt und Gegen-
stand, Vor-stellbares,« (BPh, 252) hat Heidegger über das Sein als
Ereignis gesagt. Vom Anderen als Ereignis hat Levinas behauptet:
»Es entgeht der Vorstellung. Das Gesicht ist gerade das Ausbleiben
der Phänomenalität.« (JS, 199/AQE, 112) Zu dieser Zeit, d. h. zur Zeit
der Beiträge, vermeidet Heidegger schon längst die phänomenologi-
sche Terminologie, die Levinas hier bedient, beide sprechen aber von
der Vorstellung: Vor-stellung, Sich-etwas-vor-Augen-Stellen, Sich-
etwas-vor-Augen-anwesen-Lassen, représentation, Vergegenwärti-
gung, Sich-etwas-vor-Augen-wieder-anwesen-Lassen. Wenn etwas
vor Augen – vor meinen Augen – ist, ist es eine Erscheinung, die
mich betrifft; es ist ein Phänomen, das meins ist. Wenn aber im Er-
eignis nichts vorgestellt wird, gibt es auch keine Phänomene, also
nichts; nichts, von dem man noch (phänomenologisch) sprechen
könnte. Nun es ist nicht wahr, dass im Falle eines Ereignisses nichts
erscheint. So haben das sowohl Heidegger als auch Levinas gesehen –
schließlich tritt ja das Dasein ins Verhältnis zum Sein, das es gibt, und
das Selbe öffnet sich für den Anderen, dem es antwortet. Trotzdem
haben sie das Ereignis aus der Phänomenalität ausgeschlossen. Wir
werden gleich sehen, warum das Ereignis trotz der Erscheinungen,
die in ihm auftreten, selbst kein Phänomen ist. Aber man kann natür-
lich auch anders denken: Wenn es nicht stimmt, dass im Ereignis
nichts erscheint, fordert es schlicht eine andere Phänomenologie: eine
Phänomenologie, die nicht auf die Gegenstände fixiert ist, sondern
solche Phänomene beschreibt, die nicht ein Etwas sind. Das ist die
Idee des »gesättigten Phänomens«, die Marion anbietet. Die Ereignis-
se können als Phänomene beschrieben werden, »bei denen die An-
schauung mehr, ja unermesslich mehr geben würde als das, was die
Intention jemals angezielt oder vorhergesehen hätte« (GS, 336/ED,
277). Die Idee des gesättigten Phänomens sagt genau, dass mir zwar
etwas erscheint, aber es ist unmöglich zu wissen, was es ist: Ich kann
es nicht begreifen, d. h. auf einen Gegenstand hin durchleuchten.
Man könnte jetzt denken, dass wir vor folgender Alternative
stehen: Entweder sagen wir, dass, wenn das Ereignis nicht als etwas
erscheint, es kein Phänomen ist und von der Phänomenologie nicht
behandelt werden kann (Heidegger, Levinas), oder wir sagen, dass es
dann ein andersartiges Phänomen (ein »gesättigtes Phänomen«) ist
und zum Thema der Phänomenologie werden kann, sie muss aber
entsprechend modifiziert werden (wie sie zum Beispiel von Marion

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

zur Phänomenologie der Gegebenheit entwickelt wird). Aber das ist


nicht diejenige Alternative, vor der wir eigentlich stehen. Achten wir
auf einen Moment: Wir wollen das Ereignis verstehen, wir wollen
wissen, wie es geschieht. Wenn wir aber vor der Alternative stehen,
ob das Ereignis ein Etwas oder kein Etwas ist, befinden wir uns schon
in der erkennenden Einstellung – wir haben ein Thema vor uns und
behandeln es. Einige sagen, dass die behandelte Sache kein Phänomen
ist, einige behaupten dagegen, dass sie ein andersartiges Phänomen
ist. Jetzt sehen wir: Es gibt hier eigentlich keine Alternative, weil die
Sache schon gesetzt worden ist, sie erscheint schon, ist schon Phäno-
men: Sie ist das, was uns, Denkende, betrifft. Man kann in diesem
Moment nicht mehr sagen, dass das Ereignis kein Phänomen ist. Ma-
rion hat recht, dass das Ereignis ein Phänomen ist – insofern wir nach
dem Ereignis fragen, ist es schon ein Phänomen. Heidegger und Le-
vinas (und Derrida) machen auf diesen Sachverhalt aufmerksam.
Deswegen behaupten sie, dass das Ereignis nicht befragt werden
kann. Insofern man nach dem Ereignis fragt, ist es schon ein Phäno-
men, was es eigentlich nicht ist. Die eigentliche Alternative wäre also
nicht zwischen Etwas und Nicht-Etwas, sondern zwischen Denkbar-
keit und Nicht-Denkbarkeit. Wenn also das Ereignis kein Etwas ist, so
ist es für Marion und andere Phänomenologen heutzutage bloß kein
intentional erfasster Gegenstand, aber immer noch ein Phänomen für
eine mögliche Phänomenologie. Für Levinas und Heidegger bedeutet
dies dagegen, dass es undenkbar ist, weil das Denken prinzipiell nur
mit den Vorstellungen, Erscheinungen etc. arbeitet, die immer schon
ein Etwas sind, wenn auch verschwommenes. Eine Frage bleibt also:
Ist das Ereignis kein Etwas, weil es kein Gegenstand ist oder weil es
undenkbar in so radikalem Sinne ist, dass man nicht fragen kann, ob
es ein Gegenstand ist oder nicht, weil eine solche Frage es schon ver-
gegenständlicht hat und so eine ernste Beantwortung dieser Frage
zunichtegemacht hat?
Man könnte einwenden, dass wir hier zwei Ebenen vermischen,
nämlich die Ebene des Ereignisses selbst und die des Denkens über das
Ereignis. Vielleicht ist das Ereignis undenkbar, also nicht für einen
Denker vorstellbar, weil er begrifflich denkt, aber trotzdem an sich
eine Erscheinung für den Betroffenen? Vielleicht ist das Hören der
Musik prinzipiell undenkbar, aber das soll noch nicht bedeuten, dass
die Musik kein Phänomen, kein intentionales Erlebnis (wenn auch
nicht gegenständliches) für den Hörenden ist. In der Tat ist das rich-
tig. Und das könnte auch bedeuten, dass wir uns nicht zwischen der

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

Undenkbarkeit und einer andersartigen Phänomenalität entscheiden


müssen (es gibt hier nämlich keine Alternative), wenn wir davon
überzeugt sind, dass das Ereignis kein Etwas ist – beides könnte gel-
ten, nämlich dass das Ereignis ein Phänomen ist, das man nicht be-
grifflich denken kann. Es könnte sein, dass Marion genau in diese
Richtung denkt: Das Ereignis ist ein Phänomen, das man erfahren
kann, das man aber durch gegenständliche Intentionalität und Begrif-
fe nicht denken kann. 636 Die Musik kann man erfahren, aber nicht
denken. Doch damit kommen wir zum wirklich Wesentlichen des Er-
eignisdenkens: Das Ereignis kann man nicht denken und man kann es
auch nicht erfahren. Die Struktur des Denkens von einem Etwas (oder
Nicht-Etwas) und der Erfahrung von einem Nicht-Etwas (oder Etwas)
ist eigentlich gleich. Das Ereignisdenken stellt in Bezug auf das Ereig-
nis genau die Subjekt-Objekt-Struktur, die phänomenologische Er-
lebnis-Erlebtes-Struktur in Frage. Konkret heißt dies: Die Musik
kann man weder denken noch erfahren – die Musik geschieht mit uns.
Das Nicht-Etwas des Ereignisses ist sein Mit-uns-Geschehen.

1.2. Das Ereignis und das, was sich ereignet

Levinas und Heidegger bestimmen das Ereignis als unvorstellbar in


radikalem Sinne des Wortes: Es ist für das Denken unvorstellbar, so-

636
In der Tat ist das die Antwort Marions auf Derrida: »Denn er [Derrida – L. P.]
denkt zumindest implizit, dass es, wenn es keine Anschauung mehr gäbe, auch keine
Phänomenalität mehr gäbe. Die grundlegende These Derridas ist das grundsätzliche
Fehlen der Anschauung. Es gibt nur das Anzeichen, die Spur etc., aber nicht die An-
wesenheit. Und wenn es keine Anwesenheit, das heißt für ihn, wenn es keine An-
schauung gibt, gibt es auch kein Phänomen mehr. Dies ist ohne Zweifel ein Fehler,
denn die Phänomenalität bewirkt weder die Anschauung noch die Ontologie, sondern
die Gegebenheit (donation). Nun sind das Anzeichen und die Spur auch gegeben.
Husserl hat übrigens gesagt, dass die Sinngebung auch ohne Anschauung noch die
Gegebenheit ist. Die Gegebenheit bleibt also gültig, auch nach der Dekonstruktion.
[…] Wenn es Gegebenheit gibt, dann auch Phänomenalität.« (RuG, 47 f) Derrida –
wie Marion ihn hier auslegt – denkt, dass, wenn nichts erscheint (in der Präsenz des
Bewusstseins), dann gibt es nichts – keine Gegebenheit, keine Phänomenalität. Er sagt
aber: Es kann sein, dass nichts erscheint, aber es gibt es trotzdem und zwar als ein
Phänomen. Doch dabei übersieht Marion die weitere Argumentation von Derrida: Es
kann sein, dass etwas nicht erscheint und es trotzdem gibt, aber diese Gegebenheit
kann nie ins Schema »Bewusstsein-Phänomenalität« (wie auch immer es verstanden
wird) hineingezwungen werden – sie ist radikal anders. Dies bildet den Kern von
Derridas Kritik an die Phänomenologie.

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

dass man es nicht mal denken darf, um es als unvorstellbar zu cha-


rakterisieren; es ist für das phänomenologische Erlebnis nicht erfahr-
bar, sodass man es nicht mal erfahren darf, um es als nicht-erfahrbar
zu erfahren. Aber etwas ereignet sich, sogar etwas, was erscheint, was
man beschreiben kann. Natürlich: Wenn die Liebe auf den ersten
Blick geschieht, ereignet sich unendlich vieles. Man kann noch das
restliche Leben davon erzählen und immer noch nicht alles von die-
sem einen Moment sagen. Heidegger hat von der »Fülle der Ereig-
nung« (BPh, 7) gesprochen. Und Levinas hat schon so viel über die
ethische Begegnung mit dem Anderen geschrieben, als er dann gesagt
hat: »Aber man darf nicht schweigen. Wir befinden uns nicht vor
einem unsagbaren Geheimnis.« (GE, 131/DI, 157) So kommt es bei
diesen beiden Autoren zu einer äußerst wichtigen Unterscheidung
und sie ist bei keinem anderen Denker so ausgeprägt und gewisser-
maßen auch so eindeutig wie bei Heidegger.
In den Beiträgen (1936–1938) wird das Ereignis als die Wesung
des Seins gedacht. In Über den Anfang (1941) wird das Sein vom
Ereignis als Anfang unterschieden. Diese Unterscheidung widerspie-
gelt sich dann 1962 in dem bekannten Vortrag Zeit und Sein, wo Hei-
degger das Ereignis als das bestimmt, was das Sein gibt: »Demnach
bezeugt sich das Es, das gibt, im ›Es gibt Sein‹, ›Es gibt Zeit‹, als das
Ereignis.« (ZS, 24) Worum geht es hier? Es geht hier darum, dass das
Ereignis Anfang und das Angefangene ist. Das Angefangene ist das,
was gegeben ist, das, was erscheint, das, wovon man sprechen kann.
Das Sein ist kein Seiendes, kein Etwas, aber es ist gegeben, es ist eine
Fülle, es ist nicht nichts. Vielleicht legt man das Sein falsch aus, aber
man kann es auslegen. Der Anfang ist dagegen nur eins: »Untergang«
(A, 84). Der Anfang ist der Moment, in dem etwas geschieht. Er ist
das Geschehen selbst. Dieser Moment ist genau derjenige, der für jede
Erfahrung, jede Erscheinung, jede Vor-Stellung und Re-Präsentation
schon immer untergegangen ist. Es ist wichtig zu bemerken, dass das
Ereignis für Heidegger nicht nur als Anfang bestimmt wird – es bleibt
auch wesentlich das, was angefangen wird. Der Anfang kann nicht
vom Angefangenen unterschieden werden, weil er dann zu einem
Etwas wird, was er nicht ist. Der Anfang ist immer ein Anfang von
etwas: »Gibt es denn einen »Anfang«, ein Ereignis, da »nichts« an-
fängt und nichts sich ereignet?«. (A, 17) Das Ereignis ist also immer
zweideutig: Es ist das Ereignis und das, was sich ereignet. Das Ereignis
ist ein absoluter Entzug, das, was sich ereignet, lässt sich dagegen
phänomenalisieren.

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

Levinas unterscheidet den Diskurs von einem »nicht unsagbaren


Geheimnis« und die Setzung einer »unvordenklichen Vergangen-
heit«, die »nicht wieder einholbar ist durch die Erinnerung und die
Geschichte« (JS, 39/AQE, 12). Das Ereignis ist einerseits immer schon
vergangen, andererseits kann man von ihm sprechen. Dies ist keine
widersprüchliche Aussage über das Ereignis – es ist an sich selbst
zweideutig. Dementsprechend ist auch Levinas’ Verhältnis zur Phä-
nomenologie zweideutig. Einerseits haben wir es mit keinem Phäno-
men zu tun. Andererseits geht es um »phänomenologische Konkret-
heit« und Beschreibung »phänomenologische[r] ›Umstände‹« (GE,
13/DI, 7). Von einer Seite gilt es: »Die hier vorgelegten Untersuchun-
gen bekennen sich zum Geiste der Husserlschen Philosophie […].
Unsere Darbietung von Begriffen erfolgt weder so, daß sie diese lo-
gisch zergliedert, noch so, daß sie sie dialektisch beschreibt. Sie bleibt
der Intentionalanalyse treu, insofern diese das Wiedereinrücken von
Begriffen in den […] Horizont ihres Offenbarwerdens bedeutet […].
Das Gesagte, in dem alles thematisiert wird, in dem alles sich im The-
ma zeigt, muß auf seine Bedeutung als Sagen zurückgeführt wer-
den […].« (JS, 390/AQE, 230 f) Es geht also um keine begrifflichen
Analysen, sondern um die Beschreibung der »Sachen« (des Anderen,
der Begegnung, der Verantwortung etc.) so, wie sie sich offenbaren –
im lebendigen Prozess ihres Erscheinens. Von anderer Seite: »Doch
ist das Offenbarwerden des Seins nicht die letztgültige Legitimation
für die Subjektivität – gerade darin wagt sich die vorliegende Arbeit
über die Phänomenologie hinaus.« (JS, 391/AQE, 231) Das heißt: Die
Existenz der Subjektivität liegt nicht darin, dass sie die Sachen sich
zeigen lässt, dass sie in sich ist und dem Objekt gegenübertritt. Das,
worum es letztendlich geht, ist die »Übersteigerung« (hyperbole) die-
ser Seins-weise, dieses Seins, das gegenüber dem Objekt steht: »Die
Subjektivität entsteht hier nicht aus dem geheimnisvollen Treiben,
als welches das sein des Seins sich vollzieht und in dem […] die gno-
seologische Korrelation des durch eine Manifestation gerufenen
Menschen wieder auftaucht. Das Menschliche tritt hier, schon unter
Anklage, aufgrund der Transzendenz – oder der Übersteigerung –
hervor, das heißt durch das Sich-vom-Sein-Lösen des sein, als Über-
steigerung, in der das sein zerspringt und nach oben fällt, ins
Menschliche.« (JS, 392/AEQ, 231) Diese Übersteigerung ist nichts
anderes als die Beziehung mit dem Anderen, das Ereignis der Nähe,
das sich nicht offenbart, das nicht zum Phänomen wird, das weder

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

erfahrbar noch denkbar, noch erinnerbar ist, sondern mit der Subjek-
tivität geschieht. 637
Ist das Ereignis das Sich-Ereignen (Anfangen) und das, was sich
ereignet, so akzentuiert Heidegger mehr den ersten Aspekt. Für ihn
steht die Frage nach dem Anfang, dem Untergang und der Geschichte
des Entzuges des Anfanges im Zentrum seiner Überlegungen. Auch
Levinas (und noch radikaler Derrida) betonen den Uneinholbarkeits-,
d. h. Unerfahrbarkeits- und Undenkbarkeitscharakter des Ereignisses.
Marion setzt sich dagegen eher mit der Problematik des im Ereignis
Erscheinenden auseinander: mit dem gesättigten Phänomen. Aber
auch für ihn erschöpft sich das Ereignis nicht in seinem Phänomen –
auch dann nicht, wenn dieses Phänomen als unbegreiflich gilt. Es gibt
für Marion das Ereignis – das Gegebene, das gesättigte Phänomen –
und die Gegebenheit, die als »Anbruchsgeschehen« (GS, 124/ED, 96)
des Gegebenen verstanden wird. Die Gegebenheit: »Nicht besteht sie,
nicht dauert sie an, nicht zeigt sie sich oder lässt sie sich sehen.« (GS,

637 Dominique Janicaud bemerkt auch dieses duale Verhältnis Levinas’ zur Phänome-

nologie, wenn er schreibt: »Doch wir wollen gerade zeigen, dass die Phänomenologie
bei Levinas gleichzeitig zurückgewiesen und verwendet wird […].« (Janicaud(1991),
55 f) Aber warum ist es so? Unsere Antwort ist, dass dies dem Denken des Ereignisses
entspricht. Man denkt ausgehend von der Erfahrung (ohne metaphysische Spekula-
tionen), stellt aber fest, dass nicht alles auf eine Erfahrung reduziert werden kann,
obwohl es immer noch Erfahrungen gibt, die beschrieben werden können. Janicaud
scheint dies nicht zu sehen. Deswegen wirft er Levinas vor, dass er »der ontologischen
Phänomenalität Gewalt antut«, »die Erfahrung manipulier[t]« (Janicaud(1991), 56).
Aber was bedeutet ein solcher Vorwurf? Nun, dass Levinas behauptet, er hat etwas
erfahren, was er eigentlich nicht erfahren hat, nämlich Gott. Aber woher kann Jani-
caud wissen, dass Levinas Gott nicht erfahren hat? Weil es ihn nicht gibt? Das ist eine
ontologische Annahme, die in der Phänomenologie nichts zu suchen hat. Janicaud
selbst will hier die phänomenologische Wirklichkeit manipulieren, indem er sie mit
seinen ontologischen Vor-entscheidungen vor-bearbeitet. Levinas darf (und sogar
muss) alle seine Erfahrungen, die er hat, beschreiben. Aber darum geht es überhaupt
nicht. Es geht darum, dass Levinas etwas Unerfahrbares behauptet. Damit tut er dem
Phänomenalen keine Gewalt an – damit sagt er, dass das Phänomenale dieser »Sache«
Gewalt antut. Tut man dem Phänomenalen Gewalt an, wenn man eine Sache behaup-
tet, der die Phänomenalität Gewalt antut? Das ist eine sehr wichtige Frage. Eine solche
Behauptung stellt auf keinen Fall eine Manipulation der Erfahrung dar. Stellt sie
vielleicht eine metaphysische Spekulation dar, was in der Tat der Verrat an die Phä-
nomenologie wäre? Man kann sie in der Tat als Verrat an die Phänomenologie sehen,
aber entspringt sie einer ontologischen Spekulation? Nein, weil sie aus der phäno-
menologischen Erfahrung folgt. Mehr noch: Wenn sich eine Sache dem Phänomeno-
logen so zeigen würde, dass sie sich nicht phänomenalisieren lässt, wäre die Leugnung
dieser »Sache« Verrat an die Phänomenologie.

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

116/ED, 90) Die Gegebenheit zeigt sich nicht, ist immer schon ver-
gangen, ohne zu erscheinen. Wir kommen immer mit »Verspätung«
(CN, 249) zu ihr. Es bleibt allerdings fraglich, ob dieses Ereignis der
Gegebenheit – im Vergleich zum Anfang bei Heidegger und zur Be-
ziehung zum Anderen in der Philosophie Levinas’ – nicht der phäno-
menologischen Idee von einer Gegebenheit für das Bewusstsein allzu
verhaftet bleibt. Wir könnten in der Tat die Gegebenheit als den Pro-
zess der Erscheinung eines Erscheinenden denken. 638 In diesem Falle
wäre sie immer noch als ein Phänomen (Marion hat in der Tat in
einem Seminar behauptet, dass die Erscheinung selbst erscheint)
und nicht als das Ereignis in radikalem Sinne denkbar, nämlich als
das, was die Gegenbenheit-Empfänger-Struktur auflöst.

1.3. Das Ereignis und die Spur

Es ist möglich, die Relation zwischen dem Sich-Ereignen und dem,


was sich ereignet, als das Verhältnis zwischen dem Entzug und der
Spur zu beschreiben. Das würde heißen, die »phänomenologischen
Umstände« als die sichtbare Spur von etwas Unsichtbarem zu lesen
und auch die Kategorie der Zeit in die Betrachtung des Ereignisses
einzubeziehen. Doch wir müssen unterscheiden: Entweder deutet
man das Phänomen als Spur des immer schon Vergangenen (in radi-
kalem Sinne: des Untergangs selbst und nicht eines Gegebenen, das
vergeht) oder als Spur von etwas Unsichtbarem im Sinne des Unbe-
greiflichen, Nicht-Gegenständlichen, Nicht-vollständigen-Gegebe-
nen. Selbstverständlich ist das Vergangene auch unsichtbar, aber in
einer völlig anderen Bedeutung, nämlich in dem Sinne, wie wir von
der Unerfahrbarkeit und Undenkbarkeit gesprochen haben. Dieses
Unsichtbare ist kein erfahrbares gesättigtes Phänomen, das sich zeigt
und etwas Unsichtbares der Erscheinung entzieht, sodass dieses Un-
sichtbare in seiner Unsichtbarkeit erfahrbar ist. Das Vergangene ist
das Unsichtbare, von dem Derridas These gilt, dass seine – welche
auch immer – Erscheinung, »die Annullierung, die Vernichtung, die
Zerstörung« (FG, 22/FM, 24) seiner selbst bedeutet. Es ist für das
Ereignisdenken charakteristisch bzw. es sollte für das Ereignisdenken
charakteristisch sein, dass es die Unsichtbarkeit im Sinne der Un-

638 Wir weisen hier noch einmal auf Dieter Merschs Buch Was sich zeigt: Materiali-
tät, Präsenz, Ereignis hin.

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erfahrbarkeit befragt, weil nur ein solches Denken das eigentlich Er-
eignishafte denkt, nämlich seinen Charakter des unwiderruflichen
Vergehens, der das Ereignis jeder Ontologie entzieht. Hat man da-
gegen mit dem Unsichtbaren als unvollständig oder übermäßig Sicht-
baren zu tun, gibt es kein Geschehen mehr – es handelt sich dann um
eine Ontologie bzw. phänomenologische Ontologie zweier »Sachen«,
nämlich einer sichtbaren und einer unsichtbaren.
Wenn Heidegger von der Spur spricht, dann geht es um die Spur
eines geschichtlich uneinholbaren Anfangs, also nicht um ein Etwas,
das eine Spur hinterlässt, sondern um »das Spurlose« (B, 202) –
nichts führt zu ihm zurück. Wenn doch von einer Spur die Rede sein
kann, dann nur so, dass sie auf das zurückführt, was seine Uneinhol-
barkeit, Verweigerung zeigt – sie ist eine »Spur der Verweigerung«
(GdS, 53), eine Spur, die die Verweigerung zeigt. So ist für Heidegger
das Zeitalter der totalen Seinsvergessenheit – der Machenschaft – ein
Hinweis darauf, dass das Ereignis an sich der Entzug ist. Wäre es kein
Entzug, gäbe es keine Seinsvergessenheit. Auch Derrida versteht die
Spur genauso radikal – das, was eine Spur hinterlässt, ist so absolut
entzogen, dass, wenn man auf den Gedanken kommt, das zu denken,
was die Spur hinterlassen hat, man diesen Gedanken selbst als eine
Spur, eine »Urspur« deuten muss. Alles ist Spur. In diesem Sinne
kann es gar nicht darum gehen, dass wir die Spur, das Verhältnis von
der Spur und dem, was sie hinterlässt, denken, weil wir selbst die
Spur sind. Wir sind in der Spur, wir können nicht ihr gegenüber ste-
hen, um sie zu denken. Zusammenfassend: In Bezug auf das Ereignis-
denken Heideggers kann man behaupten, dass das, was es gibt, die
Spur des anfänglichen Ereignisses ist, aber das ist die Spur eines Spur-
losen – das Ereignis selbst hat mit diesen Gegebenheiten nichts zu
tun, weil es einfach völlig anders ist als sie, weil es unerfahrbar und
undenkbar ist. Es ist weder sichtbar noch unsichtbar, es ist jenseits
dieser Gegenüberstellung. Eher ist diese Gegenüberstellung die Spur
des Ereignisses.
Die Rede Levinas’ von der Spur ist anders. »Eine Spur, die als
Gesicht des Nächsten leuchtet« ist die Spur »des Unsichtbaren« (JS,
44/AQE, 14). Natürlich erscheint das Unsichtbare nie und die Spur
führt auch nicht zu ihm, aber es hinterlässt die Spur. Damit wird eine
Setzung von etwas gemacht, das es gibt und das die Spur hinterlässt.
Wir haben also mit etwas zu tun, das seiend ist, und nicht mit der
Gegebenheit, Anfang, Ereignis. Wir werden in der Tat sehen, dass
nicht der Diskurs über das Unsichtbare und das Antlitz denjenigen

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

philosophischen Gedanken ausdrückt, der Levinas zu einem Ereignis-


denker macht. Was den Begriff der Spur betrifft, bleibt Levinas der
phänomenologischen und sogar der ontologischen – onto-theologi-
schen – Einstellung verhaftet.
Marion spricht kaum von der Spur. Das heißt natürlich nicht,
dass man ihn nicht diesem Diskurs zuordnen kann. Den Begriff der
Spur könnte in Marions Philosophie auf zweifache Weise angewendet
werden: sowohl in Bezug auf das Verhältnis zwischen der Gegeben-
heit und dem Gegebenen als auch auf das Verhältnis zwischen dem
Gegebenen als gesättigten Phänomen und seiner Auslegung durch
den Empfänger. Im ersten Fall hätten wir mit einer Struktur zu tun,
die dem Heideggerschen Verhältnis von dem Anfang und dem, was
anfängt, entspräche. Das Gegebene als Spur würde auf etwas völlig
Andersartiges als es selbst hinweisen, nämlich auf etwas, das kein
Etwas ist: kein Geber, kein Grund, keine Ursache, sondern das Sich-
Geben selbst. Im zweiten Fall hätten wir, wie bei Levinas, mit dem
Verhältnis zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren zu tun, wo
sich die phänomenologische Beschreibung der sichtbaren Spur in eine
»endlosen Hermeneutik« bezüglich der übermäßigen Quelle dieser
Sichtbarkeit übergeht.

1.4. Das Ereignis und die Geschichte

Das Sichtbare des Ereignisses ist seine Spur, seine Geschichte. Wir
leben in einer Sichtbarkeit, die ihren Anfang in einem Ereignis hat.
Und umgekehrt: Jedes Ereignis hat wesentlich eine Geschichte. Ins-
besondere Heidegger hat dieser Struktur des Ereignisses Aufmerk-
samkeit geschenkt, wir finden sie aber auch in Marions, Badious,
Romanos Philosophie, weniger bei Levinas, obwohl sein Konzept der
ethischen Begegnung mit dem Anderen als die Eröffnung der Ge-
schichte der Moralität (d. h. der Menschlichkeit überhaupt) betrachtet
werden kann.
So ist für Heidegger das Ereignis das, »dem jede künftige Ge-
schichte entspringt« (BPh, 23). Da das Ereignis an sich zweideutig ist
und sowohl der Anfang als auch der Anfangende ist, kann man auch
sagen, dass es die »ursprüngliche Geschichte selbst« (BPh, 32) ist. Das
Ereignis ist die Geschichte. Das ist keine Definition des Ereignisses,
sondern der Aufweis einer seiner wesentlichen Strukturen, nämlich,
dass es sich als die Sichtbarkeit entfaltet. Diese Entfaltung geschieht

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durch die Auseinandersetzung der Betroffenen mit dem Ereignis und


stellt einen hermeneutischen Prozess dar. Das ist der Kontext, in den
sich Marions Konzept einer »endlosen Hermeneutik« oder Badious
»Wahrheitsprozedur«, die auch wesentlich »unendlich« (SE, 376/EeE,
368) ist, einschreiben lässt. Die Geschichte ist die Auslegung ihres
uneinholbaren Ursprungs. Sie ist nicht die Abfolge irgendwelcher
Tatsachen, sondern immer die Geschichte der Betroffenheit, des Ver-
suches zu verstehen, der Verwirklichung der in der Sichtbarkeit ge-
öffneten Möglichkeiten.
Gibt es Ereignisse ohne Geschichte, Augenblicke ohne Spur? In
der Tat nicht. Die Erklärung dafür liegt darin, dass das Ereignis als
immer schon vergangenes, als Verweigerung nur in seiner Spur ist.
Es gibt nichts anderes als diese Spur. Würden wir rein theoretisch ein
Ereignis ohne Spur annehmen, hätten wir nichts – im logischen Sinne
nichts, also wirklich nichts, nicht einmal eine Setzung von einem Er-
eignis x. Wir hätten also absolut nichts und es würde nicht nur keinen
Sinn machen, davon zu reden, sondern es wäre gar nicht möglich, von
etwas zu reden. Wenn wir aber von etwas reden können, sind wir
schon in der Spur, setzen schon etwas Sichtbares. Wir können nicht
von etwas reden, ohne in der Spur zu sein, wir können überhaupt
nichts haben, ohne irgendwelche Spuren zu verfolgen. Alles, was wir
haben, sind Spuren. Dies schließt natürlich die Annahme nicht aus,
dass es etwas geben könnte, was wir nicht haben. Doch auch dieses,
das wir nicht haben, können wir nur als Spur denken. Alle Ereignisse,
die wir haben (die wir also als solche haben, von denen wir wissen,
dass wir sie nicht haben), verlassen Spuren und sind nur durch diese
Spuren vermutbar.
Viel komplizierter ist die Frage, ob jede Geschichte einen ereig-
nishaften Anfang hat. Das wäre, wie es scheint, keine ereignisphiloso-
phische (zuerst also phänomenologische), sondern eine ontologische
Aussage, die eine Verifikation fordern würde. Falls eine Verifikation
nicht möglich wäre, könnte sie zu einer Frage des Glaubens werden:
Entweder glaubt man an ein Ereignis oder an eine Kausalkette. Sie
wird in der Tat zur Frage des Glaubens, da weder das Ereignis noch
alle Kausalitätsbeziehungen je aufgezeigt werden können. Doch sie
ist eine Frage des Glaubens nur in der spekulativen Ontologie. Wenn
man dagegen von der Erfahrung ausgeht, ist es gleich, ob man von
einem Ereignis oder einer unerklärlichen Ursache spricht. Die Be-
fragung der Geschichte wäre in beiden Fällen von der Erfahrung der
Unbegreiflichkeit betroffen: einmal, weil man die Kausalität als onto-

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

logische Annahme reduziert bzw. weil das Phänomen selbst die Kau-
salität reduziert hat; andernmal, weil die Kausalbeziehungen onto-
logisch unaufklärbar sind. Aber wenn die Erfahrung der Geschichte
stets die Erfahrung der Unbegreiflichkeit und Unerklärlichkeit ist,
kann man noch nicht daraus schließen, dass es die Unbegreiflichkeit
und Unerklärlichkeit, d. h. das Ereignis gibt. Doch eine solche Schluss-
folgerung in der spekulativen Vernunft wird auch nicht beabsichtigt:
Es ist gegen die phänomenologische Einstellung, solche ontologi-
schen Urteile zu fallen, da sie gerade darin besteht, sich von solchen
Urteilen zu enthalten. Die Phänomenologie behauptet nur, dass die
Erfahrung der Geschichte immer die Erfahrung der Unerklärlichkeit
ist und dass sie nur dadurch unterbrochen sein kann, dass man eine
ontologische Annahme macht und behauptet, dass es Kausalität gibt.
Es scheint, dass Marion genau dies sagen will, wenn er darauf hin-
weist, dass die Metaphysik überall Ursachen und Wirkungen sieht,
während die phänomenologische Erfahrung zeigt, dass das Gegebene
sich ohne Ursache gibt: »Als gegebenes Phänomen hat ein Ereignis
keine adäquate Ursache, es kann keine solche haben.« (GS, 289 f/ED,
235) Damit ist gesagt: Insofern eine Gegebenheit die Betroffenheit
ist, insofern wir von ihr ausgehend von der Erfahrung sprechen,
bleibt sie ein Ereignis. Wir können diese Ereignishaftigkeit nur leug-
nen, indem wir die Einstellung ändern, nämlich zu einer naiv ontolo-
gischen. Aber ausgehend von der Erfahrung, in einer phänomenolo-
gischen Beschreibung, müssen wir sagen, dass jede Geschichte, jede
Sichtbarkeit, jede Erfahrbarkeit als ein Ereignis anfängt.
Heidegger – im Vergleich zu Marion – beginnt nicht mit der
Erfahrung des Ereignisses. Er kommt zum Ereignis als Anfang der
Geschichte durch den Versuch der Selbstbegründung der Philosophie.
In seiner Philosophie ist das Ereignis nicht von vornherein als ein
Phänomen gegeben, sondern eröffnet sich als »Abgrund« der Un-
möglichkeit der Letztbegründung der Philosophie. Warum gibt es
diese und jene philosophischen Konzepte und Thesen, wie kann ihre
Geltung begründet werden? Die Begründung kann nicht durch ande-
re Konzepte und Thesen erfolgen, weil diese wiederum einen Grund
verlangen. In seiner früheren Philosophie versucht Heidegger, die
Philosophie in das Leben, in die Lebensvollzüge zu begründen, die
nicht theoretisch sind, sondern sich selbst aufweisen und als solche
keinen Grund mehr benötigen. Sein und Zeit entwickelt dementspre-
chend eine existenzielle Analytik, die diese Seinsvollzüge des Daseins
aufdecken soll: diejenigen also, die eine wissenschaftliche oder phi-

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losophische Einstellung mitsamt ihrer Ideen ermöglichen. Doch der


Versuch scheitert. Er scheitert offensichtlich deshalb, weil es für Hei-
degger unmöglich scheint, die Philosophie als eine natürliche Ver-
anlagung des Menschen zu sehen, als ob er schon immer, von Natur
aus, gar ohne sein Wissen philosophieren, das Sein, die Welt, den Tot
etc. verstehen würde. Aber sogar dann, wenn es so wäre, beginnt die
Philosophie irgendwann, sich zu zeigen, und dann bringt sie ihre
eigenen Möglichkeiten mit, die der Mensch entfalten kann. Das
Sichtbare der Philosophie – ihre Begriffe, ihre Denkweise etc. –
kommt aus einer Vergangenheit auf den Menschen zu und erlaubt
ihm, zu denken. Diese Vergangenheit ist durch diese Begriffe, die
aus ihr kommen, uneinholbar. Versteht man das Wesentliche der Phi-
losophie als das Denken des Seins – so wie Heidegger es tut –, muss
man vor dem Sein, das wir denken, und dem Grund, nach dem wir
fragen, einen Abgrund annehmen, der uns diese Denkmöglichkeiten
»zuspielt«: »Sein als gründendes hat keinen Grund, spielt als der Ab-
Grund jenes Spiel, das als Geschick uns Sein und Grund zuspielt.«
(SG, 169) Diese Annahme von einem Ereignis ist – genauso wie Ma-
rions phänomenologische Feststellung über das Ereignishafte, das
ohne Grund, also abgründig zu uns kommt, – nicht ontologisch. Sie
macht keine Aussage über ein seiendes Ereignis, zum Beispiel in Form
des Urknalls. Sie ist eine ereignisphilosophische Antwort darauf, was
die Ontologie selbst ist, nämlich die Geschichte eines Anfangs. Das
Denken des Ereignisses fragt nicht nach dem Anfang als einem Sei-
enden (ob es ihn gibt, ist er kausal oder ereignishaft zu verstehen, ist
er Mensch, Natur, Gott, transzendentale Formen o. Ä.), sondern nach
dem Anfang des Fragens selbst. Und dies kann es nur tun, indem es
den Denkenden selbst in die Betrachtung hineinzieht und nach ihm
als dem Fragenden fragt. In diesem Sinne ist die Ereignisphilosophie
eine begründende und selbstbegründende, also radikal kritische
Philosophie. 639

639 Dies ist die Art und Weise, wie schon Husserl versucht hat, die Erkenntnis zu

begründen. Er hat die formale Ontologie (also Logik) als unfähig zur Letztbegrün-
dung disqualifiziert, weil sie naiv mit irgendwelchen (und das heißt: spekulativen und
dogmatischen) Gegebenheiten arbeitet. Die phänomenologische Reduktion soll die
Rückbeziehung aller Gegebenheiten auf den Phänomenologen selbst leisten, so die
Erkenntnis durchleuchten und damit begründen. Zu begründen heißt, sich selbst zu
sehen: als denjenigen, der begründet, der lebt, denkt und stirbt. Das ist in der Tat eine
sehr merkwürdige Strategie der Begründung, aber sie ist genau diejenige, die Husserl
und Heidegger vertreten und als radikal kritisch gegenüber der Naivität der For-

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

Obwohl es möglich ist, von der Ereignishaftigkeit jedes Sicht-


baren zu sprechen (weil wir es so erfahren, weil es immer zuletzt in
den Abgrund führt), sollte man mit einer solchen Behauptung äu-
ßerst vorsichtig sein: Sie kann sich als eine spekulative Aussage ent-
puppen. Wir haben dieses Problem in Marions These über die Macht

schung eingestuft haben. Worin liegt der Unterschied zwischen den Ansätzen von
Husserl und Heidegger? Zuerst (vor Sein und Zeit) begründet Heidegger die Erkennt-
nis genauso wie Husserl in den Logischen Untersuchungen, nämlich im Erlebnis: die
Erkenntnis zu begründen heißt, das Erlebnis des Erkennens durchzuleuchten. Danach
scheiden sich ihre Wege: Während für Heidegger die Begründung der Erkenntnis
darin besteht, zu zeigen, wie das Erkennen im Leben, im Sein des Daseins ist, und
während sie für Heidegger als eine Fundamentalontologie im Sinne von Sein und Zeit
durchgeführt wird, radikalisiert Husserl das Hineinziehen des Fragenden selbst in die
Begründung und formuliert in Ideen I die transzendentale Phänomenologie aus, die
das Durchleuchten des Phänomenologen realisiert, indem sie ihn als die alles konsti-
tuierende Subjektivität bestimmt: Zu begründen heißt, zu verstehen, dass ich derje-
nige bin, der erkennt und begründet. Aber beide Denker ändern später wiederum ihre
Positionen. Heidegger gibt die Fundamentalontologie auf: Sie kann zwar zeigen, dass
und wie die Erkenntnis im Leben eingebunden ist, aber sie kann nicht zeigen, woher
sie selbst kommt, warum sie plötzlich auftaucht. So kommt er in den Beiträgen zum
Ereignisdenken: Der letzte Grund ist ein geschichtlicher Abgrund. Husserl versucht
in seinem Krisis-Werk, die Abgründigkeit zu vermeiden, indem er zeigt, wie die Wis-
senschaftlichkeit ganz »normal« aus der Lebenswelt hervorgeht und in ihr integriert
bleibt. Der letzte Grund ist also auch für Husserl geschichtlich, aber auf keinen Fall
abgründig. Außerdem gibt er seine transzendentalphilosophische Einstellung nicht
auf: Zu begründen heißt immer noch, sich selbst als den alles Leistenden anzuerken-
nen: »Das natürliche Leben ist, ob vorwissenschaftlich oder wissenschaftlich, ob theo-
retisch oder praktisch interessiert, Leben in einem universalen unthematischen Hori-
zont. Das ist in der Natürlichkeit eben die immerfort als das Seiende vorgegebene
Welt. So dahinlebend braucht man nicht das Wort »vorgegeben«, es bedarf keines
Hinweises darauf, daß die Welt für uns ständig Wirklichkeit ist.« (Hua VI, 148) »An-
statt aber in dieser Weise des ›schlicht in die Welt Hineinlebens‹ zu verbleiben, ver-
suchen wir hier eine universale Interessenwendung, in welcher eben das neue Wort
›Vorgegebensein‹ der Welt notwendig wird, weil es das Titelwort für diese anders
gerichtete und doch wieder universale Thematik der Vorgegebenheitsweisen ist.
Nämlich nichts anderes soll uns interessieren als eben jener subjektive Wandel der
Gegebenheitsweisen, der Erscheinungsweisen, der einwohnenden Geltungsmodi,
welcher, ständig verlaufend, unaufhörlich im Dahinströmen sich synthetisch verbin-
dend, das einheitliche Bewußtsein des schlichten ›Seins‹ der Welt zustande bringt.«
(Hua VI, 149) Während also die erkennenden Wissenschaften in der vorgegebenen
Welt leben, weist die Phänomenologie diese Welt und die Seinsweise in ihr auf, aber
sie fragt immer noch nach dem Bewusstsein, die diese Welt konstituiert. Die Erkennt-
nis ist also immer noch in der Subjektivität begründet: Ich erkenne, weil ich erkenne.
Für Heidegger gilt dagegen: Ich kann erkennen, weil ich zum Erkennenden geworden
bin. Am Anfang steht der Moment, in dem ich erkennend werde: Ich darf die Erkennt-
nis nicht naiv als schon seiend voraussetzen.

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der dritten Reduktion und der Banalität der Sättigung gesehen – wir
können theoretisch alle Gegebenheiten als Ereignisse sehen, aber in
vielen Fällen entspräche dies nicht der phänomenologischen Erfah-
rung. Manches zeigt sich nämlich nicht auf Anhieb als ereignishaft.
Und mit der Behauptung, dass alles ereignishaft ist, machen wir nicht
nur eine naiv-dogmatische Aussage, sondern nivellieren die Ereignis-
haftigkeit auf bloße Normalität, wenn sie doch genau das ist, was
unvorhersehbar die Normalität unterbricht.

1.5. Das Ereignis und das unvorhersehbare Neue

Wenn es um die Ereignisse geht, ist es üblich, von ihrer Unvorher-


sehbarkeit zu sprechen und davon, dass sie etwas Neues mit sich
bringen. Sie sind unvorhersehbar, weil sie einen Horizont der Sicht-
barkeit eröffnen, eine neue Geschichte einleiten, die vorher nicht
antizipiert werden konnte. Vorhersehen kann man nur dasjenige,
was schon existiert. Das Ereignis »ist nicht zu errechnen, sondern
Geschenk oder Entzug der Ereignung selbst,« (BPh, 248) hat Heideg-
ger geschrieben. Marion sagt von den Ereignissen: »Sie können nicht
vorhergesehen werden […].« (DS, 45)
Der Diskurs über das Unvorhersehbare ist allerdings nicht
immer genau. Vielleicht deswegen, weil er die Logik des Ereignisses
selbst nicht befragt und sich damit begnügt, unvorhersehbare Ge-
schehnisse zu behaupten. Wir wissen aber, dass das Neue – sei es eine
Idee, Freundschaft, ein politisches Ereignis – die sichtbare Spur (aber
noch nicht völlig sichtbare Spur, da sie sich immer noch im Prozess
der Auslegung befindet) des Anfangs ist. Ohne diesen Anfang ist die
Spur kein Ereignis: Sie ist eine Tatsache, etwas, was es gibt, und als
etwas Seiendes kann sie sofort in eine Kausalkette aufgenommen
werden. Wird sie in eine Kausalkette aufgenommen, ist sie vorher-
sehbar oder – wie es oft vorkommt – hätte vorhergesehen werden
sollen. Heideggers Begriff der Seinsverlassenheit bedeutet genau das:
Das Ereignis des Seins »verlässt« das Seiende, und das Seiende, indem
es von seinem Anfang verlassen wird, wird zum Vorhandenen: »Was
ist wovon verlassen? Das Seiende von dem ihm und nur ihm zuge-
hörigen Seyn. Das Seiende erscheint dann so, es erscheint sich als
Gegenstand und Vor-handenes, als ob Seyn nicht weste.« (BPh, 115)
Als Vorhandenes wird das Seiende, zum Beispiel ein philosophischer
Begriff, zum Objekt der Machenschaft. Und das heißt: Dieser Begriff

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

wird als von Gott gegeben, als Resultat irgendwelcher physisch-phy-


siologischen Prozesse, als eine Krankheit, die im falschen Sprach-
gebrauch entsteht, etc. betrachtet. Das Seiende wird nicht als das Sei-
ende, als dieses Seiende gesehen, in seinem Aufleuchten, sondern als
Wirkung einer Ursache. Genau das sagt auch Marion, wenn er in der
Auslegung der Gabe zeigt, wie die Gabe (zum Beispiel ein Ring) zum
»Besitz« (GG, 119/CN, 200) wird, wenn das Geben nicht mehr er-
scheint. Eine Gabe ohne Ereignis des Gebens ist ein Besitz: sie liegt
in meiner Macht, sie ist zum Objekt der Machenschaft geworden.
Welche Schlussfolgerungen können wir daraus ziehen? Dass es
falsch ist, von unvorhersehbaren Dingen und Geschehnissen zu spre-
chen. Sie sind Neues bringend, eine neue Geschichte einleitend, un-
vorhersehbar nur durch das Ereignis, das kein Etwas (kein Ding, kein
Prozess), sondern der Anfang ist. Ohne den Anfang gibt es keinen
Anfang, sondern nur eine unendliche Kausalkette. Wird das Ereignis
nicht erfahren, ist das Gegebene immer die Wirkung einer Ursache.
Also, streng genommen, ist ausschließlich das Ereignis neu und un-
vorhersehbar, das unvorhersehbare Neue: nur die Ankunft selbst und
die Spur nur, insofern sie ankommt, aber nicht an sich. Dass es so ist,
zeigt sich besonders deutlich in den Fällen, wo das, was sichtbar wird,
schon längst bekannt ist und trotzdem überrascht. Man kann sich
zum zweiten, zum dritten Mal verlieben und trotzdem überrascht
von dieser Möglichkeit sein. Die Liebe in ihrem Wesen, ihrer Praxis,
ihrem Gefühl ist nichts Unbekanntes, ihr Ankommen dagegen ist
jedes Mal neu und überraschend. Vielleicht kann man sie sogar vor-
hersehen, aber das, was ich vorhersehen kann, ist nur der leere Sach-
verhalt, nicht das Sich-Ereignen selbst – dieses bleibt in seiner singu-
lären, unwiederholbaren und deswegen immer neuen, immer aufs
Neue anfangenden Lebendigkeit unvorhersehbar, unmöglich.

1.6. Das Ereignis und das Andere

Die Philosophie des Ereignisses ist immer auch eine Philosophie des
Anderen. Weil das einzige, was einbrechen und etwas Neues mit sich
bringen kann, das Andere ist. Und umgekehrt: Das Andere kann nicht
anders kommen als durch einen gewaltigen Einbruch, der alles ver-
ändert. Heidegger hat sich gewundert: »Befremdlich muß es langehin
sein, daß Ereignis und Anfang innig dasselbe ›sind‹.« (E, 227) Warum
ist es also so, dass das Sein als Ereignis, das mit uns geschieht, auch

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

der Anfang ist, der einbricht? Weil es das Andere unseres alltäglichen
Lebens ist. So hat Levinas festgestellt: »Die Bewegung der Begegnung
tritt nicht zu dem unbeweglichen Antlitz hinzu. Diese Bewegung ist
in diesem Antlitz selbst. Das Antlitz ist durch sich selbst Heim-
suchung und Transzendenz.« (SA, 235/DEHH, 282) Ist das Ereignis
das Andere, das uns heimsucht, werden wir durch es in die Passivität
des Empfangens gesetzt.
Wir können das Andere als das verstehen, was das Ich (oder wie
Levinas sagt: das Selbe) nicht ist, und dies im weiten Sinne des Wortes:
Das Andere gehört mir nicht, steht nicht in meiner Macht, es ist an sich
und hat die Macht, auf mich zu kommen, mich erleiden zu lassen, mich
zu verändern. In diesem Sinne gibt es das Andere überall. Es wäre
sogar schwer zu sagen, wo ich bin, wenn es das Andere gibt. Andere
Menschen, deren inneres Leben mir unzugänglich ist, auf deren Ge-
danken, Verhalten und Handlungen ich kaum Einfluss nehmen kann.
Der andere Mensch ist stets eine Quelle der Überraschungen. Nie-
mand hat so viel darüber nachgedacht wie Levinas. Aber genauso auch
die Dinge der Welt: Ich kann aktiv eine Tür auf- und zumachen, aber
sie ist genauso an sich mit ihrer meist viereckigen Form, die ich nicht
ausgedacht habe, die eher auf mich aus einer Vergangenheit noch
längst vor meiner Geburt kommt und mich lehrt, wie ich sie bedienen
muss. Sie lässt mir ihre Farbe, ihren Duft, ihr Material erleiden. Nie-
mand hat dies so intensiv gespürt wie Merleau-Ponty. Ich kann selbst-
bewusst die Straße entlang gehen und meine eigenen Ziele verfolgen,
aber ich kann genauso von einer glatten Straße ins Fallen gebracht
werden und mit einem gebrochenen Bein ins Krankenhaus kommen,
was überhaupt nicht mein Ziel war. Sogar mein Leib ist ein Anderes: Er
führt sein eigenes Leben, er funktioniert, veraltet und stirbt ohne mei-
ne Teilnahme. Kann ich zumindest in meinem inneren Leben – in mei-
nen Gefühlen und Gedanken – unbeeinflusst vom Anderen sein? Seit
Marx, Nietzsche, Freud u. a. wissen wir, dass sogar das, was wir fühlen,
wollen, denken, das, wie wir sprechen und urteilen, von etwas anderem
als und selbst bedingt ist. Das 20. und beginnende 21. Jahrhundert
stellt das Subjekt als grundsätzlich bedingt, passiv, dem Anderen aus-
gesetzt dar. »Das Subjekt ist tot,« sagt Foucault und die Postmoderne
im Allgemeinen. Es gibt nichts, was noch das Ich wäre. Interessanter-
weise gibt die Phänomenologie das Ich nicht auf, und dies völlig be-
rechtigt. Für die Phänomenologie bedeutet diese Ausgesetztheit dem
Anderen gegenüber auf keinen Fall den Tod des Ich, weil es offensicht-
lich ist, dass jemand erleidet. Das Ich ist dasjenige, das seine eigene

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

Passivität erfährt. Seit Heidegger ist es sogar üblich geworden, dieses


passive Ich als das eigentliche Ich zu denken. Das Selbe kommt zu sich
selbst, wenn es seine Passivität erleidet. In der Tat schreibt Heidegger
in Sein und Zeit: »Zunächst ›bin‹ nicht ›ich‹ im Sinne des eigenen
Selbst, sondern die Anderen in der Weise des Man.« (SZ, 129) Insofern
ich also im alltäglichen Leben meine Gedanken äußere, meine Gefühle
zeige, meine Identität von anderen unterscheide, meine Pläne durch-
zusetzen versuche, bin ich nicht selbst: Ich bin wie die anderen, ich bin
die anderen. Nur wenn ich sterbe, mein Sein zum Tode verstehe, nur
wenn ich mit meiner radikalen Ohnmacht konfrontiert bin, bin ich ich
selbst: »Der Tod ist eine Seinsmöglichkeit, die je das Dasein selbst zu
übernehmen hat. Mit dem Tod steht sich das Dasein selbst in seinem
eigensten Seinkönnen bevor.« (SZ, 250) Ich bin nicht dann, wenn ich
lebe. Das Leben ist Selbst-Erhaltung, Selbst-Behauptung, Egoismus,
wie das insbesondere Levinas gesehen hat. Ich bin dann, wenn ich
sterbe, wenn das Andere – der Tod – mich von mir selbst wegnimmt.
Die Passivität als das eigentliche Selbst behaupten später Levinas,
Henry, Marion. Und schließlich definiert Romano aus der jüngeren
Generation der Phänomenologie die Ipseität als »Passibilität« (EM,
125), die zu sich selbst durch das Ereignis in dem Sinne kommt, dass
das Ereignis sie leiden lässt. Also, streng genommen, gibt es nur das
Andere und das Ich ist der Ort, wo das Andere einschlägt und als das
Andere sein kann. Das Ich ist Ich, insofern es für das Andere da ist.
Das Ereignisdenken gehört zum Diskurs, in dem das selbstmäch-
tige Ich in Frage gestellt wird, in dem seine Passivität es definieren
soll. Das Ereignis zu denken, heißt einen Betroffenen zu denken, mit
dem sich etwas ereignet; einen Betroffenen, der verändert wird, dem
etwas gegeben wird, was er nicht begreifen und besitzen kann. Das
Ereignis als das Andere trifft jemanden, gibt ihm eine Sichtbarkeit
(sie ist das, was sich ereignet), die sich allerdings nie in der Sichtbar-
keit ausschöpft, sondern etwas Unsichtbares behält. Die Auseinander-
setzung mit diesem Unsichtbaren als dem Anderen verläuft als die
Geschichte des Ereignisses. In diesem Sinne bedeutet das Ereignis-
denken das Denken des Anderen. Aber man sollte hier genau sein.
Das Ereignis als das Andere, das trifft, der Anfang, das Treffen muss
vom Gegebenen als Anderen unterschieden werden. Das Andere wird
in diesen beiden Fällen nicht gleich gedacht. Einmal ist es das Andere
des Erfahrens und Denkens, andermal das Andere für das Selbe. Hei-
degger unterscheidet den Anfang vom Sein. Das Sein steht im Ver-
hältnis zum Dasein, das Dasein versteht das Sein. Aber der Anfang ist

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

der Anfang dieses Verhältnisses und zu diesem Anfang hat das Dasein
kein Verhältnis: Der Anfang ist das Andere anders als das Sein ein
Anderes ist. Levinas unterscheidet die Beziehung zum Anderen und
den Anderen. Der Andere erschöpft sich nicht in der Sichtbarkeit,
sondern trägt in sich die Spur des Unsichtbaren, die das Selbe ver-
suchen kann, zu verstehen. Aber die Beziehung zum Anderen, die
Nähe zum Anderen ist nicht der Andere, sondern eine Andersheit
für das Denken. Marions gesättigtes Phänomen ist das, was mir ge-
genüberstehen kann, was ich, obwohl erfolglos, versuchen kann zu
begreifen. Aber die Gegebenheit ist das Andere für die Vergegenwär-
tigung im Denken, sie ist schon immer vergangen und kann nicht
zum Thema der Auslegung werden.
Wir wollen hier behaupten, dass das Ereignis dort gedacht wird,
wo nicht nur ein Verhältnis zum Anderen behauptet wird, sondern
auch der Einbruch der Möglichkeit dieses Verhältnisses, das anders
als das Andere für das Ich gedacht werden muss, nämlich als das An-
dere des Erfahrens und des Denkens. Ohne die Frage nach diesem
unerfahrbaren Einbruch verfehlt eine Philosophie genau das Ereig-
nishafte, bleibt bei einem Etwas – wenn es auch unbestimmt bleiben
soll – und kann sich nicht eine Philosophie des Ereignisses nennen.

2. Das Ereignis und die Phänomenologie

Im Abschnitt 1 dieses Kapitels haben wir versucht, die grundlegends-


ten Strukturen des Ereignisses aufzuzählen. Dabei haben wir uns auf
die Ergebnisse unserer Auseinandersetzung mit Heidegger, Levinas
und Marion gestützt. Wir können diese Strukturen nochmals nennen:

1. das Ereignis ist kein Etwas;


2. das Ereignis ist der Anfang und das, was anfängt;
3. das, was anfängt, ist die Spur und die Geschichte des Ereignisses;
4. das, was durch das Ereignis anfängt, ist immer etwas Neues und
Unvorhersehbares;
5. als der Anfang von etwas Neuem ist das Ereignis das Andere für
den Betroffenen.

Wir fassen diese Strukturen der Logik des Ereignisses, des Wie seines
Geschehens als etwas Gemeinsames für diese drei – aber auch für
andere – Ereignisdenker. Man könnte fragen, warum wir zu den Cha-

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

rakteristika des Ereignisses nicht die Betroffenheit gezählt haben, also


den Umstand, dass es sich mit jemandem ereignet. Weil dieses
Wesensmerkmal nicht durch das Nachdenken über das Ereignis auf-
gedeckt wird, sondern schon vor-entschieden ist: Es definiert über-
haupt die »Sache«, von der wir sprechen. Wir untersuchen das Er-
eignis, insofern es jemanden trifft. Man hätte auch völlig anders
vorgehen können, so wie zum Beispiel Deleuze es tut, wenn er von
Sinnereignissen spricht, die sich an sich ereignen. Wir fragen, was
passiert, wenn ein Ereignis einschlägt. Und noch radikaler: Im Geiste
der Phänomenologie sind wir der Meinung, dass es immer eine naiv-
dogamtische Spekulation (Ontologie) ist, wenn man nicht von etwas
spricht, insofern es uns und wie es uns trifft. 640

2.1. Das Ereignis als Phänomen und Nicht-Phänomen

Wir sprechen also vom Ereignis, insofern es uns erreicht hat: Es ge-
schieht mit uns. Wir haben eine Erfahrung von ihm und wir fragen,
wie wir es erfahren, was wir erfahren etc. Und wenn wir so fragen,
dann stellen wir fest: Es ist etwas Neues (eine neue Idee, Liebe,

640 In der Tat: Wir haben uns zusammen mit Levinas (und Heidegger) »zum Geiste

der Husserlschen Philosophie« bekannt und sind bei der Behandlung des Ereignisses
stets von unserer eignen Erfahrung ausgegangen. Aber wir taten dies nicht aus einem
willkürlichen Grund, sondern, weil wir uns zur Husserl’schen Phänomenologie noch
in einem zweiten Sinne bekennen, nämlich zu seiner Idee der Selbstbegründung der
Philosophie. Wir denken, dass es unmöglich und vor allem äußerst gefährlich ist,
nicht aus eigener Erfahrung zu sprechen und alle Aussagen als Aussagen eigener sub-
jektiver Leistung zu sehen. Denn: In demjenigen Moment, wo ich etwas behaupte,
was ich selbst nicht veranschaulichen kann, und in demjenigen Moment, wo ich mei-
nen Aussagen eine andere als meine erbärmliche und subjektive Autorität gebe, er-
laube ich mir alles, völlig alles, zu sagen und so die schrecklichsten Spekulationen des
Denkens zu verbreiten. Man könnte es kritisches Denken nennen, das Problem dabei
ist nur, dass sich das sog. kritische Denken auf eine Idee der Rationalität (wie auch
immer sie verstanden wird) beruht, aber wie viele schreckliche Sachen sind schon
unter dem Namen der Rationalität und Logik gedacht und getan worden! Die Logik
– wie Husserl gezeigt hat – ist selbst naiv, sie kann nichts begründen. Nur wer alle
Erkenntnisse auf die Jemeinigkeit reduziert, kann hoffen, keine Ontologie zu betrei-
ben: »Es gilt nicht, Objektivität zu sichern, sondern sie zu verstehen. Man muß end-
lich einsehen, daß keine noch so exakte objektive Wissenschaft irgend etwas ernstlich
erklärt oder je erklären kann. Deduzieren ist nicht Erklären. […] Das einzig wirkliche
Erklären ist: transzendental verständlich machen.« (Hua VI, 193) Aber: Jedes gesagte
Wort als entstammend zu sehen, heißt das Ereignis zu denken.

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

Freundschaft, aber vielleicht auch Hass und Leiden, ein besonderes


Erlebnis); es ist für uns unvorhersehbar gewesen, vielleicht sogar ein
Wunder; es ist eine Begegnung mit einem Anderen (einem anderen
Menschen, der Schönheit der Welt, Gott); mit dem Ereignis beginnt
eine neue Etappe des Lebens, die wesentlich die Auseinandersetzung
mit dem Ereignis ist: die Fortsetzung eines ereignishaften Augen-
blicks, der in Vergangenheit liegt. Also wenn wir so fragen, beschrei-
ben wir eine uns gegebene »Sache«. Und damit sind wir grundsätzlich
phänomenologisch. Die Beschreibung von etwas uns Gegebenem, in-
sofern es uns gegeben ist und wir darüber so nachdenken, wie es uns
gegeben ist, ist eine Phänomenologie. In der Tat hat Heidegger 1963
die bekannten Zeilen über die Phänomenologie geschrieben: »Und
heute? Die Zeit der phänomenologischen Philosophie scheint vorbei
zu sein. Sie gilt schon als etwas Vergangenes, das nur noch historisch
neben anderen Richtungen der Philosophie verzeichnet wird. Allein
die Phänomenologie ist in ihrem Eigensten keine Richtung. Sie ist die
zu Zeiten sich wandelnde und nur dadurch bleibende Möglichkeit des
Denkens, dem Anspruch des zu Denkenden zu entsprechen. Wird die
Phänomenologie so erfahren und behalten, dann kann sie als Titel
verschwinden zugunsten der Sache des Denkens, deren Offenbarkeit
ein Geheimnis bleibt.« (MWPh, 101) Aber diese Aussage ist nur
scheinbar eine Aussage über die Phänomenologie. Sie ist in Wahrheit
eine Aussage über das Denken überhaupt. Die Phänomenologie ist
ein Denken, das versucht, »dem Anspruch des zu Denkenden zu ent-
sprechen«. Aber denkt nicht jedes Denken so? In der Tat. Nur weil es
so ist, kann Heidegger sagen, dass die Phänomenologie »sich wan-
delt« und »bleibt«. Man kann sehr unterschiedlich denken, aber es
wird immer ein Versuch sein, der denkenden Sache zu entsprechen.
Und ein Denken muss sich nicht »Phänomenologie« nennen (der
»Titel« kann »verschwinden«) – es ist schon eine Phänomenologie. 641
Man darf auf jeden Fall daraus schließen, dass jede jemals in welchem

641 In diesem Sinne kann man dieses Zitat auch als Heideggers Beschreibung seiner

eigenen Philosophie sehen, wie dies zum Beispiel Güter Figal tut, der der Auffassung
ist, dass Heideggers Denken durchgehend phänomenologisch bleibt: »Heideggers
Denken ist wesentlich phänomenologisch.« (Figal(2009), 22) In der Tat ist sein Den-
ken phänomenologisch, weil alles Denken phänomenologisch ist, was aber nicht heißt,
dass das Gedachte immer ein Phänomen ist. Und das zu verstehen, heißt außerhalb
der Phänomenologie zu sein (zu sein, nicht aber nicht mehr phänomenologisch zu
denken). Ein solches Verstehen ist aber auch keine Ontologie – es ist richtig, »daß
Heidegger sich schließlich von der Ontologie abkehrt« (Figal(2009), 22). Es ist auch

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Denken auch immer gemachte Aussage eine phänomenologische


Aussage ist. Es gibt allerdings einen Unterschied: Diejenige Phäno-
menologie, die im 20. Jahrhundert von Husserl auf den Weg gebracht
worden ist, weiß darum, dass sie phänomenologische Aussagen macht
und sieht in diesem Wissen die einzige Möglichkeit, sich den Speku-
lationen zu entziehen. In der Phänomenologie beschreibt man nicht
bloß in ihrem Sein schon vorausgesetzte Sachen, sondern die Sachen,
insofern und wie sie uns gegeben sind. Damit enthält man sich von
jeden ontologischen Schlussfolgerungen. Und dieses Sich-Enthalten,
diese Epoché ist das radikal kritische Denken.
Das Denken ist phänomenologisch – eine Sache ist gegeben und
das Denken versucht, diese Sache zu verstehen; ohne einen ontologi-
schen Anspruch – es versucht, die Sache nur so zu beschreiben, wie
sie das Bewusstsein trifft, wie sie sich zeigt. Auch das Ereignis kann
eine solche Sache des Denkens sein. Die von uns herausgearbeiteten
Strukturen des Ereignisses zeigen eine Sache auf. Und dabei ist es auf
keinen Fall notwendig, dass diese Sache ein Objekt ist. Es kann auch
etwas Unbegreifliches sein. Um eine Sache phänomenologisch auf-
zuzeigen, muss sie nicht begreiflich sein. Das Sein, der Andere, die
Erfahrungen des Leibes, Kunst, Gott etc. werden immer ein Geheim-
nis bleiben, aber trotzdem können sie eine Sache des Denkens, der
Phänomenologie sein. Um zu denken, muss man nicht eine klare
und deutliche Idee haben. Vielleicht ist es ganz im Gegenteil: Wenn
alles klar und deutlich ist, ist das Denken nicht mehr möglich. Die
Phänomenologie, das Denken als Phänomenologie kann also das An-
dere, das Unbegreifliche denken. Ja, sie muss es sogar tun, wenn sie
sich um die Wahrheit kümmert. Und ist die Idee der »Phänomenolo-
gie der Unscheinbaren«, die diese Bezeichnung von Heidegger aus-
leihend (S, 399) heutzutage aufkommt 642 und die sich insbesondere in
Marions Philosophie verkörpert, nicht genau dieses Sich-Kümmern
um die Wahrheit? Wenn das Unbegreifliche gegeben ist, darf es nicht
geleugnet werden. Es muss gedacht werden. Was wäre das für eine
Philosophie, Weisheitsliebe, wenn sie bestimmte Sachen, die sich ge-

keine ontische Situation, es ist – wie wir später sehen werden – die Zugehörigkeit zum
Ereignis als Verhältnis zum Anfang des Denkens. In diesem Sinne ist das Denken
Heideggers seit seinem Ereignisdenken weder phänomenologisch noch ontologisch,
sondern zugehörig.
642
Mindestens seit Dominique Janicauds bekanntem Buch Le tournant théologique
de la phénoménologie française (1991) wird die gegenwärtige (französische) Phäno-
menologie als die »Phänomenologie des Unscheinbaren« verstanden.

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ben und zeigen, leugnen würde, wenn sie mit Absicht – aus Angst
oder Scham – diese Sachen anders darstellen würde, als sie sich zei-
gen, wenn sie nicht versuchen würde, diesen Sachen zu entsprechen?
Wäre das noch Weisheitsliebe? 643
Das Ereignis ist eine Sache des Denkens und, insofern wir uns
strikt von jeden ontologischen Spekulationen abgrenzen, es ist eine
Sache der Phänomenologie – wir beschreiben, was sich mit uns ereig-
net, wenn es auch etwas Unbegreifliches ist. Wenn das Ereignis eine
Sache der Phänomenologie ist, ist es ein Phänomen. Und in diesem
Moment stoßen wir auf riesige Schwierigkeiten. In der Tat gilt das
Ereignis im aktuellen Ereignisdenken – zum Beispiel im Denken
Marions oder Romanos – als Phänomen. Und nicht nur – was sehr
wichtig ist – für die Phänomenologie stellt das Ereignis ein Phänomen
dar, sondern auch für den Betroffenen selbst. 644 Heidegger (noch
nicht in Sein und Zeit und auch später nicht explizit), Levinas und
Derrida sprechen dagegen dem Ereignis die Phänomenalität ab. Es
ist sehr wichtig, diesen Einwand gegen die Phänomenalisierung ernst
zu nehmen. Oft wird diese Streitigkeit auf die Frage nach der Sicht-
barkeit und Unsichtbarkeit reduziert. Wenn das Phänomen das Sicht-
bare ist und etwas Unsichtbares (Unbegreifliches) behauptet wird,
dann kann dieses Unsichtbare nicht das Thema der Phänomenologie
sein. Marions Gegenargument lautet: Das Unsichtbare zeigt sich auch
und deswegen kann und muss es von der Phänomenologie behandelt
werden. Wir haben versucht zu zeigen, dass er in diesem Punkt recht
hat. Die Tatsache, dass das Ereignis kein Etwas, kein Objekt, nichts
Klares und Deutliches ist, ist kein Grund, ihm die Phänomenalität
und Denkbarkeit abzusprechen. Wenn aber von manchen Denkern
dem Ereignis die Erfahrbarkeit und Denkbarkeit abgesprochen wird,
geht es eigentlich um etwas anderes. Das Ereignisdenken unterschei-
det das Ereignis und das, was sich ereignet. Das, was sich ereignet, das

643 Damit möchten wir uns ausdrücklich gegen den von Janicauds in seinen Büchern

Le tournant théologique de la phénoménologie française (1991) und La phénoméno-


logie éclatée (1998) formulierten Vorwurf hinsichtlich der Überschreitung der Gren-
zen der Phänomenologie – insbesondere, wenn sie das Religiöse untersucht – wenden.
Die Phänomenologie überschreitet nie ihre Grenzen, insofern sie bei dem im Be-
wusstsein Gegebenen bleibt. Sie kann nicht-phänomenologisch nur dann werden,
wenn sie aus dem Gegebenen ontologische bzw. theologische Schlussfolgerungen
zieht, was nicht immer der Fall sein muss – auch wenn es um das Religiöse geht.
644
Und wie könnte das auch anders sein? Wenn die Phänomenologie von eigener
Erfahrung spricht, dann ist die von ihr untersuchte Sache erfahrbar, also ein Phäno-
men.

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sichtbar Unsichtbare, ist nicht dasjenige, dem die Phänomenalität


grundsätzlich abgesprochen wird, sodass sich an diesem Punkt eine
unterschiedliche Position ausformulieren würde. Ganz im Gegenteil:
Es wird von allen genau als die sichtbare Spur des Ereignisses ver-
standen. Es ist das Sich-Ereignen, das nicht erscheinen kann, das kein
Phänomen ist und deswegen undenkbar bleibt. Hier liegt der eigent-
liche Streitpunkt, nämlich in der Frage, ob das Sich-Ereignen ein Phä-
nomen ist, und nicht in der Frage, ob das Sichtbare ein Phänomen ist.
Aber vielleicht gibt es gar keinen Streitpunkt, weil in dieser ganzen
Diskussion von zwei verschiedenen Sachen gesprochen wird, ohne sie
zu unterscheiden. Die einen sprechen von dem, was sich ereignet, und
nennen es Phänomen, während die anderen vom Sich-Ereignen spre-
chen und in Bezug auf es die Phänomenalität leugnen. Es wird also
über zwei verschiedene Sachen nachgedacht und in diesem Rahmen
kann die Frage nach der Phänomenalität bzw. Nicht-Phänomenalität
des Ereignisses nicht beantwortet werden. Vielleicht muss sie auch
gar nicht beantwortet werden, wenn im Ereignisdenken, wie wir ver-
muten, schon entschieden ist, dass das Sich-Ereignen im Gegensatz
zur Spur nicht erscheint.
Das Ereignis ist ein Phänomen also nur, insofern es erscheint.
Aber es ist kein Phänomen, insofern es nicht erscheint, insofern es
der Anfang ist. Es ist unproblematisch, von einem Phänomen zu spre-
chen. Aber wie kann man von etwas sprechen, was nicht erscheint,
auch nicht als etwas Unsichtbares? An diesem Punkt endet die Phä-
nomenologie und beginnt das, was Derrida »Wahnsinn« nennt: Man
versucht nämlich, das Undenkbare zu denken. Das ist auf jeden Fall
ein wahnsinniges Unternehmen, aber nicht ganz ohne Erfolg. Und
der entscheidende Punkt liegt darin, zu behaupten, dass das Ereignis
undenkbar ist. Man verlässt hier die Phänomenologie nicht deswe-
gen, weil man mit etwas Unbegreiflichem zu tun hat – das Unbegreif-
liche ist nicht die Grenze der Phänomenologie. Wir können das Unbe-
greifliche sowohl erfahren als auch denken. Man muss hier die
Phänomenologie verlassen, weil man in Bezug auf das Undenkbare
nicht mehr wie in der Phänomenologie sagen kann, dass das Ereignis
sich als undenkbar zeigt, weil damit es schon als ein Gegebenes für die
Beschreibung – also als ein Phänomen – gesetzt ist. Man muss statt-
dessen die Phänomenologie verlassen und behaupten, dass das Ereig-
nis undenkbar ist. Hier erscheint nichts mehr als undenkbar – wenn
man das Ereignis denkt und man denkt es als Phänomen, kommt man
irgendwann zum Schluss, dass irgendetwas Undenkbares ist. Man

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kann es nicht anders als durch diese, auf den ersten Blick ontologi-
sche, Behauptung denken, die nicht eine Erfahrung beschreibt, son-
dern bloß denkend zu einer Erkenntnis kommt. Und daraus folgt
auch: Wenn es gesagt wird, dass etwas ist, was nicht erscheint, dann
ist keine Erscheinung eine Erscheinung von dem, von dem man be-
hauptet, dass es nicht erscheint. Eine Ereignisphilosophie, die als Phä-
nomenologie beginnt, kommt also zu dem, was keine Phänomenalität
(sichtbare oder unsichtbare, objekthafte oder unbegreifliche) besitzt,
aber sie bleibt trotzdem auch phänomenologisch (könnte es über-
haupt anders sein?), insofern sie die »phänomenologischen Umstän-
de« dieser Andersheit beschreibt. Nur dieses Mal sieht sie ein Phäno-
men nicht bloß als ein Phänomen, sondern als die Spur eines
Ereignisses, das jenseits aller Phänomenologie liegt. Genau das sagt
der Begriff des Ereignisses als Anfang bei Heidegger, der Begriff der
Beziehung zum Anderen bei Levinas und der Begriff der Gegebenheit
bei Marion.

2.2. Das nicht-phänomenale Ereignis und


das Andere der Erfahrung und des Denkens

Wir definieren das Ereignis als das, was uns trifft. Damit bestimmen
wir es als ein Phänomen. Und insofern wir es erfahren und ver-
suchen, zu verstehen und zu denken, ist es ein Phänomen. Anderer-
seits kommt eine Phänomenologie des Ereignisses – also ausgehend
von der Erfahrung – zur Einsicht, dass das Phänomen (begreifliches
oder unbegreifliches) die sichtbare Spur von dem ist, was unmöglich
erscheinen kann, ohne aufzuhören das zu sein, was es ist, nämlich ein
anfängliches Ereignis. Es kann nicht erscheinen, es kann überhaupt
nicht erscheinen und damit ist es ein An-sich-Sein, das Andere der
Phänomenologie, das Andere des Denkens. Ab jetzt gibt es grund-
sätzlich zwei Möglichkeiten für ein Ereignisdenken: Entweder hält
es sich streng logisch daran, dass das, was nicht erscheint, nicht er-
scheint, oder versucht, die Logik zu verlassen und damit etwas Wahn-
sinniges zu unternehmen. Im ersten Fall setzt es ein Nicht-Erschei-
nendes als etwas, was seiner Natur nach, nicht erscheint. Daraus
ergeben sich für diese Möglichkeit wiederum zwei Wege: Ist eine on-
tologische »Sache« gesetzt, kann sie entweder als eine übliche »Sa-
che« beschrieben werden, die diese und jene »Eigenschaften« auf-
weist (eine wesentliche Eigenschaft ist, dass sie nicht erscheint), sich

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so oder so verhält; oder man kann versuchen, dieser Eigenschaft des


Nicht-Erscheinens der gesetzten Sache streng zu folgen und jede
mögliche Beschreibung zu verneinen. Um diese erste Möglichkeit zu
veranschaulichen: In der mittelalterlichen Theologie ist Gott eine on-
tologisch bzw. onto-theologisch gesetzte »Sache«. Die affirmative
Theologie macht positive Aussagen über Gott, obwohl sie auch seine
Unerkennbarkeit (Gott ist nicht darauf reduzierbar, was wir von ihm
denken, wie er uns erscheint) behauptet. Sie kann so widersprüchlich
handeln, weil die Unerkennbarkeit Gottes nur eine Eigenschaft einer
»Sache« ist, die als eine »Sache« schon positiv gesetzt ist. Die These
von der Unerkennbarkeit ist schon eine Affirmation. Die negative
Theologie versucht dagegen, dieser Hemmungslosigkeit in der Er-
kenntnis Gottes entgegenzusteuern. Wenn Gott unerkennbar ist,
dann sollen alle Affirmationen in Bezug auf ihn verneint werden.
Aber auch die negative Theologie – wie Derrida in seinem Vortrag
Comment ne pas parler. Dénégations (1986, veröffentlicht in: Psyché.
Inventions de l’autre (1987)) und seinem Buch Sauf le nom (1993)
zeigt – hat Gott schon als eine Sache gesetzt, zu etwas Präsentem im
Bewusstsein, also zu einem Objekt für eine Metaphysik der Präsenz
gemacht, wenn auch diese -logie nicht bejahen, sondern verneinen
soll. Sowohl in der affirmativen als auch in apophatischen Theologie
geht es um eine »Sache«, die onto-theologisch gesetzt worden ist und
im Denken als unerkennbar erkannt wird.
Würde das Ereignisdenken, das als Phänomenologie anfängt und
von dem spricht, was und inwiefern es uns gegeben ist, zur Setzung
eines grundsätzlich Nicht-Erscheinenden kommen, würde das einen
Rückfall in die Ontologie, Onto-theologie, Metaphysik bedeuten.
Auch dann noch, wenn es nicht um eine nicht-erscheinende Sache,
sondern zum Beispiel und einen Prozess gehen würde. Es wäre ein
Rückfall in die Metaphysik so, wie sie von Heidegger verstanden
wird: wenn der Versuch etwas anderes, Höheres als ein Seiendes zu
denken, scheitert und wiederum nur das Seiende gedacht wird. 645
Würde das Ereignisdenken die Ontologie überwinden, um etwas an-

645 Die Heideggersche Definition von Metaphysik ist allgemein bekannt und überall

in seinen Texten zu finden. Wir zitieren hier zum Beispiel folgende Stellen: »Der
Name ›Metaphysik‹ wird hier unbedenklich zur Kennzeichnung der ganzen bisheri-
gen Geschichte der Philosophie gebraucht. Er gilt nicht als Titel einer ›Disciplin‹ der
Schulphilosophie; auch seine späte und nur z. T. künstliche Entstehung bleibt unbe-
achtet. Der Name soll sagen, daß das Denken des Seins das Seiende im Sinne des
Anwesend-Vorhandenen zum Ausgang und Ziel nimmt für den Überstieg zum Sein,

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deres zu denken, das sie überschreitet, würde es also wirklich zur


Meta-physik (im etymologischen Sinne des Wortes), und wäre es
dann in dieser Meta-physik doch unfähig, etwas anderes als ein Sei-
endes zu denken, würde es wieder zur Ontologie, zur gescheiterten
Meta-physik, zur Metaphysik im Heidegger’schen Sinne. Doch die
Gefahr liegt nicht bloß im Rückfall in die Metaphysik. Es geht darum,
dass, wenn wir schließlich zu etwas kommen, was uns nicht betrifft,
wir davon zu sprechen beginnen, was uns nicht betrifft. Aber wollten
wir gerade nicht davon sprechen, was uns betrifft? In der Tat behält
das Ereignisdenken diesen Bezug zur Erfahrung. Es geschieht mit
dem Betroffenen, sodass der Betroffene ein Verhältnis zu ihm hat.
Doch – und damit versucht das Ereignisdenken, mit der Unerfahrbar-
keit und Undenkbarkeit des Anfanges zurechtzukommen – ist das
kein Verhältnis eines Verstehenden zu einem Phänomen (sei es ob-
jekthaft oder ein Geheimnis), sondern soll anders gedeutet werden.

2.3. Das Ereignis und die Überschreitung der


Bewusstsein-Phänomen-Struktur

Das Ereignisdenken sieht sich mit folgendem Problem konfrontiert:


Ausgehend von eigener Erfahrung ist es gezwungen, etwas zu den-
ken, was kein Etwas für einen Empfänger ist, weil es nicht erfahrbar
(und dementsprechend auch nicht denkbar) ist. Folglich versucht das
Denken des Ereignisses, das Ereignis als die Überschreitung der
Struktur »Empfänger-Etwas« zu denken, aber gleichzeitig – was fast
unmöglich scheint – auch im Rahmen der Erfahrung zu bleiben. Im
Folgenden möchten wir zwei mögliche Varianten – die eine von Levi-
nas, die andere von Heidegger – eines solchen Versuches vorstellen.
Sie sind wahrscheinlich nicht die einzigen möglichen, aber auf jeden
Fall – jeder für sich – paradigmatische Versuche.

der zugleich und sogleich wieder zum Rückstieg in das Seiende wird.« (B, 423) Oder:
»Die Metaphysik ist seynsgeschichtlich der Zwischenfall der Herrschaft des Seienden
vor dem Seyn dergestalt, daß sich das Seyn in die Seiendheit des Seienden losläßt und
in die Seinsverlassenheit des Seienden sich schickt.« (E, 103) Es geht also darum, dass
man versucht, etwas anderes als das Seiende zu denken, dies gelingt aber nicht: Über-
all wird nur das Seiende gedacht bzw. die »Seiendheit«, insofern man beansprucht,
etwas anderes als das Seiende zu denken. Man versucht also, nichts zu setzen, ein
Ereignis zu denken, kommt aber wiederum zur Setzung eines Ontischen und dies
immer und immer wieder. Es ist in der Tat – wie schon gesagt – wie in Kafkas Schloss.

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

2.3.1. Der Leib


Das Ereignisdenken, das erfährt, dass das Ereignis nicht das ist, wo-
von es selbst spricht, setzt dieses, wovon es nicht spricht, nicht als
eine Sache, sondern bleibt im Rahmen der Erfahrung, der Betroffen-
heit. Damit bleibt es streng von jeder Ontologie und damit auch von
jeder Art negativen Denkens (auch von der negativen Theologie) un-
terschieden. Damit gibt es auch die wahre meta-physische Einstel-
lung nicht auf: Es versucht, nicht in die Ontologie zurückzufallen,
sondern weiterhin das zu denken, was kein Seiendes ist. Einen sol-
chen Versuch, die Ontologie im Denken des Anderen zu vermeiden,
können wir sehr gut in der Philosophie Levinas’ beobachten. In Tota-
lité et infini wird das Andere als das Unendliche nicht als ein Objekt
gesetzt. Das heißt: Es kann nicht ausgehend vom Selben gedacht wer-
den. Es ist schlicht das Andere und damit stellt es die Totalität des
Selben in Frage. Die »metaphysische Beziehung« zu ihm »kann nicht
im eigentlichen Sinne des Wortes eine Vorstellung sein; denn dann
würde sich das Andere im Selben auflösen« (TU, 43/TI, 8). Die Bezie-
hung zum Anderen ist stattdessen »Begehren«. Das Begehren stellt
die Unmöglichkeit, das Andere zu erreichen, dar. Ich möchte das An-
dere durchleuchten und verstehen, es so erfahren und besitzen, wie
ich ein Objekt erfahre und besitze, aber ich kann es nicht, weil es das
Andere ist: Ich begehre »jenseits aller Befriedigung« (TU, 37/TI, 4).
Aber das Begehren ohne Befriedigung ist ein Erlebnis. Es ist sogar ein
intentionales Erlebnis, das das Andere als absolute Andersheit gegen-
über dem Selben erfährt. Wir haben mit einem Objekt »absolute
Andersheit« zu tun, das wir als unerreichbar charakterisieren. Und
wir müssen feststellen, dass dieser phänomenologische Versuch die
übliche onto-theologische Denkweise, wenn sie das Andere denkt,
nur wiederholt. Sie beide setzen ein Objekt (begreifliches oder unbe-
greifliches), der Unterschied besteht nur darin, dass die Phänomeno-
logie nicht bloß eine Sache beschreibt, sondern sie beschreibt sie,
insofern sie im Bewusstsein gegeben ist. Damit denkt sie, die unbe-
gründeten Spekulationen überwunden zu haben, was auch wahr ist,
doch das bedeutet noch nicht, dass sie das Andere zu denken vermag.
Aber wenn sie das Andere noch nicht denken vermag, weil sie es für
das Bewusstsein als eine Gegebenheit setzt, kann sie dann behaupten,
dass sie die Metaphysik überwunden hat? Ist der Sinn der Überwin-
dung der Metaphysik nicht die Suche nach der Wahrheit, nach der
Weisheit und zwar mehr als es in der Ontologie geschieht? Ein Schritt

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

in diese Richtung besteht auf jeden Fall darin, dass man einsieht, dass
jede gesagte Wahrheit die Wahrheit eines Bewusstseins ist und dass
nur in diesem Rahmen die Wahrheit gesucht werden kann. Wenn
aber das Denken, indem es die Wahrheit als sein Ziel setzt, die der
zu denkenden Sache entsprechen muss und wenn es gleichzeitig zu-
gibt, dass es diese Sache nicht ereichen kann, dass es nur seine eige-
nen Phänomene beschreibt, darf es sich dann mit diesen phänomeno-
logischen Wahrheiten zufriedengeben und sich sogar vortäuschen,
dass diese Wahrheiten des Bewusstseins die Wahrheiten der Sache
sind? Nur weil es unfähig ist, das Andere selbst zu erreichen, darf es
seine eigene Wahrheit für Wahrheit erklären? Die Metaphysik kann
nicht überwunden werden, wenn, statt das Andere zu denken, das
Denken nur das Selbe denkt. Um die Metaphysik zu überwinden,
muss das Andere als Grenze des Denkens gedacht werden. Und das
kann weder ontologisch noch phänomenologisch geschehen. Eine
Möglichkeit, diese Grenze zu denken, ist das Ereignisdenken.
Kehren wir zu Levinas zurück. Wenn das Andere gedacht wer-
den muss, kann Levinas es nicht ontologisch setzen und ein Erlebnis
des Begehrens phänomenologisch beschreiben. Wovon muss man
sprechen, um nichts zu setzen? Indem man spricht, setzt man natür-
lich das, wovon man spricht. Deswegen ist das, wovon man spricht,
nicht das, wovon man spricht. Ist dies gesagt, kann man in dieser
neuen Einstellung erneut fragen: Wovon muss man sprechen, um
nichts zu setzen? Eine Möglichkeit: Man spricht von einer nicht-in-
tentionalen Erfahrung, einer Erfahrung, die natürlich das Andere
nicht setzt und deswegen auch nicht eine Erfahrung des Selben ist;
von einer Erfahrung, die vor dem Objekt und vor dem Subjekt statt-
findet; von einer leiblichen Erfahrung. Es ist nicht so, dass im Falle
Levinas’ er zu der Idee von einer vor-intentionalen, leiblich passiven
Erfahrung durch das Denken des Anderen als Anderen kommt. Diese
Idee liegt schon vor, nämlich in der Phänomenologie des Leibes von
Husserl, Merleau-Ponty und Henry. Dieser Umstand ist wichtig, weil
das heißt, dass Levinas diesen Gedanken von einer leiblichen Erfah-
rung auf das Andere bloß anwendet und es ist möglich – wie das sich
später in der Tat herausstellt –, dass er nicht ganz dazu geeignet ist,
die Beziehung zum Anderen zu verstehen. Er ist nur eine Möglich-
keit, wie man die Beziehung zum Anderen denken kann. Wenn also
das Andere nicht das von einem Subjekt vorgestellte Andere ist, dann
gibt es die Andersheit vielleicht dort, wo wir leiblich, sinnlich, passiv
sind, wo wir nichts – weder sich selbst noch das Andere – vergegen-

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ständlichen? Schon in Totalité et infini und viel ausgeprägter in Au-


trement qu’être geht es um eine nicht-thematisierbare, nicht-phäno-
menalisierbare Erfahrung des Anderen, die sich durch die passive
Sinnlichkeit des Selben ereignet und die intentionale Setzung des
Anderen nicht erlaubt: »Die so verstandene Sinnlichkeit ist nicht
identisch mit den noch schwankenden Gestalt des ›Bewußtseins von‹.
[…] Die Sinnlichkeit intendiert keinen Gegenstand, auch nicht einen
noch unausgebildeten Gegenstand.« (TU, 194/TI, 110) Und im Auf-
satz De l’Un à l’Autre (1983) heißt es schließlich: »Das Menschliche
heißt Rückkehr zur Innerlichkeit des nicht-intentionalen Bewußt-
seins […].« (ZU, 186/EN, 170) Die Innerlichkeit, die Immanenz des
Subjekts bedeutet genau, dass das Subjekt nicht intentional auf etwas
gerichtet ist, dass es nicht außerhalb seiner selbst ist. Es verschmilzt
sich mit dem Gegebenen. Und es kann dies, weil es passiv ist, dem
Anderen gegenüber völlig offen. Man sagt, es ist in diesem Moment
leiblich nicht deswegen, weil es irgendwelche sinnliche Daten wahr-
nimmt (das wäre Intentionalität), sondern weil sein aktiver Geist
nicht aktiviert ist. Das Subjekt ist in diesem Moment durch und durch
undurchsichtig, ir-reflexiv, völlig inkarniert, »Fleisch« (chaire) – wie
Henry es bezeichnet. Niemand hat sich mit dieser Möglichkeit des
Subjekt-Seins, die als absolute Immanenz, Innerlichkeit gesehen wer-
den muss, so intensiv auseinandergesetzt wie Michel Henry.
Die passive Fleischlichkeit ist zu einem üblichen Charakteristi-
kum des Subjekts geworden, sogar zu demjenigen, das das Subjekt
wesentlich charakterisiert. Wir dürfen uns aber in diesem Moment
nicht vom Thema abschweifen. Es geht um das Ereignis als das An-
dere des Denkens, der Phänomenalität, der Erfahrung. Es geht nicht
um die Untersuchung über die Seinsweise des Subjekts. Die Frage, die
uns in diesem Zusammenhang beschäftigen sollte, ist, ob das Ereignis
als Innerlichkeit – weil jenseits der Intentionalität – beschrieben wer-
den kann? Wenn Levinas die Beziehung zum Anderen denkt, denkt er
also eine Passivität ohne Intentionalität, eine Innerlichkeit, die zu sich
zurückkehrt, wenn das Andere da ist. Trotz der andersartigen und
heutzutage vielerorts verbreiteten Ansicht folgen wir Levinas (und
Derrida) und behaupten, dass diese Art von Beziehung nicht er-
scheint und mit der Phänomenologie nichts mehr zu tun hat. Die
Phänomenologie taucht für Levinas in der Tat nur dort auf, wo er
die »phänomenologischen Umstände« dieser »Rückkehr«, die nicht
das ist, was erscheint und wovon man spricht, beschreibt. Die Phäno-
menologie beschreibt dann die Erfahrung der Rückkehr zur Inner-

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lichkeit als »Verspätung« (JS, 199/AQE, 112) in Bezug auf eine »Vor-
zeitigkeit« (JS, 50/AQE, 18), auf eine »Vergangenheit, die niemals
Gegenwart war« (JS, 68/AQE, 31), also in Bezug auf eine Zeit, wo
ich als ich nicht war und wo auch das Andere als Andere nicht war
und wo überhaupt nichts war, weil es keine Intentionalität gegeben
hat. Alles, was wir phänomenologisch haben, ist die Verspätung. Wir
haben keine Erfahrung des Anderen, sondern nur die Erfahrung der
Verspätung; und der Spur.
Ein ähnliches Denkschema finden wir auch in der Philosophie
Marions, er denkt aber auf keinen Fall so radikal wie Levinas. Für
Marion bleibt das Andere grundsätzlich ein Phänomen der Anders-
heit – er beschreibt die Erfahrung des Anderen, ungeachtet der Tatsa-
che, dass sie kein Anderes mehr an sich hat. Man könnte sagen, dass
sein Ereignisdenken grundsätzlich als Hermeneutik des gesättigten
Phänomens (der sichtbaren Spur des Ereignisses) zu verstehen ist.
Nur sein Konzept der Gegebenheit verknüpft Marions Denken mit
dem Ereignisdenken, insofern er die Gegebenheit als dasjenige ver-
steht, das das Phänomen gibt, während sie selbst in »Verborgenheit«
(GS, 130/ED, 100) bleibt; insofern die Gegebenheit immer »schon
vergangen« (CN, 249) ist und wir in Bezug auf sie immer »in Verzug«
(CN, 249) sind. Marions Phänomenologie ist ein Ereignisdenken, in-
sofern der Empfänger des Ereignisses grundsätzlich als leiblich ver-
standen wird: »[I]ch habe keinen Leib, sondern ich bin mein
Leib […].« (EPh, 166/PhE, 178) Die Leiblichkeit konstituiert die Pas-
sivität des Subjekts und seine zeitliche Verschiebung bezüglich des
Ereignisses.

2.3.2. Das nicht-vorstellende Denken


Das Denken des Ereignisses behauptet, eine »Sache« nicht erfahren
zu haben, die deswegen kein Phänomen ist, sondern das Andere und
das Andere des Denkens, das eine »Sache« setzt. Levinas deutet dieses
Andere als Innerlichkeit, als – wir können das so beschreiben – einen
Zustand eines absolut inkarnierten Bewusstseins. »Zustand« heißt,
dass es kein Subjekt und kein Objekt gibt. »Inkarniert« heißt, dass es
sich auf keinen Fall um einen Bewusstseinszustand handelt, wo das
Bewusstsein sich dessen bewusst wäre, was passiert. Das Subjekt ist
stattdessen zum Leib geworden, zum Objekt unter den Objekten,
zum Objekt, das sich selbst nicht kennt.
Der Kontext, in dem Heidegger sein Ereignisdenken entwickelt,

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

ist völlig anders. Obwohl er genauso wie Husserl die leibliche Seins-
weise des Menschen thematisiert, ist ihm die völlige Verfleisch-
lichung des Subjekts, wie sie in der französischen Phänomenologie
auftaucht und jetzt zu einer fast allgemein akzeptierten These gewor-
den ist, fremd. 646 Aber lassen wir die Frage nach der Seinsweise des
Subjekts beiseite. Was das Ereignis betrifft, bietet Heidegger eine
ähnliche Lösung wie Levinas an, und zwar für das Problem der onto-
logischen Setzung, das im Allgemeinen das Problem der Beziehung
zum Anderen, zum Ereignis ist. Auch für Heidegger ist der Bezug

646 Wir möchten an dieser Stelle auf die Forschungsergebnisse von Patrick Baur über

die Leiblichkeit in Heideggers Philosophie hinweisen, die im Buch Phänomenologie


der Gebärden. Leiblichkeit und Sprache bei Heidegger (2013) veröffentlicht sind. Zu-
erst stellt er fest: »In der Tat wird die Leiblichkeit bei Heidegger auffällig selten direkt
thematisiert. Bereits in den früheren Werkphasen spricht Heidegger nicht häufig vom
Leib.« (Baur, 12) Er fragt: Warum? Eine – in unserem Kontext wichtige – Antwort auf
diese Frage lautet: Weil Heidegger »sich konsequent und durchgehend dem Ansinnen
verweigert, eine Phänomenologie des Menschseins müsse sich primär auf die Leib-
lichkeit gründen« (Baur, 24). Baur beobachtet zwar, dass Heideggers Analysen der
menschlichen Existenz »leibliche Momente zu implizieren scheinen« (Baur, 13), aber
der Mensch ist nicht der Leib, deswegen bleibt es bei den »Implikationen« – genauso
wie in der Existenz der Leib zwar impliziert ist, aber meistens (natürlich nicht immer:
Es gibt Fälle, wo der Mensch völlig zum Leib wird, zum Beispiel wenn er hungert oder
beim Sex) im Hintergrund bleibt und nur mit-macht. Baur zitiert (Baur, 23) in diesem
Zusammenhang Zollikoner Seminare, wo Heidegger die Lage ganz eindeutig erklärt:
»Sieht denn der Leib? Nein, ich sehe. Aber zu diesem Sehen gehören doch meine
Augen, also mein Leib. Doch nicht das Auge sieht, sondern mein Auge – ich durch
meine Augen sehe.« (Z, 114) Schauen wir aber auch auf einen anderen Text, der aus
der französischen Tradition kommt. Der Autor ist Jean-Luc Marion: »Das tägliche
Leben gestattet mir kaum Zugang zu mir selbst, ja entbindet mich in der Tat davon,
den Wunsch danach zu hegen oder gar die Notwendigkeit dazu zu verspüren. Denn
ich habe ein stillschweigendes Abkommen mit mir selbst: Ich tue so, als hätte ich
Zugang zu mir selbst, will mich aber selbst davon entheben, dies allzu oft nachzuprü-
fen, um so meiner weltlichen Umtriebigkeit frei nachgehen zu können. […] So neh-
men die Dinge ihren Lauf: Meiner selbst zu gewiss, als dass ich jemals darangehen
würde, nachzusehen, ob ich da bin, befasse ich mich nur mit den restlichen Seienden.
[…] Wo und wann könnte ich aufhören (falls ich es könnte), ein Fremder mir gegen-
über zu sein, unbestimmt, ja abwesend? […] Ich komme auf mich selbst zurück, in-
dem ich mich selbst erfahre, und ich erfahre mich selbst, indem ich Leib werde.«
(L, 21/DS, 103) Man könnte vermuten, dass es hier um unterschiedlich verstandene
Leibesbegriffe geht. In diesem Fall gibt es keine Probleme: Man muss sich nicht weiter
mit dieser Problematik beschäftigen. Wir nehmen dagegen an, dass es hier um zwei
phänomenologische Beschreibungen derselben Sache geht und dass sie in Konflikt
sind. Dann entsteht die Frage: Bin ich ich selbst, wenn ich in der Welt bin und durch
meinen Leib die Welt erfahre (wie auch Merleau-Ponty das gedacht hat) oder bin ich
ich selbst, wenn ich in meinem Leib bin? Dass beide Antworten stimmen könnten, ist

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zum Sein als Ereignis keine Vorstellung. Wenn wir diese Beziehung
beschreiben wollen, können wir sie nicht so verstehen, dass das Da-
sein das Sein als einen gesetzten Gegenstand denkt. Ein solcher Ge-
genstand wäre für Heidegger ein leerer Begriff: nichts von dem, was
man erreichen wollte. Aber das Sein ist auch – wie wir gesehen haben
– kein intentionales Objekt eines Erlebnisses. Es ist ebenso kein Ge-
fühlszustand, kein Bewusstseinszustand. Wie kann man dieses Ver-
hältnis zum Ereignis noch charakterisieren? Levinas sagt: Es ist die
Innerlichkeit. Heideggers Lösung lautet: Es ist der »Austrag« (B, 15).
Die Innerlichkeit von Levinas ist an die Fleischlichkeit des Subjekts
gebunden. Der Austrag von Heidegger ist an das Denken gebunden.
Man könnte vermuten, dass diese zwei Möglichkeiten im Gegensatz
zueinander stehen, aber so ist es nicht. Ganz im Gegenteil: Sie bestä-
tigen dieselbe Art und Weise, wie man das Ereignis denken kann. Das
Denken des Seins ist für Heidegger nämlich kein vorstellendes Den-
ken. Die Philosophie Levinas’ denkt die vor-intentionale Innerlich-
keit, die das philosophische Denken nicht einholen kann, weil sie kein
Phänomen ist. In dieser Innerlichkeit geschieht die Begegnung von
Selbem und Anderem. Die Philosophie Heideggers denkt ein nicht-
intentionales Denken, das sie nicht einholen kann, weil es kein Be-
griff ist. In diesem Denken geschieht die Beziehung zwischen dem
Denken und seinem Anderen, nämlich seinem Anfang. In diesem
Denken erfährt das Denken seine Eingebettetheit in seinem Ur-
sprung; es ist eins mit seinem Ursprung; es erfährt sich als die Spur
dieses Ursprunges, der der Abgrund ist. Weil dieses nicht-intentiona-
le Denken als Austrag nichts denkt, sondern im Verhältnis zu seinem
Anfang steht, ist es eine Ereignis, ein Zustand des Denkens, die Art
und Weise, wie das Denken in diesem Moment ist: »Der Austrag ist
Er-eignis.« (B, 84) Und: »Der Aus-trag trägt den Ab-grund.« (B, 307)
Levinas’ Innerlichkeit ist kein Gefühl der Innerlichkeit, sondern der
Zustand, in dem sich das Selbe befindet, wenn es dem Anderen be-
gegnet. Heideggers Austrag ist ein Zustand, in dem sich das Denken
befindet, insofern es bei seinem abgründigen Anfang ist.

keine zufriedenstellende Antwort. Aber legen wir diese Überlegungen zur Seinsweise
des Ich in diesem Moment beiseite.

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2.4. Die Nicht-Phänomenalität des Ereignisses

Aus dem Ausgeführten können wir jetzt einige Schlussfolgerungen


ziehen. Insofern wir das Ereignis denken, ist es ein Phänomen – ob
gegenständliches oder unendliches, das spielt keine Rolle. Insofern
wir überhaupt mit etwas zu tun haben, ist es ein Phänomen. Das Er-
eignisdenken vermutet aber, dass wir auch mit etwas zu tun haben
können, was für uns nicht als ein Phänomen erscheint und deswegen
auch nicht gedacht werden kann. Mehr noch: Genau dieses Nicht-
Phänomenale nennt das Ereignisdenken absolute Andersheit. Nicht
das Phänomen des Anderen ist das radikal Andere, sondern dieses
Undenkbare. Weil das Ereignisdenken das Un-denkbare nicht als ein
Phänomen setzt, kann es unmöglich eine Phänomenologie sein.
Dieses Undenkbare ist nicht die Erfahrung eines Undenkbaren,
was es zu einem Phänomen machen würde, sondern ein Zustand, ein
Ereignis, eine Situation, eine Lage, in die das Subjekt geriet und aus
der es mit einer Spur zurückkehrt. Wir müssen hier streng unter-
scheiden: Die Phänomenologie denkt diese sichtbare Spur, mit der
der Betroffene aus seiner ereignishaften Lage zurückkehrt, die Phi-
losophie des Ereignisses denkt diese Lage selbst. Diese Lage ist nicht
phänomenal und kann nie phänomenal werden. Levinas nennt diese
Lage Innerlichkeit, Heidegger: Austrag. Nochmals: Das Ereignisden-
ken denkt kein Etwas – begreifliches oder unbegreifliches – sondern
einen Zustand, ein Ereignis, einen Sachverhalt. Deswegen ist es das
Denken des Ereignisses und nicht ein Denken, das das Ereignis als
etwas denken würde.
Wir haben behauptet, dass das Nicht-Phänomenale, das das Er-
eignisdenken vermutet, nicht erfahrbar ist. In der Tat erfährt nie-
mand das Ereignis, man befindet sich im Ereignis. Erst wenn man
aus dieser anfänglichen Situation herauskommt, kann man sich auf
sie irgendwie beziehen, sie thematisieren, aber ohne sie einholen zu
können. Niemand erfährt das Ereignis, wenn es sich ereignet. Es ge-
schieht von sich selbst. Das muss absolut radikal gedacht werden. Das
ist das erste Axiom des Ereignisdenkens. Und erst danach kann hin-
zugefügt werden, dass das Ereignis sich doch mit jemandem ereignet
und gar nicht ohne diesen jemanden stattfinden kann, da es kein ob-
jektiver Prozess oder ein objektiver Zustand ist. Die Liebe kann nicht
von außen gesehen werden: Sie geschieht mit mir, aber ohne mich.
Dieses Mit-mir-Geschehen ist undenkbar. Es impliziert ein Ich, das
aber nicht-intentional ist, sondern nur ein Teil des Ereignisses. Man

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könnte einwenden: Wenn ich liebe, fühle ich doch etwas, ich spüre
den Anderen, die Liebe geschieht doch nicht ohne meine Teilnahme!
Aber das alles ist nur die Sichtbarkeit des Anfangs: Es ist das, was sich
ereignet, wenn sich das Ereignis ereignet. Da es aber keinen Anfang
gibt, ohne dass etwas anfangen würde, gehört zu jedem Ereignis eine
Erfahrung, die jemand hat. Und das ist das zweite Axiom des Ereig-
nisdenkens. Diese Erfahrung innerhalb des Ereignisses kann Phäno-
men genannt werden und kann phänomenologisch beschrieben wer-
den, aber sie ist keine Erfahrung des Ereignisses – sie gehört zum
Ereignis. Das dritte Axiom.
Wir behaupten also, dass das Ereignis kein Phänomen ist. Liebe
und bedingungslose Gabe, Geburt und Tod, Berührung und Hingabe,
Offenbarung und Vergebung, Musik und Zeit sind anfängliche Situa-
tionen, in denen Phänomene möglich werden – auch diese, die ich
gerade genannt habe. Veranschaulichen wir das Gesagte und werfen
wir einen Blick darauf, wie Marion die Geburt beschreibt, die er als
»perfektes Ereignis« (événement parfait) (DS, 50) bezeichnet. Schon
von Anfang an gibt es Schwierigkeiten, die Geburt als ein Phänomen
zu sehen, weil »ich sie nie mit meinen eigenen Augen gesehen habe«
(je ne l’ai jamais vue de mes propres yeux) (DS, 51). Mehr noch: Sie
hat sich »ohne mich« (sans moi) (ebd.) und »vor mir« (avant moi)
(ebd.) vollzogen; sie ist »immer vergangen« (toujours passé) (DS, 53).
In der Tat zeichnen genau diese Merkmale das Ereignis aus. Wenn wir
die Geburt denken, denken wir an eine Situation, in der wir geboren
wurden. Die Situation hat sich vollzogen ohne uns und vor uns in
dem Sinne, dass das Bewusstsein erst später in der Lage war, sich auf
dieses Ereignis zu beziehen. In Bezug auf die Geburt sollte die Phä-
nomenologie verlassen werden – erst dann können wir die Geburt so
verstehen, wie sie wirklich geschieht. Marion möchte aber im Rah-
men der Phänomenologie bleiben. Wo man ein Ereignis – etwas Un-
sichtbares und Undenkbares – sehen könnte (und sollte), will Marion
die Geburt als ein Phänomen retten. Er behauptet sogar, dass er sie,
nach dem er sie als »ohne mich« ereignend bezeichnet hat, »mit
Recht« (à juste titre) (DS, 51) »als ein Phänomen« (comme un phé-
nomène) (ebd.) betrachtet. Wie gelingt das ihm? Indem er sie als ein
Faktum bestimmt, auf das er gerichtet ist, wenn er sich fragt, woher
er kommt etc.: »[…] je ne cesse de la viser intentionnellement (vou-
loir savoir qui et d’où je suis, enquête en recherche d’identité, etc.) et
de remplir cette visée de quasi-intuitions (souvenirs secondaires,
témoignages indirects et directs, etc.).« (DS, 51 f) Aber ist es nicht

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

offensichtlich, dass die Geburt, die ich durch meine Intentionalität


konstruiere, nicht diejenige Geburt ist, die sich mit mir und vor mir
ereignet hat? Was ist mit meiner Geburt, als sie sich ereignet hat? In
Bezug auf sie bleibt es gültig, dass ich sie »nicht direkt sehen kann«:
»Pourtant, ce phénomène indiscutable, je ne peux par principe pas le
voir directement.« (DS, 52) Sollte dieses »par principe« nicht stutzig
machen? Wenn etwas »prinzipiell« nicht erscheint (also nicht wie
Heideggers Sein in Sein und Zeit, das bloß »zunächst« nicht er-
scheint), kann es noch Phänomen genannt werden? Nein, aber Mari-
on rettet sich durch die bekannte phänomenologische Vorgehenswei-
se: Wenn die Geburt als »Ursprung« (origine) (ebd.) unmöglich
erscheinen kann, dann als ein Phänomen, was nicht erscheinen kann:
»[…] meine Geburt zeigt mir genau die Tatsache, dass mein Ursprung
sich nicht zeigt, oder dass sie sich nur in dieser Unmöglichkeit selbst,
zu erscheinen, zeigt […].« (ma naissance me montre précisément le
fait que mon origine ne se montre pas, ou qu’elle ne se montre que
dans cette impossibilité même à paraître) (ebd.) In der Tat zeigt sich
das Ereignis der Geburt als ein unsichtbares Phänomen. Aber es ist
nicht dieses Phänomen. Es zeigt sich nicht nur als unsichtbar, es ist
unsichtbar. Damit kann es unmöglich ein Thema der Phänomenologie
sein. Für die Philosophie Marions ist aber charakteristisch, dass sie
ein Ereignis beschreibt, es aber Phänomen nennt und versucht, es als
ein Phänomen zu behandeln und doch immer wieder darauf stoßt,
dass dieses Unternehmen zum Scheitern verurteilt ist und trotzdem
weitermacht.
Die Unfähigkeit der Phänomenologie, adäquat das Ereignis zu
beschreiben, zeigt sich auch im Falle der Liebe. Wie bekannt, hat Ma-
rion das Buch Le phénomène érotique (2003) verfasst. Dieses Werk
bietet eine strukturierte Beschreibung der Liebe an: angefangen mit
dem Moment, an dem man sich auf die Liebe einlässt, und schließlich
mit dem Kommen des Kindes. Dabei wird die Liebe in ihrem Wesen,
wenn man so sagen könnte, als dasjenige bestimmt, was einzig und
allein das Ich individuieren kann, sodass es aus der Nichtigkeit und
Sinnlosigkeit, was der Fall wäre, wenn sich das Ich als ein gleichgül-
tiger Fleck auf der Erdenfläche fühlen würde, herausgezogen wird.
Also im Grunde genommen, beschreibt dieses Werk das Ereignis der
Liebe: Das, wie die Liebe verläuft, wenn sie verläuft. Doch schon der
Titel dieses Buches verrät, dass es hier darum geht, ein »Phänomen«
zu beschreiben. Natürlich, insofern die Liebe als das Thema eines
Buches auftaucht, ist sie schon ein Phänomen und in diesem Sinne

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ist der Titel völlig berechtigt. Aber darum geht es nicht. Es geht da-
rum, dass hier versucht wird, zu zeigen, dass, wenn die Liebenden
lieben, sie es mit einem Phänomen zu tun haben. Diese These, näm-
lich dass die Liebe für die Liebenden ein Phänomen ist, konzentriert
sich im Konzept des »durchkreuzten Phänomens« (phénomène croi-
sé). Eine ganz wichtige Stelle zu diesem merkwürdigen Phänomen
lautet folgendermaßen: »Das Phänomen der Liebe konstituiert sich
nicht ausgehend vom Pol des Ego, das ich bin; es taucht von sich selbst
her auf, indem es in sich den Liebenden (mich, der ich auf den Status
eines autarken Ego verzichte und meine Anschauung mitbringe) und
den anderen (derjenige, der seine Bedeutung aufzwingt, indem er
einen Abstand wahrt) miteinander (über)kreuzt. Das erotische Phä-
nomen erscheint nicht nur zusammen mit ihm und mir und es hat
auch nicht nur einen einzigen Ego-Pol, sondern es erscheint über-
haupt nur in dieser Überkreuzung. Durchkreuztes Phänomen.« (EPh,
152 f/PhE, 162) Wir versuchen, zu verstehen: Unter dem »Phänomen
der Liebe« (phénomène amoureux) wird nicht der Andere verstan-
den. Es geht nicht darum, wie ich als Liebender den Anderen wahr-
nehme. Das Phänomen der Liebe wird hier ganz klar vom Anderen
unterschieden. Das Phänomen der Liebe ist nicht der Andere, sondern
das, was mich und den Anderen »überkreuzt« (croiser). Wenn wir an
diese »Überkreuzung« (croisement) denken, stellen wir uns vor, dass
die Liebe unsere getrennten Lebenswege plötzlich an einem Punkt
verbindet. Die Liebe verbindet mich mit dem Anderen. Wenn die
Liebe ein Ereignis ist, ist sie eine Überkreuzung in diesem Sinne.
Das entspricht übrigens genau dem, was Heidegger in Bezug auf das
Ereignis sagt, nämlich dass es ein »Beziehen« (BPh, 471) ist. Aber
kann dieses Beziehen als ein Phänomen gedacht werden? Kann ein
Phänomen mich und den Anderen überkreuzen? Nein, es klingt nicht
richtig. Und in der Tat wird dies von Marions Text bestätigt, obwohl
er weiterhin von der Liebe als einem Phänomen sprechen will. Achten
wir darauf: Nachdem er behauptet hat, dass das Phänomen der Liebe
mich mit dem Andern überkreuzt, sagt er im nächsten Satz, dass das
»erotische Phänomen« »überhaupt nur in dieser Überkreuzung er-
scheint.« (il n’apparaît que dans ce croisement) Hier wird die Über-
kreuzung vom Phänomen der Liebe klar unterschieden. Die Über-
kreuzung überkreuzt, sie ist ein Ereignis, die Liebe erscheint in
dieser Überkreuzung und ist ein Phänomen dieses Ereignisses. Das
klingt richtig. Marion denkt das Ereignis, nennt es aber ein Phäno-
men, was ständig zu merkwürdigen Aussagen führt, die ihrerseits auf

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

die Unmöglichkeit, das Ereignis als ein Phänomen zu denken, hin-


weisen.
Man könnte einwenden: Wenn man sich davon abwendet, was
sich zeigt und stattdessen eine Aussage über etwas macht, was ist,
fällt man in die Ontologie, in die Metaphysik zurück. Darauf antwor-
ten wir: Die Behandlung der Sachen als Erscheinungen und nur, in-
sofern sie erscheinen, stellt die Ignoranz der Sachen selbst dar. Die
Phänomenologie bleibt allerdings auch im Ereignisdenken gültig, in-
sofern sie die Erfahrungen als Spuren des Ereignisses beschreibt und
so eine phänomenologische Ontologie konstruiert.

3. Das Ereignis jenseits der


Phänomenologie und Metaphysik

Für das Ereignisdenken gibt es zwei Gefahren: Entweder reduziert


man das Ereignis auf die Erfahrung des Ereignisses, auf sein Phäno-
men, das eigentlich seine Spur ist; oder man ist gezwungen, ein onto-
logisches Urteil über etwas zu fällen, was niemand erfahren hat, so-
dass man damit in die Metaphysik zurückfällt. Im Abschnitt 2 dieses
Kapitels haben wir versucht, das Ereignis gegen die Phänomenologie
zu verteidigen. Wir haben aber auch darauf hingewiesen, dass das
Ereignis kein objektiver Prozess ist: Es betrifft jemanden. Die Phi-
losophie des Ereignisses wird immer die Beschreibung der Betroffen-
heit sein, die die Fülle der Erfahrung des Ereignisses auslegt, weil sie
von der Erfahrung ausgeht. Aber sie wird auch immer das Undenk-
bare behaupten, das auch sie selbst weder erfahren noch thematisie-
ren, noch auslegen kann. Interessanterweise bedeutet diese Undenk-
barkeit des Ereignisses auf keinen Fall, dass es überhaupt keinen
Bezug zum Denken hat. Wir möchten diesen Aspekt kurz unter-
suchen, bevor wir zu unserem Vorschlag kommen, wie das Ereignis
jenseits der naiven Ontologie, Phänomenologie und Metaphysik (als
gescheiterten Ereignisdenkens, als einer Ontologie, die daran geschei-
tert ist, etwas anderes als das Seiende zu denken und wieder zur On-
tologie geworden ist) gedacht werden könnte, obwohl es nicht gedacht
werden kann.

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3.1. Das Ereignis und die Immanenz

Das Undenkbare ist für das Ereignisdenken kein Etwas, das undenk-
bar ist: Es ist eine Situation, wo es kein Denken (zumindest kein in-
tentionales Denken), überhaupt kein intentionales Erlebnis gibt. Wir
haben gesehen, dass Levinas diese Situation als die vor-intentionale
Innerlichkeit beschrieben hat, die im Leib möglich ist. Aber es muss
klar werden, dass diese Situation, wo es kein Denken gibt, auf keinen
Fall bedeuten muss, dass es in ihr kein Denken gibt: keine Sprache,
keine Aussagen, keine Kommunikation etc. Es gibt hier bloß kein
Denken, das diese Situation begreift. Die Worte, die Reflexion sind
dem Ereignis immanent, gehören zu ihm. Dies ist die Art und Weise,
wie Heidegger das Ereignis denkt: als Zugehörigkeit des Denkens und
der Sprache zu ihrem Anfang, ihrer Geschichte: »Die Sprache ist so
die Sprache des Seins, wie die Wolken die Wolken des Himmels sind.«
(HB, 364) So, wie die Wolken ein Teil des Himmels sind, ist die Spra-
che im Allgemeinen – Worte, Aussagen, Urteile, Gespräche, Reflexi-
on – ein Teil des Ereignisses. Also diese vor-intentionale Zugehörig-
keit zum Ereignis, zum Anderen muss nicht unbedingt als leiblich-
passive Innerlichkeit verstanden werden. Wenn man das Ereignis
denkt, ist das entscheidende Wort nicht »Leib« oder »Fleisch«, son-
dern »Immanenz«, »Zugehörigkeit«. Es ist richtig, dass das Subjekt in
Bezug auf das Ereignis nicht aktiv konstituierend, vorstellend, son-
dern passiv, affektiv ist. Das trifft aber nur seinen Bezug zum Er-
eignis, nicht sein Verhalten innerhalb des Ereignisses. Innerhalb des
Ereignisses ist das Subjekt sehr wohl vorstellend: Es ist sogar notwen-
digerweise vorstellend, da das Ereignis notwendigerweise etwas zum
Vorstellen und Auslegen gibt. Die Passivität in Bezug auf das Ereignis
liegt nicht darin, dass man etwas empfängt, was man nicht aktiv kon-
stituiert, sondern darin, dass man mitten im Ereignis ist. Die Passivi-
tät muss hier nicht als Fleischlichkeit, sondern als Zugehörigkeit ge-
deutet werden.
Insbesondere das Ereignisdenken Deleuzes denkt diese Imma-
nenz des Denkens im Ereignis. Beinflusst von Heidegger – und paral-
lel zu Heidegger – aus einer anderen Denktradition kommend, denkt
Deleuze in seiner Ereignisphilosophie weder ein leibliches Subjekt
noch das Ereignis als ein Objekt für ein Subjekt – er denkt das Ereig-
nis als das »transzendentale Feld« (LS, 130/120) und das »Virtuelle«
(IL, 32/IV, 6), wo alles – definiert als ein Sinnereignis – diesem Feld
immanent ist. Das transzendentale Feld – genauso wie Heideggers

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Ereignis – ist eine Situation, außerhalb deren nichts ist. Es gibt außer-
halb dieser Situation kein Denken, das diese Situation denken könnte
– jedes Denken ist in dieser Situation. Diese Situation ist die Zu-
gehörigkeit zur Situation. Das ist die einzige »Definition«, die ein
Denken ihr geben kann, nämlich, dass es sie nicht einholen kann
und ihr zugehört. Wenn ein neuer Gedanke entsteht, steht er dem
transzendentalen Feld nicht gegenüber, sodass er dieses Feld als etwas
Ontisches bestimmen könnte, sondern erweitert es nur, entwickelt
seine Geschichte, indem er einen neuen Sinn schafft.
Wir präzisieren: Das Ereignis als das Nicht-Phänomenalisierbare
und als das Undenkbare ist dasjenige, worin das Phänomen ist und
worin das Denken ist. Es ist dasjenige, worin sich das Denken auf ein
Phänomen bezieht, es ist dieses »Beziehen«, wie Heidegger sagt. Sol-
ches Beziehen ist eine topologische Verteilung der Elemente verschie-
dener Relationen, eine Situation. Aber diese Situation ist nur schein-
bar eine ontische. Es gibt sie nicht. Das Ereignisdenken behauptet
nicht eine ontische Situation, die man beschreiben und untersuchen
könnte. Es gibt keine solche Situation und es gibt keinerlei Zugang zu
ihr. Es gibt nur die Zugehörigkeit zu einer Beziehung, das In-Sein in
einer Beziehung. Der Betroffene des Ereignisses ist nicht von etwas,
sondern von der Immanenz, von der Zugehörigkeit selbst betroffen.
Mit anderen Worten: Das Denken des Ereignisses beschreibt nicht
einen ursprünglichen Prozess, durch den die Phänomene der Erfah-
rung im Allgemeinen und das Gedachte der Reflexion entstehen. Das
Denken des Ereignisses beschreibt nicht physische, biologische, phy-
siologische, psychische, kulturelle, soziologische, transzendentale,
sprachliche, göttliche oder mystische Situationen, in denen das Sicht-
bare entsteht, und es denkt diese Prozesse nicht als das Unsichtbare in
der Sichtbarkeit, das alles Sichtbare voraussetzt. Es betreibt keine On-
tologie und keine Metaphysik. Es spricht vom Verlassen der Ontolo-
gie, die den Ontologen selbst vergisst; von einer möglichen Phäno-
menologie, die so radikal ist, dass sie die Phänomenologie aufgibt,
weil sie die Sachen nicht mehr als Phänomene betrachten kann; die
so radikal ist, dass sie den Phänomenologen aus sich heraustreten
lässt, sodass er zugehörig wird.
Wir können wiederum zwei strukturell sehr ähnliche, inhaltlich
aber unterschiedliche Varianten aufzeigen, wie diese Zugehörigkeit
zur Situation als Ereignis jenseits aller Phänomenologie und Meta-
physik schon gedacht worden ist.

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

3.1.1. Die Nähe


Wenn wir die Ereignisse, die mit uns geschehen, beschreiben, darf der
Moment der Erfahrung nicht ausgeschlossen werden, weil wir in der
Tat in diesen Ereignissen dabei sind. Das Ereignis wird nicht im (logi-
schen) Denken ausgedacht – es kommt zu uns durch die phänomenale
Erfahrung. Mehr noch: Würden wir behaupten, dass, während wir
etwas erleben oder auf etwas gerichtet sind, wir eigentlich in einem
Ereignis integriert sind, von dem wir nichts wissen, wären alle Be-
hauptungen über dieses Ereignis pure Spekulationen. Es soll eine Er-
fahrung des Ereignisses geben, weil wir vom Ereignis betroffen wer-
den und weil wir sonst von ihm nicht sprechen dürften. Wenn wir
aber von einer Erfahrung sprechen, ist das keine intentionale Erfah-
rung, die auf das Ereignis oder auf etwas anderes gerichtet ist. Sie ist
eine reine Erfahrung ohne jeden Gegenstand. Um einen Schritt wei-
ter zu machen: Wenn das Ereignis nicht ein Phänomen ist, sondern
das, dem man zugehört, worin man drin ist, könnten wir nicht von
einer Erfahrung des In-Seins sprechen? Könnten wir nicht vom Er-
eignis als dem Aus-sich-Heraustreten im Sinne des In-etwas-Eintre-
tens sprechen? In der Tat ist das die Art und Weise, wie Heidegger
und Levinas das Ereignis denken.
Wir haben gezeigt, dass Levinas das Ereignis der Beziehung zum
Anderen als »Rückkehr zur Innerlichkeit« bestimmt hat. Die Inner-
lichkeit war seine Antwort darauf, wie man etwas intentional Un-
denkbares denken könnte, ohne die Erfahrung zu verlassen. Aber
das ist nur eine seiner Antworten und es ist nicht ausgeschlossen,
dass sie teilweise bloß die Suche nach der Entsprechung zum aufkom-
menden Verständnis des Subjekts als Leib und Passivität darstellt.
Levinas gilt als ein Denker des Anderen. Dabei wird nicht unterschie-
den, was für ein Anderes gedacht wird. Da er eine Ethik begründet,
nimmt man an, dass er ein Denker des anderen Menschen ist und das
stimmt natürlich. Aber er ist nicht bloß ein Denker des anderen Men-
schen, den er als das Unendliche, als das absolut Andere bestimmt.
»Ma philosophie – est une philosophie du face-à-face,« (CC, 186) sagt
er zwischen 1940 und 1945. Seine Philosophie ist eine Philosophie des
»Von-Angesicht-zu-Angesicht«, der Beziehung zum Anderen. Diese
Beziehung ist das, was wir Ereignis nennen und als das Andere des
Denkens denken. Nicht der andere Mensch ist das Andere des Den-
kens, sondern diese Beziehung. Die Frage ist, wie man diese Bezie-
hung beschreibt? Was heißt es, mit einem anderen Menschen zusam-

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men zu sein? Wann bin ich bei einem Anderen und nicht bei mir
selbst? Wenn ich mein Leib bin? Wenn ich zu meiner vor-intentiona-
len Passivität zurückkehre? Wenn ich ihn mir nicht aktiv vorstelle,
sondern empfange? Der Fakt ist, dass diese ganze Terminologie, ja
phänomenologische Terminologie, völlig den Blick vom Ereignis ab-
wendet. Es ist so, weil sie unmöglich aus dem Schema Subjekt(passi-
ves oder aktives)-Objekt (gegenständliches oder unendliches) heraus-
kommen kann. In der Tat steht die Sensibilität für Levinas in Totalité
et infini im Verdacht, das Andere zum Objekt des Genusses zu ma-
chen. Es mag wohl sein, dass wir zum Beispiel einen Apfel erst dann
als Apfel erfahren, wenn wir ihn in unserer Lebenswelt erfahren,
wenn wir ihn vor-intentional schmecken und nicht wenn wir ihn ge-
zielt wissenschaftlich untersuchen, aber auch dieses Schmecken ist
keine Erfahrung des Anderen – sie ist völlig egoistisch: »Im Genuß
bin ich absolut für mich. Egoistisch ohne Bezug auf Andere […].«
(TU, 190/TI, 107) Wenn man sogar in Bezug auf einen Apfel fragen
kann, ob wir ihn dann als ein Anderes, als dieses Apfel erfahren, wenn
wir ihn leiblich genießen, so es ist für Levinas eindeutig, dass die
Beziehung zum anderen Menschen nicht ein Genuss sein kann: »Die
Welt des Genusses genügt dem metaphysischen Anspruch nicht.«
(TU, 86/TI, 36 f) Die Welt des Genusses ist die Welt des Leibes, der
Passivität, der Innerlichkeit, der Vor-Intentionalität. Sie ist die Welt
des Egoismus. Hier gibt es keinen Anderen. Hier gibt es keine Bezie-
hung, folglich auch kein Ereignis. In der Welt des Selben ereignet sich
nichts: keine Überraschung, kein Wunder, keine Liebe, nichts Neues,
keine Geschichte, nichts. Das Selbe ist nur die Zeit, die vergeht und
die den Tod näher bringt.
Noch einmal: Das Ereignis berührt die Erfahrung, bleibt aber
unerfahrbar und undenkbar. Das Denken, insofern es versucht, das
Ereignis zu denken, denkt dieses Undenkbare nicht als etwas, das un-
denkbar ist. Das Ereignisdenken stellt das Undenkbare nicht vor und
damit ist es gezwungen, einen andersartigen Bezug zum Ereignis als
Vorstellung zu definieren. Levinas bestimmt diesen Bezug als Inner-
lichkeit. Doch schon seine eigenen Überlegungen enthalten die Kritik
einer solchen Beschreibung des Ereignisses. Wenn man nämlich die
Innerlichkeit denkt, kann man keine Andersheit denken. Im Leib er-
eignet sich nichts. Es gibt nur das Selbe. Wenn dagegen das Ereignis
geschieht, bin ich nicht bei mir. Man könnte einwenden: Wenn Levi-
nas von der Innerlichkeit spricht, meint er nicht einen intentionalen
Genuss, der ein Objekt genießt. In der Tat ist es so. Deswegen haben

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

wir gezeigt, dass die Innerlichkeit eher als ein Zustand zu verstehen
ist: jenseits allem Subjekt-Objekt-Dualismus. Doch in diesem Fall
entsteht – wie wir gesehen haben – ein anderes Problem. Wenn wir
einen Zustand denken, definieren wir eine ontische Situation, die nie-
mand erfährt, in der niemand ist und die zum Objekt einer Ontologie
wird. Soll in Bezug auf die Innerlichkeit die Erfahrung mitgedacht
werden, muss sie als Genuss verstanden werden. Die Innerlichkeit
ist immer Genuss. Dieser Genuss muss nicht unbedingt intentional
gedacht werden: Er kann auch vor-intentional geschehen, aber er
kennt kein Anderes und folglich auch kein Ereignis. Wenn das Ereig-
nisdenken das Unerfahrbare und Undenkbare denkt, denkt es eine
radikale Andersheit, die ein Heraustreten aus sich selbst fordert, die
in diesem Heraustreten besteht.
Wenn die Beziehung zum Anderen als Ereignis weder als Vor-
stellung noch als Innerlichkeit beschrieben werden kann, wie dann?
Wie erfahren wir Ereignisse, in denen wir sind? Wir fragen nicht, was
wir erfahren (Phänomenologie) und nicht, was passiert (Ontologie),
sondern, was mit uns passiert, wie geschieht das Ereignis mit uns.
Levinas bietet mehrere Antworten an, von denen wir eine besonders
hervorheben möchten – sie lautet: Wenn das Ereignis sich ereignet,
nähern wir uns: »Die Nähe ist das sich nähernde Subjekt und kon-
stituiert so eine Beziehung, an der ich als Beziehungsglied teilnehme,
in der ich jedoch mehr – oder weniger – als ein Beziehungsglied bin.«
(JS, 184 f/AQE, 103 f) Wie ist also ein Ereignis der Begegnung mit
dem Anderen möglich? Indem wir aus uns heraustreten und zum
Glied einer Beziehung werden. Das Ereignis ist das Aus-sich-Heraus-
treten. Aber warum sagt Levinas, dass ich »mehr … als ein Bezie-
hungsglied bin«? Weil diese Beziehung nicht gedacht werden kann,
sie ist nicht die gedachte Beziehung. Wenn ich mich als ein Bezie-
hungsglied denken würde, würde ich das Ereignis dieser Beziehung
als ein Objekt setzen und analysieren. Ich bin aber nicht ein gesetzter
Punkt einer gedachten Relation: Ich bin mehr als das, ich bin anders
als das, ich bin dasjenige Ich, das sich in diesem Moment dem Ande-
ren nähert, mit ihm redet. Das will heißen: Diese Beziehung besteht
nicht als Denkobjekt, als Phänomen, sondern ereignet sich, wenn ich
mich wirklich dem Anderen nähere: »Die Näherung ist nicht die The-
matisierung irgendeiner Beziehung, sondern diese Beziehung selbst,
die als an-archische der Thematisierung widersteht. Diese Beziehung
zu thematisieren heißt schon, sie zu verlieren, heißt schon, aus der
absoluten Passivität des Sich herauszutreten.« (SA, 323/Sub, 504)

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

Dieses Zitat, das aus dem Jahr 1967 stammt, bestätigt nicht nur die
These, dass das Ereignis undenkbar ist. Es zeigt auch den von uns
schon erwähnten »Dualismus« des Levinas’schen Ereignisdenkens.
Einerseits geht es um die »Näherung« als Eintritt in eine Beziehung.
Wir können diesen Gedanken als Weiterentwicklung des Konzeptes
vom Begehren in Totalité et infini und Radikalisierung des ontologie-
kritischen Ansatzes Levinas’ betrachten. Die Rede von einer »absolu-
ten Passivität des Sich« hängt dagegen mit Levinas’ persönlichen und
in der französischen Philosophie im Allgemeinen erneut aufgetauch-
tem Interesse an Husserls Phänomenologie der Passivität zusammen.
Ein ganz wichtiges Zeichen für dieses Interesse ist das 1963 erschie-
nene Buch von Henry L’essence de la manifestation. Es muss gefragt
werden, ob diese beiden Diskurse für die Beschreibung des Ereignis-
ses geeignet sind. Wir haben versucht, zu zeigen, dass sie eher einan-
der ausschließen.
Wir möchten behaupten, dass Marion, wenn er das Ereignis be-
schreibt, erfolglos versucht, es in die Phänomenologie hineinzwin-
gen, während Levinas sein Denken des Ereignisses dem Diskurs des
egoistischen Leibes anpassen will – einem Diskurs, den er noch 1961
als unangemessen für das Verständnis der Beziehung mit dem Ande-
ren abgewiesen hat. In der Tat ist der Leib, das Leib-Bewusstsein
immer allein. Für eine Beziehung, für ein Ereignis muss der Leib aus
sich heraustreten, er muss nicht zu sich selbst zurückkehren, sondern
nach außen explodieren. Er muss sich wirklich nähern: nicht gedank-
lich, sondern wirklich. Er muss sich in der Welt, unter den Dingen,
gegenüber dem Anderen verteilen und diese Verteilung ausharren. Er
muss zum Teil eines Geschehnisses werden, ohne die Möglichkeit in
die Sicherheit bei sich selbst zurückzukehren. Und ist nicht genau die
Unsicherheit, »Beunruhigung« (JS, 69/AQE, 32), »Störung« (SA,
241/DEHH, 287) des Subjekts dasjenige, das Levinas schon immer
über das Ereignis der Beziehung mit dem Anderen behauptet hat?
Das Subjekt des Ereignisses ist kein Fötus: Es ist einer, der durch die
Außenwelt und die Anderen gestört werden kann.
Wenn das Ereignis geschieht, ereignet sich die Nähe als Nähe-
rung. Diese Näherung ist weder ontisch, weil es sie nicht gibt, noch
phänomenologisch, weil sie nicht erscheint (auch nicht in der vor-
intentionalen Tiefe der Innerlichkeit), sondern geschieht mit mir,
wenn ich aus mir heraustrete. Wir betonen: Wenn ich aus mir he-
raustrete. Hier geht es nicht um irgendein Ich, das gesetzt und be-
schrieben wird, sondern um mich, um das, was mit mir geschieht.

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Im Denken des Ereignisses ist die Anwesenheit einer Jemeinigkeit


absolut erforderlich, sonst fällt man in die Ontologie zurück. Und
diese Jemeinigkeit kann nicht als absolute Passivität gesetzt werden,
weil diese ontisch ist. Sie ist ontisch, weil es in ihr keine Erfahrung
gibt. Wenn es in ihr doch eine Erfahrung gäbe, wäre das keine Er-
fahrung des Anderen. Das Ereignis der Nähe setzt dagegen ein Ich
voraus, das sich dem Anderen nähern kann. Levinas betont:
»[…] Passivität des Seins-für-den-Anderen, die allein möglich ist,
wo ich selbst noch das Brot gebe, das ich esse. Doch dazu muß man
zuvor sein Brot genießen, nicht um sich so verdient zu machen, wenn
man es gibt, sondern um darin sein Herz zu geben – um sich zu ge-
ben, wenn man gibt. Das Genießen ist ein unausweichliches Moment
der Sensibilität.« (JS, 164/AQE, 91) Ich kann nur geben, wenn ich
vorher ein Ich, ein Ego war. Ich kann die Liebe nur erfahren, wenn
ich vorher einsam war. Ich kann in den Abgrund des Seins nur fallen,
wenn ich vorher bei mir über etwas sicher war. Das Ereignis als Nähe
ist grundsätzlich das Verlassen eines reflexiven Ich. Aber es ist nicht
die Rückkehr zum Vor-reflexiven, sondern der Eintritt in eine Bezie-
hung. Das Ereignis schafft es, dass ich nicht mehr allein bin, und zwar
immer. Auch in der Erfahrung der Kunst lässt das Ereignis den Ge-
nuss des Kunstwerks überschreiten und in eine Beziehung mit etwas
Transzendentem und Unverhofftem eintreten.

3.1.2. Der Ort


Das Seinsdenken Heideggers fing damit an, dass es dem Sein die Exis-
tenz im Begriff, im Denken absprach. Das Sein ist nicht das Leerste
und das Allgemeinste, sondern der jemeinige Vollzug des Seins, heißt
es in Sein und Zeit. Doch damit wurde das Sein zu einem daseins-
immanenten Prozess. Das Verhältnis des Daseins zum Sein wurde
zum Vollzug des Daseins selbst. Was Heidegger in den nächsten Jah-
ren beschäftigte, war die Frage nach der Möglichkeit, eine Beziehung
zu denken: eine Beziehung zwischen dem Dasein und dem Sein, das
damit nicht mehr als ein Eigentum des Daseins, sondern ereignishaft
verstanden werden müsste. Es stellte sich heraus, dass diese Bezie-
hung als ein Ereignis gedacht werden kann. Das Ereignis schenkt
dem Menschen das ereignishafte Sein und verwandelt ihn ins Dasein,
das diese Gabe empfangen und bewahren kann. Das Dasein in seinem
Verhältnis zum Sein als Ereignis existiert innerhalb dieses Ereignis-
ses, zu dem es keine Außenposition einnehmen kann: Alles ist dem

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

Ereignis zugehörig, alles gehört zu seiner Geschichte. Mit anderen


Worten: Das Dasein trägt das Ereignis aus, es steht ihm nicht gegen-
über. Deswegen sprechen wir von der Immanenz des Ereignisses. Die
Immanenz ist die Antwort auf die Frage, wie man das Undenkbare
denken kann. Das Ereignis ist in dem Sinne undenkbar, dass man in
ihm ist, dass es kein Außerhalb gibt. Das Ereignis ist undenkbar, nicht
weil es transzendent, sondern weil es immanent, in sich selbst einge-
rollt ist. Vielleicht können auch die reine Gabe und andere Ereignisses
in der Philosophie Derridas als Immanenz gedacht werden, die nicht
demjenigen erscheinen können, der in ihr ist. In der Tat ist die Gabe
für Derrida »das Unmögliche« (FG, 20/FM, 22). Warum? Nicht weil
es sie nicht geben kann, sondern weil sie uns – den Denkenden, die
das Mögliche und das Unmögliche unterscheiden, – nicht erscheinen
kann: »Wenn sie erscheint, erscheint sie nicht mehr.« (FG, 26/FM, 28)
Man muss in diesem Moment sehr vorsichtig sein. Wir haben
behauptet, dass das Ereignis das Aus-sich-Heraustreten und Zum-
Teil-einer-Beziehung-Werden ist. Mit Levinas haben wir gezeigt,
dass das Ereignis weder ein nicht erfahrbarer Zustand des inkarnier-
ten Leibes, der Innerlichkeit noch ein bewusster Genuss/Schmerz,
vor-intentionales Erlebnis ist. Das Ereignis ist kein Zustand des Geis-
tes. Es ist das Verlassen eines Zustandes, das In-Sein in einer Bezie-
hung. Aber wir haben auch darauf hingewiesen, dass dieses In-Sein,
das Ereignis nicht als eine ontische Situation gedacht werden darf.
Das Ereignis ist nur das In-Sein selbst. Es ist nicht etwas, worin man
ist und was uneinholbar bleibt. Würde eine solche Situation behaup-
tet, hätten wir es nicht mehr mit einer Ereignisphilosophie, sondern
einer Spekulation zu tun. Wir haben gefragt, ob Levinas’ Innerlich-
keit einen solchen ontologischen Zustand konstruiert. Aber noch
mehr steht Heideggers Austrag im Verdacht, das Ereignis verlassen
und eine Metaphysik aufgebaut zu haben. In welchem Sinne? In dem
Sinne, dass nicht nur das jemeinige Dasein in seltenen Fällen aus sich
heraustritt, um in der Lichtung zu stehen, sondern wir alle uns schon
immer in der Lichtung der Wahrheit befinden. Jedes Mal, wenn ir-
gendein Dasein etwas erfährt, auf etwas gerichtet ist, etwas denkt, ist
es – meistens unbewusst – in diesem Ereignis der Offenbarkeit des
Seienden und wiederholt es. Das Ereignis der Wahrheit geschieht
immer und überall, ob wir es wissen oder nicht.
Eine ontische, nur scheinbar ereignishafte, Situation zu behaup-
ten, bedeutet eine gewaltige und gefährliche Ideologie zu schaffen.
Philosophisch bedeutet eine solche Behauptung den Rückfall in die

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

Metaphysik, aber im Allgemeinen bedeutet sie das Konstruieren


einer Ideologie. Wenn man zum Beispiel sagt: »Wir befinden uns alle
– ob wir es begreifen oder nicht, ob wir es wollen oder nicht – in
einem Glaubenskrieg,« behauptet man eine solche ontische Situation,
in der man drin ist und die man mit jedem Wort, jeder Handlung
bestätigt. Ist eine ontische Situation definiert, kann man ausgehend
von dieser »Wahrheit« versuchen, die Handlungen zu manipulieren.
Diese Manipulation setzt aber voraus, dass man zuerst eine Situation
definiert. Stellen wir uns vor: Wenn es keinen allgemeinen Glaubens-
krieg gibt, kann ich mich entscheiden, nicht an den Geschehnissen
dieser oder jener Art teilzunehmen und so diesen Krieg aufrechtzuer-
halten. Wenn es mir aber gesagt wird, dass ich schon teilnehme, dann
werde ich sofort dafür empfindlich, was ich entsprechend dieser Si-
tuation machen soll, und wenn ich es tue, mache ist diesen Krieg
wirklich: Ich schaffe ihn, ich setze ihn fort. Es ist in der Tat der
Schwachpunkt von Heideggers Ereignisdenken, dass er eine solche
ontische Situation definiert – diese Situation ist für ihn die Geschich-
te der Wahrheitsereignisses, die gleichzeitig auch die Geschichte der
Seinsverlassenheit bzw. –vergessenheit ist und an der die ganze
Menschheit teilnimmt. Aber auch Levinas verfällt der Versuchung,
eine ontische Situation zu definieren. Dies geschieht in dem Moment,
wenn er die Beziehung zum Anderen als eine ursprüngliche Bezie-
hung definiert, die immer – egal was man tut – stattfindet. Wenn er
schreibt: »[I]ch nenne die Person, mit der ich in Beziehung trete, Sein,
aber indem ich sie »Sein« nenne, appelliere ich an sie,« (ZU, 18/
EN, 19) dann meint er, dass sogar dann, wenn ich den Anderen setze,
ich mit ihm in einer menschlichen Beziehung bin. Das klingt sehr
schön, aber das ist eine absolut gefährliche Behauptung, weil sie im-
pliziert, dass sogar dann, wenn ich eine bestimmte Gruppe von Men-
schen als Menschen zweiter Klasse bestimme, ich mit ihnen in einer
ursprünglichen menschlichen Beziehung bin. Man sieht sofort, dass
dies ganz das Gegenteil davon ist, was das Ereignisdenken Levinas’
sagt, nämlich dass wir nur dann menschlich werden, wenn wir auf-
hören, irgendwelche Bestimmungen über das Wesen des Menschen
zu suchen, wenn wir aufhören, bei uns zu sein, wo wir über die An-
deren nachdenken, und anfangen, mit den Anderen zu sein.
Das Ereignidenken, das Denken des radikal Anderen fängt damit
an, dass es jede ontologische Spekulation leugnet, aber es kann in eine
solche Spekulation zurückfallen. Derjenige, der, indem er das Un-
denkbare behauptet, eine ontische Situation, zu der man zugehört,

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definiert, hat schon das Ereignisdenken verlassen, weil eine ontische


Situation alles andere als undenkbar ist. Sie ist absolut durchsichtig,
sie ist naiv und primitiv und deswegen kann sie auch zum Verhängnis
werden. Das, was nicht gedacht werden kann und das, was das Ereig-
nis ist, ist das Aus-Sich-Heraustreten, was auch der Heraustritt aus
jeder Ontologie ist. Levinas denkt diesen Heraustritt als Näherung,
Heidegger: als Anfang und Ort seiner Wiederholung. Den Anfang
gibt es nicht, er ist immer schon »Untergang«, das »unüberholbar
Vollendete« (BPh, 17). Der Anfang ist keine ontische, sondern eine
ereignishafte Situation. Er ist der Augenblick, an dem das Dasein aus
sich heraus tritt, um das Sein zu verstehen. Er ist nicht das Verstehen
des Seins als ein permanenter Vollzug, wo das Dasein alleine ist und
versteht: Es ist der Moment, in dem das Dasein in die Nähe zum Sein
kommt. Wir sehen jetzt ganz klar, worin sich die Ontologie von der
Ereignisphilosophie unterscheidet. Die Ontologie beschreibt, was ist,
wie es ist (sie kann zum Beispiel sagen: Das Dasein versteht das Sein;
die Subjektivität ist immer schon bei den Anderen; das Subjekt ist
ursprünglich passiv; alle haben das Sein vergessen etc.). Das Ereignis-
denken denkt dagegen den Anfang der Ontologie und dieser Anfang
ist selbst nicht seiendhaft.
Wir haben behauptet, dass jeder Anfang eine Geschichte hat und
dass diese Geschichte das Sichtbare des Ereignisses ist. Die ontische
Situation, von der wir hier sprechen, ist dieses Sichtbare des Ereig-
nisses. Das Ereignis ist dagegen das, was – wie Badiou darauf hinweist
– eine neue Situation schafft. Es ist das Ereignisdenken, das behaup-
tet, dass es einen Anfang für jede ontische Situation und ihre Ge-
schichte gibt. Aber es befasst sich nicht mit dieser Situation, weil dies
für es die Schaffung einer neuen Ontologie bedeutet, was es unbe-
dingt vermeiden will. Darin liegt übrigens der Unterschied zwischen
Heidegger und Derrida. Heidegger denkt den Anfang und die Ge-
schichte – er versucht, eine bestimmte Geschichte des Abendlandes
zu schreiben. Derrida dagegen überschreitet nicht die Grenze, wo er
sich von dem Undenkbaren abwendet.
Wenn wir also von einem In-Sein in einem Verhältnis sprechen,
denken wir an eine ereignishafte Situation, die es nicht gibt, die nur
in diesem In-Sein überhaupt besteht, um augenblicklich zur Aus-
einandersetzung mit dem im Ereignis Gegebenen zu werden. Dieses
In-Sein ist immer ein verlorenes In-Sein. Was uns übrig bleibt, ist die
traurige hermeneutische Arbeit mit den Phänomenen.
In seinem früheren Ereignisdenken zwischen ca. 1930 und 1945

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

ist es das Denken des Anfanges, das Heidegger zum Ereignisdenker


macht. Innerhalb dieses Denkens erwächst das Denken des Ortes –
der Orte, wo das anfängliche Ereignis noch einmal einschlägt und
wo sich das Ereignis in seiner Konkretion als der Einlass in die Zu-
gehörigkeit ereignet. Das Ereignis heißt, an einem Ort zu sein, mit-
tendrin zu sein. Es heißt nicht, objektiv an einem Ort zu sein, es heißt
nicht bloß, an einem Ort in der Seins-Geschichte zu sein, sondern
zum Teil eines Verhältnisses zu werden. An einem Ort zu sein, heißt
sich in ein Netzwerk zu integrieren. Dieses In-Sein in einem Netz-
werk kann nicht gedacht werden – weder ontologisch noch seins-
geschichtlich. Es ereignet sich nur und nur eine ereignishafte Sprache
kann es widerspiegeln, weil sie selbst dieses Ereignis ist.

3.2. Das Ereignis als Aus-sich-Heraustreten

Das Ereignisdenken sagt nie etwas über etwas aus – weder naiv onto-
logisch, noch seine eigenen Erfahrungen beschreibend. Es denkt, dass
es manchmal so geschieht, dass es möglich wird, nicht mehr gegen-
über einem Etwas, sondern mit ihm zu sein. Dann geschieht das Aus-
sich-Heraustreten, das Ereignis. Das Ereignis ist unerfahrbar und un-
denkbar, weil es die Struktur »Ich-Etwas« auflöst, die von jeder Er-
fahrbarkeit und Denkbarkeit vorausgesetzt wird. Es löst sie nicht im
Denken auf – es löst sie wirklich auf.
Das Ereignisdenken beginnt nicht damit, dass es aus irgendwel-
chen Prämissen auf das Undenkbare schließt. Es ist das Undenkbare –
das Andere –, das das Denken überrascht und zwingt, anders zu den-
ken, nicht sich selbst, sondern das Andere zu denken. Deswegen ist
das Ereignisdenken nicht logisch, sondern nur abgründig offen für
das Andere.
Das Ereignis ist nicht die Verschmelzung von Ich und dem An-
deren, sondern eine Beziehung. Diese Beziehung gibt es nicht, sie
ereignet sich dann, wenn jede Beziehung aufgelöst wird. Sie ist nicht
permanent – sie hört immer dann auf, eine Beziehung zu sein, wenn
sie als eine Beziehung erscheint, wenn nämlich das Aus-sich-Heraus-
treten aufhört und das Ich zu sich selbst zurückkehrt: in seinen Leib
oder seine Gedanken. Genauso wie das Ereignis nicht dann geschieht,
wenn man denkt, geschieht es auch nicht, wenn man Leib ist. Das
Ereignis ist das Explodieren des Leibes nach außen.
Die ereignishafte Beziehung ist kein Gegenüber, sondern das,

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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES

worin man ist. Sie kann deswegen niemals erscheinen. Aber sie bringt
die Erscheinungen mit sich. Sie lässt das Andere erscheinen, sie lässt
die Welt durch dieses Andere anders erscheinen. Vor dem Ereignis
sieht man nur sich selbst.
Man kann nicht durch sich selbst aus sich selbst heraustreten,
genauso wie man nicht sich selbst aus dem Sumpf herausziehen kann.
Es ist das Ereignis, das dieses Aus-sich-Heraustreten vollzieht. Und
das geschieht selten und unvorhersehbar.
Das Ereignis gibt es nicht. Wenn es anfängt zu sein, ist es schon
zur Geschichte geworden, von der man Geschichten erzählen kann.
Aber jede Geschichte – auch diese – verblasst und wirkt lächerlich
gegenüber dem, was sich jeder Geschichte entzieht.

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Artaud, Antonin: 108–109 29–31, 33–35, 39–60, 66–71, 73–
Augustinus: 149 74, 81, 86, 89–90, 93, 95, 100, 105,
Austin, John L.: 112–113 119, 122, 131, 142–143, 145–146,
148, 152, 155–241, 243–248, 253,
Badiou, Alain: 26–27, 34, 122–137, 257–258, 260, 273, 276, 278, 285–
145, 152, 211, 296, 302, 350, 405, 286, 296–297, 301, 305–306, 312,
425, 435–436, 473 315, 317, 320, 323–324, 328, 333,
Balthasar, Hans Urs von: 139 338, 343, 351, 363, 383, 397–398,
Baudelaire, Charles: 94, 178 405–407, 425–430, 432–435, 437–
Baudrillard, Jean: 265 441, 443–448, 450–452, 457–459,
Bergson, Henri: 27, 66–67, 149, 285 461–462, 464–466, 470–474
Buber, Martin: 71, 73 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: 19,
31, 56, 70–71
Cohen, Hermann: 73 Henry, Michel: 25, 32–33, 68, 382,
443, 454–455, 469
Deleuze, Gilles: 18, 27–28, 31, 34, Hölderlin: 54, 56, 226
59, 69, 80–96, 104–105, 122–123, Husserl, Edmund: 21–23, 25, 27, 29–
136, 145, 152, 289, 372, 376, 445, 30, 32–33, 35, 40–41, 43, 66–67,
464 69–70, 74, 95, 98–101, 103, 114,
Derrida, Jacques: 18, 20–21, 25–27, 124, 142, 149–150, 259, 261, 274,
31, 33–34, 59, 66, 68–69, 71, 75, 77, 276, 285, 318, 331–333, 335, 338,
97–121, 141, 152, 173, 262, 296, 340, 343, 347, 351, 361, 367, 369–
311, 317, 353, 412–414, 417–421, 370, 372–373, 382, 425–426, 429,
425, 428–429, 432–434, 448–449, 431, 438–439, 445, 447, 454, 457,
451, 455, 471, 473 469
Descartes, René: 138–139, 141, 270
Dostojewski, Fjodor: 311 Kant, Immanuel: 39, 49, 56, 90, 92,
330–333, 335, 340, 369, 370–373,
Foucault, Michel: 27, 59, 86, 89, 96, 388
108–109, 268, 442 Kojève, Alexandre: 19, 71
Freud, Sigmund: 21, 108, 442
Lacan, Jacques: 27, 71
Guattari, Félix: 81, 88–89 Lask, Emil: 41

490

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Register

Leibniz, Gottfried Wilhelm: 49, 55, Mauss, Marcel: 413, 419–420


177, 329 Merleau-Ponty, Maurice: 25, 27–28,
Levinas, Emmanuel: 18, 20–21, 25– 33–34, 59–69, 93, 95–96, 115, 150,
28, 31, 33–35, 59–60, 68, 70–79, 90, 152, 182, 274, 376, 425–426, 442,
93–94, 100, 105, 108, 115, 122, 131, 454, 457
143, 145, 150–152, 167, 173, 201,
223, 240–321, 343–345, 351, 363, Nietzsche, Friedrich: 19, 21, 27, 54–
381, 383, 386, 388, 397–398, 400, 56, 59, 86–87, 145, 212, 442
405–406, 409–410, 420–421, 425–
435, 442–445, 448, 450, 452–456, Richir, Marc: 18, 27–28, 32–33
458–459, 464, 466–473 Ricœur, Paul: 27
Lyotard, Jean-François: 27 Romano, Claude: 18, 26–27, 30–31,
34, 60, 69, 79, 94–95, 131, 145–152,
Magritte, René: 266–267 160, 179, 183, 204–206, 210–211,
Mallarmé, Stéphane: 129–130 289, 296, 337, 371, 398, 405, 408,
Marion, Jean-Luc: 20, 26–27, 31–35, 425, 435, 443, 448
59–60, 68, 79, 95, 131, 134, 138– Rosenzweig, Franz: 73, 244
145, 148, 152, 167, 186, 195, 216,
232, 251, 289, 296, 301–302, 318, Saint-Exupéry, Antoine de: 278–279
322–421, 425–429, 432–433, 435– Sartre, Jean-Paul: 67, 71, 96, 250, 285
441, 443–444, 447–448, 450, 456– Searle, John: 112–113
457, 460–462, 469
Marx, Karl: 19, 442 Wittgenstein, Ludwig: 230

Sachbegriffe

adonné: 68, 143, 148, 342–349, 367, 248, 259, 288, 297, 303–315, 397,
387, 407–408, 411, 417 404–406, 412, 430, 432–444, 447,
advenant: 146–152, 204 449–450, 452, 458–460, 464, 473–
Andere, das/der: 17–18, 24–25, 27– 475
36, 53, 57, 63–64, 66, 68–80, 89–90, Anschauung: 98, 100, 102, 139–140,
92–95, 100–102, 105, 107–108, 118, 142–143, 276–277, 289, 323, 330–
131, 134, 140, 143, 148–152, 167, 331, 339, 341, 352, 358, 369–371,
173, 217–219, 223, 232, 241–246, 374, 377–378, 380–382, 384, 387,
249–266, 268–277, 279–292, 294, 389, 411, 425, 427, 429, 445, 429,
297–303, 305–314, 316, 318, 320– 462
321, 343–345, 347, 358, 360–361, Antwort: 78, 85–86, 143, 148, 150–
367, 385–388, 390–391, 400, 402, 152, 174, 230, 252, 255–257, 277,
405, 407–411, 416, 425, 427, 430– 279, 282–284, 288, 290–291, 299–
431, 433, 435, 441–444, 446–447, 300, 303, 309, 316, 358, 386, 406–
450–456, 458–460, 462, 464, 466– 411, 427
470, 472–475 Augenblick: 79, 103–104, 119–120,
Anfang: 35, 53–58, 69, 131, 157, 159– 164–165, 184–186, 188, 193–194,
168, 172–173, 176–177, 183–186, 196, 203, 205–206, 208, 211, 215,
188, 192–198, 200–218, 220–223, 223–224, 237, 241, 254, 270, 272,
226, 229, 231–234, 236–238, 247– 274, 287, 290, 294–296, 327–328,

491

https://doi.org/10.5771/9783495820544

.
Register

336, 345, 351, 355, 367, 376, 380– 260, 262, 268, 270–271, 273, 279–
381, 397–398, 400, 436, 446, 473 283, 285–286, 299, 302, 305–307,
Außen: siehe »Exteriorität« 312–315, 318, 321, 370, 431, 433,
Begegnung: 17, 24–26, 28–29, 33–36, 444, 450, 453–455, 458, 462, 466–
53, 63, 67–68, 70–72, 74, 76–80, 90, 472, 474
94–95, 143, 150, 158, 173, 182, 189,
206, 227, 246, 249–250, 252–253, Dasein: 46–53, 56, 58, 69, 73, 80, 93,
255–259, 261–262, 264, 269, 272, 145, 155, 157–158, 161, 163, 179–
274, 276–278, 283, 286, 296–297, 183, 187–190, 209, 214–215, 217–
304, 320, 375, 390–391, 402, 405, 222, 224–225, 231, 236, 249, 258,
435, 442, 446, 458, 468 278, 286, 343, 363–364, 425, 427,
437, 439, 443–444, 458, 470–471,
Begehren: 121, 193, 202, 255, 262, 473
270–273, 280, 304, 310, 312–313, Denken:
320, 453–454, 469 –, vorstellend-gegenständliches: 57,
Begriff: 40, 45, 52, 61–64, 68–69, 89– 71, 73, 77, 100, 107–108, 163, 171–
90, 93, 97, 100, 107–110, 139–144, 172, 174, 198–199, 201, 260, 293–
147, 149, 170–174, 242, 248, 250, 294, 399, 428–429, 436, 446–447,
258, 264, 267, 272, 276, 293, 330, 456, 459
332, 339, 349–351, 353, 368–374, –, des Ereignisses: 19–26, 29–34, 39–
377–378, 380–386, 389–391, 395, 40, 44, 50–58, 60, 66–71, 79–80, 91,
399–401, 411, 417, 425, 427–429, 93–98, 105, 107, 122, 134, 140–141,
431 145–146, 152, 155–158, 182–183,
Betroffenheit: 29–30, 33, 36, 67, 69, 189–192, 201, 217, 223–227, 230,
78–80, 89–90, 93–94, 122, 136, 233, 248, 258, 260–261, 264, 266,
145–147, 169, 175, 180–181, 183, 268–270, 299, 315–318, 393–396,
206, 223, 235, 238, 249, 251, 258– 399–401, 418–419, 425–475
262, 272, 274, 284, 290, 293–295, Differenz/Unterschied: 20–21, 52,
300, 310, 312, 314, 343, 348–349, 59, 63–64, 69 71, 75, 91, 97–98,
356–357, 364, 369, 376, 380, 397, 101–109, 119, 132–135, 173, 176,
425, 427–428, 436–437, 443–445, 182, 238, 263–269, 273, 275, 290,
447–448, 450, 452–453, 459, 463, 304, 351, 382
465–466 –, différance: 20–21, 31, 97–98, 104–
Bewusstsein: 20–21, 23, 25, 28, 31– 107, 110
33, 43–44, 60–61, 63–68, 72, 79, 81, –, ontologische: 45–46, 51–52, 161,
84, 91, 95–96, 98–103, 107, 110, 170–171, 176, 237, 240, 243
113, 115, 117–122, 140, 142–143, donation: siehe: »Gegebenheit
148–151, 220, 249, 252–253, 255, (phänomenologische)«
258–262, 273, 275–280, 284, 286–
293, 295–297, 307, 323, 335–336, Empfänger: 28, 50, 65, 68–69, 78–
338, 342–347, 351, 355–357, 364, 79, 95, 119, 143, 150, 152, 158,
367–370, 378, 397, 399–401, 410, 214, 219, 237, 257–259, 283, 289,
413, 416–421, 429, 433, 439, 447– 290, 292, 307, 313, 334, 342–348,
448, 451–458, 460, 469 356, 358, 364, 368, 382, 385–387,
Beziehung: 25, 57, 68, 70–76, 79, 93, 391, 400–401, 408, 416–418, 425,
100–101, 182, 205–206, 233, 242– 433, 435, 442, 452, 456, 464, 467,
244, 246, 250, 252–253, 255–257, 470

492

https://doi.org/10.5771/9783495820544

.
Register

Erfahrung: 24–26, 28–35, 44, 49, 53, 252–253, 255–265, 268, 270–271,
57, 62–65, 67, 72, 76, 78, 92, 116, 273–280, 283–285, 289, 291–292,
122, 131, 135–137, 139–141, 143, 294–296, 299, 306–308, 313, 316,
145, 147–151, 163–164, 166, 169– 364, 366, 400–401, 408, 414–415,
173, 175, 177–184, 187, 190–194, 417, 420, 446, 469, 474
196, 201, 205, 207–208, 210–213,
215, 219, 221, 223, 229, 232, 236– Freiheit: 19–20, 49, 155, 218, 220,
239, 250, 256, 258, 275–276, 278– 242, 259, 282, 284, 288–291, 308–
279, 285, 287, 290, 292, 295–298, 309, 312–313, 338, 341, 363, 365,
302, 304–310, 315, 317, 330–332, 407, 411
335, 342, 347, 349–352, 354, 360– Freundschaft: 358, 416, 440, 446
362, 364, 367–371, 373–375, 379,
381–384, 386, 388, 390–391, 397– Gabe/Geschenk: 21, 35, 53, 55–57,
398, 400–404, 408, 425, 429–430, 59, 67, 10, 114–115, 117–121, 141,
432–433, 436–437, 439–441, 445, 152, 165–166, 183, 187, 194–196,
447–450, 452–460, 463, 465–468, 200, 205, 207, 209, 212, 215–223,
470–471, 474 226, 232, 248, 282, 297, 301, 311–
–, Nicht-Erfahrung: 24, 29, 31, 33– 313, 324, 327, 329, 340, 349, 356,
34, 91–92, 122, 166, 225, 238, 269, 386, 403–405, 411–421, 430, 435,
274–275, 296, 299, 331–332, 408, 440–441, 443, 446–448, 451, 460,
429–430, 432–434, 443–444, 448, 470–471
452, 456, 459–460, 463, 466–468, Gastfreundschaft: 21, 110, 114, 117–
470–471, 474 118, 121, 425
Erinnerung: 66, 101, 103, 111, 114– Geburt: 17, 65, 148, 152, 292, 397,
116, 119, 126–127, 151, 196, 198– 404, 418, 442, 460–461
202, 212–214, 216, 248, 252, 269, Gegebenheit (phänomenologische):
272, 286, 289, 293–295, 303, 324, 23, 62, 98, 102, 134, 138, 142, 167,
367, 427 195, 301, 323–350, 354–370, 372,
Erlebnis: 17, 19, 24, 29–30, 32, 40–43, 376, 380–381, 385, 388, 390–391,
49, 52, 62, 96, 143, 164, 170, 178– 393–396, 399–400, 402–403,
181, 199, 249, 260–262, 269, 285– 405–408, 412, 415–417, 427–429,
287, 290, 296, 351, 356, 367, 370, 432–435, 437–440, 444, 450, 453,
382–383, 387, 389, 398–400, 428– 456
430, 439, 446, 453–454, 458, 464, Gegebene, das: 20, 22–23, 29, 33, 55,
466, 471 57, 62, 64–67, 81, 85, 88, 92–93, 95,
Ethik: 27, 39, 74, 76–77, 241, 271, 98, 102, 119, 122, 125–126, 131,
292, 297, 305–309, 311–312, 315, 134, 136, 138–139, 142, 150, 167,
318, 405, 430, 435, 466 182–183, 187, 194–196, 207, 209,
Existenz: 27–28, 43, 45–50, 52, 60– 216, 218, 223, 237, 247–248, 274,
62, 72, 74, 76, 145, 148, 178, 219, 294, 301, 314, 322–327, 332–333,
224–225, 240–241, 243, 278, 288, 338, 342–348, 354–356, 361, 363–
306, 389, 431, 437, 457 364, 368–369, 373, 378, 386–387,
–, Nicht-Existenz: siehe »Ohne Sein« 390–391, 393–394, 397, 399–403,
Exteriorität: 22, 25–26, 29–30, 62, 65, 405–412, 417–418, 420–421, 425–
67, 75, 78, 83–84, 90–92, 96, 100– 426, 429–430, 432–433, 435–437,
102, 117–119, 123, 170, 172–173, 439, 441, 443, 446–449, 451, 453,
181, 183–184, 209, 218, 220, 236, 455, 466, 473

493

https://doi.org/10.5771/9783495820544

.
Register

Gegenstand/Gegenüber: siehe 454–456, 458–459, 461, 464, 466–


»Objekt« 469, 471
Gegenwart: siehe »Präsenz«
Geschichte: 17–20, 26–28, 53–58, 86– Jetzt: 58, 64, 98, 103–104, 115, 120,
89, 101, 119, 157, 160–161, 168, 133–134, 151, 163–164, 167, 170,
184–185, 191, 196, 200, 203–211, 181, 184, 191–192, 207–208, 210,
213–217, 219, 221, 226–227, 236– 221, 223, 251, 257, 275, 285–286,
239, 286, 289, 292, 305–306, 315, 290, 300, 313, 327, 331–332, 335–
374, 380, 383, 390, 404–412, 425, 336, 353, 362, 378, 382, 389, 391–
431–432, 435–441, 443–444, 464– 406, 426
465, 467, 471–475
Kausalität: 147, 218, 335–336, 436–
Hermeneutik: 41–43, 46, 131, 134, 438, 440–441
143, 145–148, 232, 239, 375, 406– Kunst: 17, 19–20, 27, 39, 54, 58, 133,
408, 411, 418, 435–436, 473 143, 192, 223–231, 248, 267, 269–
270, 292, 319–320, 405, 447, 470
Ich, das: 63–64, 71, 89–90, 93, 96,
142–143, 249, 252–255, 257, 259, Leben: 19, 23, 40–43, 45–49, 55, 60–
261, 263–264, 269–270, 281–282, 62, 64, 67, 85–86, 93–94, 99, 101–
284–285, 291, 308, 331, 333–334, 102, 108–109, 121, 131–132, 152,
342–343, 351, 372, 385–386, 388, 164, 174, 181, 196, 206, 220, 224–
390–391, 402, 442–444, 456–458, 225, 237, 241, 243, 249, 253, 256,
461–462, 474 259, 265, 269, 278–279, 296, 299,
Identität: 20, 87–88, 103–105, 111, 306, 353, 363, 367, 370, 390, 412,
113, 117, 148, 210, 219, 241–242, 416–417, 430, 435, 437–439, 442–
252–254, 258–259, 262, 283–284, 443, 446, 457, 462
287, 359, 376, 382–383, 443, 455 Liebe: 17–18, 94–96, 133, 141, 143,
Immanenz: 33, 62, 67–68, 74, 91–93, 151–152, 160, 188, 279, 284, 292,
249, 253–254, 256–257, 259, 262– 302, 318, 350, 362, 383, 390, 416,
263, 268, 270, 273, 286, 329, 344, 418, 425, 430, 441, 446, 448, 459–
382, 384, 407, 409, 425, 455, 459– 462, 467, 470
460, 464–465, 470–471 Leib: 17–19, 25–28, 60–69, 72, 79,
Innerlichkeit: 22, 24–25, 29, 31, 61– 92–93, 95, 99, 143, 170, 225, 269,
62, 64, 66, 68, 75–76, 90, 99, 103, 272–279, 283, 289, 295–296, 323,
124, 170, 178–181, 183, 236, 256– 328, 331, 361, 367, 369, 381–383,
262, 271, 281, 292, 295, 306–307, 389, 442, 447, 453–457, 464, 466–
335, 343, 390, 442, 455–456, 458– 467, 469, 471, 474
459, 464, 466–469, 471 Logik: 22, 29, 39, 53, 61–62, 79, 90,
Intentionalität: 28, 30, 63–64, 249– 92, 115, 121, 131, 143, 173, 212,
250, 255, 257, 273, 275, 280, 308, 235, 280, 298–299, 311, 318, 335–
356, 369–371, 382, 385–386, 431, 336, 370, 425, 431, 436, 438, 445,
453, 455, 460–461, 467–468 450, 466, 474
–, Gegen-Intentionalität: 25, 28, 34, –, des Ereignisses: 31, 72, 74, 79–80,
63–64, 78, 81, 139, 178, 188–189, 96, 123–124, 136, 146, 157–158,
255, 257, 260, 273, 275–276, 280, 160, 168, 172, 179, 188–189, 196–
323, 333, 347, 359–360, 369–371, 198, 205, 208–209, 211, 226–227,
382, 385–386, 388, 411, 427–429, 230, 233, 236, 246–247, 309, 326,

494

https://doi.org/10.5771/9783495820544

.
Register

336, 362, 365, 369, 373, 391, 393, 263, 290, 294, 296–298, 302, 320,
400, 406, 426, 440, 444 330, 336, 344–345, 361, 367, 377–
378, 382–383, 408–409, 418, 427,
Macht: 19–20, 53, 56, 70, 75, 102, 429–430, 436, 456, 458, 465–467
184, 195, 202–205, 209, 212, 214– Notwendigkeit: 55, 87, 126, 135, 171,
215, 217, 219, 221–223, 237, 242, 197, 203–204, 207–209, 211–213,
256, 258, 281, 285, 290, 308, 343, 215–217, 226, 233, 260, 282, 290,
355–356, 361, 376–377, 439, 441– 314, 317, 319, 334, 346, 348, 350,
443 356, 358, 360–362, 365, 464
Metaphysik: 51–53, 55–57, 68, 86,
96, 98, 100–103, 110, 119, 140–141, Objekt: 22–24, 26, 29–30, 41–42, 44–
157, 167–168, 174, 176–177, 182, 45, 57–58, 61–64, 68–72, 75, 77, 89,
191, 198, 201, 205, 207–209, 211– 91–93, 98–100, 113, 121, 137, 142–
217, 238, 253, 271, 305, 315, 320, 143, 149, 155, 158, 161–164, 166,
330, 350–351, 353–354, 360, 386, 169–170, 173–174, 176, 179, 182–
391–394, 432, 437, 451–454, 463– 183, 185, 194–195, 204, 225, 242–
475 243, 248–251, 253, 257, 259–260,
Möglichkeit/Ermöglichung: 20–21, 264, 268, 272–274, 276–278, 280–
24, 31, 39, 46–50, 52–53, 55, 57, 69, 281, 294–296, 308–309, 315–317,
76, 86, 94, 106–107, 111, 127, 131, 322–323, 330–333, 338, 341–342,
139, 141, 147–149, 151, 160, 163, 347–348, 355–358, 367–370, 372–
165, 167, 176–177, 183, 187, 189, 374, 381–382, 385–386, 388, 390,
205–208, 210–213, 215, 217, 219– 393, 396, 398–401, 403, 405, 414–
222, 225, 229, 235, 239, 255, 275, 417, 426–431, 434, 440–441, 444,
278, 281–284, 291, 305, 307, 312– 447–448, 450–453, 455, 457–459,
313, 315, 329–330, 332, 334–336, 467–468
338–339, 342, 350–354, 360–361, –, Nicht-Objekt: 24, 26, 41–43, 45,
364, 366, 388–389, 399, 404–405, 57–58, 62–65, 68–72, 77–79, 90–
411, 414, 436, 438, 444, 460 93, 96, 107, 113, 122, 136–137,
140–142, 144, 146, 157, 161–166,
Nähe: 25, 72, 79–80, 94, 100, 204– 168–173, 175–178, 180–183, 189,
205, 223, 249, 252–253, 257, 262, 191, 193, 195, 199, 201, 223, 225,
264, 269, 272–274, 277, 279–284, 229–232, 235, 238, 242, 248–251,
295, 298, 307–308, 312, 316, 321, 253–255, 257–260, 262, 264, 268,
400, 403, 411, 431, 444, 466–470, 270–273, 275–277, 280–281, 295–
473 296, 298, 308, 310, 316–317, 323,
Neue, das: 28, 32, 53, 69, 85–87, 94, 328, 330–334, 339, 341–342, 347–
131, 134, 147, 149, 208, 213, 221, 348, 357, 366–369, 375, 378–379,
223, 238, 289, 291, 304–315, 332, 385–388, 390, 392–394, 396–401,
350–352, 402, 404–405, 411, 440– 403, 405, 407, 416–418, 420, 425–
441, 444, 446, 465, 467, 473 431, 433–435, 441, 444, 448, 450,
Neukantianismus: siehe »Transzen- 452–456, 458–459, 463–468, 471,
dental/-philosophie« 473–474
Nichts: 22, 49, 67, 92, 97, 100, 115, Ontologie: 18, 20, 22–31, 34–35, 43,
120, 123, 125, 127–129, 134, 147, 61, 71, 73–74, 76–78, 81, 84, 89–90,
166, 168, 170, 175, 194, 199–201, 92, 122, 124–125, 127, 132, 135–
223, 229–230, 232–235, 247, 250, 136–137, 152, 157, 173, 182, 250,

495

https://doi.org/10.5771/9783495820544

.
Register

253, 257, 271, 307, 309, 316–317, 238–239, 244, 260–261, 274, 276,
321, 334, 336, 342–343, 347, 399, 318, 328, 331–343, 346–348, 353,
401–402, 410, 425, 429, 432, 434– 360, 367, 369, 372–373, 377, 389,
438, 445–448, 450–454, 458, 463, 393, 396, 399–402, 405, 407–410,
465, 468–474 414, 418–421, 425–440, 442–457,
–, Fundamentalontologie: 23, 43–48, 459–461, 463–475
56, 189, 338, 439 Präsenz: 21, 31, 33, 65–66, 68–69, 75,
Ort/Verortung: 48–49, 58, 68, 76, 77, 79, 87–88, 97–117, 119–120,
84, 93, 95, 111, 122, 126–128, 131, 124–129, 131, 133–135, 140, 150–
150, 155–159, 170–171, 175, 179– 151, 162–163, 183, 187, 193, 201–
193, 202, 214, 222–231, 233–234, 202, 223, 251, 259, 269, 274, 277,
236, 238–239, 249, 256, 258–259, 285–287, 289, 291–297, 299, 302,
262, 270, 273, 277, 284, 289, 300, 347, 351, 393, 397, 402–404, 413,
320, 342, 382, 408, 443, 455, 470– 429, 451, 456
475 Psychoanalyse: 19, 26, 71

Passivität: 19, 25, 28, 33, 65–67, 69, Raum/Räumlichkeit: 23, 63, 75, 88–
79–80, 91, 95, 136, 143, 214, 219– 89, 94, 103, 105, 123, 178–193, 202,
220, 255, 257, 259–261, 274–275, 213, 222, 224–225, 227, 236–237,
277, 279, 282–285, 290, 292, 312, 249, 258, 260, 273–274, 278, 280,
318, 343–345, 358, 367, 401, 411, 282, 284, 337, 379, 383, 398, 465–
417–418, 442–443, 454–456, 464, 466, 471, 473–474
466–470, 473 Ruf: 143, 282, 302, 313–314, 386–
Phänomen/Erscheinung: 27, 29–30, 388, 391, 402, 406–411
32–34, 47, 50, 66, 82, 86, 93, 100, Reduktion (phänomenologische): 23,
103–104, 106, 122–124, 138–143, 30, 41, 100–104, 106–107, 140, 142,
146, 148, 150, 152, 158, 170, 178, 238, 251, 255, 260, 289, 318, 324,
183, 187, 195–196, 203, 205, 210, 329, 331–342, 346, 375, 386, 409–
216, 223, 228–229, 237–239, 241, 410, 415, 417, 420–421, 432, 438,
243, 249–256, 258, 262, 267, 271– 440, 445, 451, 463
272, 277–278, 289, 293–295, 297, Repräsentation: siehe »Erinnerung«
300–306, 315–316, 322–349, 352–
370, 374, 377–381, 383–386, 391, Schuld: 117–118, 120–121, 131, 310–
393–402, 404–410, 414, 417–421, 311, 314, 414, 416
426–441, 443–450, 456, 459–463, Seiende, das: 21–23, 30–31, 43–46,
465–466, 473, 475 48–53, 55, 58, 73–74, 76–77, 86, 97,
–, das gesättigte Phänomen: 138–139, 106, 108, 122, 125, 137, 140–142,
140–144, 232, 251, 322–327, 329, 155–158, 160–166, 168, 170–171,
333, 338–341, 345, 348–349, 351– 174–178, 180, 182–187, 189–191,
353, 357, 364, 367–392, 394, 400– 193–201, 203–205, 208–209, 212,
402, 408, 411–412, 417–418, 427, 214, 216, 218, 221–223, 225, 227–
432–433, 435, 440, 444, 456 232, 234–238, 240–243, 248–249,
Phänomenologie: 19, 22–23, 25–26, 251–253, 256–258, 273, 278, 280,
28–35, 40–44, 55, 59–61, 66, 68, 297–298, 305, 307, 312, 318, 320,
70–72, 81, 90–91, 94–96, 98, 101, 324, 333–334, 338, 342, 365–366,
115, 118, 122, 124, 136–139, 141– 392–393, 425, 430, 434, 438–441,
143, 145–146, 152, 182–183, 195, 451–453, 457, 463, 471, 473

496

https://doi.org/10.5771/9783495820544

.
Register

Sein: 18–19, 22–24, 31–32, 34, 40– 95–96, 99, 108, 124, 131, 134–137,
58, 60–62, 65, 67, 69, 71, 73–76, 148–149, 151, 155, 161, 170, 178–
78–80, 82–84, 86, 92–93, 98, 100, 179, 182, 188–189, 217, 219, 222,
115, 122–126, 128–131, 136, 140– 230, 236, 238–239, 241–242, 245,
142, 145, 152, 155–245, 247–249, 249, 252–256, 258–262, 270–271,
253–254, 257–261, 273–274, 286– 273–274, 277–278, 280, 282, 285,
287, 290, 292, 297, 299, 305–310, 290, 294, 305, 309, 312, 330–331,
312, 315, 318, 321, 324, 329, 332– 333–334, 343, 386–388, 429, 439,
333, 343, 350–351, 360–361, 363, 442, 445, 454–459, 464, 466–469,
366, 379, 391–393, 402, 410, 414– 473
416, 425, 427, 430–431, 434, 437– –, Subjektivität: 78, 80, 93–94, 254–
441, 443–444, 447, 450–452, 455, 255, 257–259, 262, 274, 282–283,
457–458, 461, 464–466, 470–474 299, 431–432, 473
–, Ohne Sein: 34, 73–76, 78–79, 81–
82, 90, 97, 113–116, 120, 123–132, Theologie: 23, 71–72, 138–139, 141,
134, 136–137, 140–141, 203, 238, 347, 378, 435, 448, 451, 453
241–243, 245, 247, 253–254, 257– –, negative: 298–299, 318, 413, 451,
259, 261, 277, 290, 296, 298–299, 453
304–306, 315, 318, 352, 361, 366– Tod: 17, 75, 131, 146, 152, 164, 225,
367, 410, 414–416, 431, 470–471, 242, 285, 292, 309–310, 396–398,
473 416, 418, 425–426, 443, 460, 467
Sichtbarkeit: siehe »Phänomen/Er- Topologie: 58, 86, 93–95, 105, 122,
scheinung« 132, 136, 182, 189, 191, 465
Singularität/Einzigkeit: 84, 86–88, Transzendental/-philosophie: 22–24,
90–91, 110–115, 117, 119, 123, 127, 28, 30, 39–41, 46, 56, 62, 72, 90–94,
129, 149, 151–152, 159–160, 162– 122–123, 148, 157, 182, 218–219,
163, 173, 185–186, 191–192, 208, 253, 275, 330–333, 335, 338, 340,
210–211, 223, 233, 237, 240–241, 342, 369–373, 388, 393, 438–439,
280, 296, 301, 376–378, 383, 390– 445, 464–465
391, 395–398, 404, 441 Transzendenz/Transzendieren: 18–
Sprache: 20–21, 29, 51, 54, 72, 76–78, 19, 35, 39–42, 44, 46, 49, 62, 67–69,
81, 84, 100–102, 106–108, 111–112, 71–72, 76, 78, 80, 89, 91–92, 94,
117, 123, 131, 133–134, 167, 173, 188, 218, 244, 253, 256, 260–261,
223–236, 239, 244, 256, 262, 283, 263, 268–270, 274, 277–279, 282,
299, 315–321, 441, 464–465, 474 284, 287–288, 290, 298, 305–306,
Spur: 75–76, 79, 104, 106, 115, 122– 308, 310–312, 319–320, 347, 412,
123, 167, 194, 207, 215, 217, 234– 415, 431, 442, 470–471
235, 237–239, 287, 297–306, 315– Trauma: 27, 292
319, 321, 383, 394, 397, 401, 405,
407, 409, 411, 429, 433–436, 440– Unbegreiflichkeit: 24, 30, 45, 61–64,
441, 444, 449–450, 456, 458–459, 68–69, 79, 90, 93, 97, 100, 105, 107–
463 110, 117, 121, 139–144, 147, 149,
Strukturalismus/Poststrukturalis- 151, 156, 167, 170–174, 178, 194,
mus: 19, 21, 26, 31, 80, 89–91, 94, 210, 215, 232, 235, 242, 248, 250,
122 254, 258, 263–264, 266, 269, 272,
Subjekt: 19–22, 24–25, 29–30, 50–51, 275–277, 288, 293, 296, 304, 310,
53, 62, 64–65, 68–78, 80, 83, 90–93, 315, 320, 323, 339, 347–349, 351–

497

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.
Register

354, 367–374, 377–378, 380–392, 289, 291, 312, 336, 349–351, 353–
394–401, 403, 405, 408–411, 417, 354, 356, 359–362, 365–366, 368,
425, 427–429, 431–433, 436–438, 376, 389, 394–395, 398, 400, 402,
443–444, 447–450, 453, 458–459, 404, 440–441, 444, 446, 475
464, 470 Ursprung/Ursprünglichkeit: 33, 40,
Undenkbarkeit: 26, 30, 45, 64, 69, 71, 47–48, 50–51, 58, 62, 64–67, 72,
79, 100, 107–109, 112, 134, 163, 76–77, 98–99, 103–107, 148–149,
169–178, 180, 190, 199, 222–223, 151, 157–158, 161, 163, 165, 167,
231, 255, 257, 262–270, 273, 277, 175–176, 182–183, 187, 189, 193,
281, 283–284, 293–294, 298, 351– 197, 205, 207, 211, 216, 220–222,
352, 367–368, 391–392, 394–395, 226–227, 230, 235, 238, 247, 259,
399–401, 405–406, 419–420, 425– 274, 277, 284, 288–292, 294–296,
475 300, 305–307, 317, 323, 327–328,
Uneinholbarkeit: 20–21, 24–25, 30, 331, 351, 358–360, 367, 369, 382,
33–34, 45, 62, 64–65, 67–69, 75, 79, 386, 388, 392–393, 404–405, 425,
114, 140, 150, 167, 172–173, 194, 435–436, 458, 461, 465, 472–473
199–201, 223–225, 231–235, 238–
239, 249, 251, 264, 272, 277, 286– Verantwortung: 76–77, 79, 151–152,
288, 291–292, 294–298, 301–304, 249, 251–252, 255, 257, 261, 273,
310, 315, 320, 327, 346–347, 366, 279–284, 286, 288, 290, 292, 298–
391–393, 401, 403, 405–406, 408, 304, 309–314, 316, 410–411, 416,
411, 431–432, 434, 436, 438, 458– 431
459, 465, 471 Vergangenheit (die niemals Gegen-
Unerinnerbarkeit: 66, 79, 112–113, wart war): 66, 68, 75, 79, 108, 114–
117, 127, 151, 163, 169, 200–202, 115, 150–151, 201, 225, 286–288,
252, 272, 277, 286–287, 291–297, 291–297, 301, 309, 316, 343, 358,
405, 430–432, 444 397, 400–403, 431, 433, 436, 444,
Unmöglichkeit: 27, 45, 66, 71, 90, 446, 456, 460, 465
108–110, 113–120, 139, 144, 147, Vergebung: 21, 110, 114, 117–118,
218, 225, 261–262, 270, 273, 288, 120, 131, 133, 216, 418, 460
295, 315, 349–354, 360–362, 368, Vergegenwärtigung: siehe »Erinne-
376, 387, 400, 402, 414, 419–420, rung«
441, 450, 471 Vergessen: 24, 55–56, 196–210, 212,
Unsichtbarkeit: 21, 27, 33–34, 44, 68, 214–217, 220–221, 224–225, 230,
101, 112, 114–117, 120–121, 127– 237, 297, 305, 314, 320, 324, 383,
128, 130, 140, 152, 196, 205, 216, 434, 472–473
237–238, 247–252, 257–258, 262, Verspätung: 66, 68–69, 104, 115,
272, 284, 289, 293, 295–297, 299– 119–122, 132–133, 147, 150,
302, 305–306, 315–316, 323, 336, 210–211, 216, 259, 267, 275, 288–
343–344, 346–348, 355, 378–379, 289, 291–293, 296, 303, 316, 375,
296–297, 401, 404–409, 414–415, 395, 397, 403–404, 411, 433, 456,
417–421, 427–436, 443–452, 455– 460
456, 458–463, 465–466, 468–469, Vorstellung: 50, 111, 163–164, 170,
471, 474–475 173–174, 196, 198, 201, 234–235,
Unvorhersehbarkeit: 17, 53, 110, 116, 247–253, 265, 267, 275, 278, 281,
119, 128, 139, 147–148, 150, 207, 289, 293–296, 304, 317 319, 376,
209, 217–218, 236, 242, 246, 285, 427–428, 464

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Register

–, Nicht-Vorstellung: 50, 63, 68–69, 234–235, 270, 297, 315, 367–368,


71, 80, 91, 100, 161, 163–164, 166, 381, 403, 471, 473
169–173, 176, 192, 199, 222–224, Wissen/Wissenschaft: 15, 19–20, 22–
227, 233–235, 247–253, 255–258, 24, 27, 30, 32, 35, 39, 40–42, 45–49,
260, 262, 264, 266, 268, 271, 274– 85, 88, 90, 107, 133–134, 136, 164,
275, 278, 280–281, 284, 287, 290, 171, 174, 224, 232–233, 235, 248,
293–296, 301, 303–304, 317, 319, 253, 264, 266, 274, 294–295, 298,
371, 376, 427–430, 453, 458, 464, 302, 315–316, 350, 387, 391, 398,
467–468 402–403, 405, 409–410, 414–416,
418–419, 436–437, 439, 445, 447,
Wahrheit: 19, 23, 47, 50–54, 56–58, 471
83, 85, 87–88, 98, 113, 123–124, –, Nicht-Wissen: 19, 63–64, 107, 120,
133–137, 155–161, 165, 168, 170– 130, 134, 144, 171, 198–199, 200–
171, 175–178, 180–181, 184–187, 201, 208, 213, 232–233, 235, 238,
189–192, 194, 197, 199, 206–208, 252–253, 268, 288, 294, 296–298,
213–214, 216, 220–222, 224–227, 300, 302, 314, 335–336, 387, 405,
229–231, 234–235, 258, 278, 302, 410, 414–416, 418–419, 427, 438,
371, 376, 386, 410, 436, 447, 454, 466–467, 471
471–472
–, ἀλήθεια: 53, 155, 157–158, 195– Zeichen: 99, 101–102, 106–113, 120,
196 213, 227, 234–235, 263, 265, 282,
Wahrnehmung: 33, 60–68, 93–94, 297, 300–301, 303, 317, 383, 411,
103–104, 111, 170, 191, 294, 296, 429
316, 361, 366, 379, 381–382, 425, Zeit: 22–23, 27, 46–47, 49, 53, 57, 65–
455, 462 66, 68, 75, 87–89, 95, 100, 102–105,
Wesen: 22–23, 29–30, 42, 45–46, 50, 114, 119–120, 131, 133, 136, 146–
53, 56–57, 60–61, 84, 90, 99–102, 147, 149–150, 152, 165–166, 169,
109, 113, 116–117, 122–124, 130, 179–180, 182–193, 195, 202, 206–
141, 155, 158, 160–169, 171–172, 209, 212–213, 222–226, 231, 245,
175, 177, 179–181, 184–187, 192– 248, 251–252, 255, 259–260, 274,
207, 211–212, 214–215, 218–220, 278, 284–292, 294–295, 302–304,
222–223, 227–230, 232–235, 237, 306, 309, 311, 324, 335–336, 352,
241, 247, 253, 265–266, 278, 282, 355, 360–361, 365, 376, 382–384,
285–286, 288–289, 305, 313, 315– 391–405, 408, 416, 426, 430, 433,
316, 326–329, 333, 346, 350, 357, 456, 460, 467, 472
365–368, 373, 387, 391–393, 395, –, Zeitbewusstsein: 25, 33, 66, 103,
399, 405, 408, 413, 429–430, 435– 335
436, 438, 441, 445–446, 451, 455, Zeuge/Zeugnis: 57, 165, 282, 288,
461, 472 302–304, 320, 325, 376, 386–388,
–, Nicht-Wesen: 52–53, 58, 87, 89, 420, 430
113, 156–157, 160–169, 172–173, Zufall/Kontingenz: 87, 128, 207–209,
175–180, 186–187, 190–197, 199– 218, 226–227, 231, 356, 358–362,
207, 212, 214, 219–223, 227–229, 365–368
231–236, 258, 289, 366–367, 392– Zukunft: 75, 87–88, 103, 115–116,
393, 395, 399, 405, 430, 440 119, 131, 150–151, 183, 187, 206,
Wiederholung: 86, 100, 111–113, 210–211, 213, 215, 226, 236, 242,
120, 206–207, 211–212, 223–231,

499

https://doi.org/10.5771/9783495820544

.
Register

245, 251, 285–286, 296, 335–336, 357, 363, 368, 374, 377, 379–380,
359, 380, 383, 403–404 388, 399, 452, 462, 474
Zwang: 135, 181, 184, 214, 218, 226, Zwischen: 96, 176, 181, 186, 191, 210,
230, 238, 272, 285, 291, 303, 310, 233
312–313, 320, 341, 346, 348, 355–

500

https://doi.org/10.5771/9783495820544

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