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Heideggers Neubestimmung

des Phänomenbegriffs

Von Otto Pöggeler, Bochum

Heideggers Buch „Sein und Zeit" hatte gleich bei seinem


Erscheinen einen unvergleichbaren Erfolg; dieser Erfolg
gründete nicht zuletzt darin, daß Heidegger sich nun auch
für eine breitere Öffentlichkeit an die Spitze der phänome
nologischen Bewegung stellte und dieser eine radikale
Wendung gab. Handelte es sich um eine Konkretisierung
von Husserls transzendentalem Idealismus, wie Oskar
Becker, lange Jahre mit Heidegger Assistent bei Husserl,
meinte, um eine hermeneutische Phänomenologie, die
jedoch phänomenblind blieb für die Existenzweise oder
spezifische Gegebenheit mathematischer Gegenstände,
wie Becker in einer großen Abhandlung zu zeigen ver-
suchte, die gleichzeitig mit Heideggers Werk im Husserl-
schen Jahrbuch erschien? Lag hier der Versuch einer
Konkretisierung vor, der doch nicht zu wirklicher Kon-
kretion führte, wie Herbert Marcuse enttäuscht feststellen
zu müssen glaubte? Wurde hier der phänomenologische
Ansatz verfälscht und an den modischen Anthropologis-
mus, Historismus und Relativismus verraten, weil die
Grundvoraussetzung phänomenologischen Philosophie-
rens, die phänomenologische Reduktion, nicht verstan-
den war, wie Husserl schließlich von seinem besten
Schüler sagte? Ich möchte zu zeigen versuchen, daß
Heidegger vom Anfang seiner Wirksamkeit an, also schon
als Assistent Husserls und Privatdozent, die Phänomeno-
logie für neue Phänomene zu öffnen suchte, das heißt für
die Weise, wie das, was ist, sich in einem Sein oder einer

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spezifischen Seinsstruktur zeigt. Durch diese Neubestim-
mung des Phänomenbegriffs war der Bruch mit Husserl
implizit gegeben, wie man im Gegensatz zu der Weise, in
der die phänomenologische Tradition in den letzten Jahr-
zehnten zur Wirkung kam, festhalten muí.
Was Phänomenologie sein kann, suchte Heidegger in
exemplarischer Auseinandersetzung mit Aristoteles, dann
mit Kant zu zeigen. Dieses Faktum kann man aber nicht
dazu benutzen, in Heideggers Ansatz nur eine immanente
Selbstreflexion der Tradition zu sehen. Heidegger, so
meint man in solcher Sicht etwa, soll nicht nur mit Kant
ein Apriori für den theoretischen Bereich suchen, sondern
ein zweites Apriori, welches erst die Aprioritäten des
theoretischen, praktischen, ästhetischen Bereichs zusam-
menfaßt. Sieht man einmal von der Frage ab, ob Kants
Herausstellung reiner Begriffe, also der Kategorien, über-
haupt überzeugend ist, so darf man jedenfalls für Heideg-
ger festhalten, daß er den Sinn des Apriori neu bestimmt,
und zwar so, daß dadurch eine Metaphysik von der
Metaphysik aporetisch, der Weg Fichtes letztlich unbe-
tretbar wird. Auch die Sackgasse, die Walter Schulz
Heidegger durch die Parallelisierung mit dem späten
Schelling baut, bleibt eine bloße Konstruktion, der Hei-
degger durch die Neubestimmung des Phänomenbegriffs
von vornherein entschlüpft ist. Man mag nun mit Ernst
Tugendhat zugestehen, daß Heidegger die kritische Ten-
denz Husserls (nicht die dogmatische Tendenz auf Letzt-
ausweisung) fortführt und durch eine Erweiterung des
Wahrheitsbegriffs bereichert; wenn man aber argumen-
tiert, Heidegger spreche nicht von der phänomenologi-
schen Reduktion, weil er sie voraussetze, dann sagt man
nur die halbe Wahrheit, hat man die Abweisung der
Reduktion wegen deren Ausrichtung auf Eidos und Ich
nicht ernstgenommen. Die Aporien, in die Heidegger von

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Anfang an geriet, werden dann zu Unrecht auf ein an-
geblich unkritisch gewordenes Spätwerk abgeschoben.
Heideggers Versuche sind aporetisch, deshalb auch frag-
mentarisch geblieben. So kann man das, was Heidegger
unter Phänomenologie versteht, nicht an vorläufigen pro-
grammatischen Erklärungen und nicht an Worterläute-
rungen, auch nicht mit Hilfe griechischer Lexika, ablesen.
Man muß auf das sehen, was Heidegger tut. Immer noch
wartet Heideggers Neubestimmung des Phänomenbe-
griffs darauf, in systematischer Absicht aufgenommen zu
werden; die Geschichte der Phänomenologie muß von den
Sachen her neu gesehen und historisch von der Verzerrung
durch einseitige Akzentsetzungen befreit werden. Husserl
rückte durch die Aufbereitung seines Werks in die Rolle
eines Klassikers, Scheler wurde in den Hintergrund
gedrängt. Man nahm Husserls Spätwerk nicht als Aufbau
einer Gegenstellung gegen Heidegger, sondern als Hin-
wendung zu Heideggers Fragestellung. Das führte zu
seltsamen Konsequenzen für die Husserl-Lektüre über-
haupt - Merleau-Ponty z. B. liest in Husserls Zeitanaly-
sen das Wort Innerzeitigkeit, gibt es auch noch im deut-
schen Wortlaut, obwohl das Wort dort nicht steht und aus
der Erinnerung an Heidegger stammt. „Sein und Zeit"
wurde nicht zusammengelesen mit Beckers Untersuchun-
gen zur Ontologie der Mathematik und deren Anwendun-
gen, sondern für sich genommen und in den Bereich der
Existenzerhellung abgeschoben. Der späte Heidegger ver-
deckte durch andersartige, unphänomenologische Motive
die phänomenologische Problematik. Sicherlich ist es
prekär, den 2000 oder 3000 Arbeiten über Heidegger noch
einen Vortrag hinzuzufügen. Die wenigen Bemerkungen,
die ich machen kann, sollen aber die kritischen Punkte in
der Entwicklung von Heideggers Verhältnis zur Phäno-
menologie betreffen.

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Heidegger hat mit philosophischen Arbeiten begon-
nen, die im Raum des Neukantianismus stehen und sich
auf die mittelalterliche Philosophie beziehen; er ist
auch früh schon dem Hinweis auf Hegels Vermittlung
von System und Geschichte gefolgt. In der Lehrtätig-
keit nach dem Ersten Weltkrieg schließt Heidegger sich
konsequent der Phänomenologie Husserls an; die neu-
hegelianische Dialektik gilt als ein Konkurrenzunter-
nehmen, dessen Unterlegenheit nachgewiesen werden
soll.
Qualitativ wie quantitativ erweisen sich phänomenologi-
sche Untersuchungen zu Aristoteles als die Mitte von
Heideggers damaligen Versuchen. Die Rede vom phäno-
menologischen Ansatz des Aristoteles mußte für Husserl,
der die Phänomenologie in Auseinandersetzung mit Des-
cartes und der neuzeitlichen Tradition entwickelte,
eigentlich eine Provokation sein; Husserl hoffte jedoch,
die „grundlegende große Arbeit über Aristoteles von
Heidegger", wie er an Ingarden schrieb, 1923 im siebten
Band seines Jahrbuchs veröffentlichen zu können. Zu
dieser Veröffentlichung kam es nicht. In den Jahren nach
dem Zweiten Weltkrieg, zur Zeit der Heiligen Allianz von
Philosophie und Theologie sowie von Theologie und
Politik, hat Heidegger des öfteren darauf hingewiesen,
daß er schon als Gymnasiast von dem späteren Freiburger
Erzbischof Gröber Brentanos Dissertation über die
manigfache Bedeutung des Seienden bei Aristoteles
bekommen und als Einstieg in die Philosophie genommen
habe.
Man konnte sich Heideggers Weg nun so vorstellen, als sei
er durch anhaltendes Meditieren über die einschlägigen
Bücher der Aristotelischen Methaphysik zu seiner Frage

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nach dem Sein gekommen.' Die Phänomenologie des
Lebens, die Heidegger gleich nach dem Ersten Weltkrieg
vortrug, erweist solche Vorstellungen als abwegig.
In dieser Phänomenologie folgt Heidegger Husserl. Er
glaubt jedoch, Husserls Phänomenologie orientiere sich
zu einseitig am Leitfaden der Wahrnehmung. Husserl geht
von der sinnlichen Anschauung weiter zu einer nichtsinn-
lichen oder kategorialen Anschauung; die logischen
Gesetze z. B. werden in bahnbrechender Weise dem
psychologistischen Zugriff entnommen, dann aber selber
zum Ansich einer nichtsinnlichen Anschauung. Sind diese
Gesetze auch nur im Vollzug da und deshalb nicht Quasi-
gegenstände, so glaubt Heidegger doch, die volle Durch-
sichtigkeit eines logischen Vollzuges werde in Husserls
Phänomenologie in unbedachter Weise zum Maßstab aller
Vollzüge, auch der praktischen und der religiösen,
gemacht. In der Tat werden auch die Inhalte sittlicher
Normen als Werte an sich interpretiert. Die gesehene oder
theoretische Wahrheit usurpiert den Anspruch auf Wahr-
heit überhaupt; diese Usurpation geschieht aber schon bei
den Griechen. Heidegger kämpft gegen sie, indem er im
Bruch mit der Überlieferung die praktische Wahrheit -
zuerst die Erschlossenheit eines Zeugzusammenhangs - .
als das Primäre ansetzt und die religiöse Wahrheit auf ihre
Implikationen hin befragt. Leitfaden phänomenologi-
scher Forschung ist dann nicht mehr (wie bei Husserl,

' Nach der Dissertation, der Habilitationsschrift und dem Habilitations-


vortrag hat Heidegger erst wieder Sein und Zeit publiziert; dieser
zufällige Publikationsgang, der auch der ersten Abteilung der Heideg-
ger-Gesamtausgabe zugrunde gelegt wurde, darf nicht darüber täuschen,
daß Heidegger in einer Zwischenphase, der Phänomenologie des Lebens,
zu sich selbst fand. - Über den Plan von Heideggers Aristoteles-Buch
schreibt Husserl am 14. Dezember 1922 an Ingarden; Frau Husserl teilt
dann am 24. Februar 1924 mit, dieser Beitrag Heideggers zum Jahrbuch
habe sich durch Heideggers Berufung nach Marburg verzögert.

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soweit Heidegger ihn im Blick hatte) die Psychologie,
sondern die Geschichte.' Philosophisches Erkennnen soll
nicht wie selbstverständlich im Sinne der platonisierenden
Tradition zum Sehen einer Gestalt werden - eines Eidos,
das dann gemäß der neuzeitlichen Umwandlung des anti-
ken Ansatzes im Ich auszuweisen ist. Vielmehr muß
gefragt werden, wie das, was ist, sich zeigt in einem Sein
und so in unterschiedlicher Weise Phänomen wird. Ari-
stoteles hat diese Aufgabe gesehen: im sechsten Buch der
Nikomachischen Ethik hat er die Phronesis, die auf die
Situation Rücksicht nimmt, auf Wahrheit bezogen; er hat
dort den Kairos berücksichtigt (der dann in verschärfter
Form in der christlichen Tradition herausgestellt wurde).
In einer kategorialen Nivellierung schieben sich jedoch
gemäß der leitenden Überzeugung, Sein sei Anwesen,
Begriffe in den Vordergrund, die den Kairos und seine
Wahrheit verfehlen. In der Rhetorik kennt Aristoteles
noch die erschließende Rolle der Pathe; im Organon
spricht er nur der Aussage die Möglichkeit, wahr oder
falsch sein zu können, zu. Die Physik faßt die Zeit vom
Jetzt-Punkt her - Sein kommt der Zeit nur von der
Anwesenheit, ja Vorhandenheit her zu. Die Zeit in ihrer
eigentlichen Zeitigung wird damit aber nicht getroffen.
Die Zeit - das war 1922/1923 Heideggers entscheidende
Einsicht - ermöglicht jedoch nicht nur den Kairos und das
faktisch-historische Leben, sondern steht als das Verges-
sene und Verdrängte auch hinter dem überlieferten philo-
sophischen Ansatz: Sein wird mit der Mannigfaltigkeit

2 Noch die Logik-Vorlesung von 1925/1926 unterscheidet theoretisch

eigene Absicht- jetzt eine »phänomenologische Chronologie* - entwik-


kelt.

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seiner Bedeutungen ausgerichtet auf eine leitende Bedeu-
tung, auf das Sein als Ousia oder Substanz und damit auf
stete Anwesenheit; Anwesenheit meint Gegenwart,
Gegenwart aber ist eine und nur eine Dimension der Zeit;
also muß nach der Zeit in einem erfüllteren Sinn gefragt
werden, damit das Sein nicht in der traditionellen Einsei-
tigkeit gefaßt wird, die Phänomenologie der unterschied-
lichen Strukturierung der Phänomene gerecht werden
kann.3
Leider sind Heideggers frühe Vorlesungen und Aristote-
les-Studien nicht einmal in exemplarischer Auswahl publi-
ziert; so möchte ich die Phänomenologie des Lebens von
einem gesicherten Text, von der Rezension der Psycholo-
gie der Weltanschauungen von Jaspers her, vorstellen.*
„Der volle Sinn eines Phänomens", so heißt es dort zu
unserem Thema, »umspannt seinen intentionalen Bezugs-,

3 In meinem Buch (Pöggeler 1963) habe ich Heideggers Einstieg in die


Philosophie so dargestellt, daß er einerseits (im neukantischen und
scholastischen Raum und von Aristoteles her) die Seinslehre aufnahm,
andererseits mit der christlichen Tradition und Dilthey Lebenskatego-
rien suchte; erst die Zusammenführung beider Wege habe die Seinsfrage
ergeben. Heidegger nannte als Zeit dieser Zusammenführung 1922/1923;
dieses Datum müßte freilich an den Dokumenten nachgeprüft werden. -
Gegen meine Darstellung von 1963 hat man geltend gemacht, daß auch in
dieser Phase von Heideggers Denken nicht nur von Augustin und
Luther, sondern wesentlich von Aristoteles die Rede gewesen sei; das ist
richtig (wie ich auch angemerkt hatte), doch muß man fragen, wie
Heidegger Aristoteles damals aufnahm, so daß er ihn mit Luther und
Augustin zusammen lesen konnte. Diese frühe Aristoteles-Deutung ist
ganz verschieden sowohl von der Brentanoschen wie von der Heidegger-
schen nach 1930.
* In seinem „Gespräch von der Sprache" hat Heidegger sich von den
»jugendlichen Sprüngen* seiner frühen Vorlesungen distanziert. Es
fallen verworrene und widersprüchliche Aussagen und Vermutungen
über eine bestimmte Vorlesung. Solange kein gesicherter Text der trühen
Vorlesung vorliegt, kann die Jaspers-Rezension zeigen, dais Heidegger
sich nicht - wie er in dem Gespräch behauptet - gegen den „Ausdruck"
richtete, sondern gerade zureichende Ausdruckscharaktere für das

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Gehalts- und Vollzugscharakter." Intentionalität be-
deute dabei gerade nicht nur das theoretische „Meinen
von" (22). Bei der Analyse des Bezugssinnes knüpft
Heidegger unmittelbar an Husserl an, indem er aus den
"Logischen Untersuchungen" den Terminus „Auffas-
sungssinn" aufnimmt (10). Mannigfache Eindrücke kann
ich zusammengreifend auffassen, indem ich sie als ein
Ding nehme oder (bei Lauten, die ich höre) als ein Wort.
Nehme ich das Erkennen als Anschauen, dann gilt, „daß
aller Anschauungsvollzug in einer bestimmten Orientie-
rung und einem regionvorwegnehmenden Vorgriff lebt"
Dabei kann das Anschauen auch dann blind gegenüber
seiner eigenen, vielleicht gar nicht ursprünglichen „Motiv-
basis" sein, wenn es um der Unmittelbarkeit der Anschau-
ung willen alle sachfremden Konstruktionsgesichtspunkte
meiden will (4 f.). Geht es der Phänomenologie um die
Sachen selbst oder die Phänomene, so hat sie doch durch
Vorgriffe immer schon verschiedene Phänomenbereiche
angesetzt. Der Vorgriff hat die „Funktion der Führung
eines prinzipiellen Erkennens von etwas"; nur wenn
dieser Vorgriff im Erfahren eigens miterfahren wird, kann
ein konkreter Erfahrungszusammenhang, z. B. eine Wis-
senschaft, zu „einem echten und reinen" umgebildet
werden. Die Methode entspringt dabei zusammen mit
dem Vorgriff aus derselben Sinnquelle - dem Auffassen
von etwas als etwas. Das Sprechen von etwas muß sich
»ursprünglich geschöpfte Ausdrucksmittel" bemühen
(9, 14). Dem Bereichansetzen entspricht ein bestimmter

Leben suchte, daß er sich zwar gegen das modische Reden von Leben und
Erleben, nicht aber gegen diese Worte überhaupt wandte. Vgl. Heideg-
ger 1959, 128f., 91. Heideggers Rezension „Anmerkungen zu Karl
Jaspers ,Psychologie der Weltanschauungen** wird zitiert nach Heideg-
ger 1976 (Gesamtausgabe Bd. 9), 1-44. Die angegebenen Seitenzahlen
beziehen sich auf diese Schrift.

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„Grundhaltungssinn" - ich muß mich in meiner Haltung
in einer Grundmöglichkeit verstehen, will ich einen
bestimmten Bereich vor mich bringen können. Der Vor-
griff in seiner Funktion als Bereichansetzen und der
Grundhaltungssinn können sich vom Phänomen abdrän-
gen lassen; sie können durch die Tradition, in der sie
stehen, immer schon abgedrängt sein (28). Der Weg zu
den „Sachen selbst" ist nicht der direkte Weg der freigebig
ausgeteilten „Wesenseinsichten", sondern der Umweg,
der sich zuerst einmal gegen die eigenen Voraussetzungen
wendet. Voraussetzungslosigkeit kann in der Phänome-
nologie nur meinen, daß ein „unausgesetzte(r) Bekümme-
rungsvollzug" sich in faktisch-historischer Eigenkritik der
getätigten Voraussetzungen um Voraussetzungslosigkeit
bemüht; diese ist also „Haltung und Richtung", nicht
Besitz. „Ursprünglichkeit" in der Phänomenologie ist
deshalb nicht eine „außer- oder überhistorische Idee"; sie
bringt eher radikal destruktive „Vorarbeit" als fertige
Resultate. Sie ist wesentlich Kritik - kritisches Infragestel-
len von „Ursprünglichkeit, Motiv, Tendenz, Vollzugs-
echtheit und genuine(r) Durchhaltung" einer fundament-
gebenden Anschauung (5 f.).
Beim Phänomen des Lebens als Existenz gilt nun, daß der
Vollzugssinn gegenüber dem Bezugssinn und Gehaltssinn
„archontisch" ist (29; Heidegger sagte sonst wohl auch
„dominant"). Philosophie hat sich überhaupt nicht nur
um das neutralisierte Gegenständliche der Theorie zu
kümmern, sondern um das Bedeutsame; das Bedeutsame
ist nach Heideggers damaliger Unterscheidung in umwelt-
licher, mitweltlicher und selbstweltlicher Erfahrung gege-
ben, wobei die Kombination der ersten beiden Erfah-
rungsweisen die „Rolle" ergibt, die jemand in der umwelt-
lichen Mitwelt spielen kann. Für das Leben als Existenz
kann der Seinssinn überhaupt nicht einem objektivieren-

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den „es ist" entnommen werden, sondern nur dem „ich
bin" eines um sich selbst bekümmerten Vollzugs. Das Sein
steht immer in einem unterschiedlichen Sinn, entspre-
chend dem unterschiedlichen Auffassungs- oder Bezugs-
sinn; es ist als Gegebensein, wie die Konjugation des
Verbums »sein" schon anzeigt, in unterschiedlicher Weise
„Phänomen". Bei Existenzphänomenen muß der Voll-
zugssinn herrschend bleiben über den Bezugssinn: stellt
die Psychologie ihre Gegenstände dem Bezugssinn nach
neben die Gegenstände der Physik und der Biologie, dann
wird durch diesen regionalontologischen Ansatz außer
acht gelassen, daß der Bezug zu einem Vollzug führen soll.
Ebenso mul die Dominanz des Vollzugssinns gegenüber
dem Gehaltssinn behauptet werden: wird - etwa durch das
Aufstellen eines Humanitätsideals - eine objektivierte
Bedeutsamkeit als entscheidende Sicht des Menschen in
Anschlag gebracht, dann hat sich in einem „Abfall" der
Existenz von ihrer ursprünglichen Selbsterfahrung ein
Gehalt vor den Vollzug geschoben (30ff., 34).
Heidegger sagt von der damaligen Philosophie, daß sie um
das „Leben" als „Urphänomen" zentriert sei, die Lebens-
philosophie jedoch auf das Existenzphänomen tendiere.
Die biologischen Grundkonzeptionen des Lebens (die im
Umkreis von Bergson und dann in der biologischen
Umweltlehre erwuchsen) sollen nicht verdrängt werden;
doch gibt Heidegger dem geisteswissenschaftlichen Inter-
esse an der Lebenswirklichkeit einen Vorrang (14f.). Die
Erfahrung des Lebens ist für ihn faktisch, nämlich hic et
nunc gelebt, in dieser geistesgeschichtlichen Situation zum
Vollzug gebracht; sie ist zugleich historisch, nur in immer
neuer Bekümmerung durchzuhalten. Das Wie der
Bekümmerung ist nicht objektgeschichtlich als Gehalt aus
der Vollzugsgeschichte abzulösen, sondern nur auf „her-
meneutische Begriffe" zu bringen. Lebensphänomene,

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ihrem Grundsinn nach historisch, sind auch nur historisch
zugänglich - was die Psychologie noch nicht bemerkt habe
(32, 38). Die methodische Grundschwierigkeit der
Lebens- und Existenzphilosophie wird in der gängigen
Rede „individuum est ineffabile" angezeigt: „Sofern das
Leben ein unendliches fließendes Ganzes ist, Begriffe aber
Formen sind, die das Leben stillstellen, wird es unmög-
lich, das Leben eigentlich zu fassen." (39) Diese spezifisch
Bergsonsche Argumentation leidet nach Heidegger jedoch
an einer doppelten Lähmung: einerseits nimmt sie Begriffe
als objektive Sachbegriffe, ja wie einen dinglichen Apparat
und stellt sich erst gar nicht den Problemen von Bedeu-
tung, Begriff und Sprache, andererseits läßt sie den
Grundsinn des Lebens unbestimmt. Statt sich mit diesem
„Ladenhüter" - der Entgegensetzung von Leben und
Begriff und der These von der Unausdrückbarkeit des
Lebens - eine tiefsinnige Geste zu geben, solle man dem
Leben in die angeblich unausdrückbaren Dimensionen
folgen und die dort liegenden Probleme bearbeiten (19).
Diltheys Anstrengung, über den vagen Begriff der Intui-
tion hinaus den Ausdruck des Lebens und das Verstehen
dieses Ausdrucks zu analysieren und Lebenskategorien zu
gewinnen, rückt deshalb in den Vordergrund. Heidegger
kritisiert jedoch, daß Dilthey das Verstehen als Verstehen
des gelebten und damit vorliegenden Lebens nimmt und
damit einer ästhetischen Außenbetrachtung sowie dem
objektiv bildhaften Aspekt verhaftet bleibt (40).
Eine Phänomenologie des Lebens soll sich von der Her-
meneutik des Lebens nicht mehr abdrängen lassen. Die
Phänomenologie war jedoch in ihrem „ersten Vorbre-
chen" (in Husserls „Logischen Untersuchungen") einsei-
tig an den Phänomenen theoretischen Erfahrens und
Erkennens orientiert; sie kann jetzt nicht dadurch vervoll-
ständigt werden, daß andere Erlebnisgebiete (die ästheti-

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schen, ethischen, religiösen) in analoger Weise erforscht
werden oder von irgendeiner philosophischen Tradition
her die Personalität eingeführt wird. Vielmehr muß die
Phänomenologie in der Problematik des Lebens als Exi-
stenz ihren „radikalsten Sinnursprung" finden, damit das
Historische als ursprünglich zugehörig zu dieser Proble-
matik sehen (35 f.). Konnte Heidegger für solche Gedan-
ken die Unterstützung Husserls gewinnen? Husserl
wollte, wie die Briefe an Ingarden und dessen Berichte
zeigen, in den Bernauer Arbeiten von 1917/1918 das
Problem der Zeit auf das Problem der Individuation
zuspitzen; er tolerierte selbst Heideggers Vorlesungsstun-
den über Briefe des Apostels Paulus. Freilich nahm er
Heideggers Bemühen als Religionsphänomenologie, wie
er ja auch „Sein und Zeit" zuerst noch als Regionalontolo-
gie auffaßte, in der die transzendentale Phänomenologie
wie in der Arbeit Beckers angewandt werde. Aber schon
in seinen frühen Freiburger Vorlesungen entnahm Hei-
degger dem Apostel Paulus (oder Augustin und Luther)
eine Erfahrung des historisch-faktischen Lebens, die
unabhängig von der theologischen Position in einer Radi-
kalisierung des phänomenologischen Ansatzes auf den
Begriff gebracht werden sollte. Heidegger mußte dann
lernen, daß Husserl sich dieser Umwandlung seines
Ansatzes versagte. Ist auch für Heidegger Sein Gegeben-
sein und in diesem Sinne Phänomen, so ist es doch nach
seiner Auffassung gerade die phänomenologische Reduk-
tion, durch die Husserl die Phänomenologie verläßt: sie
geht von dem Erfahren und Erkennen, das den Menschen
möglich ist, weg, um zum Bewußtsein als Gegenstand
einer absoluten Wissenschaft zu kommen. In diesem Sinne
sagt Heidegger in der Vorlesung über die Geschichte des
Zeitbegriffs von 1925: „Die Herausarbeitung des reinen
Bewußtseins als thematisches Feld der Phänomenologie

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ist nicht phänomenologisch gewonnen, d. h. im Rück-
gang auf die Sachen selbst, sondern im Rückgang auf eine
traditionelle Idee der Philosophie, und deshalb sind alle
bestimmten Charaktere, die als Seinsbestimmungen der
Erlebnisse auftreten, keine ursprünglichen. "s Wenn Hei-
degger dann für Husserl ein Stück des Encyclopaedia-
Britannica-Artikels über Phänomenologie entwirft, sucht
er Husserl auf eine Position zu treiben, die mit Parmenides
beginnt und das Erkennen als Anschauen faßt, deshalb auf
Evidenz und Apodiktizität ausrichtet. Husserl entfaltet
noch einmal ursprünglich den Ansatz der Tradition, von
der Heidegger sich absetzt; weil Husserl die bewußte
Absetzung ermöglicht, kann er der entscheidende Lehrer
sein.
Mit Jaspers teilt Heidegger die Tendenz, das Leben als
Existenz zu fassen. Die Psychologie der Weltanschauun-
gen will zwar nicht eine allgemeine Psychologie sein, doch
vor allem von den Grenzsituationen her die Seele als ein
Ganzes vor den Blick bringen, das sich antinomisch
entzweien kann. Heidegger sucht nun zu zeigen, daß
dieser Vorgriff auf das seelische Ganze sich von seiner
Sache abdrängen läßt: Jaspers spricht von der „Unendlich-
keit des Geistes", aber er hebt diese Vollzugsunendlich-
keit nicht genügend ab von der Endlosigkeit der Daten
eines „individuellen Seins", dem Nicht-ans-Ende-Kom-
men in der Auffassung der Zweckzusammenhänge des
Organischen, also nicht von einer Unendlichkeit, die in
einer „Außenbetrachtung" von anderem gewonnen wird
(17f.). Der intentionalen Bezugstendenz nach wird das
Leben der Seele „objektivierend" wie ein „Dingobjekt"
angesetzt oder „ästhetisch" als das Ganze einer „Idee"; die
objektivierend-ästhetische Grundhaltung schließt nicht

s Zu dieser Vorlesung, deren Edition vorbereitet wird, vgl. Biemel, 21.

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aus, daß der Gegenstand (seinem Gehaltssinn nach) z. B.
als Ethisches gesehen wird (18, 23f.). Heidegger sucht
den Affront, indem er einem Buch, das seinem Inhalt nach
nichts weniger als einen Asthetizismus vertritt, eine ästhe-
tische, nur betrachtende Grundhaltung vorhält. Offenbar
sieht Heidegger trotz aller Tendenz auf Existenz die
Dominanz des Vollzugssinns nicht gewahrt. Er hält Jas-
pers vor, dal bei aller Tendenz zum Aufmerksammachen
die „Höhe strengen Methodenbewußtseins" bei Kierke-
gaard nicht gewahrt sei. Gemeint ist offenbar das schwa-
che und moralisierende Referat über jene indirekte Mittei-
lung, die Heidegger zur existentialen Interpretation
umgestaltet hat: sie soll formal-anzeigend auf Existenz-
phänomene hinweisen, damit auf die Notwendigkeit der
Entscheidung aufmerksam machen, ohne schon die kon-
krete Entscheidung selber zu fällen (41, 10). Wenn Jaspers
in seinen Exzerpten und Notizen das reichhaltige Material
verschiedenster Zeiten und Kulturen über Einstellungen,
Weltbilder und das Leben des Geistes in Tendenzen und
Grenzsituationen auf Typen bringt, so ist diese Typologie
für Heidegger Beleg dafür, daß Jaspers in „einer verkapp-
ten ästhetischen Haltung verbleibt" und die Lebensfor-
men „ihrer eigentlichen historischen Verwurzelung
beraubt" (39). Die Berufung auf Max Weber sei ein
Mißverständnis: Weber habe von Rickert eine bestimmte
Wissenschaftstheorie gerade für sein Fach übernommen;
was aber für objektive wissenschaftliche Vorgänge und das
Handeln unter historischen Bedingungen gelte, könne
nicht einfach auf Weltanschauungen oder Existenzphäno-
mene übertragen werden. Ehe auch im philosophischen
Erkennen wissenschaftliche Betrachtung und weltan-
schauliche Wertung getrennt würden, müßte von diesem
Erkennen selbst her nach seiner möglichen „Objektivität"
gefragt werden (41). Überdies stelle der Vorgriff der

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„Psychologie der Weltanschauungen" einen zweifelhaften
Synkretismus faktisch-historischer Motive dar: von Kant
werde die Antinomienlehre und der Unendlichkeitsbe-
griff aufgenommen, von Kierkegaard ein Begriff des
Absoluten, der von seinen lutherisch-religiösen Implika-
tionen gereinigt sei; diese beiden Bestandstücke würden in
die „Verblasenheit" des lebensphilosophischen Lebensbe-
griffs versetzt (27).
Für Jaspers war die Kritik seines Freundes so fremd, daß
er sie nicht rezipieren konnte. Er glaubte sich mit Heideg-
ger eins in der Opposition gegen die „Professorenphiloso-
phie" und in der „Ergriffenheit von Kierkegaard", aber er
sah nicht, worauf Heidegger eigentlich hinauswollte. Hei-
deggers Bezug zu Husserl erschien ihm als bloße Heuche-
lei. Er sagte - nach seiner Autobiographie - zu Heidegger,
dieser zitiere Professoren, obwohl seine Probleme ganz
andere seien als deren Probleme; mit der Widmung seines
ersten Buches an Rickert und seines zweiten an Husserl
betone er einen Zusammenhang mit Menschen, von denen
er „mit Verachtung" gesprochen hätte. „Er gebe sich in
traditioneller Zugehörigkeit zu der Welt, gegen die wir
(Heidegger und Jaspers) uns gestellt hätten." Heideggers
Antwort war: „Sie sind statt dessen in ihrer faktischen
Philosophie traditionell. " Hatte Heidegger nicht recht? Er
selbst hielt den Zusammenhang mit der Tradition fest, so
daß er gerade für die Überwindung der Tradition einen
Lehrer brauchte, der die Tradition noch einmal als eigenen
Entwurt austührte. Jaspers betonte den existentiellen
Gegensatz zur Tradition, legte aber seiner Philosophie
traditionelle Ansätze zugrunde, die allenfalls modifiziert
oder durch Entgegensetzungen ergänzt wurden. „Ist das",
so fragte Jaspers gegenüber „Sein und Zeit", »eine Summe
von Einsichten in Sachverhalte oder Ausdruck eines
Impulses der Existenz?" Jaspers sah nicht, daß Heidegger

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gerade diesen Gegensatz: Einsichten in Sachverhalte -
Ausdruck von Existenzimpulsen oder Leben - Begriff,
überwinden wollte. Noch in der Entmythologisierungs-
debatte nach dem Zweiten Weltkrieg ist Jaspers unfähig,
das ernst zu nehmen, was „existenziale Interpretation"
sein soll. Sein Weg und der Weg Heideggers waren
endgültig auseinandergegangen, als er in der dreibändigen
„Philosophie" in einem kompromißlerischen Sichabfin-
den mit der Tradition Weltorientierung, Existenzerhel-
lung und Chiffrenlehre nebeneinanderstellte. ' In Heideg-
gers „Beiträgen zur Philosophie" heißt es denn auch, eine
bloße Zurückweisung der Ontologie ohne deren Über-
windung aus ihrem Ursprung leiste gar nichts, gefährde
höchstens jeden Willen zum Denken. Diese Zurückwei-
sung, z. B. bei Jaspers, nehme einen fragwürdigen Begriff
des Denkens zum Maßstab, sehe dann durch dieses Den-
ken das Sein nicht getroffen, sondern im Rahmen und
Gestänge des Begriffs eingezwängt. Die Unterscheidung

6 Vgl. Jaspers 1977, 94, 100, 99. - Jaspers hat bis zu seinem Tode
versucht, zu einer Auseinandersetzung mit Heidegger zu kommen, vgl.
Jaspers 1978. Die philosophischen Arbeiten Heideggers (die Rezension
der Psychologie der Weltanschauungen eingeschlossen) las Jaspers „mit
Unlust oder gar nicht*; Heidegger wurde für ihn bedeutsam im Rück-
blick „nach den Erfahrungen der Lebenspraxis" - der frühen Begegnung,
dem Verrat Heideggers im zeitweiligen Pakt mit dem Nationalsozialis-
mus, der überlegenen Wirkung Heideggers nach dem Zweiten Welt-
krieg, in der sich für Jaspers eine Macht* darstellte, die er vernichten zu
müssen meinte (Jaspers 1978, 229). In seinen Notizen gibt Jaspers auf
Grund einer fragmentarischen Lektüre gelegentlich eine treffende Kritik
an einzelnem; in einer Auseinandersetzung möchte er positiv für Heideg-
ger aus dessen Werken „einige der schönsten Stellen, der tiefen Gedan-
ken heraussuchen und abdrucken* (Jaspers 1978, 253). Den ph
schen Ansatz Heideggers und dessen Aporetik vermag Jaspers nicht zu
sehen, da er sich zu der simpelsten Voraussetzung eines solchen Verste-
hens und einer daran anschließenden Kritik - nämlich zu einer konzen-
trierten Lektüre der Hauptwerke - nicht aufraffen kann. Kann er sich
wirklich beschweren, daß Autoren wie Löwith Heideggers Denken ohne
gedanklichen Nachvollzug von dieser oder jener Emotion her zum Anlaß

139
von Inhalt und Form, die auf ihren Ursprung nicht
befragt, aber auch noch „kritisch" auf das Subjekt und
seine Erlebnisse übertragen werde, sei hinter dieser merk-
würdig flachen „Kritik" der „Ontologie" wirksam - „also
der Rickert-Lasksche Kantianismus - den Jaspers z. B.
trotz allem nie abgestoßen hat" (Nr. 131). In einem
anderen Textstück (Nr. 182) fügt Heidegger hinzu, das
anfängliche Denken müsse mit seinem Sagen außerhalb
des Unterschieds von Begriff und Chiffre stehen: „Der
Ausweg in die , Chiffren' ist nur die letzte Folge der nicht
überwundenen - sondern gerade vorausgesetzten -
‚Ontologie' und ,Logik'. "

II.
Wie rechtfertigt Heidegger selbst innerhalb der Neube-
stimmung des Phänomenbegriffs die „hermeneutischen
Begriffe" oder - wie es in „Sein und Zeit" heißt - den
Unterschied von Kategorien und Existentialien? Er tut es
in einer Lehre von der Schematisierung, in der sich die
Begrifflichkeit der Begriffe und die Phänomenalität der
Phänomene differenziert. Max Scheler hatte die bloße

eines „lesbaren Journalismus" machen (Jaspers 1978, 203)? Heidegger


möchte die Werke von Jaspers jeweils von der einen Grunderfahrung
(der Grenzsituation in der Psychologie der Weltanschauungen und der
Kommunikation in der Philosophie) ausgestaltet und von traditionellen
Schemata freigehalten sehen; Jaspers dagegen wittert in der Ausrichtung
auf ein Werk, das mit dem Anspruch des Neuen den „einen" Gedanken
ausformt, seinerseits einen trügerischen Ästhetizismus; das „Durchfra-
gen" führe nur zur Pseudodramatik und zur Illusion eines Scheinweges.
Hier distanziert Jaspers sich in einer überraschenden Form: „Ich habe
mich stets als bescheidener Professor gefühlt." (Jaspers 1978, 88, 208,
227) Zur Bescheidenheit eines Professors und schon eines Studenten
gehört aber doch wohl, daß man ein Werk, ehe man über es urteilt, erst
einmal wirklich zur Kenntnis nimmt.

140
von Inhalt und Form, die auf ihren Ursprung nicht
befragt, aber auch noch „kritisch" auf das Subjekt und
seine Erlebnisse übertragen werde, sei hinter dieser merk-
würdig flachen „Kritik" der „Ontologie" wirksam - „also
der Rickert-Lasksche Kantianismus - den Jaspers z. B.
trotz allem nie abgestoßen hat" (Nr. 131). In einem
anderen Textstück (Nr. 182) fügt Heidegger hinzu, das
anfängliche Denken müsse mit seinem Sagen außerhalb
des Unterschieds von Begriff und Chiffre stehen: „Der
Ausweg in die , Chiffren' ist nur die letzte Folge der nicht
überwundenen - sondern gerade vorausgesetzten -
‚Ontologie' und ,Logik'. "

II.
Wie rechtfertigt Heidegger selbst innerhalb der Neube-
stimmung des Phänomenbegriffs die „hermeneutischen
Begriffe" oder - wie es in „Sein und Zeit" heißt - den
Unterschied von Kategorien und Existentialien? Er tut es
in einer Lehre von der Schematisierung, in der sich die
Begrifflichkeit der Begriffe und die Phänomenalität der
Phänomene differenziert. Max Scheler hatte die bloße

eines „lesbaren Journalismus" machen (Jaspers 1978, 203)? Heidegger


möchte die Werke von Jaspers jeweils von der einen Grunderfahrung
(der Grenzsituation in der Psychologie der Weltanschauungen und der
Kommunikation in der Philosophie) ausgestaltet und von traditionellen
Schemata freigehalten sehen; Jaspers dagegen wittert in der Ausrichtung
auf ein Werk, das mit dem Anspruch des Neuen den „einen" Gedanken
ausformt, seinerseits einen trügerischen Ästhetizismus; das „Durchfra-
gen" führe nur zur Pseudodramatik und zur Illusion eines Scheinweges.
Hier distanziert Jaspers sich in einer überraschenden Form: „Ich habe
mich stets als bescheidener Professor gefühlt." (Jaspers 1978, 88, 208,
227) Zur Bescheidenheit eines Professors und schon eines Studenten
gehört aber doch wohl, daß man ein Werk, ehe man über es urteilt, erst
einmal wirklich zur Kenntnis nimmt.

140
Behauptung von Wesenserkenntnis durch die Lehre von
der Funktionalisierung dieser Erkenntnis in der Anwen-
dung zu überwinden versucht, auf den Schemabegriff der
biologischen Umweltlehre verwiesen, selbst den Begriff
des Schemas jedoch in einem viel weiteren Sinn für die
Schematisierung der Weltansicht des Menschen ge-
braucht: die neuzeitliche mechanistische Physik z. B.
folge einem Schema, das ein Apriori für die Erfahrung sei,
freilich nicht ein Apriori für den Menschen überhaupt,
sondern ein biologisch relatives Apriori für den Men-
schen, sofern er sich als homo faber verstehe. Gemä
Frage nach Sein und Zeit versteht Heidegger das Schema
der neuzeitlichen Physik temporal; für dieses Verstehen
entwickelt er eine differenzierte Schemata-Lehre. Dabei
knüpft er an das Schematismuskapitel der „Kritik der
reinen Vernunft" an. Für Kant ist das Schema zur Schema-
tisierung reiner Begriffe - gemäß dem Vorrang der Zeit vor
dem Raum - eine Zeitbestimmung nach Regeln, die der
Subsumtion von Anschauungen unter Begriffe voraus-

' Nach Max Scheler wird z. B. der Sinn des Satzes „Gott ist Geist" durch
die Anwendung in verschiedenen geschichtlichen Konstellationen erst
erschlossen. Scheler kennt nicht nur ein formales, sondern auch ein
materiales Apriori; das Apriori ist als Erkenntnis des Soseins in der

Wesensaal gegeben: E et lentes ache Cadar d


so ergibt sich ein echtes Wachstum und ein mögliches Abnehmen von
Wahrheit, also Geschichtlichkeit. Vgl. Scheler 1954, 195-210; über das
Schema der neuzeitlichen Physik vgl. Scheler 1977, 89ff. - Scheler stellt
phänomenologisches Wissen nicht nur (wie Husserl) in einen transzen-
dentalen Zusammenhang und nicht nur (wie Heidegger) in die
Geschichte als Seinsgeschichte; er fragt auch konkret nach der Stellung
des Menschen, der Wissen gewinnt, im Kosmos sowie nach dem
Beziehungsgeflecht zwischen Arbeit und Erkenntnis. Nur vorüberge-
hend hat Heidegger diese neue Dimension phänomenologischer Philoso-
phie (die beim späten Scheler allerdings in den Bann der Spekulation
gerät) aufgenommen; vgl. den sporadischen und leider folgenlosen
Gedanken einer „Metontologie": Heidegger 1978, 199ff.

141
geht. Das Schema der geordneten Zeitfolge präludiert
z. B. der Anwendung des Kausalbegriffs (ich stoße das
Papier an und es fällt vom Pult; die geordnete Zeitfolge -
zuerst Anstoßen, dann Fallen - führt hin zum Ursache-
Wirkungs-Verhältnis). Heidegger behauptet nun,
Begriffe und Urteile entsprängen erst dem Schema; das
Schema werde von der Einbildungskraft - der Wurzel von
Sinnlichkeit und Verstand - der Zeitigung der Zeit ent-
nommen. Diese Behauptung ist für Kant unrichtig, aber
kennzeichnend für Heideggers eigene Absicht.
Im Umkreis von „Sein und Zeit" verwurzelt Heidegger
die Intentionalität in der Transzendenz. Die intentio
nimmt das intentum nach einem bestimmten Auffassungs-
sinn; sie hat einen „Richtungssinn" (so sagt Heidegger in
den „Grundproblemen der Phänomenologie" statt
„Bezugssinn"). Dem Richtungssinn gemäß zeigt Seiendes
sich in einem unterschiedlichen Sein. Die Leibniz-Vorle-
sung sagt sogar, Intentionalität sei bloß „ontisch", Bezie-
hung des Subjekts auf ein Objekt; sie werde ermöglicht
durch Transzendenz, die innerhalb des Seienden so im
Dasein aufbreche, daß sie immer schon „draußen" sei, die
Subjekt-Objekt-Problematik der cartesischen Tradition
sich erst gar nicht stelle.® Die Intention kann einen unter-
schiedlichen Richtungssinn haben, weil die Transzen-

* Husserl hat die Verwurzelung der Intentionalität in der Transzendenz


abgelehnt, wie Heidegger selber berichtet: Heidegger 1978 (vgl.
Anm. 7), 214; dort auch S. 269 der Ausdruck „Ekstema"'. Fordert
Heidegger zu Recht von Husserl, den Seinssinn des transzendentalen Ich
zu bestimmen und diesem dabei „Endlichkeit" zuzusprechen, so bleibt
doch gegenüber Heidegger die Forderung, nach der Zurückweisung der
cartesischen Subjekt-Objekt-Problematik und der phänomenologischen
Reduktion Wahrheit auch als Richtigkeit und Schlüssigkeit theoretischen
Vorstellens zu fassen und nicht Wahrheit als existierende Transzendenz
(oder später als Ereignis) allein in den Vordergrund zu rücken. - Der
späte Husserl bleibt hier außer Betracht. Wenn er die Lebenswelt

142
denz, die erst Tension und Intention ermöglicht, in
unterschiedlicher Weise ekstatisch in einen Horizont hin-
aussteht. „Horizont" soll nicht primär vom Blicken her als
Umkreis des Blickfeldes gefaßt sein, sondern formal als
Umschluß für Umschlossenes und Eingegrenztes. Wie
Systema neben Systasis steht, so stellt Heidegger den
Horizont als Ekstema neben Ekstasis. Der Horizont der
Transzendenz ist ein transzendentaler, weil sich in ihm als
einem Gefüge von Horizonten das Sein als transcendens
differenziert. In die Horizonte kann man hineinkommen
oder nicht hineinkommen; der eine hat einen weiteren, der
andere einen engeren, jedenfalls einen anderen Horizont,
und manchem geht einiges - etwa die reine Wissenschaft
oder das Existentielle - über den Horizont. Der Horizont
ist aber nicht etwas, das man willkürlich entwerten
könnte. Das seinsverstehende Dasein ist, wie „Sein und
Zeit" darlegt, als entwerfendes geworfen; erst Geworfen-
heit und Entwurf zusammen eröffnen in ihrer Artikula-
tion Horizonte. Die Pointe von „Sein und Zeit" ist nun,
daß diese Grundstruktur (Geworfenheit, Entwurf, Arti-
kulation oder Rede) auf die drei Ekstasen der Zeit (Gewe-
senheit, Zukunft, Gegenwart) zu beziehen sei. Entspre-
chend ist die Zeit der transzendentale Horizont; sie ist
aber in unterschiedlicher Weise in ihre Ekstasen entrückt.
Das horizonteröffnende Wohin dieser unterschiedlichen

analysiert, dann kann er deren teleologische Lebendigkeit dem Objekti-


vismus neuzeitlicher Wissenschaft vorhalten; die Frage bleibt aber, ob
nicht das transzendental gegründete, dem erstarrten Objektivismus
entnommene Wissen oder dessen Welt vollendeter Durchsichtigkeit als
Telos der Lebenswelt genommen wird. Nach der heideggerianisierenden
Vereinnahmung des späten Husserl ist es an der Zeit, die Cartesianischen
Meditationen, die späten Zeitmanuskripte, die Krisis-Schrift als Husserls
Gegenentwürfe gegen „Sein und Zeit", gegen Heideggers Temporalitäts-
problematik und gegen Heideggers Vermittlung von Erkenntnis und
Leben bzw. Erkenntnis und Geschichte zu interpretieren.

143
Entrückung wird von Heidegger als ekstatisch-horizonta-
les Schema angesprochen. Das unterschiedliche Zusam-
menspiel der Schemata gliedert den transzendentalen
Horizont in unterschiedliche Horizonte (die Welt in
Weltsphären, von denen die Umwelt z. B. eine ist). In
diesen unterschiedlichen Horizonten oder Weltsphären
ist das Sein schematisiert zu unterschiedlichen Seinswei-
sen. Die Vorlesung über „Grundprobleme der Phänome-
nologie" wirft der Phänomenologie vor, das Problem des
Auffassungs- oder Richtungssinns und damit die genannte
Gliederung nicht durchgehalten zu haben. Die philoso-
phische Tradition überhaupt habe das Sein einseitig vom
Herstellen aus dem Vorblick auf das Eidos verstanden, zu
dem als dem ,Was' das ,Daß' als zufällige Realisierung
hinzukomme oder nicht hinzukomme. „Sein und Zeit"
versucht wenigstens für drei exemplarische Bereiche zu
zeigen, wie Sein sich in seinem Sinn, schematisiert durch
Zeit, zu unterschiedlichen Bedeutungen (Vorhandensein,
Zuhandensein, existentiales Sein) aufgliedert und vom
Dasein unterschiedliche Grundhaltungen verlangt.
Ohne weitere Diskussion möchte ich die Lehre von den
Zeitekstasen und ihren Schemata kurz in simplifizierter
Form in Erinnerung rufen. Die Zeitigung von Zeit ist
modifikabel: uneigentliche Innerzeitigkeit als selbstver-
gessenes Sichvorfinden in der Zeit und Geschichtlichkeit
als eigentliche Zeitigung, als eine Ekstasis, die gerade nicht
aus der Zeit heraus, sondern in diese hineinfindet. Die
eigentliche Zeitigung ist der Zukunftsekstase nach ein
Vorlaufen in Möglichkeiten; das Vorlaufen entnimmt als
Seinkönnen oder Verstehen seine Möglichkeiten als endli-
che einer letzten Unmöglichkeit: es ist Vorlaufen zum
Tode, in dem man keine Zeit und damit auch keine
Möglichkeiten mehr hat. Die Gewesenheit ist als eigentli-
che übernommen in der Wiederholung; Vorlaufen und

144
Wiederholung treten zusammen zum Augenblicklichsein-
für-seine-Zeit. Die entsprechenden drei Ekstasen der
uneigentlichen Innerzeitigkeit sind: das Gewärtigen von
dem, was wenigstens als Ziel gegeben ist, das Vergessen
des Wiederholens und Behalten des Gewesenen als des
Selbstverständlichen, das Gegenwärtigen des Bedeutsa-
men der Umwelt oder des entweltlichten Vorhandenen.
Diesen zwei mal drei Ekstasen entsprechen die Schemata,
wobei jeweils aus dem formal angezeigten Schema, das
zugleich auf das Schema der eigentlichen Zeitigung ver-
weist, das Schema uneigentlicher Zeitigung entspringt.
Dasein existiert umwillen seiner; das Umwillen ist das
ekstatisch-horizontale Schema der Zukunft. Vom Umwil-
len her kann man ein Wozu verstehen und auf die Frage:
Wozu? antworten: Dazu! Dann kommt das, was ist, im
Wobei einer Bewandtnis an. Wozu/Dazu und Wobei sind
die Schemata uneigentlicher Zukunft. Das Schema der
Gewesenheit ist das Wovor, vor das sich das Dasein
bringt, oder das Woran, an das die Gewortenheit überlas-
sen ist. Diesem Wovor oder Woran entspringt ein Womit
der Bewandtnis. Das Schema der Gegenwart ist das Um-
zu: die Existenz kann sich im Augenblick in ihrem Um-zu
halten; diesem Um-zu kann aber auch das Als entsprin-
gen, in dem innerzeitig etwas als etwas genommen wird.'
Die Schemata akzentuieren bestimmte Sphären in der
Welt, zu der hin Transzendenz transzendiert; wie aber
dienen sie dazu, die Seinsweisen zu unterscheiden, in
denen das, was ist, begegnet? Wie läßt sich mit Hilfe dieser
Schemata der begriffliche oder auch nichtbegriffliche
Zugang zu Seiendem schematisieren? Wenn z. B. der

* Vgl. Heidegger 1927, 365, 353, 149ff. - Die Logik-Vorlesung von 1925/
1926 entwickelt schon den Unterschied des hermeneutischen und apo-
phantischen Als. Zum Problem der Schemata vgl. auch den Schluß der
Vorlesung von 1927: Heidegger 1975.

145
Handwerker selbstvergessen arbeitet, zeigt sich ihm das,
was in der Werkstatt begegnet, im Durchblick durch die
Schemata der uneigentlichen Zeitigung oder Innerzeitig-
keit. Bei der Arbeit geht es nicht um das Vorlaufen zum
Tod, das erst endliche Möglichkeiten und so ein Umwillen
freigibt; leitend ist vielmehr das Gewärtigen eines Ziels,
das als feststehendes genommen ist. Dem vergessenen
oder schlafenden Umwillen ist ein Wozu-Dazu entsprun-
gen, und aus dem längst entschiedenen Wozu-Dazu
kommt alles in der Werkstatt im Wobei einer Bewandtnis
an. Gewesenheit ist nur im Womit der Bewandtnis festge-
macht: eine selbstverständlich gewordene Arbeitsord-
nung regelt, womit alles sein Bewenden hat. Womit und
Wobei treten zusammen zur Artikulation des Als, dem
gemäß alles als Zuhandenes genommen wird: der Hammer
ist zum Hämmern da, das Leder zum Gehämmertwerden
usf. Der Handwerker selbst ist zuhanden: man kann mit
seiner Arbeitskraft rechnen, auch Vertretungen regeln,
Versicherungen schließen. Was bei der Arbeit überhaupt
begegnen kann, soll zuhanden und nicht abhanden, also
gegenwärtig sein; in der Bedeutung des Zuhandenseins
herrscht der präsenziale Sinn vor. Ja, die Modifikation der
eigentlichen Zeit zur uneigentlichen scheint auf einem
Sichvordrängen von Gegenwart zu beruhen. Immerhin
spielt beim Zuhandensein das Gewärtigen von Zielen und
damit die uneigentliche Zukunftsekstase eine entschei-
dende Rolle. Diese Rolle kann eliminiert, der präsenziale
Sinn von Sein weiter modifiziert werden. Als Objekt
wissenschaftlicher Untersuchung ist der Hammer nicht
mehr zuhanden, sondern nur noch vorhanden. Heidegger
sagt: das hermeneutische Als, das etwas in einem
Bewandtniszusammenhang als Zuhandenes erschließt, ist
umgeschlagen in ein bloß apophantisches Als, das für ein
reines Sehen etwas als Vorhandenes aufzeigt.

146
Heidegger entwickelt die Unterscheidung zwischen dem
hermeneutischen und dem apophantischen Als im
Anschluß an die Hermeneutik des Aristoteles und im
Gegenzug gegen sie, und er benutzt diese Unterschei-
dung, um die Phänomenologie in einem ersten Schritt als
hermeneutische zu bestimmen. Aristoteles führt Satzarten
wie die Bitte nur an, um von ihnen die Aussage mit ihrer
Apophansis abzuheben als das, was wahr oder falsch sein
kann und deshalb für philosophische Erkenntnis zählt.
Heidegger dagegen fragt, welche unterschiedlichen Funk-
tionen Wunsch, Bitte, Befehl, Frage und auch Aussage in
jenen Situationen haben, in denen die Menschen sich
Dinge, andere Menschen und sich selbst begegnen lassen.
Für ihn ist die Erschlossenheit eines Bewandtniszusam-
menhangs, wie ihn etwa eine Werkstatt zeigt, in der
Welterfahrung des Menschen primär, die Apophansis
abgeleitet und mit ihrer entweltlichenden Nivellierung der
Erschlossenheit einer Umwelt ein Grenzfall. Es kann kein
Zweifel sein, daß Heidegger überdies die Hermeneutik
nicht nur von der Erschließung einer Umwelt her sieht,
sondern auch und gerade von der Hermeneutik der theo-
logischen Tradition her: das Wort einer heiligen Schrift,
das in eine Situation eingreift und diese verwandelt, das in
der Geschichte bewahrt, immer neu und anders ausgelegt
und appliziert wird, kann als Modell eines hermeneuti-
schen Prozesses dienen. Doch was hat solche Hermeneu-
tik mit Philosophie zu tun? Man mag zugeben, daß sie für
das Leben unabdingbar ist, aber vom Leben ist das
Erkennen, zumal das wissenschaftliche, zu unterscheiden.
Kann Hermeneutik auch wissenschaftlich oder philoso-
phisch von Belang sein, kann hermeneutische Phänome-
nologie etwa gar „ Wissenschaft vom Sein" sein?
Am Beispiel der klassischen Physik zeigt Heidegger, daß
eine Wissenschaft sich durch Thematisierung konstituiert.

147
Die Thematisierung gibt durch die Umgrenzung eines
Sachgebietes und die Vorzeichnung der angemessenen
Begrifflichkeit das thematisierte Seiende als Objekt des
Entdeckens frei und ist so Objektivierung. Die Objektivi-
tät der Historie gründet jedoch darin, dal das Dasein
(subjektiv) Gewesenes wiederholt. Muß das Thematisie-
ren als Objektivieren von seiner Seite aus nicht die offenen
Möglichkeiten der Wiederholung vergessend-behaltend
umfälschen zum gegebenen Bestand? Heidegger löst diese
Aporie, indem er die Hermeneutik als eine formal-anzei-
gende bestimmt, die in unterschiedlicher Weise Direktion
oder bloß mitanleitende Korrektion sein kann. Herme-
neutik ist Direktion, wenn „etwa physikalische Grundbe-
griffe durch eine Ontologie der Natur ihre ursprüngliche
Begründung" erhalten (was hier nicht zu diskutieren ist);
Hermeneutik ist mitanleitende Korrektion, wenn sie for-
mal-anzeigend in existentiale Strukturen einweist, die
existentielle Entscheidung aber zurückhält, jedoch das
konkrete Existieren, das seine eigentliche Anleitung nicht
der Philosophie entnimmt, in der Weise korrigiert, daß sie
es auf das existential Mögliche verweist. 1º So wird z. B.
eine existentiale Interpretation in einer wissenschaftlichen
Theologie möglich: die Philosophie kann nicht mittels
einer spekulativen oder natürlichen Theologie dem positi-
ven Glauben Inhalte vorgeben, z. B. nicht sagen, daß es
Offenbarung oder Sünde gebe; sie kann aber zeigen, daß
auch das Offenbarungs- und Sündenbewußtsein, das sei-
nen Ursprung im Glauben hat, mitermöglicht wird durch
existentiale Strukturen wie Sinnoffenheit und Sichver-
schulden. Philosophie kann aber mit dem Hinweis auf das
existential Mögliche die theologische Auslegung maßgeb-

1o Vgl. Heidegger 1970. Vgl. ferner die Einleitung zu dem von mir
herausgegebenen Sammelband (Pöggeler 1972).

148
licher Texte zur Sachkritik an bestimmten Aussagen ver-
anlassen. Existentialien oder Existenzphänomene unter-
scheiden sich von den Kategorien dadurch, daß der Hori-
zont, in dem sie stehen, nicht durch ein apophantisches
Als eröffnet wird, auch nicht nur durch ein hermeneutisches
Als, sondern durch jenes Um-zu, in dem Existierendes auf
sein Existieren-müssen verwiesen wird. Die kategoriale
Anschauung - sofern von ihr noch gesprochen werden darf-
erfüllt sich hier nicht selbstzufrieden in einer theoretischen
Evidenz, sondern weist über sich hinaus: sie weist ein in eine
Entscheidung, die sie jedoch in der Schwebe und vom bloß
existentialen und noch nicht existentiellen Verstehen fern-
hält. Hatte Heidegger früher selbst gegen Dilthey und
Jaspers den Vorwurf einer „ästhetischen" Grundhaltung
gerichtet und auf der Dominanz des Vollzugssinns bestan-
den, so sagt er nun: „Im Unterschied von Wahrheit über
Vorhandenes ist Wahrheit über Existierendes Wahrheit für
Existierendes. Diese Wahrheit besteht nur im Wahr-sein
qua Existieren. Und dementsprechend ist auch das Fragen
zu fassen: nicht als Nachtragen-über, sondern als Fragen-
für, worin schon gefragt wird, wie es mit dem Fragenden
bestellt ist. «11
Heidegger ist an der Ausarbeitung des dritten Abschnittes
von „Sein und Zeit", der die Zeit als den transzendentalen
Horizont, also die Schematisierung und die Differenzie-
rung des Phänomenbegriffs bringen sollte, gescheitert.
Man kann jedoch die angedeuteten Linien der Schemata-
Lehre ausziehen, es überhaupt für bedenklich ansehen,
nicht nur vom Umgang mit Zuhandenem zu sprechen,
sondern diesen Umgang auch noch in einem Zuhanden-
sein zu „gründen". Wie man aber dann, wenn man die
Doppelung von noematischer und noetischer Phänome-

" Heidegger 1978, 239. Vgl. ferner Heidegger 1927, 220f.

149
nologie kritisiert, das Problem der genetischen Phänome-
nologie zurückbehält, so bleibt im Ansatz von „Sein und
Zeit" das Verhältnis von Konstruktion und Destruktion
oder Systematik und Geschichte problematisch. „Sein und
Zeit" steckt in einem hermeneutischen Zirkel, insofern
gleich in der Einleitung alle Ontologiebildung für
geschichtlich erklärt wird; dieser Zirkel konnte nicht
konsequent ausgeschritten werden, weil die Zeit mit ihren
Schemata einmal als (ungeschichtliches) Prinzip und Prin-
zipiengefüge gefaßt wird, dann aber auch (in der Ontolo-
giegeschichte) das Medium sein soll, in dem sich dieses
Gefüge erst bildet. Bleibt nicht überhaupt die Rede von
der Zeit eine Metapher, nämlich die Übertragung von
Zügen, die an bestimmten Phänomenen gewonnen wurde,
auf einen Ursprung von Phänomenalität oder unterschied-
lichen Seinsbedeutungen überhaupt? Die fragwürdige
Konzeption einer Analogie des Seins, der Ausrichtung
aller Bedeutungen auf eine leitende Bedeutung und umge-
kehrt der Genealogie und Derivation der Bedeutungen,
verdeckt die hier liegenden Fragen. Heidegger wirft Kant
vor, dieser habe die Zeitcharaktere für die Schematisie-
rung »nicht so sehr durch eine Analyse der Zeit selbst aus
dieser systematisch entwickelt", als vielmehr durch eine
mitgebrachte kategoriale Systematik und damit gemäß
einer bestimmten Tradition oder bloßen Korrektur dieser
Tradition festgelegt. 12 Das ist offensichtlich bei Heidegger
nicht anders: ein Schema wie das „Umwillen" trägt die
Herkunft einerseits von Platons Agathon, andererseits
von Kierkegaards Existenzverständnis an der Stirn. Die

12 Vgl. Heidegger 1951, 99f. - Zu den Aporien von Sein und Zeit vgl.
Pöggeler 1972/1974. - Zur Kritik des metaphorischen Zeitbegriffs vgl.
meinen Vortrag „Temporal Interpretation and Hermeneutic Philoso-
phy* in den Akten des New Yorker Kongresses von 1977 der Society for
Phenomenology and Existential Philosophy (in Vorbereitung).

150
Frage bleibt, wie Zeit, wenn sie sich zeitigt und selber
zeitlich aufbaut, überhaupt „systematisch" zu analysieren
ist.

III.
Man teilt Heideggers Denken immer noch ein in ein
Denken vor der Kehre und ein Denken nach der Kehre;
Heidegger selbst hat von drei Phasen seines Denkwegs
gesprochen. Die erste Phase, die Heidegger zählt, ist
bezogen auf die Frage nach Sein und Zeit oder dem Sinn
von Sein; davon haben wir gerade gesprochen. Die zweite
Phase fragt nach der Wahrheit als Geschichte oder nach
der Seinsgeschichte. Man muß, meine ich, Heidegger
zugestehen, daß er sich in dieser Phase Fragen stellt, die in
"Sein und Zeit" verdeckt blieben. Der Sinn von Sein
differenziert sich in der Schematisierung zu unterschiedli-
chen Bedeutungen, z. B. zur Gegebenheitsweise des
Zuhandenseins. Die Herausstellung dieses Phänomens
aber ist durch die Geschichte weitgehend vorgegeben: der
Mensch der Vorgeschichte kennt kein Handwerk in unse-
rem Sinn, die technische Zivilisation nicht mehr die
Schuster- und Schreinerwerkstätten unserer Kindheit;
kann man deshalb vom Zuhandensein her überhaupt die
Umwelt als die „natürliche" Welt des Menschen anzeigen?
Man müßte zum mindesten differenzieren, welche gleich-
förmigen Strukturen in der Welt der sogenannten Primiti-
ven ebenso auftreten wie in der Welt der Handwerker und
in der Welt der Autos, die für „Sein und Zeit" noch
Richtungszeiger und keine Blinker haben. Das Sichdurch-
setzen einer Gegebenheitsweise ist geschichtlich aber auch
in dem Sinn, daß die eine Seinsweise die andere verstellt
und verdrängt und so in die Geschichte der Wahrheit

151
gehört, die von Heidegger in der zweiten Phase deshalb als
Unverborgenheit gedacht wird, als Entbergen und Ver-
bergen zugleich. Orientiere ich mich mit den Griechen an
einfachen, unzerlegten Bewegungsphänomenen, dann hat
der Satz etwas für sich, daß die Kraft gleich Masse mal
Geschwindigkeit sei: je schneller man läuft und je schwe-
rer man ist, desto mehr Kraft braucht man. Wage ich
dagegen das analytische Experiment, zerlege ich die
Kräfte, die auf einen Körper wirken, dann kann ich
schließlich zu dem Axiom kommen: Kraft gleich Masse
mal Beschleunigung. Ich kann dann auch z. B. einen
Satelliten auf seiner Bahn halten; die anschauliche Welt der
Griechen, eine Voraussetzung auch ihrer Kunst, ist dann
freilich dahin. Es wäre aber unrichtig, die antike Auffas-
sung mittels eines äquivoken Begriffsgebrauchs als ein
Axiom parallel zu dem neuzeitlichen Axiom zu formulie-
ren und dann als falsch zu erklären. Der Wechsel in der
Auffassung der Dinge, der Übergang vom einen Phäno-
men zum anderen, ist die Seinsgeschichte; deren Erörte-
rung zeigt, daß die Physik des Aristoteles und die Physik
von Galilei und Newton nicht unmittelbar miteinander zu
vergleichen sind, sondern jeweils geschichtlich ihre
"Wahrheit" haben. 13
Doch was heißt hier „geschichtlich"? In der dritten Phase
seines Denkens, dem eigentlichen Spätwerk, hat Heideg-
ger darauf hingewiesen, daß man die Wahrheit des Seins
nicht im strengen Sinn als Geschichte ansprechen könne,
weil das Wort „Geschichte" üblicherweise ja nur einen der
Seinsbereiche nennt, z. B. Geschichte unterscheidet von
13 Vgl. Heidegger 1962. Die dort vorgetragenen Thesen hat Oskar
Becker (treilich ohne Bezug auf diese Vorlesung) korrigiert: das „mathe-
matische* Ding gibt es schon in der hellenistischen Astronomie (nicht
erst in der Neuzeit); der entscheidende Unterschied der neuzeitlichen
gegenüber der antiken Physik ist freilich nicht das Experiment über-
haupt, aber das analytische Experiment: Becker 1969, 17ff.

152
der Natur und vom sogenannten idealen Sein. Der sich
differenzierende Sinn von Sein oder die Wahrheit des Seins
ermöglichen u. a. auch Geschichte (sie ermöglichen als
Entbergen auf dem Grund eines Sichzurückhaltens und
Verbergens Epochalität und Individuation); die Wahrheit
des Seins kann aber vom Abgeleiteten her nicht selbst als
Geschichte, nämlich als Seinsgeschichte, angesprochen
werden. Wenn Wahrheit normalerweise von der Richtig-
keit theoretischer Vorstellung her gedacht wird, dann
sollte die sogenannte Wahrheit des Seins überhaupt nicht
mehr vom angeblich Normalen her in einer Erweiterung
als „Wahrheit" angesprochen werden. Heidegger spricht
deshalb von der Lichtung als der Lichtung für das Sichver-
bergen.'* Er nennt diese Lichtung auch den Ort, in dem

1 Zu den drei Phasen von Heideggers Denkweg vgl. Pöggeler 1973, in:
The Southwestern Journal of Philosophy. Heideggers Denken wird
immer wieder als Radikalisierung des Hegelschen Geschichtsdenkens
genommen; in seiner letzten Phase scheint mir Heidegger aber gerade
den Leitfaden der Geschichte für die Bestimmung des transzendentalen
Bereichs zu verabschieden; vgl. dazu auch Pöggeler 1973, 356 ff. - Da der
vorliegende Vortrag (gehalten 1978 auf der Tagung der Deutschen
Gesellschaft für Phänomenologische Forschung in München) Heideg-
gers Neubestimmung des Phänomenbegriffs auf die Auseinandersetzung
mit Husserl konzentriert, verkürzt er Heideggers Denken: das Spezifi-
sche der zweiten und der dritten Phase kommt nicht genügend zur
Geltung. Heidegger kommt zu seiner Kehre, wenn er die Einheit der drei
Zeitekstasen als viertes oder vielmehr erstes Moment zu tassen versucht;
er findet, die temporale Interpretation auf der Basis der Zeitanalyse
beiseite lassend, das Einheitliche der Ekstatik im Wahrheitswesen.
Werner Marx hat eindringlich auf die Gefahren eines Begriffs von
Wahrheit aufmerksam gemacht, der Wahrheit als Entbergen und Verber-
gen und so als ein Geschehen nimmt, für dessen Unfaßbarkeit keine
„Verantwortung" übernommen werden kann: Marx 1961. Heidegger
findet das Hermeneutische der hermeneutischen Phänomenologie
schließlich durch die Erörterung der Sprachlichkeit des Denkens; wenn
er die Sprache als die Sage und so als die „Zeige" denkt, ergibt sich schon
vom Wort „Zeigen* her der Bezug zum Phänomenbegriff. Vgl. dazu vor
allem den Vortrag „Der Weg zur Sprache* in Heidegger 1959 sowie Marx
1970, 78ff.

153
ein Weg - wie in der Wendung „vor Ort" angezeigt - sich
sammelt. Phänomene differenzieren oder das Sein sche-
matisieren, das meint nun: Sein als Phänomen auf diesen
Ort beziehen. Die hermeneutische Phänomenologie wird
so zu einem Erörtern. Immer noch wird das Erläutern, das
etwas als etwas sehen läßt, dem Erklären entgegengestellt,
das z.B. die logischen Phänomene kurzschlüssig auf
Gegebenheiten der Psyche zurückführt; auch das Verste-
hen kann als Erklären mißverstanden werden, nämlich als
historische Rückführung der Phänomene auf die
geschichtliche Seele, auf Epochen, Rassen, Klassen. Das
Erörtern verzichtet freilich darauf, die Seinsweisen analo-
gisch durch die Ausrichtung auf eine leitende Seinsweise in
eine abgeschlossene „Genealogie" des Seins zu stellen.
Man kann ihm auch nicht die „regulative Idee" entgegen-
halten, wenn dabei die endlich-geschichtliche Weise, in
der uns Wahrheit zugänglich wird, zugunsten eines vollen
Besitzes der Wahrheit, der uns freilich vorenthalten sein
soll, diskreditiert wird. Umgekehrt sieht eine bloße
Historisierung der großen Schematisierungen nicht, daß
im geschichtlichen Rahmen doch Wahrheit erkannt und
auch ausgewiesen werden kann - sowohl in der antiken
Orientierung an unzerlegten Bewegungsphänomenen wie
in der anders ansetzenden neuzeitlichen Physik. 15
Erörtern heißt für Heidegger, Phänomene auf einen Ort,
die Lichtung für das Sichverbergen, als auf einen letzten
Ursprung beziehen. Die Phänomenologie, die sich durch

15 Auf Grund mündlicher Hinweise Heideggers habe ich am Schluß


meines Buches über Heideggers Denkweg Heideggers Weg zur Sprache
auf die Unterscheidung zwischen Erklären, Erläutern und Erörtern und
damit auf eine „Topologie des Seins" bezogen. Heidegger selbst verwen-
det diese Titel z. B. in dem Aufsatz „Kants These über das Sein* und den
Marginalien dazu. - Heideggers Bestimmung des Logos des Denkens im
Anschluß an Heraklit scheint mir an dem, was geschichtlich wirklich war
und historisch auszumachen ist, vorbeizuführen, zudem der systemati-

154
keine Konstruktion von den einzelnen Phänomenen hatte
abbringen lassen wollen, tendierte im ganzen in der Not
der Zeit zu radikalen Positionen - es sei an Schelers
quasimetaphysische Spekulationen erinnert oder an die
Wendung zur mittelalterlichen Metaphysik; Husserl, in
den dreißiger Jahren zum „philosophischen Eremiten"
geworden, sah dennoch - so in den Briefen an Ingarden -
das „gelobte Land" der künftigen Philosophengeneratio-
nen vor sich, erwartete von der Phänomenologie „eine
Wende der gesamten Philosophie der Jahrtausende", ja
eine „Selbsterlösung" der Menschheit. Heidegger sah in
ganz anderer Weise die Wende angesagt von den griechi-
schen Tragikern und von Hölderlin; nach dem Kriege
übersetzte er Laotse. Davon braucht hier nicht die Rede
zu sein; doch muß gefragt werden, ob Heidegger zweitau-
send Jahre Philosophie, von der er sich in einem anderen
Anfang zu lösen sucht, nicht einseitig von der verlassenen
eidetisch-transzendentalen Phänomenologie her sieht - als
„Platonismus", der von Anfang an das, was ist, auf ein
Eidos hin stellt, um es sicherzustellen und schließlich auch
technisch in den Griff zu bekommen. Seit Platon, so heißt
es in den „Beiträgen" (Nr. 119), sei nie nach der Wahrheit
der Seinsauslegung gefragt worden - „es wurde nur die
Vorstellungsrichtigkeit und deren Ausweisung durch
Anschauung vom Vorstellen des Seienden auf das Vorstel-
len des , Wesens' zurückübertragen; zuletzt in der vor-
hermeneutischen , Phänomenologie'".

schen Rückwendung zu den Problemen der einzelnen Regionen keinen


Raum zu geben; die Vorträge des Bandes Unterwegs zur Sprache bleiben
ohne Bezug zu dem, was es in den letzten Jahrzehnten an semiotischen
und sprachphilosophischen Bemühungen gegeben hat. Deshalb habe ich
selbst die Erörterung von einer anderen Tradition her - der Topik, wie sie
z. B. von Vico vertreten wurde - zu fassen versucht. Vgl. Pöggeler 1970/
1974.

155
Heidegger will in seiner Neubestimmung des Phänomen-
begriffs nicht eine Seinsweise gegen eine andere oder etwa
das Praktische gegen das Theoretische ausspielen; er will
vielmehr nach dem Ursprung aller Seinsweisen und Phä-
nomene fragen. Dabei berücksichtigt er freilich bestimmte
Phänomene und Haltungen, andere aber nicht, so daß
auch die Rückfrage nach einem Ursprung - sofern über-
haupt ein einheitlicher „Ursprung" oder eine „gemein-
same Wurzel" angesetzt werden darf - von dieser Einsei-
tigkeit berührt werden muß. Die These, die Anschauung
werde traditionell verdoppelt zur sinnlichen und katego-
rialen oder zu Aisthesis und Theorein (und vielleicht noch
einem ästhetischen Verhalten zum Schönen), führt zwar
zur Aristotelischen Kritik an der Verdoppelung des Seien-
den durch die Ideen; ebenso kann das Spiel mit den
Worten Idea und Idein in lebensphilosophischer Wen-
dung die christliche Polemik gegen die heidnische Augen-
lust oder später Nietzsches Invektiven gegen die Platonis-
men aufnehmen; eine phänomenologische Analyse des-
sen, was die Ideenlehre wenigstens für begrenzte Bereiche
und nicht in ihrer Platonischen Verabsolutierung zu lei-
sten vermag, ist solche Kritik nicht. Da bei Heidegger
der Leistungssinn des Mathematischen nicht positiv
bestimmt wird, bleibt die leitende These seines Spätwerks
vom technischen Charakter neuzeitlicher Wissenschaft
fragwürdig, mag er auch diese These mit Scheler teilen.
Die Technik ist überhaupt, anders als Heidegger will,
nicht nur Sache eines Willens, der sich selber als unbedingt
will; sie erinnert gerade in ihren heutigen spektakulären

16 Heidegger 1978, 234ff. - Zur Ideenlehre vgl. Becker 1963, 157f. -


Beckers Aufweis der teilweisen phänomenologischen Blindheit und
Einseitigkeit Heideggers verfehlt freilich dessen Absicht, die nicht auf
bestimmte Bereiche, sondern auf deren Ursprung zielt; vgl. dazu
Pöggeler 1969, 321 ff.

156
Formen - Weltraumflug, Radioastronomie, aber auch der
von Heidegger vor allem berücksichtigten Energiegewin-
nung - den Menschen an die Endlichkeit seines Wollens.
Sollte man Heidegger aber nicht zuerst einmal zugestehen,
daß seine Kritik am Leitfaden der Anschauung bei der
Analyse der Erkenntnis ihr Recht hat? Heidegger selber
hat darauf hingewiesen, daß „Sein und Zeit" mit der
Vorschaltung des Hermeneutischen vor das Phänomeno-
logische gleichzeitig hervortrat mit Heisenbergs Quanten-
mechanik, für die Vorhandenes im physikalischen Experi-
ment sich in doppelter Weise als Korpuskel und Welle
»meldet" und damit sich nicht mehr für eine einheitliche
Anschauung „zeigt". Anstöße von „Sein und Zeit" sind
noch wirksam, wenn man diszipliniertes Reden vom
Durchhalten von Handlungsschemata her erreichen, das
Zuhandene dieser Schemata aber nicht als Vorhandenes
mißverstehen will. Heidegger hat sich in seinen Nietz-
sche-Arbeiten mit verwandten Konzeptionen auseinan-
dergesetzt; sein eigener Weg lag aber nicht auf dieser
Linie. Er hat schon Rickerts Kritik an Husserl abgelehnt,
die im Urteil das praktische Verhalten findet und den
Vorrang der Anschauung durch die Vorschaltung der
Anerkennung von Geltung bricht. In den vier Seminaren,
die Heidegger von 1966 bis 1973 hielt, wird Husserl
gerade das Verdienst zugesprochen, durch die kategoriale
Anschauung das Sein aus seiner Festlegung auf das Urteil
befreit zu haben. Mit Humboldt sieht Heidegger in
„innerer Erleuchtung" und „Begünstigung äußerer
Umstände" die Bedingungen für ein neues denkerisches
Sprechen und wiederholt so auf andere Weise die situative
entschlossene Erschlossenheit des Gewissen-haben-Wol-
lens von „Sein und Zeit" als „Besinnung" 17 Nicht die

1 Heidegger 1977, 115, 88 - Zur Antikritik an Rickert vgl. Heidegger

157
Auseinandersetzung des Lebens mit seiner Umwelt, son-
dern dessen Selbsterschlossenheit war für Heidegger pri-
mär - war für ihn wie für Hegel, Bergson, Dilthey
Urphänomen. Heidegger hatte Ingardens Dissertation
über Bergson vor der Publikation im Jahrbuch stilistisch
zu überarbeiten; noch die Zeit-Vorlesung von 1925 sollte
dem Plan nach die Geschichte des Zeitbegriffs rückwärts
von Bergson zu Newton und Kant und dann zu Aristote-
les entwickeln. Hat Heidegger die „biologischen" Kon-
zeptionen vom Leben nicht doch verloren, als er das
Leben als faktisch-historische Existenz faßte? Trotz neuer
Anstöße von Scheler und Leibniz hat Heidegger die
biologischen Aspekte der Anthropologie nicht konkret
verarbeitet. So mußte Hans Jonas seine Untersuchungen
über the phenomenon of life und über Organismus und
Freiheit innerhalb einer Kritik der „gnostischen" Existen-
tialphilosophie entwerfen - leider ohne Rückgriff auf die
Bergsonsche Tradition, die freilich nicht zur Phänomeno-
logie gezählt werden kann, ohne die die französische
Phänomenologie aber in ihrer Eigenart kaum zu verstehen
ist.
Wenn Heidegger das Leben als Existenz faßt, dann wird
für ihn das Faktisch-Historische, die Geschichte, ent-
scheidend. Er nimmt jedoch mit Nietzsches zweiter
unzeitgemäßen Betrachtung die Historie als Entwurze-
lung der Geschichte und gründet das Verstehen auf das
eigene Bestehen von Geschichte. Die Aufgabe historischer
Forschung, sich wenigstens tendenziell und soweit wie
möglich vom eigenen geschichtlichen Wollen zu lösen und
die unterschiedlichen Stränge der geschichtlichen Her-
kunft in neutralisierter Weise gegenwärtig zu halten, wird

1976, 84ff., ferner Biemel 1977, 19ff. - Uber Heideggers Bezug auf
Heisenberg vgl. Pöggeler 1977, in: Zeitschrift für allgemeine Wissen-
schaftstheorie 8, vor allem S. 14f.

158
nicht akzeptiert. Wenn Hölderlin, und er allein, das
zukünftige geschichtliche „Wesen" der Dichtung anzei-
gen soll, dann ist das eine dogmatische Entscheidung, für
die folgerichtig jede weitere Ausweisung abgewiesen
wird. Heidegger gibt dem Vortrag über Phänomenologie
und Theologie einen Anhang aus dem Jahre 1964 bei, der
im Gegensatz zur Tendenz des Vortrags ein nicht-objekti-
vierendes Denken in der Theologie zur Diskussion stellt.
Er führt aber die Fragen nicht konkret fort, die mit dem
differenzierten Ansatz der existentialen Interpretation
gegeben waren. Haben die Sätze des existentialen Verste-
hens den „Sinn zeitloser Wahrheiten", wie Bultmann,
kaum im Einklang mit Heidegger, behauptete? Soll man
mit Litt, Sachallgemeines und Sinnallgemeines unterschei-
dend, Allgemeinheit in neuer Bedeutung auch für das
Allgemeine im Aufbau geisteswissenschaftlicher Erkennt-
nis behaupten oder mit Bollnow in einer Radikalisierung
Diltheys die Allgemeinheit zerschmelzen lassen im Pro-
zel der Geschichte, aber Objektivität als sachgemäße
Erschließung von Wirklichkeit fordern? Bringt Gadamers
Weise, Impulse gerade aus Heideggers zweiter Phase in
die Hermeneutik zu tragen, diese Hermeneutik zu sich
selbst oder um ihren wissenschaftlichen Charakter?
Heidegger selbst hat auch den frühen Versuch, von Ari-
stoteles her die Eigenständigkeit der praktischen Philoso-
phie wieder sichtbar zu machen, nicht fortgeführt. Wenig-
stens zeitweise verwickelte sich in dieser Sphäre sein
ebenso radikales wie unbesonnenes und unbelehrtes Den-
ken in die unheilvolle Politik der dreißiger Jahre; so hat er
von dieser Sphäre wieder Abstand genommen und es
niemals unternommen, den Begriff der Praxis etwa in
jener Weise zu klären und zu differenzieren, wie das
Hannah Arendt versuchte. Heideggers eigenes Interesse
galt vorwiegend jenem Bereich, den er wenigstens in einer

159
frühen Vorlesung einmal „Phänomenologie der Religion"
genannt hatte. Seit den dreißiger Jahren ging Heidegger
hier von Hölderlins Erfahrung der Entgötterung aus;18
„nur noch ein Gott kann uns retten" ', so heißt es entspre-
chend in einem späten Interview. Dieser Satz ist ganz
mißverstanden, wenn man ihn auffaßt als Ausdruck reli-
grösen Vertrauens im Sinne der Rede: „Nur Gott kann uns
retten." Heidegger spricht von „einem" Gott oder von
Göttern, weil diese Rede im Anschluß an die Redeweise
der Tradition die konkrete religiöse Entscheidung und
vorweg Möglichkeit oder Unmöglichkeit solcher Ent-
scheidung offenläßt. Der Gott, der da retten soll, ist nichts
jenseits von dem, was uns konkret begegnet, sondern eben
dieses in jener Tiefe, in der das, was ist, als heilvoll oder
unheilvoll, damit eventuell auch als Rettendes, erfahren
wird. Es sind die Dichter und die Künstler, die diese Tiefe
sichtbar machen, den Gott, von dem Heidegger spricht,
zum Erscheinen bringen müssen, ohne daß Gelingen oder
Versagen einfach in ihrer Hand stünde. Hier aber fragt es
sich, ob die Erwartungsrichtung, die da „philosophisch"
aufgebaut wird, nicht so ist, daß sie vorbeiführt an dem,
was an Sinn in unserer Zeit ist, daß sie zwar die Bequem-
lichkeiten und Freiheiten dieser Zeit nutzt, sich aber mit
den Möglichkeiten dieser Zeit nicht identifiziert. Ist das,
was hier Phänomen sein kann, so bestimmt, daß Phäno-
menologie in das Leben einweist?
Heideggers Neubestimmung des Phänomenbegriffs ist
nicht nur Thema einer Geschichte der Phänomenologie;
sie führt auch zu einer Fülle von systematischen Fragen.
Diese Neubestimmung bleibt einseitig; sie hat aber
Anstöße gegeben, die noch auf Aufnahme und Weiterfüh-
rung warten.

18 Zum einzelnen vgl. Pöggeler 1977, in: Man and World 10.

160
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jstor.org/stable/24360142 0

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