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Husserls Phänomenologie und die Motive zu ihrer Umbildung

Author(s): Ludwig Landgrebe


Source: Revue Internationale de Philosophie , 15 JANVIER 1939, Vol. 1, No. 2 (15
JANVIER 1939), pp. 277-316
Published by: Revue Internationale de Philosophie

Stable URL: https://www.jstor.org/stable/23932336

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Husserls Phanomenologie und die Motive
zu ihrer Umbildung

von Ludwig Landgrebe

Als vor beinahe 40 Jahren E. Husserls Logische Untersu


chungen erschienen, das Werk eines bis dahin fast unbekann
ten Privatdozenten, dessen Erscheinen dann eine der grossten
Wandlungen herbeifiihren sollte, die die deutsche Philosophie
seit dem Abschluss der Epoche des Idealismus durchmachte,
da bildete fiir die Kritiker von vornherein der anscheinende
Gegensatz zwischen dem Antipsychologismus des I. Bandes un
den „ psychologisclien " Untersuchungen des II. Bandes de
Stein des Anstosses. Die weitere Entwicklung von Husserls
phànomenologischer Methode hat immer deutlicher die Zusam
mengehôrigkeit der beiden, fiir den oberflachlichen Blick unver
einbaren Ansâtze hervortreten lassen; ruckschauend hat ihr
Husserl 30 Jahre spâter in seiner Formalen und transzendcn
talen Logik die endgultige Sinndeutung gegeben und damit
die Diskussion dieser Frage ein fiir allemal abgeschlossen.
Aber die zwiespâltige Art der Aufnahme, die bereits die Logi
schen Untersuchungen gefunden hatten, ist charakteristisch
geblieben fiir das Schicksal der ganzen weiteren Arbeiten
Husserls. An das Erscheinen der Logischen Untersuchungen
und die darauf folgende Gôttinger Lehrtâtigkeit Husserls
kniipfte sich eine ausgebreitete Schulbildung, und trotzdem
glaubten die meisten der damaligen Schiiler, die sich doch
selbst als Phânomenologen bezeichneten, das nâchste erschei
nende Werk ihres Schulhauptes, Husserls Ideen zu einer reinen
Phdnomenologie ablehnen zu miissen, obwohl es nur die kon
sequente Fortbildung jener Ansâtze darstellte und zum ersten
Male in umfassender Problematik die Leitsâtze phânomeno

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logischer Methodik entwickelte. Diese paradoxe Sit


die fur das Verstândnis der Phânomenologie und ihr
lichen Ziele immer die grôssten Schwierigkeiten bild
derholte sich in der weiteren Entwicklung der Husse
Gedanken wàhrend seiner spâteren Periode, die die J
dem Kriege umfasst. In ihr hatte Husserl freilich ni
die unmittelbar ins Breite gehende Schulwirkung wi
Gôttinger Zeit; es waren mehr einzelne Persônlichke
von ihm bestimmt wurden. Aber auch hier tritt wieder die
Diskrepanz zwischen dem auf, was er selbst wollte, und der
Art, wie von seinen Schiilern seine eigenen Gedanken gedeutet
und weitergebildet wurden. Das ging so weit, dass er es fur
nôtig hielt, im „ Nachwort " zu seinen Ideen 1 einen scharfen
Trennungsstrich zwischen seiner Phânomenologie und alien
von ihr beeinflussten Weiterbildungen zu ziehen. Yon da ab
stand es fest, dass man kunftighin im Interesse wissenschaft
licher Sauberkeit immer, wenn von Phânomenologie und
„ phânomenologisch " die Rede ist, genau zwischen Phâno
menologie im Sinne Husserls und phânomenologischen Rich
tungen im weiteren Sinne unterscheiden musse.
Dieses eigenartige Verhâltnis der Phânomenologie Husserls
zu ihren Auswirkungen ware nicht weiter auffàllig, wenn in
der Entwicklung Husserls Umwendungen und Briiche und in
diesem Sinne gânzlich voneinander verschiedene Perioden fest
zustellen waren, wie das z. B. in der Entwicklung der Philo
sophie Schellings der Fall ist. Da aber ganz im Gegenteil das
Werk Husserls sich vôllig kontinuierlich entwickelt, so dass
auch seine, in den verôffentlichten Schriften noch keineswegs
sichtbar gewordene Endgestalt als die konsequente Entfaltung
eines Grundmotivs angesehen werden muss, das bereits in
den friihesten Schriften wirksam ist 2, ist der Anlass zu einer
Besinnung auf die Griinde gegeben, aus denen diese so stetig
wachsende Philosophie so vielfâltig auseinanderstrebende und
gânzlich voneinander abweichende Fortbildungen erfahren
konnte. Es soil also im folgenden die Frage beantwortet wer
den, wie es in der Art der Entwicklung der Husserlschen

1 Jahrbuch Jtir Philosophie und phànom. Forschung, Bd. 11, 1930,


S. 549ff.
2 Auf die Kontinuitat in der Entwicklung der Phanomenologie
Husserls hat bereits O. Becker hingewiesen; vgl. seinen Aufsatz Die
Philosophie Edmund Husserls (Kantstudien, Bd. 35, 1930, S. 119ff.).

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Gedanken selbst, ihres schrittweisen Hervortrete


liegt, dass sie bei seinen Schulern keineswegs auf
Missverstândnisse — auch solche kamen freilich
vor — sondern mit einer gewissen inneren Notwe
artige Umbildungen erfahren konnten. Die Skizz
menologie, die zu diesem Zwecke gezeichnet werden muss,
wird keine liickenlose Darstellung ihrer Grundgedanken in
ihrer geschichtlichen Entfaltung zum Gegenstand haben, son
dern nur diejenigen herausgreifen, die fur das Verstândnis der
Auswirkungen nôtig sind. Dabei werden wir uns fur die
erste Periode der phânomenologischen Schulbildung, die die
Gôttinger Lehrtâtigkeit Husserls vom Erscheinen der Logischen
Untersuchungen bis etwa zum Kriege umschliesst, mit einer
mehr summarischen Charakteristik begniigen kônnen, ohne
auf die einzelnen Vertreter nàher einzugehen. Denn diese
Epoche kann im Grossen und Ganzen als abgeschlossen gelten.
Das Schwergewicht werden wir dagegen auf die zweite Periode,
die Freiburger Tàtigkeit Husserls legen; denn in ihr sind die
Wurzeln fur jene auch heute noch am stàrksten wirkende
Umbildung zu suchen, die in der Philosophie M. Heideggers
vorliegt. Wâhrend das Verhâltnis der Phânomenologie Hus
serls zur Gôttinger Schule heute verhâltnismâssig leicht uber
blickbar ist und sich nachweisen lasst, wie ihre Vertreter eher
einzelne Motive, die Husserl in seiner Entwicklung jeweils
starker betonte, aufgegriffen als sich des Ganzen seiner Grund
tendenz bemachtigt haben, stellt die Philosophie Heideggers
viel mehr einen Angriff auf eben diese Grundtendenz dar und
gibt damit prinzipielle Fragen auf, die bis heute noch nicht
deutlich gesehen, geschweige denn beantwortet sind.
Es liegt in der Natur einer solchen Aufgabenstellung, dass
dabei die Phânomenologie mit ihren Auswirkungen wie ein
geschichtlich zuruckliegendes Ereignis behandelt werden muss,
das bereits abgeschlossen und uberblickbar ist. Der Versuch,
eine Skizze der Entwicklung der Phânomenologie zu geben und
dabei nur diejenigen Ziige in ihr zu beriicksichtigen, die hi
storisch gewirkt haben, kann freilich einem Werke, das bis
heute nur fragmentarisch hervortrat und dessen Wesentlich
stes noch unpubliziert ist, nicht voll gerecht werden. Gleich
wohl muss er gemacht werden, weil der Einblick in die histo
rischen Motivationszusammenhânge doch auch einen Weg in

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die Phânomenologie selbst zu vermitteln und manche Miss


verstândnisse zu beseitigen imstande ist.

I. Die Intentionalitat bei Husserl und bei Brentano

Das in der ganzen Entwicklung der Phânomenologie Hu


serls treibende Grundmotiv ist seine ihm spezifisch eigene
zeption der Intentionalitàt. So sehr er selbst dies immer wi
betonte und so selbstverstândlich das heute klingen mag,
sehr muss darauf hingewiesen werden, dass auch von seine
Schiilern zumeist die Tragweite dieser Konzeption und die K
sequenzen, die sich aus ihr ergeben, verkannt wurden. Nu
so konnten hâufig einzelne Motive der Phânomenologie
Wesenserschauung, die Intentionalanalyse als neue psych
gische Methode usw.) herausgegriffen und ihre innere, anf
Husserl selbst noch verborgene Einheit iibersehen werden.
Dies wurde begiinstigt dadurch, dass er Wort und Begriff der
Intentionalitàt von seinem Lehrer Franz Brentano iibernom
men hatte und zunâchst der Meinung war, ganz dessen Bestre
bungen gemâss fortzufahren. Es ist ihm selbst erst viel spâter,
beim Biickblick auf den Gang seiner Entwicklung, klar gewor
den, dass er diesen Begriff der Intentionalitàt schon vom ersten
Augenblick seiner Uebernahme an von Grund auf verwandelt
hatte, ja dass er, wie er dann selbst sagte, von Brentano eigent
lich nur das Wort Intentionalitàt iibernommen habe, wâhrend
der Sache nach von vornherein bei ihm etwas ganz anderes
im Blicke stand. So konnte — irrefiihrend genug zunâchst
auch fur Husserl selbst — ein gemeinsamer Terminus eine tief
gehende Differenz verdecken. Um das zu verstehen, miissen
wir einen Blick auf Brentanos Begriff der Intentionalitàt wer
fen; dann wird sich zeigen, wie bereits die Fragen, die Husserl
sich in der Philosophie der Arithmetik (seinem ersten gedruck
ten Werke) stellte, garnicht môglich gewesen wâren, wenn er
konsequent auf dem Standpunkte Brentanos verharrt ware, und
noch viel weniger die Analysen seiner Logischen Untersuchun
gen, deren kritischen Teil zwar Brentano selbst in vielem als
Durchfiihrung von ihm bereits vertretener Ansichten ansah,
gegen deren aufbauende Arbeit er aber, wie aus dem gegen
seitigen Briefwechsel hervorgeht, schwerwiegende Einwânde
âusserte.

Bereits der Unterschied in der Ausdruçksweise ist hôchst

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aufschlussreich : Brentano spricht nie wie Husserl von


„ Intentionalitât des Bewusstseins ", sondern immer nur von
der intentionalen Beziehung, der Beziehung, die die einzelnen
Akte auf etwas, auf ihr intentionales, ,, mentales " Objekt
haben. Darin liegt : fur den Blick der Beflexion sind in unse
rem Bewusstsein einzelne voneinander unterschiedene Akte
abgehoben, jeder vom anderen dadurch verschieden, dass er
ein anderes intentionales Objekt hat, und zwar jeder das seine.
Der Gedanke, dass zwei oder mehrere, deskriptiv voneinander
verschiedene Akte identisch dasselbe intentionale Objekt haben
kônnen, der, wie sich gleich zeigen wird, fur Husserl von
Anfang an eine grosse Rolle spielt, liegt Brentano gânzlich
feme. Er spricht nur davon, dass verschiedene Akte die
gleiche intentionale Beziehung haben kônnen, ohne aber zu
fragen, ob diese Rede von Gleichheit nicht erst dadurch uber
haupt Sinn gewinnt, dass eben diese Akte identisch dasselbe
Objekt haben. Denn andernfalls kann gar nicht angegeben
werden, in bezug worauf die verschiedenen Akte gleich sein
sollen. Brentano hat freilich gesehen, dass die intentionale
Beziehung eine Beziehung gânzlich eigener Art ist : sie ist nicht
notwendig Beziehung zwischen zwei existierenden Gegenstan
den, vielmehr kann es sein, z. B. bei Phantasievorstellungen,
dass das eine Beziehungsglied gar nicht existiert. Weiter als
bis zu dieser Feststellung geht Brentano in der prinzipiellen
Aufklârung dieser „ Beziehung " freilich nicht. Sein Haupt
interesse gilt einer Klassifikation der Grundarten intentionaler
Akte, der „ psychischen Phànomene ", die sich jedoch nicht
bloss rein deskriptiver Mittel bedient, sondern vielfach Gesichts
punkte argumentativer Art massgebend werden lâsst. Gleich
wohl hat schon dieses Vorhaben einer neuen Klassifikation der
„ psychischen Phànomene " an sich viel zur Auflockerung der
Problematik des Bewusstseins beigetragen und ist in dieser
Hinsicht fiir die Entwicklung Husserls von nicht zu unter
schâtzender Bedeutung. Kommt doch gegeniiber der Starr
heit der traditionellen Philosophie in bezug auf die Unterschei
dung von „ Gemiitsvermogen ", von Aktarten usw. darin die
Einsicht zum Ausdruck, dass die Grundbegriffe der philoso
phischen Bewusstseinslehre einer radikalen Revision bediirf
tig sind.
Entscheidend fiir den Unterschied dieser Auffassung der
Intentionalitât von derjenigen Husserls ist es nun, dass in
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Brentanos Untersucliung der intentionalen Beziehung vo


herein aile erkenntnistheoretischen Fragen bewusst aus
tet sind. Aufgabe der psychologischen Deskription d
chischen Phânomene bleibt ftir ihn ausschliesslich die Aufstel

lung der Grundklassen, die Untersuchung ihres gegenseitigen


Verhâltnisses und die Feststellung, dass es sich bei der intentio
nalen Beziehung nicht um eine Beziehung im gewohnlichen
Sinne handeln kann. Die Frage nach dem Verhâltnis des
intentionalen Gegenstandes zum wirklichen, zum wirklich
existierenden Objekt und damit auch die ganzen Probleme der
Evidenz gelten ihm als solche, die mit der psychologischen
Deskription nichts zu tun haben und daher von vornherein
beiseite gelassen werden miissen. Brentano steht damit durch
aus und konsequent auf dem Boden eines erkenntnistheore
lischen Bealismus. Als einziger Weg von den psychischen
Phanomenen mit ihren intentionalen Gegenstanden zum wirk
lichen Objekt, zur Aussenwelt, gill ihm der eines Wahrschein
lichkeitsschlusses als eines Kausalschlusses auf das die Akte
Verursachende. Das zeigt sich auch darin, dass er die psy
chischen Akle, die der Klassifikation unterliegen, prinzipiell
als Erleidungen fasst : ein Begriff, der als Oberbegriff fur
samtliche Bewusstseinsphânomene keineswegs auf dem Wege
einer reinen Deskription gewonnen werden kann — in einer
solchen scheiden sich ja deutlich diejenigen Erlebnisse, in
denen wir uns selbst bewusstseinsmàssig als uns aktiv verhal
tend gegeben sind, von den Zustânden, in denen wir uns leidend
wissen — sondern der nur in einer Erwiigung iiber die Her
kunft der Akte, liber ihre Verursachung durch aussere Beize
seinen Ursprung haben kann; derartige Erwagungen aber
gehen iiber das deskriptiv Zugângliche gânzlich hinaus.
Demgegenuber ist nun zu zeigen, dass Husserl bereils in
seinen friihesten Forschungen auf einem anderen Boden steht;
nicht dass ihm dies selbst bewusst gewesen, ja von ihm aus
gesprochen worden ware, wohl aber dass sein Ansatz nur unter
dieser Voraussetzung sich iiberhaupt als sinnvoll erweisen
lâsst.
Die erste philosophische Aufgabe, die er sich stellte, war
die der Aufklârung des Zahlbegriffs als des Grundbegriffs der
Mathematik. Yon vornherein steht es fur ihn fest, dass die
Analyse des Zahlbegriffs in die Psychologie hineingehort
1 Vgl. die Habilitationsschrifft Ueber den Begrijf der Zahl.

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HUSSERLS PHAÏNOMENOLOGIE 283

Das ist freilich ein Gedanke, der ihm vom traditionelle


chologismus her gelâufig und selbstverstandlich war, nu
die Art, wie er ihn durchfuhrt, im Keime bereits die „ Auf
hebung " des Psychologismus (im Hegelschen doppelten Sinne
einer Ueberwindung, die zugleich dem Ueberwundenen erst
zu seinem guten Rechte verhilft) in sich schliesst. Er fragt
nach demjenigen Akt, durch den so etwas wie eine Zahl, ver
standen als Anzahl, zum Bewusstsein kommt, und findet ihn
in der „ Inbegriffsvorstellung " : „ Jedes Vorstellungsobjekt, ob
physisch oder psychisch, abstrakt oder konkret, ob durch
Empfindung oder Phantasie gegeben, kann mit einem jeden
und beliebig vielen anderen zu einem Inbegriff vereinigt und
demgemâss auch gezahlt werden. Zum Beispiel : einige be
stimmte Baume; Sonne, Mond, Erde und Mars; ein Gefiihl, ein
Engel, der Mond und Italien usw., immer kônnen wir in
diesen Beispielen von einer Vielheit und von einer bestimmten
Zahl sprechen Ein solcher Inbegriff entsteht „ indem ein
einheitliches Interesse und in und mit ihm zugleich ein einheit
liches Bemerken verschiedene Inhalte fiir sich heraushebt und
umfasst" 2. Die kollektive Verbindung, durch die die Inbe
griffsvorstellung zustande kommt, besteht darin, dass wir diese,
noch so disparaten Inhalte ,, in einem Akte " zusammenden
ken : „ In dieser Weise sind die Inhalte zugleich und zusam
men gegenwârlig, sind sie eins, und mit Reflexion auf diese
Einigung gesonderter Inhalte durch jenen komplexen psychi
schen Akt entstehen die Allgemeinbegriffe Vielheit und be
stimmte Zahl 3. "
Dass sich Husserl solche Fragen stellen konnte und dass
er auf diesem Wege die Aufklârung eines mathematischen
Grundbegriffs versuchen konnte, das war nur môglich, wenn
seine Auffassung vom Wesen des Bewusstseins von vornherein
von der Brentanos abwich. Von den Zahlzeichen fragt er
zuruck nach den Bewusstseinsphanomenen, die sie indizieren
und die ihnen Sinn verleihen. Wir kônnen mit einem Zahl
zeichen eine ganz leere, „ uneigentliche " oder eine „ eigent
liche", mehr oder weniger erfullte Vorstellung verknupfen.
Die eigentliche ist diejenige, in der der Prozess, in dem wir
zu der Anzahl gelangen, schrittweise bewusstseinsmassig

1 Philosophie der Arithmetik, S. 11.


2 A. a. O., S. 79.
3 A. a. O., S. 45.

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ursprunglich vollzogen ist. Husserl sucht also den


Erzeugung auf, auf dem wir von den blossen Zahlzei
den eigentlichen Vorstellungen gelangen, die sie anz
ist sich dessen bewusst, dass dieser Weg zumindest b
niedrigen Zahlen immer gangbar ist, ja dass aile Z
einem solchen urspriinglichen Erzeugungsprozess all
urspriinglichen Sinn schôpfen kônnen. Diese Erze
von ihm bereits damais als eine leistende Tatigkeit b
ein von einem einheitlichen Interesse geleitetes Zusammen
nehmen. Also schon hier ist sein Blick auf das Bewusstsein ah
leistendes gelenkt, und in der Riickschau auf diese Untersu
chungen charakterisiert er sie spater mit Recht als den ersten
Versuch, " durch Riickgang auf die spontanen Tatigkeiten des
Kolligierens und Zâhlens, in denen Kollektionen (,Inbe
griffe', , Mengen') und Anzahlen in ursprunglich erzeugender
Weise gegeben sind, Klarheit iiber den eigentlichen, den
ursprungsechten Sinn der Grundbegriffe der Mengen- und
Anzahlenlehre zu gewinnen ". Es war also in seiner spâteren
Redeweise ausgedrûckt „ eine phânomenologisch konstitutive
Untersuchung, und es war zugleich die erste, die , kategoriale
Gegenstândlichkeiten ' erster und hôherer Stufe... verstandlich
zu machen suchte aus der , konstituierenden ' intentionalen
Aktivitat, als deren Leistungen sie ursprunglich auftreten, also
in der vollen Ursprunglichkeit ihres Sinnes " \
Das ist freilich eine Sinndeutung seiner Untersuchungen in
der Philosophie der Arithmetik aus den erst viel spater
erworbenen Horizonten heraus. Und es soli damit keineswegs
gesagt sein, dass ihm dieser Sinn seines Ansatzes schon damais
in dieser Weise klar gewesen ware, wohl aber dass ein solches
Vorgehen nur môglich war, weil sich seine Fragen doch schon,
wenn auch ohne Wissen um ihr eigentliches Ziel, in dieser
Richtung bewegten. Das sagt : der Weg von den Zahlzeichen
zuruck zu den Bewusstseinsvorgângen, aus denen sie ursprung
lich ihren Sinn schôpfen, setzt, wenn er uberhaupt, wie das in
jenen Untersuchungen der Fall ist, beschritten werden soli,
wenigstens keimhaft einen Begriff von Intentionalitât voraus,
demgemâss Intentionalitat zu verstehen ist als ein Vermeinen.
Nur dann kann die Frage nach dem „ eigentlich Yermeinten ",
nach den „ eigentlichen " Vorstellungen uberhaupt sinnvoll

1 Formale und tranzendentale Logik, S. 76.

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HUSSERLS PHENOMENOLOGIE 285

gestellt werden, kônnen die Zeichen unbeschadet all der


uneigentlichen Yorstellungen, die sie zunâchst und hâufig
erwecken, daraufhin befragt werden, was das mit ihnen eigent
lich Gemeinte ist, das woraufhin die Intention eigentlich
gerichtet ist. In einer von Brentano abweichenden Weise ist
also die Rede von Intentionalitât wôrtlich genommen, ist sie
gefasst als ein Intendieren, das von dem uneigentlichen zum
eigentlichen Vorstellen hingeht, m. a. W. als ein Streben, das
auf eine Leistung gerichtet ist, nâmlich auf die Herstellung der
eigentlichen Vorstellung. Der Unterschied zwischen eigent
lichem und uneigentlichem Vorstellen war freilich Brentano
gelâufig und spielte in seinen Analysen eine grosse Rolle.
Aber es blieb bei der Feststellung dieser verschiedenen Arten
intentionaler Beziehung auf ein Objekt, die er voneinander
abhob, man kônnte sagen, in einer rein statischen Weise, ohne
dass er das Dynamische des Uebergangs, des Intendierens von
dem bloss symbolisch Indizierten zur erfiillenden Veranschau
lichung, zur ursprunglich gebenden Vorstellung beachtet hatte.
Und gerade dies stand bei Husserl von vornherein im Zentrum,
bezw. es muss als im Zentrum stehend angenommen werden,
wenn uberhaupt seine Fragestellungen verstândlich werden
sollen, ohne dass er selbst sich dabei bereits dessen bewusst
war, damit dem Begriff der Intentionalitât eine von Brentano
gânzlich abweichende Fassung gegeben zu haben. Sein Inte
resse gilt also nicht der einfachen Abhebung der einzelnen
Weisen intentionaler Beziehung, sondern vor allem der Inten
tionalitât als einem Bande sozusagen, das die einzelnen Akte
miteinander verkniipft, derart dass die unerfiillten auf die
erfiillenden bewusstseinsmâssig verweisen. Es ist das, was
Husserl dann in den Logischen Untersuchungen die Ueber
gangssynthesen der Erfiillung oder Enttduschung nannte, und
was der Sache nach hier bereits zum Thema wurde. Im Berei
che der Fragestellungen Brentanos kann dieses Problem gar
nicht auftreten — obwohl er in seinen Untersuchungen iiber
Adâquation hart daran ist es zu streifen — geschweige denn
diejenige zentrale Bedeutung gewinnen, die es von Anfang an
bei Husserl hat. Erst damit ist der entscheidende Schritt iiber
die atomisierende Betrachtungsweise des Sensualismus hinaus
gemacht, die in Brentanos isolierender Klassifikation der ein
zelnen Aktarten noch nachwirkt, wenngleich in anderer Rich
tung der Sensualismus von ihm durch seine Feststellung der

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286 LUDWIG LAJNDGREBE

Intentionalitât bereits iiberwunden ist. Wenn Husserl sp


immer wieder betonte, dass das Wesen des Bewusstseins
thesis, synthetische Leistung ist, so ist das nur die Entfa
des Keimes, der bereits in jenen friihesten Untersuch
nachzuweisen ist.
Angelegt ist damit auch bereits der radikale Bruch mit
der traditionellen Bestimmung des Bewusstseinsbegriffs, in der
immer das Vorstellungsmâssige, Erkenntnismâssige im Mittel
punkt stand. Die ganzen Probleme der Klassifikation, die
Frage nach der Fundierung des Gemutsverhaltens und Wol
lens im Vorstellen usw. werden damit zu Problemen zweiten
Ranges, und konsequent ist mit dieser neuen Fassung der
Intentionalitât die Annaherung Husserls an die Leibnizsche
Konzeption der monadischen actio verkniipft, wie er denn
auch spaler die Intentionalitât als das Urstreben der Monade
zu begreifen sucht : aile bestimmten Akte des Erkennens, Fiih
lens, Begehrens, Wollens, wie man sie klassifizierend vonein
ander unterscheidet, konnen dann nur als die Modifikationen
dieses Urstrebens verstanden werden. Die Intentionalitât als
Intendieren wird damit zu einer Grundstruktur des Bewusst
seins, die tiefer liegt als allé die bestimmt abgrenzbaren ,, in
tentionalen Erlebnisse ", die man in der Reflexion voneinander
abheben kann.
Yon den ersten Ansâtzen in der Philosophie der Arithme
tik bis zu diesen voll entfalteten Konsequenzen ist es freilich
noch ein weiter Weg. Nur das sollte hier gezeigt werden, wie
die Zielrichtung dieses Weges damais bereits festgelegt war.
Einer wesentlichen Differenz zu den Vertretern des herrschen
den Psychologismus ist sich Husserl bei seiner Tendenz auf
eine „ psychologische " Begriindung der mathematischen
Begriffe zunâchst gar nichl bewusst geworden. Aber bei sei
nem primâren Interesse an den Grundlagenfragen der forma
len Mathematik kam er mit diesem Ansatz bald in Schwierig
keiten, tiber die er sich riickblickend im Vorwort seiner Logi
schen Untersuchungen (I, S. vu, 2. Aufl.) âussert : ,, Wo es
sich um die Frage nach dem Ursprung der mathematischen
Vorstellungen oder um die in der Tat psychologisch bestimmte
Ausgestaltung der praktischen Methode handelte, schien mir
die Leistung der psychologischen Analyse klar und lehrreich.
Sowie aber ein Uebergang von den psychologischen Zusam
menhângen des Denkens zur logischen Einheit des Denkin

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HUSSERLS PHENOMENOLOGIE 287

haltes... vollzogen wurde, wollte sich keine rechte Konti


nuitât und Klarheit herausstellen lassen. Um so mehr
beunruhigte mich daher der prinzipielle Zweifel, wie
die Objektivitât der Mathematik und aller Wissenschaft
haupt mit einer psychologischen Begriïndung des Logisc
vertrage". Damit ist das Hauptproblem der Logischen Un
suchungen, bezw. die Einheit ihrer beiden Hauptprobleme
bezeichnet : namlich die ideale Einheit des Logischen mit der
Mannigfaltigkeit seiner subjektiven Gegebenheitsweisen in Ein
klang zu bringen. Erst allmâhlich wurde sich Husserl dessen
bewusst, wie sein Begriff der Intentionalitât in sich die Kraft
trug diese Problème zu bewâlligen, wie er die Môglichkeit gab,
auf der einen Seite in der Kritik der psychologistischen Lehren
die Idealitât des Logischen ein fiir allemal festzustellen, auf der
anderen Seite doch erst in subjektiv gewendeten Untersuchun
gen (die ja noch in der 1. Auflage der Logischen Untersu
chungen als psychologische bezeichnet wurden) den Sinn
dieser Idealitât zu klâren. Durch diese Spannung sah er sich
„ in steigendem Masse zu allgemeinen kritischen Reflexionen
iiber das Wesen der Logik und zumal tiber das Verhâltnis
zwischen der Subjektivitât des Erkennens und der Objektivitât
des Erkenntnisinhaltes gedrângt " (a. a. 0.). Ihm als Mathe
matiker musste von vornherein die Fehlerhaftigkeit der psy
chologistischen Subjektivierung der Denkinhalte feststehen;
aber seine argumentativen Widerlegungen des Psychologismus
hâtten nie ihre Durchschlagskraft gewinnen sondern hôch
stens zu einer Aporetik bezùglich der idealen Gegenstândlich
keiten, des Bereichs der ,, Sâtze an sich" fiihren kônnen wie
bei Brentano, wenn ihnen nicht von vornherein Ieitend seine
durchaus neue Konzeption vom Wesen des Bewusstseins
zugrunde gelegen ware. Sie ist bei alien Àrgumentationen
des I. Bandes der Logischen Untersuchungen die treibende
Kraft, und diese haben nur dienende Funktion, um dieser Kon
zeption zum Durchbruch zu verhelfen. Sie ermôglicht es
erst, die Idealitât des Logischen in Zusammenhang mit den
subjektiven Erlebnissen zu bringen : nur wenn Bewusstsein
als Vermeinen, Intendieren im Sinne einer leistenden Tâtig
keit gefasst ist, kann man an der Idealitât festhalten, ohne
damit in den von Brentano mit Recht kritisierten „ Platonis
mus" zu verfallen. Es ergibt sich dann die Frage nach dem
in den A.kten eigentlich Gemeinten, nach dem Sinn der Inten

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288 LUDWIG LANDGREBE

tionen, den sie bewusstseinsmassig in sich tragen; un


erkenntnistheoretischen Argumenta tionen kônnen die
aus dem Wege schaffen, dass eben in den Vorstellung
Zahl 5 z. B. diese ideal identische Einheit das Gemeinte ist \

Bewusstseinsmassig ist die Tatsache gegeben, dass verschieden


Akte unbeschadet der Verschiedenheit ihres reellen Gehaltes
denselben, im strengen Sinne identisch denselben intentiona
len Gegenstand haben kônnen — eine Behauptung, die fiir
Brentano mit seiner rein statischen Abhebung der verschie
denen Weisen intentionaler Beziehung absurd erscheinen
musste. Sie gewint ihren Sinn aber, sobald eben Intentiona
litât als Vermeinen gefasst ist. Damit sind auch die Fragen,
die Brentano und die ganze Psychologie der Erkenntnistheorie
uberlassen hatten, diejenigen nach dem „ wirklichen " Gegen
stand, der ev. den Erlebnissen „ entspricht in den Bereich
der analytischen Deskription einbezogen. Sie treten auf als die
Problème des Unterschiedes der Akte leerer Yermeinung von
den wirklich den Gegenstand selbstgebenden Akten, und kôn
nen nicht in der Analyse isolierter Akte gelôst werden, sondern
immer nur im Hinblick auf die Synthesen des Uebergangs,
in denen das zuvor leer Vermeinte, leer Indizierte oder Erwar
tete, Phantasierte usw. zur Selbstgebung kommt, sich bewusst
seinsmassig als „ selbst da" gibt, wobei die leeren Vermeinun
gen auf die Erfiillungen „ verweisen Die Fassung des inten
tionalen Gegenstandes als Pol einer Mannigfaltigkeit darauf
bezogener Vermeinungen ist nur die spatere gluckliche Bezeich
nung eines Tatbestandes, der Husserl von Anfang an vor Augen
stand.

Die Verlegenheit bezuglich des Sinnes der Transzendenz


der idealen Gegenstandlichkeiten, bezuglich des Ortes, wo sie
denn nun eigentlich zu finden seien, da sie doch gewiss keine
Bestandstucke der realen Aussenwelt waren, die Brentano
schliesslich zur Leugnung ihrer Existenz iiberhaupt gefiihrt
hatte, ist damit abgeschnitten, indem eben Vermeinen, Inten
dieren, ganz allgemein genommen seinem Sinne nach schon
ein „ Draussensein " beim Objekt ist, und es nicht erst der
Angabe eines Weges von der Immanenz der Akte zu den trans
zendenten Objekten mehr bedarf. Die Gegenstânde, seien es

1 Vgl. Log. Untersuchungen, I., S. 171, eine Stelle fur viele, aus
denen sich ergibt, wie fur die Kritik am Psychologismus dieser neue Be
griff der Intentionalitat die Grundlage bildet.

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HUSSERLS phanomenologie 289

nun reale oder „ ideale ", sind dann in ihrem Sein


als Identitatspole, als identisches Vermeintes in e
faltigkeit darauf bezogener wirklicher oder môgl
Die Frage nach dem wirklichen Sein dieser Gegen
ziert sich damit auf das Problem, die intenlionalen
zu charakterisieren, in denen sie bewusstseinsmâs
„ selbst da" geben. Im Falle der idealen Gegenstandlichkei
ten sind diese Leistungen spontan erzeugende Tâtigkeiten.
Es ist selbstverstândlich, dass die Einheit der beiden Motive,
die die Thematik der Logischen Untersuchungen beherrschen,
bei Husserl zunàchst nicht klar in Erscheinung trat. Je nach
dem Zusammenhang wurde bald das eine, bald das andere
starker betont, und in der Kritik der psychologistischen Lehren
war es naturlich, dass auf der Herausarbeitung der Idealitat
des Logischen das Hauptgewicht lag — so sehr, dass die Kri
tiker darin das Wesentliche erblickten und Husserl ein Zuriick
fallen in den Psychologismus im II. Bande vorwerfen zu miissen
glaubten, ohne zu sehen, dass genau der Begriff der Intentiona
litât, der im II. Bande herausgearbeitet wird, es ist, der iïber
haupt erst den tragenden Grund fur die Kritik am Psychologis
mus in den Prolegomena abgibt. Um diese Zwiespaltigkeit
der Aufnahme zu verstehen, die bereits die Logischcn Unter
suchungen bei Kritikern und auch bei Anhangern gefunden
habèn, war es notig, etwas ausfiihrlicher bei diesen Anfângen
und speziell bei der Differenz Husserls zu Brentano zu
verweilen.

II. Husserls Piianomenologie und die phanomenologische Scm i,e

Die universale Bedeulung des neuen Bewusstseinsbegriffs


trat freilich in den Logischen Untersuchungen noch nicht her
vor. Hier ging es Husserl vor allem um die Neubegriindung
der formalen Logik, und die intentionalen Strukturen wurden
nur soweit in Betracht bezogen, als das fur diesen Zweck vonnô
ten war. Aber auch schon hierin lagen die Motive fur eine
weitere Ausdehnung der Problematik. Zunachst war Husserl
das Wesen der Intentionalitat als Synthesis, synthetischer
Leistung an den Operationen mit Zahlen klar geworden; aber
bald wurde er dessen gewahr, dass dies nur ein Spezialfall ist,
und dass allé logischen Gegenstândlichkeiten im weitesten
Sinne, aile kategorialen Gegenstândlichkeiten, von denen ja

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290 LUDWIG LANDGREBE

die Gegenstânde der formalen Mathematik nur einen


reich darstellen, ahnliche Probleme aufgeben. Die log
Operationen finden ihren Ausdruck in sprachlichen G
in Sâtzen usw.; diese miissen auf ihre Bedeutung hin
werden als das in ihnen eigentlich Gemeinte, darnach
Gemeinte zur eigentlichen, erfiillten und das ist ansch
Gegebenheit kommt. Das fiihrte auf den Unterschied
licher und kategorialer Anschauung, der Anschauung
gemeinen, gegeniiber der sinnlichen, Individuelles ge
Anschauung. Und letztere war nicht nur um des Kon
willen von Wichtigkeit, sondern es handelte sich dabei
zugleich um die Frage nach der Struktur derjenigen vorstellig
machenden Akte (spâter die doxischen benannt), die die Grund
lage fur die logischen Operationen, fur die Bildung allgemeiner
Begriffe und das allgemeine Urteilen abgeben \ Das nâchst
liegende Beispiel sinnlicher, Individuelles gebender Anschau
ung ist die aussere Wahrnehmung; sie mit ihren Modifika
tionen der Erinnerung, Phantasievorstellung usw. bildete daher
das nâchste Thema von Husserls Forschungen. Schon zur
Zeit des Erscheinens der Logischen Untersuchungen hatte er
es in umfangreichen Untersuchungen bearbeitet, die er ur
sprunglich gleich im Anschluss an die Logischen Untersuchun
gen veroffentlichen wollte. Dazu kam es nicht; aber diese
Themen wurden in den Vorlesungen der ersten Gôttinger Jahre
immer wieder erneut behandelt und vertieft und gehoren zu
denen, die damais mit die stârkste schulbildende Wirkung
hatten 2.

Dabei trat der Unterschied dieser Analysen gegeniiber psy


chologischen im ublichen Sinne immer deutlicher hervor —
ein Unterschied, der ja bereits in der Grundkonzeption der
Intentionalitat angelegt war. Wahrnehmung, Vergegenwar
tigung, Erinnerung usw. sind freilich Bewusstseinsphânomene;

1 Die abschliessende Behandlung dieser Probleme ist nun zugânglich


in dem eben erschienen Werke Erfahrung und Urteil, Prag, 1939.
2 Hier wâren zu nennen die Schriften von W. Schapp, Beitrage zur
Phanomenologie der Wahrnehmung, Halle, 1910; Leyendecker, Zur Phil
nomenologie der Tauschungen, Halle, 1913; H. Hofmann, Ueber den Emp
findungsbegriff, in l.Aufl. als Gôttinger Dissertation, 1913; ferner auch
noch P. F. Lincke, Die phdnomenale Sphàre und das reelle Bewusstsein,
Halle, 1912, und Grundfragen der Wahrnehmungslehre, Miinchen, 1918.
Diese Schriften als Beispiel, wie die Husserlschen Intentionalanalysen
insbesondere der Wahrnehmung aufgenommen und weitergefiihrt
wurden.

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HUSSERLS PHENOMENOLOGIE 291

aber wenn ihr eigentliches Wesen, das wodurch allein sie ver
standen werden kônnen, intentionale Leistung ist, so muss
bei ihrer Analyse immer zugleich auf die intenlionalen Gegen
stande, das in ihnen Vermeinte gesehen werden, so wie es in
ihnen vermeint ist und durch sie, durch ihre Zusammenhânge
ev. zur Selbstgegebenheit gebracht wird. Das heisst, jedem
Zug am Gegenstand muss eine Struktur des Bewusstseins ent
sprechen, in der eben dieser zur Gegebenheit kommt. So
bedarf es genau korrelativ zu den Bewusstseinsanalysen einer
Vertiefung in das Wesen der intentionalen Gegenstande und
ihrer Strukturen, einer Besinnung auf den Seinscharakter des
Seienden, das Gegenstand des Bewusstseins wird. Die Inten
tionalitât des Bewusstseins hat zwar damais schon in der Psy
chologie immer mehr Anerkennung gefunden, aber als ein
rein psychologisches Problem, wâhrend erst der Husserlsche
Begriff der Intentionalitat als Leistung es ermôglichte, dass
auch die Fragen nach dem Wesen der Gegenstande in strenger
Korrelativitât zu den Strukturen des Bewusstseins behandelt
wurden. Fur sie hat dann Husserl den alten Terminus der

Ontologie unter einer Yerwandlung seiner Bedeutung aufg


nommen : Ontologie des Dinges in Korrelation zu den Bew
seinsleistungen, in denen es zur Gegebenheit kommt, das
der Sinn der Aufgabe, die sich Husserl mit seiner Analyse
sinnlichen Wahrnehmung und ihrer Modifikationen stellt
Darin liegt als ein weiterer Unterschied gegenuber der z
genôssischen Psychologie : es handelt sich bei diesen Korr
lationen, weder auf seiten des Bewusstseins noch auf seiten
der Gegenstande um blosse Zufâlligkeiten induktiver Empirie,
sondern um Wesenszusammenhânge, Wesensstrukturen sowohl
der intentionalen Leistung als des in ihr Geleisteten, des zur
Selbstgegebenheit kommenden Seienden. Auch das war eine
Einsicht, die sich Husserl urspriinglich in seiner Beschâfti
gung mit den Grundlagenfragen der Mathematik aufdrangte,
dass namlich nicht nur die formale Mathematik, die Arith
metik und Mengenlehre es mit Idealitâten zu tun hat, sondern
in ihrer Weise auch die Geometrie, namlich mit den Wesens
strukturen von Raumgestalt tiberhaupt, derart dass ihre Ein
sichten den Charakter unbedingter, nicht auf empirischem
Wege gewonnener Allgemeinheit haben. Aber ein Ding, wie
es in der Wahrnehmung gegeben ist, untersteht nicht nur die
sen Wesensgesetzen, die sich auf seine raumliche Gestalt bezie

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292 LUDWIG LANDGREBE

hen. Es hat immer irgendeine Farbe und ist als wirkliches


Ding, das nicht blosses Phantom sein soli, im Kausalzusam
menhang mit anderen Dingen. All das sind ebensowenig
zufallige Fakten wie die Gesetzlichkeiten seiner râumlichen
Gestalt, sondern Wesenszusammenhange dinglicher Struk
tur : ein Ding konnte gar nicht ein solches sein ohne diese
Strukturen. Und jeder solchen gegenstandlichen Struktur ent
sprechen seelische Leistungen, in denen der Gegenstand als
Seiendes dieser Struktur zur Selbstgegebenheit kommt, sich,
wie Husserl das dann ausdriickte, konstituiert.
So ist in der Grundkonzeption der Intentionalitat als Lei
stung von vornherein angelegt und schrittweise auf ihrem
Boden entfaltet die Korrelativitdt zwischen den Wesensstruk
turen der intentionalen Gegenstandlichkeiten und den Wesens
slrukturen der Erlebnisse, in denen diese Gegenstandlichkei
ten zur Gegebenheit kommen. Programmatisch ergibt sich
daraus zugleich die Forderung, dass jeder Art von Gegenstand
lichkeiten, von Seiendem korrelativ sein muss eine eigene Art
der Selbstgebung in intentionalen Leistungen, in entsprechen
den selbstgebenden Erlebnissen. Soli also Bewusstsein im
vollen Umfang seiner Leistungen begriffen werden, so miissen
aile Arten von Gegenstandlichkeiten in ihrer Wesensstruktur
als Leitfaden genommen werden, um von da zuruckzufragen
nach den ihnen entsprechenden Bewusstseinsvorkommnissen,
mit Bezug auf die allein die Bede von Seiendem, und im Falle der
Selbstgebung wahrhaft Seiendem solcher und solcher Art ihren
Sinn gewinnt. Das sagt zugleich : neben das „ analytische "
Apriori, die formal logisch-mathematischen Wesensstruktu
ren, wie sie in Korrelation zu den entsprechenden Bewusst
seinsleistungen vor allem das Thema der Logischen Untersu
chungen waren, tritt auf gegenstândlicher Seite das synthetische
Apriori, neben die formate Ontologie die materialen Ontolo
gien, als deren erstes Beispiel die apriorischen Einsichten der
Geometrie fungierten, dann aber auch die ubrigen Strukturen
raum-dinglichen Seins, und schliesslich — zunâchst freilich
mehr programmatisch gefordert als wirklich entwickelt, was
erst in den Entwurfen zum II. Band der Ideen geschah —
die Wesensstrukturen des nicht-dinglichen, des personalen
und anderen Seins : ailes in Korrelation zu den entsprechen
den Bewusstseinsleistungen.
Die universale Bedeutung dieses Korrelativismus wurde

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HUSSERLS PHANOMENOLOGIE 293

von Husserl freilich erst allmâhlich in dem Jahrzehnt bis zum


Erscheinen der Ideen (1913) herausgearbeitel und stand kei
neswegs von Anfang an, gleich nach dem Erscheinen der
Logischen Untersuchungen in dieser Weise fest. Um so ver
stândlicher war es, dass sie von seinen Schulern und alien
denen, die zwar nicht in eigentlichem Sinne seine Schiiler
waren, aber doch, wie etwa Max Scheler, bestimmende Einflusse
von ihm erfuhren, nicht in ihrem vollen Umfange gewiirdigt
wurde. Vielmehr war es zumeist nur eines der beiden Motive,
das mehr oder weniger unabhiingig vom anderen in den Vor
dergrund riickte, auf der einen Seite das deskriptiv psycholo
gische, das vor allem fur die Neugestaltung der Psychopatho
logie seine Fruchtbarkeit erwies *, auf der anderen Seite wurde
auf das ontologische das Schwergewicht gelegt (so bei A. Rei
nach, M. Geiger, H. Conrad-Martius). Dabei war es insbeson
dere die Wesenserschauung, die nicht nur bei der Frage nach
dem Seienden und seinen Regionen sondern auch in den de
skriptiv-psychologischen Analysen als der eigentliche Kern der
Phânomenologie und die wesentlichste Errungenschaft Hus
serls angesehen wurde. Von der Berufung auf Wesensein
sichten wurde dabei in einem viel ausgiebigeren Masse als
von Husserl selbst Gebrauch gemacht, und ohne dass in glei
cher Weise wie bei ihm iiber die methodische Eigenart der
„ Wesensschau " Rechenschaft abgelegt worden ware — was
vielfach die Phânomenologie als einen methodenlosen Intui
tionismus in Verruf brachte. Allgemein anerkannt war frei
lich von seinen Schulern Husserls Grundprinzip, dass jede Art
von Gegenstandlichkeiten ihre Weise der Anschauung haben
miisse, aber ohne dass wirklich der Zusammenhang von selbst
gebender Anschauung und Seinscharakter der Gegenstand
lichen zum Problem gemacht, ja Selbstgebung als intentionale
Leistung verstanden worden ware. Es blieb im allgemeinen
bei einem mehr oder weniger „ statischen " Korrelativismus
zwischen Intention und Gegenstand. So konnte denn auch —
und das vielfach bis heute — jenes Prinzip im Sinne der „ Wen

1 Hierzu wâren insberondere die Schriften von L.' Binswanger und


A. SchWenninger zu nennen, aber auch die Psychopathologie von K.
Jaspers und Kretschmers KGrperbau und Charakter sind in starkem Masse
von der Phânomenologie bestimmt. Die Psychologie selbst wurde von
A. PfXnder auf phanemenologischer Basis aufgebaut; von seinem Schuler
kreis wurde dann spater insbesondere die ontologische Problematik
gepflegt.

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294 LU DWIG LANDGREBE

dung zum Objekt " gedeutet werden, einer theor


Wesenserschauung des Wirklichen in alien seinen B
Mit dieser Deutung wird aber gerade das Wesentliche an
Husserls ontologischem Ansatz preisgegeben; diente er ihm
doch nicht dazu, einem naiven Realismus ein gutes Gewissen
zu geben und zu einer Flucht vor der Subjektivitât, sondern
gerade zur Yertiefung ihrer Problematik.
So war die erste phanomenologische Schule mit ihren
Ausstrahlungen durch eine Zwiespàltigkeit gekennzeichnet, die
darin lag, dass die zwei Hauptmotive der Phanomenologie
Husserls — das eidetisch-psychologische und das ontologische
— nicht in ihrer unlosbaren Zusammengehôrigkeit sondern
mehr oder weniger getrennt von einander aufgenommen und
verfolgt wurden. Damit soil keineswegs eine Kritik jener
Schule ausgesprochen sein, in der sich eine von dem hôchsten
Ethos getragene Zusammenarbeit von seltener Intensitât und
Fruchtbarkeit entfaltete; es soil damit nur aus der Eigentum
lichkeit der Entwicklung des Husserlschen Werkes heraus die
merkwiirdige Art seiner Aufnahme und Wirkung historisch
verstandlich gemacht, werden. Und da zeigt sich, dass jene
Zwiespàltigkeit auf einer hoheren Ebene im Prinzip dieselbe
war, die sich schon bei der Aufnahme der Logischen Unter
suchungen geltend gemacht hatte. Sie war auch hier wieder
darin begriindet, dass der eigentliche Sinn von Husserls
ursprvinglicher Konzeption der Intentionalitat nicht verstan
den wurde. Das ausserte sich auch darin, dass die wesent
liche Vertiefung so gut wie gar nicht beachtet wurde, die
Husserl dem Begriff der Intentionalitat gleich nach dem
Erscheinen der Logischen Untersuchungen in seinen Analysen
des Zeitbewusstseins gegeben hatte. In ihnen enthullt sich
bereits die ganze Tragweite seines Leislungsbegriffs der Inten
tionalitat, und ihnen mûssen wir uns nun zuwenden, weil sie
das Zwischenglied darstellen, durch das dann sein Uebergang
zur Problematik der phânomenologischen Reduktion ver
standlich wird.
Der Zusammenhang, in dem die Vorlesungen iiber das
innere Zeitbewusstsein 1 von Husserl (1905) das erste Mai aus
gearbeitet wurden, zeigt, dass es die schon fur die Fortfiihrung
der Logischen Untersuchungen behandelten Probleme der
1 Herausgegeben von M. Heidegger, Jahrbuch fur Philosophie und
phanom. Forschung, Bd. 9, 1928.

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HUSSERLS PIIA ISO ME NO LOG IE 295

âusseren Wahrnehmung waren, von denen Husserl in diesen


Bereich gefiihrt wurde. Die Analyse der Struktur der âus
ren Wahrnehmung fiihrt zur Frage nach den letzten Einheite
im Bewusstseinsstrom, aus denen sich aile synthetisch-kons
tutive Leistung aufbaut. Nach der Lehre Brentanos sind dies
letzten Einheiten die Akte, die als Gegenstande der inneren
Wahrnehmung von den Gegenstanden ausserer Wahrnehmun
unterschieden werden. Die Akte selbst, wie sie in der Beflexion
zugânglich werden, sind fiir ihn letzte Gegebenheiten. Hu
serl aber, fiir den auf Grund seiner Konzeption der Intention
litât jede Gegebenheit eines Gegenstandes Ergebnis einer syn
thetischen Leistung ist, in der sich dieser Gegenstand konst
tuiert, konnte dabei nicht stehen bleiben. Auch die Akte selb
mussten auf die intentionalen Leistungen hin befragt werden
auf Grund deren sie dann als immanente Einheiten fiir die
Beflexion gegeben sind. Jeder Akt ist ja selbst schon etwas im
Bewusstsein zeitlich Erstrecktes, eine Einheit der Dauer, in
der die verschiedenen Phasen ihres Dauerns von dem Ganzen
des fertig konstituierten Aktes unterschieden werden kôn
nen. So kam Husserl auf den zeitlichen Fluss des Bewusst
seins mit der Mannigfaltigkeit seiner Ablaufsphasen, in der
sich die Akte selbst als Einheiten konstituieren : sie sind nicht
einfach letzte Vorgegebenheiten, sondern selbst Produkte inten
tionaler Leistungen.
Darin liegt, dass es die Untersuchungen iiber das innere
Zeitbewusstsein keineswegs bloss mit der Gewinnung des
Bewusstseins von Zeit, von zeitlicher Dauer und Zeitverhalt
nissen als irgendwelchen objektiv vorgegebenen und feststehen
den Grôssen zu tun haben. Jede Annahme, jede Festsetzung,
Ueberzeugung beziiglich der objektiven Zeit, jede den Bewusst
seinsstrom transzendierende Setzung von Existierendem, etwa
von der Zeit als der „ Form " objektiver Gegenstande, ist von
vornherein ausgesihaltet. Nicht nach existierender Zeit wird
gefragt, sondern nur nach erscheinender Zeit und nach der
immanenten Zeit des Bewusstseinsverlaufes selbst (a. a. O.,
S. 369 f. ). Thema ist die Art und Weise, wie die Akte selbst
als zeitliche und korrelativ die in ihnen zur Gegebenheit kom
menden intentionalen Gegenstandliohkeiten als zeitliche
bewusst werden, also wie sich immanente Einheit als dauernde
iiberhaupt konstituiert. Das geschieht in dem ursprunglichen
Abfluss von Impression und retentionalem Behalten als einer

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29G LUDWIG LANDGREBE

untersten Leistung intentionaler Synthesis. Aber wa


ihr geleistet? Nicht bloss das Zur-Gegebenheit-bring
schon irgendwo im voraus vorhandener zeitlicher Dau
das Zur-Gegebenheit-bringen von Unterschieden zeitlicher
Dauer. Klar ist bereits geschieden diese psychologische Frage
nach dem Ursprung des Zeitbewusstseins von der hier gestell
ten phânomenologischen Frage. Erstere ist „ auf die primi
tiven Gestaltungen des Zeitbewusstseins gerichtet, in denen die
primitiven Differenzen des Zeitlichen sich intuitiv als Quellen
aller auf Zeit beziiglichen Evidenzen konstituieren " (a. a. 0.,
S. 373). Diese psychologische Frage bezieht sich nur auf das
Bewusstwerden von Dauer und von Unterschieden der Dauer,
auf die Schwellenwerte, die fiir das Erfassen der Unterschiede
der Dauer massgebend sind usw. — wobei aber diese Dauer
bereits als irgendwie an objektiven Masstàben messbare gedacht
wird, so dass die objektive Zeit selbst schon vorausgesetzt ist.
In den Husserlschen Untersuchungen dagegen ist von vorn
herein eine ganz andere Frage gestellt, nâmlich : wie kommen
wir uberhaupt dazu, etwas als zeitlich dauernd, zeitlich
erstreckt zu empfinden, rein in sich selbst und nicht in bezug
auf ein anderesp Irgendwo muss ja dieser Eindruck von Zeit
dauer und von Verfliessen von Zeit ursprunglich entstehen,
damit uns uberhaupt solches gegeben werden kann, was aut
seine Dauer hin messbar und vergleichbar ist. Jede Messung
von Zeit setzt das urspriingliche Bewusstsein von zeitlichem
Nacheinander, von zeitlicher Dauer, Erstreckung schon voraus.
Nach dessen Môglichkeit ist gefragt, also nicht nach dem Ein
druck von etwas, was schon vorher da ist und nun bloss erfasst
wird, sondern nach etwas, das in diesem urspriinglichen Zeit
bewusstsein selbst erst wird. Das urspriingliche Zeitbewusst
sein gewinnt damit den Charakter eines schopferischen Bewusst
seins; es ist kein blosses Erfassen vorgegebener Zeit, sondern
in seinem urspriinglichen Abfliessen bildet es uberhaupt erst
Zeit und bildet damit die Moglichkeit jeglichen Erfassens eines
vorgegebenen Nacheinander, einer vorgegebenen Dauer. In
diesem Sinne wird der Fluss des inneren Zeitbewusstseins von
Husserl als absolute Subjektivitat bezeichnet, fiir deren Momente
es eigentlich gar keine Namen gâbe (a. a. 0., S. 429). Denn
Namen sind ja immer Namen von solchem, was selbst schon
zeitlich ist, was nicht erst die Zeit bildet, sondern in der schon
vorgegebenen Zeit irgendwie ist. Diese ist fiir jene Strukturen

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HUSSERLS PHANOMENOLOGJE 297

des Zeitbewusstseins nicht vorausgesetzt, und so kann H


auch sagen : „ es gibt keine Zeit des urkonstituieren
wusstseins " (S. 432). D. li. seine Leistung ist kein Ereig
das sich in der Zeit abspielt, sondern vielmehr dasjenige,
sich Zeit erst bildet, und das jeglicher Rede von Zeit u
licher Struktur irgendwelcher Art uberhaupt ihren Sin
Damit ist angezeigt, dass sich Husserl mit diesen Frag
einer Dimension bewegt, die vordem von der Philoso
zumeist gar nicht betreten und gesehen war. Und di
sichten treten in diesem Zusammenhang nicht als ein
neuer Einfall auf, sondern sind nur die Konsequenz sein
schon urspriinglich leitenden Konzeption der Intentiona
Leistung. Es ist freilich damit auch klar, dass Bewusstsei
nicht als eine blosse Aufeinanderfolge, Kette von cogit
im Sinne der Tradition gefasst werden darf — so sehr H
diese Redeweise bis in seine letzte Zeit beibehielt — sondern
dass seine Grundstruktur etwas ganz anderes ist als all das,
was die Psychologie in ihrer Unterscheidung von Akten (unter
denen die des Denkens immer eine ausgezeichnete Stellung
einnahmen) erforschte. Ja man kann sagen, dass der Aus
druck „ Bewusstsein " fur diesen Inbegriff von Leistungen eher
irrefuhrend ist und in die Bahn einer von Husserl verlassenen
Tradition verweist. Es sind Strukturen, in deren Aufbau das,
was im iiblichen Sinne Bewusstsein genannt wird, nur eine
bestimmte, schon recht hohe Schichte darstellt. Der Leistungs
begriff des Bewusstseins, Intentionalitât als Leistung, diese
ursprungliche Konzeption, die Husserl von Anfang an leitete,
enthiillt erst mil dem Vordringen in diese Dimension des
Fragens seine ganze Bedeutung und macht es verstandlich, wie
aile weitere Fortbildung der Phânomenologie bis in die letzte
Epoche hinein und der Universalitatsanspruch, den die phâ
nomenologische Methode stellt, nur die Konsequenzen dieses
Ansatzes sind.
Von den damaligen Schiilern wurde das keineswegs ver
standen, sondern diese Untersuchungen nur als spezielles Pro
blem psychologisch-phânomenologischer Analyse aufgenom
men. In âhnlichen Sinne hatte ja Brentano bereits fruher
und offenbar, ohne dass Husserl Kenntnis davon hatte, ein
Diagramm der Zeit entworfen, und sein Begriff der Proteras
these deutet in ahnliche Richtung wie Husserls Begriff der
Retention. Nur dass es eben bei Brentano tatsachlich ein rein
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298 LTJDWIG LANDGREBE

psychologisches Problem blieb, das nicht in Zusammenh


gebracht wurde mit den erkenntnistheoretischen und o
gischen Grundfragen, und gar nicht gebracht werden ko
weil der Bewusstseinsbegriff Brentanos sich in den ang
teten Grenzen hielt.
Der Uebergang zu den Leistungen des Zeitbewusstseins ist
der erste Ansatz dazu, Bewusstsein als sich selbst herstellendes
zu begreifen : die Leistung der Intentionalitat ist zuunterst
Schôpfung seiner selbst als eines verlaufenden, strômenden.
Das heisst nicht Schôpfung in einen schon vorgegebenen zeit
lichen Raum hinein, sondern Schôpfung der Moglichkeit von
Yerlauf uberhaupt. Dieser Anspruch mag zunâchst ubertrieben
klingen. Bewusstsein hat doch seinen Anfang und sein Ende
in der Zeit, es ist gebunden an organische Yorgânge und mit
ihnen vergehend. Aber allé diese Reden von „ in der Zeit " sei
enden Vorgangen setzen schon die Zeit voraus, und eben sie ist
es, deren Selbstbildung hier erst verstandlich werden soil. Um
jedoch Bewusstsein in dieser Weise als sich selbst herstellendes
und damit die Moglichkeit von zeitlicher Folge uberhaupt erst
vorgebendes zu begreifen und nicht immer wieder in die Ver
suchung zu verfallen, es als zeitliches Ereignis in eine schon
vorgegebene Zeit hineinzuversetzen, bedarf es der universalen
Ausschaltung aller den reinen Bewusstseinsstrom transzendie
renden Setzungen und Annahmen, und sie muss methodisch
vorgenommen werden (vgl. a. a. 0., S. 369 ff.). Bei den
Analysen einzelner Aktzusammenhânge und Synthesen, wie
derer des Wahrnehmens, war diese Reduktion rein auf das
Bewusstsein und das in ihm Vermeinte, so wie es vermeint
ist, kein besonders schwieriges Problem. Und in diesem Sinne
wurde die Reduktion auch von der phanomenologischen
Schule uberall dort angewendet, wo es sich um intentional
analytische Untersuchungen handelte. Aber sobald das Zeit
bewusstsein in seinem selbstchôpferischen Charakter in den
Blick tritt, ist es nicht mehr moglich, die Reduktion als einen
blossen methodischen Kunstgriff zur Herbeifiihrung rein innen
psychologischer Analyse zu behandeln und den Seinscharakter
der intentionalen Gegenstandlichkeiten einfach dahingestellt
sein zu lassen. Vielmehr ist dann mit dem Problem des
Bewusstseins das des Seins in seiner Universalitat aufgero
Denn jegliches Seiende wird ja in irgendeiner Weise durch
seinen Bezug zur Zeit bestimmt. Es ist in der Zeit, zeitlich

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HUSSERLS PHANOMENOLQGIE 299

dauernd, oder „ uberzeitlich was ja auch einen gewissen


Bezug zur Zeit in sich schliesst. 1st somit die urspriinglichst
und tiefstliegende Leistung des Bewusstseins als Zeitbildung
begriffen, dann ist es nur konsequent, dass auch jegliches
Seiende nicht anders als in seinem Ursprung aus Leistungen
des Bewusstseins verstanden werden kann. Bewusstsein ist
dann nicht mehr ein Seiendes oder ein Vorkommnis an einem
bestimmten Seienden, sondern absolute Subjektivitât, deren
Momente „ keine Namen " haben, weil aile Namen ihrer
ursprunglichen Bedeutung nach Bezeichnungen von schon
konstituiertem Seienden sind. Aber gerade dann bedarf es einer
eigenen Methodik, um absolute Subjektivitât in dieser Bein
heit herauszuarbeiten und allé sich immer wieder vordrangen
den objektivierenden Tendenzen abzuwehren.
So ist es gewiss nicht zufâllig, dass Husserl gleich nach
der Ausarbeitung der Vorlesungen iiber das Zeitbewusstsein den
Besinnungen iiber die phânomenologische Beduktion einen
immer breiteren Baum gab. Schon 1907, zwei Jahre darauf,
hat er sie in Vorlesungen das erste Mai dargestellt, und von
da ab war sie ein Hauptthema, das ihn bis an sein Lebensende
begleitete. Das bedeutete fur Husserl nicht eine Abwendung
von der sachlich gerichteten Forschung auf Methodenerwagun
gen — wie es oftmals gedeutet wurde — sondern die bisherigen
Ausfiihrungen durften schon erkennen lassen, wie die Beduk
tion fur ihn nichts anderes ist als das Eingangstor in die Meta
physik, ja die Methode der Metaphysik selbst. Sie ist nichts,
was im vorweg ein fiir allemal abgetan werden kann, sondern
jede phânomenologische Analyse stôsst in immer neuen und
immer tieferen Schichten auf die Notwendigkeit der Beduktion,
um von allem bereits konstituierten Sein auf die letztkonstituie
rende absolute Subjektivitât zu kommen. Nur auf Grund der
phanomenologischen Beduktion ist die Phânomenologie in die
Lage gesetzt, den Anspruch auf Universalitat zu erheben, nâm
lich, wo immer von Sein und von Seiendem die Bede ist, ihren
Sinn durch Biickgang auf die Leistungen der Subjektivitât, in
denen sich das Sein konstituiert, aufklaren zu kônnen.
Sein und Bewusstsein sind danach untrennbare Korrelate.
Welt, das Ganze des Seienden, ist in funktionaler Abhangigkeit
von Bewusstsein. Sie ist nichts anderes als ein System inten
tionaler Pole, in denen sich die Intentionen der gemeinschaft'
lich erfahrenden Subjekte in Einstimmigkeit treffen und bewah

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300 LUDWIG LANDGREBE

ren. Das heisst zugleich, ailes, wovon wir uberhaupt s


reden konnen als von einem Seienden, ist Index fiir
seinsleistungen, in denen dieses Seiende zur Gegebe
bringen ist. Die Reden von einer dem Bewusstsein sch
unzugânglichen Transzendenz sind leere Worte, bei d
uns uberhaupt nichts eigentlich vorstellen konnen. J
nach dem Sinn von Sein, danach was es uberhaupt fii
Sinn haben mag, von etwas zu sagen „ es ist " und „
und so kann nur eine Frage nach den Bewusstseinslei
sein, in denen sich dieses Sein ausweist, und die den
darùber ihre Bedeutung verleihen. Es mùssen durc
die alien Reden der Philosophie, der Metaphysik Be
gebenden Erlebnisse aufweisbar sein, und die Method
Aufweisung ist die universale Intentionalanalyse. D
Kiirze der Gedanke, der den Universalanspruch der p
nologischen Methode begriindet. Wird sie wirklich u
in immer neuen Schritten der Reduktion durchgefuhr
nichts draussen bleiben, was uberhaupt môgliches Th
Philosophie ist.
Es wûrde den Rahmen dieser Betrachtungen iibersc
tiber diese Andeutungen hinauszugehen und eine Dar
der schwierigen Problematik der Reduktion mit de
Paradoxien, auf die sie fiihrt und die in ihrer Durch
gelôst werden, zu versuchen. Nur der Ansatzpunkt d
blematik musste hier bezeichnet werden, der Punkt, in
historisch urspriinglich motiviert ist. Denn die Entw
des Husserlschen Werkes sollte nur soweit verfolgt w
es nôtig ist, um seine tatsâchlich bis heute vorliegen
geschichtlich bedeutsam gewordenen Auswirkunge
stehen. Die phânomenologische Reduktion dagegen ge
dem bisher noch mehr oder weniger unbekannten H
Sie ist, obzwar das Zentrum seiner Lehre und das Generalthema
seiner beiden letzten Lebensjahrzehnte, dem er immer erneute
Bemuhungen widmete, doch dasjenige an ihr, was bisher am
wenigsten verstanden wurde und gewirkt hat. In der Tat ist
mit der fortschreitenden Entfaltung der Lehre von der Reduk
tion der Punkt bezeichnet, von dem ab die Gottinger phânome
nologische Schule fast durchwegs Husserl die Gefolgschafl ver
weigerte, wie ja in ihr auch der Schritt vorher (die Zeitanalyse),
der von den alteren intentionalanalytischen Uutersuchungen
das Bruckenglied zur Reduktion hâtte bilden konnen, nicht

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HUSSERLS PHANOMENOLOGIE 301

in seiner systematischen Tragweite erkannt wurde


dass die zentrale Stellung, die die Reduktion dann in den
Ideen einnahm, anstatt als konsequente Fortbildung der schon
in der Philosophie der Arithmetik und den Logischen Unter
suchungen angesehlagenen Motive, vielmehr als Abfall von
den ursprunglichen Tendenzen Husserls, als argerliche An
naherung an einen Idealismus neukantischer Prâgung aufgefasst
wurde. Zu sehr war die Deutung der ontologischen Wendung
Husserls als einer realistischen „ Wendung zum Objekt " bereits
zur vermeintlichen Selbstverstandlichkeit geworden. Erleich
tert wurde dieses Missverstândnis dadurch, dass sich in der
Ausdrucksweise der Ideen manche âusserliche Akkomodationen
an den Neukantianismus, insbesondere Natorp'scher Prâgung
finden, die unter Umslanden den Leser iiber die prinzipiellen
Unterschiede hinwegtâuschen kônnen l. Das Erscheinen der
Ideen, mit denen Husserl seinen Schlilern das erste Mai eine
umfassende Darstellung und einen Leitfaden an die Hand geben
wollte, bezeichnete daher anstatt dessen paradoxer Weise im
Grunde das Ende der Gôttinger phanomenologischen Schule,
das dazu noch bald darauf durch den Einschnitt des Welt
krieges und die Wegberufung Husserls nach Freiburg (1916)
auch im ausserlichen Sinne herbeigefiihrt wurde. Von da ab
war Husserl eigentlich ein einsamer Denker; eine so breite
schulbildende Wirkung wie in Gottingen blieb ihm in seiner
Freiburger Zeit versagt. Vielmehr ging seine Wirkung vo
da ab mehr von Fall zu Fall auf einzelne Personlichkeiten,
durch die sein Lehre aufgenommen und umgebildel wurde.

III. Heidegger und das Problem einer Grenze


der phanomenologischen Methode

Der wichtigsten dieser Umbildungen, die in der Philoso


phie M. Heideggers vorliegt, miissen wir uns nun zuwenden.
Sie hat unser Interesse nicht nur deshalb, weil von ihr die
mâchtigste Wirkung ausgegangen ist, sondern vor allem auch,
weil die Einwande Heideggers gegen Husserl viel radikaler
sind und viel mehr aufs Ganze gehen als allé die Vorbehalte,

1 Husserl war mit Natorp eng befreundet und gerade in der dama
ligen Zeit in starkem persônlichen Kontakt. Seine 1912 erschienene
Allgemeine Psychologie hatte er zum Gegenstand eingehenden Studiums
und mehrfacher Seminarùbungen gemacht.

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302 LUDWIG LANDGREBE

die Husserls friihere Schtiler gegeniiber seiner Lehre ma


Sie richten sich gegen nichts anderes als gegen den Uni
litatsanspruch, den Husserls Methode stellt und konsequ
weise stellen muss. So wird fiir uns die Erwâgung dieses
Gegensatzes keineswegs von bloss historischem Interesse sein,
sondern zugleich einen tieferen Einblick in die Grundlagen
der Phânomenologie Husserls selbst ermôglichen und vor ein
sachliches Problem stellen : das Problem einer Grenze der

Husserlschen Methode konstitutiver Intentionalanalyse.


Wenn wir also die Motive verfolgen, die von Husserl z
Heidegger fiihren, muss vorweg gesagt werden, dass es n
moglich ist, die Philosophie Heideggers allein aus der Auf
nahme und Umbildung Husserlscher Gedanken zu verstehen,
sondern dass in ihr Einfliisse ganz anderer Herkunft, aus sei
ner Beschâftigung mit Aristoteles, Augustinus, Kierkegaard
stammend, eine mindestens ebenso grosse Rolle spielen. Aber
da unser Thema die Auswirkungen der Phânomenologie sind,
kann es hier nicht auf eine Gesamtwiirdigung der Philosophie
Heideggers ankommen, sondern nur auf das Verstândnis des
Gegensatzes, in dem er zur Phânomenologie Husserls steht.
Wir sind dabei nicht in der gliicklichen Lage, uns auf eine
ausdruckliche Auseinandersetzung beziehen zu kônnen — eine
solche wurde von keiner Seite, weder von Husserl noch von
Heidegger vorgenommen. Wir kônnen nur nach den verbor
genen Hintergrunden einer Differenz fragen, die publizistisch
bei Heidegger nur in gelegentlichen Bemerkungen zum Vor
schein kommt und bei Husserl in der scharfen Abgrenzung
seiner Phânomenologie gegeniiber der „ Existenzphilosophie "
im „ Nach wort " zu seinen Ideen \ Erschwert wird das Ver
stândnis dieses Verhâltnisses noch dadurch, dass wohl keiner
der beiden Philosophen die Position des anderen in ihrem gan
zen Umfang uberblicken konnte, so dass sich auf beiden Seiten

1 Man hat sich daran gewôhnt, die Philosophie Heideggers in einem


Atem mit der von K. Jaspers unter dem Titel der Existenzphilosophie zu
nennen. Es wird dabei libersehen, dass die Problematik der menschlichen
Existenz bei Heidegger zwar einen wichtigen Ansatzpunkt, keineswegs
aber den Kern seiner Philosophie ausmacht — ganz anders als bei Jaspers.
Fur ihn allein ist die Bezeichnung „ Existenzphilosophie " zutreffend. Ob
fur ihre Ausbildung direkte Einfliisse Heideggers massgebend gewesen
sind oder nur die gemeinsame Bezugnahme auf Kierkegaard'sche Motive,
wagen wir nicht zu entscheiden. Feststehen diïrfte jedoch, dass die
Husserlsche Phanomenologie in ihrer spateren Entwicklungsphase auf
Jaspers keinen merklichen Einfluss mehr ausiibte.

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HUSSERLS PHANOMENOLOGIE 303

fiir manche kritische Aeusserungen leicht nachweisen l


dass sie auf einer Fehlinterpretation beruhen. Trotzdem
ein tieferer, sachlicher Grund des Gegensatzes bestehen
freilich nicht durch Zitate belegt, aber aus den untersc
lichen Ansâtzen her erschlossen und gedeutet werden ka
Wenn wir zunâchst nach den beiden Denkern gemein
men Ueberzeugungen fragen, so finden wir vor allem ein
methodisches Grundprinzip der Phânomenologie, das ebenso
wie von der âlteren phânomenologischen Schule von Heidegger
vorbehaltlos anerkannt ist, das Prinzip, dass jede Art von
Seiendem ihre, nur ihr gemâsse Weise der Selbstgebung habe,
und nur auf Grund dieser Selbstgebung iiber sie sinnvolle
philosophische Feststellungen gemacht werden kônnen. Und
zwar ergreift Heidegger dieses Grundprinzip in einer bestimm
ten Fassung, die ihm Husserl schon einige Jahre vor der Nie
derschrift seiner Ideen gegeben hatte, der gemass es sich in
Gestalt der Forderung nach Iierstellung eines „ natiirlichen
Weltbegriffs " darstellte. Dieses Problem des natiirlichen
Weltbegriffs war bei Husserl keineswegs bloss als das einer
theorienfreien Beschreibung des Seienden gestellt, sondern hatte
seine bestimmte Funktion im Gesamtzusammenhang der Syste
matik, die in der Lehre von der phânomenologischen Reduktion
gipfelte. Diese Funktion ist kurz folgendermassen zu kenn
zeichnen.

Die Intentionalanalyse als die universale Enthullung der


Bewusstseinsleistungen lâsst sich, wie schon erwahnt, ihre
Leitfâden von den Gegenstandlichkeiten vorgeben, von der.
jeweils verschiedenen Seinsart des Gegenstândlichen, die jeweils
eine eigene Art von Bewusstseinsleistungen vorzeichnet, in
denen Seiendes dieser Region zur Gegebenheit kommt. Wenn
daher die Frage nach den Bewusstseinsleistungen richtig ange
setzt werden soil, bedarf es vor allem der Einsicht in die Struk
tur und Aufeinanderschichtung, das Fundierungsverhâltnis der
Gegenstandlichkeiten selbst. Nur so kann verstanden werden,
was eigentlich und urspriinglich der Gegenstand der Erfahrung
ist, und was dementsprechend die untersten und primitivsten
Leistungen des Bewusstseins sind, und was dagegen schon
hôherstufig konstituierter Gegenstand und korrelativ hôherstu
fige Bewusstseinsleistung ist. Die herrschende naturwissen
schaftliche Tradition legte nun hinsichtlich des urspriinglichen
Gegenstandes der Erfahrung bestimmte Vorurteile nahe, nam

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304 LUDWIG LANDGREBE

lich dass der Gegenstand, so wie er in naturwissensch


„ exakter " Bestimmung sich herausstellt, das im eig
und urspriinglichen Sinne Seiende sei, und ailes ande
ein Ueberbau, ein Bekleben dieses rein „ objektiven Gegen
standes " mit „ Wertprâtikaten " und dgl. Damit ist verkannt,
dass der Gegenstand im Sinne der mathematisch-psysikalischen
Naturwissenschaft selbst gar nichts Ursprungliches ist, nichts
was unmittelbar in der Erfahrung gegeben ist, sondern viel
mehr ein Produkt bestimmter Methoden, die an dem unmit
telbar Erfahrenen geiibt werden, — Methoden, die ein bestimm
tes Ziel haben und schon einen abstraktiven Abbau der Welt,
so wie sie in ursprunglicher unmittelbarer Erfahrung da ist,
vorausssetzen. \Vill man also die wirklich urspriingliche
Aufgliederung des Seienden, des Gegenstandlichen in seine ver
schiedenen Bereiche, Begionen auffinden, wie es dann Leit
faden fiir die Frage nach den zugehorigen Bewusstseinsleistun
gen wird, so muss man diese Fiille von Vorurteilen abtragen,
die Jahrhunderte, geblendet von dem Ideal exakter Erkenntnis
aufgehâuft haben, und muss zum Seienden vordringen, wie
es ganz unmittelbar in der Erfahrung gegeben ist, zur Welt
aus reiner Erfahrung, m. a. W. muss man einen „ naturlichen
Weltbegriff" gewinnen. Das Problem des naturlichen Welt
begriffs war schon vom Positivismus aufgeworfen worden,
aber gerade hier verkehrte sich die urspriingliche Absicht in
ihr Gegenteil, indem die Ueberzeugung herrschend blieb, dass
ein solcher natiirlicher Weltbegriff nicht anders gewonnen
werden kônne als durch Zerlegung der Welt in Sinnesdaten
als ihre letzten Elemente, in denen ganz im Sinne mechanis
tisch-sensualistischer Denkweise das eigentlich und urspriing
lich Seiende, die letzten Gegebenheiten der Erfahrung zu finden
seien. Bei Husserl erhielt die Forderung eines naturlichen
Weltbegriffs demgegeniiber ein neues Gewicht und wurde
umgedeutet im Sinne des Urprinzips der Phanomenologie,
indem er als die wirklich urspriingliche Erfahrung nur die
gelten liess, die auch von jenen naturwissenschaftlichen Vorur
teilen frei ist, und von der schon mathematisierten Welt zur
unmittelbaren menschlichen Umwelt, spater die „ Lebenswelt "
genannt, vordringt. Aber im Unterschied von der âlteren
phanomenologischen Schule, die ja auch eine theorienfreie
Vertiefung in das Wesen der Gegenstande als die Grundforde
rung phanomenologischer Methodik ansah, ohne dem Welt

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HUSSERLS PHENOMENOLOGIE 305

begriff selbst ihre Aufmerksamkeit zu schenken, war es bei


Husserl gerade dieser, wobei jedoch seine Problematik und die
Aufgabe einer Herstellung der reinen Erfahrung immer eine
dienende Funktion behielt : vor dem Vollzug der Reduktion
und vor den auf ihrem Boden durchzufiihrenden konstitutiven

Bewusstseinsanalysen bedarf es der Gewinnung der Leitfâden


durch Herausstellung der Welt, wie sie in urspriinglicher
Erfahrung erschlossen ist.
Fur Heidegger liegt in dieser ProblemsLellung wohl eine
der wichtigsten Anregungen, die er von Husserl erhalten hat.
Das In-der-Welt-sein ist fiir ihn eine Grundstruktur des Daseins;
Welt zu verstehen in ihrem Bezug zum Dasein und dieses selbst
in der Weise, wie es ursprûnglich weltlich ist und Welt hat, ist
das Thema der Fundamentalontologie, mit, der er die Aufgabe,
den natiirlichen Weltbegriff herauszuarbeilen iibernimmt
Sie ist fiir ihn freilich nicht wie fiir Husserl eingebaut in die
Systematik der Reduktion, die er ablehnt. Das sagt aber nicht,
dass fiir ihn dieses Problem des natiirlichen Weltbegriffs nur
eine theorienfreie Beschreibung des Seienden in seinem Wesen
in sich schliesst, wie fiir die alteren Schiiler Husserls; vielmehr
hat es bei ihm eine Vertiefung erhalten, so dass auch der
Grund, aus dem er die Reduktion ablehnt, ein ganz anderer
ist als bei jenen. Worin diese Vertiefung liegt, das kann schon
aus der Erôrterung des Phânomenbegriffs in der Einleitung
von Sein und Zeit ersichtlich werden.
Mlgemein und formal gesprochen besagt danach Pliano
men das „ sich-an-ihm-selbst-Zeigende ". Innerhalb dieses
Formalbegriffs von Phanomen ist zu unterscheiden der vulgare
Phanomenbegriff vom phanomenologischen. Der vulgare ist
derjenige, den die altere phanomenologische Schule als den
allein massgeblichen anerkannte. Mit ihm sind gemeint die
Erscheinungen im Kantischen Sinne, d. h. dasjenige, was durch
empirische Anschauung zuganglich ist. Aber gerade dies ist
es nicht, was der phanomenologische Begriff von Phânomen
unter sich befasst. Vielmehr kann, wieder im Horizont der
Kantischen Problematik gesehen, das was phanomenologisch
unter Phanomen zu verstehen ist, so begriffen werden, dass
wir sagen : „ was in den Erscheinungen, dem vulgar verstan
denen Phanomen, je vorgangig und mitgângig, obzwar un

1 Vergl. Sein und Zeit, S. 52.

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306 LUDWIG LANDGREBE

thematisch, sich schon zeigt, kann thematisch zum S


gebracht werden und dieses Sich-so-an-ihm-selbst-
(,Formen der Anschauung') sind Phanomene der Phâno
menologie " (Sein und Zeit, S. 31). Wir kônnen sie demnach
verstehen als die in der normalen, gerade auf das Seiende
gerichteten Erfahrung unthematisch und verhullt bleibenden
Bedingungen der Môglichkeit der Erfahrung, als das „ was
wesenhaft zu dem, was sich zunachst und zumeist zeigt, gehort,
so zwar, dass es seinen Sinn und Grund ausmacht" (a. a. 0.,
S. 35). Die Phanomene in diesem Sinne sind also nicht das
Seiende, so wie es unmittelbar in der Erfahrung gegeben ist,
sondern das, was das Sein des Seienden ausmacht, was m. a.
W. verstehen lâsst, inwiefern wir jeweils von seinem Sein
sinnvoll sprechen kônnen : „ der phânomenologische Begriff
von Phanomen meint als das Sich-zeigende das Sein des Seien
den, seinen Sinn, seine Modifikationen und Derivate". Die
Phanomene in diesem Sinne sind aber nichts anderes als die
Strukturen des Daseins selbst, mit Bezug auf die jede Rede von
Sein und Seiendem ihren Sinn erhâlt. Ihre Enthiillung ist
die Aufgabe der Fundamentalontologie, die die Grundlage fur
jede weitere ontologische Frage abgibt. Auch hier erfolgt
also ebenso wie bei Husserl an Stelle der realistischen „ Wen
dung zum Objekt", die fur die altéré phânomenologische
Schule charakteristisch ist, die Riickwendung in die Tiefen
der „ Subjektivitât " — wenngleich Heidegger die Termini
„ Bewusstsein ", „ Subjekt " und „ Subjektivitât " meidet, um
die Môglichkeit einer Deutung seiner Analysen abzuschneiden,
die irgendwie in die Bahnen des traditionellen Subjekt-Objekt
Problems zurùckkehrt. Husserl konnte demgegenuber frei
lich einwenden, dass es nichts anderes seien als Strukturen der
Subjektivitât, des Bewusstseins und seiner intentionalen Lei
stungen, was hiermit Thema geworden ist : der Subjektivitât
als der Bedingung. der Môglichkeit fur jede Gegebenheit von
Seiendem iiberhaupt — wenn nur die Rede von Bewusstsein
in dem umfassenden und tiefen Sinne genommen wird, wie
er es getan hat. Und anscheinend liegt bei Heidegger die
gleiche Wendung vor, die bei Husserl zuerst in aller Deut
lichkeit in den Ideen ihren Niederschlag fand. Warum aber
dann an Stelle der „ absoluten Subjektivitât " und ihrer inten
tionalen Leistungen die Endlichkeit des Daseins, und warum

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HUSSERLS PHANOMENOLOGIE 307

die Ablehnung der Reduktion als des Zugangsweges z


verhiillten Tiefen der Subjektivitat?
Es liegt nahe, dass man, nach den Griinden dieser Dif
ferenz fragend, sich an die Stellen in Heideggers Schriften halt,
aus denen sich ergibt, dass fur ihn Intentionalitat lediglich
das „ Verhalten zum Seienden " ist. Dann erscheint sein Ein
wand begreiflich, dass man jegliches Verhalten zum Seienden
nur auf Grand der Struktur des In-der-Welt-Seins verstehen
und nicht umgekehrt das In-der-Welt-sein durch Intentional
analyse aufklâren kônne. So gesehen behalt zwar die Aufgabe
der Intentionalanalyse ihren guten Sinn, aber doch einen bloss
untergeordneten, nâmlich denjenigen der Untersuchung einer
bestimmten und speziellen Struktur des In-der-Welt-seins (vgl.
dazu Sein und Zeit, S. 115). Es ist jedoch klar, dass diese
Auffassung der Intentionalitat hôchstens dem iiblichen psy
chologischen Begriff von Intentionalitat gerecht wird, nicht
aber demjenigen Husserls. Denn gerade wenn Intentionalitat
als Leistung verstanden ist und ihre tiefste Schichte als Zeiti
gung, Zeitbildung, dann kann sie keineswegs bloss Verhalten
zum schon vorgegebenen Seienden bedeuten, sondern dann
muss ihre Leistung Selbstbildung der Zeit, Bildung der Môglich
keit, sich iiberhaupt Seiendes begegnen zu lassen, sein. Verhal
ten zum Seienden ist im Sinne Husserls bloss eine bestimmte
Schichte der Intentionalitat, nâmlich diejenige der A ktintentio
nalitat, der einzelnen Akte, in denen wir, wie etwa in der sinn
lichen Wahrnehmung, uns rezeptiv erfassend verhalten, oder,
wie im prâdikativen Urteilen, spontan tâtig. Es ware jedoch
falsch, die Differenz, durch die Heidegger von Husserl geschie
den ist, lediglich aus einem solchen offenbaren Missverstandnis
der Tragweite des Husserlschen Begriffs der Intentionalitat her
zuleiten und damit abtun zu wollen. Ihr Grand muss tiefer
liegen und auch dann noch bestehen bleiben, wenn dieses an
der Oberflache liegende Missverstandnis beseitigt ist.
Einen Hinweis auf die Richtung, in der wir suchen miissen,
geben die zahlreichen Stellen in Sein und Zeit, in denen sich
Heidegger gegen das theoretische „ nur hinsehen " des „ unbe
teiligten Zuschauers " wendet als die Weise, in der sich nach
Husserl die Welthabe und Erfahrung ermôglichenden Struk
turen der Subjektivitat und von da aus der Sinn des Seins iiber
haupt erschliessen sollen. Nicht die Reflexion des unbetei
ligten Zuschauers kônne es sein, die das leistet, sondern nur

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308 LUDWIG LANDGREBE

der Vollzug der Existenz selbst; und aile Philosophie


die Funktion, die schon immer im Dasein geschehend
physik ausdriicklich werden zu lassen.
Es geht nicht an, diesen Gegensatz einfach auf de
schied der beiden Denkerpersônlichkeiten zuriickzufu
etwa zu sagen, es handle sich im einen Fall um eine k
plativ gerichtete, im anderen um eine mehr aktivist
stellung. Vielmehr miissen wir versuchen, den freilich nir
gends ausgesprochenen sachlichen Grund dieser Differenz durch
Interpretation aufzufinden und von ihren in die Augen sprin
genden Erscheinungsformen zu ihrem eigentlichen Kerne vor
zudringen.
In der Tat ist Husserls Methode eine Methode der universalen
Reflexion, und die Haltung des reflektierenden phânomeno
logischen Ich kann keine andere sein als die des „ unbeteiligten
Zuschauers ", wenn durch die Reflexion wirklich die Bewusst
seinsstrukturen in der Universalitât ihrer Leistungen enthiillt
werden sollen. Wenn sich Heidegger gegen das „ unbeteiligte
Zuschauen " wendet, so liegt darin also ein Angriff auf einen
Kerngedanken der Phanomenologie Husserls, und zwar auf
denjenigen, der den Anspruch seiner Methode darauf, einen
universalen Zugangsweg zu alien philosophischen Problemen
zu verbûrgen, begriindet. Dass notwendig dieser Zusammen
hang zwischen der Haltung des phânomenologisierenden Ich
als eines „ unbeteiligten Zuschauens " und dem Universalitâts
anspruch der phânomenologischen Methode besteht, kann
durch folgende Erwagung verstandlich werden.
Durch die Reduktion ist jede das Bewusstsein transzendie
rende Setzung eingeklammert. Der Phânomenologe zieht sich
auf die Betrachtung seiner Bewusstseinszusammenhânge und
ihrer Leistungen zuriick. In ihnen hat er, wenn Intentionalitat
wirklich in ihrer Tiefe als Leistung verstanden ist, freilich kein
isoliertes und in seine Immanenz eingekapseltes Subjekt, son
dern die ganze Welt als von ihm vermeinte, sich in seinen
intentionalen Leistungen aufbauende. Von den Einwanden,
dass dieses Vorgehen zu einer weltlosen Immanenz, einem
Solipsismus usw. fvihre, kann leicht gezeigt werden, dass sie
auf einem Missverstândnis des Begriffs der Intentionalitat beru
hen. Sie sind nicht geeignet, etwas Stichhaltiges gegen die
Methode Husserls vorzubringen und die Diskussion uber ihre
Tragweite und ihre etwaigen Grenzen auf einen festen Boden

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61.218.4fff:ffff:ffff:ffff on Thu, 01 Jan 1976 12:34:56 UTC
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HUSSERLS PHENOMENOLOGIE 309

zu stellen. Dass nach der phanomenologischen Reduktion


das All des Seienden, darin eingeschlossen Ich selbst, der Phi
losophierende als dieser Mensch in der Welt und ebenso die
„ Anderen " als von innen her, durch Bewusstseinsleistungen
sich Aufbauendes verstândlich und zugânglich werden, das
setzt naturlich nicht nur iiberhaupt Reflexion auf irgendwelche
Bewusstseinsvorgânge voraus, nicht nur iiberhaupt eine Wen
dung des Blickes zurtick von der geraden thematischen Rich
tung auf die Gegenstânde auf die die Gegenstânde konstituie
renden Erlebnisse, sondern es setzt voraus, dass die Reflexion
universal wird : sie darf nichl bloss gelegentlich bleiben und
nur dienende Funktion in irgendwelchen Zusammenhiingen
des praktischen Verhaltens haben. Solche gelegentliche
Reflexion kommt auch im ausserphilosophischen tâglichen
Leben haufig genug vor; ich wende mich von der Richtung
auf die Gegenstânde zurûck auf meine Erlebnisse, elwa um
festzustellen, ob sie mich triigen. Dann bin ich als der prak
tische Mensch interessiert etwas zu tun, und die Reflexion dient
nur diesem Tun; sie ist gelegentlich, meine faktischen Inte
ressen, das was ich selbst faktisch bin und erstrebe, ist dabei
bejaht. Durch die Reduktion ist aber all das eingeklammert,
nicht nur meine Glaubenssetzungen sondern auch meine prak
tischen Ziele, meine Willenssetzungen sind mit eingeklammert.
Ich vollziehe sie nicht mehr mit, sondern verhalte mich ihnen
gegeniiber und meinem gesamten Erleben gegeniiber als unbe
teiligter Zuschauer. Nur so kann die Reflexion universal wer
den und das Ganze der Bewusstseinsleistungen enthullen. Die
gelegentliche reflektive Blickwendung, die im Dienste irgend
welcher praktischen Zielsetzungen steht, ev. auch im Dienste
einer gegenstândlich gerichteten Erkenntnispraxis, kann gar
nicht universal sein; sie ist befriedigt, wenn sie ihr jeweiliges
Ziel erreicht hat; dann wird sie als Haltung aufgegeben und
der Blick gehl wieder in der geraden Richtung auf die Gegen
stânde. In der universalen Reflexion, wie sie durch den Voll
zug der Reduktion ermoglicht wird, bin mit allem anderen
auch ich selbst als der faktische Mensch mit seinen Zielen und
seinem Wollen eingeklammert — was freilich keineswegs heis
sen soil, dass der Phanomenologe aufhôrte Mensch zu sein.
Es heisst nur : fur die Frage nach dem Sinn des Seins und jeg
lichen bestimmten Soseins muss von diesem Faktum abgesehen
werden, der Hinblick darauf kônnte zu ihrer Beantwortung

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310 LUDWIG LANDGREBE

nichts beitragen. Nur durch seine Einklammerung und die


universale Reflexion wird in Universalitât die Wesenskorrela
tion zwischen Sein und Bewusstsein und die funktionale Ab
bângigkeit des Seins von Bewusstseinsleistungen zuganglich.
Es ist dann gar nicht mehr die Frage nach meinem faktischen
Sein, nach meinen faktischen, durch den Augenblick und
seine Entscheidungen bedingten Interessen, sondern dieses
Faktum meiner selbst als des Menschen in der Welt, in jeweils
dieser bestimmten Situation, wird zu einem gleichgiiltigen
Ausgangsexempel, an dem ich mir un ter anderem auch die
Struktur von faktischem menschlichen Dasein, wie es immer
ist in seiner bestimmten Situation, klar machen kann. So
besteht ein notwendiger Zusammenhang zwischen der Univer
salitât der phânomenologischen Methode und der Haltung des
unbeteiligten Zuschauens. Nur in ihr kann das eigentliche
Wesen der Subjektivitat und ihrer Leistungen in seinem vollen
Umfang enthiillt werden.
Darin liegt zugleich der alte Gedanke beschlossen, dass
sich das wahrhafte Sein nur in der Theorie erschliesse, nur dass
dieser Gedanke eine Verwandlung seines Sinnes erfahren hat :
die Theorie, das theoretische Schauen des „ unbeteiligten Zu
schauers " ist nicht geradehin auf das Seiende gerichtet, sondern
in der korrelativistischen Betrachtungsweise auf das Seiende,
wie es Leistung der Intentionalitat ist, d. h. auf die Leistungen
des Bewusstseins, in denen sich das Sein konstituiert; sie als die
zuvor „anonymen", verborgenen sind das Thema der Phàno
menologie. Sie sind nicht etwas, was einfach schon vorher
dagewesen ware, sondern dieser Ruckgang ist ein solcher, in
dem sich die Subjektivitat als konstituierende erst selbst setzt,
sich selbst gewinnt. Aile gelegentliche Reflexion auf Bewusst
seinsleistungen halt an dem geheimen Vorurteil fest, dass da
etwas ist, Bewusstseinsvorgànge, was sich einfach in Korrela
tion zum Sein abspielt. Aber dieser Gedanke ist hier iiber
wunden, eben dadurch dass die Reflexion universal wird, dass
kein Sein einfach stehen gelassen, sondern von jedem Sein zu
riickgefragt wird, ja auch zuriickgefragt wird hinter das Sein
der Erlebnisse selbst und sie als sich erst produzierende im
inneren Zeitbewusstsein, dem die Zeit selbst bildenden Bewusst
sein, begriffen werden. Damit erhâlt auch der Sinn des theore
tischen Schauens des „ unbeteiligten Zuschauers " eine neue
Pragung. Es ist nicht das einfache theoretische Schauen eines

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HUSSERLS PHANOMENOLOGIE 311

schon in der Welt seienden Subjektes, das einfache Ve


des schon immer Seienden, sondern es ist ein Schauen, in dem
sich die Subjektivitât selbst als zeitbildende und weltbildende
fur sich enthiillt, und darin ihrer selbst als des schôpferischen
Urgrundes ailes Seins und Lebens gewahr wird.
Fassen wir diese Zusammenhânge ins Auge, so wird die
Behauptung verstandlich, dass in der Ablehnung des „ unbetei
ligten Zuschauens " durch Heidegger ein Angriff auf einen
Kerngedanken Husserls beschlossen liegt, auf denjenigen, an
dem der Anspruch seiner Methode auf Universalitât hângt.
Den Grund dieser Ablehnung kônnen wir nur erschliessen,
indem wir uns die Grundtendenz seiner Analytik des Daseins
vergegenwârtigen. Danach kônnen wir vorweg sagen, Hei
degger lehnt diese Methode ab, weil dadurch nach seiner Ueber
zeugung nicht wirklich Ernst gemacht ist mit der ursprung
lichen Erfahrung des Daseins von sich selbst, weil das Wesen
des Daseins in der Urspriinglichkeit seiner Existenz auf diesem
Wege nicht zugânglich werden kônne. Husserls Methode
kônne nur auf ein „ idealisiertes Subjekt " und nicht auf den
innersten Wesenskern des Daseins, auf die Faktizitât seiner
Existenz fiihren, sondern miisse gerade vor dieser haltmachen.
Also gerade was die „ Subjektivitât " im eigentlichsten und
radikalsten Sinne ausmacht, werde dadurch nicht enthullt,
sondern bleibe verborgen.
Welchen Sinn kônnen diese Behauptungen haben, und ist
mit ihnen tatsachlich eine Grenze der phânomenologischen
Methode beruhrt? Wird in ihr die Faktizitât des Daseins tat
sachlich nicht zugânglich?
Um zu einer Antwort zu gelangen, erinnern wir uns
daran, dass die Methode der Intentionalanalyse eine Methode
der Leitfâden ist. Das sagt, das Seiende, wie es in der Mannig
faltigkeit seiner Leistungen zunâchst einfach gegeben ist,
wird zum Leitfaden, um von ihm zuriickzufragen nach den
synthetischen Leistungen, in denen es sich konstituiert. Was
als Seiendes in der Erfahrung vor uns steht, ist Produkt dieser
Leistungen, und sie werden zugânglich in der Riickfrage von
dem fertigen Produkt auf die Weise seiner Bildung im Bewusst
sein : z. B. fiir das Wahrnehmungsding ergibt sich zunâchst
die Unterscheidung des Dinges selbst von der Weise, wie es
jeweils vermeint ist, in Abschattungen gegeben, jetzt von dieser
Seite, jetzt von jener; auch diese Abschattungen selbst sind

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312 LUDWIG L/VMDGREBE

nichts Letztes, sondern Produkt einer Apperzeption sinnl


Daten, und diese wieder sind selbst nicht blosse Daten, sondern
schon konstituierte Einheiten, denen eine Mannigfaltigkeit von
Ablaufsphasen im inneren Zeitbewusstsein als das sie Konsti
tuierende zuzuordnen ist. So wird von jeder vorgegebenen
Einheit zuriickgefragt nach den sie konstituierenden Mannig
faltigkeiten bis zuriick zur untersten synthetischen Leistung,
der Zeitigung des inneren Zeitbewusstseins. Dieses Vorgehen
wurde von Husserl selbst als régressives bezeichnet, Riickgang
von der gegenstândlichen Einheit auf die konstituierenden
Mannigfaltigkeiten und von da aus Wiederaufbau der Gegen
standlichkeiten von ihren letzten intentionalen Bauelementen
aus. Jede Einheit im weitesten Sinne genommen, wonach
auch ein „ Akt " selbst bereits konstituierte Einheit ist, wird
zum Leitfaden der Riickfrage, und ohne solche Leitfâden hâtte
die Reflexion auf die intentionalen Leistungen xiberhaupt kei
nen Ansatzpunkt.
Genau auf diese Weise wird auch die Frage nach dem Sein
des Menschen selbst, des endlichen, in-der-Welt-seienden Sub
jektes gestellt. Auch ich selbst, dieser Mensch, Trager dieses
Namens, jetzt und hier lebend, mit diesen durch Erziehung,
Tradition usw. erworbenen Gewohnheiten, Anschauungen,
Lebenszielen, mit diesem Beruf, bin Produkt einer Selbstapper
zeption, in der ich als dieser Bestimmte fur mich selbst zur
Gegebenheit komme. Ebenso aber, wie auch das objektive
Ding nicht nur fur mich selbst gegebenes, in meinem eigenen
Erlebniszusammenhang konstituiertes ist, sondern als objek
tives dasjenige, das auch fiir die Anderen, mit mir zusammen
Erfahrenden so gegeben ist, so bin ich selbst, wie ich mich
selbst auffasse, nicht bloss Produkt meiner eigenen intentio
nalen Leistungen, sondern bin intersubjektiv konstituiert als
dieser und dieser. Ich kônnte noch so tief hinabsteigen in
meinen eigenen, gleichsam solipsistisch gedachten Erlebnis
zusammenhang und wurde da nicht das finden, was mich als
diese bestimmte Persônliohkeit ausmacht. Schon dass ich
mich weiss als Trager dieses Namens verweist auf intentiona
Leistungen anderer, der Eltern, die mir diesen Namen gegeb
haben, meine Anschauungen usw. verweisen auf die Erziehun
die ich erhalten habe, usw. So bin ich als dieser bestimmte
Mensch der, als welchen ich mich nicht nur selbst auffasse,
sondern zugleich der, welcher fiir die Anderen, die Mit

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HUSSEKLS PHAJNOMENOLOGIE 313

menschen als dieser gilt. D. h. ich bin als dieser endlich


weltlich seiende Mensch Produkt intersubjektiver intentio
ler Leistungen, auf die ich durch die Ruckfrage komme.
Aber, so miissen wir jetzt den Sinn des Heideggerschen
Einwandes deuten, bin ich darin wirklich begriffen als ich
selbst, im Kerne meiner selbst als dieser einmaligen Existe
Bin ich nicht nur begriffen als ein Gegenstand unter ander
Gegenstânden, als Trager von Rollen, die mir im Miteinan
sein mit den Anderen zugeleilt wurden — wie ja schon in
Namengebung die Zuteilung einer Rolle liegt : hinfort h
ich mein Leben lang als der so Benannte fur mich und
allé Anderen zu geltenp Finde ich aber unter all den Er
nissen, auf die ich in solcher regressiven Ruckfrage von d
fertig konstituierten „ich, dieser Mensch" gefiihrt werde,
die meine Selbstapperzeption ausmachen, iiberhaupt diejenig
durch die ich vor den Kern meines Selbst gebracht werde
Finde ich so, iiber all das hinaus, was ich in der Welt und
fur die Anderen bin, iiber allé Rollen hinaus, die mir im Mit
einandersein mit den Anderen zugeteilt werden, diejenigen
Erlebnisse, durch welche ich vor mich selbst gebracht werde,
und in denen sich die schlechthinige Einmaligkeit meiner
eigenen Existenz meldet, die Faktizitàt „ dass es ist und zu sein
hat " ? Als ein solches Erlebnis, das mich schlechthin verein
zelt, mich vor die Einmaligkeit und Endlichkeit meines Daseins
stellt, das mich zuriickruft aus alien Verflechtungen in das
weltliche Miteinander, sieht Heidegger vor allem die Angst an,
die aus den Tiefen des Daseins aufsteigende „ Angst vor dem
Nichts", die kein intentionales Erlebnis mehr ist, keines in
dem, wie im Sichfiirchten vor etwas, sich eine bestimmte Gege
benheit der Umwelt erschliesst. M. a. W. in der regressiven
Ruckfrage kônnen ihrem Wesen nach nur diejenigen Erleb
nisse aufgefunden werden, die eine bestimmte intentionale
Leistung haben : Konstitution einer gegenstândlichen Einheit,
etwa meiner selbst als des Menschen in der Welt, wie er fur
sich selbst und fiir die Anderen ist, nicht aber diejenigen Erleb
nisse, die keine solche Leistung haben, denen als ihr konsti
tutives Produkt keinerlei gegenstandliche identische Einheit,
sich konstituierend in subjektiven Mannigfaltigkeiten, zuzu
weisen ist, sondern die nur sozusagen den Charakter eines
Index dafiir haben, was ich in Wahrheit bin : dieses endliche,
vor das Nichts gestellte Dasein, und die dem Dasein in einer

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314 LUDWIG LANDGREBE

Weise, dass es sich zumeist dagegen verschliesst, s


Wesen kundgeben. Gerade sie sind es, die das eigentliche
Wesen des Daseins sichtbar machen, von denen her es in
seinem Kerne begriffen werden muss. Sie geben keinen Leit
faden fur irgendeine Intentionalanalyse, weil kein gegenstând
liches Produkt als ihre Leistung aufzuweisen ist, von dem aus
man nach ihnen zuruckfragen kônnte.
So muss also Heidegger die Zulânglichkeit der Methode
der Intentionalanalyse bestreiten, dort wo es sich darum han
delt, wirklich den endlichen Menschen, wie er weltlich ist, zu
verstehen. Und man kônnte seine Einwânde so deuten, dass
man sagt, sie stammen aus einer weiteren Radikalisierung des
Problems des naturlichen Weltbegriffs, der Aufgabe, die sich
Husserl stellte, namlich der urspriinglichen Erfahrung von
Welt und von menschlichem weltlichem Sein ihr Recht zuteil
werden zu lassen : eben in der Weise, wie Husserl das weltliche
Sein des Menschen analysiert, es zuriickfûhrt auf die konsti
tutiven Leistungen der Selbstapperzeption, ware gerade das
nicht zu Ende gefuhrt, was die innerste Tendenz seines eige
nen Yorhabens ist : die restlose Herstellung der Innenansicht
von allem, was in der gerade gerichteten Erfahrung einfach
als Seiendes vorgegeben ist. Denn der Mensch als Produkt
einer Selbstapperzeption sei noch immer sozusagen der
„ Mensch von aussen ", nicht der Mensch vom Kerne seiner
Innerlichkeit her begriffen, wie sie sich ankiindigt in jenen ihn
vor seine Endlichkeit bringenden Erlebnissen. Es sei nicht
zutage gebracht der letzte Grund alien Sichwissens des welt
lichen Subjektes in seiner Endlichkeit — eines Sichwissens,
das nur im Vollzug der Existenz, in der die Angst auf sich
nehmenden Entschlossenheit wirklich lebendig wird, aber in
der Reflexion auf jene Erlebnisse vorweg zum Schweigen
gebracht wird. Dieses Sichwissen, wie es in der Angst, im
Ruf des Gewissens sich ankiindigt, ist fur Heidegger ein letzter
Grund der Existenz, als das schon wirksam vor aller philoso
phischen Resinnung. Es ist das Sichwissen des Daseins in
seiner Faktizitât.
Die Faktizitât des Daseins als sein innerster Wesenskern
darf nicht verwechselt werden mit dem Faktum des Mensch
seins im Husserlschen Sinne. Dies sei noch betont, um einen
naheliegenden Einwand vorweg abzuschneiden. Es ist nicht
so, dass Heidegger mit dieser Faktizitât eine unaufgelôste,

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HUSSERLS PHANOMENOLOGIE 315

nicht auf konstitutive Leistungen zuruckgefûhrte Objekti


einfach im Sinne eines Realismus stehen gelassen hàtte, e
letztes einfach vorgegebenes Faktum gegenuber der ko
tuierenden absoluten Subjektivitât. Die Selbstapperzeption
weltlichen Menschen, in der er sich faktisch immer schon fin
det, ist tatsâchlich in der Husserlschen Methode als Produkt
aufzuweisen. Sie ist eine konstituierte Leistung. Sie macht
fur Husserl das weltliche Faktum des Mensch-seins aus, als die
Weise wie man sich selbst von vornherein hat, seiner selbst
als dieses bestimmten Menschen in dieser bestimmten Umwelt
bewusst ist. Aber diese Weise des Sichhabens des weltlich
konstituierten Menschen ist etwas total anderes als das Um
sich-wissen in jenen Erlebnissen, in denen sich die Faktizitât
des Daseins ankundigt. Faktizitât im Sinne Heideggers ist
keineswegs Faktum-sein (weltliches Faktum) im Sinne Hus
serls. Die Faktizitât Heideggers ist der Grund aller môglichen
Aufweisung. Der methodische Ort, an dem sie bei ihm auftritt,
ist daher der gleiche, an dem bei Husserl die absolute Subjekti
vitât steht, wie sie durch die Methode der Reduktion und der
Leitfâden, zuriickfragend vom konstituierten Sein, enthiillt
wird. Auch dieses Faktum ist nicht, sondern zeitigt sich, ist
Zeit und Welt bildend und damit der Grund der Môglichkeit
jeder Vorgabe von Seiendem in der Erfahrung.
Es wiirde zu weit fiihren, hier noch zu zeigen, wie hie
durch das Problem des Apriori zwar in einer beirrenden Ana
logie, aber doch wieder ganz anders als bei Husserl gestellt
wird, wie seine Aufweisung nicht eine direkte Reflexion auf
Erlebnisse sein kann, sondern eine von den unmittelbaren Aus
drûcken, in denen sich die Faktizitât meldet, zuriickgehende
Deutung. Es sei nur nochmals betont, dass gerade dieses Pro
blem des Apriori, der Gewinnung des Ansatzes der Ontologie
das eigentliche Absehen Heideggers ist, innerhalb dessen die
existenziale Analytik des Daseins nur dienende Funktion hat.
Was sich aus ihr schon als Gewinn fiir eine ontologische Ein
sicht ergeben kann ist dies, dass die Erlebnisse, in denen sich
die Faktizitât des Daseins ankundigt, einer Intentionalanalyse
im Husserlschen Sinne offenbar widerstehen. Es ist niclits
anzugeben, was als ihre konstitutive Leistung auf dem Wege
der Reflexion auffindbar wâre. M. a. W. das Sein des Daseins,
bzw. seine innerste Struktur, die Faktizitât, kann nicht nach
dem Schema eines in subjektiven Mannigfaltigkeiten als Ein

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316 LUDWIG LANDGREBE

heit konstituierten Gegenstandes begriffen werden,


menschliches Dasein kann iiberhaupt nicht so begriffe
Allgemeiner gesprochen : die Idee des Seins ist nicht a
lich zu begreifen durch die Idee des Gegenstandes, wie
Mannigfaltigkeit seiner intentionalen Artungen zum L
fiir die konstitutiven Analysen wird. Fur Husserl ist
Tat Sein — Gegenstand sein. Und eben diese Gleich
ist es, gegen die sich Heidegger wendet. Mit ihr ist e
art der Phânomenologie Husserls bezeichnet, und es w
wesentliche Aufgabe dieser Kontrastierung, sie kla
treten zu lassen. Ob damit tatsâchlich eine Grenze de
menologischen Methode erreicht ist, jenseits deren mi
Mitteln gearbeitet werden muss, soli hier offen bleibe
falls ist es eine Grenze der faktisch von Husserl geiibten
Methode. Dass diese Methode der Deskription, wie wir sie in
rohen Umrissen gekennzeichnet haben, nicht die ganze Phâno
menologie in sich schliesst, hat er selb&t betont und ihre Ueber
hôhung durch eine konstructive Phânomenologie gefordert, in
der erst die letzten Fragen der Metaphysik zur Entscheidung
gelangen kônnten. So erôffnet auch hier das Werk Husserls
einen Weg in die Zukunft, und erst die Vertiefung in die offe
nen Môglichkeiten seiner Weiterfiihrung wird zeigen kônnen,
dass vielleicht seine Ansâtze die Mâchtigkeit in sich tragen,
allé die von ihm ausgegangenen Fortbildungen und die durch
sie aufgeworfenen Probleme als Momente in sich aufzunehmen.

Université de Prague.

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