Sie sind auf Seite 1von 17

Lateinamerikanische Transkriptionen Analysen: Borges

5 Exemplarische Analysen
Der nun folgende Anwendungsteil der Untersuchung besteht aus einer Folge von Analysen
ausgewählter Texte aus dem Gesamtkorpus der lateinamerikanischen Literatur seit dem 17.

Jahrhundert bis zur Gegenwart. Das Attribut "exemplarisch" ist - wie der Titel der bekannten
Novellensammlung des Cervantes - vieldeutig. Exemplarisch sind die hier vorgelegten Analysen

natürlich zunächst einmal in dem Sinne, dass sie gegenüber den Interessen an theoretischer Kohdrenz,

die den bisherigen Gang der Untersuchung bestimmt haben, dsn Fokus der Aufmerksamkeit auf die

Ebene der ernpirischen "Anwendung" zu richten versuchen. Doch die instrumsntalistisch gedachte

Opposition von "Theorie" und "Praxis" hat im Umgang mit literarischen Texten nicht den gleichen,
methodologisch klar umrissenen Status wie in den empirischen Handlungswissenschaften. Das

literarische Transkriptions*Modell - so wurde im letzten Abschnitt nochmals unterstrichen - ist


textuellen,richttheoretischen Ursprung. Nach diversen ästhetisch-philosophischen Exkursen, deren

Ziel dainbestand, der Provokation des literarischen Ausgangstextes ein theoretisches Fundament zu

verschaffen, kehren wir zu den Texten selbst zurick. Nattirlich hat diese Rückkehr hermeneutisch-

dialektische Funktion. Bereichert durch die Theorie-Diskussion treten wir den Texten mrnmehr mit

neuen, anderen (Theorie-) Erwartungen gegenüber. Ahnliches geschieht allerdings auch auf "Objekt"-

Ebene, der Ebene der analysierten Texte selbst Weit gefehlt, vorgefaßte Theorie-Modelle lediglich

zu velifrzieren oder zu falsifrzieren, stellen die Analysen natürlich einen Beitrag zur
Weiterentwicklung des theoretischen Modells der Transkription selbst dar. Ahnlich wie jede einzelne
der Cervantinischen Novellen ein exemplum ist für einen bestimmter Aspekt der ethisch-
philosophischsn Handlungstheorie in der Epoche der spanischen Frtihrenaissance und den durch die

Theorie gesetzten Handlungs-Spielraum gleichzeitig ad hoc erweitert, so besteht die Funktion der

vorgelegten Analysen darin, den Theoriebesknd des Transkriptions-Modells sowohl zu affirmieren

als auch kreativ fortzuschreiben.

5.1 Jorge Luis Borges - El jardtn de los senderos que se bifurcan (1944)

5.1.1 Die Makrostruktur der Erzählung


Die für Literaturgeschichtler überraschende Pointe des bertihmten, mit sarkastischen Seitenhieben
gegen auratische Figuren der euopäischen Literaturgeschichte durchsetzten Vorworts, das Jorge Luis

Borges zu dem Roman seines Freundes Bioy Casmes La invenciön de Morel (1940) verfaßt hat,

77
Lateinamerikanische Transkriptionen Analysen: Borges

besteht vor allem im dithyrambischen Lobpreis des plot, der "Makrostruktuf'bzw. der "Geschichte"

gegenüber dem "Diskurs" (in der Terminologie von Todorov): Die Fehler von Marcel Proust (!) und

Dostojewski (!)1" - so Borges - bestehen darin, die Erfindung interessanter


Handlungskonstellationen aufdem AltarweitschweifigerAnalysen des psychologischen krrenlebens

der Protagonisten geopfert zuhaban, einer Tendenz, der sich die Geschichte der "modernen" Literatur

Borges zufolge widerspruchslos verschrieben hat.

Borges' Kurzgeschichte "Der Garten der Pfade, die sich verzrveigen"ttt ist offenbar ganzim

Kontext der in dem erwähnten Vorwort exponierten narrativen Poetik konzipiert. Gerade auch die
tanskriptiven Verfaluen des Textes, die uns im folgenden beschäftigen werden, sind auf dieser Ebene

lokalisierbar. Eine Zusammenfassung der' Handlung" i.e.S. ist deshalb unabdingbar:


Der zeitliche und örtliche Rahmen der Handlurg ist der erste Weltkrieg, näher gesagt:

Nordfrankreich, Schauplatz der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Deutschen, Franzosen

und Engländem. Der erste Abschnitt des Textes dient der Affirmation dieses Kontextes gernäß der

Sichtweise einer historiographischen "Quelle". Dieser "offiziellen" Sichtweise - meteorologrsche

Gründe, deretwegen die Schlacht aufgeschoben wurde - wird vom Erzähler dwch die Anführung
einer zweiten Quelle widersprochen. Sie besteht in der schriftlich hinterlegten Aussage eines anderen

Zeitzeugen, n?imlich des vormaligen Anglistikprofessors Yu Tsun an der Hochschule in Tsingtao

(China). Während der Bericht von Liddell Hart nur elf Zeilenumfaßt, ersfreckt sich die "Erklänrng"

Yu Tsuns über alle weiteren acht Seiten der Erzählung. Auf den Bericht Liddell Harts kommt der
Erzähler nicht mehr zurück. Beide Erzäihlungen befinden sich damit also - na:ratologisch gesehen *
auf gleicher Ebene; sie treten ein in das Verhältnis gegenseitiger Konkurrenz. Eben dieses, das
Konkurrenz-Verhältnis verschiedener, unterschiedlicher - ja konnadiktorischer - Geschichten ist es,

welches die "eigentliche" Geschichte, also die Makrostruktur der Erzählung, von mrn an konstituieren

wird.
Protagonisten der 'oYu Tsun-Geschichte" sind der in England ansässige, ein
wissenschaftliches Institut leitende, insgeheim jedoch als Spion für die preußische Regierung tätige

deutsche Wissenschaftler Viktor Runeberg; ein englischer Polizeioffizier im Rang eines captain
namens Richard Madden, der incognito am Institut von Runebergs arbeitet, diesen schließlich

rrr
cf. Borg", 1.97 5: 22, f .

112
"El iardin de los senderos que se bifurcan"

78
Lateinamerikanische Transkriptionen Analysen: Borges

verhaftet und bei einer sich dabei ergebenden Schießerei umbringt, sowie der Chinese Yu Tsun, der

ebenfalls am lnstitut von Runeberg arbeitet, für die Deutschen tätig ist und von Madden nach dem

Tod Runebergs verfolgt wird. Was die "Motive" der Protagonisten angeht, deren Analyse in einer

herkömmlichen Kriminalgeschichte normalerweise breiten Raum einnimmt, so sind die


Informationen des Textes eher spärlich: Über die Beweggninde der Agententätigkeit Runebergs
verliert der Text kein einziges Wort. Zu Yu Tsun heißt es lakonisch, er arbeitete zwar (wie Runeberg)

für die deutsche Regienmg, aber offenbar nur "halbherzig". Im Grunde seines Herzens verachte er die
Deutschen und wolle ihnen beweisen, dass die "gelbe Rasse" trotz bestehender Vorurteile Großes zu

leisten imstande sei. Auch das Berußethos des Kriminalisten Madden verdankt sich nicht eigentlich

britischem Patriotismus, sondern eher seiner irischen Abstammung, derzufolge er den britischen
Behörden seine Linientreue durch einen spektakulären Fahndungserfolg zu beweisen suche.

Die eigentliche Handlung seta mit einem Anruf von Yu Tsun im Institut von Runeberg ein.
Überraschenderweise ist es Madden. der den Hörer abhebt und aufDeutsch antwortet. Er meldet den

Tod von Runeberg. Yu Tsun weiß nun, dass auch er damit potentiell enttamt ist und auf der
Fahndungsliste von Madden steht. Die Tatsache, dass Madden mit Yu Tsun Deutsch spricht, weist

darauf hin, dass auch der ke am Institut von Runeberg ein und aus ging und also zu dessen
Verfauten gehörte. Damit gerät er fast in die Position eines Doppelagenten. Zwielichtig wird die
Rolle von Madden vor allem infolge einer Fußnote (seitens des "Herausgebers" der "Erklärung"),
dergemäß die von Madden veröreitete 'bffizielle" Version vom Tode Runebergs falsch ist und dieser
gar nicht "ermordet" wurde, sondern im Handgemenge bei seiner Fesfirahme dwch Madden
versehentlich zu Tode kam. Dank dieses Hinweises bleibt die wirkliche Rolle von Runeberg offen,

ebenso wie diejenige Maddens. Man könnte die letztlich unklaren Identitäten von Runeberg und

Madden sowie die unterschiedlichen Motive der an der Handhrng beteiligten Protagonisten als
"falsche Fährten" bezeichnen. Es handelt sich um Sinnangebote für die Rekonstruktion einer
"Makrostruktur", die aber wie Sackgassen nicht weiter führen und keinerlei Kohärenz ergeben.
Wie geht es weiter? Wir erfahren, fast nebenbei, dass sich Yu Tsun im Besitz einer

Information befindet, die für die Kampfhandlungen von zentmler Bedeutung sein könnte: Yu Tsun
kerurt den Namen des Ortes, an dem das britische Artillerie-Batallion, das den Auftrag hat, die

Offensive einzuleiten, in Stellung gegangen ist. Die Schlußfolgerungen, die Yu Tsun aus dieser
Information zieht, bestehen darin, die Informationen an die deutsche Regierung weiterzuleiten und

79
Lateinamerikanische Transkriptionen Analyser: Eqrg!!

sich gleichzeitig dem drohenden Zugriffvon Madden ru qtzielrcn Die Realisienrng dieser Vorhaben

bestimmt den weiteren Verlauf der Handlung. Was den ersten Punkt angeht, so ist sein Plan der
folgende: Er macht im Telefonbuch eine Person ausfindig, die den gleichen Namens wie die neue
Artilleriestellung der Engländer trägt. Die ebenso spektakuläre wie arbiträre Tötung dieser Person -
davon geht er aus - dient dem deutschen Geheimdienst dann als ausreichendes Signal, um hinter dern

Namen der getöteten Person die Artilleriestellung der Engländer zu vermuten.


Yu Tsun besteigt also eine Vorortbahn, die nach Ashgrove fährt, dem Wohnort seines

"Opfers". Als sich der Zug in Bewegung setzt, erblickt er Madden, der vergeblich versucht, auf den
Zugzu springen. Er kann sicher sein, dass der captain den nächsten Zug nehmen wird, der genau 40
Minuten später abführt. Es ist dies die Zeit, die Yu Tsun Zeit bleibt, sein Vorhaben auszufiihren.
Yu Tsun kommt in Ashgrove an. Der kser muß annehmen, dass dies der Ort ist, wo die
Person wohnt, die den gleichen Namen trägt wie der Ort, an dem das englische Artillerie-Bataillon in
Stellnng gegangen ist. Als er aus dem Zugsteig!, scheint die Bevölkerung schon auf geheimnisvolle

Weise zu wissen, was sein Zielist. Kinder weisen ihm den Weg zum Anwesen von Stephen Albert:

"Bis zum Haus ist es etwas weit, aber Sie werden sich nicht verirren, wmn Sie diesen Weg zur Linken

nehmen und dann bei jeder lleglveuzung abermals nach linla abbiegen."tl' [bid.; kursiv im Text)
Er macht sich auf den Weg, denkt für einen Augenblick daran, dass Madden seinen Plan, den ernun

als ein verzweifeltes Vorhaben ("desesperado propdsito') bezeichnet, längst durchschaut haben
könnte, verwirft den Gedanken jedoch wieder und konzentriert sich statt dessen auf die
Wegbeschreibung. Letäere erinnert ihn an ein Labyrinth. Dies wiederum läßt ihn an seinen

Urgroßvater denken, den Gouvemeur von Yunnan, der seinen Beruf aufgegeben hatte, um einen
populären Roman zu schreiben und ein l,abyrinth riesigen Ausmaßes zu bauen.

Emeut gelangt er an eine Wegkeuzung. Aus der Ferne hört er Musik. Er identifiziert sie als
'thinesisch". Die Musik erschallt aus einem Gebäude am Ende einer Allee, die hinter einem alten
verrosteten Tor beginnt. Ein Mann mit einer Papierlateme in der Hand tritt ihm entgegen. Er spricht

zu ihm auf Chinesisch und redet ihn mit "Hsi P'€ng" an. Der Name stammt aus der Provinzdynastie,

der er selber angehört ('trno de nuestro c6nsules'). Auf, die Frage, ob er den Garten sehen wolle,

antwortet Yu Tsun, in der Tat sei er gekommen, 'oden Garten der Pfade, die sich verzlueigerf', zu

113
"La casa queda lejos de aqui, pero (Jd. no se perderö si toma ese camino a la izquierda y en cada encrucijada
del camino dobla a la izouierda."

80
Lateinamerikanische Transkriptionen Analysen: Borges

besuchen, den Garten seines Urgtoßvaters Ts'ui P6n. Sie folgen einem Weg, der eine
Zickzackbewegung beschreibt wie die Wege seiner Kindheitrra, und gelangen schließlich zu einer

Bibliothek. Sie ist geflillt mit abend- und morgenl2indischen Büchem; sogar das Manuskript einer nie
gedruckten kaiserlichen Enzyklopädie ist zu sehen. Stephen Albert persönlich empfüngt sie. Der
Hausherr hat etwas Priesterliches an sich, aber auch etwas Seemännisches ("marino'). Er sei

Sinologe, behauptet er, früher jedoch Missionar. Alle nehmen Platz. Der Verfolger Madden, so
überlegt der Besucher, wird in höchstens in einer Stunde zur Stelle sein. Er ist weiterhin fest

entschlossen, den einmal gefaßten Plan in die Tat umzusetzen.r15

Stephen Albert beginnt mit der Erzählung der Geschichte des Labytinths, deren äußere

Umstrinde dem Besucher im Rahmen seiner eigenen Familiengeschichte ja bereits bekannt sind.

Albert unterbricht seine Erzählung und führt den Besucher zu einem alten Schreibtisch und
behauptet, hier habe er das "Labyrinth" vor Augen, ein Labyrinth von Symbolen, "ein unsichtbares

Zeit-Labyinth". Ihm selbst, einem "bmbarischen Engländef'(biirbaro ingl6s'), sei das Geheimnis
anvertraut worden. Das Geheimnis bestehe darin, dass "Buch" und "I-abyrinth" das Gleiche

bedeuteten und ein und dasgleiche Objekt darstellten ("eran un solo objeto'). Deshalb sei es sinnlos,

ein '?eal" existierendes Labyrinth zu suchen. Aufgund der Verwonenheit der von Ts'ui Pön
hinterlassenen Manuskripte sei er - Albert - zunächst der Ansicht gewesen, dz'ese seien das
Labfinth. Zwei Umstände hätten ihn indes zur richtigen Iösung geführt: zum einen die Irgende,
nach der Ts'ui P6n tatsächlich etn unendliches labyrinth habe schaffen wollen; zum anderes das
Fragment eines Briefes, das er aus Oxfort erhalten habe.

Erreicht dem Besucher ein Stück Papier, auf welchern der in Ts'ui Pöns Handschrift verfaßte
Satz zu lesen ist: "Ich hinterlasse den verschiedenen Zuktinfien (nicht allen) meinen Garten der
Pfade, die sich verzueigen"lt6 (Borges 1974: 477; kursiv im Text). Während er noch über
konventionelle Lösungen nachdachte, den Gedanken eines unendliches I-abyinths mit den
chaotischen Manuskripten Ts'ui P6ns zusammenzubringen - er denkt an die Geschichten von 1001

rla
"El hümedo sendero zigzagueaba como los de mi infancia." (Borges 1974:476)
ltt "No, sentamos; yo en un largo y bajo divän; 6l de espaldas a la ventana y a un alto reloj circular. Compute que
antes de una hora no llegaria mi perseguidor, Richard Madden. Mi determinacidn irrevocable podia esperar."
(Borges 1974:476)

116 *D"jo a los varios porvenires (no a todos) mijardin de senderos que se bifurcan."

81
Lateinamerikanische Transkriptionen Analysen: Borges

Nacht oder einen "zyklisch" konzipierten Band, dessen letäe Seite identisch war mit der ersten,
womit die Möglichkeit gegeben war, "endlos fortzufahren" mit der Lektürert7 -, scheint ihm das
Brieffragment die eigentliche Lösung zu suggerieren: Zwar waren das Projekt des

unendlichen Laby'inths und und die von Ts'ui P6n hinterlassenen Manuskripte in gewisser Weise

ein trnd dasselbe, abernur gewissermaßenauf der Projeld-Ebene: Das Projekt,der Plan des Romans,

entsprach der Idee eines unendlichen l-abyrinths, nicht aber dessen Ausführung und Realität.

Das Konstruktionsprinzip des scheinbar chaotischen Romans von Ts'ui Pön ist die folgende

Prämisse: Das Prinzip der "Handlung" in einem Erzähltext ("ficciön") besteht immer in
Alternativentscheidung. Eine Entscheidung zugunsten einer dieser Alternativen ist immer
gleichbedeutend mit der Entscheidung, eine andere auszuschließen. Die Erfindung Ts'ui Pöns nun

besteht darin, seine Helden gleichzeitig alle Altemativen wählen zu lassen. Da "Zukunft" jedoch
immer nur in der Wahl bestimmter Alternativen bestehen kann, wird durch Ts'ui Pöns Roman eine

Vielheit n*iittftiger Zeiten und Abläufe simuliert. Eine jede dieser zulainftigen Abläufe ist wiederum

durch Altemativenrrs bestimmt. So ersibt sich als Ereebnis der Eindruck des Chaotischen in Ts'ui
Pöns Roman.

Alberts Erzählung, eher noch seine philosophischen Erklärungen, scheinen den Besucher
mehr und mehr zu beunruhigen. Eine kaum faßbare Bewegung ("una invisible, intangible
pululaciön') hat Besitz ergriffen von ihm und seiner Umgebung. Während Albert noch dartiber
nachsinnt, dass es sich bei Ts'ui P€ns Roman wohl offenbar doch um mehr als ein lediglich
literarisches Spiellre handelt, gewinnt der Besucher den Eindruck, dass sich die von Albert

heraufbeschworene fikfionale Welt seiner eigenen Lebenswelt immer mehr annähert.

In ihren vielfültigen, ja unendlichen Annäherungen, Verzweigungen und Überschneidungen

entsprechen die verschiedenen Zeiten, die der Roman andLzipien, dem gesamten Arsenal der
Möglichkeitsbedingungen des Seins ("abarca todos las posibilidades'). Nur eine Literatur, die sich

ttt *[...]
un volumen ciclico, circular- Un volumen cuya ültima pägina fuera id6ntica a la primera, con posibilidad
decontinuar indefinidamente [...]" (Borges 1974:-477); Julio Cortäzar hatte den Satz offenbar vor Augen, als er den
"Tablero de direcciön" seines berühmten Romans Rayuela konzipierte (vgl. Walter Bruno Berg (1991): Grenz-
Zeichen Cortäzar. Leben und Werk eines argentinischen Schriftstellers der Gegenwart. Frankfurt am Main: Ver-
vuert Verlag, p. 190, f.

118
Alternative ist natürlich unsere Übersetzuns des zentralen Beeriffs der "bif'urcaci6n".

ttn *[...]
la infinita ejecuciön de un experimento retörico [...]"

82
Lateinamerikanische Transkriptionen Analysen: Borges

diesen diskontinuierlich-inköhärentenZeitbegnff- als Kritik der "homogenen" Zeit bei Newton und
Schopenhauer - zu eigen macht, kann als "Modell der Wirklichkeit" gelten. Damit gerät der
mimetisch konzipierte Modellbegriff jedoch selbst in die Krise: Der Begriff des Modell wird zu

Chiffie jenes absoluten Geheimnisses, das sich hinter aller Zeichenhaftigkeit von Sprache und
r2o
Literatur verbirgt.
Am Ende der Geschichte verkreuzen sich deshalb die Ebenen von Fiktion und Wirklichkeit
in unentwirrbarer Weise. Albert macht den ersten Schritt, indem er davon ausgeht, dass Ts'ui P6ns

Roman - wie wir eben hörten * kein rein "literarisches" Spiel-Modell ist, sondem auf die "Realität"

bezogen werden muß. So kann es sein, dass sie beide, Albert und der Besucher, verschiedenenZ,eiten

angehören: mal leben sie, mal sind sie tot; mal ist das, was sie sagen, Wahrheit, mal krtum oder

Phantasie. Der Besuch naht sich seinem Ende. An die letztenWorte Alberts anknüpfend, nach denen

ein jeder von beiden möglicherweise in einer anderen Zeitlehe, spricht Yu Tsun dem Hausherm
seinen Dank aus für diese treffliche Inszenierung des Gartens seines Vorfahren: "In allen Zeiten,
brachte ich nicht ohne Zittern über die Lippen, danke ich Ihnen und spreche lhnen meine Verehrung

aus für diese Neuschöpfung des Gartens von Ts'ui P6n."r2r @orges 1974:. 479; kursiv: W.B.B.) Die

Antwort läßt nicht auf sich warten: *Nicht in allen - murmelte er mit einem Lächeln auf den Lippen

-. Die Zeitverzweigt sich unablässig im Hinblick auf unzählige Formen von Zukunft.In einer von

ihnen bin ich ich Feind."r22 (Ibid.; kuriv: W.B.B.) Doch die Zvlrl.nftist bereits Gegenwart geworden:

Als der Besucher die Augen hebt, erblickt er im Garten captain Madden, der sich dem Haus nähert.
"Die Zukunft existiert schon," antwortet er, "aber ich bin ihr Freund. Kann ich nochmals einen Blick
auf den Brief werfen?" @orges 1974: 480) Als der Hausherr ihm den Rücken zukehrt, zückt er die

Pistole und erschießt ihn kaltblütig. Madden sttirmt ins Zimmer und verhaftet ihn. Albert ist tot. Die

Nachricht von seiner motivlosen Ermordung durch die Hand eines gewissen Yu Tsun erscheint am

nächsten Tag in den Zeitungen. Der Chef des Geheimdienstes in Berlin, davon geht der Erzähler aus,

war intelligent genug, das Geheimnis erfiz1ffem. So kann er sich selbst als Sieger betrachten, wenn
^r

tto
Von hier aus wären Verbindungslinien von Borges zu Mallarmös- und Blanchots Literaturbegriff zu ziehen.

l" E, todo, articulö su recreaciön del jardin de Ts'ui Pön.


- no sin un temb lor - yo agradezco y venero
t" No todos - murmurö con una sonrisa -. El tiempo se bifurca perpetuctmente hacia innumerables futuros. En
"n
uno de ellos soy su enem igo.

83
Lateinamerikanische Transkriptionen Analysen: Borges

auch als Sieger mit scheußlichem Gesicht'23. Ein britisches Gericht verurteilt ihn zum Tode am

Sfang.

5.1.2 Transkriptionin El jardin de los senderos que se bifurcan


Werfen wir nunmehr einen Blick auf die Transkriptions-Struktur der Erzählung. Wie oben

angedeutet, ist es vor allem die "Makrostruktur", auf die wir uns hierbei zu konzentrieren haben.

Schon in den ersten Sätzen tritt die Struktur mit aller Deutlichkeit zutage:

"Auf Seite 242 der Geschichte des Europäßchen Krieges von Liddell Hart kann man
nachlesen, dass eine Offensive von dreizehn englischen Divisionen (unterstützt von
eintausendvierhundert Artilleriestellungen) gegen die Linie Serre-Montauban für den
vierundzwanzigsten Juli 1918 geplant, jedoch auf den Morgen des
neunundzwanzigsten verschoben worden war. Sintflutartiger Regen (so vermerkt
Itupitän Liddell Hart) war der Grund für diesen - im übrigen kaum wirklich
bedeutsamen - Aufschub. Die folgende Erklärung diktiert, Korrektur gelesen und
unterschrieben durch Doktor Yu Tsun, ehemals Ordinarius für Englisch an der
Hochschule [sicl] von Tsingtao, wirft ein unerwartetes Licht auf den Fall. Es fehlen
die beiden Anfangsseiten.
<... und ich legte den Hörer wieder auf. Augenblicklich hatte ich die Stimme
erkannt, die mir auf Deutsch geantwortet hatte. Es war diejenige des Captain Richmd
Madden. L...f"t'o ( Borges l97l:472)

Die zitierten Sätze lesen sich wie der Anfang einer popul?irwissenschaftlichen Kriegsgeschichte des
Ersten Weltkriegs. Der auktorialeBvÄhler, der sich - dem Stil des erwähnten Genres entsprechend

- in diesen Anfangszeilen deutlich zu erkennen gbtttt, bezieht sich in seiner Darstellung auf zwei
unterschiedliche "Quellen": die Geschichte des Europriischen Krieges eines englischen

123
I* Te*t heißt es lakonisch: "Abominablemente he vencido: he comunicado a Berlin el secreto nombre de la
ciudad que deben atacar. Ayer la bombardearon 1...1" (Auf scheu.lSliche Weise habe ich gesiegt: ich habe Berlin den
geheimen Namen der Stadt mitgeteilt, die sie angreifen müssen. Gestern begann das Bombardement [...J)

t24 {En
la pägina 242 de la Historia de la Guerra Europea de Liddell Hart, se lee que una ofensiva de trece
divisiones britänicas (apoyadas por mil cuatrocientas piezas de artilleria) contra la linea Serre-Montauban habia
sido planeada para el veinticüatro dejulio de 1916 y debiö postergarse hasta la maäana del dia veintinueve. Las
lluvias torrenciales (anota el capitän Liddell Hart) provocaron esa demora -nada significativa, por cierto. La
siguiente declaraciön, dictada, releida y firmada por el doctor Yu Tsun, antiguo catedrätico de ingl6s en la
Hochschule [;sicl] de Tsingtao, arroja una insospechada luz sobre el caso. Faltan las dos päginas iniciales.
<... y colgu6 el tubo. Inmediatamente despu6s, reconoci la voz que habia contestado en alemän. Era la del
calpitän Richard Madden. [...]"

t" Z, d"nunübersehbaren Signalen des auktorialen Erzählers gehören u.a. seine entweder in Klammern oder durch
Gedankenstriche hervorgehobenen evaluotiven Interventionen, mit denen er den Quellenwert der verwendeten
Dokumente kommentiert bzw- ihren Wert durch biographische Erläuterungen (vor allem im Hinblick auf den
"Hauptzeugen", den Chinesen Yu Tsun) kommentiert.

84
Lateinamerikanische Transkriptionen Analysen: Borges

Kriegsteilnehmers wrd captaizs namens Liddell Hart sowie eine lediglich durch die persönliche
o'Erklärung" eines anderen Zeiaeugen, des chinesischen
Signatur ihres Verfassers authentifaierte
Englischprofessors Yu Tsun. Beide "Quellen" entlnlten gegensätzliche Versionen im Hinblick auf

das infrage stehende Kriegsereignis - die Grände des Außchubs einer für den 24. Juli 1 9I8 geplanten

englischen Offensive gegen deutsche Stellungen in Nordfranlreich. Der nächste Absatz beginnt mit

einem Anführungszeichen. Letzteres signalisiert, dass wir es von nun an mit der wörtlich zitierten,
*Erklärung" selbst zu tun haben. Die drei Punkte am Anfang
von Yu Tsun in Ich-Form abgefaßten

stehen für die fehlenden beiden Anfangsseiten des Manuskripts, auf die der auktoriale Erzähler am

Ende des ersten Absatzes hingewiesen hatte. Da die Anführungszeichen bis zum Ende der Erzählung

nicht mehr geschlossen werden, haben wir es nicht mit einer Rahmenerzählung zu tun, sondem mit

einer Erzeihlform, die Umberto Eco seinerzeitals serielle Erzählung bezeichnet hat(1972:378, ff.).

Obwohl die erste Quelle lediglich nxrei Sätze umfaßt und die zweitn den gesamten Rest der
Erzäliung,muß die "Erkldmng" Yu Tsuns als Transkription der ersten Quelle gelesen werden. Auch
sie enthält ja - wie die erste - erne Erldörung der Grtinde für den Aufschub der englischen Offensive.

Doch auch die oben ntierte "Einleitung" der Erzählung durch den auktorialen Erzähler darf nicht
vergessen werden. Dieser hält natürlich an seinem eigenen Projekt- einerpopulärwissenschaftlichen
Geschichte des Ersten Weltkriegs * fest. Dass einem solchen Projekt notwendigerweise die Form der

Transkription zu etgen ist, gehört mithin zu den allgemeinen Prämissen der Erzählung. So ist der

Bezug auf die Kriegsgeschichte des captain Liddell Hart natürlich bereits eine erste Form dieses
transkriptiven Projekts. Vor allem die "Erkldrung" Yu Tsuns hat natürlich den Status einer
Transkription. Setzten wir sie in Bezug zur ersten Quelle, so wäre sie im Hinblick auf das Projekt des
auktorialen Erzdhlers als eine Transkription zweiten Grades zu bezeichnen. Doch wir werden sehen,

dass die 'Erklärung' ihrerseits aus einer schier unabsehbaren - in letzter Instanz ins Unendliche
verweisenden - Folge weiterer Transkriptionen besteht, die den Leser zunächst immer weiter von

dem als "Prätexf ' zugrunde liegenden Schreibprojekt des auktorialen Erzähle,rs zu entfemen scheinen.

Die Behauptung bedarfjedoch einer Einschränkung: Wie ein roter Faden zieht sich der Mordplan Yu

Tsuns, an dem er unbeirrt, bis zu seiner kaltblütigen Vollstreckung am Ende, festhält, durch den Text

seiner "Erklärung":

"Der Rest ist irreal, bedeutungslos. Madden strirmte herein, nahm mich fest. Ich
wurde zum Tod am Strang verurteilt. Auf scheußliche Weise habe ich gesiegt: ich
habe Berlin den geheimen Narnen der Stadt mitgeteilt, die sie angreifen müssen.

85
Lateinamerikanische Transkriptionen Ale!J!!4! Bolclq

Gestem begann das Bombardement; ich las es in denselben Zeitungen, die England
mit dem Geheimnis konfrontierten, dass der weise Sinologe Stephen Albert von
einem Unbekarurten namens Yu Tsun ermordet worden sei. Der Chef hat das Rätsel
entziffert. Er weiß, dass ich vor dern Problem stand (durch das Getöse des Krieges
hindurch) die Stadt zu benennen, die Albert heißt, und dass ich kein besseres Mittel
fand, als eine Person nttöten, die diesen Namen trug. Er weiß nicht (niemand kann
es wissen), wie oft mich Zerschnirschung und Überdruß befallen haben."r26 (Borges
1974:489)

Der Rahmen, so scheint es, hat sich geschlossen: Yu Tsun kann sich als "Sieget''fühlen, als Sieger
jedoch mit "abscheulichem" Gesicht ('abominablemente he vencido'). Warum diese Ambivalenz?

Doch wohl nicht nur, weil der Sieger auf seine Hinrichtung wartet. I-et ere wird an seinem "Sieg"
nichts mehr ändem: Die Kommunikation mit den Deutschen war erfolgreich. Die Stellungen der
Engländer wurden erkannt und bombardiert. Worin also besteht der Makel, der dem "Sieg" trotz

allem anhaftet? Es sind offenbar die Ereignisse, die nvßchen dem Entschluss, Albert zu ermorden
und damit die Stellungen an die Deutschen zu veraten, und seiner Verwirklichung liegen, die für

diese Wertung den Ausschlag geben. Richten wir den Blick auf diese Ereignisse, so erscheint die

Agenten-Geschichte (im folgenden: 'Geschichte A') * die Geschichte der "kriegs-relevanten"


Ermordung Stephen Alberts durch den kaltblütig kalkulierenden Agenten Yu Tsun - nur als dre eine

Seite der Geschichte, der im Hinblick auf die Ereignissg die sich nach der Ankunft von Yu Tsun in

Ashgrove abspielen, etne Parallel-Geschichte (im folgenden: "Geschichte B') entgegensteht, durch

welche die evaluativen Elemente der Agenten{eschicl{e in geradezu systematischer Weise


unterminiert werden. Es versteht sich, dass die Parallel-Geschichte im Hinblick auf die Agenten-

Geschichte tmnskriptive Funktion hat, dies umso mehr, als die Protagonisten beider Geschichten ja
als ein und dieselbe Person zutndiziercn sind (Yu Tsun, der Verfasser der "Erklärung'). Die durch

die Transkription in Gang gesekte Um-Wertung des Prätextes der Agenten-Geschichte bezieht sich

auf nahezu alle für die Semantik der Geschichte wesentlichen Elemente. Ich nenne die wichtigsten:
. Dank des Zufalls der Namensgleichheit sieht sich der für den deutschen Geheimdienst arbeitendg

vom autorialer Erzähler als ehemaliger Englßchprofessor bezeichnete Chinese Yu Tsun nunmehr

126
"Lo demäs es irreal, insignificante. Madden irrumpiö, me arrestö. He sido condenado a la horca.
Abominablemente he vencido: he comunicado a Berlin el secreto nombre de la ciudad que deben atacar. Ayer la
bombardearon; lo lei en los mismos periödicos que propusieron a Inglaterra el enigma de que el sabio sinölogo
Stephen Albert muriera asesinado por un desconocido, Yu Tsun. El Jefe ha descifrado ese enigma. Sabe que mi
problema era indicar (a traves del eströpito de la guerra) la ciudad que se llama Albert y que no hallö otro medio
que matar a una persona de ese nombre. No sabe (nadie puede saber) mi innumerable contriciön y cansancio."

86
Lateinamerikanische Transkriptionen Analysen: Borges

seinem double gegenübergestellt, dem englischen Sinologen Stephen Albert. Es ist offenbar die
rhetorische Figur des Chiasmus, nach der die vorliegende Transkription firnktionieren soll. Der

Hausherr und der Besucher des 'Gartens der Pfade, die sich verzweigen", verfügen über ein Wissen,

das sich in Teilbereichen überschneidet: seitens des Besuchers die familiäre Erirurerung an seinen

Urgroßvaters Ts'ui P0n, den Gouvemeur von Yunnan, der seinen Beruf aufgegeben hatte, um einen

populären Roman zu schreiben und ein Labfinth riesigen Ausmaßes zu bauen; seitens Stephen

Alberts das Fachwissen des Sinologen, das ihn mit einem dem des Besuchers vergleichbaren Wissen
um das Projekt von Ts'ui Pön ausstattet.
. Während sich Besucher und Hausherr zu Beginn des Gesprächs noch auf einem annähemd gleichen

Informations-kvel hinsichtlich der Hinterlassenschaften von Ts'ui P6n bewegen, verschiebt sich
diessr im weiteren Verlauf des Besuchs eindzutig zugunsten von Stephen Albert. Der Sinologe
erklärt, die Überlieferung, Ts'ui P6n habe zwei verschiedene Labyrinthe konstuieren wollen, sei
falsch. Es handle sich in Wirklichkeit um ein und dasselbe Projekt, die Konstruktion eines

I-abyrinthes mit unendlichen Dimensionen.


. Ein Brief, der ihn aus Oxfort erreicht habe, liefere die Ixisung des Rätsels: "Ich hinterlasse den
verschiedenen Zulctinfien (nicht ailen) meinen Garten der Pfade, die sich vernneigen"r2? @orges

1974: 477; kursiv im Text). Stephen Albert deutet den Satz als Hinweis auf die Tatsache, dass Ts'ui

Pöns Rede von einem unendlichen Labfinth auf ein nach Kategorien der Zeit, nichtjedoch des
Raumes konzipiertes Labfinth zu beziehen sei. Ein solches Projekt ist natürlich nur in Form eines

Buches zu verwirklichen, und zwar aufgrund der folgenden Überlegung:

"In allen Erzählungen ('ficciones') ist es so, dass der Protagonist, sieht er sich vor
verschiedene Altemativen gestellt, sich für eine entscheidet und die anderen
ausschaltet; in der des kaum zu entwirrenden Ts'ui P6n dagegen ist es so, dass er -
zur gleichen Zeit- alle Altemativen wählt. Auf diese Weise schffi er verschiedene
Zukünfte, verschiedene Zeiten, die sich zudem noch vermehren und verzrveigen.
Daher die vielen Widersprüche in dem Rornan."r28 (Borges 1974: 478; kursiv im
Text)

. Doch es geht nicht nur um Widerspniche. Es geht vielmehr um die entscheidende Frage, wie und

tt' "D"io a los varios porvenires (no a todos) mijardin de senderos que se bifurcan."
128
"En todas las ficciones, cada vez que un hombre se enfrenta con diversas alternativas, opta por una y elimina las
otras; en la del casi inextricable Ts'ui P€n, opta - simultaneamente - por todas. Crea, asi, diversos porvenires,
diversos tiempos, que tambi6n proliferan y se bifurcan. De ahi las contradicciones de la novela."

87
Lateinamerikanische Transkriptionen Analysen: Borges

unter welchen Bedingungen ein solches Thema - die Unendlichkeit dw Zeit, eine Vorstellung, die
zugleich dazu zwng; den Begriff der Zeit selbst radikal zu revidieren -, überhaupt Thema eines

Buches, also einer Erzähhng, sein könnte. Es füllt auf, dass der Schlüsselbegriff des Romans - der

Begriffder'Zeit' * im Roman selbst nicht auftaucht. "Die Erklärung liegt auf der Han4" behauptet
Stephen Albert. "Der Garten der Pfade, die sich vernveigen ist ein unvollständiges, aber dennoch
nicht falsches Bild des Universersums, wie es von Ts'ui P6n vorgestellt wurde."l2e @orges 1974:
479) 'lJnvollständig" aus dem naheliegenden Grund, weil eine Erzählung, die ein "Bild", also ein
"Modell" der Unendlichkeit sein will, an diesem Vorhaben notwendigerweise scheitem muß und auf
die Endlichkeit ihres bloßen Modell-Charakters zurückgeworfen wird. Aber als eine solche, als
Modell der Unendlichkeit ist sie dann dennoch nicht "falsch". "Skriptur" und "Transkript" - um das

Problem in der Terminologie von Ludwig Jäger zu formulieren - entsprechen einander auf der Ebene

ihrer radikalen Nicht-Entsprechung bzw. ihrer wqsenhaften Dffirenz. Wir befinden uns offenbar an

einer weiteren - entscheidenden - "bifurcaciön" der gesamten Erzählung, der Grenzscheide, an der
die Erzählung auftrört, "Erzählung" im herkömmlichen Sinne zu sein - also "Fiktion" - und

umschlägt in eine andere Weise der Realitätserfahrung. Schon krxze Zeit vorher, als Yu Tsun dern

Vorortzug entstiegen war und sich dem Anwesen von Stephen Albert näherte, hatte er in seinen
Meditationen den Punkt berührt, um den es jetzt geht die Vorstelhurg eines "Labyrinthes von
Labyrinthen"l3o (Borges 1974: 475). Anders als in der rationalistischen Wissenschaftstheorie

vorgesehen, in der der Metatext - dank der Benennung des genus proximumt3t - dem Prinzip der

Reduzierung von Komplexität dient, wird die Komplexität des Themas, das hier zur Verhandlung

steht, durch die metatextuelle Formel natürlich eher noch erhöht, ja poteruiert. Stephen Albert ist es,

der diese Schlußfolgerungen längst durchschaut hat:

l29
"La e*plicaciön es obvia: Eljardin de los senderos que se bifurcan es una imagen incompleta, pero no falsa del
universo tal como lo concebia Ts'ui P6n:"

tto *[...]
un laberinto de laberintos [...]"

t'' Di" b"kunote Definition des Menschen als animal rationale isLein solcher Metatext. Er reduziert die unendliche
Vielfalt der menschlichen Species auf die "naheliegende Gattung" des "Lebewesens" und bestimmt diese
gleichzeitig durch das Merkmal der ratio. Die Funktion solcher Metatexte ist natürlich das klassische distingo. Es
erlaubt Unterscheidungen der folgenden Art: Habe ich den Serienmörder oder den Kinderschänder noch a1s
"Menschen" zu behandeln (im Sinne des vorausgesetzten Merkmals der "ratio") oder gilt er von vornherein nur
noch als der Vertreter der Gattung "animal", dessen Fehlverhalten (im Sinne der Gattungsgesetze) z.B. als
"tollwütiger Hund" entweder durch Eliminierung oder, etwas humaner, durch lebenslange Reklusion nicht jedoch
durch ein Projekt der "Re-Sozialisation" - zu begegnen wäre?

88
Lateinamerikanische Transkriptionen Analysen: Borges

"[Der Autor] glaubte an unendlich viele Serien vonzeiten, an ein wachsendes und
schwindelerregendes Netz divergierender, konvergierender und paralleler Zeiten.
Dieses Gewebe von Zeiten, die sich einander nähem, sich vern'eigen, sich
überschneiden oder auch ewig in Unkenntnis voneinander bleiben, schließen alle
Möglichkeiten in sich ein. In der Mehrzahl dieser Zeiten haben wir keine Existenz; in
einigen exisieren Sie und nicht ich; in anderen ich, aber nicht Sie; in wieder anderen,
wir beide. In der etnen Znit, die mir ein wohlwollender Zufall zuspielt, sind Sie in
mein Haus gekommen; in einer anderen haben Sie mich, nachdem Sie den Garten
durchquert haben, tot aufgefirnden; in einer drittenZnit" spreche ich eben diese Worte,
aber ich bin ein lrrtum, ein Fantasma."r32 @orges 1974: 479)

. Ein "Irrturn", ein "Fantasma" zu sein, dies ist jedoch eine Erfahrung, von welcher zunehmend auch

der Besucher beherrscht ist, seit er Ashgrove betreten hat. An verschiedenen Stellen seines Berichts

ist deshalb die Rede vom Gefühl einer ubiquitliren und zugleich unerklärlichen Bewegung, die von
ihm selbst und seiner Umgebung Besitz zu ergreifen begonnen habe133. Dass es die bevorstehende

Ankunft seines Verfolgers Madden sein könnte, mit der das Gefühl der Bedrohung in Zusammenhang
stehen könnte, wird mit keinem Wort des Textes erwähnt. Höflich knüpft der Besucher an die letaen
Worte des Gastgebers an, in denen dieser darauf hingewiesen hatte, dass es nach der - gernäß den
philosophischen Spekulationen des Romanautors funktionierenden * Wahrscheinlichkeit vorstellbar
sei, dass er selbst, der Hausherr, nachdem er den Besucher zunächst, in der einen Zett, mit allen
Zeichender Freundschaft aufgenommen hätte,'rn der anderenZeit"totaufgefunden" werden könnte:
Wie dem auch sei, "tn allen Zeiten" jedw:falls danke er ihrn und spreche ihm seine 'Verehrung aus
fiir diese Neuschöpflrng des Gartens von Ts'ui P6n."r* (Borges 1974: 479;kursiv: W.B.B.) "Nicht in
allen," murmelte der Hausherr mit einem Lächeln auf den Lippen. "Die Zeit vernveigt sich
unablässig im Hinblick auf unzählige Formen von Zukunft. In einer von ihnen bin ich Ihr Feind."r35

132
Cr"io en infinitas series de tiempos, en una red creciente y vertiginosa de tiempos divergentes, convergentes y
paralelos- Esa trama de tiempos que se aproximan, se bifurcan, se cortan o que secularmente se ignoran, abarca
todas las posibilidades. No existimos en la mayoria de esos tiempos; en algunos existe usted y no yo; en otros, yo,
no usted; en otros, Ios dos- En öste, que un favorable azar me depara, usted ha llegado a mi casa; en otro, usted,
al atravezar el jardin, me ha encontrado muerto; en otro, yo digo estas mismas palabras, pero soy un error, un
fantasma.
133
"Desde ese instante, senti en mi alrededor y en mi oscuro cuerpo una invisible, intangible pululaciön. No la
pululaciön de los divergentes, paralelos y finalmente coalescentes ejörcitos, sino una agitaciön mäs inacdcesible,
mäs intima y que ellos de algün modo prefiguraban." (Borges 1974:-478)

t'o
En todo, articulö no sin un temblor - yo agradezco y venero su recreaciön det jardin de Ts'ui Pön.

135
No en todos murmurö con una sonrisa -. El tiempo se bifurca perpetuamente hacia innumerables futuros- En
uno de ellos soy su enemigo.

89
Latelnamerlkanische Transkriptionen Analysen: Borges

(Ibid.; kursiv: W.B.B.)

5.1.3 Das kulturelle Sinnpotential der "Transkription'o in El jardln de senderos qae se


bifurcan
Blicken wir zurück mit einer scheinbar einfachen, der Nomenklatur Ludwig Jägers enflommenen
Frage: Welches ist das kulturelle Sinnpotential des Verfahrens der Transkription, welches ja
offensichtlich - soweit das Resultat unserer Analyse * das strukturelle Zentrum der vorliegenden
Erzählung bildet? Die Frage verlangt eine Antrvort, wenn wir Transkription nicht nur als ein

"allgemeines Verfahren" bestimmen wollerq durch welches "kulturelle Semantik erzeugt und in Gang

gehalten wird" (Jäger), sondern darüber hinaus auch nach dem ?isthetischen - und insofern natürlich

auch dem semantischen * Mehr-Wert fragen, der - wie oben erläutert (vgl. Kap. 1.1) * mit dem
Verfahren der literarischenTransY,rrptronveöunden ist. Um unsere Antwort zu präzisieren, greifen

wir aus der Vielzahl der Transkriptionen, die die Erzählung enthält, die wichtigste und zentrale

heraus: die Transkription der Agentm-Geschichre (Geschichte A") durch ene Parallel-Geschichte
("Geschichte B'), die sich nach der Ankunft von Yu Tsun in Ashgrove abzuspielen beginnt, eine

Geschichte, durch welche der Irser gez\Mungen wird die mit rationalistischen Fäden gesponnene
Agenten-Intrige vor dem Hintergrund tiefschürfender, philosophischer Unendlichkeits-Spekulationen

zu entschlüsseln. Wenn wir uns jedoch erinnern, dass die Agenten-Geschichte ihrerseits bereits als
Transkription der Kriegsgeschichte von Liddell Hart gelesen werden muß, so erscheint der Abstand

von "Geschichte A" zu "Geschichte B" in noch unwirklicherem Licht. Während sich die
Transkription der Kriegsgeschichte von Liddell Hart in die Agenten-Geschichte - ihrer extremen

Unwahrscheinlichkeit zu Trotz - noch im Rahmen eines durch die Parametsr einer durchschnittlichen

Alltagerfahrung stabilisierten Wirklichkeitsmodells erklären läßt136, steht der Leser durch der im
Znrfirum derErzählung stehenden Transkription derAgenten-Geschichte in die spekulative Parallel-

Geschichte vor der Herausforderung den sicheren Hafen jener Alltagerfahrung ein flir allemal hinter

sich zu lassen. Dabei liegt die eigentliche Provokation des Transkripts nicht nur auf der Ebene der

rnakrostrukturellen Zufülle - Yu Tsun glaubt sich gezwungen, einen hochverdienten Wissenschaftler,

t'u
Wi, alle kennen Telefonbücher als Fundgruben aller nur denkbaren Namensformen. Auch die Koinzidenz von
Orts- und Familiennamen ist keine Seltenheit. Dass Geheimdienste ihre Augen und Ohren überall haben und im
Prinzip in der Lage sind, das von Yu Tsun durch seinen Mord an Stephen Alber ausgesandte Signal korrekt zu
entschlüsseln, wird niemand in Frage stellen.

90
Lateinamerikanische Tran skriptionen Analysen: Borges

der sich um den Nachlaß seines eigenen Urgroßvaters höchste Verdienste erworben hat und den er
nicht zögert, einem "Goethe" als ebenbürtig an die Seite zu stellen137, meuchlings zu ermorden *,
sondem auf der Ebene jener erkenntnistheoretischen Konstitutionsproblematilq wie sie Borges-ksem

seit der Erzählung "Tlön, Uqbar, Orbis Tertius"r38 verfraut ist. Stand im Zentrum der erwdlrnten
Kurzgeschichte das Problem einer gänzlich neuen Sprache - von der die Erfindung einer gänzlich

Neuen Welt abgeleitet wird -, so postuliert die vorliegende Erzählung die Erfindung einer anderen

Zeit.Folgenwir den Ausführungen Stephen Alberts - aber auch den Reaktionen seines Besuchers -,
so handelt es sich bei den Spekulationen um eine alternative Zeit, die das Thema des von Ts'ui P6n
verfaßten Romans bilden, nicht um bloße "Spekulationen" (im negativ konnotierten Sinne des
Begriffs), sondern um den Entrvurf altemativer Welten, in denen die Bedeutungen, die unsere
Alltagswelt konstituieren - von den Identitäten der Protagonisten, die in ihr agieren, bis hin zu den
ethischen Motivationen, die ihr Handeln bestimmen - der konstanten Möglichkeit radikaler Um-

Wertung ausgesetzt sind. Es ist dies offenbar der Grund für die Tatsache, dass der Protagonist, seit er

in Ashgrove angekommen ist, fühlt - wie wir oben hörten -, wie ihm der Boden der Alltagsrealität,

der er sich zugehörig weiß, zunehmend unter den Füßen schwindet.

Natürlich könnte man eine rationalistische Gegenposition zu den Befürchtungen Yu Tsun


einnehmen und die Frage stellen, mit welchem Recht er den philosophischen Spekulationen im
Roman seines Urgroßvater - damit also der fiktionalen Wirklichkeit der "Literatut'' - ein solches

Gewicht gegenüber der Rmlität einräumg wo doch beide Ebenen - "Fiktion" turd "'Wirklichkeif'-
streng voneinander zu trennen seien. Der Einwand wird dem Text von Borges jedoch nur
unzureichend gerecht: Nicht die philosophischen Spekulationen in Ts'ui Pöns Roman, sondern die

malvostru&urellen Ereignisse nach Yu Tsuns Ankunft in Ashgrove sind es, die den Prozeß der
Transkription in Gang bringen. Dazu gehören in erster Linie die "labyrinthischen" Informationen, mit

denen ihm gleich nach seiner Ankunft der Weg zum Anwesen Stephen Alberts gewiesen wird und die

l37
"Ade*äs, yo s6 de un hombre de Inglaterra un hombre modesto - que para mi no es menos que Goethe. Arriba
de una hora no hablö con 61, pero durante una hora fue Goethe..." (Borges 1974:-473)

r38
Es handelt um die erste von acht Erzählungen, die in d.en Obras completas von 1974 unter dem Titel Ficciones
publiziert wurden. Die achte (und damit letzte) ist "El jardin de los senderos que se bifurcan". Bereits l94l hatte
Borges die Sammlung allerdings unter einem anderen Titel separat veröffentlicht. Es ist der Titel der achten
Erzählung des späteren, als Ficciones bezeichneten Sammlung.- Zu "Tlön, Uqbar, Orbis Tertius" vgl. W.B. Berg:
"Neue Welt und alter Buchstabe, oder: Ist Borges ein lateinamerikanischer Schriftsteller?"; in'. Iberoromania Nr.
3s.1992.84-97.

91
Lateinamerikanische Transkriptionen Analysen: Borges

bei ihm augenblicklich eine heftige Erinnerungsphase an seinen Urgroßvater auslösen. Hinzu kommt,

später dann, die Entdeckung, dass der Hausherr als professioneller Sinologe über intime Kenntnisse

über die Entstehung und die Interpretation des Romans seines Urahn verfügt, etc. Seit seiner Ankunft

in Ashgrove erscheint die Alltagswirklichkeit des Protagonisten also in geheimnisvoller Weise mit
der Fiktionswelt des Urgroßvaters vermischt zu sein. Es handelt sic'h potentiell - soweit die
Suggestionen des Verfassers der "Erklärung" - um ein und dieselbe Welt. Die Informationen des
Hausherm bezüglich des Status des I-abyrinths - insbesondere die Klarstellung, dass Ts'ui Pön kein

Raum-, sondem en ZeirLabynnth im Sinn gehabt und als Ort seiner Verwirklichung nicht die

"Reali&it", sondem einen Roman vorgesehen habe -, sind nachträglicher Art: Sie erkkiren, was Yu
Tsun seit seiner Ankunft in Ashgrove zugestoßen ist bzw. was ihm - dem altemativen Zeitmodell
zufolge - in Zukunft möglicherweise zustoßen lmnn: "Frewrd'und "Feind', "Opfer" und 'Mördet''
haben im Rahmen dieses Modells nicht länger den Status exklusiver Oppositionerl sondem
verwandeln sich in prinzipiell austauschbare Größen. Ich wiederhole: Die Möglichkeit der
Verwechslung ist makrostrukturell bedingt. Sie ist das Produkt der Konstruktion einer
wahrscheinlichenWelt, also das Produkt eines Aktes der "suspension of disbelief', auf den wir oben

- mit Bezug auf Coleridge,Cortiuar, aber auch Borges * bereits verwiesen haben (vgl. S. 28!).
Wenn aber sowohl die Konstruktion realßtischert3e als auch die Konstruktion
phantastßchertoo Weltender "suspension of disbelief', also der "Ver-Wahrscheinlichung" im Sinne

von Julia Kristevas Begriff der "vraisemblabilisation"tar, bedürfen, so stellen die philosophischen
Unendlichkeits-Spekulationen von Ts'ui Pön lediglich einen Sonderfall der Konstruktion fiktionaler

Welten im allgemeinen dar, zumal ihre Wahrscheinlichkeit ja gerade nicht- wie wir gesehen haben

- als ein Produkt der philosophischen Spekulationen, sondem vielmehr der makrostrukturellen
Konstellation und Ereignisse zu betrachten sind.

Die Parallelität der Fiktions-Welt des Garterx der Pfade die sich vera,ueigen mit
mathernatisch konstruierten Modell-Weltar liegt auf der Hand: Jene wie diese entziehen sich der

Anschaulichkeit dessen, was wir gewohnt sind als Alltagswirklichkeit zu postulieren, in radikaler

139
So*"it die Argumentation von Borges.

la0
So*"it die Argumentation von Cortäzar.
tot
Vgl. Julia Kristeva: "La productivitö dite texte" (Kristeva 1969:215).

92
Lateinamerikanische Transkriptionen Analysen: Borges

Weise. Schon der Begriff eines räumlich vorgestellten unendlichen Labyrinths läßt sich
widerspruchsfrei nicht denken. Doch Ts'ui Pön geht * wie wir sahen - einen Schritt weiter und will
das räumliche nun als Metapher eines unendlichen Zeit-Iabyrinths verstanden wissen. Dieses ist das
Thema des geplanten Romans. Die Erfahrungen Yu Tsuns seit seiner Ankunft in Ashgrove scheinen

sich mit Aspekten der philosophischen Spekulationen Ts'ui Pöns zu berühren. Es handelt sich um

Konvergenzen, vergleichbar* um ein Bild aus unserer aktuellen Erfahrungswirklichkeit zu bemühen

- den empirischen Beobachtungsdaten, die von einer Raumsonde, die von der Erde aus auf der
Grundlage mathematischer Modelle, deren Abstraktheit all unsere Alltagsvorstellungen von Raum

vnd Zeit ins Wanken bringt, in die Umlaufbahn eines Trabanten des Planeten Juppiter gebracht
worden ist, an die Beobachtungsstation in Cap Canaveral zurücksendet werden. Kurz nachdem der

Übertragungsvorgang abgeschlossen ist, kommt es zu einem Zusammenprall der Sonde mit einem

Meteoriten. Die Erkundung des Juppitermondes hat ein jähes Ende gefunden. In der Erzählung von

Borges entspricht derZusammenprall dem Moment, in dem Yu Tsuns seine Pistole zieht und Stephen

Alb€rt niederschießt. Der kosmische Unfull wird die zukünftigen Projekte der NASA nicht wirklich
in Frage stellen. Der Zusammenprall der Sonde mit einem Meteoriten gehört in den Bereich der
Alltagsvernunft, wie er dre Science-Fiction-Literabx seit dem 19. Jahrhundefi beherrscht. Än*ictr -
die Ahnlichkeit folgt allerdings der Figur des oben erwähnten Chiasmus - die Botschaft der hier
analysierten Erzählung von Borges: Yu Tsun hat am Ende "gesiegt", doch es ist ein Phymrs-Sieg, ein

Sieg der rationalistisch-pragmatischen über die exploratorisch-fantastische Vemunft, ein Sieg also mit
"scheußlichem" Gesicht: Yu Tsun hat die Chance verpaßt, das Angebot der exploratorisch-
fantastische Vernunft für sich zu nutzen. Doch die Borges-kser des 2l . Jahrhunderts werden diesern

Pessimismus kaum Folge leisten: Die "Logik der Forschung" folgt, unverkennbar, einer seit langem

bereits vorausgesagten "Logik der Fiktion"la2.

to2
Du Neokantianer Hans Vaihinger hat diese Konvergenz bereits | 922 in seiner berühmten Philosophie des Als-
Ob auf einer griffige Formel gebracht (vgl Vaihinger 1922).

93

Das könnte Ihnen auch gefallen