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Manfred Frank

Das Problem »Zeit«


in der deutschen Romantik
Zeitbewußtsein und Bewußtsein von Zeitlichkeit
in der frühromantischen Philosophie
und in Tiecks Dichtung

Ferdinand Schöningh
Paderborn • München • Wien • Zürich

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Für Ulrike Renner

CIP-Titclaufnahme der Deutschen Bibliothek

Frank, Manfred:
Das Problem „Zeit" in der deutschen Romantik:
Zeitbewußtsein und Bewußtsein von Zeitlichkeit in der
frühromantischen Philosophie und in Tiecks Dichtung /
Manfred Frank. - Paderborn; München; Wien; Zürich.
Schöningh, 1990
ISBN 3-506-72600-5

2., überarbeitete Auflage von 1972 [Winkler-Verlag, München]

O 1990 Ferdinand Schöningh, Paderborn


(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH, Jühenplatz 1, D-4790 Paderborn)
Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind
urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich
zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verla-
ges nicht zulässig.
Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn
ISBN 3-506-72600-5 • "> . ^

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INHALT

Seite

Abkürzungen n
Einleitung 15
FRIEDRICH SCHLEGEL 22
Der Zirkel in Fichtes Wissenschaftslehre - die Herleitung
des Urwiderspruchs 22
Friedrich Schlegels Entdeckung des Zirkels in
der Wissenschaftslehre 26
Die abstrakten Synthesen im Idealen und im Realen . . 28
a) Die Allegorie 28
b) Der Witz 32
Die Form der abstrakten Synthesis - »fragmentarische
Universalität« 36
Das fragmentarische Chaos: Universum 37
Die Überwindung der abstrakten Synthesen durch
die Ironie 38
Die Methode der dialektischen Progression als Einheit
von System und Chaos 45
Die Aufhebung der Ironie in Historie JI
Die »Bildung« 54
Das »ewige Sein« als Grenze der temporalen Reflexion . 56
Substanz und Freiheit - die Verzeitlichung
des Selbstbewußtseins 59
Die Fragwürdigkeit des »triadischen Schemas« . . . . 70
Die Zeit und ihre Ekstasen - eine organisierte Struktur . 71
»Philosophie des Lebens« - Poesie des Lebens 83

KARL WILHELM FERDINAND SOLGER 97


»Das Problem« von Solgers Philosophie 97
Sein und Nichts 99
Das Sein in der Relation - Selbstbewußtsein und Folge . 103
Die Konstitution des Endlichen als Zeitigung IOJ
Die absolute Differenz von Ewigkeit und Zeitlichkeit . . in
Die Ironie der Unangemessenheit von Wesen und Sein
im absoluten Selbstbewußtsein 113
Ironie als »Wesen der Kunst« 120

NOVALIS 130
Der Impuls zu Hardenbergs Philosophieren 130

5
Seite
Kants Aporie der Selbstbewußtseins-Theorie im Spiegel
der frühidealistischen Kritik 132
Die Uberbietung des Kantischen Standpunkts durch Fichte
und Novalis 136
Der Einsatz der Fichte-Studien 141
Nicht-setzendes und setzendes Bewußtsein 144
Absolute Identität und relative Differenz 153
Der reflektierende Reflex als »Rollentausch« von Subjekt
und Objekt 155
Raum und Zeit 158
Zeit als »Selbstaffektion« - die »höhere Wissenschaftslehre« 163
Die Temporalität von »Grund« und »Resultat« . . . . 167
Der ontologische Status von Sein als Anwesenheit . . . 173
Die Vergangenheit als Anwesenheit des Seins im Gedächtnis 175
Gegenwärtigkeit als verweigerte Koinzidenz mit dem Sein 177
Die dynamischen Relationen des Raums und der Zeit . . 183
Vollkommene und unvollkommene Gegenwart . . . . 190
Die Bestimmung der Selbstvermittlungs-Sphäre
als Einbildungskraft 193
Die Kraft der Einbildungskraft - das abstrakte Absolutum 194
Zeitlichkeit als »Zersetzung« der »Sfäre« 199
Zeitlichkeit als »Sucht nach der Ewigkeit« 203
Der »Grund« als »regulative Idee« des Zeitlichen . . . 207
Die Zeit als »Schöpfungskraft« 216
Skizzen zu einer romantischen Poetik der Zeitlichkeit . . 222

DIE POETISCHE GESTALTUNG


DES ROMANTISCHEN ZEITBEWUSSTSEINS
IN TIECKS DICHTUNG 233
Richtlinien der Interpretation 233
Die Zeit-Struktur des Verstehens als Modell
des Verstehens von Zeitlichkeit 233
Tiecks poetisches Selbstverständnis: Erlebnis
und Entwurf 235
Der heuristische Wert eines üblichen Vorwurfs
gegen Tieck 239
Exposition aller Typen von Zeiterfahrung und -gestaltung
im Erzählwerk 243
Die Antizipation des Umschlags (das erste Paradigma:
>präreflexives Bewußtsein<) 243
Der ständige Wechsel und sein Reflex im Stil
(das zweite Paradigma: die vorschnelle Reflexion<) . . 246

6
Seite
Der Widerstreit von Zeitbewußtsein
und Zeitverdrängung 253
Das Vergessen und seine Paradigmata - die Frage nach
der Identität des Bewußtseins 255
Der Verlust der Erinnerung 257
Selbstentfremdung - das sich entgleitende Ich . . . . 262
Permanente Selbstentfremdung - das Traumbewußtsein 266
Unvollkommene Transzendenz: die Märchen . . . . 268
Die innere Leere und die Ekstatik des Herzens . . . 280
Die Auflösung der Inhalte als »Zeitkonsum« . . . . 283
Die Angst vor der Freiheit und der Taumel
der Möglichkeiten 287
Die Inkonsequenz des Bewußtseins 292
Der »Mensch ohne Charakter« in Tiecks Theorie . . . 295

Das >Schauspiel< 299


Komik und Phlegma - Tiecks Theorie des Lächerlichen . 300
Beispiele von komischer unvollkommener Transzendenz< 304
Die Komik der vorschnellen Reflexion< 312
Das übersteigerte Selbstbewußtsein 314
Das komische >Vergessen< 316
Ironie als dramatischer Stil 319
Die lockere dramatische Motivation 327
Handlungsgefüge und Persönlichkeitsstruktur
in Tiecks Blaubart 336
Die Auflösung der Wirklichkeit in Schein -
das Wunderbare 352
Spiel mit der Willkür 354
Die Verflüchtigung des Dialogs 356
Mißtrauen gegen die Sprache 360

Die Lyrik 363


Interpretation von >Liebe und Treue< 364
Einheit im Spiegel der Fülle 370
Interpretation des »Schlaflieds« (Magelonen-Zyklus)
- Modulation und Rhythmus 379
Lyrische Sprache und innere Zeit 389
>Brechung des lyrischen Melos< - die Nähe zum
erzählenden Prosastil 391
Das Kompositionsprinzip: >totale Durchführung< . . . 395
Zeit als Allegorie und als Symbol 397
Die Auflösung der Form 400
Übermacht des Wirklichen 408

7
Seite
ANMERKUNGEN 410

NACHWORT 489

8
»Ich bin der festen Überzeugung, daß von keinem der Vernunft
nur nicht ganz beraubten Menschen je etwas in spekulativen Din-
gen behauptet worden, wovon sich nicht in der menschlichen Natur
selbst irgendein Grund auffinden ließe.«
F.W.J. Schelling
(SW 1,1,363)

»Zweck der Kunst: Vergegenwärtigung des Abwesenden, Mo-


nument. Die Geliebte selbst aber ist mehr als ihr Bild.«
J. W. Ritter
ABKÜRZUNGEN

Nachweise für Zitate aus den in der vorliegenden Dissertation


behandelten Quellen werden unter Siglen unmittelbar hinter das
gegebene Zitat in Klammern eingerückt. Die Buchstaben und Zif-
fern, die sich auf die gewählte Werkausgabe, auf Abteilung, Band,
Seitenzahl, Abschnitt, Fragment-Nr., Zeile usw. beziehen, sind bei
jedem Autor in einer individuellen Reihenfolge so abgestimmt, daß
sich schon aus der jeweiligen Abfolge von Abkürzung, römischer
bzw. arabischer Ziffer, Nummer usw. die zitierte Werkausgabe ein-
deutig erkennen läßt.

A 347,B 404 1. bzw. 2. Auflage der Originalausgaben von


Kants Kritik der reinen Vernunfl (1781 bzw.
1787); zit. nach Immanuel Kant, Kritik der
reinen Vernunft, Hamburg 1956 ( = Philoso-
phische Bibliothek, Band 37a).
i.l 1. Einl. in die Joh. Gottl. Fichte, Erste und zweite Einleitung
WL in die Wissenschaftslehre, hg. von Fritz Medi-
cus, Hamburg 1967 ( = Philos. Bibliothek, Bd.
239)-
Fichte I, 325 Joh. Gottl. Fichte, Sämmtliche Werke, hg. von
I.H.Fichte, Berlin 1834-1846 (Bandnummer
und Seitenzahl).
Janke, 26 J.G.Fichte, Wissenschaftslehre 1804, Einl. u.
Kommentar von Wolfgang Janke, Frankfurt
a. M. 1966.
Schulz Fichte-Schelling Briefwechsel, hg. von Walter
Schulz, Frankfurt a. M. 1968.
I> 7. 378 Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings
sämmtliche Werke, hg. von K. F. A. Schelling,
Stuttgart und Augsburg 1856-1861 (Abtei-
lung, Band, Seite).
Schröter V, 13 Schellings Werke. Nach der Originalausgabe
in neuer Anordnung herausgegeben von M.
Schröter. München 1927 ff. (Erg.Bd. = Ergän-
zungsband).
WA III, 245 Schellings Werke, Nachlaßband, Die Weltal-
ter, Urfassungen, hg. von Manfred Schröter,
München 1946 (röm. Ziffer = Fassungen I, II,
Entwürfe und Fragmente III, IV).
Ph. der Kunst Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Philoso-
phie der Kunst. Darmstadt 1966 (unveränderter

n
reprografischer Nachdruck der aus dem hand-
schriftlichen Naßlaß herausgegebenen Ausgabe
von 1859).
KA XVIII, 237, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von
Nr. 526 Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-
Jacques Anstett und Hans Eichner, München-
Paderborn-Wien (Bde. II 1967; VI 1961; X
1969; XI 1958; XII 1964; XIII 1964; XIV
1959; XVIII 1963; X I X [in Bogenkorr. ein-
gesehen] (Band, Seite, Fragment-Nummer).
L.N. Friedrich Schlegel. Literary Note-Books. Edit-
ed by Hans Eichner. London 1957.
Kröner Friedrich Schlegel, Schriften und Fragmente,
Ein Gesamtbild seines Geistes. Aus den Wer-
ken und dem handschriftlichen Nachlaß zusam-
mengestellt und eingeleitet von Ernst Behler,
Kröner Verlag, Stuttgart 1956.
N.S. I, 270 Solger's nachgelassene Schriften und Brief-
wechsel. Herausgegeben von Ludwig Tiedc
und Friedrich von Raumer, Leipzig 1826
(Bandnummer und Seitenzahl).
Erwin II, 147 Erwin, Vier Gespräche über das Schöne und
die Kunst. Von K. W. F. Solger, Berlin 1815
(Bandnummer und Seitenzahl).
V. 127 K. W. F. Solgers Vorlesungen über Ästhetik
hg. von K. W. L. Heyse, Leipzig 1829.
II, 117, Nr. 19, Novalis. Schriften. Bd. 2 und Bd. 3. Das philo-
Z. 20-22 sophische Werk. Hg. von Richard Samuel in
Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mahl und
Gerhard Schulz. Stuttgart 1965 und 1968.
(Abteilung, Seitenzahl, Fragment-Nummer,
Zeile; Abteilung II-VII in Bd. 2, Abteilung
VIII-XII in Bd. 3). Wo ausnahmsweise die
erste Auflage der Ausgabe (Leipzig 1919) zi-
tiert ist, ist dies durch eine erhöhte * vor dem
Zitat kenntlich gemacht (z. B. ^ X , 230, Nr.

I.93I Ludwig Tieck, Werke in vier Bänden, hg. von


Marianne Thalmann, München 1963-1966.
2, 3 H Ludwig Tieck's Schriften, Berlin 1828-1854
(Band, Seitenzahl).
Kasack II, 231 Ludwig Tieck, hg. von Hermann Kasack und
Alfred Mohrhenn (2 Bände). Berlin 1943.
Ged. 3, 117 Ludwig Tieck, Gedichte, Faksimiledruck nach

12
der Ausgabe von 1821-23 ( = Deutsche Neu-
drucke), Heidelberg 1967.
Tieck, N.S. 1,131 Ludwig Tieck's nachgelassene Schriften
(2 Bände), Auswahl und Nachlese. Hg. von
Rudolf Köpke, Leipzig 1855.
K.S. I, 87 Kritische Schriften von Ludwig Tieck, Leipzig
1848 (2 Bände); (Bandnummer und Seiten-
zahl).
Köpke II, 217 Rudolf Köpke. Ludwig Tieck, Erinnerungen
aus dem Leben des Dichters, Leipzig 1855 (2
Bände). (Bandnummer und Seitenzahl).
BüSh. 86 Das Buch über Shakespeare. Handschriftliche
Aufzeichnungen von Ludwig Tieck. Aus sei-
nem Nachlaß herausgegeben von Henry Lü-
deke. Halle a. S. 1920 (in: Neudrucke deut-
scher Literaturwerke des 18. und 19. Jahrhun-
derts, hg. von Albert Leitzmann und Walde-
mar Oehlke, Nr. 1).

Zitate aus Briefen der oben angeführten Autoren (einschließlich


A. W. Schlegels) werden mit Ort und Datum ihrer Niederschrift be-
legt. Die folgenden Briefwechsel-Ausgaben sind zugrundegelegt (ge-
legentliche Seitenangaben beziehen sich darauf):
Fichtes Briefwechsel. Gesammelt und herausgegeben von
H. Schultz. 2 Bde. Leipzig 1930.
Briefe an Cotta. Hg. von M. Fehling bzw. H. Schiller. 3 Bde.
1925-1934.
Aus Schellings Leben. In Briefen. Hg. von G. L. Plitt. 3 Bde.
1869/70.
F. W. J. Schelling. Briefe und Dokumente. Bd. I, 1775-1809. Hg.
von Horst Fuhrmans. Bonn 1962.
Aus Schleiermachers Leben. In Briefen. Hg. von L. Jonas und
W. Dilthey. 4 Bde. Berlin 1858-1863.
Briefe von und an Hegel. Hg. von J. Hoffmeister. 4 Bde. 1952/54.
Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm. Hg.
von Oskar Walzel. Berlin 1890.
Caroline. Briefe aus der Frühromantik. Nach Georg Waitz ver-
mehrt hg. von Erich Schmidt. Leipzig 1913 (2 Bde.).
Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegel-Kreis.
Hg. von J. Körner. Brünn-Leipzig-Wien-Bern 1936-1958.
(3 Bde.)
Ludwig Tieck und die Brüder Schlegel. Briefe mit Einleitung und
Anmerkungen hg. von H. Lüdeke. Frankfurt a. M. 1930 (Ver-
änd. u. erw. Neuausgabe v. E. Lohner, München 1972).

13
Tieck und Solger. The complete correspondence with introduction,
commentary, and notes. By Percy Matenko. New York - Ber-
|ini933-
Friedrich Schlegel und Novalis. Biographie einer Romantiker-
freundschaft in ihren Briefen. Auf Grund neuer Briefe Schlegels
hg. von Max Preitz. Darmstadt 1957.
Novalis. Tagebücher, Briefe und Lebenszeugnisse. In: Schriften. Im
Verein mit Richard Samuel hg. von Paul Kluckhohn. Nach den
Handschriften ergänzte und neugeordnete Ausgabe. 4 Bde. Leip-
zig 1929 (Bd. 4).
Briefwechsel zwischen Schiller und Kömer von 1784 bis zum Tode
Schillers. Mit Einleitung von L. Geiger. 4 Bde. Stuttgart 1892.
Wilhelm Heinrich Wackenroder. Werke und Briefe. Heidelberg
1967-
Hitherto unpublished letters from Ludwig Tieck to Friedrich von
Raumer. Contributed by Edwin H. Zeydel and Percy Matenko.
New York 1930 ( = Germanic Review Texts II).
Letters of Ludwig Tieck. Hitherto unpublished 1792-1853. Col-
lected and edited by Edwin H. Zeydel, Percy Matenko, Robert
H. Fife. New York-London 1937 (einzelne Ergänzungen dazu
bibliographisch erfaßt durch Dieter H. Haenidke in: Ludwig
Tieck. Ausgewählte Werke 1. München o. J. (bei Goldmann).
S. 142/3).
Letters to and from Ludwig Tieck and his Circle. Hg. von P. Ma-
tenko, E. H. Zeydel und B.M.Masche. Chapel Hill 1967 (Uni-
versity of North Carolina Studies in the Germanic Languages
and Literatures, Nr. 57).
Briefe an Ludwig Tieck. Ausgewählt und hg. von Karl von Hol-
tei. 4 Bde. Breslau 1864.
Karl von Holtei. Dreihundert Briefe aus zwei Jahrhunderten. 2
Bde. Hannover 1872.
Aus Tiecks Novellenzeit. Briefwechsel zwischen Ludwig Tieck und
F. A. Brockhaus. Hg. von Heinrich Lüdeke von Möllendorff.
Leipzig 1928.
Ludwig Tieck und Ida von Lüttichau in ihren Briefen. Texte hg.
und erklärt von Otto Fiebiger. Dresden 1937 ( = Mitteilungen
des Vereins für die Geschichte Dresdens/Heft 32).

14
EINLEITUNG

Gleichzeitig mit den ersten idealistischen Systementwürfen ent-


stand im Werk Ludwig Tiecks eine Dichtung, in deren Anfängen be-
deutende Theoretiker der romantischen Generation poetisch ver-
wirklicht sahen, was sie ihr »romantisches Ideal« nannten. Tieck
seinerseits - eine Zeitlang in ständigem Dialog mit Fichte, Schel-
ling, Schleiermacher und seinen Freunden - war angeregt, ein
Selbstverständnis seiner poetischen Praxis zu entwickeln, das dem
der Philosophie korrespondierte. Er und kein anderer Schrift-
steller der sogenannten »romantischen Schule« erhielt für seine
Dichtung das einmütige und zunächst durch keinerlei wesentliche
Kritik geschmälerte Lob sowohl von Fichte wie von Schelling, von
Schleiermacher sowie von den Schlegels, von Hardenberg und
Solger.
Die durchgängige - vom Dichter wie von den Philosophen be-
stätigte, ja geforderte - Übereinstimmung von Spekulation und
poetischer Praxis deutet auf einen metaphysischen Entwurf zurück,
der den Parallelismus beider aus einem gemeinsamen Ursprung ab-
leitet. Die vorliegende Arbeit erschließt als die Erlebnisgrundlage
dieses Entwurfs eine die romantische Philosophie mit ihrer Dich-
tung vereinigende Erfahrung von Zeit. Die spekulative Theorie -
qua »Reflexion des Gemüts« - entdeckt die Zeit als die Ursprungs-
dimension des Bewußtseins, so wie die Dichtung - qua »Darstel-
lung des Gemüts« - diese Erfahrung sprachlich verwirklicht.
Unsere Arbeit hat demnach drei Aufgaben zu erfüllen. Es bedarf
erstens des Nachweises, daß sich unter die leitende Idee der Verzeit-
lichung des Selbstbewußtseins das gesamte Spektrum romantischen
Philosophierens subsumieren läßt. Wir müssen demnach alle in der
Genese einer philosophischen Entwicklung einzeln hervorgetriebe-
nen theoretischen Bestimmungen - auch solche, die nicht eigens
auf Zeitverhältnisse rekurrieren - ihrer substantiellen Zugehörig-
keit zur Zeitbewußtseins-Problematik überführen; d. h. wir müssen
zeigen, daß jeder Aspekt dieses philosophischen Totalisierungspro-
zesses erst aus der Intelligibilität seines Zielpunktes angemessen ver-
standen werden kann. Das macht natürlich Detailuntersuchungen
unentbehrlich.
Die hierbei gewonnenen Kategorien müssen zweitens ihre Taug-
lichkeit zur Erfassung des Gesamtphänomens darin bewähren, daß
sie sich auf Tiecks Dichtung anwenden lassen; und zwar derart, daß
durch sie das Eigentliche seiner Poesie, ihr Wesen, aufgeschlossen
werden kann.
Wenn das gelingt, ist drittens ein Interpretationsmodell exempla-

i5
risch vorgeführt, das sich ebenso gut auf andere philosophisch-lite-
rarische Konstellationen anwenden ließe.
Diese drei Absichten, die in der Analyse natürlich auseinandertre-
ten, sind funktional aufeinander bezogen. Sie geben von selbst die
Gliederung dieser Arbeit an: Einer Deutung des Zeitaspekts in der
Philosophie von Schlegel, Solger und Hardenberg 1 folgt als zweiter
Hauptteil eine Interpretation von Tiecks Dichtung unter dem Ge-
sichtspunkt der Zeitlichkeit. Die Entsprechung dieser Hauptteile
muß die Möglichkeit ihrer Verbindung demonstrieren.
Die neuere Forschung kennt ähnliche Parallelen von Zeittheorie
und poetischer Praxis; etwa die Beziehungen zwischen Husserls
Vorlesungen über die Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins
und James Joyce's Ulysses und Finnegan's Wake oder die Ana-
logien zwischen Bergsons Theorie der erlebten Zeit und Prousts gro-
ßem Romanwerk. 2 Schließlich hat Emil Staigers Buch Die Zeit als
Einbildungskraft des Dichters eine Reihe von Versuchen angeregt,
die poetische Werke auf Strukturen der Zeiterfahrung hin auslegen.
Das Interesse am Problem der Zeit erklärt sich aus den Erkenntnis-
sen moderner philosophischer Richtungen, die Zeit als das nicht zu
hinterfragende Sein der menschlichen Wirklichkeit verstehen. Dem-
nach verrät sich in Dichtungen, in denen sich Strukturen von Zeit-
lichkeit aufdecken lassen, etwas vom unvordenklichen Sein der
menschlichen Wirklichkeit. Das ist in der Tat Staigers Anspruch.
Nun läßt sich unschwer zeigen, daß der in diesen Arbeiten zu-
grundegelegte Begriff von Zeitlichkeit schillert: Er deckt zwar wirk-
lich ein wesentliches Strukturmerkmal der behandelten Dichtungen
auf, ohne jedoch zuvor einer Prüfung unterzogen worden zu sein,
die seine Übertragbarkeit auf Dichtung sichert und zeigt, daß die
Identität des Begriffs bei dieser Übertragung gewahrt bleibt. Das
ist zum Beispiel in Staigers und den durch ihn angeregten Arbeiten
nicht der Fall. Ein Titel wie »Die Zeit als Einbildungskraft des Dich-
ters« behauptet mehr, als sich beweisen läßt; und den schuldig ge-
bliebenen Beweis ersetzt ein beiläufiger Hinweis auf die Resultate
von Heideggers berühmter Kantinterpretation.'
Es bedarf, mit anderen Worten, einer philosophischen Grund-
legungsarbeit, die die Anwendbarkeit eines Begriffes, der - wie
Schelling sagt - »von jeher zu den dunkelsten gerechnet worden«
(WA I, 81), auf Dichtungen verbürgt und erklärt. Eine solche Ver-
mittlung für die Interpretation von Literatur haben aber weder
Husserl noch Heidegger - und Sartre nur ansatzweise - konzi-
piert; die romantische Theorie hingegen liefert wertvolle Hinweise.
Und so erweist sich die Zusammengehörigkeit von Philosophie und
Poesie der Zeitlichkeit in der Romantik nicht nur wegen ihrer
Simultaneität als eine hermeneutische Chance.

16
Ein weiterer hermeneutischer Vorzug der Themenstellung ergibt
sich daraus, daß die Problematik der Zeitbewußtseins-Theorie die
modernen phänomenologischen Theorien eines Husserl oder Sartre
auf das alte idealistische Problem der Letztbegründung zurückge-
trieben hat. Zwischen Husserls Begründung des absoluten, zeitlo-
sen Zeitflusses und dem ihm korrespondierenden Bewußtsein einer-
seits und Fichte-Schellings gerade umgekehrter Fragestellung ande-
rerseits besteht erregenderweise weder strukturell noch von der Sa-
che her ein Unterschied.
Diese Behauptung muß erläutert werden. Es ist bekannt, daß
Husserl, der gegen den deutschen Idealismus Front machte und ge-
gen Psychologismus und den Kantischen (angeblichen) Bewußtseins-
immanentismus zu streiten begann, indem er das Bewußtsein als
eine nicht-substantielle Intentionalität von dem Etwas, darauf sie
zielt, dissoziierte, mit einer Position beschloß, die sich selbst wieder
als »transzendentalen Idealismus« bezeichnete und in Studien über
Kant und Fichte einen total veränderten Tonfall redete. Der junge
Sartre, anfänglich empört über den idealistischen Rückfall seines
Lehrers, glaubte Husserls eigene Anfänge gegen die Verwirrungen
seiner Entwicklung verteidigen zu müssen und machte sich daran,
das Bewußtsein, vermeintlich in Husserls Sinne, auf eine Weise zu
entsubstantialisieren, daß er es schließlich als reines »Nichts« be-
zeichnet und von Substantialität (Dinglichkeit) radikal unterschei-
det. Bewußtsein konstituiert sich selbst als das nicht seiend, was die
von ihm gesetzten an-sich-seienden Dinge sind. Es ist also, wie die
berühmte, Hegels Bestimmung der Zeit entborgte Formel lautet,
das nicht, was es ist (d. h. es ist sein eignes An-sich, seine psycho-
physische Wirklichkeit ebensowenig wie es andere Substanzen ist),
und ist nicht das, was es ist. Das Bewußtsein, das sogar die Substanz
»Ichheit« über Bord wirft, ist im eminenten Sinne zeitlich: d. h. es
ist über sein eigenes Sein vermöge seiner wesenhaften Substanzver-
weigerung in jedem Augenblick schon hinaus und bestimmt sich
selbst als reine Ablehnung der Identität-mit-sich-selbst oder, was
das gleiche ist, als Freiheit, als Spontaneität, die sich selbst hervor-
bringt, ohne ihr Hervorgebrachtes in einer identifizierenden Glei-
chung sich selbst einverleiben zu können. Was ihr zum Bewußtsein
kommt, ist immer nicht das, was das Bewußtsein selbst ist. Das-
jenige, dem sich die Spontaneität verweigert und das ihr mangelt,
ist also das Sein an sich und zugleich für sich oder, anders gesagt,
die Identität ihres Bewußtseins und ihres Seins. Diese Identität, die
der Grundsatz der Philosophie des deutschen Idealismus gewesen
ist, wird dem Bewußtsein zur »regulativen Idee«, an deren Uner-
reichbarkeit es verzweifelt und die, ewig vorschwebend, ewig ver-
fehlt wird. Man muß aber differenzieren. Der deutsche Idealismus

*7
hat sich in zwei theoretische Richtungen dissoziiert. Deren eine,
durch seine eigne Philosophie von 1801 bis 1804 und Hegel reprä-
sentiert, hat der späte Schelling als »negative Philosophie« zu de-
nunzieren versucht - ein Vorwurf, der seine frühidealistische Tradi-
tion hat. 3a Die andere, vom ihm selbst, Sinclair und Hölderlin,
Hardenberg, Friedrich Schlegel (ab 1801/02) und Solger vertreten,
radikalisiert hingegen das Problem der Endlichkeit, als deren hin-
reichendes Definiens Zeit erkannt wird, und gesteht zu, daß die
reale Verfolgung der Idee des An-sich-für-sich »in die Räume des
Unsinns führen muß«. Diese Position hat sich dem modernen Welt-
verständnis durch ihre eigenartige Ablehnung der Hegelschen Ver-
söhnungstendenz empfohlen. Die Struktur der radikalen Zeitphilo-
sophie ist bei Sartre und bei diesen Idealisten identisch und bis in
den Wortlaut auf geradezu verblüffende Weise analog.
Wenn die Idealisten bemerken, daß die Idee des Absoluten gleich-
wohl nicht aufgegeben werden kann, weil sie sich in der Zeitlichkeit
des Daseins aufdrängt - derart freilich, daß das Dasein nicht das-
jenige selbst sein kann, womit es sich auf rätselhafte Weise verbun-
den, aber nicht einig erfährt -, so hat auch dies eine Entsprechung
in Husserls Phänomenologie. Husserl hat in seinen Vorlesungen
über die Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (Husser-
liana, Bd. X) die für ihn offensichtlich bestürzende4 Entdeckung
gemacht, daß der vermeintlich archimedische Punkt des weltkonsti-
tuierenden Bewußtseins von einer noch fundamentaleren (oder je-
denfalls gleichursprünglichen) Entität unterminiert wird, über die
es nicht verfügen kann. Das ist der in William James'scher Tra-
dition so genannte »Bewußtseinsstrom«. Der Fluß der inneren Zeit
paralysiert die Identität des Bewußtseins, ohne daß doch »etwas«
wäre, das sich verändern könnte und fließt; denn »es ist die absolute
Subjektivität« selbst (a.a.O., 73 und 75). Wenn sich nun nach der
phänomenologischen Reduktion auf die Urgegebenheit »jede zeit-
liche Erscheinung wieder in einen solchen Fluß auflöst«, so entsteht
die Frage, wie ich das Bewußtsein, in das sich alles Konstituierte
auflöst, seinerseits gewahren kann, ohne in den alten Fehler des
infinitiven Regresses zu geraten. Wie Fichte konstatiert Husserl das
Faktum, daß wir vom jedem Objekt zuvorkommenden Zeitfluß wis-
sen, ohne ihn begründen zu können (»Daran besteht kein Zweifel,
daß solche Wahrnehmung besteht«; a.a.O., 113). Mit einem Wort,
Husserl stößt auf das Problem der Letztbegründung4*, das schon die
idealistischen Theorien beunruhigte: Dasjenige Bewußtsein, in das
sich alles andere auflöst, ist der reine Zeitfluß. Er kann nun nicht
seinerseits aus einem ihm vorausgehenden Bewußtsein erklärt wer-
den, ist also das reine - »präphänomenale« (129) und »vor-... reflek-
tive« -, d. h. aber auch: zeitlose Strömen (hier ist Husserl bis in die

18
Formulierung gleich mit Schelling [WA I, 80; vgl. schon Kant,
A 143, B 224/5]). Husserl muß das »Urbewußtsein« als eine Art
immanenten Offenbarungsaktes annehmen (vgl. a.a.O., 111 ff.), in
dem sich etwas der konstituierten Zeitlichkeit Vbrgängiges (insofern
Ewiges) dem zeitlichen Bewußtsein allaugenblicklich vermittelt, aber
nicht selbst ins Bewußtsein fällt. Diese Konsequenz zieht er in der
Tat durch das Theorem vom »Urbewußtsein« jedes Bewußtseins-
»Inhalts« (a.a.O., 119).5 Es ist das Gegenteil des Dingbewußtseins -
ein Selbstbewußtsein, das das eigene Selbstsein nicht als Ding, son-
dern als Spontaneität hervorbringt, darum absolut ist - d. h. nicht
als Rektum eines darauf geschickten Bewußtseinsstrahls erklärt wer-
den kann. Das war - auf entsprechende Weise - bekanntlich Fichtes
Problem. Seine romantischen Zeitgenossen haben die Urhandlung
analysiert und entdeckt, daß Fichte, der seine Aufmerksamkeit auf
die mögliche Unbedingtheit der Icherfahrung heftete, die Prozessu-
alität der Handlung Selbstbewußtsein zunächst sehr ungenügend
bedachte, und haben daraus Konsequenzen gezogen, die, wie man
sieht, außerordentlich weit über ihre Zeit hinaus aktuell geblieben,
von einer erneuerten Interpretation des Phänomens »Idealismus«
aber allererst wiederzuentdecken sind.
An der romantischen Philosophie (d. h. der Philosophie der oben
aufgeführten Theoretiker) läßt sich das >Paradigma der Moderne<5a
vorzüglich erläutern. Die allen anderen Erfahrungen vorgängige
Einsicht: nur aus sidi selbst zu sein und sich nur aus sich selbst er-
halten zu können, ist im Selbstbewußtsein unlösbar verbunden mit
dem »Gefühl«, sich aus sich selbst nicht begründen zu können. Das
Prinzip Selbstbewußtsein, zunächst mit dem Pathos einer großen
Revolution als das befreiende, zur Handlung emanzipierende We-
sen des Menschen ergriffen, zeigt seine Untauglichkeit als Prinzip
darin, daß im Akte der Selbstvergegenwärtigung als dem funda-
mentalsten Akte der Existenz das Dasein sich selbst erfährt als ge-
schickt aus »unverfüglichem Grunde«. »Der Mensch«, sagt Schel-
ling, »bekommt die Bedingung [seiner Existenz] nie in seine Ge-
walt« (I, 7, 399). Husserls Zirkel ist also hier antizipiert - aber
auch seine Konsequenzen. Das Prinzip Selbstbewußtsein wird bald
umgedeutet in ein »Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit« vom
schickenden Grunde - Schleiermacher ersetzt als erster den Termi-
nus »transzendentaler Grund« durch den: »transzendenter
Grund« 6 - , mit dem das endliche Ich sich sowenig identifizieren
kann wie die Kreatur mit ihrem Schöpfer.6" Selbstsein wird - mit
einem Ausdruck Hardenbergs - als Stiftung von »Existenz« erfah-
ren, d. h. ursprünglich als eine Widerspruchserfahrung: zu sein
außer dem eignen gründenden Sein oder zu sein im Widerspruch
zu sich selbst, derart, daß das Existierende nicht zumal das, wovon

19
es sich abhängig fühlt, selbst ist und seine eigene Defizienz durch
Handeln zu »komplettieren« trachtet. Dadurch wird der Grund
selbst als Vergangenheit abgesetzt, und die neue Vereinigung bleibt
ewig zukünftig. Vergangenheit und Zukunft sind demnach zwei
Weisen, wie die reflexive Ichheit ihr Ansichsein verfehlt. Gegen-
wärtigkeit ist der Zustand der »Substanzlosigkeit« selbst (»Gegen-
wart ist infixibel«, »Ich ist im Grunde nichts«). Den Bewußtseins-
modi »Erinnerung« und »Sehnsucht« sind Vergangenheit und Zu-
kunft zugeordnet, deren Dichotomie selbst nur ein Ausdruck des als
Zeit thematisierten »Mangels« im Inneren der Ichheit ist. Die Zeit
ist eine Indikation dieses Mangels und ebenso seine Überwindung.
Sie ist - hier decken sich die Definitionen von Schelling und Fried-
rich Schlegel hinsichtlich der Zeit einerseits und der Ironie anderer-
seits - »diese Vernichtung des besonderen Lebens als eines beson-
deren« und damit zugleich »eine beständige Sucht nach der Ewig-
keit«, »Sehnsucht nach dem Unendlichen«, dessen »Epideixis« (I, 6,
220; WA II, 124; KA XVIII, 128, Nr. 76; 418, Nr. 1168).
Sowohl Schelling wie auch Novalis, Friedrich Schlegel und Solger
haben die ursprüngliche Zeitlichkeit des Selbstbewußtseins so her-
geleitet - oft in deutlicher Scheu vor den systemsprengenden Kon-
sequenzen ihrer Einsicht - , und zwar nachweisbar in relativer Un-
abhängigkeit voneinander. Das muß im folgenden gezeigt werden.
Zunächst wird man ein Kriterium für den Anspruch verlangen,
daß Tiecks Dichtung die Erfahrung zeitlicher Existenz paradigma-
tisch gestalte. Um die Zugehörigkeit seiner Poesie zur Bewußtseins-
stellung seiner mehr zur Theorie neigenden Freunde zu beweisen,
möchte ich einen Hauptvorwurf gegen Tiecks Poesie beleuchten. Er
läßt sich in die Formulierung zusammenfassen, daß sie substanzlos
sei. Es fällt nicht schwer, das Argument zu verifizieren. Stellt man
es aber in Relation zur Wahrheit, der sich diese Dichtung verpflich-
tet weiß, und erkennt diese Wahrheit im Selbstverständnis der
Frühromantik als eine materiale Aussage über die Substanzlosigkeit
der menschlidien Wirklichkeit, so wiegt es weit weniger schwer, als
die Kritik beabsichtigt. - Die romantische Theorie hat Poesie und
philosophische Reflexion als je verschiedene Explikation einer und
derselben Wirklichkeit gedeutet und in diesem (freilich auch nur in
diesem) Sinne »Kritik der Poesie ein Unding« genannt - sie muß
in Selbstkritik eines von der Wirklichkeit entfernten Kritikers um-
schlagen. Dichtung ist, mit anderen Worten, dem temporellen
Selbstverständnis der Wahrheit unterworfen - und nach romanti-
scher Überzeugung ist »das Wahre das Ganze«. Universalität ist
eine Verbindlichkeit, der sich der Dichter nicht entziehen kann, ohne
daß seine Dichtung unwahr wird. Nun haben, wie zu zeigen sein
wird, die Frühidealisten die menschliche Wirklichkeit als durch die

20
»Substanzlosigkeit des Selbstseins« (vgl. II, 3, 357) charakterisiert
erkannt (II, 2, 423: »denn während im Menschengeschlecht die
große Mannichfaltigkeit möglicher Charaktere an die Individuen
vertheilt ist, so ist im Thierreich jeder bestimmte Charakter Charak-
ter der Gattung«. Vgl. mit Lessing über die Fabel [darum wurden
früh Tiere in einer Art »Symbolik moralischer Eigenschaften« ge-
braucht]); und Tieck zeigt sich in theoretischen Abhandlungen, den
in seiner Dichtung so häufigen Reflexionen auf die Zeit und im
Briefwechsel (besonders mit Solger) als dieser Theorie sowohl wie
dem sie begründenden »Erlebnis« verpflichtet. Wir werden zu zei-
gen haben, wie sich das in Struktur, Stil und Beschaffenheit seiner
poetischen Sprache reflektiert. Eine Kritik, die sich nicht auf die Ge-
nese von Gedanken einläßt, sondern ihre befremdlichen Auswir-
kungen (etwa der romantischen Bewußtseinsstellung in Tiecks Dich-
tung) kritisiert, ist wissenschaftlich indiskutabel.
In der Argumentation der romantischen Theoretiker wird die The-
matisierung der Zeitlichkeit mit einer Kant- und Fichte-Kritik ver-
bunden; einerseits, indem über Ich und Nicht-Ich eine übergeord-
nete, beide allererst setzende »Urtätigkeit« angenommen wird, die
Novalis später als die »alles machende . . . und zerstörende . . . Zeit«
bestimmt; zum anderen darin, daß die höchste im Bewußtsein sich
offenbarende Kraft nicht mehr als außerzeitliches Transcendentale,
sondern als im Medium der Zeit prozedierend deduziert wird, wo-
durch der Versuch, im Ich ein Unendliches zu etablieren, von vorn-
herein abgewiesen wird: Ein außerzeitliches >Ich denke< - so lautet
die Kritik an Kant - kann meine zeitliche Sinnlichkeit nicht beglei-
ten, ohne daß die Sinnlichkeit entweder ewig wird, was widersinnig
ist, oder der Verstand zeitlich, was Kants Intentionen zuwiderläuft.
Da die Romantiker weder das Ich (die Vernunft) noch das Nicht-Ich
(die Sinnlichkeit), sondern deren »Copula« zum Prinzip erheben,
können sie die Streitfrage, auf die noch Heidegger7 und Sartre ge-
drungen haben, entscheiden: die Einbildungskraft ist die »Zeit«, die
»allein tätige« oder »Schöpfungskraft« selbst. Und da die Einbil-
dungskraft qua Zeit nichts ist als der Prozeß des Sich-mit-sich-selbst-
Zusammenschließens, ist die Einbildungskraft noch in sich aufs
Ewige bezogen. Sie kopuliert das »Außerzeitliche« mit dem im
engern Sinne »Zeitlichen« - ist also selbst nichts anderes als das
Offenbarungsgeschehen der Verzeitlichung im Selbstbewußtsein. —
Die folgenden Interpretationen sollen das vorführen.

21
FRIEDRICH SCHLEGEL

Der Zirkel in Fichtes Wissenschaftslehre - die Herleitung


des Urwiderspruchs

Friedrich Schlegels eigener philosophischer Ansatz ist, nicht an-


ders als derjenige seines Freundes Hardenberg, aus einer Unstim-
migkeit in der Wissenschaftslehre von 1794 motiviert. Er hat sie un-
abhängig von seinem Freunde und von Schelling entdeckt und je-
nem (Novalis), wie man aus dem Briefwechsel schließen kann, in
allerlei Paketen von Skripten zugänglich gemacht, von denen einige
bis dato leider verschollen sind. Hardenbergs Entgegnung ist mehr
konziliant als zustimmend; man wird annehmen dürfen, daß er mit
der Ausformulierung seiner eignen (nicht so ganz abweichenden)
Ideen hinreichend beschäftigt war; jedoch leugnet er die Affinität
zu Friedrichs Konsequenz nicht. - Daß Friedrich Schlegel sowohl
wie Novalis, jener aber einige Jahre später als sein Freund - noch
später übrigens Schelling -, die Lösung ihrer Probleme im Phäno-
men der Zeit erkannten, macht uns die Vorstellung suggestiv, daß
diese Konsequenz aus der Fragestellung selbst hervorgetrieben wor-
den ist.
Das Argument der Schlegelschen Kritik am Zirkel in der ersten
Wissenschaftslehre läuft parallel zu Schellings späterer Kritik (aus
dem Jahre 1802, in: Fernere Darstellungen ..., seither nicht mehr
aufgegeben).
Schelling und Schlegel haben Fichte vorgeworfen, daß er einer
Handlung (Schellings Brief an Fichte, 3. 10. 1801), nämlich dem
Akt des Sichsetzens, die Tauglichkeit zum absoluten Prinzip zuer-
kennt. Das Absolute ist aber vielmehr »ein Nicht-Ding, Nicht-Be-
griff«, ohne alles Attribut oder, in Fichtes späteren Worten: »Das
absolute wäre nicht das absolute, wenn es unter irgend einer Form
existierte« (Schulz 143), und: »das absolute selbst ist aber kein Seyn,
noch ist es ein Wissen, noch ist es Identität, oder Indifferenz beider«
- noch absolute Tathandlung, müßte man konsequent hinzufü-
gen —, »sondern es ist eben - das absolute — und jedes zweite
Wort ist vom Uebel« (Schulz 153; vgl. Fichte II, 12/3). Die Ur-
handlung, in der sich das seiner selbst bewußte Ich losreißt aus
seiner unvordenklichen Einheit und in Differenz zu seinem Sein
setzt, kann nicht Prinzip der Philosophie sein. Die Philosophie, de-
ren erster Schritt die Fundierung des Endlichen als eines Endlichen
ist, genügt dem eignen Anspruch nicht, unbedingt zu beginnen.
Diesen Anspruch erhebt Fichte durch die Forderung, die Wissenschaft

22
müsse ihren Ausgang nehmen in einem alles bedingenden, selbst aber
schlechterdings unbedingten Grundsatz (§ i). Diesem Grundsatz zufolge
setzt das Ich sich schlechthin selbst. Es hat sich aber nur als Ich, wenn es
sich ein Nicht-Ich entgegensetzt, von dem es sich unterscheidet, d. h.
wenn es sich quantifiziert und ein Quantum seiner Realität sich selbst
(als relativ gewordenem Ich) entgegensetzt oder wenn es sich beschränkt.
»Diese zwei sehr verschiedenen Handlungen lassen sich durch folgende
Sätze ausdrücken. Der erste: das Ich setzt schlechthin sich als unendlich
und unbesdnankt. Der zweite: das Ich setzt schlechthin sich als endlich
und beschränkt« (Fichte I, 255). Nun kommt zugestandenermaßen die
unendliche Tathandlung »unter den empirischen Bestimmungen unseres
Bewußtseins nicht vor« (a.a.O., 91), da sie Bewußtsein vielmehr zustande-
bringt »und allein es möglich macht«. Folglich gibt es Bewußtsein erst im
endlichen, von sich selbst getrennten, d. h. relativen Ich. »Die reine Tätig-
keit aber ist diejenige, die gar kein Objekt hat, sondern in sich selbst
zurückgeht« (a.a.O., 256). Was kein Objekt hat, sondern ohne Brechung
im Unendlichen sich verliert, kann kein Bewußtsein seiner selbst
besitzen.
Der Widerspruch, der sich hier auftut, ist früh bemerkt worden, und
Fichte war sich dessen bewußt: Findet ohne Entgegensetzung kein Be-
wußtsein statt und ist von dem absoluten Ich nichts zu prädizieren (Fichte
I, 109), weil es »nicht etwas* ist, so ist auch das bewußte Subjekt dem
absoluten Ich entgegengesetzt (a.a.O., n o , 2 ) . »Mithin ist das Ich, inso-
fern ihm ein Nicht-Ich entgegengesetzt wird, selbst entgegengesetzt dem
absoluten Ich«, also selbst ein relatives Nicht-Ich. Sich seiner bewußt und
endlich sein ist ein und dasselbe. Ja, wenn Ichheit notwendig die Aus-
zeichnung des Selbstbewußtseins haben soll, so ist sie schon deswegen kein
Absolutum. Wird vorausgesetzt, »daß die Wissenschaft alles Wissens von
dem Unbedingten auszugehen habe« (I, 4, 353), so ist die Restriktion an
das »bloße Wissen« oder an das empirische Bewußtsein ein Widerspruch
in sich selber. In der Tat fragt aber Fichte, was denn den Spinoza berech-
tigt habe, »über das im empirischen Bewußtsein gegebene reine Bewußt-
sein hinaus zu gehen?« (Fichte I, 101). Gleichwohl ist er selbst gezwun-
gen, über das im empirischen Bewußtsein Gegebne hinauszugehen, denn
sein »absolut-erster Grundsatz . . . soll diejenige Tathandlung ausdrücken,
die unter den empirischen Bestimmungen unseres Bewußtseins nicht vor-
kommt, noch vorkommen kann, sondern vielmehr allem Bewußtsein zum
Grunde liegt, und allein es möglich macht« (a.a.O., 91).

»Durch diese Beschränkung der Auffassung des absoluten Be-


wußtseins auf/ das im empirischen gegebene reine Bewußtseyn«,
sagt Schelling, »ist für die ganze Folge das Differenzverhältnis des
Ichs und des Absoluten, die unaufhörliche Amphibolie des absolu-
ten Ich, welches das absolute Erkennen selbst ist, und des relativen,
und jener der besonderen Form des Idealismus der Wissenschafts-
lehre eigenthümliche und unüberwindliche Gegensatz des Ich und
Nicht-Ich entschieden und nothwendig gemacht« (I, 4,353/4).
Durch die Restriktion ans empirische Bewußtsein sowie an die

2
3
»Handlung« ist das reine als reines schon immer verloren, denn
das endliche Bewußtsein »ist nothwendig und unausbleiblich mit
dem Objekt beschwert« (a.a.O., 355).
Hier kommt eine eigentümliche Struktur des Fichteschen Begriffs von
Bewußtsein zutage. Fichte unterscheidet das »Ich als Idee« von dem »Ich
als intellektueller Anschauung« (2. Einl. in die WL., 102/3); jenes wäre
die absolute Einheit des Gegensatzes, und da dieselbe nicht vorgestellt
werden kann, »ist (sie auch) nur Idee; sie kann nicht bestimmt gedacht
werden, und sie wird nie wirklich sein, sondern wir sollen dieser Idee uns
nur ins Unendliche annähern« (a.a.O., 103). Hingegen liegt in der intel-
lektuellen Anschauung bloß die »Form der Ichheit« als eines in sich zu-
rückgehenden Handelns, das sich freilich in dieser Anschauung »auch selbst
zum Gehalte desselben wird« (a.a.O., 102). Ist das Ich als Idee ein »unend-
liches Approximativ«, der realisierte Endzweck der Weltgeschichte, so ist
dagegen die intellektuelle Anschauung eine bloße, sich nicht-thetisch mit
sich selbst zusammenschließende Form, die prinzipiell über sich selbst hin-
aus auf Inhalte verweist, indem »nämlich dieselbe«, wie Fichte ausdrück-
lich versichert, »nur in Verbindung mit der sinnlichen« Anschauung »mög-
lich« ist (a.a.O., 50). Das im empirischen Bewußtsein vermöge der intel-
lektuellen Anschauung gehabte reine Ich ist also nichts als ein nicht-theti-
sches Sich-selbst-Zusehen (1. Einl., 22) oder ein sich selbst lucides Bewußt-
sein von andern Dingen: »Selbstbewußtsein, und Bewußtsein eines Etwas,
das nicht wir selbst - sein solle, sei notwendig verbunden; das erstere aber
sei anzusehen als das Bedingende, und das letztere als das Bedingte«
(a.a.O., 44, vgl. ii5, 2 ). Fichte stellt sich also das Bewußtsein als ein sich-
selbst-nicht-thetisch-bewußtes Bewußtsein von Objekten vor, die durch
dieses Bewußtsein ihrerseits thetisch bewußt sind (durch Thesis konsti-
tuiert werden) 1 , wohingegen das Selbstbewußtsein nicht Gegenstand
einer Entgegensetzung ist, sondern absolutes, durch Spontaneität hervorge-
brachtes Selbstschaffen. Jedem bestimmten (thetischen) Bewußtsein liegt
also ein nicht-thetisches Selbstbewußtsein zugrunde 2 ; es »läßt sich jedem in
seiner von ihm selbst zugestandenen Erfahrung nachweisen, daß diese
intellektuelle Anschauung in jedem Momente seines Bewußtseins vorkom-
me« (a.a.O., 49), es sei dieses Bewußtsein welches auch immer.3
Das Analoge gilt für Fichtes Begriff der Handlung. Sie ist nie zu isolieren
von ihrem Gegenstand, auch dann nicht, wenn Fichte ihr ein nicht-theti-
sches Selbstbewußtsein zuschreibt, das sich gleichsam auf das Gesetzte hin
zentrifugal zerschnellt. Handlung ist ein Relationsbegriff: »Dasjenige,
von welchem ein Handeln wahrhaft prädicirt werden kann, (kann) eben
deßwegen nicht das wahre Absolute seyn« (Schelling an Fichte; 133/4
Schulz, vgl. 128 unten). Ja, »wäre die Thätigkeit überhaupt, oder eine
bestimmte That oder Handlung das Erste, so wäre der Widerspruch ewig«
(WA II, 132) - und mit ihm die Zeit - , denn »die Zeit ist« nach Schlegels
Worten »nichts als der Proceß der Thätigkeit« (KA XVIII, 410, Nr.
1072). Diese Kritik ist wirklich gravierend: Fichte entzieht sich ihr, indem
er die Zeitlichkeit des prozessual gedachten Bewußtseins gar nicht leugnet,
sondern schlechtweg als »ein Faktum« ausgibt (2. Einl. in die WL., 46).

Alle diese Erklärungen geben Schelling recht, wenn er Fichtes

24
Konstruktion eines tätigen Bewußtseins, das »immer mit dem Ob-
jekt beschwert und mit einem fremden Einfluß versehen« ist, dem
»einarmigen Hebel« vergleicht. »Das empirische Ich ist durch die
Verbindung mit dem reinen Bewußtsein auf der einen Seite unter-
stützt und mit ihm eins, an der anderen aber hängt das Gewicht
des Objekts, welches nichts als ein Bewegendes, eine entgegenge-
setzte Kraft ist«, wodurch es zu keiner Einheit aus dem Zentrum bei-
der heraus kommt, sondern nur zu einer abstrakten Synthesis von
Seiten jenes das empirische durchwaltenden reinen Bewußtseins, das
alles Nicht-Ich entweder aus sich heraussetzt oder sich einverleibt.
Über die Trennung beider Sphären kommt Fichte nicht hinaus,
denn er kann die Dimension des relativen Bewußtseins nicht über-
winden.
Das empirische Bewußtsein, das nach Fichte also ein sich selbst
(nicht-thetisch) wissendes Bewußtsein von wirklichen oder einge-
bildeten Objekten ist und nicht nur »notwendig und unausbleiblich
mit dem Objekt beschwert«, sondern als Bestimmung des reinen
oder des »Ichs-an-sich« (i. Einl. in die WL., 14)4 immer schon außer
diesem reinen oder unter Verlust des reinen gesetzt ist, - dieses em-
pirische Bewußtsein dreht sich in einem »Zirkel« (Fichte statuiert
ihn sehr klar I, 281/2), indem es nämlich dieses Absolute zugleich
außer sich setzen und von sich gesetzt sein lassen muß: Das Abso-
lute ist nur als von mir hervorgebracht (sonst wäre es nicht für
mich) - andererseits soll es gerade das mich Setzende sein. Einer-
seits fühlt es sich aus dem Reinen heraus sich selbst überantwortet
(es ist Selbstdurchsichtigkeit des Reinen, aber mit dem Sichwissen ist
das Reine auch schon notwendig bestimmt und nicht mehr als das
Reine) - andererseits stellt es doch diese Geschiedenheit vom Rei-
nen selbst erst ins Licht: Das Reine ist nur für ein Ich. Ein Sein-an-
sich-und-doch-fürs-Ich ist freilich ein hölzernes Eisen, und diese Ein-
sicht treibt zur Bescheidung: Im reflektierenden (endlichen) Ich ist
das Reine nur, insofern es das Ich nicht für-sich haben will (diese
Position haben Schelling5 und Schlegel nicht wieder aufgegeben).
Es verschwindet als Reines, sowie es für-das-Ich wird. Nun ist aber
nach Fichte schlechthin nichts, wenn es nicht bewußt, d. h. für das
Ich ist: »Es ist nur da, sofern ich es nicht habe, und inwiefern ich
es habe, ist es nicht mehr« (I, 4, 357; Fichte I, 283). Indem Fichte
den Standpunkt der Reflexion nun keineswegs preiszugeben ge-
denkt, wird ihm sein reines Ich zu einem »Approximationsprinzip«,
verwandelt sich also ins »Ich-als-Idee«. Die Reflexion versucht durch
ein »unendliches Streben«, »durch ein Hinausschieben des Erklä-
rungsgrundes ins Unendliche« (I, 4, 358), sich ihm anzunähern (vgl.
2. Einl., 103). Dies Insistieren auf der Reflexion oder dem Handeln,
d. h. dem Ich als einer »begrenzten Tätigkeit«, die, der »absoluten

25
Totalität mangelnd«, sich selbst setzt durch ein entsprechendes
»Nicht-Setzen... des Mangelnden« (Fichte I, 164) und so immer
vergeblich bemüht bleibt, den Mangel in sich einzuholen, - eben
dies Insistieren hat zur Folge, daß das Fichtesche Ich nie aus der
Zeit herauskommt. Schelling sagt spöttisch: »Auf solche Weise wird
der Handel zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich, der geschlichtet
werden sollte, auf die lange Bank eines unendlichen Progressus hin-
ausgeschoben; die Philosophie muß in der Zeit die Ewigkeit anti-
cipiren« (I, 4, 358). Als er diese Sätze schrieb, hatte er noch wenig
Ahnung, daß eben dies Verhältnis der Unangemessenheit des An-
sich-Seins zu seiner endlichen Erkenntnis oder des Wesens zu seinem
Begriff seiner eigenen Philosophie zum eigentlichen Problem wer-
den sollte: wir haben gar kein anderes als ein zeitliches Wissen vom
Ewigen.6

Friedrich Schlegels Entdeckung des Zirkels


in der Wissenschaftslehre

Die Notwendigkeit eines »Cirkels . . . in alle Ewigkeit« (I, 4,


358; 113), von dem Schelling kritisch sprach, war in der Tat Fried-
rich Schlegels Argument: Das von Fichte durchgehaltene Paradox
wird so der Motor seiner Entdeckung der Ironie und wohl über-
haupt das Motiv seines ganzen Philosophierens.
»Erkennen bezeichnet schon ein bedingtes Wissen«, notiert Fr.
Schlegel 1796, also zwei Jahre nach dem Druck der ersten Wissen-
schaftslehre (KA XVIII, 511, Nr. 64). »Die Nichterkennbarkeit des
Absoluten ist also eine identische Trivialität.« In zwei lapidaren
Sätzen statuiert er damit das von Schelling beschworene Dilemma
eines die Dimension des Wissens und also der Endlichkeit nicht auf-
gebenden Ausgangs vom Absoluten.
Wenn er an mehreren Stellen seiner Fragmente vom »Absoluten«
als dem »ovtux; OV des Plato« spricht (a.a.O. Nr. 63), so erinnert
dies zunächst an Sinclairs, Hölderlins und Schellings frühe Ver-
suche, die Dimension des endlichen Wissens zu transzendieren. Auch
sie (und Novalis) sprachen von einem »Seyn«, das über allem, selbst
dem höchsten Wissen, liegt. Aber Schlegels Ansatz unterscheidet
sich von diesen Versuchen darin, daß er die Dimension der Endlich-
keit nicht ohne weiteres preiszugeben bereit ist.7
Freilich sieht es zunächst ganz danach aus, wenn er vom Absolu-
ten sagt: »Freylich ist es eigentlich gar kein Begriff«, sondern sein
»Wesen« sei »Freyheit« (a.a.O. Nr. 66; vgl. KA XIII, 5,3 und 4,^,
wobei er sich sogar auf Schelling beruft. »Das Absolute selbst ist in-

26
demonstrabel« (KA XVIII, 512, Nr. 71), was konsequent folgt aus
der Behauptung, sein Wesen sei Freiheit.
Aber wenig später, im gleichen Jahre, schreibt er: »Die Behaup-
tung (gegen Schelling und Fichte), daß alles Setzen jenseits der
Gränzen der Erkennbarkeit transcendent sey, widerspricht sich
selbst und macht aller Philosophie ein Ende. Überdem sind die
Gränzen der Erkennbarkeit noch gar nicht bekannt, wenn das theo-
retisch Absolute gesetzt wird. - Man kann keine Gränze bestim-
men, wenn man nicht diesseits und jenseits ist. Also ist es unmöglich
die Gränze der Erkenntniß zu bestimmen, wenn wir nicht auf
irgend eine Weise (wenn gleich nicht erkennend) jenseits derselben
hingelangen können« (KA XVIII, 521, Nr. 23; ähnlich, mit etwas
anderem Hinblick, XIX, 120, Nr. 348).8
Schlegel löst das Problem nicht durch Selbstvernichtung des Be-
griffs im Sinne von Schelling (1802, vgl. auch I, 6, 197/8), sondern
durch das, was Walter Benjamin das »Medium der Reflexion« ge-
nannt hat. 9 Seine Philosophie beginnt mit folgendem Prinzip: »In
meinem System ist der letzte Grund wirklich ein Wechselerweis«
(KA XVIII, 521, Nr. 22), d.h. er ist nicht einfach ein absolutes
Postulat oder ein schlechthinniges Sich-Setzen-als-seines-Setzens-be-
wußt, sondern eine Synthese, die sich zugleich als Analyse und eine
Analyse, die sich zugleich als Synthese hat. Im Medium der Refle-
xion hat sich in der unendlichen Reihe von einander reflektierenden
Analysen jedes Glied und die ganze Reihe selber, weil sie vom er-
sten bis zum letzten Glied durchreflektiert, in sich selbst luzide ist:
Ihr erster Satz ist schon eine das Sein des »Ur-Ich« (welches aller-
dings vorausgesetzt werden muß) in sich selbst einholende und re-
flektierende Synthesis; und dies bleibt so bis zum letzten. Dies ist
der Sinn des merkwürdigen Fragments: »Es muß der Philosophie
nicht bloß ein Wechselbeweis, sondern auch ein Wechselbegriff zum
Grunde liegen. Man kann bei jedem Begriff wie bei jedem Erweis
wieder nach einem Begriff und Erweis desselben fragen« (KA
XVIII, 518, Nr. 16). Also muß die unendliche Reflexion durch eine
dem absoluten Prinzip sich »approximierende«, vorläufig spontane
Selbstkonstitution der Reihe zustande kommen (die unendliche
Reihe nur ist, weil ihr das Absolute transzendent bleibt), sozusagen
als ein endlicher »Erweis« des im Endlichen nie sich zeigenden, aber
die ganze Reihe stiftenden und sie vermögenden Absoluten (KA
XVIII, 329, Nr. 55; a.a.O., 298, Nr. 1241): eine Phase erweist die
andere und so immer fort. »Daher muß die Philosophie wie das
epische Gedichte in der Mitte anfangen« - dies das Reflexions-
medium10 -, »und es ist unmöglich dieselbe so vorzutragen und
Stück für Stück hinzuzählen, daß gleich das Erste für sich vollkom-
men begründet und erklärt wäre« (a.a.O.). Es handelt sich also um

27
eine negative Reflexions-Dialektik, die nur auf Anleihe eines prin-
zipiell ausstehenden und in dieser Dialektik gar nie zu erweisenden
(d. h. nie in die Reihe selbst einzubringenden) Prinzips möglich ist
(das Prinzip entzieht sich ihr). »Es ist ein Ganzes, und der Weg es
zu erkennen ist also keine gerade Linie, sondern ein Kreis«, Fichtes
Zirkel. »Das Ganze der Grundwissenschaft muß aus zwei Ideen«
(wechselweise), »Sätzen, Begriffen, Anschauungen ohne allen weite-
ren Stoff abgeleitet seyn.«
Das Problem des An-sich-für-uns soll also durch einen progressi-
ven Reflexionserweis gelöst werden. Eine jede Phase der Reihe be-
gründet die vorangehende und läßt sich umgekehrt aus ihr begrün-
den. Das Absolute durchwaltet synthesenstiftend die ganze Reihe,
und insofern beweist die Reihe dieses synthetische Walten negativ
durch dessen wirkliche Manifestation in relativen (partikulären)
Synthesen - zum andern entzieht sich das Prinzip, und die Reihe
lebt auf Anleihe eines in ihr Unerweislichen, dessen »Wahrschein-
lichkeit«11 sich jedoch progressiv steigert (KA XII, 328). Aus die-
sem Paradox entsteht eine unendliche Agilität, eine wechselseitig-
gleichzeitige Affirmation und Negation, aus der heraus sich schließ-
lich ein geradliniges Streben in eine »progressive«, ironische »Dia-
lektik* und »Methode« befreit (KA XVIII, 83, Nr. 646). »Woher
es kommt«, schreibt Schlegel später, nach 1803 (a.a.O., 564, Nr. 49),
»daß manche Philosophen dem Wahren so ganz nah sind wie Fichte,
und doch es nicht erreichen, ist aus meiner Construction ganz klar.«

Die abstrakten Synthesen im Idealen und im Realen

a) Die Allegorie12
Schlegels unendliche Reihe ist hinsichtlich ihrer Diesseitigkeit vom
Absoluten ein reines Chaos - so nennt Schlegel die »unendliche
Fülle«, sofern in ihr auf ihre bloße Unendlichkeit reflektiert und
von der in sie verschlungenen Einheit abstrahiert wird. Im Chaos
vernichtet ein Glied das andere, denn wo keine dominante Einheit,
kein System, da ist auch kein Zusammenhalt des Ganzen. Die Ein-
heit entzieht sich der Unendlichkeit und wird nur durch die selbst-
tätige Negation alles Endlichen transparent: »Der Schein des End-
lichen und die Anspielung aufs Unendliche fließen in einander« (KA
XVIII, 416, Nr. 1140). Sobald wir auf die relative Einheit reflek-
tieren und von der unendlichen Chaotik abstrahieren - eine Hand-
lung, die notwendig immer schon stattgefunden hat, wo ein wissen-
des Urteil über endliche Dinge zustandekommt - , zeigt sich das
Endliche synthetisch strukturiert; denn es gibt keine absolute Fülle
oder absolute Einheit - wir haben stets nur Präponderanzen des

28
einen über das andere. Die Synthesis, die im Akt des Wissens aus
dem Chaos die Harmonie entzündet, ist sich zugleich bewußt, nur
Ausdruck der stiftenden Einheit-an-sich zu sein. Das Absolute geht
also nie völlig mit in die Synthesis ein, sondern stiftet dieselbe nur.
Darum ist alles Wissen symbolisch oder, wie Schlegel lieber sagt,
allegorisch. Auf der dem Wissen entgegengesetzten Seite (der Rea-
lität) zeigt sich die punktuelle oder - im Gegensatz zur absoluten
konkreten Totalität - relative Synthesis als »Witz«: Synthesen
sind hinsichtlich ihres Gedachtseins gewußt (allegorisch), hinsichtlich
ihrer Realität Paradigmata von Witz.
»Jedes System«, sagt Schlegel, »ist nur Approximation seines
Ideals« (KA XVIII, 417, Nr. 1149). Darum ist »Alle Wahrheit. . .
relativ Alles Wissen ... symbolisch« (ebd.). Da »das Wesen der
Philosophie in der Sehnsucht nach dem Unendlichen13 besteht«
(a.a.O., 418, Nr. 1168), ihre »Tendenz . . . aufs Absolute . . . geht«
(KA XII, 11), wird in der unendlichen Reihe, gleichsam dem empi-
rischen Niederschlag dieser unendlichen Sehnsucht und Annäherung,
jedes Glied als das Nichtvermeinte vernichtet. Seine punktuelle
Wahrheit relativiert sich im Hinblick auf das Unendliche; denn
»nur das Ganze ist real«. »Wo [aber] das Ganze reell ist, und das
einzelne nur im Ganzen« (a.a.O., 77), da gilt es, »den Irrthum des
Endlichen auf(zu)heben, damit das Unendliche von selbst entstehe«
(a.a.O., 6). Das Unendliche wird also per negationem bewiesen
(a.a.O., 9), und der Erweis Gottes als des aktuell Ganzen14 führt
nur über die Vernichtung alles bloß Relativen, Scheinhaften, End-
lichen. »Das ist wirklich, was sich aufs Ganze bezieht, und was sich
aufs Ganze bezieht, ist göttlich* (a.a.O., 78). Nun ist für ein end-
liches Wesen das Ganze zu fassen nicht möglich, und soll unser Wis-
sen nicht völlig der Wirklichkeit entleert sein, so muß es wenig-
stens einen symbolischen Zusammenhang mit dem Absoluten haben:
»Da nun die Realität die absolute Intelligenz ist, und außer ihr
nichts reell ist, so wird das Denken dieses Reellen mit Bewußtsein/
desselben (was ein Wissen ist) nur symbolisch dargestellt werden
können.« Also ist »Alles Wissen symbolisch* (a.a.O., 92/3). Dar-
aus folgt notwendig die »Relativität aller Wahrheit« (a.a.O., 94).
»Es giebt keine absolute Wahrheit - dies spornet den Geist an und
treibt ihn zur Thätigkeit« (a.a.O., 95).15 Relativ ist jede Wahrheit,
indem sie, als eine relative und endliche Synthesis, nur gilt hinsicht-
lich ihres Orts und zu ihrer Zeit - d. h. innerhalb der unendlichen
Reihe, durch deren umgebende Glieder sie als das, was sie ist, be-
stimmtwird; absolut ist sie nicht, weil sich das unteilbare An-sich nie
völlig im Wissen, welches Differenz zur Voraussetzung hat, auflö-
sen kann: Keine Phase der Reihe ist in ihrer Isolation zumal das
Ganze, d. h. eine aktuell komplettierte Totalität.

29
Die Reihe lebt, wie wir zeigten, gleichsam auf Anleihe des sie
durchwirkenden Absoluten, welches sie weder entbehren noch in
sich darstellen kann (qua reflexive Reihe). »Die Unmöglichkeit, das
Hödoste durch Reflexion positiv zu erreichen«, sagt Schlegel, »führt
zur Allegorie« (KA XIX, 25, Nr. 227; vgl. KA XIX, 5, Nr. 26),
und fügt bezeichnend hinzu, »d. h. zur (Mythologie und) bildenden
Kunst. -« Sie, auf der Seite der sinnlichen Realität (KA II, 324),
und das Wissen auf der geistigen Seite - vgl. Schlegels Formulie-
rung von der »Ironie« als »logischer Schönheit« (KA II, 152, Nr.
42) - dependieren vom »Prinzip der relativen Undarstellbarkeit
des Höchsten« (KA XII, 214). »Das reine Denken und Erkennen
des Höchsten kann nie adäquat dargestellt werden« (ebd.).
Also nur durch inadäquate Erkenntnis16, nicht »positiv«, wissen
wir vom Höchsten. Im Medium der Allegorie liegt für Schlegel das
»Göttliche« im Unterschied zu Gott. Denn »nicht Gott aber Gött-
liches können wir erkennen und auch bilden« (KA XVIII, 377, Nr.
686). Gott, »die Synthese der Natur und der Menschheit ist das
große X - das ewig Unerreichbare« (ebd.). Im Zusammenhang
ausgeführt:

»Die Philosophie lehrte uns, daß alles Göttliche sich nur andeuten, nur
mit Wahrscheinlichkeit voraussetzen lasse, und daß wir daher die Offen-
barung für die höchste Wahrheit annehmen müssen. Die Offenbarung aber
ist eigentlich eine für den sinnlichen Menschen zu erhabene Erkenntnis,
und so tritt die Kunst sehr gut ins Mittel, um durch sinnliche Darstellung
und Deutlichkeit dem Menschen die Gegenstände der Offenbarung vor
Augen zu stellen« (KA XIII, 174).

Schlegels ganzes Philosophieren versteht sich also als Allegorie.


Sie ist das »Mittel« der Reflexion, jener zwischen die positive Ur-
offenbarung des Höchsten und die sinnliche Endlichkeit unserer
Welt »einzuschiebende Begriff«, dessen empirische Präsentation die
Kunst, das »Bild«, ist, welches wir uns im Endlichen vom Unend-
lichen machen:

»Warum*, fragt Schlegel, »ist das Unendliche aus sich herausgegangen


und hat sich endlich gemacht? - das heißt mit andren Worten: Warum
sind Individua? Oder: Warum läuft das Spiel der Natur nicht in einem
Nu ab, so daß also gar nichts existirt? Die Antwort auf die Frage ist nur
möglich, wenn wir einen Begriff einschieben. Wir haben nämlich die Be-
griffe eine, unendliche Substanz - und Individua. Wenn wir uns den
Übergang von dem einen zu den andern erklären wollen, so können wir
dies nicht anders, als daß wir zwischen beyden noch einen Begriff ein-
schieben nämlich den Begriff des Bildes oder Darstellung, Allegorie
(eixwv). Das Individuum ist als ein Bild der einen unendlichen Substanz*
(KA XII, 39; vgl. XIII, 55 f-, 173 f-)-

30
Wir werden sehen, daß diese scheinbar nicht untraditionelle Ant-
wort erstaunliche Konsequenzen in Schlegels Philosophie hat. Die
Umdeutung des Kantischen Schematismus der Einbildungskraft in
eine allegorische Temporalität des Endlichen war eine bedeutsame
Etappe in der Geschichte des frühromantischen Idealismus. Sie
bahnt sich an in der Thematisierung der allegorischen Kunst.
»Alle Schönheit ist Allegorie. Das Höchste kann man eben weil es
unaussprechlich ist, nur allegorisch sagen« (KA II, 324). Aber jedes
einzelne Gedicht will das Ganze, »das überall Eine und zwar in sei-
ner ungeteilten Einheit« in sich darstellen; das kann es nur »durch
Allegorie, durch Symbole« (a.a.O., 414), durch Darstellung des Un-
darstellbaren. Darstellung des Undarstellbaren nennt Schlegel »Be-
deutung«: »Jede Allegorie bedeutet Gott und man kann von Gott
nicht anders als allegorisch reden« (KA XVIII, 347, Nr. 315). »Je-
des Gedicht, jedes Werk soll das Ganze bedeuten, wirklich und in
der Tat bedeuten17, und durch die Bedeutung und Nachbildung
auch wirklich und in der Tat sein, weil ja außer dem Höheren, wor-
auf sie deutet, nur die Bedeutung Dasein und Realität hat« (KA II,
414). Das macht den ekstatischen Zug des Endlichen aus, daß es
seine Realität nicht in ihm selbst verwirklicht, sondern nur bedeu-
tet. Die »Bedeutung« in der Allegorie »deutet« auf das in ihr nur
»angespielte Unendliche« (KA XVIII, 416, Nr. 1140) und wird da-
durch »das einzige Wirkliche im Dasein, weil nur der Sinn, der
Geist des Daseins entspringt und zurückgeht aus dem, was über alle
Täuschung und über alles Dasein erhaben ist« (KA II, 414). Was wir
gemeinhin das Reale nennen, ist gerade ein Nicht-Seiendes (»Alles
Relative ist real« (KA XVIII, 262, Nr. 813) und also, da »dem
Absoluten . . . nichts entgegengesetzt (ist) als das Relative« (a.a.O.,
105, Nr. 905), selbst ein JXYJ 8V) - ein Beweis mehr, wenn es dessen
bedarf, daß Schlegel sich das Endliche als Sein unter dem Exponen-
ten des abstrakt-Realen, wie Schelling also, vorstellt. Das Endliche
ist nur durch seine Bedeutung. Nun ist aber die Bedeutung bloß das
»negative« Bewußtsein des Unendlichen (vgl. KA XII, 208/9; I 2 6 ;
166 und passim); das »deutende Anspielen« auf das positive Sein
oder das verborgene Prinzip des Endlichen. Die »allegorische Er-
kenntnis« (a.a.O.) überwindet also unser Unvermögen, reflexiv
»das Positive« zu erreichen, nicht, sondern ist sein Ausdruck.
Schlegel nennt sie, weil ihm das Denken - im Gegensatz zur
Kunst - kein sinnliches Darstellen des Absoluten ist, weniger gern
»bedeutend« als »andeutend«: Sie ist »Andeutung des Unend-
lichen . . . , Aussicht in dasselbe« ( K A X I I , 211; vgl. XI, 119). Ihre
Negativität besteht in der sich selbst als Seiendes auslöschenden
Freigabe des Blicks auf das absolut Vermeinte in allem Denken und
Bilden: »Sie geht bis an die Pforte des Höchsten, und begnügt sich,

3i
das Unendliche, das Göttliche, was philosophisch sich nicht bezeich-
nen und erklären läßt, unbestimmt nur anzudeuten« (KA XII,
210).18 Durch Negation der Negation macht sich das Prinzip also
bemerkbar: »Die Tendenz der Principien ist den Schein des End-
lichen zu vernichten« (KA XVIII, 416, Nr. 1139). Das Endliche ist
nur, insofern es selbst als Endliches vernichtet wird:
»Das Bewußtsein des Unendlichen muß constituirt werden - indem wir
das Gegentheil annihiliren. - Constituiren muß man sich durch einen Act,
und dieser ist kein andrer als die Vernichtung jener Einbildung des End-
lichen« (a.a.O., 412, Nr. 1095; vgl. 413, Nr. 1107 und ebd. Nr. 1108).

Das Endliche, die Reflexion nicht ausgeschlossen, muß insgesamt


»geopfert« werden — da es dem wahren Sein des Menschen wider-
spricht (KA II, 269, Nr. 131). Das »Opfer« ist eine »bedeutende
Anspielung« auf das Undarstellbare. Denn was im Endlich-Synthe-
tischen vom Absoluten sich bildlich darstellt, ist eben dasjenige am
Absoluten qua einer absoluten (nicht-relativen) Synthesis-von-Un-
endlichkeit-und-Einheit, das schon gar nicht mehr absolut ist, weil
es mit in die relative Synthesis eingegangen und gleichsam entmach-
tet ist - man könnte es das abstrakt-Unendliche nennen. Dadurch,
daß sich in der Allegorie das ekstatische Bewußtsein auf das in seine
Endlichkeit verschlungene Unendliche bedeutend transzendiert, läßt
es das abstrakt-Endliche in ihm selbst als nichtvermeintes zurück
und verschwendet sich an das Sein; ganz ebenso wie bei Solger das
Opfer des Endlichen das im Endlichen tätige synthetische Prinzip
mit vernichtet. Allegorie ist also die Tendenz aufs Unendliche.

b) Der Witz19
Dasjenige, das im Endlichen Synthesen wirkt, nennt Friedrich
Schlegel, je nachdem, ob auf die Tätigkeit oder ihr Produkt reflek-
tiert wird, »Fantasie« oder »Witz«. Die Phantasie ist das wahrhaft
»Transcendentale« im Schaffensprozeß (KA II, 204, Nr. 238), das
im Ttotelv des Dichters Tätige, vermöge dessen Reales und Ideales
vereinigt werden (ebd.). Phantasie beschreibt also die umgekehrte
Richtung der Allegorie; sie ist die Richtung vom Unendlichen aufs
Endliche.
Es ist bekannt, daß der romantische Phantasiebegriff eine Erwei-
terung des Kantisch-Fichteschen Begriffs der Einbildungskraft ist.
Die Einbildungskraft, die, als ein »übernatürliches Vermögen« (KA
XIX, 171, Nr. 147), zwischen der ins Unendliche strebenden und
der sie reflektierenden ideellen Tätigkeit, das ganze Phantasma der
Endlichkeit produzierend, schwebt, könnte paradox das praktische
Vermögen der theoretischen Philosophie genannt werden, insofern
sie nie in die Praxis übergeht und sich doch als eine Tätigkeit vor

32
den Augen des Geistes ausnimmt. Die Einbildungskraft hat das Pa-
radox einer Synthesis von Unendlichem (welches prinzipiell in end-
licher Form nicht dargestellt werden kann) und Endlichem (welches
prinzipiell außerstande ist, unendlichen Gehalt zu fassen) zu ver-
wirklichen (Fichte I, 215). Die Phantasie ist gegenüber der Einbil-
dungskraft, welche unbewußt synthetisiert, gleichsam das philoso-
phischere Vermögen, da sie das nämliche Paradox mit Bewußtsein
zu bewerkstelligen hat.
Nun trennt Fr. Schlegel Phantasie und Einbildungskraft keines-
wegs so genau, wie unsere Unterscheidung (an Solger orientiert)
suggeriert; und der Gedanke scheint ihm nicht widersinnig, daß die
ganze Welt ein Produkt der schaffenden »Fantasie« ist, die im Un-
endlichen ihren Ursprung hat und deren Produkt die Synthesis ist,
die das »Chaos« in die endlose Reihe von gleichsam molekularischen
Einheiten verwandelt (ohne diese punktuelle Einheit wäre das
Chaos eine begrifflose Mannigfaltigkeit - ein Undenkbares). Das
Absolute stiftet die relative Synthesis nicht direkt, sondern ver-
mittels der Phantasie; und das von der Phantasie Gestiftete ist der
Witz. Dem folgenden Zitat schicken wir die terminologische Erklä-
rung voraus, daß Schlegel das Absolute (dasjenige, worauf die Alle-
gorie nur »hindeutet«, nämlich »das Höhere, Unendliche«) (KA II,
334) auch die »Eine ewige Liebe« nennt, längst vor seiner Spät-
philosophie, in welcher er dann formuliert: »das Wesen und die
eigentliche Substanz Gottes ist einzig und allein die Liebe« (KA
XIX, 345, Nr. 285; 1818 niedergeschrieben):
»Nur die Fantasie kann das Rätsel der Liebe fassen« - »Rätsel«, weil
nicht darstellbar als Liebe - »und als Rätsel darstellen; und dieses Rätsel-
hafte ist die Quelle von dem Fantastischen in der Form aller poetischen
Darstellung. Die Fantasie strebt aus allen Kräften sich zu äußern, aber
das Göttliche« - Anm. 3: »rein Geistige« - »kann sich in der Sphäre der
Natur nur indirekt mitteilen und äußern. Daher bleibt von dem, was
ursprünglich Fantasie war, in der Welt der Erscheinungen nur das zurück,
was wir Witz nennen« (KA II, 334).
So wie die Phantasie der ursprüngliche Ausdruck der Liebe oder
des Undarstellbaren, so ist der Witz seinerseits Ausdruck der syn-
thetisierenden Phantasie. Er ist also nicht nur eine ideelle, sondern
zugleich eine reelle Bestimmung, wenngleich, im Unterschied zur
Allegorie, mit der entsprechenden Tendenz aufs Reelle. So wie die
Natur Allegorie sein kann, so kann sie als »witzig« bezeichnet
werden.
Wir können gar nicht umhin, bei der großen, zum Prinzip erklär-
ten Widersprüchlichkeit aller Bestimmungen in Friedrich Schlegels
Denken, eine Auswahl zu treffen unter seinen Definitionen von
Witz.

33
»Witz« ist für Schlegel »angewandte Fantasie« (KA II, 356),
»eine indirekte Äußerungsart derselben« und darum nicht unmit-
telbar, sondern durch die Vermittlung der Phantasie mit der »ver-
borgenen Wurzel und Quelle« der ewigen Liebe verbunden, trägt
also die Differenz zwischen seinem Ursprung und der endlichen Viel-
heit in sich aus. »Der Witz«, erklärt Schlegel, »liegt nicht selbst im
Gebiet des Absoluten, aber je absoluter, je gebildeter ist er freilich«
(KA XVIII, 113, Nr. 1002).
Klarer und spezieller ist der folgende Hinweis: »Witz ist die Er-
scheinung, der äußere Blitz der Fantasie« (KA II, 258, Nr. 26).20
Hier wird deutlich, daß sich Schlegel den Witz als punktuelles Zün-
den vorstellt (KA II, 112; KA XII, 393): Das Chaos wird schlag-
lichtartig erhellt und erscheint im Licht einer gewissen Ordnung, ehe
es wieder in der begrifflosen Fülle versinkt. Sehr wichtig, wie sich
herausstellen wird, ist für Schlegel die im Begriff der Phantasie mit-
gedachte Tendenz auf Universalität: »Das Wesentliche in der Ein-
bildungskraft ist die Wahrnehmung der unendlichen Fülle« (KA
XIX, 171, Nr. 145), d. h., wie Schlegel in seiner Frühzeit sagt, des
Chaos. Der Witz ist eine chaotische Synthesis, die Schlegel auch
als ein »plötzliches Erschrecken und Gerinnen«, »ein Versteinern«
jener »feurigen Flüssigkeit der Vorstellung« bezeichnet (I.e.
Nr. 148). Wie in eine Augenblicksansicht verkürzt, erstarrt das wo-
gende, infixible Chaos in der witzigen Synthese. Der Witz ist ein
Eingriff ex tempore in den Strom des unendlichen Werdens (so in
Schlegels Terminologie von 1804/6), mit der Folge, daß der momen-
tane Aspekt eine merkwürdige Verbindung fixiert. Witz ist ein rasch
zupackendes »Kombinieren«, durch welches sich zugleich Ausblicke
ins Unendliche (»echappees de vue ins Unendliche«; KA II, 200,
Nr. 220) eröffnen. Denn jeder Witz kombiniert nicht nur abgeson-
dertes, in die Mannigfaltigkeit zersplittertes Endliches, sondern er
macht dasselbe für das synthetisierende Prinzip transparent, beson-
ders dadurch, daß er »gebundnen Geist« explodieren läßt (KA II,
158, Nr. 90), um die aufgelösten Teile in neue Kombinationen um-
zuordnen. Durch Witz bekommt die starre Vernunft erst »das Ela-
stische und das Elektrische« (a.a.O., 159, Nr. 104). »Witz ist die
logische Geselligkeit« (a.a.O., 154, Nr. 56), geistige Kontiguität, be-
wußte Ausnützung der unendlichen Kombinabilität alles Seienden
durch Bemächtigung der einheitstiftenden Kraft. Witz ist also kein
negatives Prinzip wie Ironie und Allegorie. Gehen diese auf »Ver-
nichtung des Einzelnen qua eines Einzelnen«, so »richtet sich der
Witz auf die Vereinheitlichung der Fülle« (KA XVIII, S. XVIII; vgl.
KA II, 154, Nr. 59; KA XIX, 94, Nr. i n ; KA XVIII, 89, Nr. 711
und Nr. 716). In ihm bekundet sich das unerweisliche Prinzip posi-
tiv aus seinen Wirkungen. Zugleich verleiht der Witz dem Chaos

34
keine Einheit in toto, sondern synthetisiert nur punktuell. Gerade
durch den Witz ist die Phantasie auf Mannigfaltigkeit angelegt.
Er kann darum mit Recht als »fragmentarische Mystik« bezeich-
net werden (KA XVIII, 90, Nr. 730) - denn »die Mystik trachtet
durchaus nach absoluter Einheit« (a.a.O., 7, Nr. 40). Er ist die ins
Detail zerstückelte (quantifizierte) absolute Einheit, »mehr etwas
Synkretistisches als etwas rein Mystisches« (a.a.O., 98, Nr. 837),
wie Schlegel bezeichnend modifiziert (vgl. a.a.O., 391, Nr. 856).
Wenn »Genie« um »das Bildungsvermögen«, welches auf aktuelle
Totalität dringt, reicher ist als der »Witz«, so ist » W i t z . . . also
eigentlich fragmentarische Genialität« (a.a.O., 102, Nr. 881).
Wenn Genie auf die mystische Einheit geht, der Witz als fragmen-
tarische Genialität gleichsam nur Momente der Einheit aufzudecken
imstande ist, so ist in ihm eine Defizienz mitgesetzt. Welches Inter-
esse kann die Philosophie an ihm haben?
Wir zeigten, daß Schlegels Philosophie nicht von einem ersten
Grundsatz ausgeht und mit dem Zweifel an der Möglichkeit des
Systems einsetzt, welches sich nur ex negativo zur Geltung bringt.
Dem »System« direkt entgegengesetzt (KA XVIII, 328, Nr. 47)
ist aber das »Universum«. Eine Philosophie, die sich mit der Ein-
sicht in die progressiv sich vermehrende Wahrscheinlichkeit der
höchsten Einheit begnügt, ist daher an eine zunächst orientierungs-
lose Unendlichkeit verwiesen, deren Schema zu konstruieren »Poe-
sie und Philosophie allein nicht ausreichen«. Denn »das Universum
i s t . . . schlechthin nach allen Seiten unendlich« (a.a.O., 302, Nr.
1299). »Daher entsteht das Bedürfniß von Combination« (ebd.),
d. h. von schrittweise um sich greifender partialer Einheitsstiftung,
damit zunächst der Standort des Suchenden im Chaos erhellt wer-
den kann und nach und nach das Schema der Orientierung im Chaos
selbst bekannt werde. Der »Witz« ist darum die gesuchte »ars com-
binatoria« (a.a.O., 124, Nr. 20), ja sogar »Prinzip und Organ« der
Philosophie (solange sie ein werdendes, noch unvollendetes Wissen
ist), eine methodische »Erfindungskunst« (a.a.O.; KA II, 200, Nr.
220; KA XVIII, 281, Nr. 1030; KA XIX, 118, Nr. 326), vermöge
welcher die »exoterische Philosophie« sich im »Chaos« orientiert.
Statt dem System des Chaos konstruiert der Witz als »ein che-
misches Vermögen« (KA XVIII, 129, Nr. 90) ein »Chaos von Sy-
stemen«, d. h. eine Unendlichkeit von partiellen Vereinigungen, die
punktuell die in ihnen relativ wirksame absolute Einheit zur Trans-
parenz bringen. Witz ist die Synthesis unter dem Exponenten der
Differenz - darum nicht notwendig empirische, aber als Gegen-
satz zum Höchsten relative (KA XVIII, 105, Nr. 905), abstrakte
Einheitskraft, die letztlich vom Absoluten deriviert (a.a.O., 252,
Nr. 693). Allen Definitionen des Witzes ist dies gemein, daß sein

35
»Stoff* »immer paradox sein muß* (a.a.O., 94, Nr. 781), daß dies
inhaltliche Paradox in endlicher Form ausgetragen wird - nämlich
als Fragment - und daß in dieser Form die gleichzeitige Notwen-
digkeit und Unmöglichkeit einer Vereinigung der Antithesen »un-
endliche Einheit« und »unendliche Fülle« ausgetragen wird. Das
Paradox wird also im Endlichen oder Abstrakt-Realen ausgetragen,
aber innerhalb desselben wieder unter dem Exponenten der Syn-
thesis und nicht dem der unendlichen Auflösung: »Alles Relative«,
sagt Schlegel, »ist real [abstrakt real], und alles Absolute ideal. Der
Witz entsteht bloß aus der Synthese (nämlich der reinen Synthese)
des Dichotomirten« (a.a.O., 262, Nr. 813). Da diese Synthese aber
in endlicher Form sich ereignet, bewirkt sie, auf Kosten einer Er-
hellung des Ganzen, nur eine Einheit-en-detail, eine punktuelle
Lucidität (die Einzelheit). Die Form ist das Fragment.

Die Form der abstrakten Synthesis - »fragmentarische


Universalität« 2 1

Als Erscheinung einer Erscheinung, ein Produkt des Enthusias-


mus (L. N , Nr. 1846), kann der Witz den Urwiderspruch nur rela-
tiv lösen. Aber, derart ins Einzelne herabbestimmt, bedeutet er im
einzelnen das verborgene Absolute: »Durch die schärfste Richtung
auf Einen Punkt kann der einzelne Einfall eine Art von Ganzheit
erhalten« (KA II, 160, Nr. 109; XII, 393; XVIII, 305, Nr. 1333;
a.a.O., 69, Nr. 488; KA II, 197, Nr. 206). Das witzige Vermögen
der punktuellen Synthesis, die gerade durch intensive Konzentra-
tion auf »Individualität« (Einzelheit) die unteilbare Einheit zur
Geltung bringt, nennt Schlegel »fragmentarische Genialität« (KA
II, 148, Nr. 9). Sie ist die »Form des abgeleiteten, fragmentarischen
Bewußtseins« (KA XII, 393), dessen ontologischen Status Schlegel
erst in den Kölner Vorlesungen präzise bestimmt hat, wie zu zeigen
sein wird.
Das endliche Ich (vgl. KA XVIII, 512, Nr. 73) ist die Folge eines
unverfügbaren »Aussichherausgehens« (KA XII, 348) im Ur-Ich.
Darum ist die »eigentümliche, spezifische Form des menschlichen
Bewußtseins, als abgeleiteten, vernünftigen Bewußtseins überhaupt
. . . das Fragmentarische« (a.a.O., 392).
»Gerade durch diese Einzelheit und Abgerissenheit«, erklärt Schlegel,
»unterscheidet sich das abgeleitete Bewußtsein. Diejenige Tätigkeit aber,
wodurch das Bewußtsein sich am meisten als Bruchstück kundgibt, ist der
Witz, sein Wesen besteht eben in der Abgerissenheit und entspringt wieder
aus der Abgerissenheit und Abgeleitetheit des Bewußtseins selber. - Diese
Fähigkeit, worauf sonst zu wenig Rücksicht genommen wird, ist die eigen-

36
tümliche, individuelle Form, worin das Höchste des menschlichen Bewußt-
seins erscheint, insoweit es überhaupt ein abgeleitetes und untergeordnetes
ist« (a.a.O.; vgl. a.a.O., 403 ff.).
Das »individuelle« Fragment in seiner Einzelheit spiegelt zu-
gleich ex negativo die »Individualität« Gottes, seine »unteilbare
Einheit« (KA XVIII, 56, Nr. 372; KA II, 320). Individualität als
Form des Fragments hat bei Schlegel immer den dialektischen Dop-
pelaspekt von Einzelheit und Einheit; darum trifft ihn der vielge-
hörte Vorwurf, er vergöttere die unverbindliche Individualität,
überhaupt nicht.22 »Alle Ideen sollen Individuen werden*, erklärt
Schlegel, »und alle Individuen zugleich Ideen seyn* (KA XVIII,
56, Nr. 372; vgl. 37, Nr. 199). Einzelheit ist gerade nur denkbar ver-
möge der in ihr manifesten absoluten Einheit, die alle abstrakte In-
dividualität aufhebt. Das Fragment hat die Synthesis von »realer
Idealität« und »idealer Realität« (a.a.O.) zum Inhalt.23 Diese Synthe-
sis ist »Geist«, ein »Paradoxon«. Denn »Geist besteht aus durchgän-
gigen Widersprüchen« (KA XVIII, 36, Nr. 192; dazu vgl. KA II,
XXXIX f.).

Das fragmentarische Chaos: Universum

Das »System« wäre ein aktuell komplettiertes Fragment, ein


»absolutiertes« Individuum. In ihm ist ein »Chaos von Systemen«
synthetisiert gedacht. Das »System von Fragmenten« (Brief an Wil-
helm, 18. 12. 1797, Walzel, 336; K A X V I I I , 97, Nr. 815; a.a.O.,
160, Nr. 857; a.a.O., 98, Nr. 832; Kröner, 157; KA XIX, 13, Nr.
106) ist ein durchaus sinnvoller Name für diejenige symbolische
Form, die sich dem »absoluten System« approximativ erst nähert
und seine Erreichung durch den »Entwurf« von Fragmenten pro-
gressiv antizipiert (»Meine Philosophie ist ein System von Frag-
menten und eine Progreßion von Projekten« (KA XVIII, 100,
Nr. 857)). Je mehr Zusammenhänge zwischen Fragmenten (Brief
an Wilhelm, Walzel, 358/9), je mehr Kontiguität der Gedanken,
je mehr Synthesen es mir aufzuweisen gelingt, desto »erklärter«
wird, wie Novalis sagt (II, 270, Nr. 566), das transzendente Prin-
zip, desto »wahrscheinlicher« wird, wie Schlegel sich ausdrückt, die
wirkende Realität der höchsten Einheit, desto mehr Ordnung ent-
steht zugleich im Chaos. Das Chaos selbst wird progressiv symbo-
lisch für das »Ganze«. Und der »kombinatorische Geist« (KA II,
XXXVIII) ist die Methode dieser Progression, die, weil ihr Ziel
»die positive Erkenntnis der unendlichen Realität« ist, als »Auf-
gabe« sich ankündigt, welche »nie vollendet werden kann« (KA
XII, 166). Denn der dargestellte Urwiderspruch von Idealem und

37
Realem ist durch relative Synthesen nur relativ befriedigt und er-
zeugt die universelle Widersprüchlichkeit aller Teile gegeneinander.
»Alles widerspricht sich* (KA XVIII, 86, Nr. 673) - in der Rea-
lität; ebensolche Inkonsistenz zeigt sich im Ideellen: »Die Form des
Bewußtseins ist durchaus chaotisch«.24
Um dieser Tatsache Rechnung zu tragen, bedarf es einer »Pole-
mik gegen die Consequenz« (KA XVIII, 309, Nr. 1383). Das Frag-
ment muß nicht allein den Widerspruch in sich austragen, sondern
den Umstand berücksichtigen, daß, indem es den Widerspruch sym-
bolisch verendlicht, das endliche Symbol in neue Widersprüche ge-
rät mit andern Symbolen, die wohl alle hinsichtlich ihrer »Ten-
denz« aufs Unendliche identisch sind, aber durch ihre Individuation
neue Gegensätze aus sich heraustreiben. Von hier versteht sich der
große Wert, den Schlegel dem Begriff »Tendenz« beimißt. Daß sich
das einzelne »Poem« zur »Poesie« überhaupt verhält wie Bestimm-
tes zum unendlich Bestimmbaren, erklärt nach Schlegels Wort »die
Menge von poetischen Skizzen, Studien, Fragmenten, Tendenzen,
Ruinen und Materialien« (KA II, 147, Nr. 4). Alle voreilige Tota-
lisierung ist petrefakt. Schlegel spricht von »geistiger Gicht« (KA
XVIII, 221, Nr. 318).25 Die Tendenz geht über die »klassische«
Form, die »in ihrer strengen Reinheit... jetzt lächerlich« ist (KA
II, 154, Nr. 60), hinaus. Das Fragment ist »kein Werk, sondern nur
Bruchstück . . . , Anlage« (a.a.O., 159, Nr. 103; vgl. a.a.O., 209, Nr.
259; K A X V I I I , 114, Nr. 1029).

Die Überwindung der abstrakten Synthesen durch die Ironie

Bisher ist die Einheit des Ideellen und des Reellen also noch unter
dem Exponenten des Reellen synthetisiert, und es erhebt sich ein
neuer Widerspruch: der des Abstrakt-Reellen gegen das Absolut-
Unendliche oder derjenige einer bloß relativen Einheit aus Ideellem
und Reellem gegen deren absolute Einheit. Das Opfer des Endlichen
ist nicht radikal genug, wenn es nur partiell vernichtet wird, um
dann doch in »positive Form« zu gerinnen (Novalis, V, 503, Nr. 68,
Z. 29/30). Gleichwohl ist die bestimmte Synthesis ein Resultat des
Unbestimmbaren.
Schlegel bringt sich diese Einbildung des Unbestimmbaren ins
Endliche zunächst durchaus in Fichteschen Kategorien zur Anschau-
ung: Bestimmung entsteht durch Beschränkung der ins Unendliche
strebenden Tätigkeit des Absoluten (die Tätigkeit freilich nur ist,
weil die absolute Urthesis sich selbst zum Gegenstand geworden und
damit zu sich selbst in thetische Relation getreten ist - wodurch
nach Schlegels Kritik die Rede von »absoluter Tätigkeit« eigentlich

38
unstatthaft geworden ist).26 Die absolute Urhandlung entfremdet
sich, eben dadurch, daß sie sich der Thesis ihrer selbst nicht enthal-
ten kann, von sich selbst und stellt die unbedingte Negation jener
schon (thetisch) gegebenen Position sich entgegen - beides vermit-
telt die Limitation, die aus absoluter »Selbstschöpfung« und
»Selbstvernichtung« (KA II, 149, Nr. 28) die »Selbstbeschränkung«
oder den »dividierten Geist« hervorbringt; derart freilich, daß die
Schranke der unendlichen Tätigkeit widerstreitet, die, unendlich
sich an jener brechend, sich unendlich über dieselbe hinwegsetzt.
Dieses transzendierende Vernichten der selbstgesetzten Beschrän-
kung ins Unendliche nennt Schlegel Ironie.27 Sie ist eine Bewe-
gung, durch welche sich die partielle Synthesis (das witzige Frag-
ment) auf das in ihr wirksame und nur inadäquat verwirklichte
Unendliche (allegorisch) übersteigt, ein unendlicher Sieg der Freiheit
über die Notwendigkeit. Ständig sich in die Notwendigkeit kontra-
hierend (Witz), behauptet sich das Unendliche in der Ironie immer
wieder gegen das Endliche und wird so »eiri&ei£ie, der Unendlich-
keit« (KA XVIII, 128, Nr. 76) - dies der allegorische Aspekt.
Denn über jeder Vernichtung des Endlichen, eben weil es endlich
ist, wird durch »echappees de vue* (KA II, 200, Nr. 220) der Blick
freigegeben »ins Unendliche«, das als solches nicht ansichtig wird,
weil angeschaut werden und sich selbst beschränken eines und das-
selbe ist.
Es wäre dies Fichtes absolutes Ideal, das »Ich als Idee«, das, weil Realisa-
tion Beschränkung impliziert, niemals realisiert werden kann und im
»Modus der Abwesenheit« (Jenseitigkeit) die diesseitige Tätigkeit beun-
ruhigt und sich als »Sehnen« (Fichte I, 202/3), a l s »ewigen Mangel«
(Novalis, II, Nr. 566), als »Leere, die Ausfüllung sucht«, ja als »eine
Lücke im Dasein« (KA XII, 192), wie Schlegel einmal das Nichts des
Parmenides nennt, bestimmen macht28 - eine mit der Sartreschen Suche
nach dem absoluten »Soi«29 identische Struktur, nämlich die der Zeitlich-
keit, welche sich im vergeblichen Zugriff auf die Ewigkeit erst in ihrer ra-
dikalen Diesseitigkeit und Endlichkeit, in ihrer Geschiedenheit von und
»Unangemessenheit« zu ihrem Wesen ertappt - eben dies aber ist Schellings
immer wiederholte Definition von Zeit, die Sartre eigentlich nur zu zitie-
ren scheint, wenn er schreibt: »Die menschliche Wirklichkeit... w i r d . . .
von ihr selbst erfaßt als ihr eigener Mangel* (Das Sein und das Nichts,
143). »Dennoch«, heißt es bei Fichte, »schwebt die Idee einer solchen zu
vollendenden Unendlichkeit uns vor und ist im Innersten unseres Wesens
enthalten. Wir sollen, laut der Anforderung desselben an uns, den Wider-
spruch lösen; ob wir seine Lösung gleich nicht als möglich denken können,
und voraussehen, daß wir sie in keinem Momente unsers in alle Ewigkei-
ten hinaus verlängerten Daseyns werden als möglich denken können. Aber
eben dies ist das Gepräge unserer Bestimmung für die Ewigkeit« (Fichte I,
270). Erst im Vorlaufen auf diese Ewigkeit und im Zurückkehren auf das
Bestehende erfaßt sich das reflexive, ekstatische Ich als der Ewigkeit er-

39
mangelnd. Die Ironie - eine Bestimmung, deren Implikationen hier noch
kaum zu übersehen sind - ist nichts anderes als dieser vorlaufende Auf-
weis des Mangels, in eins damit »epideixis der Unendlichkeit«.
Es fällt durch die Einführung eines beiden abstrakten Synthesen
übergeordneten Begriffs ein neues Licht sowohl auf das, was Schle-
gel Witz, wie auf das, was er Allegorie nennt. Die endliche Wirk-
lichkeit wird in ihrer Endlichkeit zugleich erfaßt als ihres Wesens,
ihres Seins, dessen, was Schlegel das »ovtcuc, OV« nennt, ermangelnd.
Denn die »symbolische Form« (KA II, 415), die den Witz für das
in ihm verborgene Ewige transparent macht, setzt ihre eigne End-
lichkeit außerhalb ihrer »Bedeutung«, in welcher allein sie »Dasein
und Realität« hat (a.a.O., 414). Das ist der negative Sinn der alle-
gorischen Bedeutung, daß sie über sich selbst (als witzige Synthesis)
hinausweist auf ihr eigenes Sein, welches sie gleichsam außerhalb
ihrer selbst als eines bloß empirischen ist. Diese Struktur eines Le-
bens-außer-dem-eigenen-Sein kann mit Grund als ekstatisches Da-
sein bezeichnet werden. Das ekstatische Dasein setzt sein eignes Sein
durch Vernichtung seiner selbst als Bedeutenden. Es setzt dadurch
zugleich das »Ganze« (a.a.O.) außerhalb seiner, da es sich selbst
durch seine allegorische Transzendenz als »bedingt« setzt, unter-
scheidet und aufhebt.
Sehr konsequent kann Schlegel sagen: »Wer etwas Unendliches
will, der weiß nicht was er will« (KA II, 153, Nr. 47). Er würde
die Freiheit selbst wollen und könnte sie doch nur unter Schranken
fassen (als »Willkür«). Reflektiert also der Künstler seine eigne Be-
dingtheit nicht mit, so »wird er . . . alles sagen wollen« (KA II, 151,
Nr. 37), »welches eine falsche Tendenz . . . ist«. Und nur in diesem
Sinne empfiehlt Schlegel die »Selbstbeschränkung« als einen »Wert«
»für den Menschen wie für den Künstler«. Die wahre Stärke besteht
darin, der notwendigen Verstrickung in die Schranken der Deter-
mination durch ein höchstmögliches Demonstrieren der unendlichen
Freiheit zu entgehen, um so, wenn schon nicht die absolute Freiheit
selbst, so doch ihr oberstes Phänomen, die »Willkür«30, zu ver-
wirklichen.
An der Willkür bekundet sich also die Ekstatik des Gemüts vor-
züglich: nur freie, d. h. über sich selbst kraft wesenhafter Disposition
»hinweggesetzte« Naturen (KA II, 160, Nr. 108) können ihre
Selbstbeschränkung überwinden; welcher an sich nicht der gering-
ste Wert beigemessen wird. Vielmehr ist »nur das Unbedingte...
nützlich. Jeder der nicht alles will, geht in so fern grade aufs Nichts
zu« (KA XVIII, 289, Nr. 1112; bekannter ist Fragment Nr. 3 der
Ideen). So tut sich in der Ironie ein Paradox auf, das im Begriff
der Willkür - als endlicher Darstellung der unendlichen Freiheit -
vermittelt gedacht ist. Es ist die Äußerlichkeit des inwendigen Wi-

40
derspruchs im Ich (KA XVIII, 104, Nr. 896). Das »Paradoxon« ist
die empirische Darstellung der »esoterischen« Unangemessenheit des
Relativen ans Absolute (a.a.O., 105, Nr. 905). Die »Ironie ist die
Form des Paradoxen« (KA II, 153, Nr. 48).31 »Gibt es wohl«, fragt
Schlegel, »ein schöneres Symbol für die Paradoxie des philosophi-
schen Lebens, als jene krummen Linien, die mit sichtbarer Stetigkeit
und Gesetzmäßigkeit forteilend immer nur im Bruchstück erschei-
nen können, weil ihr eines Zentrum in der Unendlichkeit liegt?«
(KA II, 415). Dies Symbol versinnlicht in der Tat ausgezeichnet
das Mißverhältnis zwischen dem absoluten, Exponentlos-Identischen
und seiner Darstellung unter dem Exponenten des Endlichen. Das
Unendliche kann nicht umhin, sich seiner Freiheit in der Wirklich-
keit partiell zu begeben, bleibt aber, an sich gesehen, Freiheit. Die-
sen Kampf trägt die Ironie aus.
Auf den Begriff Ironie ist Schlegel offensichtlich durch seine Be-
schäftigung mit Piatons Dialogen gekommen. Es ist das tertium
comparationis seiner und der Sokratischen Ironie, daß in der ironi-
schen Form (im ironischen Stil) dasjenige nicht gemeint ist, was be-
stimmt geäußert ist, sondern daß eben darum, weil es bestimmt ge-
sagt ist, etwas anderes »angedeutet« sein soll, ohne daß dieses an-
dere, »Höhere«, selbst positiv mit in das Bedeutende eingeht.

»Die Sokratische Ironie«, schreibt Schlegel, »erhält und erregt ein Gefühl
von dem unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten,
'dpr Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung«
(KA II, 160, Nr. 108), die immer allegorisch bleiben muß (vgl. a.a.O.,
153, Nr. 53; vgl. noch in KA X, 357: »Ironie der Liebe«).

Diese vielzitierte Definition appliziert im Grunde nur Schlegels


Entdeckung des Widerspruchs in Fichtes Wissenschaftslehre auf Pia-
tons Philosophie. Zwischen den Jahren 1796/7 (also dem Zeit-
punkt, in welchem dies Fragment geschrieben ist) und 1805/6 (also
der Zeit von Schlegels Kölner Privatvorlesungen) ist Schlegel nach-
weisbar zu einer sehr eigenständigen Deutung der im Begriff der
Ironie benannten Widersprüchlichkeit gelangt. In den Kölner Vor-
lesungen bestimmt Schlegel die Sokratische Ironie wie folgt, um
eine wesentliche Nuance verändert: Sie sei Bewußtsein der Unver-
hältnismäßigkeit des »Gegenstandes der Philosophie«, nämlich des
Absoluten, an »die engen Grenzen des menschlichen Verstandes«,
da dieser Gegenstand »so außer allem Verhältnisse mit seiner be-
sdiränkten Fassungskraft« (KA XIII, 205) sei, daß der Verstand
sich nur durch unendliches Streben annähern, die ewige Wahrheit
jedoch nie erreichen könne: »Sie ganz zu erreichen sei für den Men-
schen ein unauflösliches Problem« (a.a.O., 206). Die Ironie verspot-
tet den angemaßten, als »Substanz« interpretierten Begriff von

41
»Wahrheit« und löst ihn auf durch die Einsicht in die Ekstatik des
menschlichen Bewußtseins und deren Folge: die unendliche Ge-
schichtlichkeit alles Irdischen. Was immer nur unterwegs ist, muß
alle substantielle Identität ewig und »notwendig« überschreiten
(a.a.O., 207 f.) und vernichten, um auf »die unendliche Große und
Erhabenheit, auf die nie zu erschöpfende Fülle und Mannigfaltig-
keit der höchsten Gegenstände der Erkenntnis aufmerksam (zu)
machen« (a.a.O.).
Es ist zu zeigen, wie sich diese Konsequenz in Schlegels Denken
Bahn bricht. Das zitierte Lyceumsfragment kennt bereits die For-
mulierung: »durch sie [die Ironie] . . . setzt man sich über sich selbst
weg« (KA II, 160, Nr. 108). Dieses Sich-über-sich-selbst-Hinweg-
setzen sei nicht sowohl »die freieste aller Lizenzen«, als »unbedingt
notwendig« (a.a.O.). »Unbedingt notwendig«, d. h. durch das Sein
dessen, der sich über sein Sein hinwegsetzt, durch das innerste We-
sen des Ich - nicht kausal, nicht durch äußere Veranlassung - be-
dingt: die Ekstasis ist das Wesen des Ich, das sein Sein (dasjenige,
was Schlegel später substantielle Identität< nennen wird) ständig
wesensmäßig überschreitend zu negieren genötigt ist.
Im Begriff der Ironie ist also eine dynamische Synthesis wider-
streitender Tendenzen gedacht: Die Ichheit ist Streben nur, inso-
fern sie sich eingrenzt; sie grenzt sich nur ein, um eine Schranke zu
erstellen, die sie überschreitet. Die jeweiligen Manifestationen die-
ser Tendenzen sind Witz (»Selbstbeschränkung«) und Allegorie
(»Sich-übcr-sich-Wegsetzen«). Jede bestimmte Form ist eine Selbst-
affirmation des Unendlichen, Schlegel sagt: ein »Grad von Ironie«
(KA XVIII, 74, Nr. 554), die sich auf jeder Stufe ihrer fortschrei-
tenden Selbstdarstellung als ein relatives >Äquilibrium< (vgl.
Fichte I, 285 ff.) von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung konsti-
tuiert32 und überflutet. Wie Fichte bestimmt Schlegel diese dichoto-
mische Gegenwendigkeit als »Wechsel«. Dieser Wechsel muß dia-
lektisch auf sich selbst bezogen sein; jedes der Wechselnden ist nur
zumal mit und vermöge seines Widerparts. Denken läßt sich diese
Dialektik wohl. Es fragt sich, ob denn die Ironie auch empirisch ma-
nifest werden kann, ohne daß die Simultaneität der Strebensrich-
tungen aufgebrochen werden muß.
Hier tut sich eine Problematik auf, deren sich Schlegel erst all-
mählich bewußt zu werden scheint. Achten wir auf die folgenden
Definitionen der Ironie. Sie sei »steter Wechsel von Selbstschöp-
fung und Selbstvernichtung« (KA II, 172/3, Nr. 51), »ewiger
Wechsel von Enthusiasmus und Ironie« (d. h. von Witz und Allego-
rie) (KA II, 319, vgl. KA XVIII, 198, Nr. 11), »Schweben« zwi-
schen den Gegensätzen, »ewiges Schwanken zwischen Selbsterwei-
terung und Selbstbeschränkung« (KA XVIII, 305, Nr. 1333), »Agi-

42
lität« als »Prinzip der Wechselwirkung und Dynamis« (KA
XVIII, 340, Nr. 214), »Wechselspiel des Unendlichen und des End-
lichen« (a.a.O., 361, Nr. 495), »Puls und Wechsel zwischen Univer-
salität und Individualität« (a.a.O., 259, Nr. 782). Allen diesen Be-
stimmungen ist gemein, daß die Simultaneität der Widersprechen-
den teils ausdrücklich, teils implizit behauptet ist. Das Attribut
»ewig«, welches gewiß nicht zufällig das Adjektiv »stet« ablöst, soll
dem Eindruck entgegenwirken, als sei dasjenige, was die Sprache
nur als Abfolge zu artikulieren imstande ist, wirklich als Sukzes-
sion zu denken. Der Wechsel soll »ewig« sein, soll »schweben« zwi-
schen den Gegensätzen, »schwanken«, und doch nicht wie ein Pen-
delausschlag wirklich sich bewegen.33 Und da ist endlich die Defini-
tion der »Ironie als gesetzliches . . . Oscilliren« (a.a.O., 77, Nr. 592),
als »abwechselndes Erweitern und Verengen« (KA XII, 360/1). In
dieser Korrektur bekundet sich ein Bewußtsein, daß sich zwischen
die ewige Gleichzeitigkeit des Wesens und seine endliche Darstel-
lung ein »Zwischenglied« muß einfügen lassen, das beide Sphären
vermittelt. Schlegel trifft auf das gleiche Problem, welches Schelling
nötigte, zwischen die unzeitliche Selbstvermittlung des transzen-
denten Absoluten und unser endliches Erkennen ein »Interstitium«,
den Begriff der »potentiellen Zeit«34, einzuschieben: Auch der Pro-
zeß des Zu-sich-Kommens und Uber-sich-hinaus-Greifens muß in
irgendeiner Weise als zeitliche Sukzession gedacht werden, da
er anders nicht wirklich sein kann. Schlegels Bestimmung der
Ironie rückt so unversehens mit Schellings Bestimmung der Zeit zu-
sammen: »Die Zeit ist diese Vernichtung des besonderen Lebens als
eines besonderen« (I, 6, 220) und zugleich, ganz wie Schlegels Iro-
nie, »eine beständige Sucht nach der Ewigkeit« (WA II, 124) - die
sich als geschichtliche Progression, endlich als Zeit zu erkennen gibt.
Erst jetzt können die Stadien der Ironie angemessen erklärt wer-
den. Die Ironie ist selbst nichts anderes als die »Einbildungskraft«
oder »Fantasie«, welche, wie wir zeigten, unmittelbar aus der höch-
sten Einheit entspringt. Die ironische »Fantasie« hat zwei Tenden-
zen: Sie faßt sich selbst ein im Witz und bekundet darin ihre Mit-
gift von der absoluten Einheit — sie löst sich sogleich aus ihrer Ein-
schränkung auf und transzendiert sich auf ihr in keiner Eingren-
zung darstellbares Wesen hin, das verfehlte »Ganze bedeutend« (als
Allegorie) - dies ihre Mitgift von der »unendlichen Fülle«. Die ab-
solute Synthesis »im Nu« dissoziiert sich in eine relative, dynamische
Synthesis, die Trennen und Vereinigen nicht simultan, sondern suk-
zessive vermittelt. Eine solche organische Struktur ist die Zeit (vgl.
Sartre, Das Sein und das Nichts, 163 ff.). Ausdrücklich erklärt Schle-
gel: »Ironie ist innerlich; der Witz nur die Erscheinung derselben«
(KA, XVIII, 203, Nr. 76) und »Fantasie besteht im 4v xol itav, im

43
Schaffen und Vernichten« (a.a.O., 198, Nr. 11). Die strukturelle und
wesensmäßige Identität von Phantasie, Ironie und Zeit als orga-
nisch-relativen Synthesen, vermöge deren eine wesensmäßige Un-
verträglichkeit im Begriff des Höchsten empirisch ausgetragen wird,
ist außer Frage. Die romantische Theorie hat Zeit immer wieder als
»Unangemessenheit des ewigen Wesens an seinen Begriff» verstan-
den (I, 2, 364; I, 4, 395; I, 6, 158/9; I, 10, 101) und sie im Bilde
einer unendlichen Linie veranschaulicht, die durch ewiges Streben
sucht, die verlorene Ewigkeit durch die Unendlichkeit ihrer Suche
wieder einzuholen.
Was, an sich gesehen, die »intensive Allheit« ist, kann sich nicht zumal
in seinem Sein darstellen, sondern nur sukzessive. Aber diese sukzessive
Darstellung des an sich Simultanen ist die Zeit, die in extensiver Unend-
lichkeit die verlorene, gesuchte Ewigkeit antizipiert. Sie ist der Ewigkeit
ebenso »unangemessen« wie eine Reihe von der Art 1 + 1 + 1 + 1+ •
o= dem -Q-. So ist die Zeit gleichsam -g- — 1, eine Kompressionsver-
minderung der absoluten konkreten Totalität, wodurch sich dieselbe in
einen ewigen Sog auflöst, um sich durch Komplettierung der Endlichkeit
wieder einzuholen (vgl. IX, 413, Z. 9-12!)
Von hier fällt ein Licht zurück auf Schlegels Begriff der »Alle-
gorie«, die nur zeitlich interpretiert werden kann. Die »Zeit« näm-
lich ist der gesuchte einzuschiebende Begriff, der den »Ablauf der
Natur... in einem Nu« (KA XII, 39; vgl. KA XIII, 41,,35) mit
dem aus »Individuen« - relativen Synthesen - zusammengesetz-
ten »Universum« vermittelt. Da Schlegel diesen Mittelbegriff als die
»Allegorie* (KA XII, 39) bestimmt hatte, wie hier nur in Erinne-
rung zu bringen ist, ist kein Zweifel möglich, daß sich für Schlegel
die Konstituierung der Allegorie nur als ein Prozeß der Verzeit-
lichung des Absoluten begreifen läßt. Aus dem Prozeß »im Nu« -
einem Paradox, durch welches eine Bewegung als in sich selbst zu-
rückkehrend gedacht werden soll36 - wird die Zeit, die als Sche-
ma, als »Bild« (a.a.O.) zwischen das Ewige und das Empirische tritt
und bewirkt, daß etwas »existirt« (a.a.O.). Die Zeit ist also das
>Medium der Reflexion<. Die »Selbstdarstellung Gottes« (ebd.) ist
somit die Freisetzung der »Zeit« im »Bilde«; und da das Bild eine
Leistung der Einbildungskraft ist, ist die Urhandlung des Absoluten
selbst nichts anderes als die tätige Zeit. Das Selbstbewußtsein selbst
ist nicht, es zeitigt sich. Die Konsequenzen der Fichtekritik sind
wirksam geworden. Als zeitliche Wesen haben wir nur eine »negative
Erkenntnis« vom Höchsten, d. h. wir können den Vermittlungsbe-
griff des »Werdens«, des »Lebens« (KA XII, 362) auf keine Weise
transzendieren. Denn »wir begreifen nur in der Zeit« (KA XVIII,
410, Nr. 1075; vgl. Novalis II, 269, Nr. 563; Fichte I, 279).37 Die
negative Erkenntnis setzt gleichwohl die »positive« voraus (KA

44
XII, i i 5 , IJ 7> I 2 6 , 136, 166, 208/9 u - a -) — denn ohne einen un-
vordenklichen Stoff, der sich im Selbstbewußtsein »offenbart«, gäbe
es nichts, was sich vor den Augen der Reflexion verzeitlichen
könnte. Die Reflexion kann sich eine auch nur »transitorische Ein-
heit« nur durch Hypostasierung der unvordenklichen, sich in jeder
Synthesis zeitlich ereignenden Ur-Einheit erklären.
Schlegel trennt nicht minder scharf als Schelling die absolute dif-
ferenzlose Einheit in Gott von dem Wechsel einerseits und von der
historischen Progression andererseits:
»Im goldnen Zeitalter und im Reich Gottes ist kein Streit. Der ganzen
Historischen Menschheit muß aber ein — entgegengesetzt werden können,
oder es muß sich doch in + und - trennen« (KA XVIII, 77, Nr. 588). -
In Absoluten ist also gar keine Relation, sondern substantielle
Identität der Wechselnden. Das Relative als des Absoluten Gegen-
satz ist Verhältnis, durch Selbstbeziehung ausgezeichnet und darum
geschichtlich, strebend: »Progreßiv*, notiert Schlegel, »bezieht sich
vielleicht auf [das Verhältnis von] Absolut und Relativ« (a.a.O.,
239, Nr. 551), und gibt mit diesem Wink schlagartig die Lösung für
das Paradox eines simultanen, unvermittelten oder ewigen Wider-
spruchs.38 Die Methode der Ironie ist damit etabliert: Sie besteht
in einem progressiven Selbstschöpfen und Selbstvernichten und gibt
sich in dieser Potenzierung zunächst als »Historie«, dann als Grund
der Historie, als »Zeit« zu erkennen. Noch ist zu zeigen, wie sich
Schlegel dieser letzten, reifen Lösung seiner Philosophie nähert.

Die Methode der dialektischen Progression als Einheit


von System und Chaos

Das Konzept der Ironie ist Schlegels erste selbständige Alterna-


tive zu einer Philosophie, die von einem unbedingten Grundsatz
ausgeht und die Endlichkeit schrittweise deduziert, dabei aber in die
bekannten Aporien sich verstrickt. Gemeinhin sieht man Schlegels
Beitrag in der Geschichte des Idealismus hiermit für erschöpft an.
Die Urteilsbildung über Schlegels Denken war, insbesondere durch
die heftige Polemik von Hegel und Kierkegaard, abgeschlossen,
noch bevor man einen repräsentativen Teil seiner philosophischen
Schriften kannte, die erst jetzt durch die kritische Ausgabe zugäng-
lich gemacht werden. So konnte es geschehen, daß man die umfas-
sende Fragestellung des Schlegelschen Denkens auf einen polemi-
schen Affront - vermeintlich mit zweifelhaften ästhetischen Impli-
kationen - verkürzte, Schlegel für einen unernsten Fichteschüler
hielt und dem Schicksal seines im Begriff der Ironie keineswegs ge-

45
lösten philosophischen Suchens (besonders nach der suspekten Kon-
version) nicht das geringste Interesse mehr entgegenbrachte. Dies
Schlegel-Bild bedarf einer Korrektur, die durch Kenntnisnahme sei-
ner eignen Schriften, insbesondere der Philosophischen Lehrjahre
und der Kölner Privatvorlesungen, zu leisten ist. Es läßt sich ohne
Mühe zeigen, daß Schlegels Fichteanisierende Periode mit ihrer Lö-
sung eine neue Aporie aus sich heraustreibt, die zu einer Reflexion
auf die Methode des Philosophierens drängte - Schlegel hat sich
ihr in den Lehrjahren mit ungewöhnlicher Selbstkritik unterzo-
gen. Sie endet in einem philosophischen Entwurf der Geschichte,
des unendlichen Werdens, und wird von einer dritten Periode abge-
löst, in welcher Schlegel sein neuestes Konzept fundamental aus der
Struktur des Selbstbewußtseins selbst heraus entwickelt, ohne in
Fichtes Deduktionen zurückzuverfallen. Die Philosophie des Le-
bens bietet nur mehr eine Interessen- und Akzentverschiebung,
ohne substantiell Neues hinzuzufügen — ja, man wird den Kriti-
kern recht geben müssen, daß sie im Niveau befremdlich hinter dem
Stand von Schlegels Philosophieren um 1805 zurückbleibt. In der
skizzierten Entwicklung verändern sich Schlegels Termini für den
Urgegensatz: Selbstbeschränkung-Selbstschöpfung; dann Chaos-Sy-
stem (Sein und Werden); endlich Substanz und Zeit (oder Leben).
In dieser Entfaltung verdient die Reflexion auf die Methode, die
Schlegel in den Lehrjahren leistete, ein besonderes Interesse.
Schlegels Philosophie ist aus einer »skeptischen« Haltung moti-
viert. Ihr »Gegenstand« ist ein »unendlicher« (KA XIII, 350), den
»nur eine fortschreitende Annäherung« (ebd.), d. h. aber: kein ad-
äquates Wissen je erreichen wird. »Der Skeptiker hat also insofern
ganz recht, alle irdische Erkenntnis mangelhaft und unzulänglich zu
finden« (a.a.O.). Die Intuition von Schlegels Welterfahrung war
die Inkonsistenz des Seienden, das Chaos von miteinander unver-
einbaren Ideen: »Alles widerspricht sich* (KA XVIII, 86, Nr. 673),
das ist ein Satz, der, in diese oder jene Formulierung verkleidet,
immer wiederkehrt in Schlegels Notizen (KA II, 319; KA XVIII,
411, Nr. 1085; a.a.O., 36, Nr. 192; KA XIII, i8 ; 1 ; Kröner, S. 159).
Die Philosophie soll das Chaos auf den Begriff bringen. Aber wie
soll das geschehen, wenn »alle Ideen ... widersprechend, alle Prin-
cipien ... grundlos« sind (KA XVIII, 411, Nr. 1085)? Das Prin-
zip einer Philosophie, die wirklich »Philosophie des Lebens« sein
will, muß die unendliche Fülle nicht in erlogene Einheit umdeuten.
Das Unendliche, nicht die Einheit, das Chaos, nicht das System sind
die Erfahrung, die sich aus der Beobachtung unserer Wirklichkeit
aufdrängt: »Wer Sinn fürs Unendliche h a t . . . , sagt, wenn er sich
entschieden ausdrückt, lauter Widersprüche« (KA II, 243, Nr. 412).
Wenn ausgemacht ist, daß »überhaupt nichts beharrlich ist« (KA

46
XIII, 18), so muß das Prinzip der Philosophie gleichsam das
Schema des Chaos zu zeichnen vermögen: selbst ein methodischer
Plan zur Konstruktion des Unendlichen sein. »Da die Natur und
die Menschheit sich so oft und so schneidend widersprechen«, so lau-
tet eines der für Schlegels Haltung charakteristischsten Fragmente,
»darf die Philosophie es vielleicht nicht vermeiden, dasselbe zu tun«
(KA II, 240, Nr. 397). Wer Wahrheit sucht, muß »vielseitig« zu
sein streben: denn das Wahre ist das Ganze (KA II, 262, Nr. 55);
es ist der alleinige »Gehalt und Nutzen« (KA II, 256, Nr. 3).
Darum kann Schlegel schreiben, daß, »was sich nicht selbst anni-
hiliert, . . . nichts werth« sei.39 Denn allein dadurch, daß das empi-
rische Chaos durch Wechselvernichtung aller partikulären Be-
stimmungen seine eigne Endlichkeit immer wieder in den Begriff
»Unendlichkeit« aufhebt, geschieht ein Hinweis auf die Einheit des
Chaos, die nicht selbst empirisch sein kann. Diese Einheit müßte den
»Nahmen« »Welt« oder »Inbegriff alles Werdenden« tragen (KA
XIX, 87, Nr. 42), und über diesen Begriff hätte die extensive Un-
endlichkeit doch einen negativen Bezug auf Einheit, als deren »Zer-
setzung« sie verstanden werden könnte. Dieser Einheit, die Einheit
nur des Nicht-Identischen ist, entspricht »nur Ein Wissen«, das, wie
die Welt, »unendlich theilbar« sein muß (KA XVIII, 76, Nr. 569;
KA XII, 10). Denn »es giebt nur Eine Welt, Eine d. h. unendlich
viele« (KA XVIII, 24, Nr. 68). Dies eine Wissen von einer Welt ist
das von Schlegel immer wieder gesuchte »unmittelbare Bewußtsein,
eine intellektuelle Anschauung der Universalität« (a.a.O., 74, Nr.
5 51). Es wird zugleich »die höchste, reinste oxsijuc.« sein (KA XVIII,
406, Nr. 1023, vgl. KA XII, 202; vgl. Tieck, Köpke II, 256) und
das Schema des Chaos methodisch konstruieren helfen. Diese Skep-
sis ist die »Ironie« (a.a.O.). Sie bringt die Anschauung des »Laby-
rinths der Unendlichkeit« (KA XVIII, 218, Nr. 293) auf den Be-
griff und ist darum gleichsam der ins Bewußtsein gehobene Aus-
druck kontingenter Kombination, Niederschlag von »Mißverhält-
niß«, von »Mislaut« (KA XVIII, 213, Nr. 207). Die Ironie ist die
potenzierte Skepsis, die nach Durchgang durch das annihilierte Cha-
os zu einer einfachen Methode zurückfindet, ohne ein erstes Prinzip
aufzustellen noch auch »System« in die Universalität einzuführen.
Denn »die systematische Form ist ohnehin schlechthin verwerflich,
weil sie wieder auf den Grundfehler aller Philosophie zurückführt
nämlich das fixirte ov - die beharrende Endlichkeit« (KA XIX,
76/7, Nr. 346). _
Gleichwohl sind Chaos und System Wechselbegriffe, zwischen de-
nen die Ironie vermittelt. Denn hätte das Chaos nicht von sich aus
die Tendenz auf Einheit und »Ordnung« (KA II, 313; a.a.O., 263,
Nr. 71), so würde es nicht als Zersetzung der Einheit, als Negation

47
der aktuellen Totalität oder Ewigkeit begriffen werden können.
Umgekehrt definiert Schlegel »System* als »eine durchgängig ge-
gliederte Allheit von wissenschaftlichem Stoff, in durchgehender
Wechselwirkung und organischem Zusammenhang« (KA XVIII,
12, Nr. 84) - im Gegensatz zur »Allheit* als »einer in sich voll-
endeten und vereinigten Vielheit« (ebd.). Folglich organisiert auch
das System, welches eine Tendenz auf Gliederung hat, methodisch;
und die ironische Methode ist nicht nur von der Anschauung des be-
wegten Chaos nicht unabhängig (KA XVIII, 228, Nr. 411), sondern
auch nicht von der systematischen Einheit in der Chaotik: »Eine
ächte Methode und achtes System . . . sind unzertrennlich« (KA
XVIII, 12, Nr. 84). Folglich sind Chaos und Einheit selbst von ein-
ander unzertrennlich.
Schlegel begreift die unendliche »Fülle* als Folge einer Auflösung
(»Zersetzung«; KA XVIII, 313, Nr. 1438) der positionalen Einheit
des Höchsten, Unendlichen.40 »Es wird«, sagt er, »ein Universum
daraus, wenn das Unendliche aus sich selbst herausgeht« (KA
XVIII, 302, Nr. 1298), und führt diesen Gedanken in den Kölner
Vorlesungen aus: Mit dem Aussichherausgehen entsteht erst die Dif-
ferenz und das »Zeitleben« (KA XII, 398 ff.) und die Freiheit, die
Schlegel für ein Privileg des von sich gespaltenen Ichs erklärt
(»Diese innere Verdoppelung ist die Bedingung des Gedankens der
Freiheit und somit alles Produktiven im Menschen; das Prinzip der
Befruchtung gleichsam, woraus nachher alle Fülle hervorgeht« (KA
XII, 408)). Daß die Vollkommenheit der Welt nicht in der ab-
strakten Einheit, sondern in der unendlichen Fülle zu suchen ist,
sagt er ausdrücklich: »Die unendliche Fülle ist das Wesentlichste in
der Freiheit der Ichheit und der werdenden Natur; daraus folgt,
daß dies auch der Hauptbestandteil der Vollkommenheit, die Ein-
heit nur das Untergeordnete, die Nebenbedingung sei. Das Ich wür-
de nicht Ich, die Welt nicht Welt, Gott nicht Gott sein, wenn sie
nicht eins wären; aber die Vollkommenheit der Welt liegt deswegen
nicht darin, sondern in der Fülle, im Reichtum« (a.a.O., 400). Der
»Inbegriff« der Welt ist nicht die abstrakte Einheit, sondern eine
organisierte Verknüpfung von Trennung und Verbindung, wie sie
das »Werden« ist. Ihr »Wesen«, sagt Schlegel, liegt nicht in der
Einheit-a-quo (der »erinnerten«, verlorenen Welt), sondern »in
einem unendlichen Werden« als dynamischem Wechselspiel der bei-
den Tendenzen, in deren Sukzession das Unvordenkliche sich zei-
tigt (a.a.O., 401).
Fichtes »Unrecht« besteht also »darin«, daß die »Wissenschafts-
lehre das Ich allein dargestellt« hat (KA XVIII, 304, Nr. 1318).
Der wahre »Idealismus ist die einzige Philosophie die ewig fort aus
sich selbst herausgehn muß und darum allein Philosophie« (a.a.O.,

4S
358, Nr. 447 - vgl. die »Jakobi«-Kritik, ebd., Nr. 459). Wenn der
Akt der Selbstentäußerung, in welchem die Philosophie allein Reali-
tät hat, aus der Unendlichkeit in die Universalität führt und im
Werden allein ist, so ist das »System« qua statische Rückbeziehung
alles Einzelnen auf eine Idee, die Idee der abstrakten Einheit näm-
lich, »nicht Universum« (KA XVIII, 328, Nr. 47). Umgekehrt ist
das Chaos nid« von sich aus Einheit, da es auf sehen der zersetzten
Einheit seinen Ort hat 41 , insofern als Abstraktum »der einzig reale
Begriff vom Nichts« (KA XVIII, 77/8, Nr. 592).
Das Verhältnis der »unendlichen Einheit« und der »unendlichen Fülle« hat
Schlegel erst später in die Einheit eines Gedankengangs eingebracht. Das
endliche Ich »findet sich als in sich selbst gespalten und getrennt, voller
Widersprüche und Unbegreiflichkeiten, kurz als Stückwerk, der Einheit ...
entgegengesetzt« (KA XII, 381). Die verlorene Einheit ist nur noch
als Verlust, in der »Erinnerung«, gegeben, darum nämlich als der unvor-
denkliche Grund der Endlichkeit - »die Grundlage alles Höheren und
Göttlichen im Menschen«. In ihr wird die verlorene, sich nur negativ
beweisende Einheit »bedeutet« (a.a.O., 358), derart, daß das Bedeutende
schlechterdings getrennt ist von der Transzendenz des Bedeuteten. Nur im
Überstieg über die eigene Endlichkeit k a m dem Menschen »dieser Begriff
. . . entstehen« (a.a.O., 381). Die Erinnerung ist ein göttlicher Funke; im
Menschen ist keine Einheit. - Die »unendliche Fülle« hingegen ist die zwei-
te Stufe der Selbstoffenbarung dessen, was, an sich betrachtet, »Einerleiheit«
von Unendlichkeit und Endlichkeit ist; als das Ziel des Aussichhcraus-
gchcns ist sie durch die »Ahnung« in ihrer Zukünftigkeit erschlossen und
dem Begriff vermittelt. Sie ist keine oder vielmehr eine »nie vollendete«
Anschauung, die aber nicht aus unendlich vielen Anschauungsaspekten
zusammengestückt ist, sondern von »einem einzigen Blick« dynamisch
ergriffen wird. Die unendliche Fülle ist das abstrakte Gegenstück der
unendlichen Einheit, das sich zu ihr verhält wie bei Solger das Nichts zum
Sein. Beide sind vor-wirklich, über-seiend. Die unendliche Fülle »kommt«
darum »nur« über die Ekstasen »Ahnung« und »Gefühl« »in das mensch-
liche Bewußtsein« (a.a.O.). Beide sind also »Unendlichkeiten« (410; vgl.
KA XIX, 339, Nr. 258), aber wegen der Relation, die zwischen ihnen be-
steht, der Potenz nach Ekstasen des endlichen Bewußtseins, das, der Ein-
heit eingedenk, in die Fülle sich sehnt (388,4).

Das Chaos ist also die »absolute Negation« der unendlichen Posi-
tion (KA XVIII, 228, Nr. 406) oder »unendliche Leere« (KA XIX,
339, Nr. 258), kann aber als solche nicht gedacht werden, bedarf
darum der Idealität, um mit ihr eine Synthesis unter dem Exponen-
ten des Reellen zu bilden (vgl. a.a.O., 77/8, Nr. 592), so wie umge-
kehrt das System diese Synthesis unter dem Vorzeichen des Ideellen
darstellt. »Das Chaos und das System (im philosophischen Werk)«,
beschließt Schlegel die Erörterung, »jedes muß sich selbst constitui-
ren. - oder auch erst nachher das Chaos aus dem System deducirt
werden. Alles Chaos entspringt aus dem Witz« (KA XVIII, 285,

49
Nr. 1068), d. h. einer relativen Abhängigkeit vom präponderant
Einigen. Das Wesen des endlichen Menschen ist die relative, d. h.
aber zeitliche Synthesis aus beiden: »Das ist die Natur des Men-
schen, sein Ideal ist ein System von beidem zu seyn« (KA XVIII,
287, Nr. 1091, nämlich »ein Chaos des Endlichen und des Unendli-
chen und auch wieder ein System« beider). Der bekannte Wider-
spruch, um dessen Lösung Schlegels Denken bemüht ist, kehrt also
in neuer Gestalt wieder. Das ideal, dessen »bloßes Surrogat« als
»des ins Unendliche gehen sollenden« »die Ironie« ist (KA XVIII,
112, Nr. 995), ist die unerreichbare absolute Synthesis von Chaos
und System42, von abstrakter Differenz und abstrakter Einheit. Um
den Widerspruch zu vermitteln, bedarf es einer angemessenen »Me-
thode«43, die - wie im früheren Beispiel - ein »Zwischenglied« ver-
mittelnd einfügt, um so, wenn die Gegensätze selbst miteinander
nicht aussöhnbar sind, die Art ihres Widerstreits auf den Begriff zu
bringen. Schlegel schreibt: »Wer ein System hat, ist so gut geistig
verlohren, als wer keins hat. Man muß eben beides verbinden« (KA
XVIII, 80, Nr. 614). Wird die Möglichkeit dieser »Verbindung«
nach dem Gesetz des ausgeschlossenen Dritten beurteilt, so wird
man sie ausschließen müssen. Wird aber als Mittelglied die Zeit ein-
gefügt, in der allein wir begreifen (KA XVIII, 410, Nr. 1075), so
läßt sich das Paradox einer zeitlos-simultanen, Schlegel sagt »ewigen
Agilität«44 auflösen in »rastlose Progression«. Im Mittelbegriff der
rastlosen Progression wird die Agilität nicht im abstrakten Begriff
einer als Substanz gedachten Bewegung fixiert - das würde in die
Zenonischen Sophismen führen -, sondern sie ist »der diametrale
Gegensatz . . . der Substanz und Permanenz, Gediegenheit, Ruhe
und Einheit« (KA II, 413). Sie ist jene »göttliche Unruhe« (a.a.O.,
105), der »Stachel des Fortschreitens« (WA I, 14), der verhindert,
daß es bei der Konstatierung chaotischer Synthesen sein Bewenden
habe und vermöge derer aufs Unendliche »angespielt« wird45, wo-
durch aus der mit sich selbst identischen, statischen Synthesis eine
»Tendenz«, ein Ungleichgewicht wird. »Die Ironie«, so definiert
Schlegel nun, »ist klares Bewußtsein der ewigen Agilität, des unend-
lich vollen Chaos« (KA II, 263, Nr. 69). Sie ist das Schema, das die
»Universalität« durch »eine ununterbrochene Kette innerer Revolu-
tionen« (KA II, 255, Nr. 451; [»fortgehende Kette der ungeheuer-
sten Revolutionen«, KA XVIII, 82 (637)])'- - auch ideell - in ihrer
ganzen Fülle progressiv erschöpft oder, wo nicht erschöpft, die Me-
thode zu einer unendlichen Ausschöpfung bereitstellt. Die Methode
der Progressivität in infinitum vermeidet die Anheftung an die sub-
stantielle Identität des Vereinigten und ersetzt gleichwohl die Ein-
heit einer statischen Synthesis durch die Kontinuität einer Bewe-
gung. Sie verliert sich andererseits nicht in der Orientierungslosig-

50
keit des unendlichen Chaos und teilt mit demselben doch die Rich-
tung ins Unendliche.

Die Aufhebung der Ironie in Historie


In der »Progression«46 wäre also das Mittelglied gefunden, das
die Ironie dem Begriff vermittelt und denkbar macht. Ist die abso-
lute Thesis »Handeln* (»mythisch«), das aus sich herausgetretene,
erstarrte Handeln »Sein* (»physisch«), so ist das »Werden* die
»organische« Synthese, ein »zugleich Handeln und Sein« (KA
XVIII, 131, Nr. 117; vgl. 305, Nr. 1388). Eine solche Dialektik
kennt auch Novalis und natürlich Hegel. Aber Hegel denkt durch
die dialektische Aufhebung der Abstrakta Sein und Nichts im »Be-
griff des Werdens« die Eigenmächtigkeit aller 3 als ihrer Endlichkeit
entmachtet. Der Begriff des Werdens ist nicht selbst im Werden.47
Anders Schlegel. Er verzichtet auf die Hypostasierung eines autosuf-
fizienten obersten Grundsatzes und überantwortet die Philosophie
selbst ganz und gar der Progression, die nie im Begriff ihrer zur
Ruhe gelangt, sondern der Unmöglichkeit, diesen Begriff je zu errei-
chen, durch die progressive Ironie Rechnung trägt.48 »Die Philoso-
phie«, schreibt er, »ist denn auch nur ganz im Werden und von
ihrem Sein ist nicht viel zu rühmen« (a.a.O.). Ihr Gegenstand ist ja
die »Welt«, und es fragt sich: »/5t die Welt unendlich oder wird sie
es nur?« (KA XVIII, 93, Nr. 765). Das klingt wie ein Gedanken-
spiel. Gesetzt aber den Fall, die Welt erschöpfe sich darin zu wer-
den, so kann kein Begriff ihr Wesen fixieren, denn auch diesen Be-
griff wird die Welt transzendieren. Der Begriff des Werdens hat also
selbst immer den Charakter der Vorläufigkeit. Er blickt zurück auf
das Gewordene und ist selbst ein Gewordenes, weil auch das Be-
wußtsein, das ihn hervorbringt als Synthesis von Ich und Welt, pro-
grediert als ekstatisches Über-sich-weg-Sein. Im »Werden« befreit
sich der Wechsel zwischen Unvereinbaren aus dem rotatorischen
Umtrieb<, den die statisch gedachte Ironie nicht auflösen konnte.
Das vorhin zitierte Fragment lautet in seiner Erstfassung so:
»Ironie ist klares Chaos in Agilität, intellektuale Anschauung49 eines
ewigen Chaos, eines unendlichen vollen, genialischen ewig cyklischen«
(KAXVIII, 228, Nr. 411).50
Das »Cyklische» ist ein ständig zu ergänzendes Attribut zum Be-
griff der »Agilität«, durch welchen Schlegel jene ständig in sich zu-
rückkehrende Bewegung von Selbstschöpfung und Selbstvernich-
tung bezeichnet.51 »Ironie*, betont Schlegel mit charakteristischer
Akzentverschiebung, »ist gesetzlicher Wechsel, sie ist mehr als blo-
ßes Oscilliren« (KA XVIII, 77, Nr. 592).
Darin unterscheidet sie sich von »Gährung*i2, worunter Schlegel das
»unregelmäßige Schwanken zwischen + und -« versteht; ein Begriff, dem

5i
ein nachträglicher Einschub das Attribut »unendlich« prädiziert. Bloße
»unendliche . . . Gährung, Schwanken« (a.a.O., 78) kommt nie über sich
hinaus, vermag die Wechselmomente nie sukzessiv in ihrer Differenz dar-
zustellen und »neutralisiert« sich selbst: »Unendliche Agilität erscheint als
Nichts« (ebd.). Der Begriff wird als unsinnige Abstraktion verworfen.
Auch in der Geschichte annulliert sich gelegentlich der Progreß. Schlegel
sagt: »Es g i e b t . . . neutrale Theile in der Geschichte der Menschheit«
(a.a.O.). Das sind diejenigen, die über die Rotation nicht hinauskommen:
»Die kommen weder vorwärts noch rückwärts, bewegen sich aber doch.
Ferner giebts nulle Theile, die bleiben immer auf demselben Punkte ste-
hen; >So ist's, so war es und so wird es seyn<. —« usw. (a.a.O.). Solche
neutralen und nullen Epochen in der Geschichte — Fixpunkte, in welchen
die Geschichte sich ihrem Wesen zu entfremden scheint - könnten als
>uneigentliche Geschichte< bezeichnet werden.
Aus »jener frischen Gegenwart, jenem magischen Schweben zwi-
schen Vorwärts und Rückwärts« ( K A I I , 130; die Formulierung
verrät noch, wie affirmativ Schlegel ursprünglich diesen Gedanken
aussprach) m u ß eine ironische Spiralbewegung werden, die, ohne der
Kreisbewegung ganz abzuschwören, über jede Synthese sich erhebt:
»Somit w ä r e d a n n mit diesem Kreislauf eine ewig fortschreitende,
immer höher steigende Bildung und Vollendung [Anm. d: »Ver-
vollkommnung«] natürlich verbunden« (KA X I I I , 283, 3 ) 53 , zu-
gleich die Methode angegeben: »Die wahre Methode w ü r d e darin
bestehen, ein volles Chaos5* zu produciren, die combinatorische Ge-
dankenfülle« - den Witz! - »der Methode zu unterwerfen« (KA
X V I I I , 461, N r . 297; vgl.: »Alles Chaos entspringt aus dem Witz*,
a.a.O., 285, N r . 1068).
Diese Methode müßte »mit einer Reflexion über die Unendlich-
keit des Wissenstriebes anfangen« (KA X V I I I , 283, N r . 1048). Ihr
»Gang« »sollte in mehreren«, sich immer erweiternden »Cyklen
sein, immer weiter und größer«. Jedes in der Wechselwirkung der
widerstreitenden Tätigkeiten konstituierte Gebilde m u ß überstiegen
werden, bis wieder ein P r o d u k t entsteht, das seinerseits zurückge-
lassen und - der Vergangenheit überantwortet w i r d :

»Wenn das Ziel erreicht, sollte sie immer wieder von vorn anfangen.
- wechselnd zwischen Chaos und System, Chaos zu System bereitend
und dann neues Chaos. (Dieser Gang sehr philosophisch).«55
Die wahre Methode der Vernunft ist ein abwechselndes Syntheti-
sieren (Witz) und (ideelles) Annihilieren des Synthetisierten (Ironie
qua Allegorie) 56 - denn »die Vernunft ist ein ewiges Bestimmen
durch ewiges Trennen und Verbinden« (KA X V I I I , 304, N r . 1318).
Eben diese Struktur hat das »Werden«: es setzt sich weg über das
Gewordene, dessen Einigkeit-in-ihm-selbst dem Fluß widerspridit.
Die Einheit der Progression ist immer schon >gewesen<, die Fülle

52
immer Offenheit in die Zukunft (Bewegung aus relativ-Seiendem in
relativ-Nichtseiendes, aus Einheit ins Chaos).

Die Vernunft ist also, was Schlegel über »die moderne Philosophie« allge-
mein sagt, »in sich dualisirt, fast ins Gränzenlose« (KA XVIII, 295, Nr.
1195). In ihrem Streben ist sie die Vermittlung von »jener* und »dieser
Welt« (a.a.O., 285, Nr. 1067). Aber »JENE WELT« (ebd.)57 »ist schon
hier«, schreibt Schlegel. Indem sie als jene doch schon »hier« ist, entsteht
aus den beiden Sphären »die Welt«, das von Schlegel so genannte »Welt-
all«, eine »relative Unendlichkeit« (KA XII, 42). Von »jener Welt« hat es
die Unendlichkeit, von dieser die Zerrissenheit als Mitgift bekommen.
»Sinn für die Welt« hat nur, wer »Ironie« hat. »Giebts wohl einen andren
Namen für meine Ironie, und ist sie nicht wirklich die innerste Mysterie der
kritischen Philosophie?« (KA XVIII, 285, Nr. 1067) - Man muß sich
hier vor der Hegelianisierenden Interpretation hüten, die so häufig die
Philosophie der Romantiker als Zeugnis für ihre Absichten usurpiert hat,
als sei Schlegels Ironie ein Vorspuk der absoluten Dialektik, ein Bewußt-
sein der absoluten Identität von Einheit und Differenz. Schlegel hat diese
absolute Identität oft das »cVnui Sv«, das »Transzendente«, das nur Geoffen-
barte, Unerkennbare usw. genannt. »Es giebt«, sagt er unmißverständlich,
»keinen Dualismus ohne Primat - denn aller Dualismus entsteht daher,
daß das Unendliche aus sich herausgeht und ein Endliches sezt« (a.a.O.,
301, Nr. 1285). Und weiter: »Es giebt nur einen Primat; den des Unend-
lichen über das Endliche« (a.a.O., 295, Nr. 1198). Das Unendliche liegt
über der Einheit - denn auch Einheit ist nur als Identitäts-Relation zu
denken, als ein »Gemachtes«; so auch der »Geist« (als ein mit sich selbst
Zusammengesetzte*; vgl. KA XII, 408^).

Ist es noch sinnvoll, die progressive Bewegung, in welcher sich die


»Sehnsucht nach dem Unendlichen« äußert, länger »Ironie« zu nen-
nen? Schlegel verlieh ihr das Attribut »progressiv«; ursprünglich
aber war es im Begriff der Ironie nicht mitgedacht, wie wir zeigten,
sondern die Konsequenz der Sache erzwang die Einführung des
Zwischengliedes, der Zeit. Aus der Bestimmung, die »Ironie« sei
»eine permanente Parekbase« ( K A X V I I I , 85, N r . 668), ein ständi-
ges »Uber-sich-weg-Sein«, folgt nicht ohne weiteres, sondern nur
durch Substituierung des Schemas der Zeit ihre wirkliche, vorstell-
bare Progressivität. Die Entdeckung des Mediums der Ironie war
nur eine vorläufige Lösung. »Ironie ist die Pflicht aller Philosophie
die noch nicht Historie nicht System ist« (KA X V I I I , 86, N r . 678). 58
»Muß die Historische Philosophie nicht auch ihre Identität ha-
ben, ihre Selbstschöpfung und Selbstvernichtung« (KA X V I I I , 111,
N r . 988), fragt Schlegel. Es ist die »progressive Dialektik« (a.a.O.,
83, N r . 646) 59 , die als »die w a h r e Methode« alle drei Momente in
sich versammelt und die Schlegel auch »combinatorische Analysis«
nennt (a.a.O., 354, N r . 404). In derselben ist nämlich die »Synthesis
. . . eben nur ein Glied in der Kette der Analysis (Thesis, Antithe-

53
sis, Synthesis)«, und nicht ein die Kette als solche aufhebender Be-
griff. Darum gibt es keinen absoluten Ausgangs- und keinen absolu-
ten Zielpunkt der Progression: die »dialektischen Versuche gehen
ins Unendliche fort« (a.a.O., Nr. 403).60 Hatte Schlegel einige
Jahre früher noch von der »progressiven Dialektik« als von einer
»absoluten Antithese der progreßiven Logik* gesprochen (KA
XVIII, 83, Nr. 646) und in diesem Zusammenhang schon den be-
fremdlichen Begriff einer »universellen, realen, practischen Analy-
tik* (a.a.O.) verwendet, so neigt er später eher dazu, beide zu
identifizieren: »Alle Logik soll Dialektik seyn« (a.a.O., 372,
Nr. 616). War Paradoxie als »Geist der Dialektik« bestimmt
(a.a.O., 388, Nr. 814), so nimmt die folgende Formulierung nicht
mehr wunder: »Das Wechselspiel des Unendlichen und des End-
lichen hat seinen eigentlichen Sitz in der Logik« (a.a.O., 361, Nr.
495). Denn, erklärt Schlegel, um die Gleichung aller Begriffe zu ver-
vollständigen, »das eigentlich Dialektische hat sein Spiel noch da
wo von jeher, um Freyheit und Nothwendigkeit, das höchste Gut
usw. Hier ist Ironie Eins und Alles« (a.a.O., 393, Nr. 878; vgl.
KA XIX, 26, Nr. 233). -

Die »Bildung«
Schlegels Methode ist als »combinatorische Analysis« ihrem
Gegenstand insofern ganz angemessen, als auch das »reine Wer-
den« eine zeitliche Organisation hat, die Momente Einheit und Dif-
ferenz also sukzessive vermittelt - durch Überströmen selbstge-
setzter Eingrenzung. Der »Standpunkt« von Schlegels Philosophie
ist das »Medium« zwischen den Gegensätzen oder die zeitliche Ein-
bildungskraft. Diesen Sätzen fügt Schlegel bei späterer Durchsicht
hinzu: »Zur Methode und zum Standpunkt bedarf man noch einer
bestimmten Tendenz, um von der Stelle zu kommen. Diese Tendenz
ist die combinatorische« (KA XVIII, 362, Nr. 498). Eine um das
Bewußtsein ihrer Tendenz bereicherte ironische Progressivität nennt
Schlegel »Bildung«. Sie ist das ironische Wechselspiel »antitheti-
scher Synthesis«, d. h. einer Synthesis, die in sich selbst zugleich dua-
lisiert und durch die Einheit des Fließens (die »Kontinuität«) syn-
thetisch organisiert ist, »ins Unendliche fort«. »Bildung« ist ohne
Zweifel ein Kernbegriff seines Denkens. »Bildung*, notiert er, »ist
antithetische Synthesis, und Vollendung bis zur Ironie« 61 (KA
XVIII, 82/3, Nr. 637). Als die »Annäherung zur Gottheit« 62
(KA XIII, 9) ist sie »das höchste Gut für dieses Leben und für jenes«
(KA XVIII, 286, Nr. 1075), nämlich die methodische Totalisie-
rung aller schlechten Partikularitäten 63 ; eine Auszeichnung, die sie

54
mit der Ironie teilt.64 Bildung ist der Zweck des Lebens, dessen Stre-
ben allein aus der Tendenz aufs Unendliche Sinn erhält (KA
XVIII, 87, Nr. 697). Noch 1805 notiert Schlegel: »An die Stelle
dessen was ich bis jezt Bildung genannt, sollte eigentlich die Ar-
beitsamkeit, die Thätigkeit treten; Bildung aufs Innre aufs Be-
wußtsein bezogen, fällt zusammen mit Liebe Gottes oder Vollkom-
menheit« (KA XIX, 142, Nr. 498). -
Die Bildung ist zugleich angewandte Historie. Sie realisiert die
ironische Methode, die »jene Welt« in »diese« hineinholt und sich
doch bewußt bleibt, daß sie jene Welt nicht als jene hat. Bildung
ist das Bewußtsein des »Gesetzes«, nach welchem das Universum
konstruiert ist65 (»Ironie ist die Idee, Universum« (KA XVIII,
206, Nr. 114)). Indem sie sich über alles »Existirende« (a.a.O., 82,
Nr. 634) erhebt, ist sie die »Tendenz zu Gott«, ein religiöses Be-
wußtsein: Sie führt als eine ihres Zieles bewußte Geschichtlichkeit
ins Unendliche und vernichtet alle schlechten »Extreme« (KA II,
265, Nr. 96), die im Begriff des »durchaus gebildeten Menschen«
(ebd.) aufgehoben sind.66 Im Begriff der »Bildung« gibt sich die
Geschichte als ein verfehltes Einigsein mit Gott zu erkennen. Die
Geschichte ist nichts als »Sucht nach der Ewigkeit«, so wie »Reli-
gion« »Sinn und Geschmack für das Unendliche« (Schleiermacher,
2. Rede Ȇber die Religion . . .*; vgl. auch KA II, 263, Nr. 81).
Nun ist aber für Schlegel »der Begriff des Unendlichen transcen-
dent« (KA XII, 28). Also »existirt« das Unendliche auch nicht;
denn nur die endlichen Dinge »existiren«: »Was absolut transcen-
dent wäre, kann nicht existiren« (KA XVIII, 82, Nr. 634).
In solchen Bestimmungen gibt sich der Sinn dessen, was wir als
Ekstatik der Zeitlichkeit bezeichnet haben, am besten zu erkennen:
Zeitlichkeit ist ein Streben nicht um seiner selbst, sondern um der
»Ewigkeit« willen; der Versuch des extensiv Unendlichen, welches
im Begriff der Zeit gedacht wird, die in ihm ex negativo wirksame
Unendlichkeit durch ein Durchmessen aller Zeiten auch empirisch
wirksam auszuschöpfen. Ihr Sein, Schlegel sagt: ihre »Existenz«
hat die Zeit nicht in sich selbst, sondern in der Transzendenz des
ovtcuc, 5v (KA XVIII, 329, Nr. 55), welcher sie »durch ihr Streben
. . . ins Unendliche fortgesetzt« sich annähert. Sie selbst hat den on-
tologischen Status des relativen Nichtseins, denn im endlichen Zu-
griff auf Ewigkeit - einem Zustand der substantiellen Identität
mit sich selbst - zerstört sie ihr eignes Sein allaugenblicklich, indem
sie sich aus ihrem Gewesensein löst, sich nur ekstatisch mit sich selbst
qua Vergangenheit oder Zukunft in Verbindung setzt und in dieser
permanenten Entdichtung ihrer Substantialität die unendliche Sehn-
sucht nach dem Sein, dem ovxwc, ov, empirisch bekundet.

55
D a s » e w i g e Sein« als G r e n z e d e r t e m p o r a l e n R e f l e x i o n

Die »Bildung« vermag also den Sinn für die »Religion« zu er-
wecken (KA I I , 263, N r . 80; vgl. 257, N r . 15; ebd. N r . 10; a.a.O.,
258, N r . 30). Im religiösen Bewußtsein geschieht die Entdeckung
einer ontologischen Differenz, deren Gegensätze nicht mehr die
Spannung zwischen Chaos und System, sondern diejenige von Be-
griff und Sein austragen. Sein und Begriff (Vernunft) sind für Schle-
gel abstrakte Antithesen: »Die Vernunft ist die formelle Ichheit
ohne Liebe - Das Sein ist Wirklichkeit ohne Leben« (KA X I X , 53,
N r . 120; vgl. a.a.O., 57, N r . 165, a.a.O., 54, N r . 125; 64, N r . 220).
Die Vernunft realisiert sich als H u n g e r nach Sein, damit zugleich
nach »ewiger«, göttlicher »Einheit«, in welcher die Abstraktion
überwunden ist (KA X I I I , ioo, 5 ; ebd. 9), in welcher »Einheit und
Fülle« absolut eins sind (vgl. K A X I I I , 9; ioo, 5 ; K A X V I I I , 243,
N r . 605, K A II, 225/6, N r . 339). Das »Streben nach dem övxcoc. öv
ins Unendliche fortgesetzt« (KA X V I I I , 329, N r . 55) kommt aber
in der Tat nie über die Sphäre der »Zeit«, »Gottes Attribut« (KA
X V I I I , 329, N r . 58; vgl. K A X I X , 65, N r . 234), hinaus. Schlegels
Beschreibung der »nie zu erreichenden« »Rückkehr der Philosophie
in sich selbst« (KA X I I , 91 ff.) thematisiert bloß einen idealen, be-
grifflichen Rückgang, der einen »immanenten«, dem »Begriff« zu-
gänglichen G o t t (KA X V I I I , 329, N r . 52 und K A X I X , 68, N r .
266!) erreicht. Aber »Der Begriff des Unendlichen ist transcendent*
( K A X I I , 28).

Also, »könnte man wohl einwenden, ist denn das Unendliche«, wenn
sein Begriff als transzendent erkannt ist, »nicht. . . eine Erdichtung? . . .
Hierauf antworten wir so: Ja, es ist Erdichtung. Aber eine schlechthin
nothwendige . . . Unser Ich hat die Tendenz, sich dem Unendlichen zu
nähern, und dadurch, daß das Ich gleichsam hinströmt [ein zeitlicher Pro-
zeß wie alle Tätigkeit (KA XVIII, 410, Nr. 1072)], sich dem Unendlichen
zu nähern, können wir nur das Unendliche denken« (KA XII, 9); - also
nur inadäquat.

Die Entdeckung dieser ontologischen Differenz erlaubt eine P r ä z i -


sierung der frühen Fichtekritik:
Ein vom Ich Gedachtes kann nicht zugleich der Grund der Ichheit sein.
Darum ist der ganze Versuch ausweglos, vom endlichen, in sich selbst
befangenen Ich auf »die Idee aller Ideen« (KA II, 257, Nr. 15) zu fol-
gern. Darum sagt Schlegel: »Man mag aus der Möglichkeit des nothwen-
digen Wesens seine Wirklichkeit, oder mit Fichte aus der N o t w e n -
digkeit des möglichen Wesens seine Wirklichkeit folgern; es ist immer
nicht Gott, sondern nur die Ichheit, welche man auf diesem Wege erreicht«
(KA XIX, 312, Nr. 120); d.h. man kommt aus der durch »Schranken«
bestimmten »Zeit« (KA XVIII, 409, Nr. 1069) nicht denkend hinaus.

56
Deutlicher noch: »Mit dem Beweis von einem nothwendigen Wesen
erreicht man nichts als Idealismus oder den Selbstbeweis von der Ichheit.
Wenn der Mensch nun (ohne von Gott zu wissen) diese seine innere N o t -
wendigkeit erkennt, so bleibt ihm der rechte Grund derselben, nämlich
Gott selbst verborgen; er wird absoluter Idealist, sinkt in den Abgrund
der Ichheit« (KA XIX, 312, Nr. 121).

Das »verworrne flüchtige Leben« (KA I I , 226, N r . 339) entbehrt


also der seienden »ewigen Einheit«, des »einzigen OVTCDC, OV«, das
wir aber »mit vollem E r n s t . . . nicht erkennen . . . können« (KA
X V I I I , 298, N r . 1241) 67 , und ist durch »Ichheit« definiert. Ichheit
ist Zeit, eine reflexive Versicherung der eignen Nicht-Identität.
An diesem Ort fungiert Schlegels Unterscheidung von »negativer« und
»positiver« Erkenntnis. Die negative Erkenntnis ist eine Vernunfterkennt-
nis (vgl. KA XVIII, 330, Nr. 69), als solche an den Satz der Identität
gebunden. Vernunfterkenntnis ist Erkenntnis von mit sich selbst Identi-
schem, Totem, Beharrlichem, Fixiertem, des Seienden insgesamt - Begriffe,
die Schlegel nahezu völlig synonym verwendet. Das konkrete Sein ist
dagegen eine lebendige, geschichtlich sich konstituierende Synthesis, die
ihre eigne Identität ständig überschreitet und sich assimiliert - das end-
liche Leben ihr Reflex als eine verweigerte Identität mit sich selbst, aber
selbst dann noch »unter der absoluten Bedingung, daß die unendliche Ein-
heit dabei nicht verlorengehe« (KA XIII 16). »Die Vernunft ist nichts
als ein abstraktes Verbindungsvermögen, im Endlichen und mit dem End-
lichen« (KA XIII, 32), darum das »Niedrige* im Menschen (KA XIII,
30); daher blind für die Erkenntnis der wahren Dialektik des Lebens.
Als der »nur . . . negative Factor« der »Religion« (KA XIX, 16, Nr. 146)
»würde (sie) nie auf den positiven Begriff des Unendlichen gekommen
sein, so endlos sie auch Endlichkeiten aneinandergereiht hätte. Alles Hö-
here, Göttliche im menschlichen Bewußtsein beruht aber auf der positiven
Idee des Unendlichen, zu der sich die Vernunft auch in ihrer größten Aus-
bildung und Verfeinerung nicht würde erhoben haben« (KA XIII, 32,68
vgl. KA XIX, 46 Nr. 49). Erinnerung an die Einheit sowohl als Ahnung
ihrer Selbstentäußerung, der unendlichen Fülle, geben »allein . . . nur einen
negativen Begriff des Unendlichen« (KA XIII, 32). Die Zeit gehört inso-
fern selbst zur negativen Erkenntnis. Wie der »unendliche Progressus*
ist sie, weil ihr Begriff ihrem positiven Wesen nicht entspricht (KA XIX,
42, Nr. 11).

So gewiß es also ist, d a ß »auf dem höchsten Standpunkte«, den


der »Geist* nicht erreicht ( K A X V I I I , 330, N r . 69), »das Univer-
sum nicht OVTCDC, ov sondern wesenloser Schein ist«, d a ß Gott in a b -
solutem »Gegensatz« auch über die relative Differenz von Chaos
und System erhaben, d a ß er »nur . . . OVTCDC, OV ist« und sonst nichts,
daß »vor G o t t das Universum verschwindet, wie einst das Chaos«
(KA X V I I I , 329, N r . 51) - so gewiß ist für uns, d a ß wir das
eigentlich Seiende nur durch Vermittlung begreifen können, d. h.
als Vernunft wissen. F ü r uns ist G o t t nicht. Die Vernunft vermittelt

57
den »positiven Begriff der Gottheit* (KA XII, 301), des An-sich-
Seienden, »in Eins« mit der »nichtigen« Welt und liefert uns den
»negativen Begriff des Unendlichen« (a.a.O., 300 ff.). Hier zeigt
sich der Unterschied des als Vermittlung (allegorisch) gefaßten Ab-
soluten von der reinen Positivität, in deren Transzendenz Schlegel,
Schleiermacher, Novalis, Schelling und Solger das Höchste gewahrt
wissen wollen. Darum »ist« der Gott, von dem allein zu sprechen
legitim ist, »nicht in, aber er wird in der Welt«, »er ist außer der
Welt freylich nur auf eine apokalyptische nicht scientifische Weise«
(KA XVIII, 301, Nr. 1277; vgl. KA XVIII, 103, Nr. 886; a.a.O.,
93, Nr. 765). Als das Woraufhin des unendlichen Strebens der »wer-
denden Welt« ist er gleichsam der Limes jener Folge sich wechsel-
seitig relativierender Irrtümer (Kröner, 180). Die absolute »Wahr-
heit« ist ein Ganz-zu-Ende-Treiben des Irrtums und der Endlich-
keit, die, selbst eine Folge des Seins-in-der-Zeit, »sukzessive« (KA
XII, 165) (im »Schein«) das darstellt, was an sich (in der dem Be-
griff transzendenten Wahrheit) simultan eins ist.69 Die Teilung
wird so bedeutender, d. h. sich selbst auslöschender, das Unendliche
»anspielender« Wink; eine Approximation, die, unter dem Schema
der Zeit als Progression, unter dem des Raumes als Universum
angeschaut wird.
Das Bewußtsein der Einheit, ohne welches keine Kontinuität der
Zeit, keine Einheit im Selbstbewußtsein gedacht werden kann (KA
XVIII, 6, Nr. 23), stellt sich also nur her durch Negation der im
Selbstbewußtsein mitgesetzten Negativität; »und zwar«, fügt
Schlegel kritisch gegen die Jacobische Position an, »ohne Salto«
(KA XVIII, 282, Nr. 1038; vgl. a.a.O., 303, Nr. 1314). Im Selbst-
bewußtsein muß das nicht-thetische Wissen von sich qua Einheit im-
mer schon vorausgesetzt sein, bevor die Reflexion es »findet«. »Es
läßt sich nämlich«, sagt Schlegel, »auch philosophisch dartun, daß
der wahre Begriff der Gottheit dem Menschen nur durch Offenba-
rung mitgeteilt worden sein kann, weil weder die Vernunft noch
die Sinnlichkeit imstande ist, diesen Begriff in ihm zu erzeugen«
(KA XIII, 369/70,3). Das Ich »erfährt« den schickenden Grund
(»Gott«) in sich, noch bevor ihn das Selbstbewußtsein a priori wis-
sen kann. »Die wahre Empirie ist etwas Heiliges, wenn sie mit dem
Gefühl begleitet ist« (KA XVIII, 312, Nr. 1426), und »Empirie ist
kein Wissen sondern Glauben, und aller Glaube ist historisch« (ebd.).
Der Glaube ist das einzige Bewußtsein, kraft dessen das reflexive
Selbstbewußtsein mit seinem gründenden Sein sich ex negativo eines
weiß und den im Akt des »Sichselbstabspiegelns* geschehenen Sturz
in »das gemeine, abgeleitete Sich« - in die Relation-mit-sich - durch
Behauptung der Einheit übersteht (KA XII, 351).70 Nun muß nach
Schlegels Worten »die Eine Täuschung«, die »Einbildung, daß es

58
Schranken«, d. h. »Zeit« gibt (KA XVIII, 410, Nr. 1079; a.a.O.,
409, Nr. 1069; KA XIX, 52, Nr. 105), in der beschränkten Sphäre
der Zeitlichkeit selbst »vernichtet« werden. Folglich muß das »Be-
wußtsein des Unendlichen constituirt werden — indem wir das Ge-
genteil annihiliren. - Constituiren muß man sich durch einen Act,
und dieser ist kein andrer als die Vernichtung jener Einbildung des
Endlichen« (KA XVIII, 412, Nr. 1095; 413, Nr. 1107 u. 1108;
416, Nr. 1140; KA II, 180, Nr. 103; KA XIX, 49, Nr. 72). »Im
Glauben«, notiert Schlegel an anderem Ort, »ist grade der Act
des freien Ergreifens, die Freiheit darin, das was die Vernunft
negirt; und das ist gerade das Göttliche in der Vernunft, daß sie
sich selbst vernichten kann« (KA XIX, 330, Nr. 217; vgl. KA II,
257, Nr. 6; KA XVIII, 79, Nr. 605; KA XIX, 49, Nr. 72). »Die
sich Gott hingebende und zur Selbsterkenntniß gelangte Vernunft
ist das Organ des Glaubens« (KA XIX, 312, Nr. 123).
Schlegel nennt diese totale Konversion des zeitlich-reflektieren-
den Denkens, durch welche das Endliche nicht nur seine allaugen-
blickliche Beschränkung, wie in der künstlerischen Allegorie, bedeu-
tend überschreitet (vgl. KA XIII, 173, 174), sondern sein ganzes an
die temporale Reflexivität, also an die »Ironie« gebundenes Streben
vernichtet, »die Ironie der Ironie« (KA II, 369). Sie würde die
zeitliche Ironie ihrerseits ironisch behandeln71, also nicht als das
meinen, was sie ist: sich dialektisch potenzierende, progressive Agi-
lität. Sie würde die Einheit als unzeitliche Einheit meinen - und in
dieser Meinung erst würde »die Ironie die Meinung aller Meinungen«
sein (KA XVIII, 206, Nr. 114).72 Ohne »Ironie der Ironie«, also
ohne Reflexionsnegation, gäbe es keine substantielle Einheit im
Selbstbewußtsein, also keine Basis, als deren Verlust sich die nega-
tive Ichheit zeitigt. Erst das Theorem von der sich als Zeit negie-
renden Ironie schafft ein Fundament, auf welchem die Zeit selbst
verstanden werden kann.

Substanz und Freiheit - die Verzeitlichung


des Selbstbewußtseins
Es lohnt sich, die Verbindung, die Schlegel - in der dritten Phase
seiner »Philosophischen Lehrjahre« - zwischen dem Selbstbewußt-
sein und der Zeit herstellt, etwas eingehender zu untersuchen, da
Schlegels reife Theorie in vieler Beziehung als die Einlösung seiner
Jenenser Versprechungen und Entwürfe gelten kann. Die Forschung
hat diesen Zusammenhang zugunsten einer einseitigen Bevorzu-
gung von Schlegels Athenäums-Zeit unbeachtet gelassen und sein
Philosophieren für rhapsodischer und fragmentarischer erklärt, als
es wirklich war.

59
Schlegel hat seine Theorie in bewußter Abkehr vom Begriff des
Dings, der Substanz entwickelt, welchen er für eine absolute Täu-
schung hielt (KA XIII, 258 ff.; KA XII, 305 ff.). Dem Ding oder
dem allein durch Notwendigkeit Bestimmten ist die Freiheit, der
Starre das Leben, dem Raum die Zeit als ihr eigentliches Wesen ent-
gegengesetzt: »Sehr bedeutend ist der Ausdruck die Freiheit sei ein
Unding; sie ist auch das einzige Nicht und Gegending -« (KA XIX,
115, Nr. 301). Eine Philosophie, die das Wesen der Dinge ergrün-
den will, muß dies Wesen von dem, was sich nur als »Folge« des-
selben, als Niederschlag der höchsten Infixibilität darstellt, zunächst
isolieren: »In den Principien der Philosophie muß die Vernichtung
des Begriffs der Substanz . . . den Anfang machen« (KA XIX, 244,
Nr. 328).
Was wir an den Dingen einzig erkennen können, ist ja immer nur das,
was sie nicht an sich sind. Denn an sich ist nichts als das »unendliche
Leben«. Darum kann Schlegel behaupten, daß wir die »Bewegung« in den
Dingen nur zu erblicken vermeinen, während wir in Wahrheit bloß wech-
selnde Verhältnisse, Umrisse und veränderte Gestalten sehen (KA XIII,
229), nie aber das Sich-Verwandeln selbst. Bewegung ist nicht an-sich in
der Welt, sondern wird durch ein Wesen konstituiert, das wesenhaft über
sich selbst hinaus ist und sich nicht als Substanz fixieren kann. Das »Leben«
wird durch ein gegenüber der Ding-Erkenntnis ganz eigenes Bewußtsein
»gefühlt«, das auf keinen Gegenstand, keine mit-sich-selbst-identische Sub-
stanz zielt. (Die assoziierende Verknüpfung von Ideen im Gedächtnis
beruht nach Schlegels interessanter Erklärung auf einer abstrahierenden
Verdinglichung des infixiblen Bewußtseinsstroms, »des Stromes der natür-
lichen Gedankenfolge« (a.a.O., 295), wodurch die Substanz täuschend als
Folie erinnerter Vorstellungen erscheint, die damit für verknüpfte Eigen-
schaften dieser Substanz gehalten werden; a.a.O., 293, 3.)
Ist das »Leben« durch den bekannten »Widerspruch«73 charak-
terisiert (es ist immer über sich selbst hinaus), so ist das Ding defi-
niert durch seine Form. Die Form des Dings ist Identität-mit-sich-
selbst oder »Beharrlichkeit«, »Tod«. Dem Ich ist also im strengsten
Sinne nur das Sein (qua Beharrlichsein) entgegengesetzt (a.a.O., 328
oben). Sein »Wesen (ist) Freiheit« (a.a.O., 5, 109). »Freiheit« ist
»das negative Wesen des Menschen im Gegensatz gegen das Ding«
(a.a.O., 108). Wird das freie Ich selbst unter dem Schema der Iden-
tität vorgestellt - (bg öv i>JtoxeC(ievöv xi - so entspringt diese Vor-
stellung aus einer Verdrängung (Substantialisierung) des wesenhaft
Substanzlosen, der inneren Zeitlichkeit (KA XIII, 14,2, 271 ff.,
278 ff.).74 Es ist, wie wir sahen, die »Vernunft« (a.a.O., i8, 7 ), de-
ren verdinglichender Blick, sofern er sich aufs Ich selbst richtet, auch
dort den Satz der Identität anwendet, der die Dinganschauung kon-
stituiert. In der unwahrhaftigen Reflexion enthüllt sich ein Selbst-
bewußtsein, das die eigene Freiheit vor sich verheimlicht (a.a.O.,

60
30-32). Gleichwohl ist das Ich als Grund der Vernunft ebensowohl
Substanz-Verweigerung wie Bedingung der Möglichkeit jeder An-
schauung unter der Form der Sich-selbst-Gleichheit. Daß a = a ist,
sagt Schlegel, kann keine Eigenschaft des Dinges sein, sondern muß
»in demjenigen gesucht werden, welches das a denkt, d. h. im Ich«
(KA XII, 325), der »Freiheit« oder dem »unendlichen Leben« (KA
XIII, 280 f.; KA XIX, 212, Nr. 90-92). Das zum »Anfange der
Philosophie« vorauszusetzende »a = a« ist also kein »Prinzip der
Beharrlichkeit im Gegensatz mit der Tätigkeit, sondern bloß die
Möglichkeit eines gegebenen Gegenstandes« (KA XII, 324). Der
Satz besagt nicht mehr, als daß ein a, welches da gedacht wird,
mit dem eines ist, das a denkt; also wird durch den Satz nur »die
Einsicht in die Verschiedenheit oder Nichtverschiedenheit desselben
in sich selbst vorausgesetzt« (a.a.O.). Um sich nun aber nicht blind-
lings in der Einerleiheit mit dem Gegenstand (der durch Anwen-
dung des Satzes »a = a« entsteht) zu verlieren, muß das Ich sich
zugleich über sich selbst erheben, »ein Ich des Ichs sein«, d. h. eine
mit Vernunft verbundene Anschauung oder ein nicht-thetisches Ge-
wahren seiner selbst als Anschauung (a.a.O., 325). »Denn um Be-
wußtsein zu haben, um sich des Gegenstandes bewußt zu werden,
muß es nicht nur den Gegenstand, sondern sich und den Gegenstand
unterscheiden können.«

Um sich als ungegenständliches Zielen auf den Gegenstand und damit


zumal als endliches Wesen zu gewahren - denn als unendliches ist das
Bewußtsein zumal sein Gegenstand (ebd.) - , muß das Ich zugleich »in
sich selbst zurückkehren« können, »Ich des Ichs sein« (KA XII, 327). Von
sich selbst kann das Ich »nicht . . . abstrahieren«, wohl aber von dem Ding
(ebd.). Jedes Bewußtsein ist Selbstbewußtsein nur dadurch, daß es sich
selbst lucide ist (sich »hat«), ohne dabei aufzuhören, sich auf den Gegen-
stand hin zu übersteigen, der »gesetzt« wird. Das Gewahren seiner selbst
ist an die Notwendigkeit gebunden, sich selbst nicht zu setzen (als Identi-
tät) (KA XIII, 227 f.).

Als »Leben« muß sich das Ich von der Beharrlichkeit der Selbst-
identität (Substanz) losreißen. Das kann es nur als Ich, wenn ihm
die Beharrlichkeit des Dinges im gleichen Augenblick bewußt wird
wie seine eigne Nicht-Identität. 75 Durch die Unmittelbarkeit der
Anschauung »erscheint uns der Gegenstand immer als etwas Be-
harrliches, Ruhendes, als von dem Ich Verschiednes, was es vielleicht
gar nicht ist« (KA XII, 327).
In jeder Anschauung ist ein Widerspruch von Außer-uns und
In-uns vermittelt. Das In-uns ist allemal lebendig und, weil, was
lebendig ist, nicht gegenständlich erkannt wird, auf eine nicht-theti-
sche Weise bewußt. Das wahre Innere des Dinges muß also notwen-
dig auch lebendig, seine Fixation »ein bloßes Vorurteil« sein (a.a.O.,

61
328). 76 Wir gleiten aber in der Anschauung stets auf der starren
Oberfläche des Objekts ab, ohne ins Innere vorzudringen. Das trifft
natürlich auch auf die Selbstanschauung des Ichs zu:
»Denn will man das Ich in der Anschauung erkennen, so muß man es
fixieren; dann verwandelt es sich aber unter der Hand zum Ding; die
Seele, das Leben verschwindet und läßt uns nur die tote leere Hülle zu-
rück; es ist etwas unendlich Flüssiges, Bewegliches, was hier angeschaut
werden soll. Dafür erkennt jeder sein Ich« (a.a.O., 330).
Dem tötenden Blick der Anschauung gibt sich das Lebendige nicht
zu erkennen; seine Selbsterkenntnis, die Schlegel durch den Evi-
denzappell »Dafür erkennt jeder sein Ich« als selbstverständlich in
Anspruch nimmt, kann von der Anschauung nie erreicht werden: Es
gibt nur jene sich progressiv steigernde »Wahrscheinlichkeit des
Ich«, die mit dem »Zweifel an dem ihm entgegengesetzten Dinge«
einhergeht (a.a.O., 330).
»Eine Demonstration des Ichs«, wie Fichte sie unternimmt, sagt
Schlegel, »konnten wir nicht wählen, da nach unserer Ansicht der
Satz a = a zu keinem spekulativen Gebrauche dienen kann, und es
auch kein Sein, sondern bloß ein Werden geben kann, a, als ein
unendlich Lebendiges, Fließendes und Bewegliches keinen Augen-
blick a bleibt, sondern sich unaufhörlich in unendlich schnellen Zeit-
räumen verändert« (a.a.O., 331 ; vgl. K A X I I I , 259).
Der Satz a = a ist eine Vernunft - , d.h. eine negative Erkenntnis. Denn
»die Erklärung - >worin sich nichts mehr unterscheiden läßt< - führt auf
das Nichts« (KA XIX, 84, Nr. 16). Die positive Einfachheit muß dagegen
als »aus einer einzigen Erkenntniß quelle, entsprungen« (ebd.) gedacht
werden. Gegen Fichtes »Grundsatz« a = a als Ausgangspunkt der
Deduktion hat Fr. Schlegel den auch wirkungsgeschichtlich interessanten
Einwand, Fichte habe sein Prinzip substantiiert: »Ein Grundsatz ist
gleichsam eine philosophische SUBSTANZ« (KA XIX, 85, Nr. 19). Da-
durch werde bei Fichte »gleich im Anfange dem Realismus viel zu viel
ein(ge)räumt«; darin »Eichte's großer Fehler« (vgl. a.a.O., Nr. 24 u. 44,
Nr. 320). Selbstverständlich wußte Schlegel, daß Fichtes Philosophie zuerst
dem Begriff der Substanz aufgekündigt hatte. Wenn er Fichtes Kritik ge-
gen ihn selbst radikalisiert, müssen wir die Spitze dieser Kritik gegen
Fichtes Restriktion an die Vernunft gerichtet sehen: Die Auflösung der
Substanz des Selbstseins erfordert konsequent die Verzeitlichung des Ichs!

Das Ich ist charakterisiert durch die in ihm sich austragende Dif-
ferenz seines über alle Fixation erhabenen lebendigen Wesens gegen
das Sein. Die Anschauung setzt das Leben als »seiend«, das Sein »er-
drückt« das Leben: »Anschauen können wir uns nicht, das Ich ver-
schwindet uns dabei immer. Denken11 können wir uns aber frei-
lich. Wir erscheinen uns dann zu unserem Erstaunen unendlich, da
wir uns doch im gewöhnlichen Leben so durchaus endlich fühlen«

62
(KA XII, 332). Die Unmöglichkeit der Selbstanschauung macht das
empirische Faktum unseres Selbstbewußtseins rätselhaft. Offenbar
können wir unser höheres, ungegenständliches, bloß werdendes
Selbst nicht thetisch, sondern nur nicht-thetisch wissen. An uns selbst,
so gewiß wir unser sind, können wir also nur »glauben«. Wir haben
vom Ich kein setzendes Wissen, sondern nur »Selbstgefühl«78:
»Denn alle Bemühung, sich selbst anzuschauen, sich in der Anschauung
selbst zu ergreifen, ist . . . durchaus vergebens. Das Ich verschwindet uns
immer, wenn wir es fixieren wollen. Das Gefühl des Unbegreiflichen ist
aber unendlich gewiß; gewiß ist nämlich, was man unmittelbar weiß,
wovon es keinen höheren Beweis gibt: und dieses ist gerade der Fall bei
dem Selbstbewußtsein. Dies kann nicht weiter abgeleitet und bewiesen
werden; es begründet alles andere, ist also unmittelbar, schlechthin
gewiß« (a.a.O., 333).
Im »Gefühl« ist die einzige Möglichkeit von »positiver Erkenntnis« gege-
ben79. Das Gefühl ist ein objektloses und Ich-loses Wissen, »denn nicht
in toten Worten und Begriffen läßt sich das höchste Leben auffassen und
darstellen, und dem, der die innere Anschauung nicht hat, erklären und
beweisen« (KA XII, 476,^. »Das Gefühl (ist) die Wurzel alles Bewußt-
seins« (KA XIII, 57; a.a.O., 70); deutlicher noch: »Gefühl ist der Grund
des Bewußtseins und des Lebens« (KA XIX, 30, Nr. 275; a.a.O., 197,
Nr. 356; vgl. weiterhin KA XIII, 7 i , s ; a.a.O., 94, s ; KA XII, 332).
Da in ihm das Wesen selbst gewahrt wird, ist Gefühl der Grund des
»Glaubens« und mit ihm eins (KA XIX, 90, Nr. 78). Als Glaube muß
also auch das wahre »Selbstgefühl« der Ichheit bestimmt werden.
Hier ist der Ort, Schlegels Beteuerung verständlich zu machen, »daß die
reine Vernunft nicht allein Erkenntnisquelle der Philosophie sein könne«
(KA XII, 300 (ff.) ). Die Erklärung dafür besteht darin, daß sie, als rein
negative Erkenntnis, nie bis zum positiven Grund ihrer eignen Selbst-
gewißheit, ihres eignen Seins sich erheben kann und, um sich ihr Wissen
dennoch zu erklären, eine zusätzliche »Erfahrung« reklamieren muß, die
»Offenbarung«, der auf Seiten des Bewußtseins der »Glaube« korrespon-
diert (KA XII, 299/300). Die »Selbstanschauung* als »der sicherste An-
fangspunkt der Philosophie« (a.a.O., 299) hält in sich das Dilemma ver-
borgen, daß sie, indem sie sich als Prinzip setzt (begreift), zugleich sich zu
überschreiten genötigt ist auf das hin, was als Grund der in ihr sich ereig-
nenden Selbstoffenbarung sich ankündigt. »Der Glaube«, sagt Schlegel,
»ist selbst das innerste Leben des Subjektes« (KA XIII, 174). Dies Di-
lemma hat Schlegel motiviert, an diesem Ort sein Theorem vom nicht-
thetischen Selbst-Gefühl einzusetzen. Schlegel zeigt im Selbstbewußtsein
einen Widerstreit von Unendlichem und Endlichem auf - »Das eigentlich
Widersprechende in unserm Ich ist, daß wir uns zugleich endlich und
unendlich fühlen« (KA XII, 334) - und bemerkt dazu, daß uns der Begriff
des unvermittelt Unendlichen nur aus höherer Offenbarung gekommen
sein könne, da wir diesen Begriff haben, ohne ihn aus Vernunft erklären
zu können. Die höhere Erfahrung muß uns das Faktum, daß der Begriff
des Unendlichen »da ist«, erklären. Schlegel hält darum die Redensart »an

63
Gott glauben« (KA XII, 332) für einen »verworrenen und unzuverläs-
sigen Begriff«. Es ist ja das Unendliche im Ich selbst, welches Gegenstand
des Glaubens ist: »Der erste ursprüngliche Glaube ist daher der Glaube an
uns selbst« (ebd.). Insofern wir auch absolutes Ich sind, sind wir uns selbst
gleichsam transzendent. Aber durch »das alle Vorstellungen begleitende
und bedingende Rätsel des Selbstgefühls, des Selbstbewußtseins« (a.a.O.,
333) haben wir sogar ein Bewußtsein unserer Transzendenz, haben wir
»die [paradoxe] Gewißheit eines Unbegreiflichen« (ebd.; KA XIX, 85,
Nr. 18; a.a.O., 18, Nr. 167; a.a.O., 63, Nr. 218).
Resümierend schreibt Schlegel: »Wir gingen... v o n . . . dem Trieb nach
Wissen aus, finden hier ursprünglich das Ich im Gegensatz gegen das Ding,
schwankend und ungewiß, zu welcher Seite es sich schlagen sollte, bis es
zum Glauben an sich selbst gelangte und hiermit alle Philosophie ihre
Grundlage erhielt . . . Mit dem Selbstvertrauen, dem Glauben an sich,
an ein besseres Selbst, fing die Philosophie, freilich sehr beschränkt, an,
und mit dem Glauben an die Offenbarung, mit diesem höchsten Begriff
hört sie auf« (KA XIII, 175,3). »Höchster Begriff« kann das Gefühl
freilich nur werden, wenn es (ganz wie bei Novalis) seinerseits reflektiert
wird (nicht abstraktes Gefühl bleibt; KA XIX, 22, Nr. 205). »Gefühl
und Verstand sind gleichsam in Wechselwirkung für die Philosophie -
Ohne Gefühl giebt es keinen Verstand - ohne Verstand ist das Gefühl
unmittheilbar« (KA XIX, 225, Nr. 198). Denn das reine Gefühl müßte,
obwohl höchstes Wissen, zugleich inkommensurabel sein: »Das höchste
Wissen grenzt natürlich ans Unbewußtsein« (Kröner, 176). »Erst ein in
Verstand gefaßtes Gefühl ist ein Begriff - aber das Gefühl ist die einzige
Quelle des Wissens« (KA XIX, 225, Nr. 199). Und: »Nur durch Gefühl
kann man sich die Offenbarung aneignen; und auch die transzendentale
Erinnerung ist als Abstraction leer und nur als Liebes Gefühl reell und
positiv«80 (a.a.O.).
Von solcher transzendentalen Erinnerung, durch welche Zeit konstituiert
wird und die also selbst unzeitlich ist, muß die empirische »Erinnerung«
unterschieden werden. Durch dieselbe schaut sich das Bewußtsein thetisch
(objektivierend) an: »Das Wesen der Ichheit aber so wie es angeschaut
wird, ist Erinnrung« (KA XIX, 62, Nr. 212; hier ist Schlegel konse-
quenter als dort, wo er die Selbstanschauung dem Gegenwartsbewußtsein
zuordnet, a.a.O., 65, Nr. 235. Danach wäre Vergangenheit Bewußt-
machung der Gegenwart, des toten »Daseyns* von Bewußtsein). Diese
erinnernde Selbstobjektivierung hat freilich zur Folge, »daß jeder Punkt
des Bewußtseins schon der zweite ist« (a.a.O.), weil der erste nicht ange-
schaut, sondern nur nicht-thetisch bewußt gemacht werden kann. - Die
Zeitlichkeit »der Ichheit« enthüllt sich an dem Phänomen, daß sie sich
selbst nur reflektieren kann, wenn sie schon über ihr Sein hinaus und aus
ihrem Grunde getreten ist. Objektivierung ihres Seins geschieht immer nur
im erinnernden Rückblick, und das Sein ist immer nicht absolut identisch
mit dem Ich-an-sich.

Den Widerspruch des Offenbarenden gegen das geoffenbarte,


»daseyende« Ich vermittelt auf bekannte Weise der »Begriff des
Werdens*, durch welchen alles Beschränkte eine »intensive« Un-

64
endlichkeit erhält, unerachtet seiner »extensiven« Begrenztheit
(KA XII, 334/5; vgl. KA XIII, 274 ff.). Denn werdend fühlen wir
uns gleichwohl in jedem Augenblick als »noch nicht fertig« und »in-
sofern«, trotz der Unabsehbarkeit der Entwicklung, als »endlich«
(335; vgl. ebd. 3. Abschnitt, 3. Satz).
Wie erklärt sich aber unser und der Dinge endliches Sein aus dem
unendlichen Werden? Schlegel antwortet: »Das Sein ist an und für
sich selbst nichts; es ist nur Schein; es ist nur die Grenze des Wer-
dens, des Strebens« (a.a.O., 336). Die Grenze wird dem »unend-
lichen Werden« zum Inzitament der Transzendenz: denn in keiner
Substantiierung fühlt das Werden sein Wesen erschöpfend darge-
stellt, darum ihm immer »wieder ein neues Ziel« entsteht (a.a.O.),
um durch siegreiches Sich-hinweg-Setzen über jede endliche Fixie-
rung vernichtet zu werden. Der bloße »Schein« von Ich-Substanz
»entsteht, wenn man das Leben fixiert und tötet, d. h. zum Ding
macht« (a.a.O., 337; zur Synonymie von Werden, Leben und Ich-
heit vgl. a.a.O., 362). Werdend sind wir jederzeit »nur ein Stück
von uns selbst« (a.a.O., vgl. KA XVIII, 506, Nr. 9) 81 , insofern
wir zugleich - nur nicht in thetischem Selbstbewußtsein - auch
das reine Wesen, das »Ur-Ich*, sind.
Als Ich »machen« wir uns nicht, sondern wir »finden* uns als Ich.
Das ist wieder versteckte Fichte-Kritik: »So wie wir uns selbst un-
begreiflich sind, uns nur als Stück von uns selbst erscheinen, können
wir unmöglich ein Werk von uns selbst sein« (343).

»Es wäre«, ergänzt Schlegel in späteren Notizheften, »wohl richtiger zu


sagen - DAS ICH SUCHT SICH SELBST, als: es sezt sich selbst.
( Also Ich < Ich )« (KA XIX, 22, Nr. 197). Das Ich findet sich immer
schon vor: seine Tatsächlichkeit geht dem unwegdenkbaren, gesuchten
Grunde zeitlich zuvor. Das meint Schlegels paradoxer Satz, daß »der
unbegreifliche Anfang der Liebe jedem durch Thatsache gegeben« sei (KA
XIX, 50, Nr. 79).

Das eben ist die Dialektik des Selbstbewußtseins, daß es sich


zwar nur aus sich selbst begreifen und begründen kann, zugleich
diesen Grund aber schon voraus-, d. h. außer sich setzen muß. Das
Ich existiert prinzipiell außerhalb seiner, es ist, wie Schlegels ma-
thematische Formel »Ich < Ich« illustrieren will, entweder kleiner
oder größer als es selbst, nie aber mit sich identisch. Der unverfüg-
liche Grund (die Unendlichkeit, die sich offenbarend zuschickt), ist
je schon verloren zugunsten der endlich-thetischen Reflexion, in
welcher wir uns »finden«.
Dies prinzipielle Aus-sich-heraus-Stehen (excrrdvat) in der Re-
flexion erkennt Schlegel als Grund unserer Zeitlichkeit, die immer
mit einem »Gefühl von Ohnmacht« (Novalis, II, 259, Z. 26/7)**

65
verbunden ist. Die Fichtesche Freiheit der Selbstsetzung ist immer
in dem Augenblick, da sie sich ans Werk macht, gleichsam von hö-
herer Instanz unverfüglich enteignet - von einer Instanz, die vor-
her nicht bemerkt werden konnte und erst in der Ent-scheidung der
Ekstasis als vergangen abgesetzt wird.
Dieses nachträglich setzende Bewußtsein, durch welches das Ich
sich ekstatisch seines Gewesenseins rückversichert, nennt Friedrich
Schlegel die »Erinnerung«. Erinnernd ist das Ich seines Seins (qua
substantieller Identität-mit-sich-selbst) nicht mächtig. Durch Erin-
nerung an ein verlorenes Ganzsein (a.a.O., 338, Anmerkung) neh-
men wir uns allererst wahr »als nur ein Stück von uns selbst*
(a.a.O., 348). Das erinnernde »Insichzurückgehen« setzt ja ein schon
geschehenes »Aussichherausgehen«, »das Wiederfinden ein Verloren-
haben voraus« (ebd.; KA XIX, 22, Nr. 197 u. 198). Eine Philoso-
phie, die mit der Erinnerung einsetzt, kann »kein Sein« kennen,
sondern »nur Werden«, nur »genetische Erkenntnis«.
Darum formuliert Schlegel: »Das Denken geht immer über das Seyn hin-
aus (in dem Satz, daß doch die Erkenntniß der absoluten Veränderlichkeit,
beharrlich sei) und die Gewißheit über die Ungewißheit (wir wissen, daß
wir nichts wissen; oder wir wissen doch daß wir nicht wissen, daß wir
nichts wissen).« (KA XIX, 50, Nr. 83).
Das Denken hat immer sein schon Gedachtes überschritten; und wenn es
sich gleich nicht selber dabei fassen kann, so gewahrt es sich negativ aus
der überschrittenen Objektivität. Sein eigenes Sein kann das Ich also nur
voraussetzen, nicht anschauen, denn alle Anschauung ist gegenwärtig.
Durch die Erinnerung an den verlorenen Zustand ergreift das
»Ur-Ich« sich als mittlerweile »abgeleitetes Sich« (KA XII, 351).
Durch »Sidiselbstabspiegeln* reflektiert es sich und bekommt damit
zugleich die der Ichheit eigentümliche Reflexivität und Durchsich-
tigkeit (es ist nicht an-sich, sondern es hat sich). Das »Sich« ist der
Gegenstand der bloßen »Vernunft« (KA XIX, 64, Nr. 220) oder
»Reflexion* (KA XIX, 22, Nr. 197), d. h. ein Modus, in den sich
das Ich erst dadurch begibt, daß es sich von seinem Grunde losreißt
(es habe sein Selbst - d. h. die absolute Identität ohne Reflexion,
sein Für-sich-als-Sein - verloren, heißt es KA XII, S. 374,5) und
sich konstituiert als »zerstücktes«, »unvollständiges« Ich (a.a.O.,
352). »Unser Ich ist ein abgeleitetes, die Erinnerung bezieht sich
aber eben auf das Losreißen von dem ursprünglichen Ich, ist also
die eigentümliche Grundlage und notwendige Quelle und Wurzel
der Ichheit« (ebd.).83 Durch das ekstatische Bewußtsein »Erinne-
rung« wird die Kluft zwischen der ewigen und der »gegenwärtigen
Sphäre des Seins und Werdens« befestigt. Zugleich bezieht sich das
sich seiner erinnernde Ich dynamisch auf sich selbst zurück und stif-
tet einerseits die Kontinuität oder den Zusammenhalt der strömen-

66
den Phasen, andererseits objektiviert es (für die Vernunft) das Ge-
fühl des Höchsten und ist insofern »die Grundlage alles Höheren
und Göttlichen im Menschen« (KA XII, 381). Denn »das sterbliche
Ich war ehemals verbunden mit dem, dessen es sich jetzt erinnert«
(a.a.O., 385,4).

Wenn bisher das Wesen des Ichs im Werden (im Leben) gesucht worden
ist, so muß bedacht sein, daß in dieser Bestimmung wieder nur ein »negati-
ver Begriff« desselben aufgestellt worden ist. Denn dies so bestimmte
Wesen besteht »lediglich durch den Gegensatz gegen den [Begriff] des/
Nicht-Ichs und des Dings« (a.a.O., 370/1), ist also selbst bloß eine end-
liche Bestimmung, die »Erinnrung*, als die »Anschauung der reinen Ich-
heit* (KA XIX, 63, Nr. 216), nicht ausgenommen, weil auch in ihr ein
Abstand des Erinnernden zum Erinnerten sich auftut. Dieser Abstand
wird die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit, in welcher das Ich sich
frei zu sich und zur Welt verhalten kann.84 Das relationslose Sein des Ichs
(qua reine Ungeschiedenheit) besteht aber seinem Selbstbewußtsein voraus.
Es ist das eigentlich Positive, das alles Bewußtsein niederschlägt: »Aus
dem Denken kann man den Anfang des Bewußtseins nicht anders erklä-
ren, als wenn man es auf eine unbegreifliche Art schlechthin setzte, und
eine begreiflichere Erklärung als durchaus unmöglich leugnete, denn ehe
das Ich sich denken kann, muß es doch vorhanden sein« (KA XII, 371; vgl.
140/1). Das Denken des Seins setzt das Sein des Denkens schon voraus.
Der Wissensgrund ist seinem Produkt, dem Wissen, transzendent, und
diese Transzendenz stellt sich im Wissen dar: Im Wissen selbst wird die
Vorrangigkeit des absoluten Seins vor der Reflexion erfahren. Das tran-
szendentale »Ich denke« Kants verbürgt nicht länger einen außerzeitlichen
Ort, der das in der Anschauungsform der Zeit Gegebene synthetisierte;
es ist selbst zeitlich.

Der in die Vergangenheit zurückblickenden Erinnerung muß ein


in die Zukunft vorausschauendes Bewußtsein korrespondieren. Das
Ich kann seine Lostrennung von der Einheit nicht erfahren, ohne
seine Ablösung auch als Streben zu begreifen und ein Woraufhin des
Werdens zu gewärtigen. Dieses Ziel ist die der »unendlichen Ein-
heit« entgegenstehende »unendliche Fülle«85, die, weil unendlich,
bloß »geahnt« werden kann. Die »Ahnung« ist ein Bewußtsein, des-
sen Gegenstand nicht aus unendlich vielen Anschauungen zusam-
mengestückt, sondern mit »einem einzigen Blick« ergriffen wird
(KA XII, 381), einem Blick, dessen Totaleindruck doch nur die
schematische Konstruktion einer nie vollendbaren Anschauung lei-
stet (KA XIX, 192, Nr. 315). Der »Begriff« derselben »kommt
nur . . . durch das ahnende, weissagende Gefühl in das menschliche
Bewußtsein« {KA XII, 381; vgl. KA XIX, 176, Nr. 187). Die
»unendliche Fülle« ist die abstrakte Gegentendenz der durch Erin-
nerung erfahrenen »unendlichen Einheit«. Beide sind vor-wirklich

67
(über-seiend: ÜJIEQÖVTCI); reine Verhältnis-Korrespondenzen. So wie
die in die unendliche Fülle vorausblickende Ahnung die Dimension
der Zukünftigkeit erschließt, kann »der Begriff der Einheit . . . hin-
gegen nicht anders, als aus der Erinnerung hergeleitet werden«
(a.a.O.).86 Die nun als Einheit im Gegensatz der Fülle bewußte Ein-
heit ist wie ein göttlicher Funke ins menschliche Bewußtsein ge-
drungen - denn im Bewußtsein gibt es keine aus der Reflexion
selbst erklärbare Konsistenz: »Es ist ein durchaus göttlicher Begriff,
er könnte sich nicht in der sterblichen Ichheit finden und der
Mensch wäre nie darauf gekommen, wenn er selbst nicht eins gewe-
sen wäre in Gott und mit Gott; denn er findet sich selbst gespalten
und getrennt, voller Widersprüche und Unbegreiflichkeiten, kurz,
als Stückwerk, der Einheit vielmehr entgegengesetzt; wollte der
Mensch also bloß bei sich selbst stehenbleiben, so würde ihm dieser
Begriff nie entstehen« (a.a.O.). Diese Einheit durchwaltet das Flie-
ßen der Zeit und macht möglich, daß jede ekstatische Ablösung in
die Zukunft doch als Abschnitt der einen Zeit begriffen werden
kann. Nur ist die absolute Einheit verwandelt in die Kontinuität des
Verfließens. Keine Phase des Zeitflusses und des fließenden Be-
wußtseins ist die Phase, von der sie sich ablöst, aber jede bleibt mit
der sie ablösenden dynamisch verbunden; durch jenes »Nichts« ge-
trennt, das »Freiheit« möglich und »die Zeit* zu ihrer »einzigen Be-
dingung« macht (KA XIX, 339/40, Nr. 260).
Verantwortlich für die (erinnerte) Lostrennung von der Ur-Ein-
heit ist das, was Schlegel in Böhmescher Tradition »die Sehnsucht«
nennt. Sie ist »die erste Urquelle der Natur«, »die Mutter aller
Dinge, der Uranfang alles Werdens« (KA XIII, 37).87 In ihr ent-
scheidet sich die unvordenkliche Simultaneität zur Zeit. Darum ist sie
- im Gegensatz zu ihrer Herkunft - »der durchaus unbestimmte
und unbestimmbare, sich nach allen Riditungen ins unendliche er-
gießende Trieb« (KA XII, 378), der die »unendliche Fülle« konsti-
tuiert, das Stadium des Außer-sich-, des In-die-Fülle-zerschlagen-
Seins erschließt. Indem sie das Ewige zur Zeitlichkeit befreit, wird
sie durch die Differenzstiftung zumal der »erste Anfang des Be-
wußtseins« (a.a.O., 378); denn das Bewußtsein zeitigt sich selbst aus
unverfüglichem Grunde. Es ist nicht zuerst, um Zeit zu konstitu-
ieren, sondern es ist wesenhaft selbst Zeit. Ein nicht-thetisches
Selbstbewußtsein ist zugleich Bewußtsein (von) Zeitlichkeit. Selbst-
sein ist Zeit.
Damit sind die drei Epochen der immanenten Verzeitlichung des
»Ur-Ich«, die drei Ekstasen seiner Offenbarung vorgestellt: »Un-
endliche Einheit«, die als Vergangenheit erinnert wird, ist das erste
Stadium, »unendliche Fülle«, die geahnt wird als Zukunft, das
zweite. Ihre dynamische Synthetisierung, die Zeitlichkeit als eine

68
organische Struktur, ist das dritte Stadium, das die beiden abstrak-
ten Unendlichkeiten in eine empirisch-reale Beziehung setzt.
Mit der Thematisierung der Temporalität des Selbstbewußtseins hat Schle-
gel die Möglichkeit gefunden, die Erfahrungen seiner Philosophischen
Lehrjahre rückblickend angemessen zu interpretieren.
Aus der Zerschlagung in die unendliche Fülle leitet er in der bekannten
Weise das Fragmentarische unseres Bewußtseins und den Witz ab. Das
Fragment ist der adäquate Ausdruck der »fragmentarischen, abgerissenen
Gestalt unseres Bewußtseins« (KA XII, 393).
So wie die Einheit der Idee nach, so ist für Schlegel die »unendliche Fülle«
sowohl dignitate als realitate prius (vor der »Einheit«; a.a.O., 401). Darin
sieht er mit Recht eine wesentliche Differenz seiner zu andern idealistischen
Positionen.88
Den Konnex zwischen den als seiende Bruchstücke des Bewußtseins abge-
setzten und von der »unendlichen Freiheit« überholten Etappen stellt die
»Geschichte« her. Sie verleiht den Bruchstücken »Zusammenhang und Be-
gründung« (a.a.O., 402). Die unendliche Fülle stellt den Zukünftigkeits-
Prospekt der Geschichte her, daher keiner Ahnung eine »gewisse sichere
Erkenntnis« (a.a.O., 403) zukommt: »unsichere Vermutung hat hier ihr
Spiel«. Mit der Bevorzugung der »unendlichen Fülle« bekommt in Schle-
gels Denken auch das Unwägbare und prinzipiell Offene des Existierens,
des »Lebens«, wie er sagt, einen Akzent. Durch die »Zersetzung« der abso-
luten Einheit ist »eine Lücke im Dasein« (KA XII, 192,,,) entstanden, wie
Schlegel einmal bei Gelegenheit einer Charakterisierung des Parmenides
sagt. Die Zeit ist es, die den »Mangel«, als welcher sich das endliche Be-
wußtsein darstellt (KA XII, 402, 2 ), zu beheben trachtet. Sie versucht, die
Differenz von erinnerter Einheit und »Fülle, die nur geahnet werden
kann«, durch Vereinigung beider - und damit die Trennung, den Zwie-
spalt, der Freiheit und Bewußtsein als endliche Potenzen konstituiert, auf-
zuheben (406; vgl. KA XIII, 8/9). An diese konkrete Einheit gibt es aber
nur »eine unendliche Annäherung« (KA XII, 407,^. »Die Welt ist die
unendliche Fülle im Werden«. Sie bleibt infolge ihrer Unendlichkeit stän-
dig zukünftig. Die Zeit ist die Einheit der Kontinuität in der Mannigfaltig-
keit. Sie entdeckt sich als »das Wesen des Ichs«. Das Ich ist »ein durchaus
bewegliches, flüchtiges, flüssiges Wesen« (KA XII, 408), welches nur von
der in ihrem innersten Sein selbst zeitlichen »schwebenden Einbildungs-
kraft« gefaßt werden kann. »Die Zeit«, notiert Schlegel, »ist die Welt
selbst, der Inbegriff alles Werdens, die werdende Gottheit -« (KA XIX,
65, Nr. 234). Bedenken wir, daß Schlegels Idealismus Welt nicht als
Summe alles Objektiven, sondern als die schwebende Vereinigung des
Subjektiven und Objektiven überhaupt bestimmt, als »Inbegriff alles Wer-
dens«, so wird deutlich, daß Schlegels Deduktion der Welt-Zeit nur eine
spekulative Ausweitung seiner Erfahrung von der dem Ich einwohnenden,
ursprünglichen Lebendigkeit sein kann, die ihre Einbindung in die tote
Einheit des Vergangenseins stets schon überholt hat.

69
Die Fragwürdigkeit des »triadischen Schemas«
Peter Szondi89 spricht von »einem dialektischen Prozeß« in
Schlegels Geschichtsauffassung, derart, daß der Dreischritt der hi-
storischen Entwicklung - der Verlust des Paradieses, »das reflek-
tierte Leiden an der Moderne, die Hoffnung auf das kommende
Reich Gottes«90 - »die Dreizahl der Zeitdimensionen (Vergan-
genheit-Gegenwart-Zukunft) « reflektiere.

Dies Schema hat aber nur eine oberflächliche Ähnlichkeit mit demjenigen,
das Schlegel selbst in seiner »Theorie und Charakteristik der Epochen
der Geschichte überhaupt« gibt (KA XIV, 247 ff.). Er warnt vor einem
»der Geschichte ganz unangemessenen Systematismus« (a.a.O., 251; KA
XIX, 33, Nr. 301: »Vielleicht sind alle Epochen in der Geschichte zu ver-
werfen. -«). Die Geschichte hat nur eine Dimension von triadischer Syn-
thetizität: Paradies und wiedererlangte Einheit sind Utopien, die gerade
die Geschichte vernichten, nicht zu ihr gehören (vgl. KA XIX, 3, Nr. 4).

Daß Schlegel selbst die »Dialektik der Geschichte« - wenn seine


Theorie schon diesen Namen tragen muß - durch Reflexion
der Zeitdimensionen gewonnen hat, beweisen die Kölner Vorlesun-
gen. Es ist also ganz angemessen, wenn Szondi in der Sprache der
neueren Zeit-Ontologie über Schlegels Philosophieren schreibt, daß
»die Reflexion in die Zeitlichkeit gestellt« werde und daß »in der
Selbstbespiegelung . . . das Subjekt sich selber nun zeitlich voraus«
sei.»1
Nicht hinreichend geprüft hat Szondi aber seine Behauptung vom
»futurischen Element«92 im Fragment. Das Fragment, schreibt er,
sei ein Hinweis auf die erst herzustellende, ausstehende Synthese
(»Vorbereitung der ersehnten Synthese«).92 In dieser Synthese soll
- medio in tempore - die Zeitlichkeit aufgehoben sein. Nur eine
uneigentliche und ihrer eignen Zeitlichkeit uneingedenke Philoso-
phie kann aber die Zukunft als ein Ereignis sich vorstellen, das we-
senhaft außer aller Zeit liegt (KA XIX, 327, Nr. 200). (Schon Schel-
ling wandte sich gegen eine so simple Schematisierung der Ge-
schichtstriadik).
Nicht die Zukunft, sondern die Aufhebung der »Hoffnung« und
der Zeit selbst, die »positive Idee der Unendlichkeit« können eine
Sehnsucht stillen, die dem in der Dreigliedrigkeit der Geschichte sich
perennierenden Mangel entfliehen will. Wie aber ein zugleich als
zukünftig vorgestelltes Ereignis dieser »positiven Idee« gleich sein
könne, weiß Schlegel nicht zu beantworten. In absichtlicher Para-
doxie sucht er die absolute Einheit daher nicht in der Zukunft, son-
dern in der Vergangenheit: »Vergangenheit ist ± [indifferente]
Zeit. . . . Einst wird es nur Vergangenheit geben; daher der große

70
Sinn von äv6nvT]ais« (KA XVIII, 191, Nr. 775)." Was Schlegel
die »erfüllte Zeit« nennt, meint den Zusammenschluß ihrer als flie-
ßendes Bewußtsein ausgefalteten Extreme. Aber gerade eine »er-
füllte Zeit« können wir uns auf keine Weise denken, da unser Den-
ken an die Notwendigkeit gebunden ist, daß die Zeit »Mangel«,
Abstand von ihrem Wesen ist.94
Die Rede von der »antizipierten Synthese«95 vergißt, daß diese
Antizipation 96 das »Sein im Negativen« durchaus nicht »erleich-
tert, indem dieses zum Vorläufigen wird« 97 , sondern daß die anti-
zipierte Ewigkeit die Zeit im Modus der Abwesenheit beunruhigt.
In Schlegels Denken wird das »OVTCDC. ÖV« eben nicht - wie bei He-
gel - im konkreten Begriff der Unendlichkeit mit dem »|XT] OV«
synthetisiert, sondern bleibt transzendent (wird nie Wissen). Dar-
aus ergibt sich ein sehr verändertes, sozusagen gerade undialekti-
sches Geschichtsverständnis.98
»Im Glauben« geschieht allerdings eine Offenbarung des Positi-
ven, das sich in der Zeit ereignet, aber nicht mit der Zukunft gleich-
gesetzt werden kann. Alle Offenbarung ist Gegenwart.99
Nach Szondis Deutung hätte Schlegel Hoffnung und Besitz des
Ewigen verwechselt. Ein unaufrichtiges Bewußtsein hätte ihm als
siegreiche Gewißheit die widerspruchsvolle Gegenwart in ihrer Vor-
läufigkeit erträglich gemacht: »Durch Vorwegnahme der künftigen
Einheit, an die er glaubt, wird das Negative für vorläufig erklärt,
damit zugleich festgehalten und umgewertet. Die Umwertung läßt
dieses Dasein annehmbar erscheinen und verführt zum Verweilen
im Bereich des Subjektiven und Virtuellen«.100 So mündet Szondis
origineller Ansatz im Meer eines allgemeinen Vorurteils gegen
Schlegel.
In seiner Interpretation ist das hölzerne Eisen einer »zukünftigen
Ewigkeit«101 unbedacht geblieben. Die Zeitlichkeit erfährt sich in
Schlegels Selbstverständnis vielmehr als der Verlust einer nurmehr
als ewigvergangen erinnerten, aber als diese prinzipiell unerreich-
baren, durch keine »Hoffnung« zu beschwörenden aktuellen To-
talität, die, ewig getäuscht, in die Zukunft hinein sich zu komplet-
tieren trachtet. Das als »Ironie« ausgetragene Paradox ist vielmehr
die gleichzeitige Undenkbarkeit und Unwegdenkbarkeit des Ab-
soluten, das im Modus der Abwesenheit die Wirklichkeit beunru-
higt.

Die Zeit und ihre Ekstasen - eine organisierte Struktur 1 0 2

Wir können die Dimensionen der Zeit nicht als eine statische An-
ordnung von Teilen betrachten. Es sind drei Stadien, in denen sich,

7i
sukzessiv, das Absolute darstellend verzeitlicht. Die Trennung der
Dimensionen wird allaugenblicklich zurückgenommen in das »Wer-
den« selbst. Keine der Dimensionen ist, was sie ist - wie der Zeno-
nische Pfeil, der, gleichgültig gegen seinen Flug, eine gleichsam ver-
steinerte Gegenwärtigkeit verkörpert. Die Dimensionen fließen in
einander über wie die Ekstasen des Selbstbewußtseins, mit denen
sie gleichursprünglich und wesentlich identisch sind.
Schlegels Ableitung der Zeit ist darum in gewisser Weise eine
Ausweitung der Deduktion des Selbstbewußtseins ins »Welt-Ich«,
eine analoge Konstruktion also (KA XII, 409,3; 4io,4).103
Zur folgenden Deduktion 104 ist in Erinnerung zu bringen, daß
Schlegel Welt als das negative (begrifflich erreichbare) Wesen des
Ich (nicht als Objektivität) auffaßt.
Er geht von dem Satz aus, »die Welt oder der Inbegriff des Wer-
dens sei das Ich« (KA XII, 409) - freilich das Ich im Gegensatz
zum bloß menschlichen Bewußtsein. Das »Welt-Ich« muß, da es
nicht als Substanz betrachtet werden kann, »als ein lebendiges, wer-
dendes gedacht, muß im Leben und Werden ergriffen werden«
(a.a.O., 4io, 2 ).
Die bekannte Differenz von »unendlicher Einheit« und »unend-
licher Fülle« darf darum nicht als statischer, fixierbarer Gegensatz
vorgestellt werden. Er geht vielmehr um das schwebende, dynami-
sche »Verhältnis zweier Unendlichkeiten*105 (vgl. KA XIX, 89,
Nr. 67), mit denen das Verhältnis der beiden Bewußtseinsmodi »Er-
innerung« und »Ahnung« korrespondiert (KA XII, 410; KA XIII,
246/7) - zwei >Nicht-Substanzen< also. Erst die Synthetisierung
beider schafft endliche Verhältnisse, die aber in ihrer Endlich-
keit als Zeit transparent bleiben für ihren Ursprung. So enthält
das Werden des endlichen Ichs notwendig »eine unendliche Fülle in
sich« (KA XII, 411) (so wie umgekehrt die unendliche Fülle auf
Darstellung in einer endlichen Synthesis angelegt war). Die »Ver-
mittlung des Endlichen mit dem Unendlichen« (a.a.O.) ist das, was
im Fluß des »Lebens« die Kontinuität als »werdende Unendlichkeit«
darstellt 106 : Die Unendlichkeit ist in ihr nicht ohne Bezug auf die
Einheit sowie umgekehrt die Einheit nicht ohne Bezug auf die Un-
endlichkeit zu denken. Es gibt nur Präponderanzen des einen über
das andere.
Die »Sehnsucht« ist nach Schlegel »das erste Entquellen des Gan-
zen« (KA XII, 411). Sie war ja bestimmt als die Tendenz, aus der
Einheit in alle Richtungen sidi zu verströmen, als das Losreißen
vom Ureinen. Mit der >Ur-entscheidung< (Schelling) beginnt die
»kosmogonische . . . Konstruktion« (a.a.O., 410/11). Die Sehnsucht
eröffnet den Prospekt des Ur-Ich (das zugleich überwunden und
verloren ist) in die Zukunft einer »unendlichen Fülle«, von welcher

72
aus rückerschließend die Erinnerung den Verlust der Einheit ge-
wahrt. Von den Bewußtseinsmodi aus wird also die Temporalität
ihrer Tendenzen erschlossen.
Schlegel hatte diese Idee mit Sicherheit bereits zwischen 1800 und 1801
konzipiert; nur die Begrifflichkeit war noch zu verändern. Bewußtseins-
richtungen sind analog zu Zeitekstasen: »Das Erste war Hoffnung = Zu-
kunft. Das Zweite Wehmut = Vergangenheit; das Dritte Schrecken = Ge-
genwart* usw. (KA XVIII, 188, Nr. 742).

Aus den Potenzen der Sehnsucht, der Einheit und der Fülle ent-
wickelt Schlegels Entwurf die Konstruktion der Welt bis zur »Ent-
stehung des menschlichen Ichs« (KA XII, 411).
Dies Konzept hat nicht nur Ähnlichkeit mit Böhmes Spekulation,
sondern auch mit Schellings Konstruktion der Natur. Ganz tradi-
tionell sind »Raum und Zeit« noch parallelisiert. Aber Schlegels ge-
netische Konstruktion deckt einen überraschenden Entwicklungszu-
sammenhang zwischen beiden auf: Der Raum selbst kann als Nie-
derschlag aus der Zeit begriffen werden, als eine Phase, die über-
schritten wird. Diese Verbindung von Raum und Zeit in einem
übergeordneten Begriff des Werdens soll im folgenden vorgeführt
werden.
»Es sind«, schreibt Schlegel, »zwei in der Philosophie äußerst
merkwürdige und wichtige Begriffe und sie hängen mit dem Begriff
des Unendlichen zusammen. . . . An ihrer Erklärung pflegt ein phi-
losophisches System seine Eigentümlichkeit zu offenbaren oder ein
irriges zu scheitern« (a.a.O.). Schlegel erkennt in ihnen die Ver-
mittlungsmöglichkeit der durch sein Philosophieren unter wechseln-
den Namen beschworenen Gegensätze und mißt ihnen besonderen
Wert bei, da sie in je verschiedener Hinsicht als Schemata des ak-
tuell Unendlichen gedacht werden können. »Sie werden«, schreibt
er, »nie ohne das Unendliche gedacht«, sind gleichwohl empirisch
und für diejenigen, die »sich selbst noch nicht als unendlich ergriffen
haben, das Medium, wodurch sie unfehlbar den Begriff des Unend-
lichen/ erhalten« (a.a.O., 411/2). In Schlegels Antwort auf die vor-
dringlich wichtige Frage, »zu welcher Form des Bewußtseins sie ge-
hören« (a.a.O., 412), zeigt sich schon die Bevorzugung der Zeit.
Die »Schwierigkeit«, schreibt er, »das Unendliche . . . mit dem End-
lichen in Verbindung zu setzen«, finde »besonders bei der Zeit« statt
(a.a.O., 412). Denn sie begleitet das Bewußtsein - anders als der
Raum - in allen seinen Funktionen. Schlegel macht gegen Kant
geltend, Raum und Zeit können unmöglich reine Anschauungsior-
men sein. Denn sie seien »nie ohne das Unendliche« zu denken.
Können sie darum mit Sicherheit nicht von der gemeinen, abstrak-
ten Anschauung allein (wie Kant meint) ergriffen werden, so kann

73
doch auf der anderen Seite die Anschauung beide »nicht loswerden«
(a.a.O.). 107
Auch können sie - und besonders wieder die Zeit - aus keinem
bestimmten anderen Geistesvermögen hergeleitet werden, da die
Zeit auf alle Bewußtseinsweisen Bezug hat, auf »Ahnung sowohl als
. . . Erinnerung« und, weit entfernt, von einer »Form des Bewußt-
seins« konstituiert zu werden, vielmehr »keine Hervorbringung
einer einzigen Tätigkeit, keine Anschauung sein könne« (a.a.O.).
Das Bewußtsein fühlt sich mit Erschrecken gleichsam unterminiert
von einer gleichursprünglichen oder gar fundamentaleren Entität.
Zeit und Bewußtsein entstehen als Ausdruck eines und desselben Er-
eignisses: mit der Loslösung der Sehnsucht aus dem Ureinen in Rich-
tung auf die Differenz. Alle Gedanken sind in der Zeit und mit der
Zeit. Es ist fruchtlos, die Zeit umgekehrt im Bewußtsein aufsuchen
und als dessen Resultat erklären zu wollen. Das Bewußtsein von
Zeit ist Selbstbewußtsein des Werdens. Und Bewußtsein von
SICH ist zugleich Bewußtsein des Gewesenseins, der Dimension der
Vergangenheit. Das Bewußtsein der Freiheit, der Möglichkeiten, ist
umgekehrt Ahnung, Aufschluß des Zukünftigen.

»Bloß als Phänomene im menschlichen Bewußtsein betrachtet, lassen sich


Raum und Zeit nicht, wie man bisher immer versucht hat, aus einer Quelle
ableiten, sie sind aus verschiedenen und entgegengesetzten Tätigkeiten des
Bewußtseins zusammengesetzt; aus Erinnerung, Anschauung und
Ahnung.« (a.a.O.)

Hier wird auffällig, daß der Raum offensichtlich nach Schlegels


Theorie mit einer der Bewußtseinsdimensionen in enger Verbindung
gesehen wird. Dies kann, nach unserer bisherigen Kenntnis, nur die
Anschauung sein. Die Zeit muß, als organisierte Synthese aller drei
Bewußtseinsmodi, die je eine Zeitdimension reflektieren, offenbar
allen Ekstasen zuvorbestehen. Schlegel sagt: »Sie [Raum und Zeit]
sind vorhanden, ehe diese noch entwickelt sind« (a.a.O.).
»Wollte man sie«, ergänzt Schlegel, »aber doch einer bestimmten
Form aneignen, so könnte dies nur die Einbildungskraft sein, als
welche in der Mitte liegt, wo alle Formen des Bewußtseins wieder
zusammenfließen« (a.a.O.). - Die Einbildungskraft ist die Hand-
lung der Synthesis selbst, darin liegt ihre mögliche Identität mit der
Zeit-als-Synthesis108 begründet (eine Identität, auf welche das »Sche-
matismuskapiteh in Kants Kritik der reinen Vernunft dunkel vor-
gedeutet hatte. Novalis hatte diese Konsequenz bereits gezogen.)
Schon früher hatte Schlegel die Einbildungskraft in vordeutender
Analogisierung als »ein abwechselndes Erweitern und Verengen«,
als das »Vermögen des/ Ausdehnens und Zusammenziehens« einge-
führt (a.a.O., 360/1). In der Einbildungskraft als dem »Atmen der

74
Seele« werde »die unendliche Fülle der Welt wechselweise ein- und
ausgeatmet« (a.a.O.). Aber ist nicht gerade dies auch die Funktion
des »unendlichen Werdens«? Auch im Begriff des Werdens ist die
Beschränkung mit der Expansivität dynamisch vermittelt. Das Wer-
den ist ein gesetzlicher Wechsel von Selbsteinfassung und ständi-
gem »Sich-über-sich-weg-Setzen«. Und ganz dasselbe ist die Einbil-
dungskraft für das Ich. In diesem Zusammenhang fungiert eine
Schlegels eigner Terminologie ungefügige Zuordnung der Einbil-
dunsgkraft zur Anschauung:

»Die reine Anschauung ist im steten Flusse, so wie sie festgehalten wird,
ist sie schon Begriff; die Fantasie ist also eigentlich das Vermögen der
Anschauung« (KA XVIII, 289, Nr. 1113).
Die Einbildungskraft qua Vermittlung des abstrakt-flüssigen Ichs-
als-Anschauung mit dem abstrakt-fixen Ich-als-Begriff erklärt erst
die Struktur der Ichheit, d. h. eines Reflexes, der sich zwar von hö-
herer Einheit unverfüglich durchwaltet, zugleich aber in Opposition
zur eignen Einheit fühlt. Mit einem Wort: Das Ich als eine spontane
Relation auf sich selbst muß sich selbst erschaffen, statt zu sein:
»Das W o r t . . . Ich ist sehr gut, weil es das sich selbst Constituiren so
schön bezeichnet« (a.a.O., 299, Nr. 1253). Der Vergleich von Ein-
bildungskraft (Ichheit) und Zeit bietet sich also an!
»Der Trieb, das unbestimmte Sehnen nach allen Seiten und Rich-
tungen hin ins unendliche« (KA XII, 360), also die Konstituierung
des Zukunftshorizontes (die »unendliche Fülle«), »ist nichts anders,
als das Ausdehnen des Ich, und ebenso das Verlieren und Wiederfin-
den in der Erinnerung wieder nichts, wie jenes Ausdehnen und Zu-
sammenziehen« (ebd.). So weit reicht die Analogie. In der Erinnerung
erfaßt sich das Ich (die im Ich allein tätige Einbildungskraft) als Sei-
endes (als Gewesensein, als Substanz, als Selbstheit, Kontraktion
usw.); in der Ahnung (Sehnsucht) als Freiheit, Transzendenz, Mög-
lichkeit, Zukünftigkeit, Noch-nicht-Seiendes. Jener entspricht das
Einatmen (der Trieb auf Selbstbewahrung), dieser das Ausatmen
(der Trieb auf Entgrenzung, Hingabe an die Unendlichkeit).

»In dem irdischen Element ist ein Trieb der Selbstheit, und ein Trieb der
Entwicklung. Der erste als ein Trieb des Elements, immer bei sich zu ver-
harren und in sich zurückzukehren, ist bloß die Form des irdischen Ele-
ments [in der Kontraktion kündigt sich die Wirkung des Elements >Ein-
heit< an]. Der Trieb der Entwicklung [als Wirkung der >Fülle<] ist der
notwendige Trieb des in dem irdischen Elemente verschlossenen Geistes,
der sich zu äußern und zu befreien strebt« usw. (KA XII, 473).
Dasjenige, was von der unendlichen Expansion als »tote« Sub-
stanz (als unterm Exponenten der Einheit synthetisierte Materie)

75
zurückgelassen und erkennend überschritten wird, ist Gegenstand
der Anschauung geworden (die Anschauung fixiert und verdinglicht
das Bewußtsein, wie wir sahen). Und hier ist der Ort, als Korrelat
der Bewußtseinsform >Anschauung< den »Raum« und die Dimen-
sion »Gegenwart« einzufügen.109 Der Raum ist also nur das Ana-
logon einer Zeitdimension und der synthetisch fließenden Zeit nicht
gleichrangig.
Zeit und Einbildungskraft (jene als Einheit ihrer Dimensionen,
diese als Einheit der Bewußtseinsweisen) können nun gleichgesetzt
werden: »Raum und Zeit sind eigentlich Einbildungen zu nennen,
in jenem Leben der Einbildungskraft, als dem Vermögen des Ein-
und Ausatmens der Welt, ist die Zeit das Leben selbst, der Raum
aber Nahrung dieses Lebens,/ das was eingeatmet wird« (KA XII,
412/13). Der Raum ist also selbst ein Aspekt der übergeordneten
Zeit, die ohne etwas, das sie in sich verschlingen könnte, ein totes
Abstraktum sein müßte. Das Leben, welches nur eines sein kann, er-
hält sich in sich selbst durch Absorption seiner eignen starren Äußer-
lichkeit, durch Vernichtung und Überschreitung desjenigen Teiles an
ihm, das Substanz, das beharrlich, d. h. nicht ȟber-sich-selbst-weg-
gesetzt«, sondern an sich seiend und mit sich selbst identisch ist. Für
diese Sphäre, die von der Gegenwart okkupiert und durch die An-
schauung gesetzt wird, stellt insgesamt der »Raum« den übergeord-
neten Begriff. Das An-sich-Seiende ist räumlich oder teilt mit dem
Raum die Eigenschaft der Identität-mit-sich-selbst (so etwa ein über-
schrittener, erinnerter oder in unaufrichtiger Reflexion substantiier-
ter Gedanke). Den Widerspruch zwischen Substantiierung und
Transzendierung trägt die synthetische Zeit (als Oberbegriff des
»Werdens«) in sich aus.
Mit der Unterordnung und funktionalen Eingliederung des Rau-
mes in die Zeit ist die aufgeworfene Schwierigkeit noch nicht beho-
ben, wie die »besonders in dem Begriff der Zeit« gedachte Vermitt-
lung des Unendlichen (Zeitlosen) und Endlichen erklärbar zu ma-
chen sei. Die Schwierigkeit, erinnert Schlegel, »liegt wohl eben dar-
in, daß die Begriffe Raum und Zeit einesteils mit dem Begriff des
Unendlichen so genau verbunden [sind, denn die Vorstellung bei-
der übersteigt die Grenzen der Einheit eines Bewußtseins - ] , ande-
rerseits in unserm Bewußtsein so allgegenwärtig sind, und selbst die
gemeine Anschauung begleiten«. Diese Schwierigkeit ist evident: die
Zeit ist gleichsam eine nicht endende Endlichkeit. Aber die >Sem-
piternitas< ist noch nicht das Unendliche oder Ewige, das in sich
gar keinen Bezug auf Zeit haben soll. Gleichwohl kann das unend-
liche Fließen aus der Endlichkeit allein nicht erklärt werden; und
doch duldet Schlegel kein intelligibles außerzeitliches »Ich denke«
im Bewußtsein, welches durch und durch zeitlich sein soll. Die Zeit

76
ist kein Gegenstand, sondern das Innerste des Bewußtseins: Dem
soll der Ausdruck, das Ich zeitige sich, Rechnung tragen (vgl. KA
XII, 476).
Manche Mystiker, kritisiert Schlegel, sind der Gefahr erlegen,
eine der beiden Abstraktionen, eine der beiden Einseitigkeiten zu
behaupten. Sie haben, sagt er, die »zeitliche Zeit« geradezu geleug-
net. Sie »nahmen bloß die Ewigkeit als reell an, und da sie nur
einen negativen Begriff des Unendlichen hatten, mußten sie alles
Zeitliche, wo es nicht ganz geleugnet werden kann, als Schein erklä-
ren«. Im Grunde sei dies nur die Umkehrung des Kantischen Ver-
fahrens, wonach die bloß »formelle Realität« der Zeit »für das
Endliche« anerkannt, aber hinsichtlich des »Unendlichen« (Tran-
szendentalen) für subjektiven Schein erklärt werde. - Mit der Ent-
deckung der Temporalität der Einbildungskraft falle aber, sagt
Schlegel, der ganze abstrakte Gegensatz des Unendlichen und End-
lichen fort, der noch »allen Philosophien, die sich nicht zu dem Be-
griff der höchsten Freiheit erhoben, zur Klippe geworden« sei. Ist
»diese Dualität [gleich] . . . nur ein Vorurteil«, so ist sie doch nicht
von ungefähr zum Problem geworden, und der mystische Bezug auf
»den Begriff der Vollkommenheit« habe darum doch »in gewisser
Rücksicht immer noch etwas Wahres« an sich, indem »die Ewigkeit
höher wie die Zeitlichkeit [zu] achten« sei. Aber der mystische Be-
zug ist abstrakt und einseitig. Er setzt alle Realität in die Tran-
szendenz und vernichtet sich damit selbst in seiner Wirklichkeit.
Den Gegensatz selbst findet Schlegel sehr konsistent mit seinen
eignen Prinzipien (a.a.O., 413 unten). Auch er trennt Ewigkeit
streng von der Zeitlichkeit, negiert aber nicht aus der Position des
einen des andern Realität, sondern unternimmt eine »Verwand-
lung« des Gegensatzes »in den der vollendeten und der unvollende-
ten Zeh« (a.a.O., 414; vgl. dazu und zum folgenden KA XIX, 58,
Nr. 169). Das neue Begriffspaar operiert nur noch mit dem Faktor
Zeit und vermeidet die beiden Abstraktionen der zeitlosen Außer-
zeitlichkeit sowie der verzeitlichten Ewigkeit. Die Endlichkeit selbst
»schließt eine unendliche Fülle in sich und ist auf diese Weise inner-
lich immer unendlich«. Dadurch werde »der Übergang des End-
lichen zum Unendlichen von selbst« erhellt. Die Zeit ist selbst der
Potenz nach ein alles Endliche Überwindendes. Aber sie überwindet
es im Endlichen.
Die Unvollkommenheit der unvollendeten Zeit besteht »allein in
dieser Zerstückelung... in Vergangenheit, Gegenwart und Zu-
kunft«. Nur in der Idee einer positiven Ewigkeit kann deren ak-
tuelle Einerleiheit beschlossen liegen (KA X, 381 ff.). Diese aktuelle
Unendlichkeit kann auf zwei Weisen vorgestellt werden, durch die
»leere* und die »volle Mitte*. Die leere Mitte, erklärt Schlegel, ent-

77
geht der Zerschlagung in die Zeitsegmente u n d -ekstasen dadurch,
d a ß sie die Extreme der Vergangenheit und Zukunft als Schein ne-
giert, also in gleichsam ewiger Allgegenwärtigkeit stehenbleibt, um
sich, sei es gleich um den Preis einer unaufrichtigen Reflexion, das
Faktum des Verfließens von der beunruhigten Seele fernzuhalten.
Es ist eine »negative Ewigkeit«, die sich nur durch Negation der
Zeit aufrechterhält und jede Phase des Verfließens als gleichblei-
bende Gegenwart reflektiert, während eine Welt wie im T r a u m an
ihr vorüberschwebt, zu welcher das geborgene Bewußtsein keinen
Überstieg kennt. »Die wahre volle Mitte erhält man aber dadurch,
daß man die beiden entgegengesetzten Kräfte, die äußersten E n d -
p u n k t e des Lebens sich verbinden und durchdringen, sich sättigen
läßt, wo denn auch etwas Neues, ein Drittes entstehen kann«
(KA X I I , 414).
Wenn Schlegel die aktuelle Ewigkeit gelegentlich als eine substantielle
Identität von Substanz und Zeit bestimmt (»Ewigkeit = Zeit + Substanz«,
KA XIX, 130, Nr. 410), so unterscheidet er sie von der Relation Für-sich
und An-sich, in welcher das Ich sich als zerspalten, als zeitlich, erfährt. Er
deutet zugleich auf den Ansatzpunkt seines Philosophierens in der Kritik
an Fichtes Zirkel zurück. Ein An-sich, das zugleich für-sich ist, ist ein
transzendenter Begriff. Für uns als zeitliche Wesen trennt sich das An-sich,
die Identität-mit-sich-selbst, vom Für-sich, der Reflexion, die ihr Substrat
nur als dasjenige hat, was zu sein ihr selbst als Setzen des Substrats ver-
weigert ist. Für die Reflexion zerfallen Kontraktion-zur-Substanz und die
zentrifugale Ekstasis der Expansion in zwei unmittelbar sukzedierende
Phasen. Wären beide Phasen eines, so wäre die Zeit vollendet und doch als
Zeit vollendet, d. h. sie wäre Substanz (wäre, was sie ist), ohne aufzu-
hören, sich selbst zu entfliehen. Sie wäre eine an sich seiende und zugleich
reflektierte Flucht: »Wenn . . . mit der Beharrlichkeit und Starrheit auch
das Reich der Gegenwart aufgelöst, Vergangenheit und Zukunft verbun-
den, und so alle Zeit zur Ewigkeit verklärt sein wird, dann ist die Zeit
vollendet« (KA XII, 476; vgl. KA XIX, 58, Nr. 169): Dies war die
unentrinnbare Konsequenz der Wissenschaftslehre, der Schlegel eine Re-
flexion auf die Zeit entgegenstellte. Darum ist die Rede von der vollende-
ten Zeit irreal. So wie Schlegel weiß, daß »vor der Zeit . . . sich keine Zeit
und auch keine Ewigkeit denken . . . läßt«, so ist er sich auch bewußt, daß
es keine zukünftige Ewigkeit< geben kann. Er sagt ausdrücklich: »Dieser
Begriff der vollendeten Zeit ist ein positiver.110 Es ging der Schöpfung
weder eine Zeit noch eine Ewigkeit vorher, aber wohl ein unendlicher
Keim der Zeit, und erst mit der Welt entwickelt sich dieser« (vgl. KA
XIX, 206, Nr. 50). Wenn wir dennoch von einem verlorenen Paradies
oder von der Herrlichkeit, die da kommen soll, sprechen, so zahlen wir
nur unseren Tribut an die Unzulänglichkeit der Sprache. Und nur im
Bewußtsein dessen schreibt Schlegel: »Wollte man jenen Keim der Zeit
eine Ewigkeit nennen«, was an sich ein Ungedanke ist, »so gäbe es [aller-
dings] doch eine Ewigkeit a parte ante« usw. Aber Schlegel warnt vor
»transzendenten Ansichten« (KA XII, 476/7).

78
Die abstrakte Ewigkeit, in deren Begriff die Zeit nur »vermie-
den« und das Bewußtsein der unaufhörlichen Selbstflucht und Kon-
tingenz verdrängt ist, wird als »Zeitleere* (a.a.O., 415) imaginiert.
Dieser Begriff kommt dem »Toten, . . . Fesselnden« im starren
Dingbegriff am nächsten. Es ist »eine bloße Abwesenheit der Zeit
und keine Zeitfülle« (a.a.O.). 111 Das >Nunc stans< der Mystiker
ist eine durch das Schema der petrifizierenden Gegenwart, des Rau-
mes, erlebte abstrakte Zeit. Was die Zeitlichkeit definiert, ist der
unaustilgbare Mangel der Existenz, das Gefühl prinzipieller Frei-
heit und Offenheit112, die durch kein Ziel, keine Erfüllung zu kom-
plettieren ist (weil jedes Ziel überschritten werden müßte). Nur der
Raum und die (in unaufrichtiger Reflexion) verräumlichte Zeit ist
nämlich ein »in sich vollendetes Wesen« (a.a.O., 416). »Die Zeit
aber ist unvollendet wie die Welt selbst« (a.a.O., vgl. KA XIX, 58,
Nr. 173). Es bedarf also einer Synthese der abstrakten Substantiali-
tät des Raumes (der ewigen Gegenwart) mit der abstrakten Flucht
der Zeit, um die erfüllte (konkrete) Synthesis der wahren Zeit, das
geschichtliche Werden, zu konstituieren, das im »Ein- und Ausat-
men« das Gesetz alles Entstehens und Seins verkörpert. Die Zeit ist
innerhalb dieser organischen113 Struktur »das Leben, der Raum ist
die Nahrung der Welt« (a.a.O.). Es gibt keine Flucht ohne Sein
(Substanz), das in der Flucht überschritten wird, und kein Sein, das
nicht Niederschlag aus ehedem lebendigem Zeitfluß wäre. Die
Dinge, sagt Schlegel, sind »starr gewordene Versuche, versteinerte
Handlungen, in denen die Erde zu ihrem Zwecke nicht durchdrin-
gen konnte« (a.a.O., 468). Die Zeit setzt den Raum (das An-sich)
als das Ein- und wieder Ausgeatmete aus ihrem unendlichen Leben
ab und übersteigt so in steter Progression alle Einbindungen in re-
lative Synthesen mit dem Raum, von dem sie nichts trennt als ihre
Repulsivität: sie setzt den Raum (die Vergangenheit) durch densel-
ben Akt, durch welchen sie über den Raum hinausstrebt. Die da-
durch entstehende Lücke wird Ermöglichungsbedingung von Freiheit
und Reflexion. Das Bewußtsein reflektiert sich als dieses reflexive
Sich zugleich nicht seiend. Die den »Raum« erfüllenden Dinge wer-
den »Veranlaßung des Erinnerns*. Sie sind »Erweckung von etwas
verlohrnem im Ich« (KA XIX, 92, Nr. 92).
Schlegel bildet diese Struktur auf den kosmogonischen Prozeß ab.
Die unendliche Einheit fühlt ihre eigne Abstraktheit:
»Das Bewußtsein . . . der unendlichen Einheit ist . . . in dem ursprünglichen
Welt-Ich mit dem Bewußtsein der Abwesenheit der unendlichen Fülle
notwendig verbunden.
Das Welt-Ich kann sich dieser Einheit (Einfachheit) nicht bewußt sein,
ohne eine unendliche Sehnsucht zu fühlen, diese ursprüngliche Leerheit
durch Mannigfaltigkeit und Fülle zu bereichern. Die Ahnung der unend-

79
liehen Fülle gibt der Tätigkeit des Welt-Ichs den ersten Anstoß« (KA XII,
4*9)-
In der Zeit als dem dritten Stadium der göttlichen Offenbarung
macht sich die ursprüngliche Gewalt der Einheit wieder geltend ge-
gen die etablierte Differenz von Einheit und Unendlichkeit. In die-
sem Stadium tritt das Endliche durch die Erinnerung aus der Dif-
ferenz heraus und wieder in Rapport mit dem Ursprung, und es hat
Sinn zu sagen, mit der Erinnerung »entstehe die Zeit« (a.a.O., 435),
»als Zurückgehen in den Anfang, mit dem Bewußtsein, daß es der
Anfang ist« (ebd.).
Den Raum interpretiert Schlegel als das Ziel der Tendenz auf
unendliche Fülle, zugleich als Zukunftshorizont der Ur-Entschlie-
ßung (a.a.O., 4315435,5).
Er ist das Produkt der uranfänglich sich regenden Sehnsucht (... »daß
mit der ersten Regung der Sehnsucht zugleich auch ihr erster Gegenstand,
der Raum erzeugt wurde. Die Sehnsucht ist produktiv, sie erzeugt sich
selbst mit ihrem Gegenstande, . . .« (KA XII, 475) ).
Der Raum ist gleichsam eine ehemalige Zukünftigkeit des Geistes,
die von der Zeit überschritten und zur an-sich-seienden Gegenwart
substantiiert wird. »Der Raum« ist die »Form des Zugleichseins«
(I, 3, 526). In der Verräumlichung hat sich die Zeit ihrer Transzen-
denz begeben.
»Was die Zeit zur Zeit macht, ist die Vergangenheit«, schreibt
Schlegel. Denn erst wenn sich das unendliche Werden aus dem Über-
stieg über den Raum (»der unendlichen Ausdehnung*114, die als
»Zukunft* vor der Sehnsucht sich ausdehnte) zurückbeugt und in
dieser Reflexion seines Ursprungs sich versichert, »entsteht die
Zeit«.
Konsequent ist für Schlegel die Vergangenheit, die als An-sich
von der Freiheit zurückgelassen und vergegenständlicht (verräum-
licht) wird, eine »räumliche Tätigkeit und Kraft, jedoch ohne das
Prädikat der Starrheit und groben Körperlichkeit, mithin als Ele-
ment« (KA XII, 436).
Alle drei Zeitdimensionen haben also auf den Raum Bezug. Einer
Andeutung zufolge stellt ihn sich Schlegel als das durch die »An-
schauung« Erschlossene vor. Die Anschauung aber vertrat die Stel-
lung der »Gegenwart«. Die Gegenwart ist der Raum, wie ihn die
Anschauung konstituiert. Schlegel definiert nun die Gegenwart »als
die erstarrte, fixierte, gleichsam stillstehende, beharrliche Zeit«,
welche, wie er sagt, »nur bei dem irdischen Element, dem Schrecken
stattfinden« kann (a.a.O., 442). Aber war nicht gerade die Vergan-
genheit als »räumliche Kraft« bestimmt worden? Ist nicht das Ver-
gangene zu Substanz geronnene Freiheit und insofern Objekt der

80
Anschauung (wie bei Schelling und Novalis)? Schlegel scheint nicht
zuzustimmen, denn er verweigert der Vergangenheit tatsächlich die
Substantialität, indem er sie frei nennt vom »Prädikat der Starrheit
und Körperlichkeit«. Er versteht sie als »Element«, als lebendige
Triebkraft, die mit der Ahnung in dynamischer Relation steht.
So wird es wohl weniger die Möglichkeit phänomenaler Auswei-
sung gewesen sein als der Systemzwang, der Schlegel Raum und
Gegenwart einander zuzuordnen bewegte. Der Lückenbüßer >Ge-
genwart< hatte noch kein Analogon gefunden: er war also durch die
»erstarrte Zeit« auszufüllen. Aber erstarrte Zeit ist ein Perfectum,
kein Präsens. Offenbar interpretiert Schlegel das Phänomen des
Raums durch den Begriff der Anwesenheit-bei... (etwas), wodurch
der ursprüngliche Sinn des Wortes »Gegenwart« (»praesentia«) ge-
wahrt bleibt: Die Gegenwart ist die Freiheit selbst, insofern sie bei
sich selbst als Vergangenheit weilt oder im Vorblick auf ihre Zu-
kunft hinauseilt. Aber dann wäre sie gerade der Brennpunkt der
Zeit und dem Raum am meisten von allen Dimensionen konträr.
Wenn nach Schlegel die »Gegenwart« neben dem »leeren Raum« das
»Grundübel der Welt« darstellt und »vernichtet« werden soll
(a.a.O., 479), weil sie das unendliche Werden tötet (»Völlige Ge-
genwart wäre Todt« (KA XIX, 58, Nr. 169)), so wird sie offenbar
für das der Zeit selbst Widersprechende und zu Überwindende ge-
halten und eben nicht für eine ekstatische Anwesenheit-bei. . .
Wirklich kennt Schlegel »Gegenwart« nur als »gleichsam stillste-
hende Zeit« (KA XII, 442), und gegen einen solchen Begriff polemi-
siert er: Er sei abstrakt und Resultat unaufrichtiger Reflexion: ein
Versuch, die prinzipielle Unabschließbarkeit des Herzens mit den
Zenonischen Sophismen zu leugnen. Wir statuieren, daß Schlegels
Synthesis der Zeit eine gegenwartslose Synthese und der Begriff
der »reinen Gegenwart« in seiner Philosophie ortlos ist.
Damit reimt sich Schlegels Polemik gegen den Substanzbegriff.
Wenn das Leben eine gegenwartslose Organisation ist, so ist die auf
die Gegenwart zielende fixierende Anschauung ein Trug. Wirklich
schreibt Schlegel:

»Erinnerung heißt uns . . . Vorstellung des Vergangenen, - Ahnung Vor-


stellung des Zukünftigen, Anschauung Vorstellung des Gegenwärtigen,
oder ganz reine ohne alle Beimischung von Vergangenheit und Zukunft.
Eine solche bloß einzig auf die Gegenwart begründete und beschränkte
Vorstellung gibt es im Menschen nicht« (KA XIII, 231; 253/4; KA XIX,
62, Nr. 212).

Das sich selbst überschreitende Bewußtsein läßt einzig und allein


die konkrete Anschauung zu, die, als Anwesenheit-bei..., »Ver-
gangenheit und Zukunft« umfaßt oder die »zugleich Ahnung

81
und Erinnerung« ist (KA XIII, 231). Solche konkrete Anschauung
zerschnellt sich auf ihre Gegenstände hin und ist nur Gegenwart,
wenn sie bei der Erinnerung oder der Antizipation schon weilt.
Wer sich aber die Zeit als bloße Sukzession von Phasen vorstellt,
deren jede stets Gegenwart ist, reflektiert unwahrhaftig. Er proji-
ziert in das Fließen die Immobilität der Substanz. Die Anschauung
einer solchen abstrakten Gegenwart k a n n »gar nicht zu einem Be-
griffe« werden (253). 115

Man muß hier vermuten, daß Schlegel so etwas wie die Idee einer zeit-
lichen Synthesis in der Konstitution der Begriffe vorgeschwebt hat: Der
Begriff wäre selbst ein Gezeitigtes, ein Prozeß der Synthetisierung von
Erinnerung und Ahnung. Jedenfalls widerspricht Schlegel der Kantischen
These, daß eine »reine sinnliche Vorstellung ohne alle geistige Einwirkung*
(KA XIII, 230; Kant KRV A 91) möglich sei. Das haben schon die Ideali-
sten Fichte und Schelling moniert. Aber Schlegel verweist zusätzlich in
diesem Zusammenhang auf die Zeitdimension der Gegenwart, deren An-
schaubarkeit er für eine ebenso unsinnige Abstraktion hält. Wie jede An-
schauung zugleich intellektuell ist, so gibt es auch keine »solche bloß auf
die Gegenwart begründete und beschränkte Vorstellung . . . , wie dies spä-
ter bewiesen werden soll« (KA XIII, 231). So wäre vielleicht die Synthesis
von Sinnlichkeit und Verstand ein Analogon der konkreten Anschauung,
die aus Zukunfts- und Vergangenheitsbewußtsein organisch synthetisiert
ist?
Die Andeutungen, die Schlegel in Hinsicht auf die Lösung dieser Frage
gibt, sind nur Keime einer Theorie der Begriffsbildung aus der Zeit. Aber
die Verknüpfung beider Ebenen ist schon ein Wink.
Zur Synthesis des Begriffs werden nach Schlegel außer Verstand und Sinn-
lichkeit noch »freier Wille, oder die absichtliche und willkürliche Richtung
der Aufmerksamkeit« (a.a.O., 235 f. u. 253 f.) sowie »Gedächtnis«, »Ein-
bildungskraft« und »Antizipation der Zukunft« erfordert. »Ohne das
Vermögen, Vorstellungen, welche unserm Bewußtsein [eben jetzt, da wir
»die Aufmerksamkeit von einem zum andern Teile zu wenden«,] ent-
schwunden, wieder in dasselbe zurückzurufen, würde auch nicht ein ein-
ziger Begriff zustande kommen, der als Ganzes aus Teilen zusammenge-
setzt ist.« Über das »Gedächtnis« ist also die Synthesis der Vergangenheit
verpflichtet; während die Voraussicht der Einbildungskraft die Brücke in
die Zukunft hinüberschlägt. Denn jeder Begriff entsteht aus einer Gegeben-
heit (oder Situation) und wird in einer gewissen Absicht gebildet. »Die
Einbildungskraft ist von der sinnlichen Empfänglichkeit dadurch unter-
schieden«, schreibt Schlegel, »daß ihr die Vorstellungen nicht wie der Sinn-
lichkeit [aus der Vergangenheit] gegeben werden, sondern daß sie solche
ursprünglich hervorbringt und erzeugt, daher denn auch die Einbildungs-
kraft vorzüglich die Vorstellungen des Zukünftigen umfaßt, so wie das
Gedächtnis jene des Vergangenen.« Auch sie ist »zur Bildung des Begriffes
unentbehrlich, denn um die Teile eines Ganzen ordnen und zusammenfas-
sen zu können, müssen wir doch schon einige vorläufige Vorstellungen von
dem Ganzen selbst haben . . . Diese Antizipation dessen, was erst später

82
näher bestimmt werden kann, ist ein Akt der Einbildungskraft, und er hat
viel größern Anteil an der Bildung der Begriffe, als man gewöhnlich vor-
aussetzt« (KA XIII, 236).
In rudimentärer Form ist hier zum erstenmal die reine Synthesis der
Apperzeption als zeitliches Geschehen in dem für Martin Heideggers
Kantdeutung verbindlichen Sinne abgeleitet: es gibt Einheit nur als Zeiti-
gung. Der Begriff der absoluten Identität weist in die Transzendenz des
»Positiven«. Natürlich verrät dieses Konzept gründliche Beschäftigung mit
Kants erster >Deduktion< in der KRV, besonders der Rolle der Zeit
(Reproduktion, Rekognition, Einbildungskraft; bes. A 100 ff.). Schon die
Termini der »erfüllten« im Gegensatz zur »leeren Zeit« wiesen auf Kants
Vorbild (A 143); und es fehlt uns nicht an eigenen Äußerungen Schlegels
zu einer geplanten »Correction seiner [Kants] Ansichten von Raum und
Zeit« (KA XVIII, 568, Nr. 82; 569, Nr. 86; 571, Nr. 109 u. 101; 570,
Nr. $9; dort übrigens das geradezu ausgesprochene Konzept einer »Ablei-
tung . . . der Kategorien aus unserer subjektiven Ansicht von Raum und
Zeit«).
Damit ist auch die abstrakte Gegenwart des Begriffs geleugnet.
Auch der Begriff verweist erinnernd auf eine »gegebne« Vergan-
genheit zurück und deutet ahnungsvoll auf eine Absicht hin (KA
XIII, 246/7). Erinnerung und Ahnung, »diese beiden Bestandteile
unseres Bewußtseins sind es eigentlich«, sagt Schlegel, »welche den
Menschen zum Menschen machen« (a.a.O., 247). Die gegenwartsge-
bundene Anschauung hingegen taugt nicht einmal als differentia
specifica von den Tieren, ja nicht einmal von den toten Dingen
(vgl. KA XIX, 57, Nr. 162; KA XIII 247; weiter siehe a.a.O.,
278 ff.; 291/2; 273 f.).
Schlegels Elimination der Gegenwart aus der Einheit der Zeit
scheint verschiedene Motive zu haben und ist auf vielerlei Weise
deutbar. Wie immer man seine Bestimmungen auffassen will, es
spricht für die Dynamik, mit welcher er sich des Gedankens der
Zeitlichkeit bemächtigte, daß er sich die Zeit als einen gegenwarts-
losen Sturz aus der Vergangenheit in die Zukunft vorstellt.118 Erst
wenn die Zeit sich über ihre Vergangenheit hinwegsetzt und aus der
Zukunft sich ihres Ursprungs rückversichert, ist die Zeit »voll« und
nicht mehr bloßes Gegenbild des Raumes (der simultanen Allgegen-
wärtigkeit).

»Philosophie des Lebens« - Poesie des Lebens

Was Schlegels Denken in Bewegung brachte, war das Erlebnis


eines unvermittelten Widerspruchs im »Leben«. So hat Schlegel den
Inbegriff des subjektiven und objektiven Seins genannt. Als ein
Zeitgenosse Fichtes konnte er diesen Widerspruch nicht mehr als ein
mundanes Ereignis vorstellen. Das Selbstbewußtsein ist der Ort, an

83
welchem alles Seiende mit dem Individuum vermittelt und Gegen-
stand eines Wissens wird. In der Reflexion aber auf das, was sich al-
lezeit im Leben des Selbstbewußtseins ereignet, fühlt das Bewußt-
sein sich aus unverfüglichem Grunde sich selbst überantwortet und
muß sich immer schon voraussetzen, wenn es sich begreift. Aber in-
wiefern es sich als Grund seiner versteht, ist es nicht im gleichen
Sinne Ich, wie wenn es sich als das versteht, was es aktualiter ist.
Ein nur hinzunehmender, unabänderlicher Verlust ist die Bedingung
für die Entfaltung unseres Begriffes »Selbstsein«.
Das Ich findet sich vor als Mangel und als Bestehendes, jener deu-
tet auf das Unendliche, in diesem entdecken wir unsere Endlichkeit.
»Das eigentlich Widersprechende in unserm Ich«, sagt Schlegel, »ist,
daß wir uns zugleich endlich und unendlich fühlen« (KA XII,
335,1). Die Einheit dieser beiden Zustände ist nun zwar das Leben
der Ichheit selbst. Aber diese Einheit ist nicht für das Ich; d. h. es ist
ihm wenigstens unmöglich, sich in einem und demselben Bewußtsein
zugleich seiner Unendlichkeit und seiner Endlichkeit zu versichern;
und beide Bewußtseinsweisen sind nicht nur in zeitlicher, sondern
auch in qualitativer Opposition zueinander (vgl. KA XVIII, 298,
Nr. 1243). Das Sein des Ich wird nie Gegenstand der Reflexion;
und doch ist es, indem es das Sein entbehrt. »Der Mensch [ist]
in dem Einzelnen nicht ganz sondern nur Stückweise da. Der
Mensch kann nie da seyn« (KA XVIII, 506, Nr. 9). Das
An-sich-Sein, welches anzuschauen dem reflexiven Ich versagt
ist, äußert sich ex negativo als »Freiheit«; darin, daß es sich
in seiner Endlichkeit nicht etablieren kann, sondern, ständig über
sich selbst hinausgetrieben, nie in der Identität mit seiner jeweiligen
Befindlichkeit aufgehen kann: Losgelöst von seiner grundlegenden
Vergangenheit, mit deren »Erinnerung« das Licht der Selbstbezie-
hung ihm aufgeht, fühlt sich das Selbstbewußtsein neuen Möglich-
keiten und freier Wahl der Zukunft entgegengeschickt, ohne in einer
Gegenwart sich für immer finden und seine Selbstlosigkeit im Ge-
danken der Koinzidenz mit seinem Selbst überwinden zu können.
Den drei Dimensionen der Zeit entsprechen die Modi der Erinne-
rung, Anschauung und Ahnung. Deren Trias ist nur eine Folge der
wesenhaften »Unangemessenheit« des Wesens an seine Wirklich-
keit. »Die Zeit«, sagt Schlegel, ist die »in Unordnung gerathene (aus
den Fugen gebrachte) Ewigkeit« (KA X, 550), der empirische Aus-
druck ihrer Ortlosigkeit. Als Zeit also offenbart sich der Verlust des
Seins (des ewigen Wesens) im endlichen Ich und perpetuiert sich im
reflexiven Zugriff. Sie ist substantiell eines mit der »Einbildungs-
kraft«, die Ermangeltes und Bestehendes im Ich vermittelt. Das »Er-
greifen seiner selbst im Leben«, d. h. im Fluß des Bewußtseins, wird
dem Ich nur durch die Einbildungskraft möglich, »weil gerade eine

84
schwebende Tätigkeit erfordert wird, um ein durchaus bewegliches,
flüchtiges, flüssiges Wesen aufzufassen, zu ergreifen und nachzubil-
den« (KA XII, 408). In der Einbildungskraft sind Einheit (ohne die
kein Begriff seiner selbst dem Ich entstehen kann) und Fülle dyna-
misch vereinigt. Das Material zu Schlegel: »Philosophie des Lebens«
hatte schon Kants Vernunftkritik erbracht. Aber für Kant war die
transzendentale Synthesis der Apperzeption die Bedingung der Mög-
lichkeit des Gedankens von Einheit und insofern einerlei mit dem
»Ich denke«, welches alle Vorstellungen (insofern sie meine sind)
»muß begleiten können« (KRV, B 132). Danach wäre das Ich im-
mer nur ein Element der Synthesis, und zwar dasjenige, welches,
selbst nichts als eine leere Form, die Einheit stiftet. Aber was ver-
bürgt die Einheit des »Ich denke« selbst? Kant beschreibt das Di-
lemma, in welches das Ich gerät, wenn es sich auf sich selbst anwen-
den, d. h. sich selbst zum Begriff machen wollte: Da es kein »Gege-
benes« ist, kann das Ich den Gedanken der Einheit nicht derart auf
sich selbst wie auf das gegebene Mannigfaltige anwenden. Es dreht
sich im Zirkel um sich selbst (a.a.O., 404). Der Zirkel wiederholt
sich in Fichtes Wissenschaftslehre. Schlegels Konzeption hat das loh
für ein Synthetisiertes erkannt. Es ist nicht länger Bedingung der
Einheit, sondern eine organisierte Struktur: In der Fülle des Ichs
bezeugt sich die Einheit als Kontinuität des Strömens. Das Vermö-
gen der Einigung würde nur Vereinigtes erkennen können. Die Ein-
bildungskraft aber erfaßt Fülle ebenso wie Einheit; sie erfaßt die
unentrinnbare Zeitlichkeit des Lebens. Durch die Einbildungskraft
hat das Ich sich selbst sowohl als Material wie als ein dies Material
Vereinigendes. Es ist nicht mehr leere Form, wie bei Kant, sondern
selbst ein Konkretum, das sich jeder abstrakten Anschauung, die es
als das, was es ist, fixieren will, entzieht: »Das Leben verschwindet
und läßt uns nur die tote leere Hülle zurück; es ist etwas unendlich
Flüssiges, Bewegliches, was hier angeschaut werden soll. Dafür er-
kennt jeder sein Ich« (KA XII, 330). Von hier wird Schlegels schar-
fe Polemik gegen den Begriff der Substanz verständlich. Substanz
ist Dinglichkeit. Das Ding ist bestimmt durch die Eigensdiaft: un-
durchdringliche, opake Identität mit sich selbst: »Wir müssen be-
haupten, daß die Substanz nur eins ist« (KA XII, 41). Dagegen fin-
det sich das Selbstbewußtsein vermöge seiner »inneren Verdoppe-
lung« (a.a.O., 408) stets in einem idealen Abstand von sich selbst,
der es in »Freiheit« gegenüber der eignen Substantialität setzt
(a.a.O. und KA XIII, 5,3). »Freiheit« als »das Wesen des Men-
schen« (a.a.O.) ist an seine in der Endlichkeit sich enthüllende
Selbstgeschiedenheit als notwendige Bedingung derselben restrin-
giert. Das ist ein Grundsatz der Schlegelschen Bewußtseinstheorie.
Die Freiheit wird aber nie Objekt einer Anschauung, sondern be-

85
weist sich nur ex negativo, darin, daß es jener inwendigen »Dupli-
cität« (KA XII, 41) nicht gelingt, als Reflektierendes zumal das
Reflektierte zu sein und umgekehrt. Selbstbewußtsein ist Reflexion
des Ich auf Sich. Beide koinzidieren nicht. Darum ist »die Freiheit
. . . das negative Wesen des Menschen im Gegensatz gegen das
Ding« (KA XIII, 108). Der Oberbegriff für alles substantiell mit
sich Identische ist der »Raum«. In der gesamten Romantik spürt
man eine Polemik gegen diesen Begriff. Der Vielschichtigkeit des
infixiblen »Lebens« ist nur die Zeit angemessen, die den Raum zu-
gleich konstituiert und als ihren »Niederschlag« überschreitet. »Die
Zeit korrespondiert dem Bewußtseyn, der Raum der Substanz. Es
ist also ein Dualismus« (KA XII, 41). Die Zeit ist auf den Raum
als dasjenige, was zu sein ihr selbst verwehrt ist, angewiesen. Der
Raum ist das Abgelebte, das vom Leben Überholte. Was in sich be-
schlossen ist, ist allemal »ein Ding im Raum«.
Daß seine Philosophie den Namen »Philosophie des Lebens« tra-
gen solle, ist als Schlegels letzter Wille zu betrachten. Der Begriff
des Lebens, den ganz unabhängig voneinander Hölderlin, Hegel,
Novalis, Fichte und Schlegel als Ausdruck einer neuen Erfahrung
verwenden, ist bereits konstitutiv in Schlegels Kölner Vorlesungen.
Daß Ichheit als Leben verstanden werden muß, kommt uns nicht
verwunderlich vor. Schlegel aber verwendet diesen Begriff in pole-
mischer Absicht gegen eine Philosophie, welche die ontologischen
Kategorien jener Sprache, in welcher wir über Dinge und ihre Ver-
hältnisse reden, ohne weiteres zur Erforschung der Vermögen und
Qualitäten des Selbstbewußtseins anwendet. Diesen Kategorien
erschließt sich das Phänomen Selbstbewußtsein als eine bevorzugte
Substanz unter anderen. Das Wesen der Subjektivität, daß sie lebt,
sich zu ihrer Welt verhält, daß sie nicht zunächst ist, sondern sich
zeitigt usw., wird dadurch verstellt. Das Selbstbewußtsein hat an-
dere Gesetze als die Welt; und wenn wir diese insgesamt als Ob-
jekt der Erkenntnis betrachten, so ist es sinnvoll zu sagen, daß das
lebendige Ich sich selbst »erlebt«.
Die Entdeckung der extramundanen Eigengesetzlichkeit der Sub-
jektivität ist Fichtes große Leistung gewesen. Jede Erkenntnis von
Welt ist eine Erfahrung zweiter Ordnung, in welcher sich ursprüng-
liche Verhältnisse des Selbstseins bekunden. Wahre Wissensdiaft
selbst soll Lebenszusammenhänge erschließen (KA XIX, 101, Nr.
182). Denn keine Erfahrung von Welt hat einen solchen Grad von
Nähe und Vertrautheit wie die Gewißheit des Ich, die nicht erkannt,
sondern »erlebt« wird und durch deren Lebendigkeit hindurch alles
Seiende erfahren und auf das Lebende zurückbezogen wird. Wenn
Denken gleich die Erfahrung des in der Wirklichkeit Gegebenen auf
den Begriff bringt, so ist doch die Faktizität des Denkens und der

86
Ichheit selbst nicht seinerseits zunächst ein Gedachtes. Das Daß-
überhaupt von Selbstheit, von Unvordenklichkeit und Zeitlichkeit ist
eine Erfahrung a posteriori, die einen »höheren Empirismus« voraus-
setzt. Was da mit uns geschieht, indem wir denken, das kann nicht
seinerseits aus dem Denken abgeleitet, das muß anschauend erlebt
werden. Die Faktizität der Evidenz im Satze »Ich bin mir schlechthin
meiner gewiß« ist eine Erfahrung. »Als ob das Denken selber nicht
eben auch eine Erfahrung wäre«, schreibt Schelling (II, i, 326).
»Man muß wirklich denken, um zu erfahren, daß das Widerspre-
chende nicht zu denken ist« (a.a.O.). U8a Wenn wir Faktizität das-
jenige nennen, was vom reinen Denken nicht mit den ihm immanen-
ten Mitteln hergeleitet, sondern als unvordenklich hingenommen
werden muß (etwa das Sein des Denkens selber), so ist das Gesetz
des Denkens eine Faktizität zweiter Ordnung: Warum muß ich ge-
rade so, warum kann ich nicht auf andere Weise ein Verhältnis »lo-
gisch richtig« und meine Ichheit evident finden? Die immanenten
Denkgesetze sind nicht selbst Folge von Gesetzen des Denkens. »Das
Denken ist also auch eine Erfahrung« (a.a.O.). Und wo immer wo-
mit Mitteln des Denkens zu Ergebnissen gelangen, da sind diese Er-
gebnisse nicht ursprünglich, sondern geschehen auf Anleihe eines Un-
begreiflichen, per hypothesin, der zufolge das Denken in seine Funk-
tionen allererst eingesetzt wird. Ich kann immer hinter das Wie-
Sein zurückfragen und stoße auf eine freie Entscheidung zur Hypo-
these, mit der ich dann weiterforschen kann. Und in diesem Sinne
ist auch das Verständnis der Zeit erschwert. Sie entspringt keiner
Logik des Begriffs, sondern einer Erfahrung des Denkens: »Daß
dem reinen Subjekt nichts vorauszusetzen, wird nicht bewiesen, man
muß es erfahren. Erfahren, sage ich« (a.a.O., 326). »Darthun läßt
sich dieses Faktum nicht«, sagt Novalis, »jeder muß es selbst erfah-
ren« (VI, 528/9, Nr. 21). Schlegel nennt seine »Philosophie des
Lebens« eine »Erfahrungs-Wissenschaft, die nur von Thatsachen aus-
geht und überall auf Tatsachen beruht, wenngleich es in manchen
Fällen allerdings Thatsachen einer höhern Ordnung sind« (KA X,
357/8), die die »negative . . . Vernunft« übersteigen und in einer
»positiven . . . Erkenntnis« gründen (KA XII, 276/7). Ebenso redet
Schlegel von dem »absolut Zufälligen, Indeduciblen«, nämlich dem,
welches »ein Wirkliches wäre das nicht möglich wäre«, als von
einem »rein Empirischen«. »Ist das Setzen eines absolut Zufälligen
nicht der reine, klare Empirismus? —«117 Wenn sich die Vernunft
in ihrem Daß-Sein erfährt, so erfährt118 sie sich allerdings. »Die
Notwendigkeit indessen eines solchen muß aus der Möglichkeit und
Ichheit abgeleitet werden«, um nicht transzendente Spekulation zu
werden (KA XVIII, 31, Nr. 128; Nr. 130; Nr. 132 - Notizen
aus den Jahren 1797/8!). Jede Wahrnehmung einer Wirklichkeit-

87
vor-ihrer Potenz ist ein »Erleben«. So wie Fichte stets aufforderte,
den Akt des Selbstbewußtseins wirklich zu vollziehen und so aus
eigener Erfahrung mit ihm übereinzustimmen - da der Akt dies-
seits aller Begriffskonstruktion liegt119; wer sich weigert, das Phä-
nomen ins Auge zu fassen, mit dem ist über die Prinzipien der
Transzendentalphilosophie nicht weiter zu räsonieren (vgl. KA X,
357, Z. 24-27) -, so ist es eine stehende Wendung Schellings: »Wer
den Prozeß des Lebens, wie er im gegenwärtigen Buche beschrieben,
nicht praktisch erfahren, wird ihn nie begreifen« (WA II, 102). In
einer seiner frühesten Publikationen steht der Satz: »Denn ich bin
der festen Überzeugung, daß von keinem der Vernunft nur nicht
ganz beraubten Menschen je etwas in spekulativen Dingen behaup-
tet worden, wovon sich nicht in der menschlichen Natur selbst
irgendein Grund auffinden ließe« (I, 1, 363, 287). Schlegel motiviert
seine Zeitdarstellung mit den Worten, daß die Zeit »auch in Bezie-
hung auf alles Daseyn und Bewußtseyn jeden irgend nachdenkenden
Menschen so nah angeht und so vielfältig berührt« (KA X, 390),
daß er sich davor nicht verschließen kann. Novalis bestimmt Ro-
mantik als »Studium des Lebens« (IX, 466, Nr. 1073). Er redet von
der »Philosophie des alltäglichen Lebens«. »Das Princip«, sagt er,
»ist in jeder Kleinigkeit . . . des Alltagslebens sichtbar« (II, 291,
Nr. 561). Das kam mit Fichtes Gleichung von Gottheit und Leben
gut überein: »Nichts ist denn Gott, und Gott ist Nichts denn Le-
ben«120 (Fichte XI, 348) (»dein Ich«). Nach dieser Äquivalenz ist die
Formulierung sinnvoll, daß, wenn jedes Bewußtsein Selbstbewußt-
sein ist, es auch Erlebnis sein muß. In jeder Erfahrung geschieht
eine Zueignung« (nach Novalis »das unaufhörliche Geschäft des
Geistes«; VI, 646, Nr. 468). »Romantisiren« ist ja gerade der Nach-
weis einer vollständigen Lebenswirklichkeit der wunderbaren Poe-
sie, die sich in »Kinderstube . . ., Polter- oder Vorrathskammer«
verwirklichen kann (XII, 572, Nr. 113).
Diese Entdeckungen machen den unerhörten Einfluß, den'Fichte
gerade auf die Poesie hatte, anschaulich. Seit der Romantik hat sich
fast jede moderne Kunstrichtung gegen das Prinzip der Natur-
nachahmung erklärt (Hardenberg sprach von der »aufgegebnen
Tendenz, die Natur zu copiren«; XII, 673, Nr. 618). Kunst ist der
Ausdruck der im Selbstbewußtsein erfahrenen und nur zu erfahren-
den Offenbarung des unvordenklichen Grundes und die Transposi-
tion dieser Erfahrung in Worte, Töne, Farben - in jede Form, die
ihr angemessen ist. Da es der unvordenkliche Grund ist, der sich
offenbart, bleibt die Poesie an dessen obersten Ausdruck, die Zeit,
restringiert. Zeitlichsein heißt aber »nie im Sichwissen aufgehen«.121
So schleichen sich »Momente der Ungewißheit« 122 in die Poesie, die
als Wirklidikeit, nicht als poetische Manier oder Pose verstanden

88
sein wollen — nach romantischem Anspruch. »Die Poesie ist das acht
absolut Reelle [vgl. Tieck III, 977/8]. Dies ist der Kern meiner Phi-
losophie« (VI, 647, Nr. 473), schreibt Novalis in programmatischer
Absicht unter Notizen für zukünftige Arbeiten. Und Ludwig Tieck
ist es gewesen, der seine eigene Kunst aus dem »Erlebnis« begrün-
dete, das er mit seinen Freunden teilte: die Erfahrung unverfügli-
chen Selbstseins als Zeitlichkeit. Es wird zu zeigen sein, ob und wie
sich diese Erfahrung im Stil und in der Struktur seiner Dichtung
niederschlägt. Denn nur als Ausdruck, nicht als Beteuerung können
wir sie deuten.
Welche Konsequenzen für eine Poetik zieht Friedrich Schlegel aus
seinem Erlebnis, daß »der Mensch (seinem Wesen nach) nichts Sub-
stantielles« (Schelling; II, 3, 357), sondern »wesentlich ein Leben«
ist (ebd.)? Ironie als ein Stilmerkmal der Poesie und »Verworren-
heit« als Auszeichnung müssen selbst aus einer Erfahrung des »Le-
bens« begründet werden. So geschieht es wirklich.
»Geist«, sagt Schlegel, »besteht aus durchgängigen Widersprü-
chen« (KA XVIII, 36, Nr. 192). Die Menschen sind »ewig sich
selbst fremd« (a.a.O., 150, Nr. 323). Der ideale Abstand von sich
selbst wird in Begleitung desjenigen Bewußtseins wahrgenommen,
daß der Mensch über sein Sein nicht schlechthin verfügen kann, ja
daß er insofern »nicht daseyn kann«. Diese Erfahrung von Fakti-
zität fühlt die Freiheit des Ichs erstarren vor einer unvordenklich
gcsdiehenen, uneinholbaren Vergangenheit, die das Ich zugleich er-
schließt, um überschreitend seiner wirklichen Freiheit innezuwer-
den. Die Freiheit ist ihre Notwendigkeit immer schon gewesen (KA
XII, 408). In der Freiheit ereignet sich allaugenblicklich eine Seins-
entdichtung (Sartre spricht von einer »decompression d'etre«) in
Gestalt einer Flucht des Bewußtseins vor der Koinzidenz mit dem
An-sich-Seienden. Alles, was durch die Selbstgeschiedenheit der
Freiheit als Objekt gesetzt wird, existiert für uns im Modus (unver-
füglichen) Vergangenseins: Von »unserer Vergangenheit sind wir
gleichsam geschieden« (II, 3, 357). Ausdrücklich kennzeichnet
Schlegel unsere »bedingte Freiheit« (a.a.O.) als »negativ«. Vor ihr
wird »alle Wahrheit. . . relativ« (KA XII, 94), die sich als mate-
riale Aussage auf einen Zustand von Welt oder Ich bezieht und des-
sen »Sein« statisch festmachen zu können glaubt, sich darum nicht
»aufs Ganze bezieht* (a.a.O., 78) - das Ganze »symbolisch« »be-
deutend« (a.a.O., 92/3). »Es giebt keine absolute Wahrheit« im
Selbstbewußtsein (ebd. 95); und da alles Bewußtsein von Welt we-
senhaft Selbstbewußtsein ist, auch nicht in der Welt, die durch einen
immanenten Widerspruch undurchsichtig wird (KA XVIII, 123,
Nr. 2; a.a.O., 86, Nr. 673): »Alles widerspricht sich*; und zwar
deshalb, »da überhaupt nichts beharrlich ist« (KA XIII, 18), oder

8P
»weil«, wie Schlegel an anderem Ort schreibt, »es ja überhaupt
nichts als ein unendliches Werden gibt, nirgends ein totes, beharr-
liches Dasein, sondern überall freie, lebendig wirkende Kraft und
Tätigkeit angenommen werden muß« (KA XIII, 280). Es ist ausge-
macht, »daß es gar kein Sein, sondern nur Werden gebe« (KA XII,
349). Wenn Schlegel gleich dieses Werden als eine Folge der Zer-
setzung des Ur-Einen begreift, so bleibt es doch das zuerst Erlebte
und ursprünglich Erfahrene. Wir bleiben bei der durch die Zeit
vermittelten »unendlichen Fülle« stehen — sie hat sogar den Vor-
zug der »Würde« vor der Einheit (KA XII, 401) - , während »die
vollendete Einheit das notwendige, obschon nie erreichbare Ziel
alles Denkens ist« (Brief an A. W. Schlegel, 28. August 1793). Im
Modus der Abwesenheit beunruhigt dieses Ziel unsere Endlichkeit
und versetzt sie in jene »göttliche Unruhe« (KA II, 105), die gött-
lich nur ist um ihrer Tendenz willen. »Wenn wir gleich«, schreibt
Schlegel, »mit uns selbst im Widerspruch zu sein scheinen, so kön-
nen wir uns doch niemals für nichtig halten, da wir unser selbst ja
alle Augenblicke unmittelbar gewiß werden« (KA XII, 334). Diese
unabweisliche Gewißheit verbürgt ja gerade die »Würde« der »un-
endlichen Fülle«, in deren Auszeichnung Schlegel seinen Idealismus
anderen Positionen entgegenstellt. Der transzendente Begriff der
absoluten, alles in allem umfassenden Totalität wird damit jener
»zersetzten Einheit« (KA XVIII, 313, Nr. 1438), die wir im wirk-
lichen konkreten Dasein erfahren, hintangestellt. Näher als die
transzendente Spekulation liegt uns »das im gemeinen Leben ge-
bräuchliche und darum durch die Erfahrung gelehrte Prinzip, daß
das Leben und überhaupt alles auf Widersprüchen beruhe, und
durch Gegensätze bestehe -« (KA XII, 321). Durch diese Preis-
gabe der absoluten Einheit, auf deren Hintergrund sich das Ich zu-
gleich als Verlust seiner (qua Identität) verstehen lernt und als blo-
ßes »Stück von sich selbst* (KA XII, 348 ff.) faßt, ist das Ich nicht
nur der substantiellen Identität verlustig gegangen, sonden erfaßt
das »Bewußtsein« sich als »durchaus chaotisch« (KA XVIII, 461,
Nr. 299). Essentielles und Akzidentelles werden ununterscheidbar.
Wie soll sich das Ich (selbst chaotisch) in einer Welt orientieren, die
kein material Bestimmtes mehr als Grundsatz dulden kann, ohne
daß die zeitliche Freiheit es sogleich wieder vernichten müßte? Wo
alles gleich viel wiegt und ständig ironisch überholt wird, sind alle
Verhältnisse, Dinge und Geisteszustände gleichgültig: »Theoretisch
und artistisch muß sich der Mensch auf jede beliebige Weise stim-
men können« (KA XVIII, 89, Nr. 719). Es gibt keine charakterliche
Substanz. Pluralität ist der Inhalt der Ichheit: »Je mehr Vielseitig-
keit also, desto mehr Selbsterkenntnis« (KA II, 116). Denn »nie-
mand versteht sich selbst, insofern er nur er selbst und nicht zugleich

90
auch ein andrer ist* (KA XVIII, 84, Nr. 651). Dies »unmittelbare
Bewußtsein« seiner selbst ist eine »intellektuelle Anschauung der
Universalität« (a.a.O., 74, Nr. 551). Es erfaßt alle Möglichkeiten
der Person diesseits aktueller Konkretisation in Zuständen und
>mental habits<, charakterlichen Prädispositionen usw., gegen deren
Fixierung Schleges »Polemik« gerichtet ist (a.a.O., 81, Nr. 624;
a.a.O., 2 5 8 / 9 , ^ . 7 8 2 ) .
Die wesenhafte Selbstentzogenheit verunsichert das Ich. Das er-
klärt die hohe Bedeutung, welche Schlegel der »Kategorie Beinahe«
(KA II, 157, Nr. 80) beimißt, die er »in Kants Stammbaum der Ur-
begriffe« »ungern« vermisse und »die doch gewiß ebensoviel ge-
wirkt hat in der Welt, und ebensoviel verdorben, als irgendeine
andre Kategorie«. Mit der Thematisierung der »Wahrscheinlich-
keit« (vgl. KA II, 175/6, Nr. 74) wird auch die Zukünftigkeit des
Ichs als Unverfüglichkeit problematisiert. Das wahrhaft Zukünftige
ist »nur im Geist«, nicht objektiv, wie das Vergangene (KA XVIII,
191, Nr. 775; a.a.O., 181, Nr. 664). Darum ist es sinnvoll, die Zu-
kunft als die »eigentliche Zeit in der Zeit« (Schelling, I, 6, 275) zu
bezeichnen. Das Wahrscheinliche als das, »was wahr scheint«, sagt
Schlegel, »braucht darum auch nicht im kleinsten Grade wahr zu
sein: aber es muß es positiv scheinen«. Denn das als Objekt gesetzte
Wahrscheinliche ist ein »Gegenstand der Klugheit, des Vermögens
unter möglichen Folgen freier Handlungen die wirklichen zu erra-
ten, und etwas durchaus Subjektives«, d. h. ein vom Subjekt Vor-
gestelltes und eben darum seiner echten (problematischen) Zukünf-
tigkeit Beraubtes, welches wir daher mehr »logisch« als zeitlich das
»Mögliche« nennen (KA II, 175/6). Das wahre Beinahe ist das ent-
täuschte »Projekt«, der stete Ausstand über die Erwartung hinaus
und deren ständige Nichteinlösung (KA II, 168/9, Nr. 22).
Von dieser »Kategorie Beinahe« betroffen sind evidentermaßen
alle Modi des Fühlens. In ihnen zeigt sich der Verlust an Selbstge-
wißheit deutlicher: »Weinen und Lächeln«, notiert Schlegel, »haben
Beziehung auf das Organ des Gefühls; es ist ein Oeffnen und Schlie-
ßen, aber beides mit dem Vorgefühl des Gegensatzes« (KA XVIII,
183, Nr. 691), d. h. des antizipierten Umschlags ins Gegenteil. Da-
her die »Mischung des Widersprechenden« im Gefühl. Auf solche
Weise unfähig, sich seines Seins zu vergewissern, ist dem Ich die Un-
gewißheit und die Antizipation des Umschlags offenbar so etwas
wie ein »Grundgefühl«. Schlegel nennt es den »Schrecken« (KA
XVIII, 186, Nr. 725). »Der Mensch«, fügt er hinzu, »ist nur da-
durch Mensch daß er dieses Grundgefühl besitzt.« Unerwartete Fü-
gungen »versteinern« das Ich, indem die Rapidität des Umschlags
alle Bereitschaft, sich einzustellen, zeitlich ereilt. Schlegel kennt die
»Furcht in Manchen Combinationen und Modificationen« (ebd.).

9i
Sie ist die Kehrseite jenes blitzartig zupackenden Kombinations-
vermögens, als welches wir den »Witz« kennenlernten. Schrecken
und Furcht sind Latenzen der Seele: Angst vor dem Überfallenwer-
den von kontingenter Fügung, der die Seele immer offensteht.
Die Infixibilität des substanzlosen Subjekts macht die Unver-
rechenbarkeit und Unregelmäßigkeit seines Lebens aus. Es gibt, sagt
Schlegel, eine poetische »Unergründlichkeit, welche von der Ver-
worrenheit kraftloser und ungeschickter Künstler durchaus verschie-
den ist, welche mit der größten Klarheit bestehen kann, und wie die
Unergründlichkeit der Natur, bloß aus der Unerschöpflichkeit des
innern eignen Lebens entspringt« (KA II, 14).
»Das Leben« ist die Wahrheit der Wirklichkeit und damit zu-
gleich der Kunst und Philosophie. Es ist die Unverständlichkeit
und Verworrenheit des Lebens, des Seienden, welche sich in tiefen
Gedanken und undurchdringbar verworrenen Kunstwerken abspie-
gelt. Denn »auch das Leben ist Fragmentarisch rhapsodisch« (KA
XVIII, 109, Nr. 955), ja »die Confusion« guter Dichtungen »ist
eigentlich treues Bild des Lebens« (ebd., 198, Nr. 21). In solchen
Wendungen stellt sich exemplarisch die Struktur von Schlegels Be-
gründung der Kunst und der Philosophie dar. Er sagt: »Da die
Natur und die Menschheit sich so oft und so schneidend widerspre-
chen, darf die Philosophie es vielleicht nicht vermeiden, dasselbe
zu tun« (KA II, 240, Nr. 397). Ja, »wer Sinn fürs Unendliche hat«,
d. h. fürs Leben, »sagt, wenn er sich entschieden ausdrückt, lauter
Widersprüche« (a.a.O., 243, Nr. 412). Da Schlegel die Poesie als
einen Grundcharakter alles Seienden ohne Ausnahme bestimmt und
die bewußte Poesie des Dichters von der »formlosen und bewußt-
losen Poesie, die sich in der Pflanze regt, im Lichte strahlt, im Kinde
lächelt, in der Blüte der Jugend schimmert, in der liebenden Brust
der Frauen glüht« (KA II, 285), nur graduell, aber nicht hinsicht-
lich des in beiden gleichen Wesens unterscheidet, ist ihm »das ganze
Spiel des Lebens« (a.a.O., 323 - des Lebens! - ) durchaus einerlei
mit dem Spiel der Kunst: »Wir fordern«, sagt er programmatisch,
»daß die Begebenheiten, die Menschen, kurz das ganze Spiel des
Lebens wirklich auch als Spiel genommen und dargestellt sei. Dieses
scheint uns das Wesentlichste« (ebd.). Ganz ähnlich wiederholt
Schlegel: »Alle heiligen Spiele der Kunst sind nur ferne Nachbil-
dungen von dem unendlichen Spiele der Welt, dem ewig sich bilden-
den Kunstwerk« (a.a.O., 324). Im Kunstwerk ist das Unendliche -
analog wie im Selbstbewußtsein - als in die unendliche Fülle zer-
schlagen dargestellt. Deren Ursprung wird allegorisch bedeutet.
»Poesie = Chaos« (KA XVIII, 71, Nr. 509). Undurchsichtigkeit
und Flüchtigkeit sind ihr wesenhaft. Aber das Einzelne ist immer
»nur Zeichen, Mittel zur Anschauung des Ganzen« (KA II, 323).

9'-
Darum muß der Künstler »das Ganze« sagen, selbst wenn er es alle-
gorisch in der »unendlichen Fülle« auszudrücken gezwungen ist.
Denn »nur das Ganze ist real« II, 242, Nr. 445; a.a.O., 179, Nr.
234, Z. 31). So spiegelt jedes einzelne im Leben so gut wie im
Kunstwerk den realen Widerspruch im Ganzen der Schöpfung. Je-
des Einzelne muß sich selbst vernichten, so wie in der Zeit jede Pha-
se von der nächstfolgenden verschlungen wird - um des Unendli-
chen willen. »Jeder Satz, jedes Buch, so sich nicht selbst wider-
spricht, ist unvollständig« (KA XVIII, 83, Nr. 647). »Wo das Gan-
ze reell ist und das einzelne nur im Ganzen* (KA XII, 77,2)> da
ist dasjenige Einzelne, das aus dem organischen Zusammenhang des
Ganzen ausschert, eine abstrakte Realität, die sich selbst durch den
Widerspruch gegen die eigne Partikularität annihilieren muß. Denn
nur »das ist wirklich, was sich aufs Ganze bezieht* (a.a.O., 78). Das
Ganze aber oder das aktuelle Alles-in-Einem ist ein absoluter Wi-
derspruch (vgl. Schlegels Konsequenzen für die Beurteilung von
Kunstwerken, KA II, 135 und 133). Die Ironie des Paradoxen wird
»der heiligste Ernst« (ebd.) für den Künstler. Es gibt eine Ironie
von Wendungen, welche Schlegel besonders an Goethes Stil beob-
achtet und die, »wie es die Gelegenheit gibt, alles oder nichts zu
sagen oder sagen zu wollen scheinen« (a.a.O., 138). Dergleichen ist
stilistisches Ideal.
»Rückkehr ins Unbestimmte« (KA XVIII, 417/8, Nr. 1161) ist die
Tendenz aller Kunstwerke, die sich dem »Leben«, der Wirklichkeit
und des Selbstbewußtseins öffnen und deren Wahrheit gleichsam
unverstellt passieren lassen. Es gibt einen uneinsichtigen Haß gegen
das Fragment und eine erlogene Einheit des Kunstwerks (KA II,
159, Nr. 103). Dem Verdikt gegen das Unvollendete stellt Schlegel
eine Verhöhnung des Klassischen entgegen: »Alle klassischen Dicht-
arten in ihrer strengen Reinheit«, schreibt er, »sind jetzt lächerlich«
(KA II, 154, Nr. 60). Die Ironie ist zugleich die Pflicht aller noch
nicht zum System gelangten Philosophie (KA XVIII, 86, Nr. 678),
die freilich nie ans Ziel gelangen kann. »Die Ironie ist bloß das Sur-
rogat des ins Unendliche gehen sollenden« (KA XVIII, 112,
Nr. 995). Daraus motiviert Schlegel seine »Polemik«, gegen jedes
Unvollständige, das sich als »Substanz« ausgibt und nicht sich selbst
ans Unendliche aufgibt. »Rechtfertigen«, bekennt Schlegel, »kann
ich diesen Glauben hier nicht und diese Polemik, aber ich denke,
meine Philosophie und mein Leben werden es. Hier kann/ ich vor
der Hand nur die absolute Subjektivität all dessen, was sich darauf
bezieht, anerkennen, und Euch selbst die Maxime sagen, die mich
leitete« (KA II, 411/2), nämlich, jede in sich verschlossene, substan-
tialisierte Subjektivität ihrer Verlogenheit zu überführen und metho-
disch zu überwinden. Schlegel, der nicht zufällig die Einheit seines

93
Philosophierens an das Leben, den Prozeß der Entwicklung ver-
weist, bekennt sich ausdrücklich zum Grundsatz des »nomadisch le-
ben[s] in allen Wissenschaften und Künsten« (KA XVIII, 490,
Nr. 189). »Meine Natur nöthigt mich mehr zu dem ersten [als zum
»sich bestimmt ansiedeln in einer Region«]; doch scheint es zu fast
gewissem Unglück zu führen« (a.a.O.).
Man sieht, Schlegel ist weit entfernt, eine »absolute Subjektivi-
tät« in jenem Sinne zu etablieren, der ihm bis heute vorgehalten
wird. Er begründet die Polemik gegen die Substanz aus einem
»höheren Empirismus« des »Lebens«: die Auflösung des Festen
ins Unbestimmte - dies die Tendenz der Kunst - ist in der realen
Widersprüchlichkeit und der »Asystasie« (I, 9, 211 f.; 214 f.) des
Lebens (des erlebten wirklich Seienden) fundiert. Aller romanti-
schen Ästhetik ist diese realistische Fundierungs-Tendenz gemein,
in der sie sich zu Recht auf Fichte beruft. Novalis verweist auf die
Unausdeutbarkeit des »Lebens« als Grund für die Rätselhaftigkeit
der Kunst, noch deutlicher sucht Tieck für die Kunst ein festes »Fun-
dament«, wie er sagt, im »Erlebnis« - worunter er die Ereignisse
des Selbstbewußtseins verstand - ; und Solger bekräftigt ihn dar-
in, daß das Wunder nicht außen zu suchen, sondern nichts anderes
ist, als was wir im gewöhnlichen Leben des Gemütes nur nie hinrei-
chend uns entfremdet haben.
Kunst und Philosophie finden sich auf je eigne Weise unter dem
Anspruch einer Erfahrung, die deren Ausübung unter die Verbind-
lichkeit stellt, angemessen darzustellen. Wird das »Leben« als ein
»Durch alles durchgehen und nichts seyn, nämlich nichts so seyn,
daß es nicht auch anderes seyn könnte« (I, 9, 215) erfahren, so muß
die Darstellung von Leben, in der Philosophie durch ihre genetische
Methode (KA XII, 275), in der Kunst durch die Verzeitlichung des
Stils und der Materie, Rechnung tragen. Denn gerade das Infixible
dünkt dem Gemüt »so bekannt, so vaterländisch« (IX, 283, Nr.
245). Selbst undurchdringlich, kennt sich das Subjekt nur im Un-
durchdringlichen aus. Aber »wer nirgends fremd ist, kann auch nir-
gends ganz angesiedelt sein« (KA II, 95,2; »Freilich ist der nicht
verirrt, der gar keine Straße hat«, Tieck, 10, 83). Die Tendenz aufs
Ganze schlägt um in das Gefühl der Haltlosigkeit inmitten »unend-
licher Fülle«.
Die unregelmäßige Form der Kunst steht für eine Wahrheit, für
die, daß »alles Leben krummlinicht ist« (KA XVIII, 171, Nr. 551).
Daraus erklärt sich die romantische Vorliebe für »unbestimmte Ge-
fühle«, kontingente Fügungen - ihre Vorliebe für die Sprache (de-
ren allegorische Funktion Schlegel früh gewahrte (KA II, 348))
und für die Sprache aller Sprachen, die Musik. Über den (beiden
Medien gemeinsamen) Schall sagt Schlegel: »Er h a t . . . unendlichen

94
Vorzug, insofern er etwas durchaus Bewegliches ist; denn dadurch
entfernt man sich schon einen Schritt weit von der Starrheit und
Unbeweglichkeit des Dings zur Freiheit« (KA XII, 345). Das Ge-
hör ist »der edelste Sinn«. »Er ist als der Sinn für das Bewegliche
durchaus der Freiheit näher verbunden und insoweit mehr geeignet,
uns von der Herrschaft des Dings loszumachen, als alle anderen«
(a.a.O., 346; vgl. KA XIII, 57 f., 217 f.). Die Musik, die ganz zeit-
liche Kunst, entspricht der Flüssigkeit des substanzlosen Ich am be-
sten. Die Eindeutigkeit des dreidimensionalen Raums als Medium
der Kunst verfällt der Polemik. Sie zaubert eine unwahrhaftige
Identität mit sich selbst in die Menschendarstellung. Hingegen ist
unendliche Progressivität das Wesen transitorischer Kunstarten.
Und »Verworrenheit. .., Inconsequenz, Charakterlosigkeit« zählt
Schlegel sehr bezeichnend unter die »Fehler der progreßiven Men-
schen« (KA XVIII, 24, Nr. 66). Im unendlichen Werden gibt's
keine Mitte, um die sich beständige Eigenschaften kristallisieren
könnten, so wenig wie in der Musik Themen eine unzeitliche Be-
harrlidikeit haben können: Totale Durchführung ist ein musikali-
sches Ideal, weil es das Wesen der Musik erst zu sich selbst befreit.
Den Reiz flüchtiger Schönheit, das Zaubrische inkonsistenter
Charaktere spiegelt die Sprache nur unvollkommen. Je freier sie
von der Beharrlichkeit ihrer Inhalte und der Einordnung in ihre
syntaktischen Normen wird, desto angemessener ist sie dem Wesen
des Menschen, der Freiheit. Diejenige Sprache, die »sich alles Kör-
perlichen begibt«, der Musik am meisten sich annähert, wie
A. W. Schlegel über Tiecks Lyrik urteilt, müßte nicht nur einem ab-
strakten und vergänglichen Kunstideal von flüchtigem Reiz gerecht
werden, sondern einen »bedeutenden«, in Schlegels Sinne »allegori-
schen« Aufschluß über das Wesen des Selbstbewußtseins überhaupt
liefern.
Inkonsistenz, Flüchtigkeit, Anmut, Leichtigkeit, »der Gesang,
welcher selbst verhallend nur in der Seele bleibt; und der noch
flüchtigere Tanz« (KA II, 97) sind Ausdruck der Leichtigkeit unse-
rer Seele, die im Innersten nichtig ist. Aber »kein negativer Sinn« ist
ein »reiner Mangel« (KA II, 155, Nr. 69). »Wer es vollends ver-
sucht, dem schönen Gespräch, dieser flüchtigsten aller Schöpfungen
des Genius, durch die Schrift Dauer zu geben«, gibt Schlegel zu be-
denken, »muß eine ungleich größere Gewalt über die Sprache, dieses
unauslernbarste und eigensinnigste aller Werkzeuge besitzen« (KA
II, 97) als der, welcher die leise nur sich andeutende innere Hin-
fälligkeit alles Seienden mit grobem Zugriff in plastische Form ver-
steinert, ihr geheimes Leben tötend. Die Gewahrung unserer inne-
ren Zeitlichkeit und das ihr gleichursprüngliche Gefühl unauflös-
licher Selbstgeschiedenheit sind unlösbar verbunden mit der »Sehn-

95
sucht nach dem Unendlichen« (KA XVIII, 418, Nr. 1168), ohne
welche kein Selbstbewußtsein möglich ist. Sie treibt zum Überstieg
über die stets als Vergangenheit sedierte Substanz und deutet in die-
ser Tendenz ihre »Beziehung aufs Unendliche« an, ohne welche ein
jedes »schlechthin leer und unnütz« sein würde (KA II, 256, Nr. 3).
Es ist der »Sinn für das Unendliche« (a.a.O., 131), der uns auch
über das, woran sich unsere Liebe klammern möchte, uns erheben
heißt (ebd.) und damit der bloßen Zeitlichkeit einen Sinn vorhält,
den die bloße Bewegung des Selbstbewußtseins nicht aus sich selbst
zu schöpfen vermöchte.
Wenn Selbsterkenntnis zugleich Erkenntnis der Infixibilität und
Substanzlosigkeit des Gemütes ist, so eröffnen sich zwei Möglich-
keiten, mit dieser Erfahrung fertig zu werden. Das Subjekt kann
der Leere im eigenen Herzen zu entfliehen suchen und sich selbst,
unwahrhaftig reflektierend, als eine Substanz nach Art der Dinge
begreifen. Es begnügt sich dann an seiner Endlichkeit. Die andere
Möglichkeit ist in dem folgenden Fragment ausgesprochen:

»Hat man nun einmal die Liebhaberei fürs Absolute und kann nicht davon
lassen: so bleibt einem kein Ausweg, als sich selbst immer zu widerspre-
chen, und entgegengesetzte Extreme zu verbinden. Um den Satz des Wider-
spruchs ist es doch unvermeidlich geschehen, und man hat nur die Wahl,
ob man sich dabei leidend verhalten will, oder ob man die Notwendigkeit
durch Anerkennung zur freien Handlung adeln will« (KA II, 164,
Nr. 26).

Es ist die Ironie, die über die annihilierte, gleichsam für alle
Ewigkeit vergangene Universalität, dieses reine Nichts (KA XVIII,
359, Nr. 468), hinaus verweist und die »Hoffnung* (KA XII, 356)
entbindet auf das im Unendlichen sich Verbergende, Unbegreifliche,
das Grund der Zeitlichkeit ist. Als Gegenstand der Hoffnung allein
ist das positive »OVTCOC, OV « uns zeitlichen Wesen erträglich. »Wahr-
lich«, sagt Schlegel, »es würde euch bange werden, wenn die ganze
Welt, wie ihr es fodert, einmal im Ernst durchaus verständlich
würde. Und ist sie selbst diese unendliche Welt nicht durch den
Verstand aus der Unverständlichkeit oder dem Chaos gebildet?«
(KA II, 370). Indem die »Ironie« in Kunst und in Philosophie
»Mislaut« und »Mißverhältnis« im Ganzen des »Lebens«-Zusam-
menhanges aufdeckt, ist sie ein »negativer . . . Beweis gegen die Vor-
sehung und für die Unsterblichkeit«, ist sie als die Chiffre des »La-
byrinths der Unendlichkeit« (KA XVIII, 218, Nr. 293) zugleich die
verborgene Chance eines erhellenden Sinnes. »Der kleinste Mis-
laut«, sagt Schlegel, »ist für den Religiösen eine Beglaubigung der
Ewigkeit« (a.a.O., 213, Nr. 207).

96
KARL WILHELM FERDINAND SOLGER

»Das Problem« von Solgers Philosophie

Wenn Solger »das Problem« (N. S. I, 360) seines Philosophierens


vorstellt, so erscheint schon von der Fragestellung seines Denkens
her schwer begreiflich, wie man fast allgemein einen gewaltigen
Unterschied zwischen seiner und Friedrich Schlegels Konzeption der
Ironie hat finden wollen. Einige abschätzige Äußerungen Solgers
über die Ironie in Schlegels Behandlung hat die Forschung, in Un-
kenntnis ihres wahren Autors, auf Friedrich bezogen1. Sie stehen
aber in einer Rezension von A. W. Schlegels Vorlesungen über dra-
matische Literatur und Kunst, und Wilhelm spricht dort nicht von
einer Ironie im spekulativen Verstände, sondern von einem bei
Shakespeare begegnenden Phänomen 2 . Mit der Bildung eines Nach-
geborenen ausgestattet, hatte Solger es leichter, im frühidealisti-
schen Werk, so wie er es überkam, die Akzente zu setzen, aus einer
Fülle von Entwürfen Wesentliches herauszuheben und Fragestellun-
gen allererst systematisch zu verfolgen. Tieck hat sich immer um
einen Ausgleich der Schlegelschen mit der Solgerschen Position be-
müht; und seine Affinität zu beiden Denkern gibt einen Wink auf
die Identität ihrer Grundanschauung. »Das eigentliche Problem«
von Solgers Hauptwerk, so schreibt dessen Autor an seinen Bruder,
»ist nämlich dies: Wie ist es möglich, daß in einer zeitlichen und als
solche mangelhaften Erscheinung sich ein vollkommenes Wesen of-
fenbaren könne?« (N. S. I, 360). Oder: Wie ist Schönheit möglich?
Denn für Solger ist Schönheit die Identität von Allgemeinem und
Besonderem, wie sie sich im Besonderen darstellt, »als ein Einzel-
nes, . . . [als] endlich und zeitlich«, »und insofern . . . wieder ent-
gegengesetzt dem Ganzen und Allgemeinen« (N. S. II, 451).
Schon hier werden zwei Eigentümlichkeiten des Solgerschen Phi-
losophierens sichtbar. Die eine ist, daß sich sein Denken am Rätsel
des Schönen entzündet. In der Wahl dieses Gegenstandes liegt
keine Beschränkung. Hatte doch schon Schelling gezeigt, daß eine
»Philosophie der Kunst« von der »Philosophie der Natur« und der
Philosophie überhaupt nicht der »Wesenheit«, sondern nur der
»Form* nach unterschieden ist (Philosophie der Kunst, 368):
»Ich construire demnach in der Philosophie der Kunst zunächst nicht die
Kunst als Kunst, als dieses B e s o n d e r e , sondern ich construire das
Universum in der Gestalt der Kunst, und Philosophie der Kunst ist Wis-
senschaft des All in der Form oder Potenz der Kunst* (wonach »Philoso-
phie der Natur« oder »theoretische Philosophie« einerseits und »Ph. der
Geschichte« oder »praktische Philosophie« andererseits die vorangehenden

Bayerische
Staatsbibliothek
München
Potenzen sein würden). »Erst mit diesem Schritt erheben wir uns in An-
sehung dieser Wissenschaft auf das Gebiet einer absoluten Wissenschaft der
Kunst« (a.a.O.; vgl. Solger, V. 47 f.).
Eine andere Eigentümlichkeit von Solgers Philosophie besteht
darin, daß er sich die höchste Einheit ganz parmenideisch vorstellt:
als eine abstrakte Einheit, die jenseits aller relativen Synthesen von
Allgemeinem und Besonderem, Wesen und Zeitlichkeit, Sein und
Nichtsein liegt. Sie darf, auch in bewußter Abhebung von relativer
Synthesis, keinesfalls als »absolute Synthesis« gedacht werden.
Denn in ihr soll gar kein Bezug, keine Reflexion auf sich selbst statt-
haben. Durch Einführung der Relation hätte man das reine Abso-
lute als aus sich herausgetreten vorgestellt und damit allerdings vor-
gestellt. Die absolute »Einerleiheit« (in Opposition zu Schellings
Formel von der »substantiellen Identität« [II, 3, 218; vid. WA II,
124f.; I, 7, 340ff., 421 f.] nennt Solger das Absolute so; N. S. II,
256) ist transzendent. Sie kann nicht erkannt werden, und insofern
wir sie zu erkennen meinen, erkennen wir nur ihre »Offenbarung«
im Selbstbewußtsein (vgl. N. S. II, 140 ff.), darin sie erlebt und er-
fahren wird. Im Selbstbewußtsein aber finden wir nur die reflexive
»Einheit mit sich selbst«2* (a.a.O., 273). Diese Einheit »ist notwen-
dig zugleich Einheit der Entgegengesetzten, oder Gegensatz, wel-
chem die Einheit zum Grunde liegt« (a.a.O.). Der Grund entzieht
sich aber der Einheit, die sich durch den Entzug des Grundes als bloß
relative oder, wie Solger sagt, zeitliche ereignet. In der Formel des
Sich-selbst-Gleichseins liegt für Solger schon ein Gegensatz: Eines
ist nicht unvordenklich es selbst, sondern tritt sich selbst gegenüber in
Relation. Die Einheit des Gegensatzes verwirklicht sich als Gegen-
satz der Einheit. Das rein Absolute, das in der Offenbarung als
Sich-selbst-relativ-Gleichsein sich offenbart und als Einheit gerade
dadurch sich entzieht, »liegt also . . . insofern . . . sich selbst zum
Grunde und besteht vor seiner Äußerung oder der Offenbarung vor-
aus« (a.a.O., 141). Keiner der Idealisten hat so konsequent wie
Solger die Transzendenz des Grundes in eine Theorie des Selbstbe-
wußtseins einverwoben. Das Wissen, auch das sogenannte >absolute
Wissen<, sagt Solger, erhebt sich nur bis zum Satz der Identität. Aber
das Sich-selbst-gleich-Sein ist nur der »Reflex« des Höchsten, dessen
Begriff ohne einen ihn ermöglichenden »Glauben« nicht unserem
Bewußtsein vermittelt werden könnte. Nur der »Glaube« geht über
die als Reflex erscheinende Identität hinaus auf »das Ursprüngliche,
der gesuchten Einheit des Einzelnen und des Ideals [, wie sie in der
Kunst sich manifestiert,] zum Grunde Liegende, das ewig unerreich-
bar Höchste, welches nur in heiliger Scheu angebetet und verehrt
werden kann« (N.S. II, 455). Der Begriff dieses Höchsten entsteht
aus der Negation des Reflexes, aus »Vernichtung des Scheins«

ifcaMkMttMM l
(a.a.O., 168), der wie verbrannte Materie zurückbleibt und vom
Aufleuchten des Blitzes Kunde gibt, dessen Flamme sich ex negativo
darstellt. »In diesem Moment des Vergehens zündet sich das gött-
liche Leben an. Es ist eine Anschauung, die sich selbst aufhebt, an
deren Stelle das Absolute selbst tritt« (a.a.O., 283).
Die Kenntnis dieser beiden Eigentümlichkeiten des Solgerschen
Philosophierens läßt seine »Lösung« »des« Problems seiner Philo-
sophie schon absehen. Das Problem war: »Wie ist es möglich, daß
in einer zeitlichen und als solche mangelhaften Erscheinung sich ein
vollkommenes Wesen offenbaren könne?« (N.S. I, 360). »Die Lö-
sung ist«, antwortet er selbst im gleichen Brief an den Bruder:
»Durch ein vollkommnes Handeln, von einer gewissen bestimmten
Art, welches die Kunst heißt; dieses ist nur in dem Momente, wo
die Idee oder das Wesen die Stelle der Wirklichkeit einnimmt, und
eben dadurch das Wirkliche für sich, die bloße Erscheinung als solche
vernichtet wird. Dies ist der Standpunct der Ironie« (a.a.O.).
Auf diesem Standpunkt wird das Höchste, insofern es wirklich
existiert, nämlich als Reflex seiner selbst, vernichtet. Die Synthesis,
in welcher es sich als Rektum seiner selbst begegnet und zur zeit-
lichen Existenz bringt, hebt sich auf, d. h. das Absolute vernichtet
sein eignes Existieren, um sein Wesen (als Gegensatz der Existenz)
bedeutend anzuspielen. Was Solger dazu gebracht hat, im Reflex
des Existierens den Keim der »Zeitlichkeit« zu suchen und wie sich
Position und Negation in ihrer relativen Synthetizität hinsichtlich
des verborgenen Wesens zueinander verhalten, sollen die folgen-
den Analysen demonstrieren.

Sein und Nichts

In einem seiner bemerkenswertesten Dialoge geht es Solger, we-


nigstens dem Vorgeben nach, um die Überführung eines kritischen
Empiristen, der die Einheit und Allgemeinheit dessen, was die Spra-
che das »Sein« nennt, leugnet und nicht zuzugeben bereit ist, daß
das besondere Mannigfaltige »die bloße Form und Erscheinung
eines Einzigen sey« (N. S. II, 206; Philosophische Gespräche über
Seyn, Nichtseyn und Erkennen). Die Argumentation des Dialogs
soll wenigstens skizziert werden.
Es wird zugestanden, daß wir alle einzelnen seienden Dinge nur
durch ihre Eigenschaften erkennen; denn »die Eiche überhaupt, oder
das Pferd überhaupt hat noch niemand gesehen, sondern immer nur
diese bestimmte Eiche, dieses bestimmte Pferd« (a.a.O., 208). Ge-
lingt es nun zwar leicht, in unserer Einbildung die Eigenschaften der
Röte, der Krummlinigkeit, der Härte usw. von den roten, krum-

99
men, harten Dingen abzulösen und zu allgemeinen »Begriffen von
Eigenschaften« zu abstrahieren, so können wir »die Dinge selbst...
nicht hinwegdenken, oder unter ihnen wählen. Sie selbst sind da,
und durch ihr Daseyn zwingen sie uns sie zu denken« (a.a.O.).
Was berechtigt uns aber zu dieser Behauptung? Sieht es nicht
ganz so aus, als kehre sich vor unseren Augen das Verhältnis vom
Wesen eines Dinges zu seinen Eigenschaften um, indem wir genauer
zusehen? Denn die Dinge unterscheiden sich gar nicht durch ihre
Besonderheiten (die von uns abstrahierten Eigenschaften sowie de-
ren spezifische Konstellation). Diese besonderen Eigenschaften sind
vielmehr das allen Dingen Gemeinsame. Aus den Eigenschaften also
ist »die sich unmittelbar aufdringende und also nothwendige, keines
Beweises fähige und keines Beweises bedürftige Wahrheit« (a.a.O.,
210) nicht zu gewinnen, daß »ein jedes D i n g . . . für sich besteht
und etwas für sich sey« (ebd.).
Auf der Suche nach dem »innersten Kern« (a.a.O., 211) des Din-
ges, nach dem, was im eminenten Sinne sein »Seyn« verbürgt, sto-
ßen wir auf seine Eigenschaften; auf dasjenige, mit welchem das
Sein sich umkleidet und verstellt. »Es mag wohl«, so ist zu vermu-
ten, »blos das Nichtseyn der Dinge seyn, was in unserer Erkenntniß
erscheint« (209). Denn alle spezifischen Eigenschaften, durch deren
Sammlung wir die Individualität eines Dinges einzukreisen bemüht
sind, lösen sich unwillkürlich in Gleichheiten auf, die sich »zuletzt
wohl gar auf eine allgemeine Einheit zurückführen ließen« (211),
die eines seienden Kerns entbehrt; und »diese Gleichheit, worin sich
alle Verschiedenheiten auflösen, sey das wahre Nichts«.3
Wesen oder Sein eines Dinges wird also das sein, »was seine
Merkmale und Eigenschaften nicht sind« (212). Erkennen wir —
wie die Erfahrung uns lehrt — nur allgemeine Eigenschaften, so
muß das Sein unerkennbar bleiben. Gleichwohl »dringt« sich uns
»das Gefühl auf«, hinter den Eigenschaften lauere ein »dunkles,
einfaches und eigenschaftsloses Wesen«, das mit nichts Gemeinsam-
keit aufweist und von nichts sich unterscheiden kann, dennoch aber
die Einzigartigkeit der Individualität verbürgt (214) - das, was
an ihm nicht allgemein ist.
Das ist eine überraschende Umkehrung. Gerade das Sein wollten
wir erkennen und von seiner Verstellung entblößen (215). Nun ent-
decken wir das reine Sein als ein Abstraktum, das sich keinen
Augenblick in sich selbst zu halten vermöchte und sich, wenn wir es
erkennen, schon immer mit bestimmten Eigenschaften bekleidet hat.
Insofern wir es erkennen, ist es nicht, sondern hat sich schon be-
stimmt; und wir vermögen seine Bestimmtheit selbst nur dadurch
vorzustellen, daß wir sie (wenigstens implizit) von derjenigen aller
anderen Dinge unterscheiden, mit der wir sie zumal vergleichen. Je-

100
des Ding ist in seiner konkreten Existenz (Schelling spricht vom
Sich-selbst-Anziehen des Wesens (I, 10, ioo f.)) von den Bestim-
mungen aller anderen Dinge determiniert. »Und dieses Bestimmt-
seyn durch jedes andere« - also die relative Differenz von diesem
und jenem Dinge nach der spezifischen Mischung sonst allgemeiner
Merkmale — »ist sein Nichtseyn: denn seinem Seyn nach ist es we-
der mit etwas gleich, noch von etwas verschieden; da es ja seinem
Seyn nach nicht etwas ist, sondern nur das, was es an sich selbst ist.
Und dieses Nichtseyn«, fährt Solger fort, »wodurch es nicht es
selbst,/ sondern mit jedem andern gleich und verschieden wäre,
wäre sein Erkanntwerden«, die reine Negativität (215/6).
Die Einerleiheit aller Dinge, dem Wesen nach, schließt die exi-
stierende oder verhältnismäßige Differenz also nicht aus (216).
Aber ist nicht die Rede vom reinen Sein, das ist, was es ist, tran-
szendent? Es wäre ein opakes, in sich gründendes und nicht aus sich
heraustretendes Wesen, das sich vor dem Erkennen hartnäckig ver-
schließt. Es läßt sich darum unbedenklich sagen, daß es das reine
Sein nicht gibt oder daß es nicht »existiert«: »Es ist kein Seyn ohne
Nichtseyn«. Erst die Synthesis beider stellt das wirklich-Seiende
her und konstituiert ein »für sich daseyendes Ding« (218). Durch
Applikation der qualitativen Gleichung von Nichtsein und »thäti-
gem Erkennen« (217) kann man auch sagen, jedes bestimmte Ding
sei eine ideal-reale Synthesis aus Sein und Erkennen. »Nur«,
schränkt Solger ein, »nennen wir das an ihm nicht Erkenntniß, weil
es nicht unsre Art der Erkenntniß ist« (217). Man erinnert sich an
den Satz von Novalis: »Alles, was wir denken, denkt selber«, der,
bei Hegel fast wörtlich wiederholt, einen Grundsatz des Idealismus
formuliert: Ein rein Reelles ist nicht denkbar. Sofern wir nur davon
sprechen, haben wir es mit einem in Idealität verschlungenen Re-
ellen zu tun. Nur hinsichtlich der Quanten beider Anteile unter-
scheidet sich die relativ geistlose Materie von dem relativ stofflosen
Bewußtsein; qualitativ sind sie eins.
Nun kann das Nichtsein in den Dingen nicht das Nichtsein des
Seins selber sein, denn dann würde es sich selbst aufheben. »Dieses
Nichtseyn i s t . . . nicht sein eigenes, . . . sondern . . . das Nichtseyn
aller übrigen Dinge. Und blos dieses Nichtseyn aller übrigen Dinge
ist selbst das Erkennen dessen, wovon die Rede war« (218; vgl.
Fichte II, 46,1 unten!).
So wie das erkannte Sein eines bestimmten Dinges zumal das
Nichtsein aller übrigen ist, so stellt sich auch die Synthesis Selbst-
bewußtsein zumal als »das Nichtseyn aller übrigen Dinge« und
»mein Erkennen« dar (219/20). Aber das von Erkenntnis »unab-
hängige Seyn« des Ichs (219) ist ein transcendens und läßt sich nur
durch »die Verneinung meines Erkennens« (a.a.O.), welches an

101
seine eigene »Grenze« stößt, d. h. als ein Grenzwert von An-sidi-
Sein erschließen. Auch das Selbstsein ist eine Negation des Erken-
nens (eine Negation der Negation). Meine Erkenntnis, die hier ne-
giert wird, um dem Sein sich zu öffnen, ist aber zumal nicht das
Sein der übrigen Dinge, und darum negiert die Negation meines
Nichtseins auch das Nichtsein aller übrigen Dinge (218) kraft der
qualitativen Gleichheit alles Nichtseins. Denn Sein und Nichts sind
ausdehnungsgleich, und es ist das Sein, also auch »mein Seyn selbst«,
das »niemals ein Nichtseyn werden, d. h. niemals in das Erkennen
fallen kann« (219). Deutlicher: Weil auch das Nichts ein Allgemei-
nes ist und kein Sein zumal seine eigene Negation sein und doch
existieren kann, ist jedes relative >Seiend-Sein< (Existieren) die re-
lative Negation alles anderen relativen Seins. Ebenso das Selbst-
bewußtsein. Als Affirmation seines Seins ist es Negation seiner Ne-
gation. Es zerschnellt sich. Aber als Affirmation seiner relativen
Existenz ist es Negation nur aller Fremderkenntnis. Gleichwohl
zerstört es auch dadurch, wenngleich nicht für sich, seine Selbstän-
digkeit: denn qualitativ ist sein Sicherkennen ebensowohl Nichts
wie das Element >Erkennen< in allen übrigen Synthesen.4
Wird im Erkennen das unteilbare »Seyn« schlechthin negiert,
gleichgültig, ob es das Sein des Ichs oder aller seienden Dinge ist, so
kann auch das Abstraktum »Nichtseyn« - welches vermöge quali-
tativer Gleichheit »ganz denselben Inhalt« hat (229) - kein dem
einzelnen Ding insonderheit imprägniertes sein. Wenn jedes Erken-
nen und Sich-vor-dem-Seyn-Vernichten-a/s-Erkennen die ganze
Sphäre des Seins erschöpft und uns das Sein nur im Modus des Er-
kennens gegeben ist, so kann die Besonderheit nicht unmittelbar in
der Allgemeinheit des Erkennens gegeben sein, sondern wird erst
erschlossen »aus dem unausweichlichen Gefühl, daß sich das Allge-
meine im Erkennen an gewissen Schranken breche« (223). Die
Schranke wird gefühlt als bestimmtes Ding, welches durch das Er-
kennen seiner Besonderheit entkleidet und zum Allgemeinen hin
»aufgehoben« wird, darin es seiner bloßen Virtualität, seines Nicht-
seins oder »Scheins« überführt wird. Das Nichtsein leugnet ja nie
ein bestimmtes Seiendes, sondern stets das Sein-an-sich und -für-
sich (die radikale, mit sich identische Einheit qua Einzelnheit oder
Besonderheit): So wie die »0« nicht insbesondere die Zahlen 2 und
3 (die ihrerseits nur von den negativen Gegengrößen — 2 und — 3 ne-
giert werden), sondern jede Zahl schlechthin aufhebt, so sind im er-
kennenden Nichtsein »alle Besonderheiten« als »enthalten« vorzu-
stellen, »nur als nichtseyend« (225), nur als Potenzen (als U-Y] SVTCC).
»In den Besonderheiten aber muß ein allgemeines und einziges Seyn
liegen, welches eben durch das allgemeine Nichtseyn verneint wird«
(a.a.O.). Erst aus einer Quantifizierung, die aus den deckungsglei-

102
chen Sphären von Sein und Nichts die relative Synthesis des »Exi-
stirenden« macht, kann also ein wirkliches Verhältnis beider Ab-
strakta entstehen, ohne daß sie sich wechselseitig annihilieren. Denn
»wenn sie . . . neben einander bestehen sollen, so müssen sie gegen-
seitig auf einander bezogen oder gleichsam mit einander vermischt
werden, so daß eins in Bezug auf das andere das Besondere werde«
(229). In der Anwendung der Kategorie der Relation liegt aber der
Keim ihrer Bestimmbarkeit als »zeitlich« Seiender. Keiner der Idea-
listen hat so emphatisch wie Solger von der »Zeitlichkeit« als dem
Inbegriff der endlichen Wirklichkeit gesprochen. Wie hängt Zeit mit
der Relation zusammen?

Das Sein in der Relation - Selbstbewußtsein und Folge

Das Sein, um nicht im Nichtsein völlig ausgelöscht zu werden,


muß sich also limitieren, d. h. sich selbst zum Teil als Nichtsein set-
zen, und zwar »so[,] daß in dem Puncte, wo beide sich scheiden
oder berühren, Seyn und Nichtseyn zugleich bestehe« (231). Aus
einer Urteilung, einer Offenbarung geht also die Differenz beider
hervor (deren transzendentale Bedingung hier noch außer acht ge-
lassen wird). Diese Teilung — hier bedarf es gleich einer Korrek-
tur unserer Fichteanisierenden Formulierung - kann nun nicht vor-
gestellt werden als vom Sein, sondern nur als vom Nichtsein verur-
sacht. Denn »an sich«, sagt Solger, »ist das Seyn . . . vollkommen
sich selbst gleich und darum eben undurchdringlich für das Erken-
nen«. Das Erkennen ist umgekehrt vollkommen penetrabel (sich
selbst lucide), wesenhaft ek-statisch, d. h. über sich selbst hinausge-
setzt, sich selbst ungleich oder, wie Solger auch sagt, von Natur aus
mit sich selbst im Widerstreit, »was nicht bewiesen werden kann,
sondern nur durch das Bewußtsein selbst erfahren wird« (a.a.O.).
Das Bewußtsein ist eine sich selbst durchsichtige, ekstatische Anwe-
senheit-beim-Sein. Wird dies Sein nun quantifiziert vorgestellt, so
kann die Limitation desselben nur von einem solchen Seienden ge-
stiftet werden, das wesenhaft sein eigenes Nichts ist (denn Sein ist
nichts als opake Einerleiheit ohne auch nur virtuelle Transzendenz).
Ein solches Seiendes ist das mit sich selbst zerfallene Bewußtsein,
dessen Identitätsverweigerung ursprünglich »erfahren« wird als die
Unvereinbarkeit zweier Reflexe, die sich abstoßen und zugleich
thematisieren, aber nie zu einer »Einheit mit einem Schlage« gerin-
nen; nie also zu einer Einheit, wie sie das Sein ist.
»Was ist das Bewußtseyn«, schreibt Solger, »als die Thätigkeit, wodurch
man sich selbst erkennt? Erkenntest du nun mit einem Schlage ganz dich
selbst als dir selbst gleich, so wäre das, so zu sagen, Ein Moment; ja es

103
wäre nichts. Denn du höbest dein ganzes Selbsterkennen damit auf, indem
der Erkennende in dir und der Erkannte in dir eins und dasselbe wären,
also gar kein eigentliches Selbsterkennen zu Stande käme« (231).
Der Zustand absoluter Sichselbstgleichheit (den wir sprachlich
nur uneigentlich durch reflexive Wendungen erfassen können) wäre
die Nacht einer abstandslosen simultanen Einerleiheit, die wir we-
der zu denken noch zu imaginieren vermögen, ohne daß wir das Ich
zu sich selbst in Relation setzten. Es wäre diese absolute Identität
der Zustand, »in dem es keine Zeitfortschreitung gäbe« (Novalis)
und den Solger, ähnlich wie Schelling, durch die immer wieder in
solchem Kontext begegnende Wendung »mit Einem Schlage« oder
»in Einem Momente«, >in einem Nichts an Zeitfolge< usw. auszeich-
net. Bewußtsein von Sich kann in dieser transzendenten, allen Be-
griff vernichtenden und versengenden Identität, einem Zustand
ohne Bezug auf sich selbst (d. h. einem im Wortsinne »absoluten«
Zustand) gar nicht stattfinden. »Du mußt also dich selbst zum Theil
auch immer als ein Anderes erkennen«, als eine sich selbst zum Re-
flex (zur Realität) werdende reine Idealität oder »als ein dem Er-
kennen beigemischtes Seyn. So erst kannst du dich/ selbst als ein
Erkanntes fassen und kommst zum wahren«, d. h. zum wirklichen,
empirischen »Bewußtseyn« (a.a.O., 231/2).
Dem in sich verschlossenen, von sich ungeschiedenen Sein kann
nicht im gleichen Sinne ein Nichtsein »beigemischt« sein wie dem
Erkennen ein Sein. Es ist außerhalb aller wirklichen Relation und,
insofern es dem Erkennen gegenübersteht, schon als rein-wesendes-
Sein »in seiner ursprünglichen Einheit mit sich selbst aufgehoben«.
Dagegen besteht das nichtseiende Erkennen auch in seinem reinsten
Wesen, »wie ja das Bewußtseyn lehrt, selbst bloß in jener Spaltung
und Mischung« (a.a.O.). Diese ontologische Differenz, die einer
Dialektik des absoluten Geistes im Wege steht, soll noch deutlicher
werden: Das Sein an sich ist eine undurchdringliche Identität mit
sich selbst; Bewußtsein hingegen Geschiedenheit von sich selbst als
Seiendem, insofern Nichts. Es ist eine nie »in Einem Momente«
gleichzeitig mit sich selbst seiende, gegenwartslose Subjekt-Objekti-
vität, die zwischen ihren Polen hin und her oszilliert, ohne deren
Identität herzustellen. Absolute Koinzidenz gibt es nur im Sein,
dem Transzendenten. Das Bewußtsein fühlt im Innern seiner selbst
einen Riß, eine »Spalte« (232), die es von sich selbst trennt und der
Grund seiner immanenten Reflexivität wird. Die Folge davon ist
seine Selbstlosigkeit oder Zeitlichkeit, die sich darin äußert, daß das
Bewußtsein immer nicht das ist, was es ist (231), weil es stets schon
über sich hinaus ist und von seinem Sein getrennt hat. Es ist aber
nicht nur in sich selbst von sich als Seiendem getrennt, sondern zu-
gleich stets Erkennen-des-Seins; es weist ständig über sich hinaus auf

104
das Sein, vor dem es sich selbst als Erkennen auslöscht; und dieses
Sein muß nicht notwendig sein eigenes, sondern wird gewöhnlich
eher das Sein »der übrigen Dinge« sein. Das Bewußtsein erleidet
einen Mangel an sich selbst qua An-sich-Sein. Es ist Nichts, und nur
das, was es selbst nicht ist, ist das Sein, welches freilich als Sein
auch niemals in der Synthesis Bewußtsein aufscheinen könnte ohne
das Nichts, wodurch es erscheint. Diese Synthesis des Erkennens
hebt in Solgers Philosophie die abstrakten Einseitigkeiten von
Nichts und Sein nicht, wie bei Hegel, in eine substantielle Identität
beider auf, darin sie auf ewige Weise vereinigt werden. Sein und
Nichts koinzidieren nicht. Ihre Verbindung ist die Relation, ihre
Einheit die Zeit.
In genauer Negation (einer undialektischen Negation) zur Zeit-
lichkeit des von sich getrennten Bewußtseins »ist das Seyn aber . . .
an sich vollkommen Eins, und kann eben deshalb in seinem Wesen
niemals erkannt werden, weil es gleichsam dem Erkennen nirgends
eine Lücke oder Spalte läßt, wodurch dasselbe zu ihm eindringen
könnte. Daher nennen wir es ein dunkles Seyn. Es ist wechsellos
[zeitlos] und unerkennbar und hat nichts, wovon es sein eignes Bild
zurückwerfen könnte« (232).*

Die Konstitution des Endlichen als Zeitigung

Indem das »unbedingte Seyn«, selbst weit vor aller Relation und
allem Wechsel, sich dem Erkennen als Material zu Grunde legt6 -
»denn für sich kann es ja kein bloßes Nichtseyn geben« (233) -,
darf es gleichwohl nicht als ein begrenzbares Quantum vorgestellt
werden. Diese Grenze, die jedes Erkennen dem Sein setzt, bleibt
ihm selbst völlig äußerlich wie einer unendlichen Fläche Sektoren
von Lichtreflexen. Wenn das Ich den Schein einer Begrenzung oder
Abschattung aufs Sein projiziert und das Sein selbst scheinbar be-
grenzt, entsteht jenes bekannte Verhältnis der Unangemessenheit des
Wesens an seine Wirklichkeit, gegen die es sich - als absolut-unend-
liches - auflehnt und die es von Stufe zu Stufe aufhebt, um sogleich
wieder in die Fessel der Begrenzung zu fallen, ohne die keine Wirk-
lichkeit bestehen kann. Ohne die Begrenzung eines wesentlich Un-
begrenzbaren wäre keine »Ausdehnung« denkbar, die Solger sich als
lineare Sukzession, nicht zunächst als Raumerfüllungsprozeß vor-
stellt (242).
Das mit sich selbst nicht befangene Sein ist absolute Ruhe. Erst
durch die Unangemessenheit gegenüber dem Nichtsein, gegen welche
es aufbegehrt, schiebt es etappenweise und sukzessiv die »Hem-
mung« (232/3) von sich fort. Das Nichts ist der »bloße Anstoß,

105
welcher das Seyn in seinem Fortschreiten hemmt«, und jeder Punkt
wechselseitiger partieller Gleichgewichtigkeit ist eine relative Syn-
thesis von »Seyn und Nichtseyn« (233), die sogleich vom Sein über-
holt wird. Denn das Sein hat, einmal in die Fesseln der Erkenntnis
geschlagen, die Tendenz, »sich ins Unendliche auszudehnen, um al-
les auszufüllen«. Dadurch entsteht eine, ihrer Endlichkeit unbescha-
det, unendliche Sucht, ein durch Beraubung der aktuellen Totalität
im Sein freigesetztes Fließen, welches jede Grenze mit Notwendig-
keit überströmen muß, weil in keinem Punkte der Zeitreihe das
ganze aktuelle Wesen dargestellt werden kann. Aber eben diese
Verwirklichung seines Wesens ist für das Sein »das was es sein soll«,
um dessentwillen es strebt. »Es schafft daher ins unendliche Nicht-
seyn, und verschlingt eben dasselbe immer wieder durch fortdauern-
des Seyn, um so endlich alles Nichtseyn zu verschlingen und sich
selbst wieder sich selbst gleich zu machen« (234).7 Eine Entdich-
tung, eine Beraubung (oxepTjoi?) des Seins ist der Grund des Flie-
ßens - die Wiederherstellung der Dichte sein Ziel.
Die Tendenz, sich in der Wirklichkeit sich selbst »gleich zu ma-
chen«, verrät Entzweiung. Aber war das reine Sein nicht abolute
Einerleiheit? Gewiß, doch ist diese Einerleiheit eine transzendente
Überwirklichkeit, keine wirkliche Koinzidenz. Auf das reine Sein
hat die Kategorie der Relation gar keine Anwendung; und unsere
Aussage, es sei es selbst, ist uneigentlich. Etwas kann nur als Wirk-
liches sich selbst gleich sein, in der Sphäre des beziehungsweisen
Seins-und-Nichtseins. Das Sein aber ist nicht, es ist nicht real.
Darum, erklärt Solger, hatte auch das überwirklich »sich selbst
Gleiche immer noch außer sich das, welches sich selbst schlechthin
ungleich ist«, die Zeit, »welches niemals es selbst, also nichts ist, das
Nichtseyn«. Das Streben beginnt mit einem unauflöslichen Wider-
spruch, den die endlose Bewegung der Zeitigung austrägt, indem
zugleich verhindert wird, daß das Ewige je zur Existenz gelangt.
Dadurch hat es bei der »nie zu vereinenden Spaltung zwischen dem
Ewigen und Zeitlichen« sein Bewenden (N. S. II, 466).
Daß aber das transzendente Sein die Zeit noch außer sich hat,
wird daraus erschlossen, daß auch die Relation diesseits des Seins
steht. Das Sein ist nicht einmal als das sich selbst Gleiche zu benen-
nen, »denn um dieses zu sagen, müßtest du es sdion wieder mit sich
selbst vergleichen«. Durch diese Vergleichung würde zwar die
Sichselbstgleichheit bestätigt, aber das Sein »als ein doppeltes be-
trachtet« werden (235), welches seinem Wesen widerspricht. Alles
Vergleichen setzt, weil es auf der Ablösung zweier Momente beruht,
die Zeit voraus: Das Sichspiegelnde setzt die Nichtigkeit seiner
selbst als Gespiegelten (Nichtseienden) und vernichtet so seine rela-
tive Indifferenz (sein labiles Gleichgewicht von realer Sich-selbst-

106
Gleichheit), indem es sich selbst als Reflex seiner ständig überschrei-
tet und gleichsam im Rücken läßt. Wahrhaft es selbst sein könnte das
ewige Sein nur durch vollständige Assimilation und Einverleibung
seiner als Reflexes. Aber durch diese Forderung wird das ursprüng-
liche Dilemma nur potenziert: Es müßte schließlich ein Zeitpunkt
kommen, an welchem das Sein mit sich selbst fugenlos zusammen-
schließt: Indem es aber diese Zusammenschließung vollzieht, ver-
nichtet es sich wieder, wie alles nichtig wird, was nur im Abstände
eines Selbstbezugs zu sich existiert (im Wortsinne: >aus sich heraus
steht<). Das Sein kann nie »mit Einem Schlage« sich mit sich ver-
einigen, die Zeitlichkeit gleichsam überspringend; denn nur durch
seine Zeitlichkeit ist es wirklich (236/7). Zeitlich aber ist alles, was,
»sobald es sich selbst gleich ist, . . . auch wieder sich selbst entgegen-
gesetzt« ist (236). Die Zeit ist eine organisierte Struktur, die tren-
nend verbindet und durch In-Beziehung-Setzen trennt und einen
»Prozeß« auslöst, mit dem sie »nie fertig werden« kann (237).
Durch die Verzeitlichung wird die aktuelle Totalität oder die
mit Worten nicht adäquat zu artikulierende Sichselbstgleichheit-
mit-einem-Schlage »ein Unendliches in der Wirklichkeit«. Am ehe-
sten von allen Worten der deutschen Sprache vermag jenes der
»Einerleiheit« die absolute Identität zu bezeichnen (die eine Iden-
tität nicht ist von . . . und von . . . , sondern die zu nichts in auch nur
potentieller Relation steht). Als potenzlose absolute Einerleiheit
kann sie in einer philosophischen Metasprache, wie Schelling sie
vorgeschlagen hat, als A° gekennzeichnet werden. Das einige Sein
verwandelt sich unter dem Zugriff der Reflexion in die Relata Sein
(A') und Nichts (A"). Und wo immer wir vom Sein sprachen,
meinten wir A'. Das, was nicht A' ist, also das, was A" bzw.
(da A" das Gegenteil von A' und A' das Sein ist) das Nichtsein
heißen kann, wird in der »Ausdehnung« von A' gesetzt und ver-
schlungen - und so entsteht die Folge von Vor und Nach, die un-
endliche stufenweise Ausdehnung. Wenn man daran festhält, daß
die Formel des A° eine transzendente, aber unentbehrliche Hilfs-
konstruktion ist, ohne welche sich die extensive Unendlichkeit der
Zeit nicht erklären ließe (im Endlichen, wie Schlegel gezeigt hat,
gibt es kein Prinzip, das Unendlichkeit erklären könnte), - so ließe
sich bildlich die Zeit als immerwährende Explikation des Ewigen
darstellen. Aber nie wird die Einerleiheit des Ewigen wirklich sein.
Denn um wirklich zu sein, müßte sie in Relation zu sich selbst tre-
ten - dieser Widerspruch löste gerade die Zeit aus. Das geschah aber
durch die Vermittlung eines den Reflex konstituierenden Nichtseins,
durch welches sich der »Spalt« schon wieder in die Synthesis einge-
nistet und ihre absolute Einerleiheit in eine sukzessive relative Ein-
heit aufgelöst hat. Die Zeit ist die Wirklichkeit des reinen Seins:

107
»Als Seyn besteht es also nur in jener Entwicklung« (237), durch
welche die Relata getrennt und als getrennte zueinander in Bezie-
hung gesetzt werden.
Den Gegensatz beider hat auch Solger (ohne Schlegels Kölner Vorlesungen
zu kennen) als Widerspruch von Substanz und Freiheit charakterisiert. Die
Trennung beider, versichert er, sei eine Folge ihrer Reflexivität, ohne wel-
che kein Bewußtsein möglich wäre. Bewußtsein ist gleichursprünglich wie
die Zeit: es zeitigt sich. Ohne Bewußtsein ist keine Welt. Durch Negation
des Bewußtseins erschließen wir das »Seyn an sich« als »reine Substanz«
(252), d.h.: als absolute Durchdrungenheit von sich selbst. Wenn wir
davon sprachen, daß das Sein sich tätig ausdehne, so müssen wir nun
modifizieren: Es ist nicht »das Seyn an sich« (das A°), das in die Zeit
eintritt, sondern »das Seyn in der Wirklichkeit« (als »unendliche Thätig-
keit«). Erst in der Selbstoffenbarung als Tätigkeit verzeitlicht sich das
Absolute und gerät in die oszillierende Relation zu sich selbst, die ständig
ihr eigenes Sein gleichsam außerhalb ihrer zu sein hat. »Als Substanz«,
sagt Solger, d. h. als Einerleiheit [A°], »wird das Sein durch die Trennung
seiner selbst [A'] von dem Nichtseyn [A"] . . . gänzlich aufgehoben. Und
als Thätigkeit wird es durch das Nichtseyn überall aufgehoben, wird also
in jedem Puncte Substanz, ist es jedoch nie« (252/3). Der Sturz ins Wer-
den führt aus dem Sein in die Zeit. Die Zeit ist das Schema einer Verwei-
gerung der Koinzidenz mit sich selbst. Als »Spalt« nistet sie sich im Her-
zen des Seins ein und zwingt es, seiend zu werden, statt zu sein-mit-einem-
Schlage. So hat das gespaltene >Gewesen-Werden< immer Zukunft: es wird
sein. Das An-sich-Sein ist in der Dimension der Gegenwart zum Bci-sich-
Sein geworden; ein Zustand, den die Sprache durch die Wendung »Bei-Be-
wußtseyn-Seyn« als Wesen unseres zeitlichen Bewußtseins ausweist.

Die Zeit ist nicht in Wirklichkeit, was sie ihrem Wesen nach, und
sie ist ihrem Wesen nach, was sie nicht in Wirklichkeit ist.
Die bestimmten Stadien oder Etappen der unendlichen Ausdehnung (deren
Produkt auch der Raum ist8) sind die einzelnen Dinge und Organisatio-
nen, die also, recht wörtlich verstanden, Kinder der Zeit sind, gezeitigt
werden. Alle Stadien, Phasen oder Punkte relativer Synthesis [A' = A"]
sind hinsichtlich des in ihnen verkörperten Wesens (A) gleich, so wie sie
hinsichtlich ihres Seins-in-der-Zeit voneinander verschieden sind. Verschie-
denheit ist ja für das Erkennen eine Folge der Anwendung der Relations-
Kategorie. Das verendlichte Wesen (A' in relativer Synthesis mit A",
aber unter Präponderenz von Einheit gesetzt) ist das in der Zeit und ihrer
Trennungstendenz waltende einheitsstiftende Prinzip, das freilich keine Si-
multaneität (wie im absoluten Wesen) mehr zustande bringt, sondern sich
in der Zeit als deren Kontinuität äußert. - Diese aus der »Ausdehung«
sedierte »Reihe«, als welche die ganze sukzessive Organisation der Natur-
und Geschichtswelt zu begreifen ist, wahrt die vergleichsweise (d. h. »rela-
tive«) Besonderheit aller ihrer Potenzen und Etappen durch einen je eige-
nen »Grad des Nichtseyns« (im gleichen Sinne sprach Schlegel von einem
»Grad der Ironie«), an welchem sich der Strom von Organisation und

108
Auflösung, alle selbstgesetzten Schranken überflutend, bricht. Notwendig
wird im Verlauf der Assimilation ein immer größeres Quantum von Sein
(A') von Nichtsein (A") absorbiert werden (vgl. 242/3).
Wenn die Zeit als der Inbegriff des Wirklichen abgeleitet werden
konnte, so fragt sich, ob sich in Solgers Konstruktion auch der Satz
einfüge, d a ß jedes Erkennen des Besonderen zugleich ein Vernichten
alles übrigen Seienden ist. L ä ß t sich die Erkennbarkeit der positiven
Einzelheit aus der unendlichen Ausdehnung erklärbar machen?
Tatsächlich greift Solgers Dialog die Eingangsthese wieder auf und
läßt sie auf der Folie einer neugewonnenen Begrifflichkeit dis-
kutieren.
Die Zeit ist das »Interstitium« (11,3, 3°6) zwischen Sein und Nichts, beide
zugleich auseinanderhaltend und synthetisierend (242). Nur vom Sein
kann sie beginnen (wie sollte sie aus Nichts entstehen?), nur vom Nicht-
sein aus in jedem Punkte ihrer Ausdehnung gehemmt und reflektiert wer-
den. Aus dem Sein schöpft die Ausdehnung ihren Inhalt. Von Seiten des
Nichts wird dieser (formlos-unendliche) Inhalt Punkt für Punkt und
Phase für Phase gestaltet, begrenzt und zurückgedrängt, um sich - infolge
der wesensmäßigen Unangemessenheit jeder Schranke an die Tätigkeit -
weiter auszubreiten. »Das Seyn ist allemal ein neuer Fortschrittspunct«
(243); und jedes der Stadien ist hinsichtlich der relativen Synthesis, als
welche es aus dem Wesen gezeitigt wird, ein besonderes Sein (ein Seiendes
also, ein Zustand des »Gleichgewichtes« von Tätigkeit und Repulsion).
Jede Phase der Ausdehnung kann also zu jeder anderen Phase in Verglei-
chung treten, weil in jeder das Sein auf andere Weise fortgeschritten ist
und eine differentia speeifica ermöglicht, die aus der Allgemeinheit des
Erkennens nicht erklärt werden könnte: alle Eigenschaften sind allgemein
und reichen nicht zu, ein positives Dieses, eine unverwechselbare Besonder-
heit auszuzeichnen. Denn das Erkennen ist »das, was jenes« - das Sein -
»nicht ist« (242). Nun sind alle Eigenschaften entweder räumlich oder
analog zum Räume strukturiert: insofern sie mit sich selbst, ihrer Aus-
gedehntheit unbeschadet, koinzidieren. Also wird die Besonderheit und
Einmaligkeit einer Phase der Ausdehnung nur aus der Zeit erklärt werden
können.
A sei eine Phase der unendlichen Reihe. Inwiefern ist alles übrige Seiende
»zugleich in ihm«und durch seine Besonderheit ausgeschlossen? Das letz-
tere leuchtet von selbst ein: A ist A nur, weil es nicht B, C, D, E usw. ist:
Es bedarf eines Kontextes, den es verneint, um sich selbst zu affirmieren.
Zugleich aber ist die Reihe »in ihm«, indem sie qualitativ mit dem eignen
Nichtsein oder Erkennen identisch ist oder »indem«, wie Solger sagt, »es
[das Sein der Reihe] sein [dieses Besonderen] gesammtes Nichtseyn oder
Erkennen ausmacht. Wir können also allerdings sagen, dieses übrige Seyn
außer ihm bilde sich in dem Erkennen in ihm ab« (244). Diese Abbildung
ist ein Reflex, der hinsichtlich seines wahren positiven Seins seine eigne
Spiegelbildlichkeit zugleich negiert.
Die Ausdehnungsphase >A< ist also ebenso nichtig wie die ganze Reihe,
in der sie integriert ist, wird aber ein »positives Nichts« dadurch, daß in

109
einem unendlich kurzen Zeitraum die ganze übrige Reihe vor ihr in rela-
tive Nichtigkeit versinkt und ihre eigne Besonderheit herausstellt. Das
positive Sein in >A<, das sich als Sein nicht offenbaren kann, wird erfahr-
bar nur durch die Negation der Nichtigkeit der Reihe, die es kontrastie-
rend herausstellt und erkennen läßt. (Daher die stete, gleichsam mitwan-
dernde Gegenwärtigkeit jedes Bewußtseins.) Das Sein eines jeden Seienden
ist das Sein des unteilbaren und in der Sphäre der Endlichkeit als Ein-
heitskraft sich äußernden Wesens, das, weil es gar nicht teilbar ist und gar
nicht erscheint (auch nicht als Besonderes zu kennzeichnen ist, da Beson-
derheit ein Relationsbegriff ist), das identische »Seyn aller besonderen
Dinge [ist], welche nothwendig hier als besondere gedacht werden müssen,
da sie ja gerade eine Reihe ausmachen, in der A ein Glied ist« (245).
Anders gesagt: Indem A als Besonderes und als seiend gedacht werden
soll, wird ihm alle Möglichkeit entzogen, sich »auf sich selbst [zu] beziehen«
(248); denn an-sich-seiend ist es nur diesseits alles Erkennens und der mit
dem Erkennen mitgesetzten Relation. Es ist nur, insofern die Reflexion,
die es auf die Reihe bezieht und es damit als es selber setzt, sich negiert.
Diese eigensinnige Insichverschlossenheit und schlechthinnige Unvermittel-
barkeit des Seins (A°) ist ein Merkmal des Solgerschen Idealismus: »An
sich«, betont er, »ist allein jene reine Einerleiheit« (256). Insofern sie allein
ist, muß alles Wirkliche als Schein bezeichnet werden. Die Frage ist: »Wie
kann A sich selbst erkennen, wenn es an sich reines Seyn und das Erkennen
blos das mit ihm verknüpfte Nichtseyn ist?« (248). Die Besonderheit als
ein Inhalt des Bewußtseins ist selbst ein Nichtseiendes. Das Sein ist also
nichts Besonderes. Und wenn wir Besonderes wahrnehmen, so nur als
Reflex im allgemeinen Nichts: »Sein eignes Seyn spiegelt sich also vermit-
telst des Nichtseyns der übrigen Dinge in dem Nichtseyn, und nicht es
selbst wird erkannt, sondern erst sein Abglanz durch die anderen Dinge«
(249). Das Sein existiert also nie anders denn als Reflex eines Reflexes, als
ein zurückgewiesener Schein. Das »Erkennen des Erkennens« (245) als des
Nichtseins eigentümlicher Charakter ist immer nicht, was es zu sein meint:
Indem es das Besondere erkennt, ist es nicht; und es ist Besonderes nur,
wenn es sich nicht erkennt. Jede Erkenntis als ein Außer-sich-Sein-beim-
Sein ist zugleich Auflösung des besonderen Gegenstandes ins Allgemeine
(d. h. Vernichtung desselben), Aufhebung des Seins (auch des eigenen) und
Aufhebung der Aufhebung, Reflex desjenigen Reflexes, in welchem das
Sein vernichtet wurde; »und so erreicht das Seyn die Wiedervereinigung
mit sich selbst schon in jedem Puncte des Nichtseyns, aber immer nur ver-
mittelst des Besonderen« (249). D. h. das an sich seiende A erkennt wirk-
lich sich, aber nie als sich; und wenn es sich als sich erfährt, so täuscht es
sich, so gewiß es sich erkennt. Das Sich ist der Reflex, der im Erkennen
des Erkennens das in Nichtsein verlorene Sein wieder aus dem Nichtsein
entläßt und >zurechtspiegelt<, ohne daß es wirklich ist. Die relative Indif-
ferenz des punktuellen »Gleichgewichtes . . . von Seyn und Nichtseyn«
(248) wird damit transparent für das absolute In-sich-Sein. A° wird in
A' = A" transparent oder: Die absolute, transzendente (nur als Reflex

eines Reflexes artikulierbare) Identität von Sein und Nichts (—^-2.) wird
o

HO
gespiegelt als Gleichgewicht von S und N, abwechselnd unter dem Expo-
nenten des Seins und des Nichtseins, je nach dem »Grad« von Realität
oder Idealität. Und erst diese wirklichen, seienden Kontrahenten: die
Synthesis >Erkennen< und die Synthesis >Sein< sind Gegenstände philoso-
phischer Reflexion und Stufen von Selbstbewußtsein." Es läßt sich zwar
mit einigem Sinn behaupten, die Synthesen Geist und Natur seien substan-
tiell identisch. Aber das Paradox bleibt bestehen, daß die in beiden syn-
thetisierten Elemente Sein und Nichts einander schlechthin abstoßen und
ewig unvereinbar sind.

Die absolute Differenz von Ewigkeit und Zeitlichkeit

Wenn das Absolute sich selbst verzeitlicht und zu existieren be-


ginnt, trennen sich Sein und Nichts als Reflexe des Unreinen vonein-
ander, die sich wechselseitig bestimmen: Gegenüber dem Nichts ist
das Sein Tätigkeit, das Nichtsein gegenüber dem Sein Grenze. Zu-
gleich mit der Trennung untereinander müssen Sein und Nichts vom
Absoluten unterschieden werden, das so wenig reine Tätigkeit (A')
wie negierende Tätigkeit (A") ist. Die beiden Tätigkeiten sind zu
Synthesen zusammengeschmolzen, indem jedes Abstraktum bei sei-
nem Kontrahenten soviel borgt, wie ihm zu seiner zeitlichen Exi-
stenz unentbehrlich ist. Nur wenn es ein Commercium mit dem
Nichts eingeht, ist das Sein, und das entsprechende gilt für das
Nichts, das als reines Nichts bloß abstrakte Grenze schlechthin
wäre. In der relativen Synthesis mit dem Sein wird sie »ein seyen-
des Nichtseyn, und nur dieses seyende Nichtseyn ist das Erkennen«
oder das Ideelle. Entsprechend ist »nur das in der Wirklichkeit sich
bewegende Seyn objektives [d. h. mit Nichtsein vermischtes] Seyn«
(253)-
Nur als überwirkliche Abstrakta sind Sein und Nichts entgegen-
gesetzt. Aber jedes wirkliche, zeitliche Sein ist versdilungen ins Er-
kennen, jedes wirkliche Erkennen ist verschlungen ins Sein. Kein
Sein ohne Erkennen sowie kein Erkennen ohne Sein. Es »gibt« Sein
und Nichts nur als synthetische Realitäten, d. h. nur in den Formen
»objectives Seyn«, »begrenztes Seyn«, »seyendes Erkennen«, »sey-
endes Nichtseyn«, »begrenzendes Seyn« usw. Für die Philosophie ist
es darum gleichgültig, ob sie die Synthesis in der Sphäre des Seins,
oder, wie im »Fichtischen Urerkennen«, in der ideellen Sphäre auf-
sucht. Und zwar ist die Wahl der Sphären darum gleichgültig, weil
beide zeitlich strukturiert sind, d. h. weil beide »sich selbst gleich«
nur sind, inwiefern sie »sich selbst entgegengesetzt« sind (254/5).
Die Identität des Erkennens erlebt sich als Erkennen-in-Relation-
auf-ein-»Nichterkennen« (254), ohne welches Relatum es nicht sich

in
erkennen und zu sich in Beziehung sein könnte; das entsprechende
gilt für das Sein, das Sein nur ist, weil ihm das Nichtsein ein Fun-
dament schafft. Eine Philosophie, die mit dem Selbstbewußtsein be-
ginnt, um das Sein auszuklammern, verlegt das itpcoxov cj;eüoo?
schon ins Prinzip: Das Sicherkennen ist ein Erkennen des Seins,
welches das Erkennen »nicht ist« und zugleich negiert.
S= N
Was aber, fragt Solger, ist jenes rätselhafte A° oder (— ),

»das, welches weder Erkennen noch Seyn ist,/ sondern zwischen


beiden, das Gleiche in beiden, weder das Eine, noch doch [sie!]
Anderes und doch jedes von beiden« ist (255/6)? Es ist jenes »An-
sich-Seyn«, ein Begriff, der nur durch Negation des verendlichten
Seins entsteht. Im Gegensatz zu Schelling bestimmt es Solger nicht
als »substantielle Identität« (Schelling II, 3, 218; WA II, 124 ff.; I,
7, 340 f.), sondern - wogegen sich Schelling (a.a.O.) ausdrücklich
verwahrt - als »reine Einerleiheit« (256), deren Wesen sich selbst
zerstören muß, da ihre abstrakten Constituentia, aller Wirklichkeit
und Selbständigkeit entblößt, einander schlechthin aufheben. »Die
beiden«, erklärt Solger, »sind also keineswegs der Grund dieser
Einheit, sondern diese ist nur ihr eigner Grund«. Wie dringt aber
die Zeit und mit ihr der Gegensatz zweier selbständig Seiender in
die Einheit ein?
Dadurch, antwortet Solger, daß sie sich auf keine andere Weise
artikulieren kann als durch die Formel vom »zugleich Erkennen und
zugleich Seyn« (257). Die in dieser Formel ausgesprochene Sich-
selbstgleichheit durch Relation mit sidi selbst bedeutet aber eine
Synthesis, die »sich selbst ins Unendliche entgegengesetzt« ist. So-
bald wir vom Wesen als der Einheit mit sich selber reden (und nicht
anders reden können, vgl. 251), haben wir das Wesen schon als ein
Nichtseiendes erfaßt, dessen Reinheit sich entzogen und die endliche
Synthesis der zeitlichen Selbstvermittlung als Schatten seiner und
doch als einzig uns faßbare Realität zurückgelassen hat.
Das Absolute hat sich also, wo immer wir davon sprechen, schon
offenbart. Und diese »Selbstoffenbarung«10, in welcher es sein An-
sich-Sein verbirgt, ist nicht das Absolute selbst, sondern seine
»Form«, die ihm als wirklichem notwendig inhäriert und die Solger
als die »Erkenntniß dieser reinen Einheit, das ist eine Erkenntnis
des Sichselbstgleichseyns« (258) bezeichnet. Wir täuschen uns, wenn
wir den Reflex des Sichselbstgleichseins als eine Darstellung zeitloser
Gleichzeitigkeit der Relata denken. Gerade die Identität ist der
höchste Widerspruch. Damit wird das Absolute in eine unerreich-
liche Transzendenz gesteigert, unsere Wirklichkeit aber an die
»Zeitlichkeit« restringiert: »Ist es [das Absolute] aber unendlicher

112
Gegensatz, so ist es auch nicht mehr vollkommene Einerleiheit und
kann dies auch nie wieder werden, weil das Unendliche nicht zu
vollenden ist« (261). Das Schema dieser unvollendbaren Bewegung
ist in der Zeit gezeichnet.
Alle gezeitigten Synthesen stehen in »wesentlichem Unterschied«
zum absoluten Sein. Dieser Unterschied wird auch dadurch nicht be-
seitigt, daß die Einbildungskraft eine sich im Unendlichen totlau-
fende Zeit vorstellt, die die unendlich vielen endlichen Synthesen
und Phasen in einem All versinken läßt. Denn dieses All »aller
Verschiedenheiten« ist selbst zeitlich und wird als extensive Unend-
lichkeit nie »zum Ziele gelangen«. Gehört »zum Wesen dieser Ver-
schiedenheit die Unendlichkeit«, so wird kein Zeitpunkt kommen,
in welchem diese Unendlichkeit je ausgefüllt sein könnte. Das
Ganze schwebt der Zeit im Modus der Abwesenheit vor. Das Zeit-
liche ist »Mangel«, ein »Hunger nach Seyn« (II, 1, 294)11, ein Leer-
lauf, der sich zu komplettieren trachtet. Insofern in der Zeit das
Ewige selbst verzeitlicht ist und existiert, ist es selbst, gleichsam mit
Haut und Haar, in die Fluten der Zeit versunken und Gegensatz
des Ewigen geworden; aber es bekundet seinen Ursprung durch die
Tendenz, die es im Endlichen auslöst: Jeder Augenblick der Zeit
ist eine Negation, in welcher das Ewige als Grund der Zeit geof-
fenbart wird. Indem Gezeitigtes der Vergangenheit anheimfällt
und im Vergehen das in die Zeit verschlungene ewige Sein mit ver-
sinkt, gleichwohl aber ein Fortschritt über die Vergangenheit sieg-
reich sich erhebt, macht sich das in keine Synthesis einbringbare, un-
erschöpfliche Wesen ex negativo geltend. Die Erfahrung, daß un-
endliches Vergehen des Endlichen transparent werden kann für das
in ihm waltende Zeitlose, führt auf die Anschauung der Ironie.
Inwiefern Solger in ihr wirklich »das ganze Wesen der Kunst«
(Erwin II, 277) begreift — wobei wir uns erinnern wollen, daß die
Kunst das geoffenbarte Absolute selbst ist, nur unter einer bestimm-
ten Hinsicht -, das wird verständlicher aus Solgers Analyse des ab-
soluten Selbstbewußtseins. Das Selbstbewußtsein ist im bevorzugten
Sinne der Ort einer ironischen Wechselvernichtung und -bedeutung
von Wesen und Zeitlichkeit.

Die Ironie der Unangemessenheit von Wesen u n d Sein


im absoluten Selbstbewußtsein

Das Selbstbewußtsein ist nicht exklusive Möglichkeit der mensch-


lichen Wirklichkeit, sondern Grundstruktur alles Seienden als Syn-
thesis von Wesen und Wirklichkeit. Zum Bewußtsein ihrer selbst
gelangt diese Synthesis allerdings erst im Menschen. Die philoso-

"3
phische Analyse hat die Elemente der Synthesis, die nie gesondert
auftreten, künstlich zu zerlegen, um das Geschehen der Synthesis
selbst erklären zu können.
Diese Elemente sind das An-sich- und das Für-sich-Sein, »das
Ewige und das Zeitliche«, zwischen denen eine »nie zu vereinende
Spaltung« besteht (N.S. II, 466). Das reine Wesen, sagt Solger,
läßt »in sich nichts Besonderes und Wirkliches hervortreten« (a.a.O.,
730); in ihm ist »der Schöpfer und das Erschaffene ganz Eins« und
»mit Einem Schlage zugleich da« (Erwin, I, 245). Als »das reine
Seyn, das dem wirklichen Daseyn zuvorging, und nur durch sein
Gegentheil ausgesprochen werden kann« (N. S. II, 730), hat es eine
problematische, hypothetische Wirklichkeit. Es ist nicht, sondern
gibt sich im Sein als unentbehrliche Voraussetzung desselben zu er-
kennen. So sinnvoll es ist zu sagen, im Absoluten sei »keine Zeit-
folge« (Erwin, I, 247), so sinnvoll ist der Satz, daß es das Absolute
»nicht gibt«.12 Denn allem, dem wir Sein und Existenz zusprechen
können, sprechen wir damit das Attribut »zeitlicher Nichtigkeit«
(N.S. II, 541) zu. Das, was wir Sein nennen, entbehrt gerade des
zeitlosen »An-sich-Seyns«: »Das Nichts oder das bloße Werden«
sind Synonyma.
Wenn das Faktum erklärt werden soll, daß wir in der zeitlichen
Reflexion das Ich schon vorfinden und nun thetisch setzen, muß
von dieser »gemeinen Erkenntniß«, die ihren Stoff voraussetzt, die
»höhere Erkenntniß« (N.S. II, 167) unterschieden werden, vermöge
deren das Selbst sich schon als Selbst erfaßt haben muß, um in der
Reflexion sich finden zu können.

Jede bestimmte Erkenntnis von etwas ist meine Erkenntnis oder: in der
gemeinen, relativen Erkenntnis ist das Ich endlicherweise, nämlich über
das Sein von Objekten, mit sich selbst vermittelt. Durch »bloße Folge der
Reflexion« (a.a.O., 114) kann ich jedes Objekt als begleitet von der Vor-
stellung »Ich denke es« zum Bewußtsein bringen. Diese Erfahrung, die die
Reflexion mit sich selber macht, läßt sich auch so darstellen: Um Bewußt-
sein von Dingen außer mir zu haben, bedarf es des mit der Ichheit identi-
schen Denkens und Vorstellens, auch dann, wenn das Ich sich selbst thema-
tisiert. Das Ich muß also schon da sein. Es findet sich als Grund der Mög-
lichkeit jeder Erkenntnis, die zwischen dem Ich und seinem Relatum eine
Brücke sdilägt, immer schon vor, sobald es sich auf sein aktives Bewußt-
sein zurückbeugt. Durch dies Zurückbeugen versichert es sich zwar seiner
selbst, muß aber einerseits dies bereits selbstbewußte Ich immer schon vor-
aussetzen, andererseits selbst als Gegenstand der Anschauung setzen; das
Ich wird Ding: »So nehmen wir also allezeit in diesen Thätigkeiten uns
selbst wahr. Da aber dieses Ich in denselben immer nur wirklich enthalten
ist, insofern es an allen diesen Bestimmungen und Beziehungen Theil
nimmt und davon modificirt wird; so kann es sich auch selbst nur erschei-
nen als ein zufällig existirendes Ding, das sein eigenes Daseyn nur wahr-

114
nimmt, weil es einmal da ist, das aber doch die unendliche Möglichkeit
einer Existenz überhaupt in sich hat« (a.a.O., 78).
Die Reflexion ist Selbstfindung. Indem sie sich auf sich zurück-
beugt und Ich findet, muß Ich schon sein und seiner selbst bewußt
sein; denn sonst könnte die Reflexion nicht wissen, daß Ich es ist,
was sie thematisiert. Ein Sichhaben ohne Reflexion geht ihr also
voraus.
Die Notwendigkeit, sich nur aus sich selbst herleiten zu können,
ist im und für das Selbstbewußtsein mit der Einsicht verbunden,
daß der Grund seiner schon vorausgesetzt werden muß, wenn das
Ich reflektiert, d. h. eine Relation von der Art: Bewußtsein-von-
einem-Sein herstellt. Dieses Faktum vermag nur das »höhere Selbst-
bewußtseyn« zu erklären. 13
Es muß ein Bewußtsein sein, welches ohne Reflexion ein Wissen
des Grundes zustande bringt und darin vom »gemeinen Bewußtsein«
verschieden ist. Dieses ist »immer in bestimmte Gedankenverbin-
dungen verflochten« (a.a.O., 78), hat also die Struktur des Außer-
sich-Seins-beim-Sein14, mit dem es nicht koinzidiert, das aber the-
tisch gesetzt wird. Dagegen muß das höhere Bewußtsein das in je-
der gemeinen Reflexion vorausgesetzte und nur wiederholte Selbst-
sein konstituieren. Solger nennt die unvordenkliche »Einheit des
Allgemeinen und Besonderen, und also auch Einheit der Form und
des Stoffes« (a.a.O., 91), die »Idee«.15 Die Idee ist die Einerleiheit
der im reflexiven Bewußtsein auseinandertretenden Momente. Das
Problem ist: Wie kann der transzendente Grund oder das Wesen
sich im reflexiven, zeitlichen Selbstbewußtsein derart ereignet ha-
ben, daß die Reflexion auf das absolut Subjektive um dessen Ich-
heit immer schon weiß? Wenn Wissen gerade darin besteht, daß
sie Wissendes und Gewußtes in »Relation« setzt (a.a.O., 105), dann
ist ein erkennendes Wissen des Ureinen ausgeschlossen. Die Idee
kann also sich selbst nicht wissen, sondern, wie Solger sagt, nur
glauben. Als das Bewußtsein der Offenbarung des Wesens im zeit-
lich-relativen Bewußtsein ist der Glaube »das Klarste und Gewisse-
ste in unserer gesammten Erkenntniß« (a.a.O. 98). Denn ohne
Glauben, ohne präreflexives Selbstsein ist keine Reflexion, ohne
schon wirkliche Ichheit kein Selbstbewußtsein, ohne Absolutes keine
Relation und ohne substantielle, die Differenz durchstehende Ein-
heit kein Verfließen der Zeit möglich und denkbar.
Die wirkliche, konkrete »Erkenntniß«, durch welche wir uns in
der Welt orientieren, setzt also Glauben und Reflexion voraus, je-
nen als ihren Stoff, diese als ihre Form, jenen als Einheit, diese als
Gegensatz. Erkenntnis ist also »Einheit der Einheit und ihrer Ge-
gensätze« (a.a.O., 113). Das erinnert an Hegelsche Bestimmungen
der Idee. Aber Solger definiert nicht die Idee, sondern die konkrete

"J
Erkenntnis so! Und er kommentiert, besorgt über die Möglichkeit
eines Mißverständnisses: Die Erkenntnis ist die sich reflektierende
und zumal sich schon voraussetzende Idee; 16
»aber sie ist dies nur als Thätigkeit und/ diese ist in ihrer ganzen Bedeu-
tung nur in dem Momente vorhanden17, wo sie sich selbst zum Gegen-
stande schafft, eben dadurch zur Beziehung ihrer Bestandtheile wird und
diese doch zugleich, weil sie Einheit ist, wieder als Beziehung aufhebt. Al-
les Übrige ist bloße Folge der Reflexion, der Trennung desjenigen, was nur
Ein Leben in sich selbst ist, durch die Unvollkommenheit unsers zwischen
Widersprüchen schwankenden Bewußtseyns« (a.a.O., 113/4).
Die konkrete Erkenntnis ist also zumal relativ und absolut, ihre
»Einheit« also »Vermittlung« und als diese »das Werk der Zeit«
(Erwin II, 137), d.h. die synthetische Erkenntnis ist als Abfolge
und Wechselspiel zweier Momente zeitlich und nichtig und doch
wieder hinsichtlich dessen, was sich in ihr zeitigt und als absolut
Vorauszusetzendes entzieht, ewig. Das Ewige ist nicht, sondern es
kündigt sich an durch Aufhebung der Gegensätze in deren Relati-
vität (a.a.O.). Und weil es nicht ist, kann diese Aufhebung selbst
nur vermittels der Reflexion als möglich gedacht werden. Das Er-
kennen ist ewiger Stoff in durchaus endlicher Form.
Der erste Grundsatz der Philosophie muß, nach Solger, das Ver-
hältnis von Endlichem und Ewigem in einer Handlung vermitteln,
nicht, wie die 94er Wissenschaftslehre, in drei Grundsätze auflö-
sen. Solger erkennt gar kein anderes Bewußtsein und Wissen als das
zeitliche an. Eine intellektuelle Anschauung lehnt er als ein aporeti-
sches Theorem völlig ab. Zugleich aber zeigt er, daß die zeitliche,
durch Reflexion von sich selbst getrennte und in Relationen zu den
Dingen verkehrende Erkenntnis sich selbst nicht als das, was sie ist,
fassen kann, ohne sich zu begreifen als sich selbst überantwortet aus
einem ihr vorausliegenden, sie als zeitliche durchwaltenden, ihr un-
verfüglichen Grunde. Beide Bewußtseinsweisen, das präreflexive
und das reflexive Bewußtsein, bedingen sich wechselseitig. Solger
bestimmt die »Philosophie« »als das Denken über die Gegenwart 18
des Wesens zu unserer Erkenntniß und Existenz, oder . . . über die
göttliche Offenbarung« (a.a.O., 116).
»Unser ganzes gegenwärtiges Leben«, erklärt er, »insofern es an sich
Wahrheit enthält, ist die Offenbarung selbst, und wir werden uns deren
überall bewußt als des Wesentlichen in einem jeden Lebensmomente.u
Ohne sie würden wir uns in keinem dieser Momente wirklich mit dem
Wesen unsers Bewußtseyns gegenwärtig finden«, - d. h. wir würden uns
in keinem Augenblick unserer Zeitlichkeit als simultan mit dem, was
eigentlich in uns ist, wissen, »sondern nur theilweise afficirt und von
einem Gewebe leerer Erscheinungen umsponnen. . . . Aber so wie die Idee
darin [nämlich »in dem gegebenen Momente«] nur durch sich selbst gegen-

116
wärtig ist und durch kein zeitliches und relatives Bestreben bewirkt wer-
den kann; wie wir also darin nur das Wahre besitzen, insofern wir ihre
Gegenwart auch als eine solche Selbstoffenbarung an sich und durch sich
anerkennen: so ist doch für den bestimmten Moment immer nur das We-
sentliche des gegebenen Zu/standes, der relativen Verknüpfung und fällt
also in diesem Sinne zugleich selbst unter die Bedingung der Existenz«
(a.a.O., 116/7).

Die »Idee« muß also selbst als völlig in die Zeit und Relation
eingegangen vorgestellt werden, als »eine unmittelbar in der Exi-
stenz gegenwärtige Thatsache« (a.a.O., 118) und kann nur durch
»Aufhebung derselben sich als gegenwärtiges [nicht verfließendes]
Wesen wieder herstellen«; »eine Thatsache, die sich freilich von
ihrem Standpuncte aus auch als etwas blos Zufälliges und Zeitliches
betrachten lassen muß« (a.a.O., 119).
Hier wirft sich das Problem eines An-sich-Seins-für-uns auf (124
oben). Das An-sich löscht sich, indem es ins Bewußtsein fällt (und
dort sich entfremdet wird), als An-sich aus. Unser Bewußtsein be-
hindert die absolute Einheit, sich als das, was sie ist, zu offenbaren.
Zugleich ist unser Bewußtsein die absolute Tatsache selbst (123);
Sein ist Sich-Zeitigen. Es muß sich also als Bewußtsein und als Zeit
aufheben, wenn es sein eigenes Mit-sich-selbst-unzeitlich-gleich-Sein
werden soll (124, 283). Im zeitlichen Selbstbewußtsein objektiviert
und verzeitlicht sich die göttliche Idee. Ohne ihre Anwesenheit in
der Zeit entbehrte das Dasein der Ichheit jeder Wirklichkeit. Sie
kann sich aber nur als Wesen offenbaren, wenn die zeitliche An-
schauung der Offenbarung »sich selbst aufhebt, an deren Stelle das
Absolute selbst tritt« (a.a.O., 283).20 Die Offenbarung setzt den
Menschen allererst frei. Denn »frei ist der Mensch nur als existiren-
des Wesen. An sich ist er eins mit Gott und mehr als frei« (a.a.O.,
284/5). Nur ein über sich selbst hinausgesetztes (ekstatisch existie-
rendes oder zeitliches) Wesen kann frei sein.
Eben darum, weil »wir nicht das Ewige selbst sind« (125/6), er-
klärt Solger, bedürfen wir der Offenbarung, die uns über unser Sein
belehrt. »Gott, der Wert und das oberste Ziel der Transzendenz,
stellt«, wie Sartre sagt, »die ständige Grenze dar, von der her der
Mensch sich verkündigen läßt, was er ist« (Sein und Nichts, 712).
Und wir können sie nicht anders vernehmen als dadurch, daß sich
die »nichtige Existenz aufhebt« (N.S. II, 284).21
Wie ist diese Selbstaufhebung zu denken? Wäre sie absolut, so würde
sich das Denken schlechthin vernichten und kein Vernehmen der Offenba-
rung deren Ereignis in der Zeit überstehen. Solger bemüht sich, die von
ihm angebotene Lösung der Reflexionsnegation durch Vertiefung im
Detail gegen Einwendungen abzusichern.22
Im Selbstbewußtsein sind zwei Modi zu unterscheiden: Die Einheit ist

"7
unabweisbare Voraussetzung (139), kann sich aber nur als »Handeln, wel-
ches immer in Gegensätzen befangen ist«, unserem auf Entgegensetzungen
basierten »Wissen« (140) vernehmlich machen, welches das zweite Moment
ist.
Die Synthesis beider konstituiert wirkliches, konkretes Wissen, »volles Be-
wußtseyn« (141), wie Solger sagt. Aber selbst dieses bleibt eine endliche
»Thatsache«, die sich zur Hälfte selbst unerklärlich bleibt: »In demselben«,
erklärt Solger, »wird das ewige Wesen ebenfalls zu einem einzelnen her-
vorgetretenen Stoffe, und also liegt es insofern auch hier sich selbst zum
Grunde und besteht vor seiner Äußerung oder Offenbarung voraus«
(a.a.O., 141). - Das Denken wird sich in der Rückwendung auf das Da
seines eignen Grundes selbst transzendent: Das Bewußtsein vom Sein er-
starrt vor dem Sein des eignen Bewußtseins, welches es gleichsam immer
schon hinter sich hat und gewesen ist. Das Sein war bestimmt als absolute
»Einerleiheit«, das Bewußtsein als »Lücke«, die es in der zeitlichen Re-
flexion von sich selbst abtrennt. Also hat das Bewußtsein seine Identität
je schon verloren. Das Sein des Bewußtseins ist sein Vergangensein. Seine
absolute Vergangenheit oder gründende Voraussetzung weiß es nicht,
sondern muß es glauben. Dem Wissen ist sein gründendes Sein, auf dem
es basiert, durch den »Glauben« vermittelt 23 , in welchem auf präreflexive,
ihren Gegenstand nicht durch Thesis von sich ablösende Weise das Ewige
»erfahren« wird. Der Glaube ist der Gegenstand der Philosophie." Ohne
die Voraussetzung des Glaubens stürzt jeder Bewußtseinsprozeß in Nichts
zusammen.2*
Die Religion kann für Solger von keinem Wissen übertroffen werden.
Denn das hieße, dasjenige, was als Grund des Wissens sich ankündigt, zum
Wissen des Grundes machen und den Grund aus ihm ableiten zu wollen.
Der Grund ist die absolute, in sich verschlungene Einerleiheit mit sich
selbst. Nun verstrickt sich für uns jeder Versuch, dem Wesen das Sich-
selbst-gleich-Sein zu prädizieren, in die Zeitlichkeit der Relation. Darum
scheitert unsere Bestimmung, das Wesen sei absolute Identität, und ent-
larvt sich als eine Reflexionsbestimmung, also als das Gegenteil dessen, was
ihre Prätention war. Darum, sagt Solger, muß die Philosophie »zugleich
sich selbst aufheben, indem sie sich in die Thatsache versenkt«. Sie muß
sich »zuletzt selbst vernichten, sich überflüssig machen, indem sie in der
Wahrnehmung oder Erfahrung des Ewigen«, die notwendig ein Wissen
a posteriori ist, »endige« (a.a.O., 151).
Es gibt folglich Ursprünglicheres als Wissen-a-priori: die Erfahrung, die
das Selbstbewußtsein als lebendiges Wesen mit sich selber macht. In der
ausdrücklichen Negation der eigenen Reflexivität26 wird »zugleich der
Schimmer der unvollkommenen Erkenntniß aufgelöst« (a.a.O.). Wie Schle-
gel verdächtigt Solger jede Philosophie, die den Zweifel im absoluten,
identischen Selbstbewußtsein auflöst, einer Verdrängung dieser Erfahrung,
die in kein Wissen aufgehoben werden kann, weil sie das Wissen zerstört.
In dieser Negation zerstört sich das Wissen nicht schlechterdings, sondern
nur insoweit, als es abstrakt-zeitlich ist. Aber diese abstrakte Zeitlichkeit
ist selbst das »verwirklichte« Wesen, die relative Synthesis in »wirklicher
Erfahrung« (156); das bedeutet, daß das Wesen selbst vernichtet wird,
soweit es in die Zeit sich selbst gebunden hat und uns bewußt ist. In deut-

118
licher Opposition zu Hegel sagt Solger: »Wir bescheiden uns gänzlich
etwas vom göttlichen Verstände zu wissen außer seiner Offenbarung«
(163).
Im Ereignis der Offenbarung geschieht eine merkwürdige Ver-
k e h r u n g : Als »Schöpfung aus nichts* (171) m u ß uns dasjenige er-
scheinen, was, an sich betrachtet, zugleich Vernichtung des Seins und
»Vernichtung des Scheins« (168) ist. Durch notwendige Täuschung
m u ß unser Bewußtsein das wahre Sein mit dem absoluten Nichtsein
verwechseln.
»Da aber nur das in Wahrheit ist«, erklärt Solger, »was ein Wesen hat, so
ist die Existenz an und für sich nur dasjenige, was Wesen nicht ist, das
Nichts des Wesens, so wie vorher das Wesen das Nichts war, aus welchem
die Existenz hervorging. Folglich offenbart sich das Wesen als solches, oder
wird wirkliches Wesen nur dadurch, daß es dieses Nichts aufhebt und ver-
nichtet. Für uns ist es nur da in diesem vollständigen Gegensatze mit dem
Nichts« (172).

Das Bewußtsein ist nur durch Aufhebung seiner eigenen Zeitlich-


keit. Sein Sein und seine Nichtigkeit leuchten in der gegenwendigen
Bewegung des Zeitflusses zugleich in ihm auf: dasjenige aber, was
als sein wirkliches Sein erscheint, ist sein wahres Nichts; und darin,
daß es sich selbst als seiner selbst verlustig, als ein Nicht-mehr und
Noch-Nicht begreift, kündigt sich sein wahres Sein an. Bewußtsein
ist die »aus dem Abgrunde des Ewigen« hervortretende, bedeutende
Vernichtung seiner selbst als Zeitlichkeit. Auch die Zeitlichkeit be-
deutet nicht sich selbst als »relative, sondern [als] die absolute That-
sache« (173). Doch geschieht diese Bedeutung im lebendigen Erken-
nen selbst: Das Absolute in seiner alles Nichtige versengenden und
allverzehrenden Reinheit ist ein Abstraktum, nicht weniger als es
die reine Nichtigkeit oder Grenze sein würde, bevor sie sich in der
lebendigen, relativen Synthesis mit dem Sein verwirklicht.
Die Quintessenz seiner Theorie des Selbstbewußtseins, wie Solger
sie im folgenden formuliert, bringt zugleich einen neuen, wesent-
lichen Begriff ins Spiel:
»Auch das Höchste«, sagt er, »ist für unser Handeln nur in begrenzter
endlicher Gestaltung da. Und eben deswegen ist es an uns so nichtig wie
das Geringste, und geht nothwendig mit uns und unserem nichtigen Sinne
unter. . . . In dem Verschwinden unserer Wirklichkeit«, deren Auflösung
in wesenlosen Schein, offenbart es sich aber zugleich als das, was es »in
Wahrheit ist«. »Die Stimmung.. ., welcher dieses unmittelbar in den
menschlichen Begebenheiten selbst einleuchtet, ist die tragische Ironie«
(a.a.O., 515).
Das Entsprechende geschieht in der Erfahrung des Komischen, wo in der
Gestalt »der Zerstückelung, der Widersprüche, der Nichtigkeit« (a.a.O.,
516), zwar die Nichtigkeit des Wesens, aber durch dieselbe hindurch seine

119
Wirklichkeit Gewißheit wird. Indem eines vergeht, offenbart sich das an-
dere; und »in diesem Momente des Vergehens zündet sich das göttliche
Leben an. Es ist eine Anschauung, die sich selbst aufhebt, an deren Stelle
das Absolute selbst tritt« (a.a.O., 283)."
Die Ironie ist dasjenige Bewußtsein, durch welches sich das zeit-
liche Bewußtsein seines Gezeitigtseins aus dem unverfügbaren, ewi-
gen Grunde versichert. Durch die Relativierung seiner Relativität
befreit es zugleich das Ängstigende der Grundlosigkeit seiner Exi-
stenz in eine erlösende Zuversicht.28

Ironie als »Wesen der Kunst«

Solger hat seine Theorie des Selbstbewußtseins in ständiger Aus-


einandersetzung mit Wesen und Praxis der Kunst entwickelt. Wie
er jeden philosophischen Satz auf Erfahrung, Anwendung in der
Lebenswirklichkeit fundiert, so fand seine Ästhetik in der Freund-
schaft und dem Einverständnis mit einem Dichter, Ludwig Tieck,
zugleich kritische Instanz wie Bewährung. Beide kamen darin über-
ein, daß Solgers Definition des Schönen für alle Beispiele großer
Kunst ungleich besser zutreffe als zeitgenössische ästhetische Positio-
nen. Tieck nahm für seine Dichtung die Authentizität der ursprüng-
lichen Erfahrung in Anspruch; und Solger unterstützte den Freund,
indem er seiner Dichtung die höchste Vollkommenheit ironischer
Form unter den Zeitgenossen zuerkannte.
Im Phänomen des Schönen ist Solger zuerst auf das im Selbst-
bewußtsein wiederholte Paradox der Unverträglichkeit und wech-
selseitigen Angewiesenheit von Ewigem und Zeitlichem gestoßen
(N.S. II, 451). Dies Paradox hat im Phänomen des Schönen einen
vollgültigen Ausdruck, nicht erst - wie bei Hegel - im absoluten
Denken der Vermittlung: »Weil die Wahrheit überall an und für
sich dieselbe ist«, sagt Solger, »so müssen wir auch in den mannig-
faltigsten Gestaltungen der Kunst alles zur einfachsten Einsicht zu
erheben suchen« (N.S. II, 627).29 Diese Einheit kann aber, ihrem
Gegenstande entsprechend, nicht die absolute Identität sein.
Unsere Kenntnis des Schönen, erklärt Solger, stützt sich auf die
Erfahrung zeitlicher und vereinzelter Erscheinungen. Aus einer
Analyse der »abstrakt sinnlichen« oder »begrifflichen« Konstituen-
tien ist unser Wiedererkennen des Urbildes nicht zu erklären
(V. 3,3; 3»i; 4,4; 10,2 M; 19,1; 49,1). Das Bewußtsein von dem, was
Schönheit bedeutet, muß je schon »vorausgesetzt« werden und
transzendiert das einzelne Phänomen in ihm selbst. Die Erfahrung
dieses Widerspruchs (N. S. II, 451) treibt über die Kunst hinaus zur
Religion, denn »das Ursprünglichste, der gesetzten Einheit des Ein-

120
zelnen und des Ideals zum Grunde Liegende, das ewig unerreichbar
Höchste«, kann nur gläubig (präreflexiv) gewußt werden.30
In den 4 Dialogen seines ersten Entwurfs einer Ästhetik hat
Solger zum erstenmal die uns bekannten Aporien, jedoch im Wesen
des Schönen, entwickelt und nach ihrer Lösung gesucht. In der zeit-
lichen Erscheinung des Höchsten, sagt er, besteht eine Unangemes-
senheit »des Begriffs zu seiner Erscheinung« (Erwin I, 160). Im
höchsten Sein wird die Idee als sich selbst »in Ewigkeit gleich« vor-
gestellt; während in unseren »zeitlichen Verhältnissen« (a.a.O., 119,
125) Sein und Erscheinung sich dissoziieren, »keins [der »wechseln-
den und sich verändernden« Dinge] . . . in irgend einem Augenblick
alles das [ist], was es seinem Begriff nach sein sollte« (a.a.O.). Aus
der Zeitlichkeit sehen wir allezeit »nur schief in jene göttlichen
Verhältnisse hinein« (a.a.O., 165).
Dasjenige, welches im verwandten Medium der Kunst dem Be-
griff des »vollen Bewußtseyns« (im Medium der Philosophie) ent-
spricht und also das präreflexive mit dem zeitlichen Bewußtsein
synthetisiert, nennt Solger die »Phantasie« (a.a.O., 190).

Die romantische Ästhetik hat »Phantasie« und »gemeine Einbildungskraft«


streng unterschieden.31 Im Unterschied zur »gemeinen Einbildungskraft«,
die »an die sinnliche Wahrnehmung geheftet und vom Trieb bestimmt«
ist, »führt die Phantasie das göttliche Wesen in die Erscheinung über« (Er-
win I, 191). In der Einbildungskraft ist die Spontaneität hingegen durch
zwei Entgegengesetzte beschränkt, durch den Verstand, der die Einheit,
und durch die Sinnlichkeit, die die Mannigfaltigkeit zur Synthesis beiträgt.
Die Einbildungskraft ist zeitlich (Erwin II, 137). Sie ist eine in der Zeit
sich ereignende Vermittlung der transzendentalen Apperzeption mit der
sinnlichen Mannigfaltigkeit; und da ohne die Aktivität der Einbildungs-
kraft der Verstand nicht mit der Sinnlichkeit synthetisiert werden könnte,
muß man sie als das ursprüngliche Vermögen im empirischen, reflexiven
Selbstbewußtsein charakterisieren. Solger gibt folgende Beschreibung:
»Auch die Thätigkeit des gemeinen Verstandes wird deswegen von einer
Kraft begleitet, welche wir die Einbildungskraft nennen. Diese bewirkt, daß
wir uns den allgemeinen und abstracten Begriff immer unter einer gewis-
sen Gestalt als etwas Existirendes denken, und das besondere Ding als er-
füllt und belebt von seinem Begriffe. Nur durch sie wird es uns möglich,
von Begriffen als allgemeinen lebendigen Momenten der Naturentwick-
lung, als Naturkräften und dergleichen zu sprechen; nur durch sie, uns in
den besonderen Erscheinungen die Wirksamkeit von Begriffen, Kräften,
Gesetzen usw. als lebendig vorzustellen. Ohne sie würden alle diese Be-
ziehungen nur durch Formeln bezeichnet werden, welche wir/ unter ein-
ander stellten, und mit welchen wir rechneten, ohne daran zu glauben, daß
sie ein wirkliches Leben bedeuteten. Aber auch dieses reicht uns noch kei-
neswegs hin zur vollen Überzeugung und innern Beruhigung. Denn auch
die Einbildungskraft schwebt immer nur ins Unendliche zwischen den Ge-
gensätzen mit ihrem Streben, sie durcheinander anzufüllen, und sie kann

121
dieses auch nur; denn könnte sie jemals den Begriff in seiner vollen Wirk-
lichkeit oder seine einzelnen Äußerungen in ihrer vollen Allgemeinheit an-
schauen, so wäre unsere ganze Verstandesthätigkeit und damit unser wirk-
liches Daseyn aufgehoben« (N.S. II, 81/2). Die Einbildungskraft ist also
an die Reflexion gebunden, welche die Urvermittlung in der Idee schon
voraussetzt. Diese selbst ist die Leistung der göttlichen Phantasie.

Auch die Einheit der Phantasie zertrennt sich in zwei Richtungen


(V. 187). Denn sie wiederholt die Reflexivität der Einbildungskraft,
die sie begründet, nur in potenzierter Form. Nun wird in ihr zwar
die »göttliche Thätigkeit« (Erwin I, 245) selbst angeschaut und da-
durch sich selbst auf zeitliche Weise entfremdet. Aber so wenig, wie
wir in der Zeitlichkeit unseres Selbstbewußtseins die Einheit des
Verfließens verlieren, so ausgeschlossen ist es, an der Realität der
Schönheit zu zweifeln, bloß weil ihr Wesen durch die Gegensätze
der Wirklichkeit aufgehoben ist: »Ich bin mir dessen so gewiß, als
daß ich lebe« (a.a.O., 221), bekräftigt Solger. Auch das Leben
beruht auf Widersprüchen.
Wir wiesen des öfteren auf eine Eigenart des Solgerschen Idealis-
mus hin, daß er das reine Wesen in seiner Reinheit, jenseits aller
Vermittlung, zu wahren sucht. Auch das vermittelte Wesen (die
Phantasie) hat eine Seite, die, »wenngleich mit Wesen erfüllt, [doch]
der Zeitlichkeit und Vergänglichkeit gänzlich unterworfen ist«
(a.a.O., 255).82

»Sieh nur«, läßt er einen der Dialogpartner sagen, »welch ein seltsamer
Widerspruch darin ist, wenn wir auf der einen Seite bemerken, daß auch
das Schöne, das verkörperte Wesen selbst, weil es Erscheinung seyn muß,
nicht unsren elenden Bedürfnissen und Jämmerlichkeiten entgehen kann,
. . . und wenn doch zugleich eine edlere Freude in uns darüber erregt wird,
daß auch das Schlechteste, Gemeinste von dem Wesen und dessen Ausdruck
durch die Schönheit nicht entblößt ist, sollte sich dasselbe auch auf eine
etwas verzerrte Weise darin offenbaren« (a.a.O., 250/1).

Jenes liefert die Empfindung der Trauer, dieses diejenige des Ko-
mischen (a.a.O., 251 ff.). Es sind die Pole, zwischen denen das
Schöne in seiner Wirklichkeit schwankt (260), indem es bald das
eine, bald das andere ganz ist. Im Schweben zwischen »Lust und
Trauer, Lachen und Weinen« (a.a.O.) offenbart sich die Ambiguität
der Phantasie. Es bleibt, wenn die Phantasie als Einheit beider
Richtungen angeschaut werden muß, nichts übrig, als auf eine Mög-
lichkeit absoluter, unzeitlicher Selbstvermittlung zu verzichten und
das Wesen des Schönen im »vollkommensten Widerspruch... mit
sich selbst« zu suchen. Es »ist stets das grade Gegentheil seiner
selbst« (a.a.O.); ja, Solger greift zu der Formulierung, daß sich »für
uns« die Schönheit »durch das Grundverhältniß ihrer eigenen Be-

122
standtheile in sich selbst zersprengt und etwas unmögliches wird«
(a.a.O., 261).
Unerachtet der »ihm innewohnenden Herrlichkeit« kann sich das
mit sich selbst als Erscheinung zusammengehaltene Wesen nicht aus
der Zeitlichkeit, die sein Tribut ans Erscheinen ist, befreien (255).
Als ein Transcendens schlechthin bleibt es in scharfer Isolation von
seiner Erscheinung geschieden und ähnelt durchaus nicht jenem alles
in sich absorbierenden Geiste33 der Hegeischen Philosophie, mit
dem es zugleich so viele Eigenschaften teilt. Diese Differenz bekun-
det sich immer wieder in dem mitunter erschreckenden Ernst der
Solgerschen Formulierungen:
»Dieser herbe Widerspruch, o Freunde, bewältigt jeden, auch unbewußt,
mit einem nicht nur innigen, sondern allgewaltigen, nicht durch andere
Güter heilbaren, sondern ewigen und unzerstreubaren Schmerz; denn nicht
durch den Untergang des einzelnen Dinges wird er in uns erregt, ja nicht
einmal bloß durch die Vergänglichkeit alles Irdischen, sondern durch die
Nichtigkeit der Idee selbst, die, mit ihrer Verkörperung, zugleich dem
gemeinsamen Geschick alles Sterblichen unterworfen wurde, mit der
aber jedesmal eine ganze gottbeseelte Welt dahinstirbt. Dies ist das wahr-
hafte Loos des Schönen auf der Erde!« (a.a.O., 257)"
Die beiden in der zeitlichen Gestalt des Schönen vereinigten Ten-
denzen durchdringen sich nicht zur Einheit, sondern schlagen, stän-
dig oszillierend, in einander um. Das Schöne ist nie eine dieser Rich-
tungen insbesondere, sondern ein die Differenz von sich selbst per-
ennierender »Wechsel«, der sich zeitlich überschreitet. Die Schönheit
- um es paradox zu sagen - ist die Einheit ihrer Gegensätze, in-
dem sie die Einheit nicht ist. Sie ist darum niemals als reine Schön-
heit oder: sie ist Schönheit, aber nie im Modus des Wirklich-Sems,
sondern in dem des ewigen Sem-Könnens. Auf der Grenzscheide
schwebend (a.a.O., 254), die das Sein von seiner Nichtigkeit trennt,
ist sie ein unmögliches Wesen, das von der Idee das Nicht-Sei«, von
der Erscheinung die Endlichkeit erbt. Ein so Bestimmtes ist im evi-
denten Sinne zeitlich.
Wenn die beiden letzten Dialoge des Erwin auf die wirkliche
Kunst anwenden wollen, was die vorangehenden über das Wesen
des Schönen ermittelt haben, so muß sich jenes »große und unendli-
che und wie zu bezwingende Räthsel, welches die unbegeisterten
Gedanken der Menschen unaufhörlich beschäftigt«, in der Kunst-
ausübung nur wiederholen, daß nämlich »in ihnen selbst zwei Natu-
ren wohnen, die ewige und die zeitliche, die ohne einander nicht
sein könnten, und doch einander gänzlich aufheben« (Erwin II, 92).
Die Kunst ist eine Synthesis, die die Antithetik nie überwindet, und
eine Antithesis, die sich zugleich als Synthesis versteht.
Die Einheit der produktiven, künstlerischen Phantasie, die als

"3
»Offenbarung jener göttlichen« (a.a.O., 168) verstanden wird und
die relativ (zeitlich) synthetisiert, was im Ewigen unvordenkliches
Eins war, bricht nach dem Gesetz antithetischer Synthesis (eine Be-
griffs-Prägung Fr. Schlegels) »in zwei verschiedene Richtungen«
auf, nämlich in »die nach dem Wesen und die nach der besonderen
Gestalt« (a.a.O., 172)35. Diese nennt Solger das »Bilden«, jene das
»Sinnen der Phantasie« (177). In beiden kommt das ewige Wesen
nur inadäquat zur Darstellung: »Das eigentliche Wesen [ist] immer
etwas Unsichtbares« (157)36, und zwar im Gegensatz zu den Rich-
tungen, deren eine das Wesen den Dingen einbildet, während die an-
dere sie ins Ewige »zurückdenkt«. Nun sind freilich im wahren
»Schaffen« der Phantasie das Schaffende und das Geschaffene uran-
fänglich (ihrem Begriff nach, allein nicht für uns) Eines. Solger
nennt es »die Phantasie in der Phantasie« (185). Sie ist ein Ab-
straktem, und ihr gegenüber, immer »schon da« (a.a.O.), ist das Ge-
schaffene, nicht minder abstrakt (Solger nennt es die »Sinnlichkeit
der Phantasie« (187)). Nun zerfallen notwendig - wie in Schel-
lings Würzburger System (I, 6, 164 f.) - zwei untereinander unver-
trägliche, aber hinsichtlich ihres Wesens absolut identische Tätigkei-
ten aufs neue, je in sich, »in zwei Richtungen«. Vermöge der Iden-
tität von Schaffen und Sinnlichkeit ist auch im Schaffen selbst Sinn-
lichkeit und in der Sinnlichkeit selbst Schaffen:

Idee
Wesen Erscheinung
Offenbarung derselben
(Phantasie, Begeisterung)
Phantasie • Sinnlichkeit
Sinnen • * Bilden
Bilden ^ Sinnen Sinnen ~^L Bilden
Die Undarstellbarkeit des Wesens hat zur Folge, daß auch die
Phantasie kein Machen, sondern ein Schaffen, d. h. ein Aktuieren
der Potenzen ist, die »schon da« sind, der Phantasie schon entgegen-
stehen; d. h. keines der Relata kann als Produkt des andern begrif-
fen werden: »Es ist ja immer das Eine und selbe, was wir . . . nur
von einem anderen Standpunkte [Schelling würde sagen: unter an-
derm »Exponenten« (I, 7, 425 ff., 427)] betrachten wollen«
(a.a.O., 188/9). Deutlicher noch: »Phantasie und Sinnlichkeit über-
wiegen nach entgegengesetzten Richtungen« (233). Weit entfernt,
die Einerleiheit des Wesens zu spiegeln, sind sie selbst Ausdruck
eines Mangels, eines prinzipiellen Außer-sich-verwiesen-Seins, einer
Struktur, die sie mit dem Bewußtsein teilen. Aber wie im Bewußt-
sein das Ewige inadäquat »mitgesetzt« ist, so ist auch in der Diffe-
renz der Phantasie jener Durchkreuzungspunkt, »das Band von We-

124
sen und Erscheinung« (238), aufzusuchen, in welchem die quantita-
tive Indifferenz in qualitative Identität umschlägt, ohne dieselbe
freilich verkörpern zu können.
Der Verstand 37 ist es, der bestimmt wird als das die Anschau-
ung (qua Identität von Begriff und Erscheinung) mit sich selbst zu-
sammenknüpfende Vermögen. In ihm sind beide Richtungen gleich.
Er ist ein »ewiges Schweben« zwischen »ihren« (der Kunst) »eige-
nen Elementen«, und dies Schweben nennt Solger, um es von der
Tätigkeit des »gemeinen Verstandes« zu unterscheiden, den »künst-
lerischen Verstand« (244). Der Begriff des Verstandes potenziert
denjenigen der Phantasie, entgeht aber nicht dem Verhängnis anti-
thetischer Synthesis hinsichtlich der in ihm schwebend synthetisier-
ten Richtungen. »Betrachtung« (246) nennt Solger diejenige vom
Allgemeinen ins Besondere. Sie denkt, den Blick durchaus auf
»das Nichts der Wirklichkeit« (248) geheftet, dieselbe als transpa-
rent für das in ihr verborgene Ewige. In der Betrachtung wird evi-
dent, »daß, indem die Idee durch ihre zeitliche Gestalt vernichtet
wird, auch das Zeitliche selbst sich zur Idee verklärt« (248/9).
Während der »gemeine Verstand« Gegensätze der relativen Welt
partiell trennt und verbindet - nie anders, als daß durch jede
Trennung neue Synthesen, durch jede Vereinigung neue Antithesen
geschaffen werden - , »enthüllt« der »künstlerische Verstand« in
dem Urgegensatz der Richtungen »unmittelbar die mit sich selbst
zusammenschlagende Anschauung . . . , woraus sie hervorspringen
oder wo sie in einander fallen« (250). Diese Enthüllung der Idee
im zeitlich Besonderen, wodurch dasselbe zugleich in seiner Verein-
zelung vernichtet wird, nennt Solger den »Witz«. Der Witz ist die
umgekehrte Richtung der Betrachtung, die im Witz über sich selbst
hinaus auf die unzerstörbare Idee weist (232).38 Die Idee enthüllt
sich in jener »Anschauung . . ., die beim Zusammenschlagen der Ge-
gensätze des Verstandes, wie ein verborgen gewesener Funke aus
der Tiefe des Gemüths von selbst hervorspringen sollte« (2 52).39
Solgers Vorliebe für die Metaphern des Funkens, Aufleuchtens,
der aufzuckenden Flamme, des Blitzes (261, 264) ist ein Ausdruck
seiner Absicht, die Unmöglichkeit einer wirklichen Epiphanie des
Höchsten sprachlich zu berücksichtigen.
Der Einbruch der Idee ist in dieser negativen Dialektik des Ver-
standes nicht faßlich zu machen. Witz und Betrachtung stehen
gleichsam an der Pforte des Ewigen, in unmittelbarem Kontakt zur
Idee. Aber indem sich ihnen das Ewige, wie ein elektrischer Schlag,
mitteilt, ist sie immer schon in Erscheinung verglüht und erloschen.
Unsere Aufmerksamkeit muß mit höchster Intensität auf den
Durchdringungspunkt als die äußerste Grenze des Zeitlichen selbst
gerichtet werden. Wir müssen versuchen, sagt Solger, den Austausch

125
der Ladungen »auf dem Uebergange aus der Idee in die Wirklich-
keit grade an dem Punkte, wo eins sich in das andere verwandelt,
[zu] ertappen« (263).
Die Relation von Betrachtung und Witz ist derjenigen von Phan-
tasie und Sinnlichkeit noch parallel und damit Ausdruck einer De-
fizienz: Das Seiende des Witzes ist das Nichtsein der Betrachtung et
vice versa; beide sind »der ganze Verstand selbst, von einer gewissen
Richtung betrachtet« (255). Unser Versuch, den ganzen Verstand zu
begreifen, führt auf die Vorstellung des »mit Anschauung gefüllten
Verstandes«, »der als Eines und dasselbe in Pulsen hin und her
schlägt« und, wenn wir ihn in seinem Sein fixieren, immer in die
Antithesis des Fixierten entweicht. Der reine Wechsel selbst aber
»ist offenbar das wahrhafte Wunder der Kunst« (270). Er ist ein
»Uebergang, ein Werden, welches aber in diesem vollkommenen
Verstände kein zeitliches, sondern ein ewiges und unbedingtes, und
doch erscheinendes Werden sein muß« (a.a.O.) - ein Phänomen
gleichsam auf der Kippe zwischen Ewigkeit und Zeitlichkeit. Dieses
Schema einer seine eigene Realität ausschließenden Transzendenz
nennt Solger Ironie.

»Dieser Augenblick des Ueberganges nun, in welchem die Idee selbst noth-
wendig zunichte wird, muß der wahre Sitz der Kunst, und darin Witz und
Betrachtung, wovon jedes zugleich mit entgegengesetztem Bestreben schafft
und vernichtet, Eins und dasselbe sein. Hier also muß der Geist des Künst-
lers alle Richtungen in Einem alles überschauenden Blick zusammenfassen,
und diesen über allem schwebenden, alles vernichtenden Blick nennen wir
die Ironie« (277).

In ihr, als dem »Wesen der Kunst« (ebd. und V. 241,,; vgl. 199;
125), wird die Täuschung des Endlichen wieder ins Wahre zurück-
gespiegelt. Ihr »vernichtender Blick« erschließt das reine, wesende,
»urständliche« (Schelling, I, 9, 225) und überwirkliche Sein, indem
er die Nichtigkeit der Welt ihrer Nichtigkeit dadurch überführt,
daß ihre Vernichtung das wahre Sein entbindet, statt sie aufzuhe-
ben.
Solger legt Wert auf das Bewußtsein, daß in der Uroffenbarung
das Wesen selbst, gleichsam mit Haut und Haar, ins [ir\ 6v über-
geht40 (ins relative Nichts, die Synthesis von Sein und Nichtsein
unter dem Exponenten der Nichtigkeit). Die Zeit ist also nicht ein
schlechterdings nicht Seiendes (was die Griechen das oöx 5v nennen
konnten; vgl. 272 ff.). Der Verstand markiert dasjenige Stadium, in
welchem Phantasie und Sinnlichkeit, ( - — - ) und [-—-)
\ A — D' \A = 15/ >
unentschieden hinsichtlich ihrer Verwirklichung schweben.
In dieser reinen, allem Seienden zuvorkommenden Unentschie-
126
denheit schwebt der Verstand als die Copula zwischen der Einbil-
dung des Wesens ins Zeitliche und der Rückführung des Besonderen
ins Einige. Die Ironie isoliert diese Schwebe durch eine künstliche
Abstraktion. Für einen »Augenblick«, der als Grenzwert der Zeit
nicht mehr mit Zeitmaß gemessen werden kann, wird die Differenz
der Schwebenden für »die Eine und selbe Wurzel« (276) transpa-
rent: »Diese Wurzel«, sagt Solger, »ist der Augenblick des Ueber-
ganges«, in welchem beide Richtungen zugleich »völlig in einander
verschmelzt [sind], und, da beide in einem reinen Widerspruche mit
einander stehen, sich auch zugleich gegenseitig aufheben müssen«
(a.a.O.).
Ohne sich in das ihrem Wesen unangemessene Gewand der Nich-
tigkeit zu begeben, gegen welches sie sich in der Form des ewigen
Sichselbstverschlingens (als Zeit) wehrt, würde die »Idee« kein
»Dasein« (279) gewinnen. Dieses ihr zeitliches Dasein aber kann in
dem, was es ist, nicht begriffen werden ohne seine negative Dialek-
tik zur Ewigkeit. Wenn wir das Zeitliche in seiner Zeitlichkeit an-
gemessen verstehen wollen, so können wir nicht absehen von der in
ihr als diese verborgenen Idee. Die Vorstellung einer unvordenk-
lichen absoluten »Einerleiheit« drängt sich ex negativo, aus der An-
schauung ihres Produktes: der Selbstgeschiedenheit, auf. Selbstheit
beruht zwar auf Relation. Aber aus der Relation allein läßt sich
die Selbigkeit der Relata nicht begreifen (die Ichheit), wenn man
nicht einen je schon geschehenen Akt der Synthesis voraussetzt. In
jeder Selbstgeschiedenheit hält sich das Selbst im Modus des Nicht-
seins wirkungskräftig durch: Die »ursprüngliche Einheit«, in der
»Wesen und Zeitlichkeit mit einander durchdrungen« sind, wird ne-
gativ bewußt in dem Grenzphänomen der Ironie, die im »künstleri-
sdien Verstände« — also nicht primär im Gebiet des reflektierenden
Wissens - als »zwischen beiden hin und her blitzende Wirksamkeit«
desselben verkörpert ist.
Das reale Sein der Idee ist ihr Vergehen als irdisches; und eben
dieses Vergehen ist die Zeit, welche nie darin aufgeht, zu sein, son-
dern alles Sein unendlich überschreitet und vernichtet. Negation
der Negation ist ihr reales Dasein (280). Aber reales Dasein ist
selbst relative Synthesis, d. h. ein Zustand, der, indem er Einheit
voraussetzt, ihrer zugleich verlustig geht.

Es sind insbesondere 3 Eigentümlichkeiten der Solgerschen Posi-


tion, durch die sie sich von zeitgenössischen idealistischen Systemen
unterscheidet:
1. Solgers Philosophie kennt als Prinzip ausschließlich eine mit
ihrer Erscheinung relativ indifferentiierte Idee, die aber
2. nicht selbst als das Konkretum >Synthesis< zu denken ist; der-

"7
art, daß eigentlich nur die reine, in keine Synthesis eingebun-
dene, aber nur aus der Synthetizität der Synthesis zu erschlie-
ßende Idee das wahrhaft Absolute und Transzendente ist.
Als das den Einheitscharakter der endlichen Synthesis Verbür-
gende, ist sie nur negativ in derselben präsent und existiert folg-
lich unter Verlust ihrer selbst. Sie ist gleichsam dasjenige, was
nicht wegzudenken ist, wo immer konkrete Synthesis Ereignis
geworden ist.
3. Daraus folgt, daß die Idee nur in ihrer Nichtigkeit erscheinen
kann und nur in dem, was sie nicht ist - also nie als reine Einer-
leiheit - , erkannt werden kann. Die Ironie, derjenige Punkt,
durch welchen wir als zeitliche Wesen, ohne unsere Endlichkeit
zu überspringen, Kontakt mit dem Ewigen haben, verweist
durch die Vernichtung des Nichtigen auf die reine, in keiner
Synthesis darstellbare Idee, die unserem Erkennen nur im Mo-
dus des Eingebundenseins erscheint. Für Solger erreicht die be-
rühmte Formel von der Identität der Identität und des Gegen-
satzes nur den erscheinenden Geist in seiner Nichtigkeit. Die Ur-
thesis steht höher als die Synthesis.

Die Formel von der Einheit der Einheit und ihres Gegensatzes
hat in der Tat etwas Ungenügendes, weil der Ausdruck »Einheit«
zweimal vorkommt; einmal als das die ganze Synthesis zusammen-
schließende Band, zum anderen als abstraktes Teilglied der Ver-
einigung. (Jene Alternative, die die abstrakte Einheit des Ich im
Gegensatz gegen das Nicht-Ich zum Prinzip erhebt, verfällt in
Solgers Kritik selbst der Nichtigkeit.)
Solger ersetzt die von Schelling gegebene Formel der »substan-
tiellen Identität«
A
A = B
durch diejenige von der »Einerleiheit« der Synthetisierten.
(Sdielling hatte sich gegen den Vorwurf entschieden gewehrt, daß
sein Prinzip Einerleiheit, also »die Nacht, in der alle Kühe schwarz
sind«, meine. Solger scheint den berühmten Hegelschen Vorwurf
nicht zu scheuen, da er überzeugt ist, daß das Absolute eben darum,
weil es absolut ist, nicht als Sichselbstgleichsein, nicht als absolute
Vermittlung gefaßt werden kann. Das Ich ist wesenhaft »unglück-
liches Bewußtsein«, ohne Möglichkeit, sich denkend in die ewige
Idee aufzuheben.)
Nur durch die radikale Trennung des Relativen und Absoluten
und den Nachweis, daß keine der idealistischen Formeln für das
Absolute der Relativität entrinnen kann, glaubt Solger, das Ab-
solute angemessen zu denken. Dieser Versuch kommt freilich um

128
ein Haar der Resignation gleich. Denn die Einerleiheit ist so über-
schwenglidi transzendent, daß wir sie »im wirklichen Leben, unse-
rer zeitlichen Schwäche wegen, nicht erreichen« (Erwin II, 285)
können. Ausdruck dieses Dilemmas ist Solgers Konzeption der Iro-
nie. Dem Blitz gleich, der sich selbst und die Nacht erhellt, verweist
sie auf das Undarstellbare, indem sie es zugleich nicht ist. In ihr er-
eignet sich das Ewige als zeitliches Phänomen, aber nur im Durch-
dringungspunkte: Die Idee wird verzeitlicht, das Zeitliche verklärt
- aber beides geschieht gleichsam zeitlos in der Zeit41, in welcher
das Ewige nur aufscheint und einen Reflex hinterläßt, der aus der
empirischen Wirklichkeit der Zeit allein nicht erklärt werden kann.

129
NOVALIS

Der Impuls zu Hardenbergs Philosophieren


Novalis hat bereits ein Jahr nach dem Erscheinen von Fichtes er-
ster Wissenschaftslehre mit einer in Erstaunen setzenden, verblüffen-
den Hellsichtigkeit, gleichzeitig mit Hölderlin-Sinclair und Schel-
ling, aber mit viel kühneren Konsequenzen als diese, die Transzen-
denz des schickenden Grundes im Selbstbewußtsein als Fichtes
Hauptproblem diagnostiziert - und zwar Jahre, bevor Fichte selbst
in der berühmten »Ankündigung«, die nach anfänglichem Enthu-
siasmus Schellings bald dessen erbitterte Feindschaft ihm zuzog, die-
ses Problem in den Blick zu fassen versprach. Novalis war schon
tot, als Fichte erstmals in aller Deutlichkeit eine Unterscheidung
vollzog, mit welcher die ersten Seiten von Hardenbergs frühesten
philosophischen Manuskripten wie mit dem Allerausgemachtesten
operieren: Es ist die Unterscheidung von »Grund« und »Resultat«
im Selbstbewußtsein, in deren prozessualer Vermittlung Novalis in
seinen letzten Lebensjahren das Werk der »allein tätigen« Zeit er-
kannte.
Hardenbergs Philosophieren beginnt mit der Lektüre der Wis-
senschaftslehre. Diese Lektüre ist zwar von vornherein kritisch ge-
wesen; aber Novalis gewinnt in der Arbeit mit autochthon Fichte-
schen Termini erst allmählich seine eigene Sprache - »am fremden
Faden und Gewebe l e r n t . . . ein junger Gelehrter . . . eigene Ideen
entwickeln« (IX, 380, Nr. 627) - . Die Hauptschwierigkeit der No-
valis-Lektüre besteht darin, bei der Verschiedenheit der Sache sich
von deren Benennung durch Fichtesche Begriffe nicht verwirren zu
lassen. Umgekehrt gibt Hardenberg Fichtesche Theoreme in einer
oft poetisierten Sprache wieder, die der Interpret erst zu übersetzen
hat, wenn er nicht einer Täuschung verfallen will. 1 Dieser unent-
rinnbare, mitunter lästige Bezug auf Fichte macht eine Kenntnis der
Fichteschen Ursprünge, damit seiner Kritik an Kants Theorem der
transzendentalen Synthesis der Apperzeption, aber auch einen
Überblick über Fichtes eigene Entwicklung unerläßlich. Harden-
bergs Zeittheorie ist nichts als eine höchst eigenständige und ihrem
kritischen Ansatz durch eigene Gedankenformation zusehends sich
entfremdende Herausforderung des Kant-Fichte'schen Kritizismus.
Da buchstäblich am Anfang der Fichte-Studien (nach der gut be-
glaubigten Anordnung der Herausgeber) eine Konsequenz bereits
vollzogen ist, auf die Kants und Fichtes Versuche, Selbstbewußtsein
angemessen zu erklären, allenfalls hindrängten, ohne sie zu leisten,
so ist Hardenbergs kritischer Einsatz nur aus einer wenigstens skiz-
zenhaften Vorstellung der Problemlage, so wie Novalis sie aufgriff,
überhaupt verständlich zu machen.

130
Der Gegensatz zwischen Fichte und Hardenberg entzündete sich
an Fichtes Darstellung seines Theorems von der Grundlage aller
Philosophie im Satz des Selbstbewußtseins. Dies war der Satz »Das
Ich setzt schlechthin sich selbst« und muß seinerseits als eine Kritik
an der Fichte vorausgegangenen (Kantischen) Reflexionstheorie ver-
standen werden, die das Subjekt des Selbstbewußtseins sich spiegeln
läßt als sein eigenes Objekt, und doch darüber Rechenschaft zu ge-
ben außerstande bleibt, wie es möglich sein soll, daß ich von einem
dem Subjekt gleichen gespiegelten Objekt-Ich reden kann, wenn ich
nicht zuvor das Subjekt bereits als Ich ergriffen und im Spiegelbild
lediglich wiedererkannt habe. Die Reflexionstheorie irrt, sagt
Fichte, darin, daß sie jenes rätselhafte Bewußtsein, das jeder immer
schon von sich hat, dadurch zu erklären glaubt, daß sie den Prozeß
so beschreibt: Ich wende mich auf mich selbst zurück und finde dort:
mich. Vielmehr muß ich mich schon kennen, um im Zurückblicken
(Re-flektieren) mich wiederzufinden oder: mich zu finden. »Das,
was ich in der Reflexion finde«, schreibt Novalis am Anfang seiner
ersten philosophischen Studien, »scheint schon da zu sein«. Ichheit
ist schon immer ein Sichhaben; und zwar kommt dieses Sichhaben
absurderweise jeder Reflexion zuvor. 2
Diese Kritik zielt insbesondere auf Kants unausgewiesenes Theo-
rem der transzendentalen Synthesis der Apperzeption, die alles
Bewußtsein qua Synthesis des Mannigfaltigen in Raum und Zeit
möglich machen soll und daher, wird ihr der gegebene Stoff entzo-
gen und soll sie auf sidi selbst angewendet werden, im Zirkel sich
selbst verfolgt und nur intellektuell anschauen könnte - eine Mög-
lichkeit, die Kant dem Verstände verwehrt, da er ihn als »Leere«
(B 404) bestimmt und nur in Korrelation mit dem Gegebenen außer
ihm Bewußtseinssynthesis herstellen läßt. Wenn indessen das Selbst-
bewußtsein alles Wissen (qua meiniges, d. h. qua synthetisiert in der
Einheit meines Bewußtseins) möglich macht, so ist es selbst uner-
möglicht. Wir stehen vor dem »Unding« einer alles bedingenden,
nur sich selbst als blinde Faktizität vorfindenden Spontaneität.
Löst die transzendentale Apperzeption ihr eigenes Daß in ein Daß-
als-mich auf, so bleibt immer ungeklärt, wie sie die Meinigkeit die-
ses Bewußtseins ihrerseits weiß. Die Entwicklung des Phänomens
Selbstbewußtsein von Kant zu Fichte möge einer Erörterung der
Fichte-Studien vorausgeschickt werden, da sie das Motiv für Har-
denbergs eigenes Philosophieren nicht minder als für dasjenige Fich-
tes war (vgl. die Kant-Studien!), ohne daß Novalis diese genetische
Herleitung eigens vollzieht. Das Problem ist in seinem Philosophie-
ren implizit und analytisch vorausgesetzt.

131
Kants Aporie der Selbstbewußtseins-Theorie im Spiegel
der frühidealistischen Kritik

Kant hat in der Kritik der reinen Vernunft den Verstand zwar
als Spontaneität bestimmt, jedoch als ein in seiner Spontaneität zu-
gleich beschränktes Vermögen. Er ist nämlich i. auf ein zu Denken-
des angewiesen, verspürt 2. in jeder Handlung den Zwang, so und
nicht anders handeln zu müssen, kann sich 3. über die »Eigentüm-
lichkeit« seiner Handlungsweisen keine Klarheit verschaffen und ist
unfähig, sich selbst sowie andere Vorstellungen, die er synthetisiert,
aufzuhellen; d. h. er ist für sich selbst blindlings und wie von unge-
fähr »da«.
Die Auflage B stellt den Verstand zwar als Spontaneität vor,
läßt es aber an (neu in den Text der KRV eingefügten) Restriktio-
nen nicht fehlen, daß ich mir seiner auch als eines nichtschöpferi-
schen, d. h. als endlichen Vermögens bewußt bin. Zum Kontrast
wird das Modell von einem anderen denkbaren Verstände aufge-
richtet, in welchem durch die reine Apperzeption zugleich ein be-
stimmter Inhalt gesetzt wird. Ein solcher Verstand wäre absolut
schöpferisch, bedürfte keines ihm auf rätselhafte Weise von außen
»gegebenen« Mannigfaltigen, das er, zugleich mit sich selbst, durch
die Synthesis in die Fesseln des Zwangs und der Objektivität legen
müßte, wodurch ihm alles Material unter die Bedingung der durch-
gängigen Einheit alles Bewußtseins zu stehen kommt, die seine
eigene ist. Der menschliche Verstand dagegen verliert seine Freiheit
mit jeder Handlung an die Notwendigkeit, die ihm von seinem
immanenten Gesetz auferlegt wird; aber er kann diesen Verlust
nicht vermeiden, da das Ich nichts ist »als die einfache und für sich
an Inhalt gänzlich leere Vorstellung: Ich; von der man nicht ein-
mal sagen kann, daß sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewußt-
sein, das alle Begriffe begleitet« (B 404). Das Ich ist keine selbst-
genügsame Vorstellung, sondern ein bloß Vorstellendes, welches in
jeder Einheit dieselbe stiftet und nur in der geeinten Vorstellung
durch deren Merkmal, geeint zu sein, transparent wird (insofern
diese mein Objekt ist). Das >Ich denke< ist gar nicht zu objektivie-
ren, da es zu jeder Objektivation schon »vorausgesetzt« (A 366,
402) wird und selbst im gedachten Ich nur als das die Gegenständ-
lichkeit desselben vermögende Bewußtsein sich ausdrückt, aber nicht
selbst erscheint. Die Unselbstgenügsamkeit und das Verwiesensein-
auf-etwas, welches dann, um begrifflich artikuliert werden zu kön-
nen, bestimmt und bedingt ist, hat zur Folge, daß Denken »jeder-
zeit Schranken beweist« (B 71).
Die zweite Auflage der transzendentalen Ästhetik hat gleich im
zweiten Satz einen merkwürdig restringierenden Zusatz (der in

132
A fehlt). Es heißt dort, daß die unmittelbarste Beziehung auf Ge-
genstände und das, »worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die
Anschauung« sei und in ihr »der Gegenstand gegeben wird; dieses
aber ist wiederum«, so heißt es, »uns Menschen wenigstens, nur da-
durch möglich, daß er das Gemüt auf gewisse Weise affiziere«
(B 33; vgl. B 59). Ändert sich diese Situation vielleicht dann, wenn
es nicht äußere Data, sondern Aktivitäten des Ichs selbst sind
(B 68), vermöge deren es sich nicht durch den äußeren, sondern
durch den inneren Sinn selbst affiziert (B 68)? Beim Paradigma
der »Selbstaffektion« liegt die Versuchung nahe, das erscheinende,
im innern Sinne wahrgenommene Subjekt, da es die Vorstellung
seiner selbst »setzt*, als Produkt einer absoluten »Selbsttätigkeit«
zu verstehen, d. h. so, daß das Ich sich wahrnähme, nicht wie es sich
erscheint, sondern »wie es von sich selber urteilen würde, wenn seine
Anschauung bloße Selbsttätigkeit, d. i. intellektuell wäre« (a.a.O.).
Das Sich-selbst-Denken ist jedoch »im Menschen« in keiner Weise
vom Etwas-Gegenständliches-Denken grundsätzlich unterschieden
(B 68/9): Geht das Handeln auf sich selbst, so ist das unentbehr-
liche Mannigfaltige eben das Subjekt selbst (als Substrat einer Syn-
thesis) und die sinnliche Anschauung die aller bloß zeitlichen (vom
»inneren Sinn« vermittelten) »Verhältnisse« in ihm, die durch reine
Apperzeption unter die Einheit eines Bewußtseins gebracht werden.
Die Möglichkeit der Selbstanschauung seiner als empirischen Sub-
jekts läßt also, wie man leicht einsieht, keinen Schluß auf ein abso-
lutes schöpferisches Vermögen zu, da sich das Subjekt auch nur als
sinnliches Mannigfaltiges in der Form (im Medium) der Zeit gege-
ben ist. Es fragt sich jedoch, wie das Ich, welches sich selbst affiziert,
sich jedoch nicht als unmittelbar selbsttätig anschauen kann, gleich-
wohl von dieser seiner nicht-empirischen Funktion ein Wissen ha-
ben kann, da es sich doch jederzeit nur als Objekt der Selbstan-
schauung hat und sich »daher in einem beständigen Zirkel (um sich)
herumdrehen« muß (B 404), indem es nur Prädikate von sich hat 3
(die Gedanken, in die es als >Ich denke< eingeht) »und wovon wir,
abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können«. Es ist
deutlich, daß, um vom >Ich denke< als reiner, jedoch nicht absolut
schöpferischer Apperzeption reden zu können, ich es schon als sei-
endes, nicht bloß als erscheinendes »voraussetzen« (z. B. A 402)
muß, welches unausdrückliche Bewußtsein sehr wahrscheinlich das
Vehikel für Kants Experimentieren mit dem Gedanken einer intel-
lektuellen Anschauung wurde. - Ein Zweites bleibt problematisch,
nämlich wie ich von der Apperzeption dasjenige Subjekt unter-
scheiden soll, welches von der Apperzeption affiziert wird. Inwie-
fern kann ich mich als Subjekt meiner Vorstellungen bezeichnen,
wenn Anschauungen den Charakter der Meinigkeit gar nicht ur-

133
sprünglich haben (A 91) und ich, als anschauendes Wesen, keinerlei
Selbstbewußtsein besitze? Ein (anschauendes) Wesen ohne wenig-
stens mögliches Selbstbewußtsein (seines Anschauens) ist aber ein
hölzernes Eisen. Die Vorstellung des Höchsten, sagt Kant, muß
ihrer Unendlichkeit halber eine Anschauung sein (denn Gott den-
ken, hieße, die Erkenntnis in Schranken legen; B 71). Diese An-
schauung soll zugleich unsinnlich sein, weil ihr »Gegenstand« nicht
in Zeit und Raum erscheinen, sondern beide bedingend gedacht wer-
den soll. Nun wendet Kant gegen ein solches Unterfangen der na-
türlichen Theologie ein, daß eine überkategoriale, die Bedingungen
von Anschauung und Denken überfliegende Anschauung uns gar
nicht möglich sei, da wir entweder gar nicht oder nur durchs Me-
dium der Sinnlichkeit anschauen können, d. h. grundsätzlich keine
»intellektuelle Anschauung« kennen (B 72). Wir sind unserem »Da-
sein sowohl als unserer Anschauung nach (die sein Dasein in Bezie-
hung auf gegebene Objekte bestimmt) abhängige Wesen« (a.a.O.).
Wenn das Relativpronomen in der Klammer als Akkusativ ver-
standen werden muß, so ergibt sich die interessante Behauptung, daß
unsere Anschauung vom Dasein der Apperzeption zugleich be-
stimmt wird, ohne daß der Anschauung dieses Dasein gegeben sein
kann.4 »Das >Ich denke<«, sagt Kant (Anm. B 158), »drückt den
Aktus aus, mein Dasein zu bestimmen. Das Dasein ist dadurch also
schon gegeben, aber die Art, wie ich es bestimmen, d. h. das Man-
nigfaltige, zu demselben gehörige, in mir setzen solle, ist dadurch
noch nicht gegeben.« Das bedeutet nichts Geringeres, als daß im
Selbstbewußtsein die Existenz der Essenz vorangehen soll; daß ich
mich, sofern ich mich habe, stets nur als empirisches Ich, mindestens
im Medium der Zeit (als »Selbstaffektion«5) vorstellen kann. Das
»Daß ich bin« (a.a.O.) ist im Denken begründet, das »Wie ich bin«
ist bloß mein Mir-Erscheinen, dadurch ich mich selbst affiziere als
Objekt-Ich. Sonach wäre das Daß-Sein ein Modus des Denkens
und dieses in bezug auf Selbstanschauung fundamentaler als die
Anschauung? In der Tat erhebt Kant die Frage nach einer »ande-
ren Selbstanschauung, die das Bestimmende in mir, dessen Sponta-
neität ich mir bewußt bin [wie?], ebenso vor dem Aktus des Be-
stimmens gibt, wie die Zeit das Bestimmbare« (als Material der Be-
stimmung), ohne welche Selbstanschauung »ich mein Dasein, als
eines selbsttätigen Wesens, nicht bestimmen« könnte. Hier kann
kein Zweifel mehr sein, daß Kant unter »meinem Dasein« nicht
meine in innerer Anschauung mir gegebenen mannigfaltigen Zu-
stände in der Zeit meint (vgl. auch das Ende des § 24), die der Ak-
tus des Denkens synthetisierend bestimmt, sondern den Modus des-
sen, das da in der Vorstellung Ich denke absolut agierend ist und das
es wirkt, daß alles von ihm Ge-dachte immer nur Erscheinung blei-

134
ben muß. Dieses Dasein, sagt Kant, »als eines selbsttätigen Wesens«,
kann ich »nicht bestimmen, sondern ich stelle mir nur die Spontanei-
tät meines Denkens, d. i. des Bestimmens, vor, und mein Dasein
bleibt immer nur sinnlich, d. i. als das Dasein der Erscheinung, be-
stimmbar« (a.a.O.).
Wenn man - trotz B 422/3 - einwenden will, daß Kant vom
»Dasein« nicht im ontologischen Sinne spreche (da er ja immer wie-
der die »Empfindung«6 das subjektive Korrelat der bewußtseins-
unabhängig daseienden Wirklichkeit-an-sich nennt), so bleibt doch,
zwar nun nicht das Dasein, aber doch das absolut Subjektive in
der Apperzeption dem Wissen selbst unzugänglich und wird nie
Gegenstand einer Anschauung, welcher Umstand eine strukturelle
Analogie zur Seinsweise des Urwesens aufdeckt. Ja, wir können
weitergehen und sagen: Das Denken geht stets nur auf Synthesis
des Mannigfaltigen der Anschauung, einerlei, ob diese sinnlich oder
rein ist, - darin liegt ja gerade seine Endlichkeit - ; es kann also
nicht auf sich selbst als absolute Spontaneität denkend gehen, da es
sich dann zur Erscheinung, zum Gegenstand des inneren Sinns her-
abbestimmen müßte; d. h. das absolut Spontane, da es sich nicht
denkend beschränken will, müßte sich selber anschauen1, aber so,
daß diese Anschauung ohne Zeit und Raum gelänge, wie Kant es
für das Urwesen in Anspruch nimmt. Das erwägt Kant tatsächlich
in einer Reflexion, N. 4336: »Die Wirklichkeit der Freiheit können
wir nicht aus der Erfahrung schließen. Aber wir haben doch nur
einen Begriff von ihr durch unser intellektuelles inneres Anschauen
(nicht den inneren Sinn) unserer Tätigkeit, welche durch motiva in-
tellectualia bewegt werden kann« (zit. Eisler, Kantlexikon, S. 18, in-
tellektuelle Anschauung<). Der Akt, durch den das reine Selbstbe-
wußtsein sich hervorbringt, muß also von ihm als ein Wissen seiner
selbst als absoluten Vollzugs hervorgebracht werden. Und daß dies
in der Tat der Fall sein muß, macht erst erklärlich, daß wir von der
Ursprünglichkeit und Unüberholbarkeit der reinen Apperzeption
überhaupt reden können, davon, daß sie von keiner weiteren Vor-
stellung begleitet werden kann, da sie selbst alle anderen begleitet
(B 132). Wo immer wir davon sprechen, daß das Ich in aller Ver-
einigung die Einheit ausmache, selbst aber sich als Spontaneität ent-
ziehe, müssen wir ein Wissen von dem voraussetzen, was da vor
aller Objektivierung »dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), wel-
ches denkt«, das »transzendentale Subjekt der Gedanken . . . = x«
(B 404) sei, von dem wir nur Prädikate haben, welche notwendig als
Erscheinungen schon sinnlich sind und uns das, was das >Ich denke<
eigentlich sei, gerade verstellen.8 Die Einsicht in die Unmöglichkeit
einer bloßen Reflexionstheorie, des Zirkels, in dem sich das Denken
immer um das entfliehende gründende Ich dreht, treibt notwendig

135
auf eine andere methodische Einführung der reinen Apperzeption,
als sie bei Kant gegeben wird. Unser Wissen, daß in der Identität
des Ich=Ich das gewußte (objektive) Ich dem unwißbaren (weil
Wissen begründenden) subjektiven Ich gleich sei, setzt ein Selbstbe-
wußtsein auch des unwißbaren subjektiven Ichs voraus: D. h. das
Ich muß schlechthin sich selbst setzen, und zwar so, daß es sich
zugleich als Wissen dieses Aktes setzt: Das Ich muß sich setzen als
seines Setzens bewußt. Die Formel des Sich-Setzens-als-sich-setzend
ist aber die der intellektuellen Anschauung, d. h. eines gründenden
Aktes der Freiheit, dessen Produkt das Wissen seiner selbst als die-
ses Aktes ist. Intellektuell ist die Anschauung kraft ihrer Spontanei-
tät und wegen des Für-mich-Seins des in ihr Gedachten, eine An-
schauung ist sie, weil in ihr etwas unmittelbar und ohne Trennung
von Anschauendem und Angeschautem gegeben und unter die Ein-
heit eines Bewußtseins gebracht wird. Wir haben in dieser Anschau-
ung den Fall, daß eine Analyse (Ich = Ich) zugleich seine Synthese
(Subjekt=Objekt) ist:
»Eine solche Anschauung ist das Ich, weil durch das Wissen des Ichs von
sich selbst, das Ich selbst (das Objekt) erst entsteht. Denn da das Ich (als
Objekt) nichts anderes ist als eben das Wissen von sich selbst, so entsteht
das Ich eben nur dadurch, daß es von sich weiß; das Ich selbst ist also ein
Wissen, das zugleich sich selbst (als Objekt) produziert« (I, 3, 369).
Da in der »intellektuellen Anschauung« Objektivität und Sub-
jektivität schlechthin vermittelt sind, ist die Kantische Trennung
beider in der Erscheinungswelt abstrakt. Die ganze transzendentale
Deduktion wird überflüssig, da jede Anschauung grundsätzlich die
meinige und jeder Gedanke sdion ein angeschauter ist. Nur die in-
tellektuelle Anschauung erklärt, inwiefern ich mich als »Subjekt der
Anschauung« ansprechen kann, noch bevor ich mich denkend thema-
tisiere.

Die Überbietung des Kantischen Standpunktes


durch Fichte und Novalis
So weit hat die frühidealistische Kantkritik das Theorem des
Selbstbewußtseins (auf welches Kant nie als auf einen Selbstzweck
Wert gelegt hat, da er eine Metaphysik-Kritik leisten wollte)
thematisiert und korrigiert. Eine nähere Betrachtung lehrt, daß der
Kantische Zirkel in potenzierter Form wieder aufersteht.
Durch den Satz: »Das Ich setzt schlechthin sich selbst als sich
setzend« (Fichtes Wissenschaftslehre 1794)9 scheint das Kantische
Problem zunächst gelöst: I. ist das Phänomen des Selbstbewußt-
seins nicht nur beschrieben, sondern genetisch erklärt durch einen
Akt, der selber keinen Grund hat (und mit Freiheit vollzogen wer-
den muß), der vielmehr das Wissen von sich als Grund (des Wissens

136
von sich als Grund des Wissens) selbst ursprünglich hervorbringt:
Das Ich setzt sich; 2. ist das Wissen, das das Ich von sich als Sub-
jekt-Ich jeder Selbstreflexion hat, erklärt, es setzt sich und er-
kennt 3. die Identität seiner selbst als eines Hervorgebrachten, sich
Habenden, mit sich selbst als Tätigungsgrund.
Gleichwohl gibt sich die Reflexion mit der Behauptung der un-
vordenklichen Gleichursprünglichkeit von Setzen und Sichhaben
nicht zufrieden. Sie entdeckt folgende strukturelle Ähnlichkeit mit
der Reflexionstheorie: In der Tätigung des Ich bleibt der Wissens-
grund vom Wissen-für-die-Reflexion (das An-sich vom Für-sich) un-
terschieden. Ohne einen unaktuiert in der Tiefe schlummernden Ur-
grund wäre das Wissen als sein Produkt nicht einmal frei zu postu-
lieren. Dieser Urgrund kann nicht selbst ins Bewußtsein fallen,
denn das Bewußtsein ist nicht der Grund, sondern sein Begründetes
(sein »Resultat«). Wir haben das Resultat früher als das es Produ-
zierende - dies ist eine Hauptentdeckung der Fichte-Studien und der
Motor zu Hardenbergs Gleidiung von Selbstaffektion und Zeit.
Das Ich, insofern es im Handeln auf sich selbst noch zurückgeht
und sein Für-sich-Sein noch als »Folge« des im Bewußtsein gehab-
ten An-sich-Seins reflektiert, kann nicht als höchstes Prinzip der
Philosophie anerkannt werden. Das Ich kann seine Unbedingtheit
nicht rechtfertigen aus einem selbst bedingten Zustand. »Das Ich«,
sagt Novalis, kann »in gewisser Rücksicht nie absolut erhoben sein«,
sonst würde »das Ich selber aufhören. Gefühl von Abhängigkeit«
(II, 259, Nr. 508). Die notwendige Rückbindung an die Reflexion
scheint die Ursprünglichkeit der Selbstvermittlung wieder in zwei
abfolgende Phasen zu zerlegen, in welchen das Ich sich als das Ge-
setzte, nie aber als das Setzende hat.
Bei Fichte werden diese Phasen aufs neue abstrakt: Das Setzen
vermag die Reflexivität, die Reflexivität (als Produkt des Setzens)
nicht das Setzen notwendig zu erklären. Ist die gesetzte Reflexion
das Produkt des Setzens, so wird zwar damit das Setzen als An-
sich des Ichs in mein Wissen herabgeholt, wird Für-mich, aber aus
der Reflexion allein so wenig wie aus dem abstrakten An-sich-Sein
des Grundes wird die absolute (nicht bloß beziehungsweise) Iden-
tität von Setzen und Sichhaben erklärbar.
Um Fichtes Theorem schlüssig zu machen, müßten drei Momente
im bewußten Ich vorausgesetzt sein, die das Ich gleichsam vorfin-
det, deren Grund ihm aber nicht verfügbar ist, da die aktuelle Be-
wußtheit im Ich sich nur weiß als ehedem im Grunde ruhende, mit
seiner Verwirklichung aber verbrauchte Möglichkeit. Diese Mo-
mente sind: 1. das objektive (oder praktische)10 Ich selber; 2. das
sich als dieses Objekt-Ich gewahrend wissende (reflexive) Ich und
schließlich 3. das die Identität der beiden Bewußtseinsmodi herstel-

137
lende, beide schwebend vereinigende Bewußtsein (oder die Einbil-
dungskraft; das »Durch«).
Die damit vorgegebenen Kombinationsmöglichkeiten lassen sich durch-
spielen; derart, daß jede folgende eine Defizienz in der vorangegangenen
ersetzt:
i. Das Ich setzt das Wissen. Aber das Wissen müßte (als vollständiger
Begriff) einen Gegenstand haben, in diesem Falle: das Ich. Also
2. Das Ich setzt das Wissen seiner als Ich. Da Ich ein Sichsetzen ist, wäre
also im bewußten Ich das Wissen vom Sichsetzen gesetzt. Nicht gesetzt
aber wäre, daß das gewußte Sichsetzen sein eignes Sichsetzen ist, oder:
Das Bewußtsein der Identität ist nicht mitgesetzt. Das Ich muß sich
darum
3. als Anschauung setzen, statt als Begriff. Aber, wie oben, bleibt eine
Anschauung ohne ein als etwas Angeschautes unverständlich. Darum
muß
4. das Ich sich setzen als 5ic&-anschauend. Aber daß wirklich Ich es bin,
welches sich anschaut, bleibt wie in (2.) unausgemacht. Das Ich gewahrt
nur die Anonymität einer Reflexion, deren Beziehungspunkt nicht mit-
gesetzt, nicht in die Relation eingebracht ist. Das absolut Gründende
im Haben-als-Begriff wie -als-Anschauung bleibt transzendent. Nur
wird das Begriffene als Sein, das Angeschaute als Tätigkeit vernom-
men - der Begriff fixiert, die Anschauung erhält (sehr Kantisch!) das
Medium der Agilität. Es müßten also
5. beide Parallela synthetisiert werden. Das Ich müßte sich setzen als
sein Sichhaben in der Anschauung mit seinem Sichhaben im Begriffe
e;a(cpv7)c vermittelnd. So würde sich das Ich zugleich als Tatsache wie
als Tun oder, um eine Hardcnbergsdic Distinktion zu antizipieren, als
Tatsache und Gesetz auffassen. Die Distinktion erhellt die Objektivi-
tät der beiden Abstrakta, die durch wechselseitige Erhellung die Un-
wißbarkeit des absolut schickenden Grundes entbehrlich machen sollen:
Gesetz sowohl wie Tatsache sind Objekte, nur unter verschiednem
Exponenten gesetzt (im einen überwiegt das Tun, im anderen die
Substantialität). Die Synthesis von Tun und Getätigtem macht nun
zwar verständlich, daß das Ich eines mit dem anderen verbindet (und
ursprünglich verbindet); nach wie vor aber bleibt unbegreiflich, daß
wirklich Ich es ist, der das eine und das andere zumal ist. Also muß
6. eine letzte und höchste Synthesis das absolut tätige Ich mit seinen
objektiv-synthetisierten Teilgliedern so verschmelzen, daß sie das Ich
als Ich in das Bewußtsein der Unzertrennlichkeit von Subjekt und
Objekt miteinbringt. Das Ich muß nicht nur »sich setzen als sich set-
zend« (Fichte, I, 193, 528) - in dieser Handlung bleibt das Sich ein opa-
kes X - , sondern es muß sich setzen als durch das Setzen seiner selbst in
seiner Ichheit gesetzt. Hier endlich wird das Bewußtsein, die Reflexivi-
tät des Ichs ins ursprüngliche Setzen selbst integriert (beide sind nicht
mehr ablösbar), das Setzen ist reine Lucidität, »Tätigkeit, der ein Auge
eingesetzt ist«. Damit wird die Trennungstendenz der Reflexivität auf-
gehoben und ein Tun postuliert, das sich nicht Wissen entgegensetzt
und einverleibt, sondern sein eignes Wissen zumal ist. Aber diese unvor-

138
denkliche Einerleiheit und Wechselbedingung ist selbst nur als Dyas
sprachlich zu artikulieren, bleibt ihrerseits von ungefähr und offenbart
sich in jeder wirklichen Handlung als absolut Vorauszusetzendes, das
nicht seinerseits herleitbar ist; gleichsam als ein absoluter Anfang, der
jedes Bewußtsein als ein sekundäres Moment sich reflektieren macht.
Das wirkliche (selbstbewußte) Ich verfügt nicht über die Bedingung
seiner selbst, weil es diese Bedingung ist. Sein Sein ist ihm zeitlich frü-
her als sein Grund: es ist an-sich-für-sich, d.h. sein Sein immer schon
gewesen, aber nie aus-sidi.
Diese letzte Position, bereits im Spiegel von Hardenbergs Kritik
dargestellt, ist Fichtes reifste und letzte gewesen. Sie lag Novalis nie
vor, sondern er hat die Fichteschen Konsequenzen bis in die letzte
Möglichkeit durchgespielt, um zu erkennen, daß das Ungenügen an
der Fichteschen Position auch noch in der günstigsten Fassung nicht
zu tilgen ist. Aus diesem Ungenügen ist sein eigener philosophischer
Entwurf motiviert.
Was Novalis an Texten zur Verfügung stand, waren nur jene im
Bannkreis der ersten Wissenschaftslehre verharrenden Arbeiten Fich-
tes; und er las später auch Schellings Schriften. Beide Autoren hat
Novalis mit einer Aufmerksamkeit studiert wie kein Zeitgenosse je-
ner Jahre. Schelling kannte den 3. Teil der Wissenschaftslehre noch
überhaupt nicht (er las sie erst 96; Brief an Niethammer, Stuttgart,
22. 1. 1796), als Novalis Fichtes eigene Entwicklung der praktischen
Philosophie in wesentlichen Punkten bereits antizipierte.
Dabei fällt auf, daß Novalis von Beginn an eine bei Fichte nur
angelegte Differenzierung vollzog. Das ist die von absolutem Ich
- das, weil absolut, gar kein Ich mehr sein kann und bald in »Gott«
umbenannt wird (der Ausdruck »Ich« könne jetzt gestrichen wer-
den, vermerkt Novalis) - als »Sphäre« zu seinen »abstrakten«
Momenten Ich und Nicht-Ich. Das absolut Setzende ist zwar Ich -
aber nicht dasjenige Ich, dem entgegengesetzt werden kann.
»Dem absoluten Ich entgegengesetzt«, heißt es bei Fichte, »(welchem es nur,
insofern es vorgestellt wird, nicht insofern es an sich ist, entgegengesetzt
werden kann, ...) ist das Nicht-Ich schlechthin Nichts; dem einschränck-
baren Ich entgegengesetzt ist es eine negative Größe« (Fichte I, 110).
D. h. dem Absoluten ist gar nichts entgegenzusetzen, weil es gar
»nicht etwas« (I, 109) ist - also ist nur dem Ich qua Tatsache (im
Gegensatz des Ichs als Tathandlung, eine für Hardenberg gravie-
rende Neuerung), d. h. dem schon reflektierten Tätigen oder dem
Ich als Begriff (im Gegensatz zum Ich als Anschauung) - ein Nicht-
Ich entgegenzusetzen.11 Daß Fichte, obwohl er in der Klammer
diese Restriktion deutlich macht, gleichwohl das Nicht-Ich (dem
absoluten Ich entgegengesetzt) für »schlechthin Nichts« erklärt,
zeigt, wie er sich selbst in das Dilemma verstrickt, welches er sich

139
durch das Verbot aufbaut, das absolute mit dem beziehbaren Ich
zu verwechseln (vgl. I, 279, »Nach der soeben vorgenommenen Er-
örterung . . . « usw.). Novalis zieht mit, wie man sagen muß, schlaf-
wandlerischer Sicherheit - und offenbar, ohne sich zunächst einer
Abweichung von Fichte bewußt zu sein - die Konsequenz: Das Ich,
dem entgegengesetzt werden kann, ist allein wirkliches, ist allein
endliches Ich.12 Ichheit hat nämlich die Struktur einer inwendigen
Lucidität. Es ist stets in sich reflektiert, stets für sich - damit aber
sdion ein »Abhängiges«. Denn es ist in Relation zu sich. Relation
ist aber das Gegenteil von Absolutheit. Das Absolute ist zwar in der
Tat das Setzende, aber als Setzendes nicht minder absoluter Gegen-
satz meines Ichs als meines Nicht-Ichs. Die »Sphäre« ist nicht nur
höher als die objektiven, sondern auch als die subjektiven Gegen-
stände. Der Gegensatz ist nicht mehr zwischen Ich und Nicht-Ich
etabliert, sondern zwischen Transzendenz und der aus Nicht-Ich
und Ich zumal konstituierten Endlichkeit befestigt. Das Ich qua
selbstbewußte »Thatsache« ist nicht absolut — denn es ist in einem
Verhältnis zu sich selber -, sondern findet sich vor auf Grund und
als »Resultat« einer außer ihm gelegenen Möglichkeit. Es findet
sich, in Schleiermachers Terminologie, seines »transzendenten Grun-
des« beraubt, als »frommes Selbstbewußtsein« in »Abhängigkeit«13
von eben dem, dessen es nur durch unverfügbares Gesetztsei« teil-
haftig ist. Die Möglichkeit, deren Aktualisierung das Ich als Resul-
tat ist, ist für das Ich deshalb unverfügbar, weil sie, wenn das Ich
sidi als Ich ergreift, schon verbraucht ist. Sie ist keine Potenz mehr,
sondern zum reinen Akt erstarrt. Denjenigen Bewußtseinsmodus,
kraft dessen sich das Ich seiner Abhängigkeit versichert, nennt No-
valis — nicht ohne Tradition, wie man weiß, aber in Wahrheit
doch erst Tradition schaffend - »Gefühl«, später »Erinnerung«
oder »Gedächtnis«. In dieser Substitution des Begriffs »Gefühl«
durch den des »Gedächtnisses« kommt Bewußtsein der Zeitlichkeit
jenes Selbstvermittlungsprozesses (Novalis spricht von »Selbstbe-
rührung«) zum Ausdruck. Das Ich erfaßt seine Dependenz als
Vergangenheit (hier wird also mit der Schellingschen Rede von des
Ichs »transzendentaler Vergangenheit« buchstäblich Ernst gemacht),
und sein Streben nach Kompletion, welches Novalis »Ergänzungs-
trieb« nennt, wird als Zukünftigkeit konstituiert. Die Trias »Ein-
bildungskraft-Gefühl-Reflexion« wird später ersetzt durch die
»Zeit-Gedächtnis-Ahndung«. So wird also die Selbstvermittlung
zwisdien zwei »Ewigkeiten«, einer »a parte ante« und einer »a
parte post«, selbst als ein zeitlicher Prozeß, der einesteils die »Zer-
setzung« ins Diskrete und andererseits die »Sehnsucht« zurück nach
neuer Synthese allaugenblicklich erfährt, zum Modell eines voll-
kommen eigenständigen Versuchs der Lösung, den wir, zunächst

140
vorwiegend anhand der Fichte-Studien, im folgenden in allen Ein-
zelheiten zu interpretieren haben.

Der Einsatz der »Fichte-Studien«

Nach der Anordnung der Herausgeber beginnen die frühesten


uns erhaltenen philosophischen Manuskripte Hardenbergs mit einer
Auseinandersetzung mit dem Satz der Identität A = A oder, aufs
Selbstsein angewandt, Ich = Ich. Schon die »grammaticalische«
Struktur verrät die Triadik von »Setzen, Unterscheiden und Ver-
binden« (II, 104, Nr. i). Aber diese drei Momente sollen gerade
nicht in ihrer Selbständigkeit, sondern in ihrer Identität betrachtet
werden:
»Jedes dieser drey ist alles Dreyes und dis ist Beweis ihres Zusammen-
gehörens. Die Synthese ist These und Antithese oder kann es seyn. So die
These; so die Antithese. . . . Eins in allem / Alles in Einem I* (II, 109,
Nr. n , Z. 25 ff.).
Die Copula »Ist* liefert den »allgemeinen Gehalt«, der im iden-
tifizierten Relatum »als bestimmte Form aufgestellt« (II, 104,
Nr. 1) wird. Das identische Sein kann nur durch einen A oder Ich
in »Schein« verwandelnden »Scheinsatz* »dargestellt« werden
(a.a.O.): »Wir verlassen das Identische um es darzustellen«. An-
ders gesagt: das Sein der Identität wird zum Geschehen der Ver-
einigung, und dies Geschehen ist »nur scheinbar«: »es geschieht, was
schon Ist« (a.a.O.). Die aktuale Synthetisierung erbringt ein »Re-
sultat«, das dem Akte zuvor bestand. Das Sein war schon, bevor es
»durch sein Nichtseyn, durch ein Nichtidentisches«, durch ein »Zei-
chen« artikuliert werden konnte.
Damit wird Fichtes eigentliches Problem beschworen: Um sich
reflexiv (oder »relativ« auf sich selbst) fassen zu können, muß das
in der Wendung der Reflexion Gespiegelte schon als das mit dem
Verglichenen Gleiche bekannt sein. Wir müssen also im ersten Ich
(der Thesis) bereits ein aller Reflexion zuvorkommendes Selbstha-
ben postulieren, um die das Sein in Schein verwandelnde Reflexion,
die im Geschehen der Vereinigung die Identität der Relata schein-
haft bestätigt, überhaupt erklären zu können. Wenn gleich das erste
Moment der Relation alle Momente: Gehalt, Form und deren Iden-
tität in sich enthält, können alle drei als gleichursprünglich bezeich-
net werden. Novalis kennzeichnet sie als »dreyfach idem«, unter je
verschiednem Exponenten.
»Man muß den Begrif schon wesentlich im Kopfe haben - den
man lernen soll«, sagt Novalis an anderer Stelle (263, Nr. 535).
Und in einem seiner ersten Versuche, sich von der Fichteschen Ter-
minologie zu lösen, heißt es: »Das Synthetische Ich, wie wir es nun

141
nehmen, ist ein Product des analytischen Ich« (140, Z. 25/6); d. h.
das bereits bewußte, in sich reflektierte Ich oder das »Resultat« der
Selbstoffenbarung besteht nicht nur seinem Grunde zuvor, sondern
produziert seinen Grund.
In dieser Zuspitzung ist die Fichtesche Richtung der Bewußt-
seinsgenese aus seinem transzendenten Grunde in seine selbstbe-
wußte empirische Realität genau umgekehrt. Das, was da ist, ist
nicht nur der Idealität nach früher als seine Möglichkeit, sondern
wir als die je schon Gesetzten können gar nicht anders denn die An-
nahme einer Derivation aus dem Grunde und den Grund selber
als Produkt unseres reflexiven Seins zu setzen.
Die Paradoxie des Selbstseins besteht darin, daß es sich nur als
Reflex verwirklicht und sich im Reflex zugleich als präreflexiv-iden-
tischen »Gehalt« bekundet. Das Ich erkennt sich als Gehalt, aber es
erkennt ihn nur in der Form, im Reflex, in dem, was der Gehalt
nicht ist (Bestimmtsein »für das Ich« ist »Form«, Sein ist Gehalt).
»Wissen, als eine Bestimmung, kann es ihn«, nämlich den schon vor
der Reflexion »Resultat« seienden Gehalt, »nicht, denn sonst müßte
er in ihm seyn«. Mit anderen Worten: Nur »als Selbst Gehalt kann
es Gehalt erkennen« (104); und diese innerliche Erkenntnis ist ge-
rade keine Erkenntnis »für das Ich« oder »für sich« (104, Z. 29/30;
138, Nr. 49).
»Reflectirt das Subject aufs reine Ich - so hat es nichts - indem es/ was
für sich hat - reflectirt es hingegen nicht darauf - so hat es für sich
nichts, indem es was hat.« (137/8, Nr. 49).
Durch jedes Wissen qua Reflektieren wird »ein Was« gesetzt
(105, Nr. 2). Dieses Was ist nichts anderes als das »Seyn« oder der
»Gehalt« des Ichs selbst, doch hat es diesen Gehalt nicht als sich
(ebd.). Folglich wird Objektivität durch »diese Scheingegenset-
zung« (106, Nr. 3) des Gehalts gegen seine Reflexivität konstituiert,
für welche der Gehalt zu etwas anderem, zu etwas außerhalb, unab-
hängig Seiendem wird. Da aber Gehalt und Form »idem« sind, muß
der ganze soeben beschriebene Prozeß als in einer »Sfäre« stattfin-
dend gedacht werden. Das Ich würde sich nie als Ich thematisieren
können, wenn der Gehalt nicht auf eine präreflexive Weise »ge-
wahrt« (105) und der Reflexion imprägniert würde. Nur muß dies
Gewahren vom reflexiven, das Sein setzenden Wissen deutlich un-
terschieden werden. Novalis nennt es »Fühlen« oder »Glauben«:
»Was ich nicht weis, aber fühle/ das Ich fühlt sich selbst als Gehalt/
glaube ich«. Denn »was die Reflexion findet, scheint schon dazu
seyn« (112, Nr. 14). Ohne Sich-Glauben qua Gehalt kann die Re-
flexion nur fremdes Sein, nicht aber Sich-als-Sein finden.
»Muttersfäre« ist das Bild, welches Novalis für die übergeord-

142
nete Synthesis von Gehalt und Reflexion verwendet. Das »sich auf
ein was beziehende« Wissen setzt (105, Z. 23), wenn es Selbst-
bewußtsein konstituieren soll, ein auf nichts bezügliches, unableit-
bares Selbstgewahren voraus (105). Wissen kann folglich »beym
Fühlen« »nur mediat vorkommen«, weil hier gerade die Seinsset-
zung zugunsten des Seins-selbst unterbleiben muß. Zwei Gehalte
müssen also unterschieden werden: der bloß reflektierte äußere und
der im Rücken des Für-sich als unvordenklicher Grund lauernde,
der zugleich Sich als Sich vermittelt, dazu der Reflexion bedarf und
also nie immediat sich wissen kann. Das setzende »Bewußtseyn«,
sagt Novalis, »ist ein Seyn außer dem Seyn im Seyn« (106) oder
»ein Bild«.
Das Bewußtsein ist ein relatives Nichts, das sich selbst, insofern
es ist, bloß fühlt und nur anderes als Sein wissen kann. Sein eigenes
Sein ist nur ein Reflex, (»ein unrechtes Seyn«) oder ein »Bild« des
seienden Gehalts, der wiederum nur im Bewußtsein als Sein sich
enthüllt. Jeder reale Bewußtseinsakt muß also eine Synthese von
Gefühl und Wissen sein. Wäre er das erste nicht, so wäre kein Wis-
sen Gewahren (Sich-Wissen), wäre er das zweite nicht, so hätte er
nie einen Gegenstand, sondern bliebe ein mit sich selbst unbefan-
genes In-sich-Sein. Eine Thematisierung des abstrakten Gefühls,
welches allein »was*, und der abstrakten Reflexion, welche allein
»nichts* ist, gleitet von selbst in die Einsicht, daß »der Mensch...
die Synthese« (118, 16 ff.) ist. Die Synthese oder, wie Novalis sagt,
»das Leben« (später als »Einbildungskraft« bestimmt), begreift alle
drei Momente als Artikulationen des »Unaussprechlichen«.
Die Einführung dieses Begriffs macht ein erstes Resümee möglich:
Der Gehalt ist Sein, und zwar ein modifikationsloses »Nur Seyn
- oder Chaos« (106, Nr. 3), und bedarf, um »bestimmtes Seyn« zu
werden, der »formenden . . . Reflexion«. Die formal das Sein bestim-
mende Reflexion hebt sich selbst auf im Gefühl als gegenstandslosem
Bewußtsein vom transzendenten Grund (»der Urthesis«) und ver-
mittelt so das Sein mit dem Ichsein (der Reflexivität). Im Gefühl
wird das thetische Wissen auf den Grund verwiesen und dadurch die
Relation Wissendes-Gewußtes als Relation zerstört. Es bleibt die
präreflexive Selbstgewahrung, die den Gehalt aus dem reflexiven
Fürsich heraus- und sich voraussetzt, aber nicht mehr als Gegen-
stand, sondern als unvordenklichen Grund, der dem Wissen tran-
szendent bleibt. Da Philosophie »nur aufs Seyn« geht (107), »fühlt«
der Mensch »die Grenze, die alles für ihn, ihn selbst, umschließt, die
erste Handlung; er muß sie glauben, so gewiß er alles andere weiß.
Folglich sind wir hier noch nicht transscendent, sondern im Ich und
für das Ich« (Nr. 3).
Nur durch »Alienation« seiner selbst wird das urständlich-set-

M3
zende Ich seiner auch gegenständlich bewußt. Es spiegelt sich völlig
ab u n d »findet« in seinem adäquat abgespiegelten »Bilde«,
»daß es bey ihm selbst eben so seyn muß, daß die Handlung auf keine
andre Art bey ihm geschieht, die dieser Reflexion vorhergeht«. Das gespie-
gelte Ich ist aber immer schon ein sich übereignetes »Resultat«, reflektiert
alles im nachhinein. Der Grund ist schon, wenn das setzende Bewußtsein
die Augen aufschlägt, und muß schon sein, weil sie sonst auf kein
»Was« treffen könnten und das Bewußtsein im reinen In-sich-Sein bleiben
müßte. Wie weiß aber das bedingte Ich das? »Das erste Bezeichnende wird
unvermerkt vor dem Spiegel der Reflexion sein eignes Bild gemahlt haben,
und auch der Zug wird nicht vergessen seyn, daß das Bild in der Stellung
gemahlt ist, daß es sich selbst mahlt/« ( n o , Z. 20 ff.). Damit ist Fichtes
Formel von Sich-setzen-als-seines-Setzens-bewußt schon erfüllt, bevor
Fichte ihre Relevanz recht bemerkte.
Novalis faßt zusammen: »Natürlicher Gang der Reflexion zum
Resultat und vom Resultat zur Reflexion, als dem Resultate des
Resultats« (107, N r . 3). Die Reflexion biegt sich zurück auf das,
was schon geschehen ist, und faßt dasselbe gegenständlich; geht so-
dann vom Resultat als dem Gefundenen zurück auf sich selbst (als
das Gegenstands-Bewußtsein-des-Resultats). Dieses Im-Bewußt-
sein-reflexiv-gehabt-Werden des Resultats ist aber das Resultat des
Resultats, d. h. die Folge des schon geschehenen Sich-Habens, ohne
welches undenkbar wäre, d a ß Ich sich (gegenständlich) hat.
Das Gefühl wird so der Indikator der Synthesis Ichheit: Das Ich
findet seinen Grund als »Ich« (selbstlucides Sein) - aber nicht eher,
als bis es sich aus sich selbst ekstatisch gelöst hat, den G r u n d als
vormals unbewußt von sich unterscheidet und damit das Gefühl
des »Nichtfrey«-Seins (105, N r . 1) von sich absondert, um sich
»frey« zu sich selbst als seiendem verhalten zu können. Das Be-
wußtsein löst sich aus seiner Faktizität, indem es sie zugleich erst-
mals empfindet.

Nicht-setzendes u n d setzendes Bewußtsein


Es bedarf einer wesentlich nuancierteren Terminologie, als Nova-
lis aus Fichtes Wissenschaftslehre lernen konnte. Hardenbergs Unsi-
cherheit, für durchaus originelle Erfahrungen und Entdeckungen an-
gemessene Bezeichnungen zu finden, verrät sich im ständigen Wech-
sel der Termini und Kategorien, unter denen er, gleichsam in immer
weiter ausgedehnten Terrainabschreitungen sich bewegend, ständig
dasselbe Problem umkreist.
Jenes Faktum, daß das Ich seinem eigenen Sein immer schon vor-
ausbesteht, andererseits aber sein Wirklichsein früher erschließt als
seine »Voraussetzung«, also die Konversität der Richtungen im be-
wußten Ich, erklärt Novalis durch die Behauptung eines nicht-the-
tischen Bewußtseins. Es m u ß ein Bewußtsein geben, das nicht pri-

144
mär Reflexion ist, d. h. ein Bewußtsein, das sich seinem Gegenstand
nicht entgegensetzt, sondern ihm innewohnt, wodurch der Gegen-
stand freilich aufhört, Gegew-stand zu sein.
Als Antwort auf die Frage, nach »was für einer Theorie« er »su-
che«, notiert Novalis: »Ich suche, das, was in uns denkt etc. zu
ordnen . . . Ein Schema für mich« (II, 250, Nr. 465). Dasjenige, was
in uns denkt, ist aber als Grund der Gegenständlichkeit selbst unge-
genständlich (105) und darum nicht zu »lernen« (II, 113, Nr. 15).
Durch »Selbstbetrachtung« wird die methodische Suche nach dem
Grund selbst verdinglicht. Das Ich »würde also wieder Gegenstand.
Nein Selbstbetrachtung kann es nicht seyn, denn sonst wäre sie
nicht das Verlangte. Es ist ein Selbstgefühl vielleicht« (a.a.O.). Das
»Gefühl«14 - im Gegensatz zum verdinglichenden Bewußtsein
von sich (der Reflexion) - ist, »rein« betrachtet, »ein Gesetztseyn
durch ein Nichtsetzen«, wohingegen die »reine Reflexion« ein
»Nichtsetzen durch ein Gesetztseyn«15 wäre (II, 125, Nr. 31)18. Im
Gefühl offenbart sich, immediat und ohne Rückschlüsse auf den
eigenen Grund, das »Urseyn« (142, Z, 13), »das Unbekannte« (144,
Nr. 78), das »Unbewußte« (142, Nr. 63), ohne als Absolutes ge-
wußt zu werden, weil es nicht thetisch gesetzt, d. h. nicht als Gegen-
stand reflektiert werden kann. Dieses Gefühl ist der Zustand der
Identität-mit-sich-selbst: der »Gehalt«, »Stoff«, die »Natur«. 17 In
dem Satz: Ich weiß sich, hat das Gefühl die Stellung des SICH und
vermittelt das Ich mit dem thetischen und im ausdrücklichen Sinne
reflexiven Wissen von sich, ja macht allererst möglich, daß die re-
flexive Rückbeziehung, die die urständliche Selbstidentität zerreißt,
doch das Ich als einen synthetischen Verband konstituieren kann.
Das Gefühl ist zumal Grund des thetischen Wissens, für welches es
Gegenstand wird, und nicht-thetisches Bewußtsein (von) sich selbst.
Da jede Selbstanschauung uns »wieder. . . (zum) Gegenstand«
macht, wir aber das Faktum präreflektiven Selbstbewußtseins nicht
abweisen können, müssen wir ein Selbstgewahren annehmen, in
welchem wir uns »von Gegenstand auf Gegensatz« (206, Z. 25/6)
zurück-»beziehen«.
Das Gefühl, dessen vielerlei »Anschauungen« »die filosofischen
Wissenschaften« (113) konstituieren, ist das eigentliche Substrat
der philosophischen Selbstanschauung, ohne seinerseits, kraft der
inwendigen Reflexivität seines Bewußtseins, aufzuhören, über sich
hinauszuverweisen. Es ist »ein Gefühl von innern, nothwendig
freyen Verhältnissen«, d. h. — qua nicht-thetisches Bewußtsein an-
tithetischer Synthesis - selbst »Form* für einen transzendenten In-
halt. Das Gefühl bedarf »etwas Gegebenes« (114, Z. 3/4) (so wie
die Philosophie des Gefühls), nämlich dessen, was sich in ihm offen-
bart. Über dieses Offenbarungsbewußtsein hinaus gibt es keinerlei

145
Wissen: »Die Grenzen des Gefühls sind die Grenzen der Philoso-
phie. Das Gefühl kann sich nicht selber fühlen« (114 oben). Das
ihm Gegebene ist also nicht es selbst, sondern »die Urhandlung als
Ursache und Wirkung«. Das Gefühl ist, obwohl Quelle und Gegen-
satz der Reflexion, selbst schon ein derivater Modus, da ihm die
dialektische Einheit »gegeben« ist (wiewohl präreflexiv gegeben),
was nur möglich ist, wenn das Gefühl nicht »abstracte« Richtung
aus dem Unendlichen ins Endliche, sondern in Wahrheit dialektisch
eins mit der Reflexion ist und umgekehrt, nur unter verschiedner
»Preponderanz«. Gefühl könnte ohne eine wenigstens latente Dis-
position zur Reflexion nicht die reine Lucidität des Sich sein, als die
Novalis es behauptet. Wirklichkeit (d. h. Beschränkung) kommt
dem Gefühl also erst zu, wenn es sich in die Fesseln der Reflexion-
im-eminenten-Sinne begibt und thetisch gewußt wird: Erst dann ist
es eigentlich statthaft, vom Reflexivum »Sich« zu reden, wenngleich
dieses Reflexivum von der es thematisierenden Reflexion abgehoben
werden kann und sogar den Charakter der Selbstidentität bewahrt.
Durch »Betrachtung« des Gefühls verschwindet freilich dessen
»Geist« (Z. 7, a.a.O.): Dem Zugriff der Thesis entzieht sich das
eigentlich Offenbarende, und als Schatten bleibt dessen Substitut,
das reflexive Sich zurück, welches sich die Reflexion durch den Satz:
Ich hat sich, anverwandelt. Das Offenbarende erzeigt ex negativo
seine Wirksamkeit darin, daß es das Ich als mit dem Sich in einer
übergeordneten »Sfäre« identisch, trotz der Abtrennung, erkennen
läßt: »Aus dem Produkt läßt sich nadi dem Schema der Reflexion
auf den Producenten schließen.«18
Mit der Thesis des Gefühls beginnt erst das Wissen im eminenten
Sinne. Die Reflexion des rein wesenden Gefühls ist eine synthetische
Handlung, ihr Produkt eine Anschauung — späterer Zusammen-
hang lehrt, daß sie die Voraussetzung für die intellektuale An-
schauung wird und also die »Urhandlung« ist. Beide sind substan-
tiell identisch. Was hier unter dem Exponenten des Gefühls (Ur-
handlung), ist dort unter dem Exponenten der Reflexion (int.
Ansch.) synthetisiert.19 Man darf sich nicht irreführen lassen,
weil Novalis dieses Bewußtsein, zu dem die Reflexion nur die
Hälfte mitwirkt, schlechthin als Reflexion überhaupt bezeichnet.
Die synthetisierte Anschauung wird als diese nicht gewußt, da die
Synthese weder in These noch in Antithese erscheinen kann - denn
beide wesen nur als abstrakte Momente einer erst als diese seinsfähi-
gen »Sfäre«. »Gefühl scheint das Erste - Reflexion das Zweyte zu
seyn« (Nr. 16) - »scheint«, denn für uns beginnt das Bewußtsein
mit der Reflexion, in deren Spieglung sich die Reihenfolge ver-
kehrt (im Zugriff auf sich erfährt die Reflexion in stetem »Rollen-
tausch« das, was sie nicht ist, aber thetisch setzt). Beide aber, Ge-

146
fühl wie Reflexion, sind, bevor sie jene »Mittelanschauung« ge-
meinschaftlich konstituieren, rein wesende »Nichtobjecte«. Das
»Gefühl« liefert die »Tendenz*, die »Reflexion« das »Produkt*. Die
»Mittelanschauung«, von welcher in Nr. 17 die Rede ist und von
der versichert wird, daß sie »nicht ins Bewußtseyn kommen kann«,
ist substantiell eines mit jener »Anschauung«, von der in Nr. 16 die
Rede war - d. h. sie ist die intellektuale Anschauung, aus Gefühl
und Reflexion synthetisiert, aber nun unter dem Exponenten des
Gefühls. - Die Lesarten zeigen Hardenbergs große Unsicherheit im
Wortgebrauch - sie schlägt sich in den mannigfaltigen, verwirren-
den Neubenennungen nieder. Die als »Gefühl« apostrophierte An-
schauung ist, qua »Mittelanschauung«, selbst eine Synthesis unter
Präponderanz des Gefühls, so wie die »Reflexion« (Anschauung
dieser Mittelanschauung) dieselbe Synthesis unter verändertem
Exponenten wiederholt. Novalis sagt: »Das Produkt dieser [intel-
lektualen] Anschauung wird nun das Object der Reflexion« (115),
die »intellectuale Anschauung«20 also selbst der »Stoff der Filoso-
fie« (116, Z. 27 ff.).
Die »Mittelanschauung«, das konkrete Gefühl, ein »Object, was
nicht Object ist« (117 oben), wird also zum Medium der Selbstre-
flexion der Ichheit. Novalis unterscheidet zwei Handlungen (»An-
wendungen«, sagt er), deren erste, wie es heißt, die zweite »ver-
ursacht«, deren zweite »eine Beziehung auf die erste Handlung« hat

Die erste Handlung ist die intellektuale Anschauung, ihr »Pro-


dukt - absolutes Ich« (120,); die zweite Handlung ein »sich selbst
auf die Schultern springen« (IX, 456, Nr. 993) oder Reflektieren
der ersten nicht-thetischen Reflexion, ihr »Product - Subject und
Object«. Die nullte Handlung, um es paradox zu sagen, wäre die
Selbstoffenbarung im Gefühl, die aber mit der ersten Handlung,
insofern sie Handlung ist, in eins fällt, da die Reflexion über das
Gefühl nicht hinaus kann (II, 114, Z. 1/2). Anders gesagt: Die
erste Handlung (»die erste Reflexion«) bekommt »ihren Stoff
- ihr Object«, aus dem »abstracten« Gefühl selbst (114/6), das ihr
»Gehalt« wird. Die Reflexion dieses unvordenklichen Gehalts er-
zeugt erst die disjungierende Reflexion, die das Sich in Relation auf
ein Bewußtsein setzt, derart, daß das Gefühl »die Mittelanschau-
ung mit hervorbringt« (115, Nr. 17, Z. 18/9).
Wenn Novalis die erste Synthesis auch »absolute«, die zweite
Synthesis dagegen auch »relative Urhandlung« nennt, so deutet
diese terminologische Variante auf eine Entdeckung, die Novalis
mit solcher Eindrücklichkeit überfallen zu haben scheint, daß er bis
in seine spätesten Aufzeichnungen von der Faszination über dieses
Phänomen nicht mehr loskommt. Es ist die Umkehrung der ur-

M7
sprünglichen Verhältnisse in der Reflexion, der »ordo inversus« (II,
127, Nr. 32, Z. 20; a.a.O. 128, Nr. 36, Z. 30; a.a.O. 131, Nr. 41,
Z. 3; 133, Nr. 44, Z. 26; VIII, 65, Z. 8/9 u. passim; vgl. auch »So-
fistik des Ich«, II, 136, Nr. 46, Z. 6 u. passim). Die Differenz der
Richtungen der Offenbarung unterscheidet Novalis durch die Vor-
sätze »im Bewußtseyn« bzw. »im Grunde« (115, Z. 27a.). »Im
Grunde« offenbart sich das Absolute, »abstract genommen«, als »ein
Schreiten des Unbeschränkten zum Beschränkten« (114), aber die
Reflexion (»im Bewußtseyn«) spiegelt dieses Verhältnis verkehrt und
begreift die Bewegung so, »als gienge es vom Beschränkten zum
Unbeschränkten, weil das Bewußtseyn von sich, als dem Beschränk-
ten ausgehn muß«. Die zweite Reflexion spiegelt dies Spiegelbild ein
zweitesmal und kehrt - durch Spieglung der Spieglung - das ver-
kehrte Verhältnis wieder um, so daß auch dem beschränkten Be-
wußtsein die Offenbarung nun als »ein Schreiten vom Unbeschränk-
ten zum Beschränkten . . . erscheint« . . . »und (doch) . . . eigentlich
gerade ein umgekehrtes Schreiten« ist (115 oben). Da wir aber über
das der Reflexion Zugängliche nicht hinaus können, ist die zweite
Reflexion der einzige uns erreichbare Begriff der Urhandlung, denn
sie allein stellt die Offenbarungsfolge ins rechte Verhältnis.
Novalis' eigenes dunkles Resümee sei kurz kommentiert (die
Ähnlichkeit mit 107, Z. 13/4 ist geringer, als Mahls Einleitung glau-
ben macht):
»So haben wir in unserer De- Philosophie ist ja »ursprünglich ein
duktion der Filosofie den natür- Gefühl« (113) und soll nun, »im
lichsten Weg beobachtet - Be- Bewußtseyn«, thetisch bewußt ge-
macht werden.
dürfniß einer Filosofie im Be-
wußtseyn —
scheinbares Schreiten vom Be- D.i. die 1. Reflexion, die intellek-
schränkten zum Unbeschränk- tuale Anschauung als Ursynthese
ten- unter dem Exponenten der Nicht-
thesis - Spiegelung der abstrakten
Richtung mit Verkehrungseffekt -
der erste Blick nimmt die Uroffen-
barung »von unten« her wahr.
Reflexion darüber - scheinba- 2. Reflexion mit Vergegenständli-
res Schreiten vom Unbeschränk- chung des Sich, des »Nichtobjects«;
ten zum Beschränkten - Umkehrung, dadurch Korrektur
der verkehrten Reihenfolge (der
Begriff »Urhandlung«, nicht mehr
nur »Anschauung«). Ein »neues
Datum des überall herrschenden
Wechselverhältnisses zwischen den
Entgegen(ge)sezten, oder der Wahr-
heit, daß alles durch Reflexion

148
Dargestellte nach den Regeln der
Reflexion dargestellt ist und von
diesen abstrahirt werden muß um
das Entgegengesezte zu entdecken«
(116).

Resultate dieser Reflexion - Re- Die Trennung der zwei Anschauun-


sultate des Gefühls dieser Refle- gen:
i. das nunmehr thetische Wissen um
xion
das Faktum der gefühlten Ur-
offenbarung; 2. die Anschauung der
»Mittelanschauung« qua Haben der
»absoluten Urhandlung als Ursa-
che und Wirkung«, mit dem Erfolg,
daß das Gefühl als »Stoff«, not-
wendiger Gegenstand der 2. Refle-
xion, erkannt wird: es ist »Gefühl
dieser Reflexion«, d. h. nichttheti-
sches Selbstbewußtsein des Reflek-
tierenden.
Reflexion über diese Resultate Wir unterscheiden zwei Resultats-
nach jenen Resultaten - Syndrome: für die Reflexion das
der Trennung zweier relativer Syn-
thesen: int. Ansch. und Urhand-
lung - fürs Gefühl das der re-
flexiven Aufspaltung der Ursyn-
thesis in die »abstracten . . . Hälf-
ten« oder »reinen . . . Partialitäten«
Gefühl und Reflexion, d. h. refle-
xive Dissoziation des »ursprüng-
lich Idealrealen oder realidealen«
(114, Z. 30/1).
Gefundner Zusammenhang oder Thetisches Wissen von der Uroffen-
Philosophie« (117, N r . 19). barung als »Sfäre . . . Ichheit«.

Deutlicher ist Hardenbergs Kommentar in N r . 53 (S. 140). Das


als gesetzt sich vorfindende Subjekt konstituiert seine Genese durch
Umkehrung der ihm bewußten Verhältnisse:
»Das eigentliche synthetische Ich muß eigentlich
Ich schlechthin
heißen - das Prädicat synthetisch widerspricht ihm - es ist ein Zusatz des
vorstellenden, analytischen Ich. Das analytische Ich wird die Sfäre des
Synthetischen. Das Synthethische Ich, wie wir es nun nehmen ist ein Pro-
duct des analytischen Ich.
Also
Das analytische Ich wird vom Ich begründet und besteht in einem Setzen
seiner selbst durch ein Entgegensetzen. Es setzt sich für sich, indem es ein
Bild von seinem Begründenden sezt und so die Handlung seines Begrün-
dens reproducirt« (140, Nr. 53).

149
Die bei Novalis nur transitorische Unterscheidung von syntheti-
schem und analytischem Ich ermöglicht eine durch ihre Paradoxie
besonders auffällige Demonstration jenes Hysteron-proteron, als
welches das Ich sich hat. Als Folge des Grundes vermag es sich seines
Im-Grunde-Begründetseins nur durch sein schon gesetztes, abhängi-
ges Bewußtsein zu versichern, und insofern ist die Ewigkeit, wie
Schelling überspitzt formuliert hat, »nur durch die Zeit«, ja »das
Kind der Zeit« (WA III, 229/30); das Absolute, aus dem es sich ge-
schickt fühlt, selbst eine Folge des endlichen Ichs. Bewußtsein des
wahren Verhältnisses erlangt das analytische Ich erst durch Umkeh-
rung dieses für es der Realität nach früheren Bewußtseins, wodurch
ihm der Begründungsakt reproduzibel wird: »Der Erstere läßt sich
nur im Zweyten erkennen - der Zweyte nur durch den Ersten
begründen« (217, Nr. 305, Z. 30/1).
Die ganze Deduktion begreift »Eine Wechselwirckung des Ich mit
sich selbst scheinbar Mittelbar« (119, Nr. 22). Es ist eines und das-
selbe, was sich hier als Gefühl, dort als Reflexion darstellt; aber
weil wir jene »Hin und her Direction« (117 unten) desselben durch
entgegengesetzte »Preponderanzen« unterscheiden, »ist die Einheit
des Gefühls und der Reflexion, in der Reflexion«, d. h. ihrem un-
vordenklichen Grunde durch Reflexion entfremdet und in die Dis-
junktion zweier Abstrakta zersetzt, deren keines in sich und aus
sich autosuffizient ist. Denn beide stehen nur »in Wechselwirkung,
in der Reflexion nämlich, also in der Sfäre der Urhandlung« 21 , d.h.
sind nicht einerlei, sondern »precaire / scheinbare Accidenzen« der
in ihnen identisch wechselnden »Sfäre«.
Da in der ganzen Selbstinfektion, als welche sich die immanente
Selbstoffenbarung des Ich darstellt, immer nur Ich und Spieglun-
gen desselben als Teile auftreten, hat jede Selbstanschauung sich in
ihrem Gegenbild und verkennt sich dort hinsichtlich ihres wahren
Seins:
»Wenn das Gefühl Was ist, so ist die Reflexion nichts ... und so umge-
kehrt. Beides kann aber nur in der Reflexion statt finden, also nothwendig
im Was - in der Hälfte, die just Realität ist - also ist beyde mal das Nichts
ein Nichts - also ein Was - dis ist eine Täuschung der Wechselwirkung«
(118, Nr. 20).

Die Reflexion ist ein sich selbst nicht setzendes Setzen des Gefühls
als Was: aber sie setzt nicht Gefühl schlechthin als Was, sondern
sie setzt sich selbst als Gefühl (als Was), indem sie ihre Reflexivität
auslöscht. Sie ist also sehr wohl Was, »sie ist nur für sich Nichts«.
Umgekehrt nämlich je nach dem Exponenten des Teilgliedes, das
die Sphäre gerade bestimmt, wird das Gefühl selbst nichtig im
Blick der nichtigen Reflexion - nun hat aber die Reflexion das Ge-

150
fühl als Nichts und sich selbst als Was. Die Reflexion erlischt im
Thematisieren ihres Objekts, auch wenn sie sich selbst thematisiert
(d. h. nicht-thetisch fühlt, Gefühl ist, aber die eigene Nichtigkeit
weiß).
»In der Reflexion« auf die erste Reflexion (118 unten) nimmt
sich natürlich das Moment Reflexion innerhalb der intellektualen
Anschauung als »Was« aus, »und das Gefühl (als) Nichts« - weil
es rein west - , aber »in der That« ist es genau »umgekehrt«. Da
wir aber auch das In-der-Tat-Sein nur reflexiv bestimmen können,
muß eine neue Reflexion das Verhältnis ins Wahre spiegeln. Nova-
lis erreicht unter Aufbietung eines hochkomplizierten und verwir-
renden Begriffsapparats wirklich, was keinem seiner Zeitgenossen
gelungen ist: die Rede vom Absoluten plausibel zu machen ohne
einen transzendenten Zugriff auf die unerkennbare Praxis. Durch
ein Verweisspiel von Reflexen wird nie ursprünglich Unreflektiertes
vors Bewußtsein zugelassen, sondern nur Reflexe, die durch neue
Reflexion ihrer Reflexivität suspendiert werden. Die Frage »War-
um?« bei Gelegenheit des als factum brutum (»/So/«) vorgefun-
denen »Scheinbar Gegebnen« (118, Nr. 19) wird beantwortet, in-
dem das Gegebne als »ein in uns Gefundenes« zugeeignet und »Dar-
um« in ein »In Antwort Dargestelltes« (a.a.O.) überführt wird:
»Zusammenhang zwischen So und Darum mittelbar durch und im
Subjekt - der Sfäre - der absoluten oder relativ absoluten.« Also
nur durch eine immanente Reflexivität wird der Urgrund eingeholt.
Die Rede vom Verhältnis »in der That« kann transzendent schei-
nen: Allein die reale Washeit des Gefühls und die reale Nichtig-
keit der Reflexion sowie die scheinbare Nichtigkeit des Gefühls und
die scheinbare Washeit der Reflexion - »Beydes s o l l . . . in der
Reflexion statt finden - Folglich müßte das Eine immer in einer
andern Reflexion geschehn, wenn das Andre in einer andern ge-
schähe. Die anscheinende Folge, oder die reale Reflexion begründete
die Ursache[,] die ideale [die] Reflexion . . . Sollte nicht etwa jenes
das einfache, dieses das reflectirte Bewußtseyn seyn« (118). - Daß
die Philosophie mit Reflexion beginnt und das Vorfinden der schon
geschehenen Offenbarung ihre »Basis« (118, Z. 1) wird, daß sie also
in Wirklichkeit das Gefühl (bzw. die konkrete Urhandlung) erst
»secundario« konstituiert22, ändert daran nichts, daß sie es gar
nicht als mit ihr selbst identisches Objekt finden würde, wenn sich
nicht im Gefühl auf unvordenkliche Weise Transzendenz schon ge-
offenbart hätte. So wird aus dem Secundario-Finden die Wieder-
erkenntnis des Schon-Gehabten. Hier liegt der Grund, warum No-
valis später den Begriff »Gefühl« durch »Gedächtnis« ersetzt.
Man sieht, Novalis reproduziert die Struktur einer »Wechselwir-
kung« »absolut in sich« selbst (122/3) a u c ^ m der neuen Unterschei-

151
düng von »reinem und reflexivem Bewußtseyn«. Ohne »den Trieb
überhaupt«, der »intellectuale Anschauung« und »Urhandlung als
»precaire/ scheinbare/ Accidenzen« aufeinander »anwendete«, zer-
flössen beide in Nichts (121, Nr. 23; 129, Nr. 38/9). Eines ist nur
darum »Was«, weil sich in ihm das andere spiegelt; das Spiegelnde
hinweggenommen, bliebe nur das Phantom eines nichts spiegelnden
Spiegels. Es ist ein und dasselbe, was SICH als Gefühl sich selbst als
Reflexion darstellt und so mit sich vermittelt. Die »mit sich selbst in
Wechselwirkung« befindliche »Urhandlung« oder das »unbedingte
Ich« (122/3, Nr. 25 und 28) bestimmt sich selbst als Thesis durch
die Antithesis, beide sind »im Ich«. Ich erscheint also nirgends mehr
— wie bei Fichte - als Ausgangspunkt eines Gegensatzes zum
Nicht-Ich, sondern als Sphäre eines endlich als Zeit interpretierten
Prozesses, in der Ich sich als »Gefühl«, »Stoff«, in ihm selbst der
»Reflexion« oder »Form« überantwortend zu erkennen gibt und so
thetisch bewußt macht (122, Nr. 27). Das Unvermögen, sich mit
einem Schlage zu durchdringen, treibt in der »Selbstconstitution«
die absolute »Urhandlung« aufs »Abstrakte« (120, Nr. 23), läßt sie
zur »Hälfte« werden, die über sich hinaus »auf das Was gehn«
muß. Im Spiegelbild scheint ihr eine Gegentendenz entgegenzustre-
ben, doch sind »im Grunde« »beyde Eins« (120, Nr. 22), aufgeho-
ben im Begriff »des Triebes überhaupt« (a.a.O.). Reflexion ist in
beiden, aber durch scheinbar größere Entfernung von der absoluten
Urhandlung wird dieselbe mehr und mehr adäquat aufgefaßt -
per »ordinem inversum«.
Die ursprüngliche »Selbstconstitution« und das »Was-Haben«
(Nr. 23) stehen also zueinander »in Wechselwirkung« als Wider-
spiel innerhalb des beiden gleichen Triebes. 1. Die Selbstkonstitu-
tion als Gegensatz der intellektualen Anschauung ist »nur abstract«,
bloß »zur Hälfte, in der Reflexion für die Reflexion«. - 2. Der
Trieb aufs »absolute Ich« (Nr. 22) ist »in der Reflexion, für das
Ich«, der erste Trieb »relativ absolut«, der letztere »ursprünglich
absolut«. Noch einmal wird der ordo inversus demonstriert:

»Ihre [der Urhandlung] relativ erste Handlung, ihre relative Konstitui-


rung, ist ursprünglich die zweyte, ihre relativ 2te Handlung, das Fort-
schreiten zum Was, ursprünglich die erste Handlung. Leztere ist ursprüng-
lich absolut, Erstere relativ absolut - aber für sie allein muß es umgekehrt
seyn. Der relative Gesichtspunkt dreht immer die Sache um - Er ist ein
Schreiten vom Beschränkt Unbeschränkten zum Unbeschränkt Beschränk-
ten, oder vom scheinbar Unbeschränkten/ weil es sich selbst beschränkt und
also keinen Zwang, keine Schranke spürt/ zum Scheinbar Abhängigen/
nemlich von diesem durch sich selbst Beschränkten./ Das Abhängige ist
nemlich mittelbar durch sich selbst abhängig - Das Mittel ist jene Beschrän-
kung durch sich selbst. In diesem Felde ist Täuschung der Einbildungskraft,

152
oder der Reflexion unvermeidlich - in der Darstellung - denn man will
Nichtreflexion durch Reflexion darstellen und kommt eben dadurch nie zur
Nichtreflexion hin - man beeifert sich zu demonstriren, daß Schwarz
Weiß sey./« (122, Nr. 25).
Indem das präreflexive Sichhaben Sich nur hat vermittels des Ha-
bens in der Reflexion, wird diese Reflexion (die freie Selbstein-
schränkung des »Unbedingten«) »das Mittel«, das »Sich«, durch
welches es seine Enden aneinanderfügt — insofern von sich selbst
abhängig, und doch von der eigenen Identität tingiert. Durch die
Spieglung in der Gegenrichtung sind »beyde etwas. Sie haben einen
absoluten Beziehungsgrund« in »dem Trieb Ich zu seyn, der beyde
in sich vereinigt« (125, Nr. 31).
Innerhalb dieser Synthesis ist das Sich nicht bloß das an sich
»Praktische«23, sondern auch »das Eigentlich Unabhängige und
Unbeschränkte« (122, Nr. 25), das mit sich selbst Koinzidierende,
»das Unwandelbare, Feste« (116, Z. 33/4); wohingegen die es
thematisierende und sich auf den »Stoff« hin überschreitende Refle-
xion »Exclusio«, »Antithesis«, ja »Successio« ist (genaue Negation
des abstrakten an-sich-seienden Gefühls). Die »Synthesis«, das
»Unbedingte Ich« wäre das »Zugleich« beider Richtungen (123, Nr.
28). Novalis operiert hier also bereits zaghaft mit Zeitbestimmun-
gen. Wir wollen sehen, wie die antithetische Synthesis der »Selbst-
konstitution« auf Hardenbergs Suche nach angemessener termino-
logischer Gewandung endlich gelöst wird.

Absolute Identität und relative Differenz

Der »Trieb Ich zu seyn« (II, 126, Nr. 32) löst sich selbst analy-
tisch auf in den »Trieb zu denken und zu fühlen«. Ohne die inwen-
dige Reflexivität könnte sich das Ich nicht als Ich artikulieren (127
oben) — es muß darum »getheilt seyn«. Ich kann nur ein solches
Wesen zu sich sagen, welches sich selbst entgegenstellt, um sich als
das, was es ist, anzuschauen, was aber über der Anschauung die
Einheit verliert und sich zugleich trennt. Das einige Ich hat sich nur
als Stoff in der Form - aber über diesem Sich-Haben ist die Einig-
keit verloren: Die Form hat ihren ganz bestimmten Gegenstand,
der Stoff seine ganz bestimmte Form erhalten (Nr. 32). Aber weil
Stoff und Form nur Phasen der Selbstreflexion des Einigen sind, ist
je im Stoff wie in der Form deren uranfängliche Identität aufbe-
wahrt. Da aber das Ich sich vor seinen eignen Augen »äußern« soll,
muß jedes der bestimmten Momente seine Wirksamkeit im »Ge-
geneinander« bemerklich machen. Erst durch Einschließung in sich
selbst entsteht Gefühl des Widerparts und, da diese wechselseitige

153
Ausschließlichkeit beider (die im Absoluten gar nicht gilt) in jedem
zwar eine Defizienz setzt, gleichzeitig aber alle Realität auf dessen
Isolation konzentriert, »scheinen« die beiden Momente »für einan-
der, unabhängig zu seyn« (126). »Beyde scheinen sich nur von
einem Ich abhängig zu seyn - und keins bemerkt hiebey den Ein-
fluß des Andern, durch das Identische [hindurch]« (a.a.O.). Das ab-
solute Ich hat sich »also (in) 2 Ich« zerspalten, von denen »absolut
keins« ist und die beide »ihr Abhängiges (zwar) . . . fühlen«, aber
nicht in ihrem Gegensatz suchen. Das Gefühl (der Stoff) ist Tendenz
aus dem Unendlichen ins Beschränkte. Aber da es nur unbewußt
unendlich ist, hat es sich erst als Beschränktes, damit aber in der
Form, nicht mehr als sich. Die Interaktion des Ich mit der Form
verspiegelt aber das Verhältnis für das Gefühl derart, daß es, da
es von sich ausgeht, sich aber nur in der Formung hat, »vom Stoff
zum Stoff« oder »vom Bedingten zum Bedingenden fort« zu gehen
scheint. Eben derselbe Akt nimmt sich für die an ihm beteiligte Re-
flexion umgekehrt aus: Sie geht ebenso von sich aus wie das Gefühl
und meint, von sich als »Abhängigem zum Unabhängigen« zu
schreiten, während die reine Form, von der sie ausgeht, in Wahr-
heit unabhängig und erst das vermeintlich unabhängige Woraufhin
ihres Strebens, die mit Stoff tingierte oder ihre Form (Z. 23), wahr-
haft abhängig ist. Dieser Täuschung unterliegen die beiden durch
ein Vexierspiel von Reflexen, welches durch ihre Interaktion ent-
steht und verhindert, daß eines sich zugleich im wahren Sein er-
kennt. Stoff und Form gehen, durch Täuschung »mit und in sich
selbst«, aus ihrer abstrakten Reinheit heraus und einander entge-
gen, indem sie die miteinander gebildete Synthesis für das wahr-
haft Unabhängige halten müssen: Der unabhängige Stoff geht zum
geformten Stoff, von dem er sich derivat glaubt, die Form zu »ihrer
Form«, »von der Urform, zur relativen Form«. »Die Täuschung
entsteht aus der ihnen unbekannten Abhängigkeit, als Bedingtes
und Bedingendes, vom Iche«. — Beide also, Ich und Nicht-Ich sind
abhängig »vom Iche« - eine unüberhörbare Fichtekritik! Im Selbst-
bewußtsein erfährt sich - hier ist Schleiermachers berühmte Formel
erstmals gültig formuliert - das relative Ich als abhängig vom un-
verfügbaren Grunde, der »ihm unbekannt ist«, denn er »liegt nicht
in seiner Sfäre«. Dadurch wird eine Differenz zweier Iche gesetzt,
die beide einer voreiligen Erhebung ihrer »Particularverhältnisse
mit dem absoluten Ich . . . zum Ich« unter »verkehrten« Vorzeichen
ihre Existenz verdanken und sich als »das gefühlte und das gedachte
Ich« wechselseitig ausschließen (und bedürfen), im Glauben, das
ganze Ich in ihrer Teilsphäre zu verwirklichen (vgl. noch VI, 607,
Nr. 387).
Wie das Ich dazu kommt, überhaupt ins Endliche sich herabzu-

154
bestimmen und dadurch »mittelbares Ich« zu werden (II, 126, Nr.
32), ist unbeantwortbar, denn der Struktur Ichheit, von der wir
philosophierend ausgehen müssen, ist schlechthin und unvordenklich
Reflexivität imprägniert. Es macht das Sein des Ichs aus, »für sich«23a
zu sein, aber in der Relation auf sein Sein die waltende Ein-
heit nicht begründen zu können. Es fühlt sich also zugleich unver-
füglich sich selbst aus dem absoluten Grunde übereignet - in der
Einheit latenter Widerspruch, im Widerspruch negativ sich bekun-
dende Einheit (126/7):
»Dis ist der berühmte Widerstreit im Ich - der die Caracteristick des Ich
ausmacht - der in der absoluten Urhandlung schon befindlich ist - und
der nichts ist als eine nothwendige Täuschung des mittelbaren Ich allein -
das aufhören will mittelbares Ich zu seyn und insofern sich selbst wider-
strebt« (127).

Der reflektierende Reflex als »Rollentausch« 24


von Subjekt und Objekt
Warum, so muß man fragen, ist denn das mittelbare, reflexive
Ich Subjekt und nicht das fühlende? Weil, antwortet Novalis, das
fühlende Ich in seiner Reinheit eine opake und nur das reflexive Ich
eine lucide Selbstbeziehung ist: »Das mittelbare Ich des Gefühls ist
kein Ich - Es ist eine Beziehung des Stoffs auf Stoff« (II, 127, Nr.
33). An sich25, transzendent gesprochen, hat das Gefühl die Refle-
xion. Aber für sich hat die Reflexion als ihre Form vielmehr das
Gefühl oder hat sich als des Gefühls Subjekt. Das Gefühl ist wohl
ein Ich (ein Selbstbezug), aber nicht für sich, es ist seiner selbst nicht
thetisch bewußt, also doch kein Ich, wenn Ich-Sein heißt: Sich als
sich wissen. Darum folgert Novalis so: »Ist jenes [abstraktes Refle-
xions-] Ich, so ist dieses [das Gefühl] Nichtich. Reflexion wird hier,
was Gefühl ist - Gefühl, was Reflexion ist - sie tauschen ihre Rol-
len« (a.a.O.). Was einem anderen zum Sein verhilft, ohne selbst zu
sein, ist Subjekt. Die Form ist abstrakte Erhellung des ihr »noth-
wendigen, wenngleich nicht absichtlich reflectirten Gehalts« - und
also Subjekt des objizierten Gefühls.
Nun sind, wie wir wissen, Gefühl und Reflexion keine statischen
»Rollen«, sondern hinsichtlich ihrer Synthetizität zugleich real und
ideal. Da jedes von beiden Subjekt, d. h. »Ideales getrennt vom Re-
alen, also abstrahirt vom Ich«, sein kann, gibt es ein »ideales Ge-
fühl« und eine »reale Reflexion« (127/128 oben). Nur die ideale
Synthesis beider unter dem Exponenten der Reflexion ist »Subjekt«.
Das absolute Ich verhält sich zum Ich-für-sich wie relationsloses
Eins zum Sichselbstgleichsein qua Relation. Das absolute Ich, das
seiner selbst ledig genannt werden kann und sich mit sich selbst

155
nicht befaßt, hat sich selbst (i.) als Gefühl (2.) in der Reflexion
(3.). Es »kriecht« also in die Reflexion und wird so, seiner >sui-
securitas< sich entfremdend, Subjekt seiner selbst als dieser unbe-
wußten Realität (Stoff), die aber zugleich seine absolute Selbstiden-
tität verbürgt (Gefühl). Fühlt das Ich, statt zu reflektieren, so geht
ihm auch erst vermittels eines Sukkurses der Reflexion ein Licht
über sich selbst auf (es verhält sich ideal zu sich) - nur in seiner
unvordenklichen Innerlichkeit bleibt es opake Identität (vgl. 128).
Der Grund für des Ichs wesenhafte »Subjectität« liegt also »im ab-
stracten Verhältniß des Gefühls und der Reflexion gegeneinander«
(a.a.O.).
An sich (transzendent gesprochen) ist das Ich Identität von Rea-
lität und Idealität; gegenseitig sich erhellend und vernichtend macht
das Gefühl die Reflexion real und die Reflexion das Gefühl ideal
erscheinen (denn durch Reflexion projizieren die beiden einander
relationsverkehrt) - es ist also jedesmal dasjenige Gefühl, was in
der Reflexion als »Nichtreflexion« gefaßt wird und umgekehrt.
Nur für sich selbst, nur »allein betrachtet . . . ist das Gefühl real
und die Reflexion ideal« (127). Mit dem Gegensatz hört aber die
Wirklichkeit, die nur in einem synthetischen Kommerzium besteht,
auf.
Über der abstrakten Trennung als ein negativer Begriff, der im-
mer schon über dem Zugriff verloren ist, aber in der Differenz Spu-
ren des Verlorenen hinterläßt und es durchlässig macht für sich
selbst, erhebt sich das Absolute, das eigentlich kein Ich, weil ohne
allen Selbstbezug ist. Darum vermerkt Novalis in einer, nach der
Anmerkung der Editoren, »mehrfach senkrecht durchstrichenen«26
Notiz: »Das Ich können wir nun wegstreichen — freye Theorie -
freye Praxis beyder im Ich für das reflectirende (theoretische) Ich«.
Er redet seither vom Absoluten als von »Gott« und definiert erst-
mals kühn seine Differenz von Fichte: »Spinotza stieg bis zur Na-
tur - Fichte bis zum Ich, oder der Person.27 Ich bis zur These Gott«
(II, 157, Nr. 151).
Im Lichte dieser Folgerung ist die analytische Charakterisierung
des Objekts (S. 130 ff.) zu sehen. Das Subjekt ist ein sich selbst aus-
löschender Überstieg zum Objekt. Wäre es nicht zugleich absolutes
Ich, so würde es in Nichts zerfallen: »Postulirt das Subject nicht das
absolute Ich, so muß es . . . in einem Abgrund . . . sich verlieren«.
Denn im Überstieg aufs Objekt bedarf es eines »Mittels«, das sich
zwischen es und das Gefühl schiebt, und das kann nur die »wech-
selseitige Beziehung« von Gefühl und Reflexion selbst sein. Die Er-
kenntnis ist eine mutuelle Assimilation von Subjekt und Objekt, ein
»Rollenwechsel« (130, Nr. 41) unter jedesmaliger Auflösung des
einen Teils in den anderen. »Für das Subject ist hier totaler Wi-

156
derspruch - es hebt sich selbst auf - Somit ist [es] Nichts - daher
wird das absolute Ich postulirt - Nun ist alles berichtigt.« Nur
weil das absolute Ich sich im Subjekt ereignet und es immer zugleich
konkrete Synthesis mit dem Gefühl ist, übersteht es die jedesmalige
Vernichtung mit Behauptung seiner Personalität. Subjektivität ist
ein ständiger Überschritt über sich selbst mit dem Vorgriff aufs ab-
solute Ich, aber »sie treffen nie zusammen - weil Ich«, ohne solche
Entgegensetzung, schlechthin sich selbst gleich und nichts als nur
»Ich ist« (a.a.O.). Dadurch gerät so etwas wie Differenz in den syn-
thetischen Verband, denn das synthetische Ich ist »beydes* (Gefühl
und Bewußtsein), »keins von beyden* und »auch Eins«. »Das reine
Ich ist überall und nirgends - Es läßt sich nie von sich selbst krie-
gen.« Es ist als abstandslose, vorseiende absolute Identität opak,
unbewußt und hat sich nur, wenn es nicht das Absolute, sondern
sich hat. Aber Sich ist Objekt für das Subjekt, ist Gefühl für die
Reflexion: »Die innere Selbstscheidung« bringt das »BewußtSeyn«
(sie) zuwege (VI, 547, Nr. 112). Dadurch hat Ich sich mit sich ver-
glichen, in Relation zu sich gebracht, verfehlt sich aber als Sich in
jedem Zugriff neu, denn es findet nur Sich in der entfremdeten Ge-
stalt des reflektierten Gefühls, wird vom synthetischen Gefühl auf
die Reflexion verweisen, hat darin Gefühl als reflektiertes Gefühl,
schließlich Reflexion als Reflexion und Einheit beider Abstrakta
hergestellt. Die Identität der Ichheit hat sich unvordenklich ereig-
net und kann nicht Produkt der empirischen Vergleichung sein. In
seinem Unvermögen, die Ichheit aus sich selbst zu begründen, muß
der reflektierende Reflex die Einheit postulieren, um nicht im Ab-
grund von Nichtigkeit zu versinken, um nicht bloß sich selbst spie-
gelnder Spiegel zu bleiben. Es ist die »Sophistik des reinen Ich«, im
Zugriff auf sich selbst in verstelltem Gewand sich erscheinen zu müs-
sen und sich stets dort nicht zu suchen, wo es ist (131).28
Wenn darum das Subjekt ein Objekt denkt, so hat es zwar das
Sich des »reinen Ichs« zum Gegenstand. Nur muß ihm selbst not-
wendig als Objekt erscheinen, was an sich, jedoch nicht »für das
Subjekt«, sondern nur »für den Beobachter« (a.a.O.), »das reine
Ich« selbst ist.29 Das Subjekt »überträgt« also »aufs Object alles,
was es vom Subject weis - das Object ist der Träger beyder Acci-
denzen, insofern das Eine [- je nach Rollenwechsel Ich oder Sub-
jekt - ] Substanz ist« (a.a.O.). Das Objekt als entfremdetes Gefühl
ist also das »Medium«, welches reines Ich und Subjekt aus beiderlei
Richtungen in Kontakt bringt und miteinander vermittelt. Es ist
das »Bild«, welches sich das Subjekt von Sich macht, insofern es ge-
rade nicht Ich ist (»Das Object ist/ an sich nichts, als eine wech-
selseitige absolute identische Beziehung des reinen Ich des Subjects«;
131/2).

157
R a u m und Zeit

Schon früher hatte Novalis vereinzelte Reflexionen auf die zeit-


liche Prozessualität der Selbstvermittlung unternommen. So hatte
er etwa vom reinen Ich, um es von der Zeit zu unterscheiden, als
vom »Unwandelbaren, Festen« gesprochen. »Es wäre«, notiert er,
»der Zustand, in dem es keine Zeitfortschreitung gäbe.« Nun ist
»das reine Ich ohne Subject« nicht möglich (II, 133, Nr. 43); und
indem es seine Reinheit zerstören und sich das Subjekt anziehen
muß, zieht es sich mittelbar das Objekt zu (133, ebd.). Das reine
Ich muß in entfremdeter Gestalt Objekt fürs Subjekt werden (134,
Z. 27/8). Dies Wechselverhältnis spiegelt sich mannigfach in den
Kategorien, aber ursprünglich - und allen anderen empirischen Syn-
thesen vorrangig - im Wechselspiel von »Zeit und Raum«.
Im reinen Ich entsteht eine »Wechselwirkung« - denn es ist Ein-
heit von Ich und Subjekt nur vermittels des Sich. Es konstituiert
sich als das, was es ist, nur dadurch, daß es sich vorübergehend auf-
gibt: »Es will Eins, es will getheilt seyn« (133, Nr. 44), d. h. es will
seine Identität im reflexiven Wechsel durchstehen, will zumal rei-
nes Ich und Subjekt (Reflexivität, Selbstdurchsichtigkeit) sein. Das
ist ein unvermittelbarer Widerspruch, denn die zu vermittelnden
Momente sind wesentlich geschieden. »Der Character des Absolu-
ten«, sagt Novalis, in welchem die Gegensätze vermöge der reinen
Latenz der substantiell identifizierten reinen Abstrakta noch vor-
wirklich eins sind, »ist - keine Veränderung - kein Gegensetzen -
kein Fortsetzen - Stillstand - Ruhe - Identität - « . Daß Gegen-
setzen durch das unterstrichene »Fortsetzen« definiert wird, ist ein
wichtiger und erhellender Zusatz. Das Absolute setzt sich selbst
nicht fort, heißt: Es hält sich nicht durch, da es reine in sich beschlos-
sene Ewigkeit ist und also, da alles Existente sich selbst erhält, nicht
existiert. In der Tat sagt Novalis später, daß es »das R e i n e . . .
nicht giebt«. - Der Charakter des abstrakt-antithetischen Subjekts
muß also, genau entgegengesetzt, eine reine Flucht vor der Einheit
sein: »Das Subject, ordine inverso des Ichs, muß allein den Cha-
racter des Getheilten, des Fortsetzenden, der Thätigkeit haben.«
Da aber das reine Ich stets nur in der konkreten Form der Selbst-
vermittlung existieren kann, muß es hinsichtlich seiner Subjektivi-
tät »durch Ruhe bedingte Thätigkeit - Ein Mannichfaltiges« (II,
133, Nr. 44) oder die »Thatsache« sein und umgekehrt das Subjekt
hinsichtlich des in ihm als Objekt erscheinenden reinen Ichs «durch
Thätigkeit bedingte Ruhe, Mannichfaltiges Eins seyn« oder »Ge-
setz«. In dieser Vermittlung ist das reine Ich nur als Objekt anwe-
send, selbst bleibt es jeder Handlung transzendent, und darum ist
in ihm nur »jenes unbedingte Wechseln«, der »Caracter der rei-

158
nen Handlung«, die wir schon oben, um die Paradoxie derselben
für den endlichen Verstand auffällig zu machen, die nullte Hand-
lung nannten.
Aus diesem Widerspruch von absoluter Ewigkeit und reiner
Flucht entsteht im Subjekt die Sucht, das Absolute zeitlich einzuho-
len. Zum erstenmal faßt Novalis hier die Konsequenz in den Blick,
die Prozessualität der Selbstvermittlung als Zeit denken zu müs-
sen. Die Einheit der Widersprechenden kann nicht substantiell, sie
muß als dynamische Relation verstanden werden: »Zeit ist Bedin-
gung aller Synthesis« (154, Nr. 117), so heißt es ziemlich unver-
mittelt in diesem Zusammenhang. Der Satz impliziert mehr als die
Applikation von Kantlektüre. Daß Novalis hier in der Tat die er-
sten Schritte tut, das Verhältnis des Ich zum Subjekt auf Zeitstruk-
turen hin zu untersuchen, beweisen mannigfach eingestreute Refle-
xionen wie: »Unendlich und Ewigkeit - blos Zeitvorstellungen«
(a.a.O., Nr. 124) oder: »Zeit zur Praxis - Raum zur Theorie«
(a.a.O., Nr. 125). Noch sind Raum und Zeit sdieinbar parallelisiert,
aber Novalis entdeckt bald die Dynamik ihrer Relation, die der-
jenigen von Gefühl und Reflexion ähnlich ist.
Nur in dynamischer Relation können reines Ich und Subjekt syn-
thetisiert werden. Beide sind so lange unvermittelte, latent-gegen-
strebige Tendenzen, als sie nicht auf einander bezogen werden,
durch welchen Bezug der synthetische Gegensatz von Objekt und
Subjekt konstituiert wird. Denn dasjenige reine Ich, das in konkrete
Beziehung zum Subjekt tritt, ist Gefühl (Objekt), jenes Mittel zwi-
schen dem Undarstellbaren und dem Dargestellten. Durch Zusam-
menfassung der beiden gegenstrebigen Tätigkeiten im Subjekt ent-
steht eine synthetische Tätigkeit, die »nichts anders, als ein Streben
seyn« kann, genauer: »Ein Streben Eins zu seyn - durch die intel-
lectuale Sehkraft — die Subject und reines Ich im Objecte vereinigt«
(134) - das ist, wie wir uns erinnern, die oben als ursprüngliche
Synthesis oder intellektuale Anschauung deduzierte »Mittelan-
schauung« (120, Nr. 22). Unvermögend, die Einheit substantiell zu
realisieren, verzeitlicht sich die Identität als temporale Synthesis
einer werdenden, nie seienden Einheit. Auf der Basis eines Verlu-
stes des reinen Ichs kann jene konkrete Agilität sich allererst eta-
blieren, die eine kontinuierliche Bewegung vom Objekt aufs Subjekt
und eine Refraktion dieser Tendenz aufs Objekt zurück ermöglicht.
Es sind die Richtungen »herauswärts* und »hereinwärts« (135/6,
Nr. 46), die einer Verspiegelung von Sein und Schein ihr Dasein
verdanken und sich als Raum und Zeit äußern. Nach dem Entzug
des reinen Ichs bewahrt der Raum präponderant die Einheit, die
Zeit die Mannigfaltigkeit - beide sind Analoga von Gefühl und
Reflexion, von »Kraft« und »Vermögen«. Zu beiden ist das zeitliche

159
Subjekt disponiert, je nachdem es mehr »fühlt oder denkt«. »Die
Einheit«, sagt Novalis, »die es überall begleitet, daß es da ganz ist,
wo es ist - dis ist der höchste, wesentlichste Caracter seiner Sub-
jectivitaet« (136, Nr. 47). Gefühl ist immer ganz im Subjekt als
»Bild« des Ur-Ichs - es ist damit aber auch, unbeschadet seiner
überwiegenden Einheit, gänzlich und sozusagen mit Haut und Haar
ins Endliche eingelassen, »also im Subject« (Nr. 48). Dies endliche
Subjekt ist das »Wo« der sich ereignenden Einheit, nach dem No-
valis fragt, der Ort, die Sichtbarkeit des Gründenden. Diesen Ort
bestimmt Novalis als »Zeit und Raum« (»Was aber heißt das? Es
ist wo? Zeit und Raum«; 136, Nr. 48). Jetzt also werden die rein
»urständlichen« Richtungen verwirklicht, ihre »Stellenbestimmung«
ist dispositionell »in der intellectualen Anschauung« angelegt (137,
Nr. 48) und reflektiert die Interdependenz und Synthetizität von
Gefühl und Reflexion, Setzen und Nichtsetzen:
»/Verbundenseyn durch ein Getrenntseyn - Zeit.
Getrenntseyn durch ein Verbundenseyn - Raum /« (ebd., deutlicher noch
Z.22/3).

So wie im Raum die Bewegung zu erstarren scheint, so verflüs-


sigt sie sich in der Zeit. In der Tat sind dies die Termini, unter die
Novalis später immer wieder Raum und Zeit subsumiert. Wenn
die Verflüssigungstendenz der Zeit als Moment der Synthese und
als Gegenpart zur Raumtätigkeit verstanden ist, so ist sie nur Teil-
glied jenes kontinuierlichen Prozesses der >großen Zeit< oder des
»Triebes« nach absoluter Einheit, der Raum wie Zeit in sich absor-
biert und zusammenbringt. Raum verflüssigt sich in Zeit, Zeit er-
starrt zum Raum. Die >große Zeit< als Totalbewegung aber hat
kein Objekt, in welchem sie zur Ruhe kommen könnte, sondern er-
hält sich im »Streben« gerade dadurch, daß sie ewig frustriertes
»Streben nach Ruhe«, nämlich nach absoluter, unreflektierter Iden-
tität ist, »aber eben darum ein unendliches Streben, so lange Subject
nicht reines Ich wird — welches wol nicht geschieht, so lange Ich Ich
ist« (134), d.h. solange Ich jene simultane, abstandslose, präkate-
goriale Einerleiheit ist, deren negative Formel »Ich = Ich« nur
unser Unvermögen spiegelt, das Positive adäquat auszudrücken.
Erstirbt die >kleine Zeit<, wie wir das abstrakte Moment in-
nerhalb der Synthesis nennen wollen, im Raum, so hat dagegen die
>große Zeit< ein Objekt, in dem sie nie aufgeht, und diesem Ab-
stand verdankt der »Trieb Ich zu seyn« allererst sein Dasein. No-
valis warnt »vor der Täuschung, als würde ein Zeitpunct kommen,
wo dieses eintreten würde«, da es »an und für sich ein Widerspruch«
sei, »daß in der Zeit etwas geschehen solle, was alle Zeit aufhebt«
(269, Nr. 564). Die Zeit selbst müßte aufhören. Aber »die Zeit

160
kann nie aufhören« - denn Aufhören ist ein nur zeitlich zu bestim-
mender Prozeß und führt, konsequent zu Ende gedacht, auf den
obigen Widerspruch: »Wegdenken können wir die Zeit nicht -
denn die Zeit ist ja Bedingung des denkenden Wesens - die Zeit
hört nur mit dem Denken auf. Denken außer der Zeit ist ein Un-
ding« (a.a.O.).
Die Zeit »repräsentiert« also die Ewigkeit, deren unwirkliche Si-
multaneität als zeitliche Kontinuität, als »Fortsetzen in sich selbst«
(134) reflektiert wird. Das absolute oder ewige Ich qua transzen-
dente »Ruhe« stiftet das In-sich-Bleiben, die abstrakte Subjektivi-
tät als reine Selbstflucht die Fortsetzung, die nun als Fortsetzung
des Identischen, als ein »Verbundenseyn im Getrenntseyn« sich
durchhält. Der Zusammenschluß mit sich selbst, die Selbstvermitt-
lung der Transzendenz wird ganz als Zeit verstanden:
»Hier entdecken wir - daß das Subject, indem es aufs Object geht, in
sich selbst fortgeht - von sich zu sich - nur von sich [,] zusammengenom-
men, zu einem Theile von sich - nemlich zum« als Objekt sedierten,
ursprünglich »reinen Ich« (134).30
Nun ist endgültig auch das Verhältnis vom reinen Ich zum Ob-
jekt gelöst: »Das reine Ich sehn wir also immer außerhalb - das
reine Ich ist das Object« - es hat sich als Objekt im Sich ereig-
net, verbirgt sich damit zwar zugleich als Ich, ermöglicht aber doch
die negative Erkenntnis von Identität und substantialisiert das Sich
zur Einheit-mit-sich-selbst, die vom Subjekt abgestoßen und ständig
überschritten wird.
Der Raum ist es also, der die urständliche Selbstidentität des Ge-
fühls verwirklicht und spiegelt; insofern ist er dem zeitlichen Sub-
jekt gründend präponiert, in welchem er sich allerdings erst als
Identität (Substanz) darstellen kann. »Besondres Subject ist in
der Zeit, insofern es besondres Subject ist i. e. insofern es zugleich
denkt, fühlt und anschaut31 - Reines Ich ist/ im Räume, inso-
fern es reines Ich, oder Substanz im besonderen Subject ist, i. e. inso-
fern es gefühlt, gedacht und angeschaut wird« (138/9).
Die Zeit ist also umgekehrt die Negation der Substanz oder rich-
tiger: die Refusion substantialen Seins; dasjenige, dessen Wesen die
Accidentialität ausmacht, im Gegensatz zum bloß objektiven, zu
sich selbst simultan existierenden (substantialen) Raum. Zeit wird
bei Novalis also als die relativ substanzlose, reine Idealität, die ab-
strakte Nicht-Wirklichkeit aufgefaßt.
In der Zeit ist die Reflexivität, dasjenige, was wir den reflek-
tierenden Reflex nannten, verwirklicht: In der Reflexion auf sich
entsteht ein Widerstreit von Reflexen, derart, daß das Reflektie-
rende immer nicht das von ihm Thematisierte sein kann. Zeit ist

161
Sein - »für sich«, Raum Sein-an-sich. »Reflectirt das Subject aufs
reine Ich«, so appliziert Novalis sein früheres Theorem (137/8, Nr.
49), »so hat es nichts - indem es/ was für sich hat«. Das Haben-
für-sich bedeutet, daß es nichts an sich hat oder deutlicher: daß das
Ansichseiende durch die Relation des Für-sich vernichtet wird, ge-
rade dadurch, daß sie erscheint (Schein wird). Die Selbstgewißheit
im Haben ist erkauft durch den Verlust des intentionalen Objekts,
des absoluten Sich, insofern es noch nicht Reflex ist. »Reflectirt es
[das Subject] hingegen nicht darauf - so hat es für sich nichts, in-
dem es was hat.« Also: Verzichtet das Subjekt durch Reflexions-
negation auf die thetische Selbstgewißheit im Haben, so geht es ek-
statisch im Objekt (Gefühl) auf. Es ist seiner selbst ledig; und an-
nihilierte es in der ersten Handlung unfreiwillig sein erstrebtes Ob-
jekt, so ist es nun selbst zugunsten des Objekts (welches freilich zu-
gleich aufhört, Ob-jekt zu sein) vernichtet. Das Für-sich ist die
äußerste Schärfe einer Absetzung von der Substantialität (»Das Für
sich bedeutet für sich allein, für seine besondre Subjectivitaet«). Es
ist also reine »Idealität« (a.a.O.), könnte darum ohne einen wenig-
stens per negationem sich zuschidcenden Gehalt gar nicht exi-
stieren und würde in dem beschworenen »Abgrund von Nichtig-
keit« sich verlieren. Also mildert Novalis: »Ideal [im konreten
Sinne] ist lediglich das relativ Subjective«, welches gleichsam mit
einem Fuß im Objektiven steht, darum nur »relativ« oder »pre-
ponderant« subjektiv genannt werden kann »in Beziehung aufs
Absolute, oder lediglich, insofern es das Besondre ist./ Es bezieht
sich auf die Zeit/« (138). Die Richtung aus dem abstrakten Sein-
für-sich aufs An-sich wird also als Zeit reflektiert. Entsprechend
ist » R e a l . . . lediglich das absolut Subjective in Beziehung aufs
Relative, oder lediglich, insofern es das Absolute ist./ Es bezieht
sich auf den Raum. Beydes entsteht aus dem Wechsel des beson-
dern Subjects mit Substanz und Accidenz in der Reflexion, mittelst
der Anschauung durchs Gefühl«.
Hier wiederholt sich also das bekannte Verhältnis einer qualita-
tiven Identität, deren Momente übereinander präponderieren und
so ihre Eigentümlichkeit signalisieren: Darum ist Raum nicht Sub-
stanz schlechthin, aber er verhält sich gegenüber der Zeit als Sub-
stanz. Das ändert nichts daran, daß auch die überwiegend acciden-
elle Zeit substantiell ist, sonst würde sie sich ja im »Abgrund
von Nichtigkeit« verflüchtigen. Im Zerfall des Identischen inein-
ander spiegelnde Teile ist die Möglichkeit von Erkenntnis gegrün-
det.
Raum und Zeit sind unter verschiedenen Exponenten ineinander verspie-
gelt. Denn »das außer der Zeit Befindliche kann nur in der Zeit thätig
oder sichtbar seyn« (II, Nr. 650 - vgl. XII, 693, Nr. 704). Das Unzeit-

161
liehe entspricht der aufgegebenen Bestimmung des synthetischen, das Zeit-
liche der des analytischen Ich. »Im Synthetischen Ich schaut sich das analy-
tische Ich an. Das Anschauende Ich wird sein eignes Angeschaute — das
synthetische Ich ist gleichsam der Spiegel der Realität« (142, Nr. 63).
Ebenso wird auch für die präponderant accidentelle Zeit der mit-sich-
identische Raum das Mediat und der Spiegel der Realität, wird ihr »Bild«
und Substrat, ohne welches sie zerfiele. Das Sich »ist ein Medium, weiter
nichts« (Nr. 64).
Die beiden zuletzt in Raum und Zeit32 wiedergefundenen Rich-
tungen herauf und herab werden in den Fichte-Studien in immer
neuer terminologischer Verkleidung umworben und untersucht, bald
als Differenz von Sein und Schein, Substanz-Accidenz, Wesen und
Eigenschaft, bald als Gegenstand und Gegensatz, Zustand und Ge-
genstand usw. In jeder wird die bekannte Struktur differenzierter
und angemessener wiedergegeben. In den letzten Jahren seines Phi-
losophierens hat Novalis in zunehmendem Maße seine Aufmerksam-
keit auf die Relation Raum-Zeit konzentriert. Am Ende der Abtei-
lung VI findet sich ein Satz aus dem Jahr 1798, mitten unter ande-
ren programmatischen Entwürfen und Vorsätzen zur Ausarbeitung.
Man überliest ihn leicht, wenn man die Genese der Thematik nicht
kennt:
»Zeit und Raum - mehr lebendig behandelt« (VI, 646, Nr. 468).
Novalis gibt sogar einen Wink, wie das zu verstehen sei (Z.
20/1): »Natur - Hindeutung auf Zeugung« (ebd.). Aus der Kennt-
nis von Hardenbergs reifer Lösung der Zeitproblematik wissen wir,
daß hier zuerst das Programm einer Genese des Raums aus der Zeit
konzipiert ist, welche »Ideen« Novalis, wie er gesteht, für vor-
nehmlich bedeutsam erkannt hat und »deren Persönlichkeit und Ur-
kraft mir unbeschreiblich einleuchtend geworden ist« (IX, 468, Nr.
1095). Diese Entwicklung hat ihre Vorstadien in den Fichte-Studien,
ohne deren Kenntnis Hardenbergs Theorie wie eine aphoristische
Behauptung erscheinen muß. Es gilt, die Verbindlichkeit jener Kon-
sequenzen zu demonstrieren, die Novalis in der Zeit den Angel-
punkt aller Verhältnisse erkennen ließen.33

Zeit als »SelbstafTektion« - die »höhere Wissenschaftslehre«


Hand in Hand mit der Dissoziation der »Sfäre« in Raum und
Zeit geht die Zersetzung in »Person« und »Natur«. Beide sind Aus-
druck der Forderung, die an die Philosophie zu stellen ist und ge-
gen welche Fichtes erster Grundsatz verstößt: »Darstellbarkeit,
oder Denkbarkeit ist das Kriterium der Möglichkeit aller Filosofie.
Nur das besonders Bestimmte können wir denken und ordnen«
(217, Nr. 305). Das Prinzip oder »reine Ich«, d.h. die absolute

163
Identität von Subjekt und Objekt, ist aber weder denkbar noch
darzustellen. Das Ich ist ein Reflex oder eine zeitliche Synthesis.
Sie bezieht das absolute Sein auf die Subjektivität, stellt also eine
Relation her und kann folglich nicht das Prinzip der Philosophie
sein. Was nur Relatum in einer Relation ist, ist Gegensatz des Ab-
soluten. Warum also vom bewußten Ich weiterhin, wie Fichte, als
vom Ich reden? »Das Ich können wir nun wegstreichen«, notiert
Novalis (150, Z. 1). Es steht, als Relatum (»Personalität«) »für
Ding« (II, 248, Nr. 458), ist selbst eine endliche Größe (ein Seien-
des), die sich aus sich selbst nicht begründen kann und die »These
Gott« als die »absolute . . . Sfäre« (II, 157, Nr. 151 und 155, Nr.
144) voraussetzen muß, um sich selbst zu verstehen. Die gleichzei-
tige Unvereinbarkeit und Notwendigkeit der Vereinigung von Re-
flexivität und absolutem, gründendem In-sich-Sein läßt sich nur lö-
sen, wenn das absolut Setzende (die »allein thätige Kraft«) im Ich
nicht das reflexive Ich selber ist, sondern wenn Ich sich unverfuglich
gesetzt »fühlt« und sich in seiner »Abhängigkeit vom Unwillkühr-
lichen«, als »Ohnmacht«, ergreift (II, 259, Nr. 508).
Selbstbewußtsein ist nun verstanden als eine Synthese, nicht mehr
als absolute Identität. Das ist ein Unterschied, den wir auffällig
zu machen haben.84 Als Identität von Gefühl und Reflexion, als
eine Einerleiheit, die auf ewige Weise ihre Momente mit einem
Schlag verbindet, ist uns Gott ein reines transcendens, von dem wir
keinen Begriff herstellen könnten, der sich nicht in der Verfolgung
wieder auflöst. Das bewußte Ich dagegen fühlt sich mit sich selbst
auf eine Weise verbunden, die ihm die Identifikation zugleich ver-
weigert. Die Zeit, die nach Hardenbergs Theorie allein »verbin-
det und trennt« - eine synthetisch-analytische Zeit also -, verbin-
det ihr eigenes Moment Objektivität (das Gefühl) mit ihrer eigenen
Subjektivität (der Reflexion) - darum ist die Zeit eine »Selbstaf-
fektion« oder »Selbstberührung« -, derart, daß die Reflexion um
die Einheit der Zeit weiß: Sie wird als Kontinuität erlebt; jeder
Fortschritt, der sich von der Vergangenheit losreißt, ist doch durch
das Medium des Fließens auch wieder mit der Vergangenheit ver-
bunden. Nun ist zu beachten, daß die Synthesis der Zeit die ab-
strakten Momente Gefühl und Reflexion nur »transitorisch« verbin-
det, sie aber nicht identifiziert. Es bleibt ein idealer Abstand zwi-
schen beiden. Was nur im Abstand vom eigenen Sein existiert, ist
bloße »Anwesenheit bei sich«35, nicht mehr ein Sein-Ich-zumal-
Sein. Der Abstand setzt das Ich zugleich gegenüber dem Gefühl in
Freiheit (Gefühl ist ja nicht-thetisches Bewußtsein vom eigenen
Sein). Das synthetische Ich erfährt sich im Akt des Selbstbewußt-
seins als ein Commercium, das sich mit seinem Relatum nicht identi-
fizieren kann, sondern, gegen dasselbe sich definierend, seine rela-

164
tive Nichtigkeit zum Spiegel ihres Gegenstandes werden läßt und
so sich selbst erfaßt als das nicht selbst seiend, was ihm zum Be-
wußtsein kommt (was sich spiegelt). Unsere ekstatische Existenz
bestimmt uns zu Spiegeln (Reflektoren) unseres unverfügbaren
Seins. Das ist das ursprüngliche Phänomen. Durch eine zusätzliche
Reflexion erst erfassen wir uns als »Mangel«. Und das, woran wir
Mangel leiden, unser identisches Sein, erschließen wir in einem Mo-
dus, der uns zwar erlaubt, uns ekstatisch mit dem Sein in Relation
zu setzen, uns aber verweigert, es selber auch zumal zu sein. Diese
Erfahrung ist die Zeitlichkeit. Reflektiere ich auf den Verlust, so er-
innere ich mich als Vergangenheit; reflektiere ich auf meinen »Er-
gänzungstrieb«, so ergreife ich mich als meine Möglichkeit, die mir
in Zukunft Selbstidentität verheißt; reflektiere ich auf den »inwen-
digen Wechsel«, so ergreife ich meine Gegenwart.
Die Deutung des Ursprungsphänomens als sich selbst affizierende
Zeit ist vorbereitet in einer kleinen Studie Hardenbergs, die die
Fichtekritik der früheren Jahre zusammenzufassen scheint. Das als
Person verendlichte Ich fühlt sich im immanenten Offenbarungspro-
zeß - so heißt es dort - durchstimmt vom höheren loh oder, wie
Novalis lieber sagt, von Gott. In der Reflexion auf die unmittelbare
Selbsterfahrung »dünckt (es) dem Menschen, als sey er in einem Ge-
spräch begriffen, und irgend ein unbekanntes, geistiges Wesen ver-
anlasse ihn auf eine wunderbare Weise zur Entwickelung der evi-
dentesten Gedanken« (VI, 528/9, Nr. 21). Diese Selbsterfahrung
ist nicht zunächst ein Tun (wie bei Fichte), sondern ein Vernehmen86
»gewisser Dichtungen in uns«, die sich aus dem »Unbekannten« her-
aus zum Dasein bringen und vernehmlich machen. Die »Dichtun-
gen« werden erfahren als unbegreiflich verursachter Trieb zur Ent-
wicklung evidentester Gedanken, die dann gleichsam unsere Pro-
dukte zu sein scheinen und doch nicht sind, weil sie »vom Gefühl
der Nothwendigkeit begleitet«, d. h. nicht von unserer »Willkühr«
bestimmbar sind. Die Willkür ist vielmehr selbst eine uns überant-
wortete Evidenz, die ihre Notwendigkeit hat: wir können unserer
Freiheit schlechthin nicht entfliehen. Dieselbe muß also als ein Re-
sultat der nicht in unserer Macht stehenden Genese verstanden wer-
den. »Dieses Wesen«, schreibt Novalis, »muß ein Höheres Wesen
seyn, weil es sich mit ihm [dem Menschen] auf eine Art in Beziehung
setzt, die keinem an Erscheinungen gebundenen Wesen möglich ist«.
Es ist die außersinnliche Erkenntnis, die Novalis so leidenschaftlich
gegen Fichte postuliert (vgl. IV, 420, Nr. 23, und III, 386, Nr.
44, Z. 30 ff.) und die zuerst als »Gefühl« begrifflich eingeführt wur-
de. Durch dies »Factum höherer Art, das nur der höhere Mensch an-
treffen wird« (d. h. nur der vom äußern, thetisch gesetzten Objekt
gelöste), ergreift das Ich der Selbstheit unvordenklichen Grund und

165
vergewissert sich seines dependenten Zustandes auf eine Weise, die
das positionale Bewußtsein nicht nachvollziehen kann: »Darthun
läßt sich dieses Factum nicht. Jeder muß es selbst erfahren« (VI, 529,
Z. 5, Nr. 21). Erfahrung ist ein präreflexives und unmittelbares Ge-
wahren »eines homogenen Wesens«, welches doch nur relativ mit dem
Bewußtsein verbunden ist und als ein vom Ich Verschiedenes vor-
ausgesetzt werden muß - in der Ichheit selbst. Hier sieht Novalis
eine Möglichkeit, die erste Wissenschaftslehre zu überwinden, und
eröffnet als einer der ersten (mit Hölderlin und Sinclair zusammen)
den Blick auf alle jene Positionen der Fichtekritiker, die sich gleich-
falls gegen den mittleren Schelling und gegen Hegel abgrenzen. Er
nennt »die Wissenschaft, die hierdurch entsteht«, . . . »die höhere
Wissenschaftslehre«. Ein später gestrichener Zusatz artikuliert die
Fichtekritik noch deutlicher: »Hier ist der Satz: Ich bestimmt
Nicht-Ich das Princip des theoretischen, und der Satz: Ich wird be-
stimmt - Princip des practischen Theils«. Das heißt: Hier wird die
bei Fichte der Theorie übergeordnete Praxis selbst in ein hinneh-
mendes Vernehmen des Grundes, in ein Offenbarungsbewußtsein
umgedeutet, welches sich »theoretisch« (bestimmbar) gegen das sich
in ihm ankündigende Sein verhält. Schon oben hatte Novalis davon
gesprochen, daß das höhere Faktum den Menschen »wie ein geistiges
Wesen behandelt und/ ihn nur zur seltensten Selbstthätigkeit auf-
fordert« (528/9).
Im Konzept der höheren Wissenschaftslehre ist die Dichotomie
von Person und Natur, Zeit und Raum der höheren untergeordnet,
derjenigen von Ewigkeit (»Absolutem«) und Zeitlichem (»Relati-
vem«), derart freilich, daß das Relative sich selbst nur aus dem Hö-
heren erklären kann. Die unmittelbare Selbsterfahrung erfaßt das
Dasein als unverfügbar, als Faktizität. Sie ist kein aktives Sichset-
zen mehr. Die Aktivität geht ans Unverfügliche über und wird der
Ichheit enteignet: »Der Mensch ist ein sich selbst gegebnes histori-
sches Individuum« (VI, 648, Nr. 476). Selbstbewußtsein (und »Phi-
losophiren«) ist eine Übersetzung (»Darstellung«) des schickenden
Grundes in der Endlichkeit: »Es ist eine Selbstbesprechung obiger
Art - eine eigentliche Selbstoffenbarung - Erregung des wirckli-
chen Ich durch das Idealische Ich« (VI, 529, Nr. 22). Noch deut-
licher: »Die Möglichkeit aller Philosophie beruht darauf - daß sich
die Intelligenz durch Selbstberührung eine Selbstgesezmäßige Be-
wegung - d.i. eine eigne Form der Thätigkeit, giebt« (VI, 530,
Nr. 26). Im Gefühl wird das sich selbst in der entfremdeten Gestalt
der Reflexion affizierende Offenbarende eben wegen seiner Unver-
füglichkeit als transzendentale Vergangenheit der Ichheit gesetzt.37
Die Selbstbesprechung wird im Ich als ein Vernehmen »nothwendi-
ger Vordichtung«38 empfangen und affiziert das »Gedächtnis«,

166
die »Erinnerung«: Wir erinnern uns unseres unverfüglichen Seins,
wir wissen es nur als einen Verlust. Der Selbstvermittlungsprozeß
wird als ein Sturz der Zeit aus der Vergangenheit in die Zukunft ge-
deutet, deren Brennpunkt, »der Mensch«, die synthetische, aber
nicht identische Vereinigung beider bekannten Richtungen (»heraus-
wärts« und »hereinwärts«) ist.
Subjekt und Objekt, Raum und Zeit, Natur und Person39 ent-
stehen gleichursprünglich (IX, 378, Z. 1; 427/8) und sind substan-
tiell eins (II, 158, Nr. 154). »Aller Stoff ist - Natur . . . Alle Form
- Persönlichkeit« (II, 156, Nr. 144). Person ist »in der Zeit«, Na-
tur »im Räume«, »insofern sie Substanz im besonderen Subject ist«
(II, 138/9, Nr. 50). Folglich konstituiert sich die Person, indem sie
sich die Natur nicht zu sein bestimmt (vgl. II, 158, Nr. 155 ff.).
Die göttliche Einerleiheit der Richtungen (»für Gott«) löst sich
»für uns* in gegenstrebige Tendenzen auf, deren eine präponde-
rante Einheit (Raum, Substanz), deren andere vorwiegende Diffe-
renz (Zeit, Person) zur zeitlichen Synthesis beiträgt (II, 159). Für
uns nimmt sich die Gleichursprünglichkeit der Relata so aus, daß
»die Natur ursprünglich voranzugehn« scheint, so wie »allemal die
Natur und der Stoff vorangehn, die Synthese40 der Analyse - die
Natur der Person« (II, 159, Nr. 159).
Die Dichotomie der Richtungen enthüllt sich als die Zeitlichkeit
des »Vor und Nach«: »Die Natur wird transzendent 41 , indem sie
heruntersteigt - die Person, indem sie heraufsteigt« (160, Nr. 163).
Die »Einbildungskraft« ist die »Sfäre«, gleichsam der Brennpunkt
oder Umschlagplatz der sich durchkreuzenden, hier in Substanz se-
dierten, dort in Zeit sich verflüssigenden Strebungen.42 Damit ist
überraschend die Folge »Grund« - »Resultat« temporal ausgelegt.

Die Temporalität von »Grund« und »Resultat«

Das Selbstbewußtsein ist in allen Stadien seiner analytischen


Selbstoffenbarung »dreyfach idem«. Nur in der Absicht der Be-
griffskonstruktion hat Novalis die einzelnen Epochen des Prozesses
isoliert. Es ist darum kein Wunder, wenn die Problemstränge in den
Fichte-Studien und den Fragmenten so ineinander verfasert sind,
daß wir ohne einen Begriff des Gesamtphänomens keine seiner Er-
scheinungsformen verstehen können. Wir können, mit einem Wort,
das Phänomen des aktuellen Selbstbewußtseins nicht isolieren, weil
es gar nichts anderes ist als Resultat eines Grundes und Grund einer
neuen Folge. Die Fixierung des Blicks auf die gegenwärtige Präsenz
zerstört sich selbst.
Die absolute Differenzierung von absoluter Sphäre und den Teil-

167
gliedern Identität und Differenz hat zur Folge, daß das Absolute
nicht als Identität bestimmt werden kann. »Identität« ist für Har-
denberg expressis verbis »ein subalterner Begriff« (II, 187, Nr.
247), in welchen sich die unvordenkliche Sphäre partiell zersetzt,
wenn man sie zu bestimmen trachtet. In der Bestimmung wird Iden-
tität ein Relatum der Relation: Identität und Differenz, Natur und
Person. »Die Natur« aber, sagt Novalis, »im engsten Sinn« . . . ist
die »Identität« (vgl. 171/2) oder die Räumlichkeit, die Personali-
tät ist durch die Zeit repräsentiert. Darum sind »Räume und Zeiten
Begriffe von späterer Formation - Symptome der Schwäche«,
gleichsam des Nicht-in-sich-halten-Könnens des Absoluten.
Die Synthesis geschieht nun zwar »kraft der Identität«, aber »das
Identische am Ganzen« ist nur »am« Ganzen — es ist das »abso-
l u t e . . . im Absoluten«, nicht das »absolut absolute« (VIII, 52
oben) - ; folglich ist sie selbst nur »besondre Bestimmung«. Was im
Ganzen Grund der Identität ist, das ist nicht das Ganze selbst, son-
dern dasjenige abstrakte Teilglied, das in der Stellung der Thesis
poniert ist und der »Natur« bzw. der Richtung »herauswärts« ent-
spricht.
Die Synthesis ist also die Einheit der in ihr befaßten Gegensätze von
identischer Substanz (Thesis) und differentem Accidens (Antithesis) (vgl.
II, 165, Nr. 193; 163, Nr. 186).

Also ist es gerade der Zugriff auf die Synthetizität der »Sfäre«,
welchem sich der synthetische Verband in die Antithetik wider-
sprüchlicher Abstrakta zersetzt. Wenn die Natur im »Ganzen« die
Identität, die Person dagegen die Infixibilität des Ganzen als Natur
empirisch darstellt, so werden beide nicht zugleich bestehen können,
sondern in eine Abfolge dreier Phasen sich >differentiieren< müssen.
Novalis hat diese Notwendigkeit als erster unter den Idealisten rea-
lisiert. Sie scheint ihm zuerst am Phänomen der Gegenwärtigkeit
des Selbstbewußtseins aufgegangen zu sein.
Die Unmöglichkeit, die Simultaneität einer unverträglichen Syn-
thesis als diese aufrechtzuerhalten, hat Hardenberg zuerst unter
dem Stichwort »Triadik« thematisiert (II, 162, Nr. 180). Ein Drei-
schritt muß die Abfolge der drei Selbstvermittlungs-Stadien expli-
zieren. »Über die Dimensionen«, notiert Novalis in diesem Zusam-
menhang und gibt dadurch programmatisch an, wie er diesen Drei-
schritt zu interpretieren gedenkt. Das Abbild der Synthesis wird die
Gegenwart als »Schwebung« sein. Sie wird, der Einbildungskraft
gleich, zwischen These (Identität) und Antithese (Differenz)
vermitteln. »These von diesen 3 Begriffen ist, von welchen man
ausgeht - Antithese ist, wohin man geht - und das Zurückgehen
zum Ausgange ist Synthese« (178, Nr. 234). Die »Schwebung« ist

168
nichts anderes als die bekannte »Hin und Her Direction«, die, wie
wir sahen, die »Sfäre erschöpft« und die Novalis appercuartig als
»Zeit« vorgestellt hatte. Sie verbindet schwebend die Gegensätze.
Aber ihre Mitgift vom Absoluten macht sie hinsichtlich dessen, was
sie an sich ist, infixibel:
»/Die Gegenwart läßt sich nicht fixiren. Das vor und nach bestimmt oder
bezieht den gegenwärtigen Augenblick« (II, 187, Nr. 248).
Das präsente Selbstbewußtsein als Anwesenheit (Gegenwärtig-
keit) des Absoluten läßt sich nicht fixieren, ohne als Beziehen und
Bestimmen die Differenz zweier zeitlicher Richtungen zu eröffnen.
Gerade dies Zerfallen widerspricht aber der fixierenden Intention,
welche das gegenwärtige Selbstbewußtsein als ein Seiendes, d. h. als
ein Passivum bestimmen will. Indem sie gezwungen ist, das Selbst-
bewußtsein in seinem »Vor oder Nach« zu »bestimmen oder (zu)
beziehen«, muß sie erkennen, daß es »darum kein Particip Praesen-
tis passivi« gibt. »Das Leidende ist, als wirkliches Passivum, nie
gegenwärtig zu bestimmen« (a.a.O., 187, Nr. 248). Das Bestimmte
ist nun gerade nicht das Gegenwärtige, sondern dessen »Vor«: das
Gewesensein.
Bestimmung geschieht nach Hardenbergs Theorie dadurch, daß
das unendliche Streben durch die »Einfallkraft« an einem Punkte
unterbrochen und das Bestimmte als Negation des Allgemeinen in
seiner Vereinzelung thematisiert wird; wogegen im »Beziehen« der
Einfallspunkt auf seinen »Grund« zurückgeworfen wird. Durch Be-
ziehung geschieht eine Reflexion des unendlichen Schreitens »auf der
Linie« und in deren Folge die Fixierung einer besonderen Sphäre.
Mit dem Begriff des »Unterbrechens« ist zugleich der »des Fortset-
zens der Thätigkeit« gegeben und dadurch die Wiederherstellung
der ursprünglichen Tendenz auf Zukunft (II, 187 ff., 189, Nr. 257;
163, Nr. 186; 186, Nr. 247, Z. 16/7). Novalis hat diese Unterschei-
dung nicht mehr aufgegeben, die Bedeutung der unterschiedenen Be-
griffe aber häufig vertauscht.
In dieser Unterscheidung tritt vortrefflich der Doppelsinn des
»einst« zutage. 43 Der transzendente Grund ist reine Einerleiheit.
Ganz nachdem ich ihn auf Zukünftiges oder Vergangenes beziehe,
wird er Zweck oder Grund:

»Die Welt ist ein System nothwendiger Voraussetzungen - eine Vergan-


genheit [,] ein Ante eigner Art - unsre Ewigkeit a parte ante vielleicht.
Grundsätze, Gedanken und Zwecke gehören zu der Ewigkeit a parte post
- zur nothwendigen Zukunft - sie machen ein System der nothwendigen
Folge aus. Aus der wirklichen und Idealwelt entspringt die Gegenwärtige
Welt, die eine Mischung aus fester und flüssiger, Sinnlicher und intellec-
tualer Welt ist« (XII, 687, Nr. 679).

169
Und:
»Zweck und Grund sind eins - nur jener heraus und dieser hineingesehn.
Anfang und Ende sind Eins. Ich kann den [transzendenten] Grund Im
vorherigen oder nachherigen suchen«49 - er bleibt immer ekstatisches
»Einst« (IX, 401, Nr. 701).

Das sind Formulierungen aus Hardenbergs letzten Lebensjahren.


Es ist nützlich zu zeigen, wie die Temporalisierung des Verhältnis-
ses Grund-Folge in den Fichte-Studien angelegt und aus diesen Stu-
dien notwendig hervorgetrieben worden ist, um die Kontinuität
von Hardenbergs Philosophieren deutlich werden zu lassen. Im
Verlauf der Fichte-Studien wählt Novalis als Termini für die be-
kannte Entgegensetzung die in der Sekundär-Literatur überschätzte
Unterscheidung von »Zustand und Gegenstand«, die er selbst mit
der negativ beantworteten Frage: »Qualificiren sich die Begriffe -
Zustand und Gegenstand - zu Grundlagen« (II, 229, Nr. 358) auf-
gibt und einer andern Differenzierung, der von »Wesen und Eigen-
schaft«, »Grund und Folge« (»Erhalt« und »Resultat«; II, 229 bis
231), »Gattung und Individuum« hintanstellt. Die lakonische No-
tiz (II, 228, Nr. 343) in dieser Umgebung: »Grund und Ursache«,
läßt vermuten, daß Novalis die ontologische Differenz zwischen
Grund qua transzendentem Grund und Ursache (qua kausalem
Wirkungsgrund), Substanz und Folge, hier besonders eindrucksvoll
glaubt demonstrieren zu können. Während nämlich »Ursache« Teil-
glied eines durch sie hypothetisch gesetzten Gegensatzes wird, sind
- beim »Grunde« - Zu und Gegen, Position und Negation zu-
nächst verbunden. »Position«, sagt Novalis, könne man im Deut-
schen durch »das Zu« als Präfix, Negation »am besten mit dem
Worte -Gegen ausdrücken« (II, 229, Nr. 363); doch sei dieser Wort-
gebrauch mehr in »einigen spekulativen Worten« als der gemeinen
Sprache wahrgenommen. Da wesentlich (»im Grunde«) jede Nega-
tion Position ist »et vice versa«, entsteht erst aus einer nicht-syn-
thetischen Fixierung eines der Begriffe als »Eigennamen« — abge-
sehen von seinem Sein-zu . . . oder -gegen . . . - die Nötigung, durch
genaue Umkehrung des Verhältnisses vom einen zum andern hin-
überzugehen, als Wesen hier zu realisieren, was dort als Eigenschaft
gesetzt war und umgekehrt. Solch undialektischer Wortgebrauch
mißversteht den Begriff »des Bestehenden, des Grundes« als Sein
eines der Abstrakta, während er doch das Sein aller drei Glieder
als »dreyfach idem« verbürgt. Er ist mit »Substanz . .. Eins« und
kann ganz nach Hinsichtnahme »im Zustande und Gegenstande und
Grunde seyn«. - Mit einem Wort, wir verkennen den Sinn des
Wortes »Grund«, wenn wir ihn zum Teilglied einer endlichen Syn-
these machen; aber wir müssen ihn zugleich verkennen, denn ein

170
nicht-bezogener Grund ist uns undenkbar. So gefaßt, wird er die
absolute Voraussetzung, die sich in der Thesis als relative Voraus-
setzung oder als Vergangenheit offenbart. Da sich unser endliches
Fassungsvermögen in der Sprache objektiviert, befragt Novalis die
Sprache nach Wörtern, welche die Verzeitlichung des Seins-aus-
dem-Grunde aufdecken. Solche Exempla sind die »Absicht«, das
» v o n . . . her« (II, 229, Nr. 363) und sein Gegensatz, das »Ziel«
als Tendenz z u . . . hin (a.a.O., 230, Nr. 364): »Der Zweck
besteht aus Absicht und Ziel« (II, 230, Nr. 364). In dem Satz:
»Wo muß ich aus, wo muß ich hin und wie muß ich fortschreiten?«
bildet sich die Temporalität des Von . . . her - zu . . . hinab. (II, 231,
Nr. 372). Die Folge ist »Resultat«, »Erhalt« usw. Novalis entwirft
ein erstes Zuordnungs-Schema der temporalen Abfolge-Reihen.
»Die künftige, die jetzige, die vorige Anschauung.
Die mögliche, die Nothwendige, die Wirckliche.
Die einfache, die zusammengesetzte, die Gebrochne.« (a.a.O., Nr. 368).
Ebenfalls am Leitfaden der Sprache hat Novalis die Tempora-
lität des »Existirens« aufgedeckt. »Entstehn«, notiert er bereits
ziemlich früh, in freier Bearbeitung eines Fichte-Exzerptes,
»/Entstehn drückt in seinem Doppelsinn die höchste philosophische Wahr-
heit aus - die Entäußerung des Ich, um sich zu vollenden. - So wird es
klar, wie es durch seine Entstehung, entsteht. Es findet sich, außer sich.
Diese Findung wird zur Ein-Innenfindung in der Wircklichkeit - in der
theoretisch bestimmten Wircklichkeit, welche Einzige für das Ich ist/«
(II, 150, Nr. 98).
Das ist in Hardenbergs Art, eilige, erhellende Assoziationen zwi-
schen zwei Schrägstücke in einen nicht homogenen Kontext einzu-
rücken, niedergeschrieben und wird daher rasch überlesen. Aber No-
valis nimmt diesen Gedanken, in welchem er nichts Geringeres als
»die höchste philosophische Wahrheit« gefunden zu haben angibt,
später wieder auf: »Aller Gegenstand sezt etwas voraus - hat also
ursprünglich seinen Gegensatz - der Gegenstand überhaupt sezt
den Gegensatz überhaupt voraus« (II, 199, Nr. 282).
Seither begreift Novalis das Temporalschema als allein tauglich
und angemessen zur Beschreibung der immanenten Selbstoffenba-
rung im Selbstbewußtsein. Das Ich, die Person, erkennt ihre Iden-
tität mit dem schickenden Grunde - oder, anders gesagt: die An-
wesenheit des Grundes im Selbstbewußtsein - nur darin, daß es
sein eigenes Dasein als Folge einer Voraussetzung und die Zuschik-
kung des Offenbarungsinhalts als die Zeitigung seiner selbst ergreift
und mit dem Zuschickenden zusammenschließt. »Das Subject wird
in allem Bewußtseyn vorausgesezt - es ist der absolut thätige Zu-
stand des Bewußtseyns« (II, 253, Nr. 471); nur dessen Tätigung

171
oder Produkt aber kann erkannt werden, darum das Subjekt auch
»das innere Object« (II, 283, Nr. 637) oder »Ich-Object« (II, 286,
Nr. 645) genannt werden kann. Die Priorität des Subjekts soll nun
nicht »vor dem Bewußtseyn, sondern . . . mit dem Bewußtseyn« be-
stehen; - denn das Absolute hat sich ja erst, wenn es sich mit dem
Subjekt in Eins vermittelt hat; dann hat es sich allerdings als das,
was inzwischen aus ihm geworden ist, als Vergangenheit in der Ge-
genwärtigkeit der Selbstreflexion (darum ist »alle Erinnerung . . .
Gegenwart« (VI, 559, Nr. 157)). Der Grund unseres jetzigen Da-
seins ist zugleich mit unserer Gegenwart gegeben, aber so, daß er in
sich die Nötigung enthält, ihn als Grund vorzustellen, dessen Un-
verfüglichkeit durch das jetzt von uns erlebte Dasein als Vergan-
genheit-in-der-Gegenwart reflektiert wird.
»/Voraussetzen ist ein sehr willkommner Ausdruck. Setzen muß in dem
Sinne gebraucht werden, den es in dem Ausdruke hat: ich setze den
Fall. Es ist die Handlung der Hypothese ...«. Durch das »Setzen« als die
»ursprüngliche Handlung« wird ein transzendentes Sein beschworen, das
wir nur ex negativo, als »absoluten Gegensatz« fassen können. Das Set-
zende im Sichsetzen des »Gegenstandes« ist der »Gegensatz« (II, 199 f.,
Nr. 283/4). Wir müssen als endlich Seiende vom Gegenstande ausgehen,
und der Modus, in dem wir unserer Gegenständigkeit uns versichern, ist in
Wahrheit ein Entstehen (»Der Gegenstand sezt sich, indem er entsteht«)
oder ein seinem Grunde entfremdetes, darum uns unverfügbares Setzen:
»Er ist nur Gegenstand, insofern er entstanden, d. h. inwiefern er Ent-
gegengesezt ist - oder sich gesezt hat. Als der feste Punct, von dem man
ausgeht, heißt er Gegenstand.«
Es war offensichtlich die Aufmerksamkeit auf die »bedeutungs-
volle Etymologie dieses Worts«, welche Novalis veranlaßte, den
Begriff der »inneren Selbstscheidung« oder »Alienation« durch den
der »Existenz* zu ersetzen. Der Begriff »Existenz« bietet den Vor-
zug, das in ihm mitgedachte »Sein« als >Anwesenheit-bei-sich<, als
vom Wesen geschiedene Endlichkeit überhaupt vorzustellen.
»Voraussetzen bedeutet, vom Gegenstande gebraucht, eine Handlung vor
der Existenz, eine Anticipation - denn das Setzende wird erst möglich
durch ein Setzen - dieses Setzen ist aber ursprünglich gleich - gegen-
setzen. Durch dieses Gegensetzen wird die Existenz/ bedeutungsvolle
Etymologie dieses Worts/ erst möglich, wircklich und Nothwendig« (II,
199, Nr. 282; vgl. VI, 576, Nr. 233, Z. 19/20).
Existenz ist das »Resultat« der temporalen Heraussetzung des
endlich Seienden aus der >großen Zeit< oder »Sfäre«. Die Wörter
»Ek-sistenz« ebenso wie »Selbstscheidung«, »Selbstabsonderung«45,
»Ent-stehung« indizieren bereits die Zeitlichkeit der Dissoziation
im Ur-Einen (»Beyde Ausdrücke [Setzen und Entgegensetzen] ha-
ben sehr viel karakteristisches« (199U.)). - Da aber die Blickrich-

172
tung der endlich Existierenden stets vom »Resultat« auszugehen
gezwungen ist (von sich qua »Daseyn«, II, 241, Nr. 444), so haben
wir freilich auch den Gegensatz nur per negationem, also selbst nur
als »Thatsache«, d. h. als Vermittlungsbegriff, in welchem die un-
vordenkliche Tathandlung bereits objektiviert und zum Geschehen-
für-uns geworden ist (vgl. II, 236, Nr. 425 ff.; 241/2). Damit zu-
gleich sind wir der Urhandlung nicht mächtig. Zwar drückt das
Wort »Entstehn ... eine Selbsthervorbringung, eine Caussalitaet,
die sich selbst Caussalitaet ist«, aus, aber ihr Ergebnis ist »eine Pas-
sivität durch eigne Activität« (200). Wir fühlen zwar unser Entste-
hen, aber nicht als Folge Ich-hafter Spontaneität, sondern als ein De-
pendieren. Im Modus der Tatsächlichkeit erfahren wir »eine fremde
Dependenz, eine Passivitaet durch fremde Activitaet«. Das liefert
die Erklärung für unser »Gefühl der Ohnmacht, Abhängigkeit vom
Unwillkürlichen« (II, 259, Nr. 508, Z. 26/7). Die Zeitlichkeit un-
seres Selbstbewußtseins definiert unser »Daseyn« als Spannung von
Verlust und Sehnsucht nach Ganzheit; damit als Konstituens von
Vergangen-Sein und Zukunft.

Der ontologische Status von Sein als Anwesenheit

Wenn die Fixation der Gegenwart automatisch deren Vergan-


genheit erfaßt, bedarf es einer Erklärung, warum wir ohne weiteres
von einem Sein der Gegenwart sprechen.
Novalis unterscheidet zwei ontologische Status von »Sein«.
Einesteils ist das Sein das Wesen der These, des Stoffs, welcher sich
zwar für uns als ek-sistierende Wesen nur in der Form (II, 171/2)
darstellt, an sich aber »ohne wesentliche Beziehung gedacht werden
kann« (Nr. 226). Sein ist das von sich selbst Erfüllte, Unbedürf-
tige (dem Raum Korrespondierende) - im Gegensatze der Zeit
(a.a.O.). »Der Stoff aller Form ist, von dem nicht mehr und nicht
weniger ausgesagt werden kann, als daß er Ist«. Nun ist für uns
Sein nur als Negation aller es verstellenden Eigenschaften (der
Form) (vgl. 247, Nr. 454). Das hat Sein, was nicht Eigenschaft ist.
Folglich kann nur das Absolute im eminenten Sinne sein: »Nur das
All ist absolut. Wir selbst sind nur, insoweit wir uns erkennen.«
Also ist die Prädizierung »das ist« eine Bestimmung, die nichts
über den Inhalt einer Sache besagt, »Ausdruck der bloßen Thätig-
keit, ohne Gegenstand und Inhalt« (a.a.O., Nr. 455); eben darum
nie als reines Sein zu fassen (179). »In der Zeitwelt« hingegen »ist
Seyn eine rythmische Relation« - auch »Schwebung« genannt
- »und ist ein bloßer Gegenwartsbegrifi« (a.a.O., Nr. 456). Diese
merkwürdige Gegenwärtigkeit scheint das Sein aus der in ihm ge-

173
dachten »Permanenz des Setzens, des Wechsels der producirenden
Handlung« zu gewinnen. »Seyn verbauter drückt den activen und
passiven Character der Wechselhandlung zwischen dem Setzenden
und Setzbaren, der Sfäre und dem Inhalt aus« (a.a.O.).
Nun läßt sich die reine Sphäre »nur in Verbindung, nicht allein
wahrnehmen« (II, 215, Nr. 303). Das allein Tätige muß eine rela-
tive Synthesis mit der Reflexion eingehen, um sich als Tätiges dar-
zustellen. Dargestellt ist es als Tätiges »Thatsache« geworden - im
Gegensatz zum »Gesetz«. In jener ist die Praxis, in dieser die Pas-
sivität das »Predominirende« (II, 292, Z. 3/4, Nr. 651; vgl. II,
217, Nr. 305; 214, Nr. 303; 219, Nr. 310; 265, Nr. 553/4; 236,
Nr. 425, 427; 242, Nr. 445; 241, Nr. 444; S. 240 ff.). »Das Pro-
dukt«, erklärt Novalis, »ist die Substantiierte Thätigkeit,... die
Substantiirte Kraft«. »Die Urthätigkeit wird durch einen Begriff
von sich selbst elementarisirt« (VIII, 174; 176, Z. 24/5). Wir ken-
nen diese Selbstentfremdungen des Absoluten in Entgegengesetzte,
die je in sich unter wechselndem Exponenten die Identität darstel-
len, aus Schellings und Schlegels Philosophieren.
Dies Gesetz gilt natürlich auch für die Gegenwärtigkeit als des
infixiblen Ur-Ichs erste Darstellung. Wie Tathandlung in der Tat-
sache zugleich als Tathandlung dargestellt und ihrer unvordenk-
lichen Praxis entfremdet ist, so muß im Sein der Gegenwart das in-
fixible Sein des Ur-Ichs zugleich verloren und als verlorenes aufbe-
wahrt sein. Gegenwart hat die Struktur einer in die Gegenwart
hineinragenden Vergangenheit, deren Gewesensein immer jetzt ge-
wesen ist und insofern ist. Freilich, insofern sie wirklich ist, ist die
absolute Präsenz des Wesens schon verloren, ist schon gewesen. Ge-
wesensein enthüllt sich als der eigentliche Sinn von Sein.
»Das Heften der Aufmercksamkeit auf den Ausdruck: Ich bin oder
er Ist«, sagt Novalis, »soll einen Begriff von Inbegriff hervorbrin-
gen - die Anschauung von einem Inbegriff - Es soll das Gemüth auf
ein Einzelnes fixiren« (II, 247, Nr. 456/7). Insofern ist Gegenwart
als »bloße.. .Vorhandenheit«, nicht als Anwesenheit-bei... gedacht
(Z. 19, S. 247) - also unterm Schema der Identität mit ihrem Ge-
halt (dessen, was in der Gegenwart »da ist« (248, Nr. 460) und was
allein Gegenstand der »Filosofie« werden kann).
Darum kann die Philosophie die reine Zeitlichkeit der Gegen-
wart nicht darstellen: »Filosofie kann nicht Urgeschichte, sondern
muß Gesetz des unmittelbaren Daseyns, seyn - und bleiben« (II,
254, Nr. 472). Nur das reflexiv Herabbestimmte ist ihr Objekt.
»Wir treffen durchaus ein Vorhandnes* - das ist das Gezeitigte unterm
Exponenten der Selbstidentität, des Raums oder der Vergangenheit, »und
ein Entstandenes« — das ist eben dasselbe mit Transparenz für das im
Akt der Zeitigung erloschene Absolute - »das Vorhandne muß aber ein

174
Zweyfaches seyn« - ein Synthetön aus unvordenklichem Sein und Eigen-
schaft.
Novalis zieht das Fazit: »/Im eigentlichsten Sinne giebts kein
Werdendes« - denn »geben« kann es nur Seiendes, d. h. Gewor-
denes - , »kein Vergangenes, sondern nur ein Gegenwärtiges — i. e.
Vorhandenes« (II, 254). So wie das Ewige sich nur in der Zeit, das
Sein in der Form, so kann sich auch die Vergangenheit nur in einer
Allgegenwärtigkeit äußern. »Jede Erinnerung ist Gegenwart«, aber
jede Gegenwart ist auch erfüllt von Gewesensein (»die Gegenwart
ist gar nicht verständlich ohne die Vergangenheit*, XII, 566, Nr.
77). Das ist nicht so zu verstehen, als sei die Gegenwart von der
Vergangenheit abstrakt ablösbar, sondern die Vergangenheit ist
das, was uns berechtigt, von der Gegenwart zu sagen, daß sie ist.
Die Gegenwart ist Anwesenheit der Reflexion beim Sich oder des
überschreitenden Bewußtseins bei der überschrittenen Wirklichkeit.
Ihre Wirklichkeit ist das Gewesensein, ihre Möglichkeit das Sein-
können; »und so leben die Menschen in der That in der ganzen
Vergangenheit und Zukunft und nirgends weniger als in der Gegen-
wart« (XII, 690, Nr. 688). Insofern erscheint die infixible Gegen-
wart als die gleichsam in flagranti gefaßte Synthetisierung ihrer Ek-
stasen und offenbart sich selbst als Freiheit oder verweigerte Ko-
inzidenz mit ihrem Sein.

Die Vergangenheit als Anwesenheit des Seins im Gedächtnis

Die Unmöglichkeit, ein »Particip Praesentis passivi« zu bilden


(II, 187, Nr. 248), enthüllt als das Sein der Gegenwart die Ver-
gangenheit. Als das seiend, was wir sind, können wir uns stets nur
in unserer Zuständlichkeit, in dem, was wir nicht mehr sind, erfas-
sen (»fühlen«). Als das seiend, was wir sind, sind wir »vergangen«
(also participium perfecti passivi). Novalis hat, um dieser Einsicht
Rechnung zu tragen, die Trias »Einbildungskraft (Sfäre) - Gefühl
- Reflexion« durch diejenige »Einbildungskraft (Fantasie) - Ge-
dächtniß - Verstand« ersetzt (z. B. II, 296, Nr. 663). Denn dasje-
nige Vermögen, welches uns instand setzt, uns oder Geisteszustände
von uns als das seiend, was sie sind, zu fixieren, ist ein Vergangen-
heits-Bewußtsein oder »Gedächtnis«. Spreche ich von mir als einem
Acteur im perfektischen Partizip, so erinnere ich mich meiner.
Die Momente »Sfäre-Gefühl-Reflexion« sind die Faktoren jener
Selbstaufbrechung, die Novalis als inwendiges »Selbdreyen« des
Selbstbewußtseins (IX, 301, Nr. 340) beschreibt. Bewußtsein ist der
»VerhältnißSinn« (IX, 303/4, Nr. 353), durch den die Synthesis
zur temporalen »Selbstberührung« wird. Da die » Z e i t . . . ein im-

175
merwährender Erstarrungsprozeß« (IX, 259, Nr. 100) ist, ist ihr
Sein immer vergangen und ihr Nichtsein immer künftig. Das ver-
lorene Sein wird durch »Erinnerung* restituiert (Z. 22), durch eine
erkennende Entgegensetzung dessen, was ist. Nur durchs »Gedächt-
niß« stehn wir in »Berührung« mit »einer 2ten Welt — einem zwei-
ten Leben«. Wo Leben erstarrt, wo »das höchste Leben in Stein
übergeht« (IX, 413, Nr. 745), da ist aus der urständlichen Freiheit
des »Grundes« das »Gesetz« (a.a.O., 273, Nr. 184), die »petre-
fakte« »Gegebenheit« geworden, die nicht durch Vorstellung, son-
dern durch erinnernde Anschauung dem gegenwärtigen Bewußtsein
vermittelt wird - als das nicht seiend, was das Bewußtsein ist — als
dessen »Gegenstand«. »Die Natur«, sagt Novalis, als das durch
Identität Ausgezeichnete, »ist nichts als lauter Vergangenheit —
Ehmalige Freiheit, daher durchaus Boden der Geschichte« (XII,
580, Nr. 197). Alles in solchem Sinne »Geschichtliche« korrespon-
diert auf seiten des Subjekts einer »Gedächtnißwissenschaft« (eine
Anregung Hemsterhuis', IX, 275, Nr. 198). Denn diese Wissen-
schaft begreift nur, was »gegeben«, d. h. »erstarrt«, »verbrannt«,
»versteinert« ist, also »Daten* im Gegensatz zu »Facten* als »ge-
machten«, nicht »gegebenen Kenntnissen«. »Wo ewige, unabänder-
liche Gesetze walten«, erklärt Novalis, »da ist Alterthum, Vergan-
genheit. Der Process der Geschichte ist ein Verbrennen« (IX, 273,
Nr. 184), hinter dessen Asche die »Lebensflamme« (IX, 259, Nr.
100) sich verbirgt. Das Verbrennungsprodukt ist Substanz, Sedi-
mentation des »unermeßlichen« Lebens, Natur, Identität, Objekti-
vität, Vergangenheit - Begriffe, die hier alle synonym sind (vgl. IX,
334): »Die Mathematische Natur verschlingt die Unermeßliche.«
Alles, was unter das »Gesetz« fällt, ist gewesene Freiheit. Das er-
klärt den prinzipiellen Vergangenheitscharakter von Raum, Natur
und Welt. »Die Welt ist die Summe des Vergangnen, und von uns
Abgelößten -« (VI, 555, Nr. 129). Mit der Ablösung hat sich das
Substantiierte zugleich eingegrenzt und ist der Anschauung zugäng-
lich geworden: »Alle Kraft wirckt in infinitum - wo sie nicht ist,
wird sie aufgehalten - hat sie ein Object gefunden« (XII, 596,
Nr. 259). »Der Raum« - als ein »Niederschlag aus der Zeit« (XII,
564, Nr. 67)46 ist »Sphaere einer beschrändkten Kraft« (XII, 577,
Nr. 166). Die Gerinnung des inwendigen Lebens der Gegenwart zu
beschränkter Identität ist für Novalis eine conditio sine qua non
der Selbstanschauung. Denn »nur das Unvollständige kann begrif-
fen werden« (VI, 559, Nr. 151; a.a.O., 562, Nr. 181). Auch die
»Periodik des Lebens« (IX, 329/30) hat darin ihren Grund. Unser
»Unheil« heftet den Blick auf die »zersetzte« Erscheinung. So zur
Vereinzelung genötigt, »haben wir [stets] das Erscheinende über der
Erscheinung verlohren« (VI, 594, Nr. 316). Denn »die Welt i s t . . .

176
eine Mittheilung des Geistes«, der sich über der Mitteilung im »Ge-
setz« entzieht. Jedes Bewußtsein von etwas ist Selbstvergessenheit
des schickenden Grundes. Darum wird alles Substantielle »erin-
nert«, nicht vorgestellt (IX, 419, Nr. 776). »Das Gedächtniß ist der
Individualsinn - das Element der Individuation« (IX, 434, Nr.
8 59)«
Es ist aus diesen Belegen deutlich, daß Novalis Selbstsein als in-
wendige Zeitigung begreift. Die »innere Selbstscheidung« (VI, 547,
Nr. 112) wird als bewußtseinsstiftende »Selbstentäußerung« (IV,
422, Nr. 26) verstanden, und zwar in einem zeitlichen Sinne. Die
»Alienation« wird als ein zeitigender Schritt nach rückwärts ausge-
legt, durch welchen das Ich einen Abstand von seiner eignen Ver-
gangenheit oder Natur (»Natur = fixirte Vergangenheit«; XII,
564, Nr. 65/7) setzt. Dieser Abstand ermöglicht das Sich-selbst-
Gegenstand-Sein und läßt das von sich entfernte Ich ekstatisch auf
sein eignes Sein zurückkommen, das als gewesene Identität zu un-
verfüglicher Vergangenheit geronnen ist: »Der erste Schritt wird
Blick nach innen - absondernde Beschauung unsres Selbst« (IV,
422, Nr. 26). Demnach muß »der 2te Schritt wircksamer Blick nach
a u ß e n . . . seyn« (a.a.O.), damit Antizipation der Zukunft als des
andern Modus unverfüglicher Ek-sistenz. Das Selbstbewußtsein
bricht seine Identität auf in ein erinnertes Versichern der eignen
Identität (des Seins) und ein ahnendes Antizipieren des eigenen
Nichtseins, der Möglichkeiten.48 So ist die Allgegenwärtigkeit in
den Augen des thetischen Bewußtseins immer einerseits Mangel an
Zukunft und andererseits Verlust an Substanz (»Substanz . . . i s t . . .
eine fixirte Gegenwart« (IX, 455, Z. 20/2)). Im Geschehen der
Vergangenheits-Konstitution wird sich das Ich zwar Gegenstand,
aber die ihrer Ichheit entfremdete Vergangenheit wird vom »Ge-
dächtniß« nicht notwendig als SICH angeschaut. Sie ist unper-
sönliche Alternat, sie ist fremde Natur geworden; ein Zustand opa-
ker Sichselbstgleichheit, von dem das gegenwärtige Subjekt sich
temporal abzusondern genötigt ist.

Gegenwärtigkeit als verweigerte Koinzidenz mit dem Sein

Durch eine Reihe von Gleichungen und Äquivalenzen hat Nova-


lis wesentliche Begriffe der Fichte-Studien austauschbar werden
lassen. Natur ist — unter wechselnder Hinsichtnahme - nichts an-
deres als These, Gefühl, Stoff, reines Ich, das Beharrliche usw. Um-
gekehrt ist Form nichts anderes als Person, Zeit, Subjekt, Reflexion
usw. (vgl. 156, Nr. 144; 138/9, Nr. 50; 168, Nr. 218), je nach dem
semantischen Kontext, in dem der Begriff fungiert. Und wirklich

177
werden die »reinen« Begriffe erst durch eine Synthesis mit ihrem
Gegensatz, darin allein sie sich darstellen können (II, 172/3; 179)-
Da aber »Stoff, Natur, These, Gefühl« die reflexive Synthesis unter
»Predominanz« (II, 292) des Einigseins mit sich selbst realisieren,
muß die reale »Unterscheidung«, die »innere Selbstscheidung« (VI,
547, Nr. 112) durch die präponderant mit sich zerfallene Reflexion
gestiftet werden: »Das Unterscheidende entsteht aus der Form —
Antithese - Person« (II, 156, Nr. 144). Erst durch ein Seiendes,
das seinem Wesen nach »transscendent« ist und nie in der räum-
lichen Einheit-mit-sich-selbst aufgehen kann, erschließt sich die Dif-
ferenz der Gegensätze. Das »reflexive« Ich, wie die frühen Fichte-
Studien lehren, erfaßt sich in seinem relativen Nicht-Sein nur da-
durch, daß es sich weigert, seine eigene Natürlichkeit zumal zu sein.
Es ist ihm verwehrt, »immanente«, d. h. passive und von sich selbst
erfüllte »Natur« zu sein (II, 168, Nr. 218). Da aber die Natur we-
sensmäßig kein Äußeres, sondern das relative Sein der Reflexion
selbst ist (»Gott sind wir - als Individuum denken wir«), ist die
Thematisierung des Seins zugleich die jenes Sein verweigernde
Selbsterkenntnis der Ichheit. Wenn der Reflexion ihr eigenes Sein
zum »Sein-für-sich« werden muß, widerspricht sie ihrem eigenen
Sein gerade dadurch, daß sie es ins Bewußtsein hebt:

»Das Ich scheint im Widerspruch zu stehn, wenn man die Natur seiner
Wirksamkeit [,] die Thätigkeit der produktiven Imagination nicht kennt,
indem es die Erreichung seines Zwecks gleichsam durch das gewählte Mit-
tel zu vereiteln scheint - aber eben dadurch handelt es mit sich selbst in
Uebereinstimmung« (II, 267, Nr. 556).

Das also entdeckt sich als die »Natur« des Ichs, daß es durch den
reflektierenden Reflex (den ordo inversus), durch Thematisierung
seiner Wirklichkeit nicht wirklich ist, also mit sich selbst nicht über-
einstimmt oder, was gleichviel sagt, seine eigene Natur nicht sein
kann: »Insofern wir also wircklich sind, sind wir Natur. Alles
Wirckliche in uns gehört der Natur« (II, 144, Nr. 73). - Wie aber
kann die mit sich identische Natur reflexiv als Identität erfaßt wer-
den? Auch das Prädikat Ichheit (»Ich bin Ich«) artikuliert sich als
Dyas und verfehlt das Identische dadurch, daß es dasselbe artiku-
liert. Man muß die »Form des Stoffes« also selbst erst reflektieren,
um ihn, seiner Reflexivität unbeschadet, in seiner relativen Identität
wiederherzustellen. Durch Reflexionsnegation wird das naturhafte
Sein dem Ich (als Gefühl) Objekt - aber Objekt »für das Ich«.
Raum wird als Selbstidentität nur wirklich durch die ihre Räum-
lichkeit verweigernde Selbstkonstitution der zeitlichen Person. Der
Raum ist »die Form der transscendenten Person«, d. h. eine Refle-
xion dessen, was in seinem Sein bereits eine Reflexion des Stoffes

178
war. Die »transscendente Person« geht über ihr Quasi-Sein hinaus
zu ihrem Sein, das sie ist in der Weise, es »für sich« nicht zu sein.
Aus dieser ekstatischen »Vereinigung« erklärt sich die wechselseitige
»Untrennbarkeit« von »Raum und Zeit« (II, 158, Nr. 155), die ge-
rade keine Identität beider verwirklicht. Als reine Zentrifugalität
zerfiele die ekstatische Personalität in Nichts ohne eine Basis (No-
valis sagt: ohne einen »Träger«, IX, 428, Nr. 811), gegen deren
Sein sich selbst bestimmend ihre Zeitlichkeit allein Realität hat: das
ist der Raum (die Natur), wenn das gegenwärtige Ich sich in ent-
fremdeter Gestalt, also nicht als sich anschaut; das ist die Vergan-
genheit oder das Gefühl, wenn die Reflexion Sich thematisiert. Auch
als Vergangenheit ist sich die Reflexion entzogen, aber sie erkennt
sich selbst in der entfremdeten Wirklichkeit wieder. Selbstverwei-
gerung ist nur denkbar, wenn das verweigerte als Selbst gesichert
werden kann. Eine solche ihr eigenes Selbst absondernde und eben
dadurch ihrer Einheit sich versichernde Reflexion ist das temporale
Selbstbewußtsein.49 - Umgekehrt bedarf die unvordenkliche Einer-
leiheit des Grundes der Reflexion, um als Einheit wirklich zu wer-
den. Denn man mag den Grund des Ich als reines Bewußtsein be-
stimmen, so bleibt doch gewiß, daß »das reine Auge absolut nichts
sieht - so wie auch das absolute Licht nicht gesehen wird« (VIII,
96, Nr. 22, Z. 15/6). Nur durch Selbstentfremdung in die Zeit rea-
lisiert sich paradoxerweise die Einheit des Grundes mit sich selbst.
Die Gegensätze des Raums und der Zeit konstituieren sich gegen-
einander (II, 181). Die Zeit, in ihrer Isolation abstrahiert, kann
nicht als Selbstflucht bestimmt werden, denn sie flieht nicht sich, son-
dern den Raum. (Jedes der drei Momente der »Sfäre« ist mit sich
identisch; Novalis sagt: »Sie sind immer dieselben . . . Sie sind in
Rücksicht auf ihre jedesmalige Bestimmung vollkommen indifferent.
Sie sind, was sie sind« usw. (II, 291, Nr. 651).) Erst in der »Sfäre«,
deren einander ausschließende Momente Gefühl und Reflexion sind,
entsteht ein Widerspruch mit sich selbst. In der Sphäre ist das Ich
(qua Gefühl) nicht das, was es (qua Reflexion) ist - und umge-
kehrt; und doch sind sie hinsichtlich der sie synthetisierenden und
realisierenden Sphäre eines. »Jedes Ding«, sagt Novalis, »ist posi-
tive und negative Größe; denn es ist ja nicht das nicht, was es ist
- Was es nicht ist, ist es nicht (II, 180, Z. 6 ff.). Nun entsteht das
»Ding« als empirisches Resultat der Vereinigung von Sein und
Schein (VI, 524, Nr. 13; II, 179/180; 225, Z. 17/8; 227, Nr. 333;
IX, 252, Nr. 70, Z. 10 ff.); in solcher empirischen Synthetisierung ist
der potentielle Widerspruch der Sphäre mit sich selbst durch Limita-
tion partiell überwunden (quantifiziert). D. h. jedes Ding, insofern
es nur Ding ist, hat in seiner synthetischen Wirklichkeit den Wider-
spruch der einander ausschließenden »reinen« Entgegengesetzten

179
schon überwunden und ist nicht etwa das nicht, was es ist. Dinge
»giebt« es, wohingegen es »reinen Stoff und reine Form nicht giebt«
(179). Sie sind nur als temporale Phasen eines Prozesses, dessen Mo-
mente sich nicht haben, sondern ineinander verspiegeln. Jedes in sei-
ner relativen Abstraktheit ist auf den übergreifenden, »transscen-
denten Bezug«, der es über sich selbst hinweg- und in die Sphäre
aufhebt, angewiesen: Es hat sich nur, wenn es sich nicht hat. Das
Subjekt hat nur das Gefühl (erinnernd) zum Objekt, nicht sich qua
Subjekt: »Was es ist, kann es nicht bestimmt werden, und was es
nicht bestimmt werden kann, das ist es.« Sein Quasisein besteht
also in der Negation seines Wirklichseins (II, 180/1).50
Diese Negativität kommt der Reflexion nicht aus sich selbst zu.
Es ist das absolute, urständlich Wesende, welches sich im »Gegen-
stande« negiert, um sich zu seinem Wesen zu befreien, gleichzeitig
aber des Gegenstandes bedarf, um nicht Nichts zu bleiben. Das reine
»Wesen«, sagt Novalis, »ist schlechthin nicht erkennbar« (II, 238,
Nr. 438). Das »bloße Wesen« (II, 240, Nr. 440; 239, Z. 12 ff.) wird
durch Negation unseres Bestimmtseins als »Freyheit« erschlossen
und macht sich in unserer Wirklichkeit als »der absolute Gegensatz«
alles Reflektierten bemerklich (202, 204). Nun »gehört zur Einheit
des Bewußtseyns ein zweyfaches« (II, 197): der Reflex bedarf eines
Reflektierenden, das sich derart gegen den Reflex wehrt, daß er sich
jeder Reflexion zugleich entgegensetzt. Im reflektierenden Reflex
verwandelt sich der »Gegensatz« allaugenblicklich in »Gegenstand«
(»der Transitus macht die Verwandlung«). Novalis bestimmt das
Verhältnis als Gegenwendigkeit oder als »Adversitaet im genauen
Sinne der Römer, wo es Zu- und ^4^gekehrtheit bedeutet«.

Das absolute Wesen steht seinem Gegenstand so »zu« wie das Licht dem
Beleuchteten (200, Nr. 283) und ist in der Zuwendung zugleich »ein Ab-
wenden - eine Entziehung eigentlich« (II, 201, Nr. 284). Das Reflexive
(»Reflexion ist ein sehr ausdrucksvoller Namen«) steht gleichsam immer
im Licht, setzt es immer voraus, ohne es seinerseits erklären oder setzen zu
können. Die Reflexion als Sein-im-Lichte macht gerade für das Licht blind,
indem sie es zurückwirft und abwendet.

Als reiner Zustand ist also der Gegensatz Entzug, und »wir wis-
sene nichts vom Wesen, als daß es das Entgegengesezte der Eigen-
schaften überhaupt ist« (II, 239). Wie soll es also gefaßt werden?
Jeder Zugriff reflektiert und verwandelt es wieder in Gegenstand.

Aber »alle Bestimmung des Gegensatzes, selbst seine Bestimmung, als Ge-
gensatz, ist er eigentlich nicht selbst. . . . Er hat eigentlich keine Sfäre, denn
er schließt alle Sfären aus. Alle Worte, alle Begriffe sind vom Gegenstande
entlehnt - Gegenstände - und darum können sie ihn nicht fixieren.
Namenlosigkeit macht gerade sein Wesen aus - darum muß ihn jedes

180
Wort verjagen. Er ist Nichtwort, Nichtbegriff« (II, 202; vgl. 264, Nr.
S5i)-
Als eine reine, seinslose Potentialität, als »Grund von allem«, ist
Wesen »jedesmal das, was Eigenschaften hat« (II, 239), ohne sie zu
sein. Es ist »positiver Mangel aller Bestimmung«, ein nie mit sich
selbst befaßtes Sein-extra-se-ipsum, das wir nur begreifen durch Ne-
gation des begreifenden Bewußtseins (a.a.O. 240, Nr. 440, zum
Thema Negation vgl. 198, Nr. 280).
Dieser absolute Widerspruch ist nur hinsichtlich des Empirischen manifest.
Das Reine weigert sich, das Wirkliche zu sein; und diese Refusion äußert
sich mittelbar in der Wirklichkeit durch die Verweigerung der Zeit, Raum,
der Gegenwart, Vergangenheit zu sein usw. Die urständliche Freiheit wird
im Gegenstande transparent, und zwar durch die zeitliche Negation der
Scheinsphäre als solcher, die immerfort dem Vergangensein anheimfällt
und sich annihiliert.
Nun symbolisiert zwar die Zeit den Gegensatz empirisch, aber
Zeit ist ein Relationsbegriff. Sie definiert sich gegen den Raum, wie
die Reflexion gegen das Gefühl. Novalis zeigt, daß auch »Gegen-
satz . . . ein Beziehungsbegriff« ist (II, 204, vgl. insgesamt 196 ff.):
Er ist stets Gegensatz des Gegenstandes, den zu sein51 er sich wei-
gert. Mit der Bestimmung, der Gegensatz sei »Unbestimmtheit«,
entfliehen wir dem Dilemma nicht (»Hier s o l l . . . von aller Bezie-
hung abstrahirt werden - also soll hier ein Gegensatz ohne Gegen-
stand seyn«) - denn auch das Prädikat »unbestimmt ist ein Bestim-
mungsbegriff« (II, 198).
»Gegensatz« ist also selbst ein Beziehungsbegriff, der seine wesentliche
Zugehörigkeit zum Absoluten dadurch bekundet, daß er als Zeit seine
Wirklichkeit negiert. Aber er setzt diese Wirklichkeit als Basis seines »Exi-
stirens« voraus. Er ist »das Absolute« in der Synthesis, aber eben darum
nicht das »absolut Absolute«: »Der Ausdruck absolut ist relativ wieder.
absolut absolut oder absolut2 ist das Höchste und Lezte« (VIII, 52 oben).
Beide lassen sich als Synthesen unter differenten Prädominanzen artikulie-
ren; die Reflexion ist dann eine Bewegung »vom bestimmenden Bestimm-
ten, als Wirkung, zum bestimmten Bestimmenden, als Ursach, zurück«,
zum Gefühl (II, 209, Nr. 295).
Können die Gegensätze in der reinen Potentialität des »Wesens«
nur zusammenbestehen, wenn das Wesen sich nicht entgegensetzt,
so muß notwendig seine »Position« (II, 195, Nr. 278, Z. 30 ff.) jene
reine »Möglichkeit des Widerstrebens gegen sich selbst« (II, 203,
Z. 33) realisieren und als einen realen Widerstreit sich manife-
stieren lassen. Das endlich Seiende findet sich - wie Novalis ge-
zeigt hat - auf Grund einer unverfüglidien Voraussetzung (II,
195/6, Nr. 278), die des Endlichen Basis derart wird, daß das End-

181
liehe sich mit seinem Grunde nicht identifizieren kann (»Alles
Wircksame, Wirckliche... ist schon subaltern, Resultat einer Anti-
these, einer Zersetzung«; VIII, 81, Z. 19/20). Nun ist das Wirk-
lichsein als Reflex des Gegensatzes (Novalis sagt, als Folge einer
»Anwendung auf sich selbst«) nichts anderes als ein im Sein Be-
gründetsein. Um Für-sich zu werden, hebt es also das, worin es »ge-
gründet« ist, das (reine) Sein auf:
»lieh bin nicht inwiefern ich mich setze, sondern inwiefern ich mich auf-
hebe - Ich bin nicht, inwiefern ich in mir bin, mich auf mich selbst
anwende/« (II, 196, Z. 4-6).
Das Ich existiert dadurch, daß es nicht an-sich ist, sondern aus
dem An-sich-Sein heraussteht. Es ist An-sich-Sein nur, wenn es seine
reflexive, ekstatische Existenz aufhebt. Ich ist seiend nur, insofern
es seine reale (präponderant nichtige) empirische Synthesis nicht ist.
Die Verwirklichung des latenten Gegensatzes von Zustand und Ge-
genstand qua »Setzen in der Zeit kann daher nur scheinbar ge-
schehen« (II, 195). Doch ist andererseits dieser Schein der einzige
uns erreichbare Begriff des Gegensatzes (als »Resultat«). Wir fühlen
im Zeitleben die unvermeidliche Nötigung, dem erscheinenden »Ge-
genstand« einen Gegensatz »voraus(zu)setzen«, ihn damit wieder
zu vergegenständlichen »und sofort« (II, 196, Z. 13 ff.). An diesem
Ort fungiert Hardenbergs Theorem des »Gefühls«. Es ist die einzige
Möglichkeit einer nicht reflexiven Selbstversicherung der in den Ge-
genstand überschreitenden Subjektivität (»Selbstheit«), die in der
Thesis des »Gegen Standes« (II, 226, Nr. 329) sich selbst faßlich
wird und damit ihrer wesenhaften »ZujfciWlichkeit« sich entfrem-
det wie die reine zeitliche Flucht in der räumlichen Erstarrung oder
wie die wesenlose Gegenwart in der Vergangenheit. Die ursprüng-
lich rein transitive »BewußtSeins-zlcrio«« (IX, 409, Nr. 730) des
Zustehens medialisiert sich im Gefühl der reflexiven Thesis, durch
die sie zum »Stand« wird. »Stand - stellt vor und ist«:

»Er ist nicht, was er vorstellt, und er stellt nicht vor, was er ist* (II, 226,
Nr. 330).
Indem er nämlich den Zustand vorstellt (thetisch setzt), ist er
selbst Gegenstand. Er stellt also dasjenige zugleich nicht vor, was er
in seiner gegenwärtigen Wirklichkeit ist. Das Sein ist nicht reflexiv
bewußt, sondern wird gefühlt (»Der Stand fühlt, insofern er ist, er
empfindet, insofern er vorstellt. Er fühlt einwärts, in Beziehung auf
sich selbst - er empfindet auswärts in Beziehung auf a n d r e s . . . Im
Zustand ist« - ordine inverso - »alles umgekehrt« [a.a.O.]).
Die Doppelsinnigkeit des Wortes »Vorstellen« als mediales Re-
präsentieren und thetisches Anschauen ist natürlich beabsichtigt

182
(Z. 16). Einesteils stellen wir Dinge außer uns vor, als das nicht
seiend, was wir sind (dann sind wir zuständliches Gefühl, haben uns
aber - wiewohl nicht als uns - im Gegenstand). Wir repräsentie-
ren den Zustand, wenn wir Gegenstände setzen. Aber wir stellen
den Gegenstand vor (repräsentieren ihn), wenn wir uns als Zustand
- als das seiend, was wir an sich sind - setzen wollen: Wir elimi-
nieren uns aus der Sphäre des Seins gerade dadurch, daß wir uns mit
ihr identifizieren wollen. Die Reflexion ist immer ekstatisch. Und
die Reflexionsnegation ist selbst ein Werk der Reflexion, nicht ihre
absolute Aufhebung.
Ein Wesen, das nicht im Sein aufgeht, das nicht einfach ist, was
es ist, sondern durch eine »Lücke« (IX, 334, Nr. 460) von seinem
Wesen getrennt ist, ist im eminenten Sinne gegenwärtig: Es ist nicht
sich, sondern es ist bei sich. Damit verflüchtigt sich die opake, bezie-
hungslose Identität in eine Relation zwischen Reflex (Sich) und
Reflektierendem, die sich in der Wirklichkeit als Anwesenheit der
Zukunft bei ihrer Vergangenheit realisiert. Den Verlust des iden-
tisch-vergangenen SICH erleidet die Gegenwart als »Mangel«, den
sie zu komplettieren trachtet. Der »Ergänzungstrieb« erschließt als
die »eigentliche Zeit in der Zeit« die Zukunftsdimension.

Die dynamischen Relationen des Raums und der Zeit

Noch bedurfte es zahlreicher interpretatorischer Vermittlungen,


um die Temporalität der Seinsverweigerung im Selbstbewußtsein
als eine Konsequenz der Hardenbergschen Philosophie plausibel zu
machen. Wir müssen nun zeigen, daß Hardenbergs Programm
einer »analogischen Konstruktion« die »Alienation« des Ichs und
seine erneute Rückbeziehung auf den Grund (VI, 551, Nr. 118;
547, Nr. 112, Z. 26 ff.) wirklich unter dem Namen einer Verzeit-
lichung des Selbstseins abgehandelt hat - wie sein oben zitiertes
Programm (VI, 647, Nr. 473) von der Verlebendigung der Zeit
und des Raumes verheißen hatte.
Die frühzeitige Analogisierung von Gefühl, Natur und Raum —
als den Weisen, Substantialität zu konstituieren und zu verweigern
- hatte Novalis schon in den Fichte-Studien das Überwechseln in
die Zeit-Diskussion52 ermöglicht. Die strukturelle Abbildbarkeit
des Selbstvermittlungsprozesses auf das Geschehen der im Raum
erstarrenden, ursprünglich flüssigen Zeit hat Novalis erst 1798 auf
die Einsicht geführt, daß die Verzeitlichung mit der Reflexion
gleichursprünglich ist.
Die Tathandlung, sahen wir, war nur als partielle Synthese mit
dem »Gesetz« real. Ebenso ist das Flüssige immer schon im Gegen-

183
Stande erstarrt. Aber jeder Moment der freien Tat bringt einen
»Triumpf des unendlichen Ich über das Endliche« (II, 269, Nr. 564),
der sich im Endlichen zeigt, ohne sich in seiner reinen, gründenden
Aktivität zu erkennen zu geben. Das Ich als Tatsache ist identisch
mit dem in den letzten Lebensjahren so genannten »unendlich Flüs-
sigen«. Wenn wir dessen Accidentialität wiederum zum Accidens
werden lassen und so mittelbar sein Wesen als reines, infixibles Tun
erreichen, haben wir den Begriff der Zeit ohne transzendente Spe-
kulation hergeleitet. Zwar erstirbt die ursprüngliche »Praxis« im
Getanen so wie die Zeit im Raum (zu >inerter Praxis< [»substan-
tiier Kraft*, VIII, 174], erstarrter Zeit<, vgl. II, 163, Nr. 185),
aber der in der produzierten Sache bzw. im Raum latitierende
Rückverweis auf die schickende Aktivität vermittelt uns einen Be-
griff derselben (II, 152, Nr. 107; IX, 246, Nr. 50).
Die Identifizierbarkeit der Struktur des Selbstbewußtseins und
seiner Selbstabsonderung mit derjenigen der Sedimentation der Zeit
im Räume hat Novalis in allen Einzelheiten gezeigt. Zeit und
Raum, Freiheit und Substanz, Flüssiges und Starres sind Abstrakta
wie Ich und Nicht-Ich: »Das Ursprünglich Starre ist durchaus ab-
s t r a c t . . . - So auch das Ur-Flüssige« (XII, 663, Nr. 602; IX, 271,
Z. 27 ff.; XII, 597, Nr. 262). Die Erkenntnis der »Relativitaet des
Festen und Flüssigen« macht das »Naturgesetz« formulierbar:
»Universaltendenz der Assimilation des Heterogenen - der Inein-
anderverwandlung« (a.a.O.). Die Synthesis steht im Mittelpunkt.
Sie ist der Ort der Verwirklichung jener »unendlichen Extreme«.
Der »Raum« ist das masselose »Starre* - die »Zeit das Flüssige
ohne Masse« (VIII, 65, Z. 19). Als Symbol des ewigen Siegs der
Freiheit über ihre Beschränkung ist die »Zeit Potenz vom Raum«
(a.a.O., 66, Z. 28/9; 60). Sie ist nichts als eine höhere Potenz des-
selben Phänomens, das auch der Raum ist.
»Die innigste Zone ist gleichsam das Ich - und diesem steht, als der
höchsten Abstraction, Contraction - die höchste Reflexion, Expansion -
die Welt entgegen. - So der Punct« - als Inbegriff der Zeit (vgl. Schel-
ling I, 3, 466) - »dem atmosphärischen Raum« (IX, 370, Z. 7 ff.).
Das Ich ist als absolute Intensität bloßes, raumloses Fließen (da-
her ihr Schema der Punkt) - Raum freies Entfalten des inneren
Alls.
Die Zeit »elementarisirt« sich im Raum auf die gleiche Weise
wie die unvordenkliche Aktivität des Bewußtseins im »Begriff«
seiner (»Selbstheit«; VIII, 176, Z. 24/5). »Selbstheit« ist erstarrte
»Aktion«, also »Trägheit* - inerte Praxis oder substantiierte »Be-
wußtseins-.^ crio««- (IX, 269, Nr. 151; VIII, 189, Z. 3 ff.
Mit einem Wort - die gesamte dynamische Selbstvermittlungs-

184
triadik der sich selbst berührenden, umgreifenden »Sfäre« wieder-
holt sich in der dreidimensionalen »Selbstaffektion« der Zeit.

Diese Konsequenz war in Hardenbergs Philosphieren immer schon ange-


legt, insofern in einem Identitätssystem jedes Einzelne alles repräsentiert
und symbolisch in seiner Einzelnheit das Ganze verinnert (XII, 650, Nr.
559; IX, 254, Z. 20/2; IX, 261, Nr. 113; 650, Nr. 559; 597, Nr. 262;
406 oben, Nr. 717; IX, 381, Nr. 633; 406, Nr. 717; 266, Nr. 137; XII,
561, Nr. 40). Das Postulat, »aus der produktiven Einbildungskraft . . . alle
i n n e r n . . . und alle äußern Vermögen und Kräfte (zu) deduciren« (IX,
413, Nr. 746; 412, Z. 13/4), war ohnedies auf die dreidimensionale Ge-
schichtlichkeit (IX, 372, Nr. 598) und die grundsätzliche Synthetizität alles
Seienden auszudehnen (IX, 374, Nr. 605, Z. 20/1). Was anderes als
»analogisches Construiren« (XII, 561, Nr. 40) hatte die Austauschbarkeit
des Selbst- und des Zeitbewußtseins erschlossen (XII, 650/1; 624, Nr. 427;
641, Z. 30/2; 643, Z. 30/1; vgl. Anm. 923/4; IX, 349, Nr. 496; 460, Nr.
1023)? »Die Einbildungskraft ist das würckende Princip - sie heißt Fanta-
sie indem sie auf das Gedächtniß wirckt-und Denkkraft indem sie auf den
Verstand wirckt« (IX, 298, Nr. 327).53 Novalis hat erst in den letzten
Lebensjahren als das in der Einbildungskraft allein »Kräftige« die Zeit,
die »alles macht ..., zerstört - bindet - trennt« (IX, 259, Nr. 100)
erkannt. Diese Lösung ersetzt die Analogisierung, die wir hier vorzüglich
zu beobachten haben, durch eine Uberordnung der Zeit über die Einbil-
dungskraft.

Nach diesen Prämissen ist nicht verwunderlich, wenn H a r d e n -


berg seinen programmatischen Vorsatz, R a u m als ein aus der Zeit
Gezeugtes, mehr lebendig behandeltes Wechselverhältnis zu bestim-
men, in der »Enzyklopädistik« tatsächlich einlöst: »Das Nicht-Ich
ist die uranfängliche Absonderung — Zeugung im Großen« ( I X ,
301, N r . 338, Z. 18/9). Diese absondernde Zeugung ist das P r o -
dukt jener »Selbstberührung«, die die U r h a n d l u n g aus ihrer im
»Instinct« (»Selbstgefühl«) ( I X , 4 4 1 , N r . 902) beschlossenen Ein-
heit durch »Selbstabsonderung, Selbsterkenntniß« (vgl. Schelling,
I, 4, 357, Anm. 1) aufbricht u n d das Eine sich »selbdreyen« läßt
(IX, 301, N r . 340). Diese durch Ablösung sich thetisch ihres U r -
sprungs versichernde Objektivation ist eine Loslösung von der »Na-
tur«, die - wie das »Gefühl« - »unbegreiflich per se« bleibt (IX,
302, N r . 342, Z. 10 ff.) und z w a r im Instinkt gefühlt, aber nicht per
se, sondern per reflexionem begriffen wird. D a s Bewußtsein ist in-
sofern der »VerhältnißSinn« ( I X , 303/4, N r . 353), der die im
»Ich« »zersetzten« Momente »Objekt und Subjekt« - in dieser
Reihenfolge - einander berühren läßt ( I X , 371, N r . 594, Z. 21/2).
»Object und Subject e n t s t e h n . . . immer zugleich« ( I X , 378, Z. 1;
vgl. V I , 541, N r . 74).

185
Dieser Dissoziationsakt wird nun völlig in Begriffe der Tempora-
litätsrelation übersetzt:
»Zeit und Raum« heißt es, »entstehn zugleich und sind also wohl Eins.
Raum ist beharrliche Zeit - Zeit ist fließender, / variabler Raum -
Raum - Basis alles Beharrlichen - Zeit - Basis alles Veränderlichen. Der
Raum ist das Schema« - wie das Gefühl das »Bild« im Selbstvermitt-
lungsprozeß war - »die Zeit der Begriff - die Handlung (Genesis) die-
ses Schemas« (IX, 427/8, Nr. 809).
Aller Substanz ist wie dem Faktum »Ichheit« »ein Vor- und
Nachmoment hinzu(zu)denken«. Die flüssige Zeit bedarf, wie das
handelnde Ich, eines Substrats, einer abgesetzten und überschritte-
nen Basis, daran sie erscheinen kann; das ist der Stoff fürs reflexive
Ich, das ist der Raum für die Zeit: »Stoff ist der Träger und Zeiger
der Handlung - der Thätigkeit« (IX, 428, Nr. 811) - der sub-
stantielle Raum ist der Träger und Indikator der Zeitlichkeit, die
selber nichts ist (»Organische Masse« ist ja immer erst die gewor-
dene »Synthese von Flüssig und Fest«; 449, Nr. 939). Denn Raum
und Zeit sind solange Abstrakta, als sie nicht innerhalb der sie an-
einander bindenden Sphäre bestehen und nur in der Absicht ihrer
relativen Selbstkonstitution einander entfremden: Denn »wir ver-
stehn natürlich alles Fremde nur durch Selbstfremdmachung -
Selbstveränderung - Selbstbeobachtung« (IX, 429, Nr. 820, Z. 16/7).
Vom »gegenwärtigen Moment« spricht Novalis als von dem »im-
merwährenden Erstarrungsprozeß der irrdischen Zeit« (IX, 259,
Nr. ioo) 54 , die sich im Raum darstellt. Eine weitere Parallele ist
zum Selbstoffenbarungsprozeß im Selbstbewußtsein geradezu aus-
gesprochen: »Es [»Alles Object«] ist ein Geronnenes — und das Sub-
ject ein Flüssiges... Es ist eine beständige Größe - das Subject
eine Veränderliche - « , Novalis fügt hinzu: »Beyde in Einer Func-
tion«, nämlich der »Sfäre« (IX, 441, Nr. 900). Das Geronnene
»wird . . . ständiger Reitz . . . einer neuen Objection« (a.a.O.),
denn die flüssige Zeit trachtet ihre erloschene Praxis aufs neue zu
beleben und überflutet so alle Einbindungen in relative Synthesen
mit dem Räume. Die geronnene Praxis - die Substanz - ist ganz
so wie in den Fichte-Studien das »Gefühl« das »Mittel« der inwen-
digen Selbstdarstellung des Höchsten in verspiegelter Gestalt.
Tatsächlich hat Novalis seine »alte Idee« vom »Bild im Spiegel* (VIII, 65,
Z. 8/9) auch auf die Zeitkonstruktion angewendet. Wie die Reflexivität
des Selbstseins, so ist auch die Zeit eine »Illusion«, durch welche das
»ächte Selbstbewußtseyn« als ein »instantaner«, in sich stehender, »zeit-
loser« »Wechsel . . . ohne Vergangenheit und Zukunft - und doch ver-
änderlich«55 (IX, 431, Z. 23/4) verstellt und durchs Schema, Novalis
sagt: »durch »ein Mittelwesen«, «indirect . . . demonstrirt« wird. Die
Ewigkeit wird durch eine »Indirecte Construction der Absicht« als Zeit,

186
also durch ihr Nichtsein bewiesen (IX, 372, Nr. 601; 378, Z. 1; 431, Nr.
828, Nr. 832; 373/4; 373. Z. 22; 374, Z. 4/5; 384, Nr. 634; II, 271,
Nr. 566; IX, 372/4, Nr. 601 - Nr. 603; VIII, S. 60; vgl. diese Dialektik
mit IX, 333 ff., Nr. 460 und 370/1, Nr. 593):
»Alle Synthese - alle Progression - oder Übergang fängt mit Illusion
an - ich sehe außer mir, was in mir ist - ich glaube es sey geschehen, was
ich eben thue und sofort. Irrthum der Zeit und des Raums«(IX, 372, Nr.
601). Daher ist »alle Kraft« eine »transitorische« Größe, die »nur im Über-
gehn« - als »Mittelresultat« verkehrt - erscheint, »instantant - vor-
überschwindend«. »Bleibende Kraft ist Stoff« (VI, 553, Nr. 123) - ein der
Absicht entfremdetes Resultat.

In immer neuen Ansätzen versucht Novalis, diese Konzeption zu


präzisieren. So notiert er:
»Gebrochne Gedanken sind Anschauungen und Empfindungen - also Kör-
per« (XII, 623, Nr. 425).
Oder:
»Die Körper sind in den Raum precipitirte und angeschoßne Gedanken.
- Bey der Precipitation ist der Raum, als o [Null, Nichts] oder 00 [unend-
lich] - als . . . Substantielle(r) Körper, zugleich entstanden« (IX, 449, Nr.
94*)-
Diese Belegstelle h a t den heuristischen Vorzug, d a ß sie die Genese
der Analogisierung der Subjekt- mit der Zeit-Sphäre vorführt. N o -
valis läßt hier den Raum nicht aus der Zeit, sondern aus »Gedan-
ken« sich niederschlagen (so schon Anklänge in den Fichte-Studien).
Zeit und Subjekt sind also austauschbare Begriffe geworden (vgl.
X I I , 620, N r . 4 0 3 ; 663, N r . 602; I X , 258/9). »Wie entsteht ein
Stoff? - Augenblickliche, temporelle Stofferzeugung? I m Flüssi-
gen« als Sediertes, als Gerinnung ( X I I , 626, N r . 447). 5 6 Wir sehen,
Novalis unterscheidet Raum und Zeit wie Subjekt und Objekt nach
Präponderanzen (als »Zeitraum« und »Raumzeit«). Beide sind in
sich, insofern sie reale Kräfte sind, synthetisch strukturiert, weil sie
nur in der umgreifenden »Sfäre« Bestand haben. Wie Gefühl und
Reflexion, so »entstehn« auch »Raum und Z e i t . . . zugleich«: Keine
Zeitphase, die sich nicht im R a u m als inerte Praxis verstellen und
objektivieren müßte ( I X , 455, N r . 991). Selbst die Individualität
einer räumlichen Objektivation ist aus der Individualität der Zeit-
H a n d l u n g erklärt ( X I I , 620, N r . 4 0 3 ; 660, N r . 598; 687, N r . 679;
I X , 392, N r . 660; 271, N r . 1 7 3 ) " 5 8 .
Die Produkte der »Synthesis von Raum und Zeitindividuen*
(IX, 271, N r . 173) sind »sichtbare historien« oder »sichtbare Zeit-
füllen«, die durch ihre Sichtbarkeit »Raumfüllen« oder P r o d u k t e
der Zeit geworden sind: »Zeitbildungen«. »Die Zeit«, erklärt N o -
valis, »entsteht mit dem Factum (Bewegung) - der R a u m mit der
Stoffung.« Beide Begriffe seien »subaltern«, »von späterer Forma-

187
tion wie Nichts und Etwas«. Beide stellen die Zersetzung ihrer U r -
sprungssphäre empirisch dar. Aber die Zeit ist ein dem Ursprung
näherer Begriff als der der Bewegung, so wie R a u m ursprünglicher
als Stoff. Zeit verhält sich zu Bewegung, R a u m zu Stoff wie Nichts
zu Etwas, weil im jeweils zweiten das erste sich - unter Wahrung
seiner Zuständlichkeit als Praxis oder Passivität - objektiviert. Die
Bewegung verbindet, der Körper trennt, beide sind »abstracte«
Momente der sie verbindenden zeitlichen Synthesis, die höher ist als
ihre Elemente.
Jede Bestimmung der Wirklichkeit kann aus »Zeitbildungen« gewonnen
werden, d. h. aus realisierten Interferenzen von Raum und Zeit. Raum
und Zeit mit Präponderanz des Raums ist Stoff, sagt Novalis. Aber
innerhalb dieser Synthesis ist zwischen »extensiver« und »intensiver«
»Raumcapacitaet« zu unterscheiden. Jene bestimmt Novalis unter dem
Titel »Zeitenenergie der Seele und des Körpers« als »Gestalt«, diese als
»Masse«, den Raum überhaupt als »Capacitaet des Volums« oder »Raums-
Capacitaet«. 59 Entsprechend ist auch die Zeit noch in sich gegliedert, im
engeren Sinne ist sie »Geschwindigkeit«, im äußerlichen »Dauer«, im inner-
sten »Zeitcapacitaet« (Zeitvolum) (IX, 272, Nr. 180). Jede der inneren
Bestimmungen entsteht zugleich mit der korrespondierenden äußeren. Das
Fragment (IX, 433, Nr. 848) parallelisiert diese in Zeit und Raum (als
relative Synthesen) nochmals eingeschachtelte Synthetizität:
d g b a
»Der Raum - die Fläche - die Linie - der Punct
8 J I •
Der Zeitraum - die Zeitfläche - der Zeitlauf - der Moment
(Ausdehnung (Widerstand
positiv) negativ)
d und 8 — g und 7 — b und ß — a und a entstehn
zugleich«.
Da der Raum selbst das ursprüngliche Sediment der Zeit ist, ist jede
Individualität in ihrem Sosein bestimmt durch das bekannte Moment der
»Einfallkraft«, die den umzirkten Raum feststellt. So wird »die Zeit, als
Coprincip der [- wie Nr. 476 erweitert - »chemischen«] Verwandtschaf-
ten« der durch sie konstituierten Körper, erkannt (IX, 340, Nr. 474; 340,
Nr. 476; XII, 630, Nr. 478).*0 Jede organische Bestimmtheit ist eine
Phase, die gleichsam auf dem »unermeßlichen Meridian« der Zeit abge-
steckt ist. Die Zeit stellt zwischen allen Phasen Trennung und Verbindung
her. Sie ist insofern absolut schöpferisch, als kein Zeitmoment ohne »Stof-
fung« verfließt (vgl. IX, Nr. 100). Die »Kronologie« oder - schon mit
Integration des Raumes ist es gesagt - die Zeit längen bestimmung* ist
der »Ortsbestimmung im Raum« oder der »allgemeinen Topologie« über-
geordnet (IX, 340, Nr. 474), derart, daß »die Zeit . . . hier ein unermeß-
licher Meridian (ist) . . . , worauf jedes zeitliche Individuum seine Sfäre,
seine Skale hat«. Die Zeitintensitätsmessung auf dem Meridian bestimmt
die korrespondierende Extensität der »Raumerfüllung« (IX, 272, Nr.

188
180), d.h. die »Gestalt« als der Zeit Äußerlichkeit (ebd.). Folglich ist
»jede Veränderung des Grades« - der »Intensität« eines Körpers oder
dessen, was an ihm zeitlich ist, der »Masse also« - »mit Veränderung
der Figur verbunden«. Erst die Synthesis von Grad und Quantität (In-
teriorität und Exteriorität), von intensiver und extensiver Raumerfüllung
macht den Körper (IX, 341, Nr. 477). Der Fortschritt an Intensität in der
abstrakten »Topologie« wird in der »Chronologie« als Steigerung der
»Geschwindigkeit« und Elongation der »Dauer« reflektiert. Dem räum-
lichen Aspekt der Zunahme von »Dauer« (qua »Zeitconstitution«) ent-
spricht die sich steigernde »Mannichfaltigkeit oder Stärdse« (IX, 342, Nr.
477) oder »Stoffkonstitution« bzw. »Raumkonstitution«, die mit ihr
Hand in Hand geht. Die Einbildungskraft oder »Gott« ist die »synkriti-
sche Kraft* (IX, 342/3, Nr. 479), welche die »Grade der Existenz*
schlechthin bestimmt (vgl. IX, 327 ff., Nr. 446) und aus deren Wirklichkeit
rückerschlossen wird.
Raum und Zeit, deren Konkretionen Körper und Seele sind (IX,
445, Nr. 990), sind in der Sphäre aufgehoben, derart, daß inner-
halb derselben Raum als von der Zeit, dem »Succesiven Wechsel
jer Kräfte« (IX, 449, Nr. 942), dependierend gedacht werden muß.
Die Phasen Einbildungskraft - Zeit - Raum sind die zeitliche Er-
scheinung des Höchsten, indem es sich »selbdreyt«. Das Selbdreien
aber ist nichts als eine Selbsteinbindung des Höchsten in die
Schranke des Raums und deren Überströmen in Form der Zeit.
So kann Novalis mit aller Bestimmtheit notieren: »Der Raum,
als ein Niederschlag aus der Zeit - als nothwendige Folge der
Zeit« (XII, 564, Nr. 67). Mit dieser aus Hardenbergs letzter philo-
sophischer Entwicklungsphase stammenden Notiz ist ein ganz neuer
Bereich der Zeittheorie eröffnet. Sie gehört in einen Zusammenhang
mit einer Reihe sehr ähnlicher und gleich präziser Bestimmungen
über den Gerinnungscharakter der Zeit in Raum oder in vergangene
Gegenwart. So spricht Novalis vom »gegenwärtigen Moment« als
vom »immerwährenden Erstarrungsproceß der irrdischen Zeit — Sie
hat eine sonderbare Lebensflamme« (IX, 259, Nr. 100). Im Raum
substantialisiert sich die Zeitaktion und entfremdet ihre Infixibilität
in Identität. »Jeder Körper ist ein ausgefüllter Trieb« (IX, 417, Nr.
766). Er ist eine von den »Arten der Thätigkeit des Ich«, und zwar
diejenige, durch welche »die Entstehung des Begriffs Ruhe etc.«
sinnlich anschaubar wird. Daher der »Bezug des Raums auf den
Begriff Substanz - und der Zeit auf den Begriff caussa«. Denn
jede relative Synthesis, vermöge deren eine Aktion im Produkt sich
selbst gleich wird, ist »Substantiell« (IX, 372, Nr. 600): »Substanz
. . . i s t . . . eine fixirte Gegenwart« (IX, 455, Z. 20/2, vgl. dazu
II, 169, Z. 7, Anm. Bd. 2, S. 704 oben, II, 187, Nr. 247; II, 188/9;
374, Nr. 605, Z. 20/1). Zeit und Ichheit sind »im Grunde nichts«
(II, 273, Z. 21), sind substanzlos, bevor sie sich reflektieren und

189
verräumlichen (XII, 577, Nr. 166; 584, Nr. 210). »Jede Substanz«
ist aufgehaltene, gebrochene Kraft, die sich nur gegen andere Sub-
stanzen bestimmen läßt, in der synthetischen Totalität der Natur.
Denn alle Naturwesen »sind vergangene, geschichtliche Wesen«
(XII, 564, Nr. 65), »die Natur ist eine versteinerte Zauberstadt«,
»sinnlich« gewordene oder »ehmalige Freyheit« (IX, 271, Nr. 172;
XII, 674, Nr. 618), »gebundene Gedanken« (XII, 595, Nr. 252),
ein »gebildeter Fluß« (a.a.O., Nr. 248) und wie immer Novalis das-
selbe Geschehen bildlich variiert.
Aus der Gerinnung in Vergangenheit geht die Freiheit immer
siegreich hervor (»Wenn sich etwas consolidirt, werden Gedanken
frey«, XII, 595, Nr. 252). Diese siegreiche »Transscendenz« konsti-
tuiert, wie wir andeuteten, die Richtung auf Zukunft und ist die
sphärische »Selbstberührung« der Einbildungskraft selbst. Diese re-
flexive Selbstaffektion, welche Zukunft erschließt, muß aber gleich-
wohl in der Gegenwart (der Reflexion) selbst geschehen; ihr Pro-
dukt wird eine »schwebende« Synthesis sein, die gleichsam - selbst
ein Nichts - mit dem einen Gesicht in die Vergangenheit, mit dem
anderen in die Zukunft blickt. Die Gegenwart ist janusköpfig.

Vollkommene und unvollkommene Gegenwart


Wenn, wie Novalis zeigte, Realität das Geschöpf der Zeit -
nämlich Produkt gegenstrebiger Kräfte - ist (IX, 259, Nr. 100;
XII, 624, Nr. 427; 660, Nr. 598; 687, Nr. 679), so muß die
»Menschheit« als »Abglanz« der im »absoluten synthetischen Ich«
latitierenden Differenz (IX, 270, Nr. 164; IX, 469, Nr. 1098; II,
139 ff.; 270, Z. 30/1, Nr. 566) diese Gegensätze zu ihrer Realität
befreien und in einem »unaufhörlichen Duell« mit sich selber ste-
hen. Dies ist ihre Zeitlichkeit, die sie zwingt, nie mit sich zu koinzi-
dieren; d. h. die eigene Einheit zugleich zu trennen. »Die Zeit«, no-
tiert Novalis, »macht... alles, wie sie auch alles . . . bindet
- trennt« (IX, 259, Nr. 100). Sie vereint nämlich den Aspekt der
Differenz mit dem der Einheit, aber auf zeitliche Weise. Ohnehin
sind für Novalis »Unendlich und Ewigkeit - blos Zeitvorstellun-
gen« (II, 154, Nr. 124); und es ist gewiß, daß »Zeit... die Bedin-
gung aller Synthesis« (a.a.O., 154, Nr. 117) ist. Er wiederholt diese
Überzeugung und integriert die Theorie der zeitlichen Synthesis
in den neu erschlossenen Zusammenhang: »Die Synthesis wird in
der Zeit realisirt, wenn ich ihren Begriff successive zu realisiren
suche - wenn ich anfangs zu synthetisiren« (IX, 373, Nr. 603).
Dieser Prozeß der Synthesis qua Zeitigung der »Welt« macht die-
selbe zu einem fließenden Gegenstande (XII, 601, Nr. 291 und
a.a.O., 605, Nr. 314), der in seiner »Zeitlichkeit« ein »Abglanz«,

190
»eine sinnlich wahrnehmbare... Einbildungskraft« (IX, 252, Nr.
70) geworden ist.
Nun ist »die Zeit. . . ein Successiver Wechsel jer Kräfte«, und
»die Gegenwart ist die Schwebung« (IX, 449, Nr. 942). Selbst un-
bewegt, vermittelt sie die Zeitrichtungen: die Auflösung in Zu-
kunft und den Sturz in die Erstarrung, »gleich einem Gefäße, das
einen aufnehmenden und abführenden Gang hat« (a.a.O.). Schon
Tieck hatte sich im Lovell (I, 471) eines ähnlichen Bildes bedient,
und Hölderlins Gedichtzeilen »Uns wiegen lassen, wie/ Auf schwan-
kem Kahne der See« (Mnemosyne, 3. Fassung) ist derselben Vor-
stellung verpflichtet. Nicht die Gegenwart flieht über die hinter ihr
geronnene und vor ihr sich endlos dehnende Zeit hinweg, sondern
die »himmlische Flucht der Zeit« (Brief an den Bruder Erasmus) er-
scheint in der Gegenwart, wie in deren Fokus gedrängt und vom ru-
henden Pole aus im Fluge geschaut (IX, 415, Nr. 759). Freilich läßt
sich dies Bild nur auf eine schon »fixirte Gegenwart« anwenden.
Als reine Flucht verstanden, ist die »Schwebung« ein Interstitium
von Vergangenheit und Zukunft - gleichsam der Umschlagpunkt
von Sein und Nichtsein. - Denn der bekannte Satz, Gegenwart sei,
was sie nicht ist, und sei nicht, was sie ist, ist so zu übersetzen: Ver-
gangenheit ist das, was die Gegenwart nicht ist, im Modus des Ge-
wesenseins; Zukunft hingegen ist das nicht, was die Gegenwart ist,
im Modus des »Seinwerdens«.61 Wenn Novalis die »Gegenwart«
daher »das Differenzial der Funktion der Zukunft und Vergangen-
heit« nennt (IX, 475, Nr. 1132), so ist das gegenwärtige Dasein als
nach zwei Seiten hin, teils seines Wirklich-, teils seines Möglich-
Seins, also der Vergangenheit und der Zukunft beraubt gedacht.82
Zwar ist Gegenwart eine Synthesis. Aber diese Synthesis bringt ihre
Teile nur in Kontiguität, nicht zur Identität und muß sich darum als
durch eine »Lücke« von sich getrennt, als ekstatisch fühlen.
Novalis unterscheidet eine vollkommene und eine unvollkom-
mene Welt bzw. Gegenwart. Das »unvollkommne Praesens«
(VIII, 61, Z. 20) ist eine solche zeitliche, d. h. die Momente der Syn-
thesis nie absolut zur Koinzidenz bringende, »Synthesis von Per-
fectum und Futurum« (a.a.O.).
»Die unvollkommne Gegenwart«, erklärt Novalis, »sezt eine unvoll-
kommne Zukunft und eine unvollkommne Vergangenheit voraus - eine
Zukunft, der Vergangenheit beygemischt ist, die durch Vergangenheit zum
Theil gebunden, i. e. modificirt ist - eine Vergangenheit die mit Zukunft
gemischt und durch dieselbe modificirt ist. Aus beyden besteht die unvoll-
kommne Gegenwart - welches eigentlich ihr Erzeugungsprozeß ist«
(a.a.O.).
Die reale Gegenwart ist also nur teilweise synthetisch, weil sie
»zum Theil« nicht ist, was sie ist (als Vergangenheit zugleich nicht

191
Zukunft und durch dieselbe folglich beeinflußt). Und sie ist deswe-
gen nicht ganz das, was sie ist, weil sie selbst eine »Mischung« aus
zwei nur partiellen Synthesen ist, die dieselbe Defizienz teilen. Auch
die Momente der Synthesis sind »zum Theil gebunden«.93 Dage-
gen ist eine nicht-partielle oder absolute »Bindung... simultane
Freyheit« (a.a.O., 60): »Im Neutral oder Indifferenzpuncte sind
beyde Opposita gänzlich frey«. »Gebunden im gewöhnlichen Sinn«
(a.a.O.), werden die Opposita sich umgekehrt »polarisch«, also ein-
ander ausschließend, verhalten.
»Unvollkommne Elemente, + und — Elemente konstituiren auch nur ein
unvollkommnes Leben - weil sie sich nicht vollkommen saturiren —
durchdringen können und also keine vollkommne Harmonie stattfinden
kann« (a.a.O.).
Das negativ beschworene Ideal einer Koinzidenz der temporalen
Opposita müßte die absolute oder »vollkommne Gegenwart«, eine
saturierte Bindung, sein, welche »vollkommne freye ZukunrX - und
vollkommne freye Vergangenheit... erzeugt«, »die beyde zugleich
afficirt werden - und beyde zugleich wircken« (a.a.O., 61); es
müßte also die Sukzession in eine zeitlose, ewige Simultaneität von
Starre und Flüssigkeit aufheben. Eine solche absolute oder All-
gegenwart ist für uns »insensibel* (a.a.O,. 60), ein leeres Transcen-
dens, dem keine Realität entspricht. Es wäre die utopische (im wört-
lichen Sinn des Wortes ortlose) »Sfäre der gebildeten goldenen
Zeit« (IX, 384, Nr. 634), in welcher »keins von beyden« - Ver-
gangenheit und Zukunft - »unterschieden« wäre und also deren Ei-
nerleiheit »aus den Eigenschaften und dem Verhalten der Elemente«
unerklärlich (VIII, 61) sein muß. Als eine »unvollkommne Gegen-
wart« bietet sich im Kontrast jenes zeitliche Schweben von Zukunft
zu Vergangenheit dar, deren mutuelle Ausschließlichkeit die in-
fixible und bei Fixation wie ein Funken ins Gegenteil übersprin-
gende Gegenwart als »Differential« darstellt. Sie stellt die gestörte
Kontinuität immer aufs neue wieder her und bleibt so transparent
für die »insensible« Allgegenwart.
Wenn die Welt die sinnlich dargestellte, mechanisierte Einbildungskraft,
Einbildungskraft qua Synthesis aber nichts anderes als die sich durch ihre
Ekstasen im Differential der Gegenwart berührende Zeit selbst ist, so wird
notwendig die werdende Welt die Unvollkommenheit der Gegenwart in
sich spiegeln. »Die Welt«, als »der Inbegriff des unvollkommnen Lebens«,
als »die Sfäre der unvollkommnen Vereinigungen des Geistes und der
Natur«, vernichtet und schafft sich genau wie die Zeit durch »unaufhör-
liche Zerstörung alles Unvollkommnen Lebens - . . . fortwährende Ver-
dauung . . . unaufhörliches Bilden neuer Freßpuncte - neuer Mägen -
. . . beständiges Fressen und machen« (60/1) - im Gegensatz des »voll-
kommnen Lebens« im »Himmel«. Die Welt ist unvollkommen, weil sie,

192
ebenso wie die Zeit, aus »nothwendigen Voraussetzungen« und »noth-
wendigen Folgen« zeitlich synthetisiert ist, ihr Sein dem Gewesensein, ihr
Werden der Zukünftigkeit verdankt und nie ist, was sie ist. Die dynami-
sche Relation von Raum und Zeit ist in ihr gespiegelt: »Aus der wirck-
lichen und Idealwelt entspringt die Gegenwärtige Welt, die eine Mischung
aus fester und flüssiger, Sinnlicher und intellectualer Welt ist« (XII, 687,
Nr. 679).
Novalis deduziert das Kausalgesetz, als den empirischen Niederschlag der
Zeitsukzession, aus einer Wechselbeziehung von »Substanz« als Grund
und »Accidens« als Folge. Die empirische werdende Welt kann als das
angeschaute »Caussalitaets«-Gesetz definiert werden (vgl. z.B. IX, 455,
Nr. 990; 417, Nr. 766 u. 771).

Die Bestimmung der Selbstvermittlungs-Sphäre


als E i n b i l d u n g s k r a f t

Die antithetische Synthetisierung von Zeit und Raum, Zustand


und Gegenstand und wie immer die organisierte Struktur einer in
sich zerfallenen Einheit sich artikuliert, setzt ein Philosophieren
voraus, welches mit der Hypothese eines nie in den Griff zu bekom-
menden Prinzips operiert. »Supposition des Ideals - ist die Me-
thode es zu finden« (IX, 373, N r . 603) - das hatte Novalis von
Fichte lernen können. Für jede Philosophie, die von synthetischen
Gegensätzen handelt, k a n n nachgewiesen werden, d a ß sie die Ein-
heit schon voraussetzte. Wie aber ist jene »Sfäre«, jene synthetisie-
rende Einheitskraft zu denken, die sich als Zeit selbst affiziert und
doch in der unvollkommenen Wirklichkeit ( I X , 342, N r . 479;
342/3) als unerreichlicher Ausstand nie a d ä q u a t dargestellt werden
kann?
H a t t e Novalis in seiner »Deduction« die ursprüngliche Reflexion
des Gefühls als Anschauung bestimmt und jener »zweiten H a n d -
lung« (oder »Vorstellung«) als deren »Stoff« gegeben sein lassen, so
war die »Sfäre«, in der dieser Austausch sich ereignete, gänzlich un-
bestimmt geblieben. Novalis nimmt diesen Argumentationsgang im
letzten Teil der Fichte-Studien wieder auf, indem er fragt:

»Was heißt das? Die ganze Anschauung ist der Stoff der Vorstellung -
qua Anschauung ist sies nicht. Sie ist es auch nicht/selbst - Sie sind aufs
strengste durch ihre Identität getrennt. Welcher Zusammenhang ist zwi-
schen beyden? wie kann Anschauung der Stoff der Vorstellung genannt
werden« (II, 185/6, Nr. 246),
und a n t w o r t e t :
»Es müssen Mittelvermögen etc. seyn, die vermöge ihrer Identität bey-
den angehören, von beyden etwas haben.«

193
Es folgt eine (auf Seite 191, Nr. 269 erschöpfend erweiterte)
Aufzählung der abstrakten Antithesen, worunter auch »Raum.
Zeit. Bewußtseyn.«, und schließlich die behauptete Auflösung:
»Die Einbildungskraft ist das verbindende Mittelglied - die Synthese - die
Wechselkraft« (a.a.O.).
Diese Definition ist erweitert durch die lapidare Notiz: »Wech-
selkraft. Kraft ist Wechsel - Wechsel ist Kraft« (a.a.O.). Der Zusatz
scheint belanglos und trifft doch ins Herz der ganzen Zeitanalyse.
Eine Untersuchung des Zusammenhanges von »Kraft« und »Sfäre«
kann das deutlich machen.

Die Kraft der Einbildungskraft - das abstrakte Absolutum

Unter den Exzerpten aus der Wissenschaftslehre (III, 354, Z.


23/4) steht das wörtliche Zitat aus I, 215: »/absolute Thesis der
Einbildungskraft, die insofern schlechthin produktiv ist./« Fichte er-
klärt die Phantasmagorie der Nicht-Ichproduktion aus der Tätig-
keit der Einbildungskraft, Novalis weiß sich diesem Einfall ver-
pflichtet. Und doch überbietet seine eigene Gleichung von Kraft und
Einbildungskraft Fichtes Position bei weitem, ja sie hat weiter rei-
chende Konsequenzen als Fichtes praktische Tätigkeit, die insofern
abstrakt bleibt, als sie ohne Anstoß und gegenstehendes Nicht-Ich
nie bewußt gemacht, d. h. nie auf sich zurückgetrieben werden
könnte. Novalis bestimmt die »Einbildungskraft« als eine aus-
schließliche Produktivität (II, 167, Nr. 212). Sie ist »allein Kraft -
allein das Thätige, das Bewegende« (a.a.O., vgl. II, 147, Nr. 86;
IX, 408, Nr. 724, Z. 25 ff.). Ihr gegenüber vermindert sich Fichtes
absolut praktisches Ich (Hardenbergs »Gefühl«) zu einem gewis-
sermaßen »Passiven« (II, 167, Nr. 213), das nur graduell, nicht we-
sensmäßig von der Reflexion (dem »Verstand«) verschieden ist, dem
korrespondierenden »Vermögen«. Praxis und Reflexion sind bloße
Dispositionen, wohingegen es »kein Einbildungsvermögen« gibt
(a.a.O.). »Thätigkeit«, sagt Novalis, »ist die eigentliche Realität«
- aber sie ist nicht »rein zu denken . . . Durchs Reflektiren mischt
sich das Entgegengesezte hinein und selbst schon durch Streben -
Begehren.« Nun enthält zwar »der Begriff der I d e n t i t ä t . . . den
der Thätigkeit«, aber diese Tätigkeit ist durch Einmischung der Re-
flexion als »Wechsel in sich selber« zu bestimmen. »2 Zusammenge-
sezte sind die höchste Sfäre, zu der wir uns erheben können«. Mit
einem Wort - unser an die Reflexion restringiertes Bewußtsein
kann die »Urkraft« »nur in Verbindung, nicht allein wahrnehmen«
(II, 189, Nr. 253; 214 f., Nr. 303). Es artikuliert sie als Differenz
und entfremdet sie ihrem eigentlichen Sein - unvermeidlich.

194
Die Urkraft muß darum - nach dem bekannten Gesetz des reflek-
tierenden Reflexes - ihre Aktivität limitieren, auf die Differenten
verteilen und gleichsam dosiert einsetzen: Insofern sie Gegenstand
ist, wirkt sie hemmend (also auch dort als versteckte Kraft), negie-
rend, widerstrebend; insofern sie Zustand ist, gehemmt, setzend,
strebend (II, 216 Nr. 304) - also bald aktiv, bald »reaktiv«.
»Accidenzen« von der Art des reflektierenden Reflexes, erklärt
Novalis, »können schlechthin nur an Einem Object seyn«, welches
dann »Substanz« oder »beyde Accidenzen zusammengenommen«
ist (II, 294/5, Nr. 660). Diese »Zusammennehmung« aber zeigt
ihre Schwierigkeit darin, daß die Bestimmung der Substanz durch
ihre Akzidentien einen Widerspruch zu vermitteln hat.

Die Substanz »hat eine laute und eine/ stumme Seite, einen widerstehen-
den und freyen Theil, eine zu und abgekehrte Seite - es ist laut und
stumm, widerstehend und frey zugleich - was idealisch unter beyde
Accidenzen vertheilt ist ruht jezt allein auf der in Anspruch Genommnen
und das Entgegen(ge)sezte auf der Andern.«

Also weil die Einbildungskraft je nur ein Akzidens, dieses aber to-
tal durchwirkt, selbst aber nur in der Akzidentialität erscheint, so
ist die Reflexion auf ihre »eine Seite« mit Blindheit gegenüber der
anderen verbunden: »Anschaubar ist folglich nur Eine Accidenz auf
einmal« (a.a.O.).
»Es wird . . . mehr als wahrscheinlich«, erklärt Novalis später, »daß der
Grund dieser Unvollständigkeit die Schwäche der productiven Imagination
sey - die es nicht vermöge sich im Moment des Übergehens von einem
Gliede zum anderen schwebend zu erhalten und anzuschauen« (VI, 525,
Nr. 13, Z. 29-32).

Die Imagination kann folglich - einem hin- und herspringenden


Fünkchen gleich - als Aktion nur in einem der Abstrakta und muß
dort ganz wirksam sein. Es gibt danach allerdings nur eine »unend-
liche Thätigkeit« (II, 268, Nr. 558), die sich aber nicht zumal in
»Vor und Nach« (II, 189, Z. 15 ff., Nr. 251) »verwirklichen«,
nicht beide Abstrakta und sich selbst in eine »KraftÄußerung« ver-
einigen kann, sondern im »Transitus« allein aufleuchtet und als
»Äußerung« von Kraft stets »instantant — vorüberschwindend«
(VI, 553, Nr. 123), d.h. im Produkt erstarrend gedacht werden
muß (»Bleibende Kraft ist Stoff« - »Alle Kraft erscheint nur im
Übergehn« - VI, 588, Nr. 266; II, 188, Nr. 249). So verzeitlicht
sich die transitorische Einbildungskraft (II, 188, Nr. 249) durch ihr
Unvermögen, in der Wirksamkeit des einen ihre Kraft auch auf das
andere Akzidens auszudehnen. Dies Unvermögen reflektiert sich als
Unvereinbarkeit der Zeitdimensionen untereinander - ohne den

195
übergeordneten Begriff des reinen Fließens, der die Verwirklichung
der Kraft indiziert.
Einbildungskraft ist also die zur Verzeitlichung genötigte »tria-
dische« Simultaneität von Gefühl (Materie), Form (Reflexion) und
»Sfäre« (dem übergreifenden Verbindenden (vgl. I I , 268, N r . 558;
214, N r . 3 0 3 ) ) . Aus dieser synthetischen Trias sind alle Verhältnisse
ideeller und reeller N a t u r schlechthin deducibel ( I X , 413, N r . 746;
412, N r . 742; I I I , 390, N r . 4 6 ; V I , 524, N r . 13). Die triadische
Synthetizität der Einbildungskraft k a n n als allgemeingültiges Ge-
setz formuliert werden: »Ueberall sind 3 Sfären« (II, 291, N r . 651)
oder: »Sfäre - Form - u n d Materie - dis sind die 3 Grundbegriffe
aus denen alles formirt wird, oder vielmehr aus denen alles besteht.
Diese sind beständig beysammen - in unzertrennlicher Relation«
(II, 261, N r . 516). Die Zeit spiegelt die gleichzeitige Unvereinbar-
keit und Zusammengehörigkeit ihrer Phasen im Medium der K o n -
tinuität.
Hinsichtlich ihrer Thesis ist die Einbildungskraft »Bewußt-
Seyn[s]-Action« (IX, 409, N r . 730), hinsichtlich ihrer Substantia-
lität reflektiertes Bewußtsein oder abstrakte Selbstidentität (Raum)
- an ihr selber aber - unerkennbar (IX, 412, N r . 742; I I , 182, Z.
5-16) - die Selbstaffektion selbst. So m u ß Hardenbergs Schema
gelesen werden:
»Bewußtseyn - Sfäre der Vorstellung.
Raum - Sfäre der Anschauung.
Zeit - gemeinschaftliche Sfäre.«
(II, 189, Nr. 2 $6)
In dieser Konstellation der Abstrakta geschieht nichts Geringeres
als eine ausdrückliche Zuordnung der Zeit nicht zur Reflexion, son-
dern zur »Sfäre« selbst, die ja - wie wir wissen - ihrerseits Ak-
tion in Substanz (Raum) sich niederschlagen läßt und in ihren Ek-
stasen sich selbst berührt. »Kraft. R a u m . Zeit.« (II, 168, N r . 218)
notiert Novalis und entwirft mit diesem (materiell beliebig ausfüll-
baren) Schema das Programm einer als Selbstvermittlung der
Transzendenz gedachten, absolut-synthetischen Zeit.
Zeit ist Selbstoffenbarung des Absoluten in drei Phasen - deren äußerste
einander berühren - als Natur - Einbildungskraft - Person: »Wenn Trans-
scendenz zur Immanenz wird, so ists die Idee der Gottheit [nicht die gött-
liche Kraft-an-sich] - i. e. wenn die Vorstellung zur Anschauung wird -
so sind wir im Gebiete des göttlichen Ich - die Einbildungskraft, als
Anschauung ist Gott. Das Gefühl ist die Natur - der Verstand ist die
Person - personificirte Psychologie« (II, 168, Nr. 218; vgl. Nr. 215). In
der temporalen Einbildungskraft ist die »Sfäre« des Göttlichen also erreicht.
Wir haben keinen darüberhinausgehenden >Begriff< des Höchsten. Gott als
Kraft an sich erscheint in keiner Synthesis, sondern ist die Transzendenz

196
des abstrakten Gefühls, ein absolut Unvermittelbares. Da er zugleich der
»Grund«, das »Seyn« der »Sfäre« selbst ist, wird sich die Selbstvermittlung
in ihrem Geschehen transzendent.

Auch in Kants und Fichtes Philosophieren spielt der Begriff der


Einbildungskraft eine zentrale Rolle. Aber bei beiden ist die I m a -
gination ein Mittelvermögen, das zwar auf sonderbare Weise mit
der Zeit verbunden, aber gerade darum durch anderes Wissen über-
troffen wird. Hardenberg hat in einer hochkomplizierten Selbstver-
mittlungskonstruktion als erster unter den Idealisten die Offenba-
rung des »Unbekannten« im »Begriff« (in der »Anschauung« und
»Vorstellung«) seiner als Zeit gedeutet - als Zeit, die sich in der
Vermittlung hinsichtlich ihres Seins selbst transzendent wird und
doch »das empirische Bewußtseyn ausmacht« ( I I , 167, N r . 214).

Hardenbergs über Fichtes Konstruktion des Selbstbewußtseins wirklich


hinausweisende Idee war eben die, daß das gleichnamige «Ich« bei Fichte
für zwei Funktionen herhalten muß: als dem Nicht-Ich entgegengesetztes
(relatives) Ich oder als Ich, das sich entgegensetzt, und als »Gemeinsfäre«.
Novalis behauptet die Abstraktheit von Ich und Nicht-Ich (II, 268, Nr.
558) - »Subject entsteht nicht aus Object et vice versa« (II, 278, Nr. 595)
- und subordiniert beide »Abstracta* als nicht-absolute Relationsbegriffe
dem allein Aktiven oder der im Gegensatz zum praktischen Ich »absolut
absoluten« »Einbildungskraft«. So ist erklärt, wie er Fichtes praktisches,
allvermögendes Ich als »Gefühl von Ohnmacht« deuten kann, als »Ab-
hängigkeit vom Unwillkürlichen«, der es durchwaltenden Sphäre.
Die »Sfäre« zieht alle Aktivität in sich und ist allein »frey«, im Schweben
über den Gegensätzen sich im Gegenstand oder im Zustand wirksam zu
zeigen (II, 265/7, Nr. 553-556; 168/9, Nr. 219). Denn die Abstrakta sind
»schon im Ich vorhanden«, noch bevor aus dem »Gefühl« »thätiger Sinn«
werden kann. Indem die Einbildungskraft den Widerspruch von »Mit-sich-
selbst-Eins-« und »Sich-entgegengesetzt-«Sein vermittelt, muß zugleich
»alle Vereinigung... von Einer Seite geschehn« (II, 286, Nr. 646; vgl.
189, Nr. 251). »Eine Thätigkeit aus zwey Puncten gegen einander kann
nun und nimmermehr Eins werden« (a.a.O.). Durch den »Rollenwechsel«
entzieht sich das allein Kräftige stets auf die gerade nicht thematisierte
Seite des reflektierenden Reflexes und läßt das »empirische Ich« »sein
eignes Bild« dadurch »entwerfen« (II, 169, Nr. 220), daß es den Raum
als ein »objectives Medium« der entfremdeten Selbstreflexion zum Gegen-
stand hat und reflektiert: »/Zeit ist Form des Raums in der Einbildungs-
kraft« (II, 170, Z. 26), die als umgreifende Sphäre die gleichzeitige Be-
dürftigkeit und Ausschließlichkeit der interagierenden Abstrakta ermög-
licht. Zugleich ist es die Sphäre selbst, die durch ein hochkompliziertes
Spiegelungs-Manöver sich selbst qua Gefühl auf sich selbst qua Reflexion
»anwendet« und diese Anwendung ins Wahre spiegelt, so daß sie selbst
sogar der Selbigkeit beider Reflexionen versichert ist. Das personale Ich
wird in die Sphäre integriert und darum seine abstrakte Einzelheit zur
»Selbsttödtung« (III, 395, Nr. 54) getrieben. Hinter der Verniduung

197
der Abstraktion soll das bezugslose Sein, die »Absolute Synthese« oder
»die EinbildungsKraft qua solche« (II, 168, Nr. 219; vgl. IV, 424, Nr. 28)
hervortreten.
Novalis zeigt, daß diese Sehnsucht widersprüchlich ist (am Beispiel der
»Tugend«; II, 292/3, Nr. 652). Sie geht auf die »Sfäre«, wie sie an sich
selbst ist, und stellt dieselbe als so etwas wie eine Identität ohne »Selbst-
affektion« vor. Nun lassen sich aber »nur Entgegengesezte« zueinander in,
sei es auch identifizierende, Relation bringen. Also ist Identität schon
Differenz und artikuliert sich als Reflex: »Ich ist Sich«: »Allem Handeln
i. e. Bestimmen muß ein Bestimmbares correspondiren. Thätigkeit ist ein
synthetischer Begriff - der einen Wechsel zwischen Subject und Object
begründet - Er ist das Medium, das Vehikel alles Wechsels - Wechsel
und Thätigkeit bedingen einander wechselseitig . . . keine Thätigkeit schafft
also etwas Neues, sondern Sie verknüpft nur das Seyende zu gegenseitiger
Wircksamkeit« (a.a.O.)64
So an den Wechsel restringiert, ist die »Freyheit des Schwebens zwischen
Extremen« selbst nur subordinierte Repräsentation der absoluten »Kraft«,
die sie hypothetisch voraussetzen muß: »Wahrhaft frey«, schreibt Novalis,
»ist nur die Einbildungskraft, da sie frey zu beiden Richtungen ist. . . . Aus
diesem Lichtpunct des Schwebens strömt alle Realität aus - in ihm ist
alles enthalten - Object und Subject sind durch ihn, wie er durch sie«
(II, 266, Nr. 555; IX, 259, Nr. 100). Das Schweben als »Mater aller
Realität« ist als Wechselbestimmung zugleich »die Realität selbst« und eine
Reflexionsbestimmung, die durch das »gewählte Mittel« ihren Zweck »ver-
eitelt«. Als latent widersprüchliche Bestimmung bleibt freilich die Wech-
selkraft gerade dadurch »mit sich selbst in Uebereinstimmung« (II, 267,
Nr. 556). Das absolute Tätige der »Sfäre« ist uns in seiner »Unbegreiflich-
keit« nur dadurch faßlich, »weil es schon, indem es ist, sein Begriff ist«
(a.a.O.). Im Begriff erfahren wir gerade erst die Abhängigkeit der Re-
flexion von dem Sein, das sie in sich absorbiert. Die absolute »Kraft«
erlischt im Gegenstande, zur »Kraftäußerung« getrieben (VI, 553, Nr.
123). Insofern wir von »Kraft« reden können, meinen wir »Kraft« als
»Product« (VI, 663, Nr. 602; vgl. VIII, 174; 176, Z. 24/5), als Begriff
(»Thathandlung« wird zur synthetischen »Thatsache). Der Begriff aber
ist »nur ein Notbehelf im Zustand des Mangels an durchgängiger Wunder-
wahrheit« (VI, 556, Nr. 133).
Mit einem Wort - unser philosophierendes »Urtheilen« über die Einbil-
dungskraft hat »den Begriff Action« schon in eine Dyas widersprechender
Abstrakta »zersetzt« und dadurch verzeitlicht (VI, 562, Nr. 181; 559,
Nr. 151; II, 189, Nr. 251; VI, 617, Nr. 428; 646, Nr. 468). Die Abstrakta
sind der »Trieb ohne Object« und das »Object ohne den Trieb«, das erste
als »Streben nach Einheit« Konstituens der Zukunft, dieses als abstraktes
Sein unter Verlust der Potentialität (des Triebes) das Sein der Vergangen-
heit. Die früheren Richtungen »hereinwärts« und »herauswärts« sind erst
im gegenwärtigen Stadium der Deduktion, nämlich aus der »Zersetzung«
der »Sfäre«, angemessen herzuleiten.

198
Z e i t l i c h k e i t als » Z e r s e t z u n g « d e r »Sfäre«

Die Realisierung einer aktuellen Totalität führt auf deren Auf-


lösung: »Allheit in der Theilbarkeit« (II, 140, N r . 53; vgl. I X , 447,
N r . 929). Die im Absoluten latitierende »Basis aller ewigen Ver-
bindung« schlägt um in die »absolute Tendenz, nach allen Richtun-
gen« (VI, 590, N r . 279; 444, Nr. 74; I X , 467, N r . 1081).
»Gerade, wie das Ich in Object und Subject, sich selbst zersezt« (IX, 371,
Z. 21/2, Nr. 594), so ist »Alles Wircksame, Wirckliche, Sensible ... schon
subaltern - Resultat einer Antithese, einer Zersetzung.
Das Ächte, Wahrhafte ist nicht sensibel« (VIII, 81, Z. 19 ff.). Der höchste
Zustand, ein »Zustand ohne Zeitfortschreitung«, dissoziiert sich während
seiner temporalen Realisierung in Zeit und Raum. Aber »Räume und Zei-
ten sind Symptome von Schwäche« (IX, 403, Nr. 703), des Nicht-in-
sich-Haltens des Absoluten.
Die höchste »Aktion« k o m m t nur durch einen »Sprung« aus ihrer
absoluten Indifferenz »auf das Besondere, Individuelle, Bestimmte«
(IX, 404, N r . 708). Denn »Leben ist Kraftäußerung - mithin P r o -
dukt entgegengesetzter Factoren« ( X I I , 660, N r . 598). Die
»Hauptaufgabe« ist demnach: »Wie läßt sich Qualität auf Q u a n -
tität reduciren?« ( X I I , 563, N r . 58).
Diese Frage stellt sich freilich, und häufiger, so für Novalis: Wie ist die
absolute Freiheit teilbar? Das endliche Ich, welches die Frage stellt, findet
sich vor als »Resultat« einer verbrauchten, ihm entzogenen Möglichkeit.
Der »Entschluß, der unendlichen Mannigfaltigkeit, und ihrem bloßen
Genüsse zu entsagen . . . , kostet das freye Gefühl einer unendlichen Welt -
und fodert Beschränckung auf einzelne Erscheinung derselben - Sollten
wir vielleicht einem ähnlichen Entschluss unser irrdisches Daseyn zuzu-
schreiben haben?« (VI, 534, Nr. 36; 546, Nr. 110). Das »Ideal der Alles-
wollung« muß sich in der temporalen Realität des Daseins als einer »elek-
tiven Freiheit« bescheiden (IX, 417, Nr. 769; 406, Nr. 717 oben; vgl.
weiterhin IX, 431/2, Nr. 832 und 433, Nr. 843 - gegen Fichte I, 505).

Der Begriff des »großen Ich« qua Sphäre birgt eine »unendliche
Schwierigkeit«. Das »vollendete Ich« stellt ein »Problem« dar, wel-
ches »nur successive und Stückweise d. h. in unendlichem Raum und
in unendlicher Zeit gelößt werden« k a n n ( I X , 328/9). Als Inbe-
griff aller Realität »zersezt« und »zersplittert« sich das Absolute
in unendlich viele Partikular-Realitäten (IX, 459, N r . 1014; X I I ,
601, N r . 291). Die Zersetzung in temporäre (triadische) »Perioden«
gehört selbst zu den »Unvollkommenheiten« des endlichen, »ausge-
arteten« Lebens (IX, 329, N r . 448). Diese Unvollkommenheit ist
desto weiter fortgeschritten, je mehr das Ureine aufgelöst ist: »Der
unendlich verdünnten Kraft entspricht der unendlich einfache Stoff«
- das atomische Differentiale (IX, 291/2) - »und die unendlich

199
lange Auflösungszeit.« Umgekehrt - »je kürzer die Zeit, desto
reichhaltiger und mannigfaltiger«, nämlich desto weniger zersetzt
und entdichtet ist die Auflösungssubstanz. »Lange Zeit schwächt -
kurze Zeit stärkt« (IX, 330, Nr. 450). So wird die Konstitution des
»Weltraums des Chaos« aus »unendlich langer Auflösungszeit«, die
unendliche Extensität des Raums also aus unendlich langer Zeit-
ausdehnung gedeutet (der Raum ist zwar begrenzt, dehnt sich aber
immer weiter aus - wie die Zeit, deren »Niederschlag« er ist).
Die unendliche Zersetzungsdauer realisiert damit den transzenden-
ten Begriff der »Ewigkeit ante« (a.a.O.), die als absolute Voraus-
setzung der räumlich-endlichen Wirklichkeit in der sie bedingenden
Zeitextension empirisch faßbar wird (vgl. IX, 330, Nr. 448).
Zweimal unterstrichen hat Novalis den Zusatz: »Philosophischer
Di ff. und Int. calcül* (IX, 330, Z. 5). Damit deutet er auf seine
Methode der Rechnung mit unendlichen Größen zurück.65
Das Alles, welches Novalis durch den Dreischritt »Universum -
Multiversum - Omniversum« (IX, 290, Nr. 285) in seiner dialekti-
schen Identität beschwört, ist als das »Höchste Allumfassende ein
namenloser Ausdruck«. Wie könnten wir also mit dem »Begriff«
des Unbegreiflichen operieren, wenn derselbe nicht synthetisch ver-
einigt wäre mit dem »Niedersten« (vgl. IX, 291, Nr. 290)? Novalis
unterscheidet Unendlichkeiten höherer und niederer Gradation, je
nachdem sie »gebildet«, d. h. individuell »zersetzt« sind. Die nie-
dere Unendlichkeit verhält sich zur umgreifenden als relative End-
lichkeit. Denn in jeder Endlichkeit gibt es unendlich viele Teile,
die sich zur synthetischen Endlichkeit nicht anders verhalten als die
Endlichkeit zur Unendlichkeit. 55- verhält sich zu 1 wie 1 sich ver-
hält zu 1 . 00:
»Die Endlichkeit ist das Integral der Einen (Kleinen) Unendlichkeit -
und das Differential der andern (Großen) Unendlichkeit - dasselbe, was
Eins ist« (a.a.O.; vgl. KA XII, 384,4).
Woher rührt aber die individuelle Differenz der atomisierten
Partikularitäten? Novalis zeigt, daß sich in der Formel kein Un-
terschied ergibt, wenn wir als Schema für das Kleinste statt 55- -gj
oder 55- usw. schreiben (a.a.O., S. 291). Denn der Grad der end-
lichen Größe spielt dann keine Rolle mehr, wenn sein Relatum das
aktuelle All ist, gegen welches zu alle endlichen Größen sich der
Nichtigkeit approximieren. Also ist Endlichkeit in der Formel -5$
ausgedrückt, worin a eine Variable - und zwar, wie wir wissen,
die Zeitintensität - ist, nach deren Maßgabe die Individualität
des >Dieses< determiniert und vor dem Hintergrund des Unend-
lichen zugleich verflüchtigt wird. Durch Veränderung des tempo-

200
ralen Zählers lassen sich beliebig viele »verschiedene Einheiten«
konstituieren, die ja nur verschieden sind gegeneinander (in Rela-
tion auf ihresgleichen), eines aber in Relation aufs Absolute.
Novalis kann also mit Grund behaupten, beides66, ob Differen-
tial des unendlich Großen oder Integration des unendlich Kleinen,
sei »Eins«, im wörtlichen Sinne:
1
l.oo:oo = l = o o X ° °
»teilen«, »zersetzen« »Ergänzen«, »komplettieren«
(Differentiierung der (vgl. 362, Z. 19 ff.)
00 vielen 55- -Teile aus (Integration der 00 vielen 55- -
dem 00 heraus) Teile ins 00 )
Die Beziehung relativer Größen auf das aktuelle All (eine Be-
ziehung, die den intern mathematischen Wert der Formeln sehr
fragwürdig macht, vgl. M. Dyck), führt auf das »Allgemeine An-
nihilationssystem« (IX, 292, Nr. 291). Größen, die nur in Relation
aufeinander »was« sind, sind hinsichtlich des Alls = o und bedürfen
also zu ihrem relativen Sein eines »homogenisirenden Princips«,
des »Menschen«, welcher, je nachdem er das All oder die relative
Synthesis der Welt zum Relatum wählt, alles oder nichts ist - er ist
zugleich das Differential des unendlich Großen und Integral des
unendlich Kleinen.
Novalis kann die Zeit als die Variable im Zähler jenes schon früher so
bestimmten »Meridians« verwenden. Sub aeternitatis specie - also im
»allgemeinen Annihilationssystem« der Relation mit dem abs. Unend-
lichen - ist es einerlei, ob eine Sekunde oder ein Jahrtausend verflossen
sind. Bezieht sich die Zeit-»Progression« aber auf die Weltlichkeit als
relative Totalität (empirische Unendlichkeit), so ist sie eine werdende
Welt, deren »Beschränckungsfähigkeit ... mit der Schrankenlosigkeit . . .
wächst« (IX, 406, Nr. 717, Z. 5/6). Die Zeit wird an ihrem Produkt,
dem Gewordenen, allem also, was unter dem Raum-Schema begriffen
werden kann, gemessen. Wie der Mensch, das zeitliche Wesen par excel-
lence, ist auch die Zeit durch ihr unendliches Streben aus dem All begrün-
det, zugleich aber das Reale im Werden, welches sie nie transzendiert.
Ihre »Unendlichkeit« ist also ihrerseits das Differential des aktuellen Alls
und das Integral des »chaotischen Weltraums«, der in molekularisierte
Synthesen zersetzten Unendlichkeit. Vermöge seiner immanenten Zeit-
lichkeit geht kein endlich-Seiendes in seiner abstrakten Endlichkeit auf.
Der Auflösungs-Grad des Unendlichen wird im Endlichen als Nähe oder
Ferne vom All indiziert; so wie die relative Zeitlosigkeit der unendlich
kurzen Zeitphase Symbol wird für die größte Annäherung ans Ewige.

Die Zersetzung als relative Zeiten-Unendlichkeit und Entfernung


von der Ewigkeit wird durch das Gefühl der »Unlust« beantwortet,

201
ein Faktum, über welches H a r d e n b e r g in einem zwischen Tiefsinn
und Ironie wechselnden Dialog dessen Partner einig werden läßt.
Die Unlust korrespondiert der Erfahrung des »Lebens« als Verlust
»unsrer ursprünglichen Existenz« oder Gottebenbildlichkeit (VII,
667).
»Die Zeit entsteht mit der Unlust. Daher alle Unlust so lang und alle Lust
so kurz. Absolute Lust ist ewig — außer aller Zeit. Relative Lust mehr
oder weniger Ein ungetheilter Moment« (a.a.O.).
Indem aber die Zeit sich selbst ständig aufhebt u n d auslöscht, er-
scheint als ihr möglicher »Zweck« das »Selbstbewußtseyn der U n -
endlichkeit«, mit ihm die »Verwandlung der Unlust in L u s t . . . ,
der Zeit in Ewigkeit«; und so wird »der Fröhlichste aller Gedan-
ken« aus der »alten Klage, d a ß alles vergänglich sey« (a.a.O., vgl.
I I , 272/3, N r . 568; 292, N r . 6 5 1 ; 295, N r . 662; VI, 563, N r . 188;
611, N r . 406; I X , 349, N r . 498).
Wenn es der »Zeitlichkeit« ( I X , 436, N r . 869) bedarf, um das
»Bewußtseyn« der Ewigkeit hervorzubringen, so ist das unglück-
liche Bewußtsein< in seinem »Bedürfniß nach Wahrheit« »Folge
von . . . Auflösung - . . . Symptom von unvollkommner Consti-
tution« (VI, 649, N r . 479). Es empfindet Lust am »ungetheilten
Moment«, weil Bewußtsein auf Differenz beruht. »Zeitlosigkeit«
ist eine Auszeichnung »geistloser N a t u r e n « . Der menschliche Geist
ist in seiner unglücklichen Verfassung »ein Extensum der Zeit nach«
( I X , 436, N r . 869; V I I I , i n oben; X I I , 571, N r . 105; X I I , 657,
N r . 591; 598, N r . 269). Novalis hat seine Idee von der Zersetzung
des Ur-Einen für seine »Historik« und »Dichtungstheorie« fruchtbar
gemacht. »Geschichte« ist nichts als die sukzessive Auslegung und
Ausdeutung der aktuellen Allheit:
»Das wunderbarste, das ewige Phaenomen, ist das eigne Daseyn. Das
grosseste Geheimniß ist der Mensch sich selbst - Die Auflösung dieser
unendlichen Aufgabe, in der That, ist die Weltgeschichte - Die Geschichte
der Philosophie, oder der Wissenschaft im Großen, der Litteratur als Sub-
stanz, enthält die Versuche der idealen Auflösung dieses idealen Problems
- dieser gedachten Idee«, bevor sie real (»That«) wird.
»Dieser Reitz kann nie aufhören Reitz zu seyn - ohne daß wir selbst
aufhörten - sowohl der Sache, als der Idee nach. Sowenig also die Welt-
geschichte aufhört - das Seyn en gros - so wenig wird das Philosophiren,
oder das Denken en gros, aufhören« (III, 362, Nr. 21, Z. 22-31).

Im gleichen Sinne bestimmt Flardenberg die »Anekdote« als Dif-


ferential der Geschichte (VI, 567, N r . 206):
»Geschichte ist eine große Anekdote. Die Anekdote ist ein historisches
Element - ein historisches Molecule . . . Die Geschichte in gewöhnlicher
Form ist eine zusammengeschweißte, oder ineinander zu einem Continuo

192
geflossene Reihe von Anekdoten.« Die Frage ist nur, ob Geschichte ange-
messener als »das Continuum« der ineinander fließenden und einander
totalisierenden Phasen »oder das Discretum« der atomisch gereihten Pha-
sen zu beschreiben ist (»Welches hat den Vorzug?«). Hier tauchen schon
alle jene Wendungen des Infinitesimalcalculs antizipatorisch auf: »Ein
großes Individuum oder eine Menge kleiner Individuen? Jenes unendlich
- dieses bestimmt, endlich, gerichtet, determinirt.«
Die Anekdote ist in Hardenbergs Poetologie das Gegenstück des
»Romans«, der die extensive Totalität eines »Lebens« in »einem
ununterbrochenen Strom« kontinuierlicher Transzendenzen auflöst
(VI, 570, Nr. 212): »Ein Roman ist ein Leben, als Buch« (VI, 599,
Nr. 341):
»Der Roman handelt vom Leben - stellt Leben dar. . . . Der Roman als
solcher enthält kein bestimmtes Resultat - er ist nicht Bild und Factum
eines Satzes. Er ist anschauliche Ausführung - Realisirung einer Idee.
Aber eine Idee läßt sich nicht in einen Satz fassen. Eine Idee ist eine
unendliche Reihe von Sätzen - eine irrationale Größe — unsetzbar . . .
- inkommensurabel. . . . Das Gesetz ihrer Fortschreitung läßt sich aber
aufstellen« - nämlich durch einen poetischen Infinitesimalcalcul (vgl. VI,
579/80, Nr. 242; 567, Nr. 206).
Die Idee wird transparent in der prinzipiellen »Unvollständig-
keit» der »Geschichte« (XII, 668, Nr. 607, Z. 7/8). Aber diese
Unvollständigkeit ist nur ein Indiz für die Unangemessenheit der
endlichen Darstellung an das An-sich-Seiende. So ist die »neue gol-
dene Zeit« als der Prospekt der zeitlichen Progression nichts ande-
res als eine »regulative Idee« und ihre Supposition »Poetisirter
Idealismus« (XII, 677, Nr. 631, Z. 26/8), der das Ziel des Strebens
auf »repräsentativem Glauben« basiert weiß (IX, 421, Z. 17 ff.)
und die »Fictivität« des der Endlichkeit Mangelnden nie vergißt.
Das »goldene Zeitalter« zählt Novalis expressis verbis unter die
»Schemate der Zukunft«, die sich darin erschöpfen, sein zu »sollen«,
die aber »nicht sind« und als »Gedankenreiz« die sittliche Tätigkeit
inzitieren.67 - Die Forschung hat die Funktion dieser Idee in Har-
denbergs Philosophieren fast durchweg übersehen und ihrem Autor
unkritische transzendente Spekulationen unterstellt.

Zeitlichkeit als »Sucht nach der Ewigkeit« 6 8

Jede »Entzweyung« erzeugt einen Zustand der »Unvollkom-


menheit - Unvollständigkeit« (VIII, 53, Z. 18 ff.). Das seiner To-
talität entfremdete Ich »fühlt« sich im »Instinkt«, im »Selbstge-
fühl« (IX, 441, Nr. 902), als »Mangel« an Sein und erschließt damit
zugleich das ihm Fehlende im »Gefühl des Bedürfnisses, des In-
completten« als den entbehrten »Zusammenhang* (IX, 442, Nr.

203
904) mit sich selbst. Das in der Zersetzung gestörte Gleichgewicht
erzeugt gleichsam eine »Sucht«, die das Zersplitterte wieder zu tota-
lisieren trachtet und sich aus einer prinzipiellen Unangemessenheit
des Seienden an das Entbehrte erklärt (»Alle Bewegung entsteht
durch Bestreben wieder das Gleichgewicht herzustellen« (VIII, 78,
Z. 6/7)). Das Unvollständige gehört in ein »unvollständiges Na-
tursystem . . . , dessen Indication ein Fortstreben, ein Unbefriedigt-
seyn, eine Lücke - eine Schranckenlosigkeit ist« (IX, 334, Nr. 460;
316/7; XII, 601, Nr. 291, Z. 20-23). Novalis hat diesen Totali-
sierungsprozeß unter dem Stichwort »Ergänzungstrieb«69 wie folgt
kommentiert:
»Erweitert sich die Sfäre einer bestimmten Kraft auf eine bestimmte Art,
so entsteht nothwendig ein Trieb. . . . Aus der AnziehungsKraft, wenn man
sie Kraft nennen will, da sie eigentlich positiver Mangel ist, entsteht der
Trieb« nach Ausfüllung (II, 225, Z. 1ff.,Nr. 326).
Da unser Bewußtsein durch seine ekstatische »Selbstabsonderung«
in eine Pluralität von Vermögen (»Organen«) zersetzt ist und dar-
um »die Seele« nicht »im Moment von dem unendlichen Object
durchdrungen« werden kann, wodurch »beyde . . . Eins« (III, 361,
Nr. 19) würden, muß es die »unerreichbare Idee«, den »ewigen
Reitz« (a.a.O.), durch ein abwechselndes Sich-Beschränken und
-Überwinden verfolgen. Denn »was man nicht auf einmal fassen
und thun kann oder will, faßt und thut man successive und theil-
weise« (IX, 245, Nr. 40). Als unrealisierbare Einheit seiner »Exi-
stenz« mit seinem »Grunde« erfaßt sich das Ich als »Leben« (XII,
660, Nr. 598), d. h. als »begrenzt und unbegrenzt zugleich« (IX,
418, Z. 21). Das ist ein Widerspruch, den es nur zeitlich auflösen
kann, indem es sich selbst »transitorische Grenzen* setzt, in welchen
es sich allaugenblicklich als »Mangel« konstituiert, um in seinem
Weiterstreben die Anziehungskraft des verlorenen Ganzen zu er-
fahren.
Diesen Zustand der »Unlust« hat Novalis als »Krankheit« ge-
deutet (vgl. IX, 264, Nr. 128, Z. 25; 307, Z. 29 ff.; XII, 681, Nr.
637; VI, 546/7, Nr. i n ; VI, 606, Nr. 381; IX, 329/30 u. 328,
Z. 20 ff.; VI, 559, Nr. 151; 332, Z. 11; VI, 561, Nr. 171; IX, 349,
Nr. 498; 380, Nr. 626; 389, 7.7H.; 416, Nr. 762, Z. 21/2; IX, 444,
Nr. 918; XII, 575, Nr. 151; 667, Nr. 606 und Nr. 607, Z. 26 »(?)
ist durchaus Krankheit«; 689, Nr. 686 (? gestrichen?); 605,
Nr. 314; 653/4, Nr. 573/4; 657/8, Nr. 591). So ist die »Kranckheit
des Geistes«, dem sonst »Ruhe eigentümlich« ist, »ein leidenschaft-
liches Thun« (XII, 659, Nr. 597, Z. 20), die Zersetzung der Sub-
stanz in Streben. »Alle Unlust entsteht aus M a n g e l . . . In jeder
wahren Krankheit ist ein Mangel. . . Daher sagt man auch - was
fehlt dir« (IX, 349, Nr. 498; 319, Nr. 411), und darum ist alle

204
Krankheit »zeitlich* (VI, 574, Z. 33/4). In ihrer Zeitlichkeit ver-
wirklicht sich nämlich die Tendenz auf »Selbsttödtung« (III,
395, Nr. 54; 374, Z. 22 f.) qua Überwindung eines unlustvol-
len, widersprüchlichen Zustandes. Erst aus dem »Gefühl von Ohn-
macht«, der Erfahrung unverfüglichen, vom eigenen Sein getrenn-
ten Selbstseins, folgt die »Sucht« »Ich zu seyn« (Novalis hat selbst
auf die etymologische Nähe von Sucht, Sehnsucht und Siechheit
hingewiesen). Es ist das »Streben nach Ruhe - aber eben dadurch
ein unendliches Streben, so lange Subject nicht reines Ich wird -
welches wol nicht geschieht, so lange Ich Ich ist« (II, 134 oben). Das
Streben wendet sich zerstörerisch gegen sich selbst: »Die Selbstauf-
lösung des Triebes... ist eben das Wollüstige des Triebes. Was ist
das Leben anders?« (VI, 562, Nr. 187). Die Analogie von Leben
und Krankheit besteht darin, daß sie beide »Transcendenzen« sind
(XII, 662/3, Nr. 601; vgl. 657, 8, Nr. 591; 653/4, Nr. 573/4; 686,
Nr. 675; 692, Nr. 701; 667, Nr. 606/7), die das Fehlende dadurch
erreichen, daß sie die »schon . . . vorhandene Entzweyung in uns«
und das sich zu komplettieren trachtende »Bedürfniß nach Liebe«
(XII, 692, Nr. 701) als Negationen negieren. So wird jede Krankheit
»Mittel höherer Synthesis« (IX, 389, Nr. 653).70 Das »Bestehende«
überschreitet sich auf das Ermangelte und erschließt sein eigenes Be-
dürfnis als »Keim« künftiger »absoluter Synthesis« (II, 229, Nr. 363;
IX, 314, Nr. 398; VI, 548, Nr. 115; IX, 296, Nr. 314). Darum zählt
Novalis »das absolute Ich« unter die »Approximationsprincipe«. Es
wäre der Zustand, »da Subject und Object eins seyn sollen (nicht
sind) vereinigt werden sollen -« (IX, 390, Nr. 653).71
Novalis hat den Zusatz »nicht sind« zweimal unterstrichen und
dadurch zu verstehen gegeben, daß er die Suche nach dem »reinen
Ich«, in dem Reflexion und Gefühl »lücken«-los koinzidieren, für
unerreichbar hält. »Gott« ist das Um-willen des menschlichen »Su-
chens« (IX, 296, Nr. 314) und stellt so das »Schema der Zukunft*
dar. Gott offenbart sich im Bedürfnis als Zukünftigkeit, so wie er
sich im Verlust, in der Erinnerung als Vergangenheit gezeigt hatte.
Novalis erklärt das so:
»Der allgemeine innige, harmonische Zusammenhang ist nicht, aber er
soll seyn. (Folgerung auf Magie, Astrologie etc. - Es sind Schemate der
Zukunft -)« (IX, 438, Nr. 885).
Die wunderbaren Vermögen der Magie und der Astrologie anti-
zipieren im Schema der Zukunft den Zustand der Versöhnung, als
ob er in einer künftigen Gegenwart möglich sei. Eine solche »Fic-
tion*, wie sie der Dichtung ansteht, beruht, wie Novalis versichert,
auf »repraesentativem Glauben*, d. h. einem fiktiven »Gegenwär-
tig machen des Nicht Gegenwärtigen« (IX, 421, Z. 16 ff.). Die Be-

205
tonung im obigen Zitat liegt aber auf dem von Novalis eigens un-
terstrichenen »50// seyn«, wodurch er selbst die Differenz des Zu-
kunftsschemas vom Schema »der absoluten Gegenwart« angibt
(diese »soll seyn — Soll daseyn*; a.a.O.): Hier liegt der Akzent auf
dem Sein, nicht auf dem Sollen. Beide, absolute Zukunft wie abso-
lute Gegenwart, sind relative Synthesen unter wechselnden Expo-
nenten, ihre Realisierung ist »Fiction«. Denn »vom Unerreichbaren,
seinem Caracter nach, läßt sich keine Erreichung denken« (IX,
413, Z. 9/10) - das ist ebenso lakonisch gesagt wie logisch.
Das »soll werden« ist in Hardenbergs Fragmenten stets so etwas
wie ein Indikator seiner kritischen Diesseitigkeit. Er postuliert die
Ewigkeit, weil sie das »absolut Unbekannte« ist, durch ein »absolu-
tes Postulat« (II, 270). Sie ist dasjenige, was die endliche Existenz
voraussetzen muß, um sich in ihrem endlichen Sein verstehen zu
können. Dies endliche Sein ist ein sich sehnender Mangel, dessen
Sein von seinem Nicht-Sein, von der Zukunft, beunruhigt und prin-
zipiell unerfüllt bleibt. »Zukunftslehre der Menschheit« besagt nur
konsequent:
»Alles was von Gott praedicirt wird enthält die Menschliche Zukunftslehre.
... Jeder Mensch, der jezt von Gott und durch Gott lebt, soll selbst Gott
werden« (IX, 297, Nr. 320).
Der ekstatische Abstand des Wesens von der endlichen Wirklich-
keit wird durch den ewig frustrierten Zugriff auf Identität als Zu-
kunft erschlossen. Es handelt sich, wie Novalis sagt, um eine »immer
getäuschte und immer erneuerte Erwartung« (IX, 296, Nr. 314).
»Jede« solche Erwartung »deutet auf ein Capitel in der Zukunfts-
lehre hin«, und er fügt hinzu: »vid. mein erstes Fragment im Blü-
thenstaub«, welches lautete: »Wir suchen überall das Unbedingte
und finden immer nur Dinge« (IV, 413, Nr. i). 72 Das »Unbedingte«
ist »ein ewiger Reitz, welches er durch seine Erreichung aufhören
würde zu seyn« (III, 361, Nr. 19).
Wir wiederholen, es ist nichts Äußeres, sondern das Innerste, das
»Erkenntnißvermögen« selbst, welches für sich der »höchste Reitz*
(VI, 590, Nr. 278) bleibt, insofern es sich in seinem entfremdeten
Sein von sich selbst ablöst. Der reflektierende Reflex, dessen Sein
gleichsam auf die Seite des Wechsels sich entzieht, den die Thesis
des Bewußtseins nicht fixieren kann, muß das Sein für eine unab-
weisliche Fiktion halten (vgl. »Fixiren von Fingo«, II, 246, Nr.
451). Das Sich, mit welchem der Reflex verschmelzen möchte, ent-
weicht in dem Maße, in dem er sich dem Reflex bemerkbar macht.
Indem das SICH der Grund des Reflexes ist, wird seine Erreichung
»eine subjective Idee . . . eine unbestimmte Aufgabe - die nie gelößt wer-
den kann, weil sie auf unendliche Arten, stets relativ nur gelößt wird.

206
Durch die bleibende Möglichkeit der Ausdehnung des Objects - bleibt
auch die gänzliche Vereinigung immer künftig« (III, 361, Nr. i9). 7 '
D. h. sie ist im gleichen Sinne ausgeschlossen wie die Möglichkeit,
von irgendeinem Punkte der Zeitausdehnung zu sagen, er sei
schlechthin sich selbst gleich wie ein Raumding mit sich selbst iden-
tisch genannt werden kann. »Die Geschichte muß immer unvoll-
ständig bleiben« (XII, 668, Nr. 607, Z. 7/8)74, sofern sie nur Ge-
schichte bleibt und ihre Negativität nicht negiert. Darum ist »das
Ziel des Menschen nicht die goldne Zeit« (II, 269, Nr. 565), jene
»Fiktion«, welche die Einbildungskraft in der Wendung der Selbst-
affektion zugleich bildet und zerstört. Das Außerzeitliche kann nicht
Geschichte werden; und die Geschichte ist die uns allein zugängliche
Dimension des ekstatischen Seins. (Die »Einheit der Zeit« resultiert
aus der Gleichförmigkeit des »Strebens zu Gott« (II, 141, Nr. 54).)
Wir halten also fest: Das von seinem Grunde getrennte Subjekt
konstituiert im Streben nach dem Grunde die Zukunft, so wie es
umgekehrt sich selbst in seiner Vergangenheit auf der Basis einer je
schon geschehenen Schickung übernehmen muß. Wir haben bisher
die Zeitdimensionen isoliert. Das liegt in der Natur einer Analyse.
Abschließend wollen wir zeigen, wie Novalis die organische Syn-
thesis der Zeitlichkeit in einen einzigen Deduktionsgang zusammen-
faßt und die Ambivalenz der Ekstasis als Vergangenheit und Zu-
kunft aus dem Verhältnis des »Resultats« zu seinem »Grunde« ab-
leitet.

Der »Grund« als »regulative Idee« des Zeitlichen

Der transzendentale Standpunkt erfordert, daß die Philosophie


als »Theorie... vom Bedingten ausgehn« muß (II, 147, Nr. 86).
»Ihr Unbedingtes ist nur das Erschöpfende - Allheit« (ebd.). Die
ontologische Differenz beider treibt die Reflexion zur Bescheidung.
Zwischen dem Mangel auf der einen und der aktuellen Totalität
auf der anderen Seite klafft eine »Lücke«, die nicht zu vermitteln,
sondern nur durch »Sprung« (IX, 404, Nr. 708) zu überwinden ist.
Das Selbstsein (ohne die Ebene der Theorie zu überfliegen) versi-
chert sich seines Grundes durch eine ideelle Negation seiner Nega-
tivität oder durch einen »Rückschluß« aus der in der Kontinuität
und Unendlichkeit seines Strebens sich zeigenden Einheit auf deren
verborgenen Grund.
Der Grund - wie wir zeigten - fungiert in zwei Zusammen-
hängen: als Voraussetzung des »Bestehenden« wird er im Bewußt-
seinsmodus der »Sehnsucht« als »Vergangenheit« (IX, 283, Z. 33/4)

207
gesetzt (oder im »Gedächtniß« »erinnert«); als »Nachsetzung« wird
er als das im »Modus« der »Hoffnung« als zukünftig vorgestellte
synthetische Sein erschlossen, welches durch sein prinzipielles Nicht-
sein charakterisiert ist. Denn die absolut-totalisierte Synthese kann
»nie in konkreter Gestalt* erscheinen (IX, 347, Z. 24/5). Mit einem
Wort: Der »Mangel« überschreitet sich auf das »synthetische
Ganze« (setzt sich damit als vergangen), erschließt sich zugleich als
das »Bestehende« (als veräußerlichte, zeitliche Praxis) und den Ab-
stand von seinem Ganz-sein-Können als das »Fehlende« (die Zu-
kunft). Der Mangel konstituiert eine dynamische Synthesis dessen,
was er im Modus des Gewesenseins ist, mit dem, was er im Modus
des Seinwerdens nicht ist. Der »Grund« als eine abstandlose, simul-
tane Synthesis wird also auf zwei Weisen verfehlt.75 Die »Relati-
vität alles Dings« (II, 242, Nr. 445) beruht also auf dem Umstand,
daß es, als das reale »Bestehende« (II, 229, Nr. 363), jeweils auf
Kosten dessen, was in ihm als »Mangel«, »Bedürfniß« (negativ) ge-
setzt ist, vom absoluten Grunde getrennt ist. Das Bestehende und
das Fehlende bedürfen einander, um ihre abstrakte Analytizität in
jeweils überschrittenen abstrakten Synthesen aufzuheben (vgl. II,
252, Nr. 468), die ihrerseits kein Ziel sein können, weil der Mangel
nicht durch Konsumtion von Substanzen seinesgleichen, sondern
durch die absolute Aufhebung der »Lücke« zu befriedigen ist: »Je-
des Ding steckt im höhern Dinge - oder weitern - extensivem
und intensivem Dinge«. Der ersehnte Grund ist ihr unvordenk-
licher »gemeinschaftlicher Bezirk«, der die abstrakten »Bestand-
theile« zur erschöpfenden Synthesis totalisieren könnte. Denn »nur
das Ganze ist real - Nur das Ding wäre absolut real, das nicht
wieder Bestandtheil wird« (II, 242, Nr. 445).
Novalis hat diese Perennierung des Mangels in der Sucht nach
immer »kompletteren« Synthesen durch die Unterscheidung von
»Gattung« und »Art« bezeichnet. Es ist die letzte Unterscheidung
der Fichte-Studien. Sie ist in die früheren Gegensatzpaare äqui-
valent zu übersetzen (II, 2 5i,Z. 18; vid. 250, Z. 27ff.; 236, Nr. 430;
248/9, Nr. 462; 253, Nr. 470; 260, Nr. 511; 259, Nr. 505). »Eigen-
schaften und Wesen«, heißt es, »kann nur ein gemeinschaftlicher
Grund, Bezirk haben - ein Drittes, was sie umschließt und dessen
Identität Ihre Entgegensetzung mit ausmacht. Dis ist das Feste, was
wir suchen - die Synthese - die Gattung 76 etc.« (II, 241, Nr. 444).
In ihm ist die »wechselseitige Begründung« (II, 245, Nr. 450), die
aus dem Gesetz entsteht, daß »jedes Ding . . . im Entgegengesetzten
erkennbar« ist (II, 171, Z. 14), aus aktueller Einheit beschlossen
und ermöglicht. Die Gattung ist »das Ganze« oder die stets ver-
fehlte Zukünftigkeit jeder transitorischen Synthesis, d. h. jedes
»Übergehens in eine andere Sfäre«, durch welches Übergehen allein

208
»ein Ding ein Ding ist oder ein Ding entsteht« (II, 246, Nr. 453).
Die wechselseitige Erhellung von Dingsphären, die sich ständig
durch den »Ergänzungstrieb« in höhere Sphären aufheben und da-
durch negieren, muß — qua Prozeß der Totalisierung — unvor-
denklich in einer wenigstens möglichen Identität aller Dinge be-
gründet sein: »Indem ich . . . ein Ding kennen lerne, so lern ich alle
Dinge kennen«, insofern jedes Symbol der Totalisierung wird (das
Wesen ist allen in genau dem Maße gleich, als sie sich durch Eigen-
schaften äußerlich unterscheiden): »Es ist nur eine Beziehung auf
ihren gemeinschaftlichen Bezirk - auf ihre Dinglichkeit und Iden-
titaet« (II, 243, Z. 32/3). Aber nicht nur die schon totalisierten
Dinge bedürfen der totalisierenden Einheit, sondern auch »das Feste
ist Relationsbegriff - nur durch das Veränderliche ein Festes -
wie das Veränderliche nur durch das Feste ist« (II, 245, Z. 31 ff.;
vgl. II, 290, Nr. 650; XII, 692/3, Nr. 704).
Da wir als »zeitliche Personalitaet« (XII, 665, Z. 5/6) vom
Veränderlichen ausgehen müssen, ist das zu unserer aktuellen Er-
gänzung ersehnte und »fehlende« Relatum stets die »Gattung«. Un-
ser Dasein, unsere »Individualität« ist »ein grundloses Leben« (IX,
466, Nr. 1070) im wörtlichen Sinne, so wie der Grund eine rela-
tionslose Unveränderlichkeit sein müßte. Als »grundloses Leben«
ersehnen wir den von unserer Wirklichkeit getrennten Grund durch
Streben in die Zukunft.
Die nun folgende Darstellung ist von einer, selbst in den Fichte-
Studien, ausgezeichneten Kohärenz, von der Art, wie es die »De-
duktion« ist, und kann also fortlaufend interpretiert werden (II,
250 ff., Nr. 465 ff.).
Wie oft zu Beginn einer problematischen Erörterung legt sich
Novalis eine Frage vor: »Wenn wir von Gattungen sprechen, was
verstehen wir darunter?« Die Frage wird von einer Antwort ab-
gelöst, deren Unvollständigkeit eine neue Frage aus sich heraus-
treibt usw. - eine Methode, die ihrem Gegenstande vollkommen
analog ist. Die Antwort lautet:
»Einen gemeinschaftlichen Grundkaracter - aber finden wir nicht die
Gattungen immer wieder in Umfassenderen enthalten - Jede Gattung
wird Art - die Gattung, die uns die höchste zu seyn scheint, ist Ding -
Ist dies aber wirklich eine Gattung« (II, 251, Nr. 466).
Ist die höchste Sphäre das Ding? Ja und nein; denn Dingheit ist
zwar immer auch Gattung hinsichtlich ihrer relativen Synthetizität,
aber doch auch wieder ein Abstraktum gegenüber der abstrakten
Personalität, deren Ungreifbarkeit Hardenbergs Denken nach eige-
nem Geständnis in Bewegung gebracht hat (II, 250, Nr. 465: »Ich
suche, das, was in uns d e n k t . . . « »Kann ich ein Schema für mich

209
suchen, da ich das Schematisirende bin?«, 252, Nr. 469). Also ist
die es thematisierende »Vorstellung noch höher, als Ding. Aber alle
Gattung ist Vorstellung«. Man muß folglich die Vorstellung auf
ihre Tauglichkeit untersuchen, das Attribut, »höchste Gattung« zu
sein, zu tragen. Da »alle Gattung in ihr entsteht«, sie »folglich...
nicht selbst Gattung oder Art seyn . . . kann« 77 , ist sie merklich da-
für disponiert. Sie kann nicht Gattung sein (»das wäre transscen-
dente Ausdehnung eines immanenten Gesetzes - eine Form außer-
halb ihrer Sfäre - eine Gattung außer der Gattung« (a.a.O., 251),
das muß die Vorstellung sein). Da im Radius der Vorstellung aller-
erst eine »Sfäre« entsteht, »muß sie wol etwas anders seyn, als
Sfäre«. Damit entsteht aber die bekannte Aporie, daß die alles ab-
sorbierende Sphäre (»die eigentliche absolute Gattung«) ihrerseits
nicht aus ihr selbst erklärt werden könnte. Ihr »Entstehungsgrund«
müßte wenigstens außer ihr lociert sein, und er müßte weiterhin -
als Ermöglichungsgrund aller »Thätigkeiten«, »Verknüpfungen«
und »Relationen« - zu nichts in Relation stehen. Aber gerade mit
dieser Bestimmung verstrickt sich die »Vorstellung« nur tiefer in
die Relationalität. Denn das allgemeine »Schema... von allem«,
in dessen umfangendem »Gebiet« alles liegt und wie fern es immer
an ihm selbst von Empirie sein mag, ist doch stets nur Schema von
empirischen Verhältnissen. In der Sphäre ist aller »Unterschied«
ausgelöscht (»Sie ist ja nur Eins und Eins kann nicht 2 seyn«) - ge-
rade darin unterscheidet sie sich von der »Sfäre der relativen Ge-
wisheit, oder des Wissens, unser(m) Ich« (II, 263, Nr. 536). Aber
ist diese Differenz wirklich ausgemacht? »Wir wissen ja noch gar
nicht, woraus Gattung besteht — was dis für ein Eins ist, aus der
sie besteht.«
Hier springt die philosophische Besinnung aus der Konstatierung
der Aporie in die Antizipation der unabweislich sich aufdrängenden
Vermutung: »Am Ende sezt wol gar jede Gattung eine Umfassen-
dere nothwendig/ voraus — einen Raum - und wenn das so ist, so
ist höchste Gattung wol gar ein Nonens« (II, 251/2).. Die Substanz
des Höchsten, dem Menschen Innerlichsten ist womöglich seine Sub-
stanzlosigkeit oder sein Nicht-etwas-Sein: »Hieraus sehn wir bey-
läufig, daß Ich im Grunde nichts ist« (II, 273, Nr. 568). »Im
Grunde«, d. h. im »absolut Absoluten« liegt der Grund alles Seien-
den beschlossen, und zwar so, daß er aufs nichts Bezug hat und daß
zugleich »das Allgemeine... das Einzelne, das Einzelne das Allge-
meine voraus(sezt)«. Mit anderen Worten, das »Reine« soll zugleich
Grund des Seienden sein und ohne alle Relation auf Seiendes wesen.
Novalis zieht eine sehr eindeutige Konsequenz, indem er das Ab-
solute als »regulative Idee« bestimmt und das reale Erreichenwollen
dieser Idee als »Unsinn« bezeichnet (II, 254, Z. 11/12):

210
»Der Begriff von Gattung, Art und Einzelnem hat nur einen regulativen,
classificirenden Gebrauch - keine Realität an sich, denn sonst würde er
unendlich seyn. Wir müssen die Idee nicht verfolgen, denn sonst kommen
wir in die Räume des Unsinns - Jede regulative Idee ist von unend-
lichem Gebrauch - aber sie enthält keine selbständige Beziehung auf ein
Wirckliches - Man kann die Unendlichkeit, man kann ein Sonnenstäub-
chen in sie legen - Sie bleibt sich immer gleich - denn sie ist ganz außer
der Sfäre des Wircklichen - des sich wircklich verhaltenden. Sie ist ein
Gesetz der Vorstellung - ein schematischer Begriff« (252 oben), d. h. ein
solcher, der sich notwendig einfindet, wenn -die Vorstellung auf sich selbst
reflektiert und im Verweisspiel des reflektierenden Reflexes die Unbe-
gründbarkeit ihrer selbst aus sich erfährt. Absolute Gattung ist der eksta-
tische, kein immanenter Grund des Selbstseins.

Von hier fällt ein Licht zurück auf die gesamte Konzeption der
Fichte-Studien: Novalis sucht das absolut ungegenständliche
Selbst, die Kraft in der Einbildungskraft in den Griff zu bekommen:
»Die höchste Aufgabe der Bildung ist — sich seines transcenden-
talen Selbst zu bemächtigen - das Ich seines Ich's zugleich zu
seyn« (IV, 425, Nr. 28) - so lautet die berühmte spätere Formu-
lierung. Es ist also die Urkraft in ihrer radikalen Infixibilität, das
reine, von allem Begriff entblößte und insofern transzendente We-
sen, welches als Prinzip erstrebt wird. Das ist ein Anspruch, den
Novalis wiederholter Selbstkritik unterwirft. »Wir denken uns die
Vorstellung zu sehr als Vorstellendes«, sagt er, »als Thätiges i. e.
Bewegtes, Caussales - da dies doch nur Idee ist« (II, 255, Nr. 477).
Anders gesagt, der einzige uns mögliche Begriff von Tätigkeit ist
die Tatsache: »Ich ist unbegreiflich, weil es schon, indem es ist, sein
Begriff ist. Mit seinem Seyn ist sein einzigmöglicher Begriff gege-
ben« (II, 267).
Das reine Sein ist also stets mehr als sein Begriff; es ist dem Be-
griff »transscendent«. »Was verstehen wir unter dem Vorstellen-
den? Die Szene der Vorstellung, oder ihre Ursache -« d. h. das
Vorstellen, gleichsam in flagranti ertappt. Aber sogleich schränkt
Novalis ein: »Ursache aber ist nur ein regulativer Begriff, eine
Vernunftidee - es wäre also thöricht ihr reale Wircksamkeit beyzu-
legen«. Indem sie sich bemerklich machte, müßte sie schon in ihrem
Produkt (der Tatsache) untergegangen sein. Einen über die Tatsache
hinausstrebenden Begriff müssen wir also aufgeben und uns wie
folgt dialektisch bescheiden:

»Die Vorstellung ist ein Bestimmtes in unsrer Sfäre. Aus allem diesem
können wir leicht abnehmen, daß auch selbst unser sogenanntes Ich vor-
gestellt werden kann, denn die Vorstellung ist frey und kann alles
Gegebene enthalten. Das Denken gehört nicht zur Gattung - Ein So oder
So denken, ist blos Eigenschaft des Individui« (255, Nr. 476).

211
Also nur als So oder So Gegebenes haben wir auch Bewußtsein
vom Ich: »Weil alles ein Entgegengeseztes ist, so kann auch alles« —
auch das Ich - »gedacht werden« - nur nicht als urständliche
Kraft, müssen wir hinzufügen (a.a.O., Nr. 476). Anders gesagt:
»Wir haben das Erscheinende über der Erscheinung verloren« (VI,
595, Nr. 316). Unser Trost ist, daß wir die Erscheinung für das in
ihr Erstarrte transparent werden lassen können (ebd.).
Die reine Kraft ist »gar nicht in Beziehung zur Realität« (II, 258,
Nr. 502) - und zwar deshalb, weil jedes Reale ein Syntheton ist
»aus Qualität und Quantitaet« oder, wenn wir wollen, von
»Raum und Zeit in der gemeinschaftlichen Sfäre (Modalitaet)«
(ebd.). Darum kann »alle Kraft« als »eine Funktion von Raum und
Zeit« bezeichnet werden. Das bedeutet, daß sie sich hinter dem Be-
griff ihrer - hinter der synthetischen Tätigkeit, der sie ihr Siegel
aufprägt - verbirgt. Novalis wiederholt: »Alles Suchen nach de[m]
Ersten ist Unsinn - es ist regulative Idee« (254, Nr. 472).
»Das, was in uns denkt«, elementarisiert sich im Begriff seiner —
es ist insofern »so gut ein Ding, als die Anschauung. Kein Ding ist
aber an sich erkennbar - ergo -« (II, 262, Nr. 522). »Das Er-
kenntnißvermögen ist auch nicht, als Ding an sich, erkennbar«
(a.a.O., Nr. 523). »Das Wesen ist schlechthin nicht erkennbar« (II,
238, Z. 33/4); es »läßt sich nur negativ bestimmen . . . Negation
also Bezirk des Wesens« (II, 239, Z. 19-25). Novalis, wie man
sieht, ist nicht sparsam mit Versicherungen hinsichtlich der Tran-
szendenz des Wissensgrundes.
Die Elementarisierung und Selbstentfremdung des Höchsten macht das
idealistische (von Novalis zuerst formulierte) Theorem von der quanti-
tativ-präponderanten Synthesis voll verständlich - also die Einsicht, »daß
. . . alle Gegensätze . . . nur auf einem Vorherrschen beruhen« (Schelling I,
4, 118). Novalis redet von »nothwendigen Accidenzen . . . - die nur
zusammen etwas sind - wo aber bald die Eine, bald die Andre praedo-
minirt« (II, 296, Nr. 663; angewandt auf die poetischen Gattungen VI,
589/90, Nr. 276. Vgl. Schlegel, KA XVIII, 29, Nr. 118, spricht von »Pre-
ponderanz« besonders intensiv ausgebeutet von Schleiermachers >Ethik<
und >Dialektik<). Keines der Abstrakta, z. B. »Denken und Seyn« (II, 253,
Nr. 471), hört infolge der in beiden »Hälften« gleich mächtig sich bekun-
denden Identität deswegen auf, das andere zu sein, weil es vorwiegend es
selbst ist. Anders gesagt: »Jeder Theil der entgegengesezten Substanzen -
besteht wieder aus beyden« (II, 291, Nr. 651; vgl. 204, Z. 23/4). So ist
Leiden selbst eine rezessive Tätigkeit, Tätigkeit - insofern sie ist - selbst
eine dominante Tätigkeit (II, 296, Nr. 666). Diese Idee ist in Schellings
großem Würzburger System konstitutiv geworden: Es gibt keine »abstrac-
ten Zustände« (ebd.).

Angewendet auf die Selbstaffektion der Ichheit, welche »allem


etwas absolutes Vorawsdenken — voraussetzen — . . . [und] auch

212
Nachdenken, Nachsetzen« muß (VI, 591, Nr. 284), bedeutet das,
daß die Temporalität der Abfolge in der Synthesis dadurch nicht
aufgehoben wird, daß die Abstrakta qua exponentielle relative
Synthesen wechselseitig von einander durchdrungen sind. Im Ge-
genteil, der Verlust des Grundes (Vergangenheit) muß auch das
»Project* (VI, 591, Nr. 284) des Grundes (Zukunft) sein. Anders ge-
sagt, in der synthetischen »Selbstberührung« der »Einbildungs-
kraft«78 »muß . . . das Afficirte . . . auch das Afficirende seyn«
und umgekehrt (II, 254, Nr. 472). Es ist ein und dasselbe Ich, das
hier als affiziertes Affizierendes (Novalis sagt »bestimmtes Bestim-
mendes«, S. 204) und affizierendes Affiziertes (Novalis sagt »be-
stimmend Bestimmtes«), d. h. dort als Zeit, hier als Raum gesetzt
wird. Erst deren Verweisspiel (vom Reflex aufs Reflektierende und
zurück) wird Vehikel der jede Voraussetzung überbietenden »Suche
nach dem Ersten«, der »Gattung« (254, Z. n / 1 2 ) .
Diese Suche, d. h. dieser Versuch des Ich, sich in der Selbstaffek-
tion seines gründenden Ursprungs zu versichern, erzeugt die unend-
liche Zeit.79 In ihr bekundet sich das Sein des Höchsten negativ;
darin nämlich, daß es jedes entäußerte Sein übersteigt und durch
»unaufhörliches Strömen« (VI, 556, Nr. 136) Symbol wird dessen,
was sich in keiner Zeit darstellt.80 »Eine unendliche Realisirung
des Seyns wäre die Bestimmung des Ichs. Sein Streben wäre immer
mehr zu Seyn« (II, 267).
Das reine Sein ist prinzipiell mehr als sein Begriff, und diese Un-
angemessenheit beider bringt die unendliche Zeit hervor. Nun soll
die absolute Urhandlung keineswegs als »etwas in der Zeit Vorge-
hendes oder Vorgegangenes« gedacht werden (II, 267, Nr. 556),
sondern »quasi als Augenblick, der das ewige Universum umfaßt,
in sich begreift«. Den »Uebergang von diesem Begriff zur wirek-
lichen Welt« (a.a.O., 268) vermittelt die »Anwendung desselben«,
und zwar auf sich selbst (Selbstaffektion). Wir wissen, daß der Be-
griff nur ein Schema zur Konstruktion der Selbstvermittlung, das
Sein an sich aber »transscendent« ist (II, 107, Z. 4). Es »giebt« kein
Sein - kein zeitloses und kein zeitliches - vor der »Anwendung«.
Folglich muß man »sich vor der Täuschung . . . hüten«, als könne
zu irgendeinem »Zeitpunct« das Außerzeitliche, Gründende wirk-
lich (II, 269, Nr. 564), die Differenz aufgelöst und das »Nichtich
vernichtet« werden. Die Zeit ist vielmehr die Verendlichung und
allaugenblicklich sich transzendierende Elementarisierung des
Außerzeitlichen. »Wie es seyn soll und wird, so ists - die Sache
bleibt ewig, nur die Form wechselt unaufhörlich« (a.a.O.), sagt No-
valis. Nun ist aber gar keine Sache ohne Form, und ebenso die
Ewigkeit nicht ohne Zeit (expressis verbis sagt Novalis, daß es das
>Reine nicht giebt< (II, 177, Nr. 234)).

213
»Die Zeit kann nie aufhören - Wegdenken können wir die Zeit nicht -
denn die Zeit ist ja Bedingung des denkenden Wesens - die Zeit hört nur
mit dem Denken auf. Denken außer der Zeit ist ein Unding« (II, 269).
Mit einem Wort, sowenig wir denkend das reine Sein erreichen
(»Denken ist der Ausdruck... des Nichtseyns«; II, 146, Nr. 83),
sowenig erreichen wir als zeitliche Wesen den ewigen Grund der
Zeit. Das In-Differenz-vom-Sein-Leben (»das Existiren«) ist ja
eben die Zeit (vgl. dazu II, 259, Nr. 508; 269, Nr. 565). Novalis
hat jede transzendente Spekulation abgeschnitten: »Es können
goldne Zeiten erscheinen«, schreibt er ironisch, »aber sie bringen
nicht das Ende der Dinge — das Ziel des Menschen ist nicht die
goldne Zeit«. Wir können sie darum nicht erreichen, weil dies
»Ideal . . . sich selbst vernichten müßte« (II, 269).
Im stets enttäuschten Zugriff nach dem Unerreichlichen erlebt sich
das Ich endlich als unglückliches Bewußtsein ohne die Möglichkeit,
sich ins Absolute erheben zu können. Der Ausstand des Ganz-sein-
Könnens charakterisiert das »endliche Wesen« als, wie Novalis sagt,
»Werokzeug/ . . . Organ - Mittel zu einem bestimmten Ende*
(III, 370, Nr. 30). Das »Ziel* muß »der Ausführung... vorange-
hen*, so wie der Grund dem »Resultat« vorangehen muß.
Dies absolute Ziel als fiktiver Bestimmungspunkt einer im übri-
gen sich selbst undurchsichtigen Suche ist - Novalis erinnert daran
- »nur ein regulativer Begriff, eine Vernunftidee - es wäre also
thöricht ihr reale Wircksamkeit beyzulegen. Wir suchen also ein
Unding« (II, 255, Nr. 476).
Es ist die durchs Schema der Künftigkeit verstellte »Ursache«.
Novalis bestimmt sie genauer: »nicht Ursache im eigentlichen Sinne
- sondern innre Beschaffenheit - Zusammenhang mit dem Gan-
zen« (vgl. II, 250, Nr. 465 - gewissermaßen das Motto von Har-
denbergs Philosophieren). Das Bedürfnis, das einen Verlust indi-
ziert, setzt erst die Philosophie in ihre Funktionen ein.
»Alles Filosofiren muß also bey einem absoluten Grunde endigen.« Wie,
»wenn dieser nun nicht gegeben wäre, wenn dieser Begriff eine Unmög-
lichkeit enthielte - so wäre der Trieb zu Filosofiren eine unendliche
Thätigkeit - und darum ohne Ende, weil ein ewiges Bedürfniß nach
einem absoluten Grunde vorhanden wäre, das doch nur relativ gestillt
werden könnte - und darum nie aufhören würde« (II, 269, Nr. 566; vgl.
269, Nr. 565)."
Die Entdeckung der Widersprüchlichkeit in der Suche führt auf
die Bescheidung.
»Durch das freywillige Entsagen des Absoluten entsteht die unendliche
freye Thätigkeit in uns82 - das Einzig mögliche Absolute, was uns
gegeben werden kann und was wir nur durch unsre Unvermögenheit ein
Absolutes zu erreichen und zu erkennen, finden« (II, 269/70, Nr. 566).

214
Mit anderen Worten, wir finden unsere zeitliche Existenz (deren
Möglichkeit hier implizite abgeleitet wird) erst als das, was sie ist,
wenn wir ihre Abhängigkeit von der »Urkraft« erfahren haben, im
»Gefühl« von »Abhängigkeit«. Diese absolute Kraft läßt Novalis
dem Menschen nämlich nur »gegeben« sein (so wie er in der ersten
Deduktion dem »Gefühl« die »Urhandlung« »gegeben« sein ließ).
Sie trägt das Siegel des Unverfüglichen und ist »nur negativ« er-
kennbar, nämlich »indem wir handeln und finden« - d. h. keines-
wegs a priori einsehen können - , »daß durch kein Handeln das
erreicht wird, was wir suchen« (a.a.O.).
Dies mag durch eigene Erfahrung von jedermann bestätigt wer-
den können. Die Frage ist aber, wie kommt die Philosophie jemals
zu bestimmten Ergebnissen (wie sie doch tut), wenn der Gegen-
stand, auf dem ihre Existenz beruht, ihr »Eines Princip*, nur durch
ein nie einzulösendes »absolutes Postulat« (a.a.O., 270 oben) ent-
steht? Philosophieren scheint insofern dem »Versuch der Quadra-
tur des Zirkels« zu gleichen oder - noch wunderbarer - dem, das
»Perpetuum mobile« oder den »Stein der Weisen« zu erfinden
(Hardenbergs Standardvergleiche für ein widersinniges Bemühen).
Seine Lösung ist der Entwurf einer Philosophie auf Anleihe eines
gar nie zu erweisenden Prinzips, welches im Vorgriff auf das Ganze
durch Repräsentation der undarstellbaren Synthesis im Endlichen
als eine ebenso unwiderlegliche wie unbeweisbare Theorie fungiert
und nur durch »Negative Erkenntniß« ins Endliche eingebracht wer-
den kann. »Streben nach Freyheit« — welche bei der durchgängi-
gen Bedingtheit des Endlichen evidentermaßen das Höchste und
Unmögliche ist - ist die Tendenz des Philosophierens als totalisie-
render Praxis. »Filosofie« als Resultat dieses Strebens (als dessen
Erstarrung) »entsteht demnach durch Unterbrechung« —

bekanntlich die Wirkung der »Einfallkraft« - »des Triebes nach Erkennt-


niß des Grundes - durch Stillstehn bei dem Glied, wo man ist - Abstrac-
tion von dem absoluten Grunde und Geltendmachung des eigentlichen
absoluten Grundes der Freyheit durch Verknüpfung (Verganzung) des Zu
Erklärenden/ zu einem Ganzen«.85
Diese Darstellung ist sehr konzise. Wir explizieren sie. Novalis
meint, daß, je mehr Strukturen und Fälle von dialektischer Synthe-
sis (Totalisierung) ich in der gegenständlich seienden Welt zu finden
imstande bin, desto weiter, desto tiefer der Rückschluß auf die sich
entziehende, absolut synthetische Ur-»Kraft« - die sich ja »nie in
konkreter Gestalt« zeigt - gegründet sei: »Je verknüpfter, je Gan-
zer es ist, je wircksamer, anschaulicher, erklärter, ist der absolute
Grund alles Begründens, die Freyheit, darinn.« Diese negative Er-
schließung der absoluten Urkraft aus den Totalisationen, die für

215
ihren Grund transparent werden, ist natürlich ein zeitlicher Prozeß;
denn die findbare Synthesis hat zu ihrer Bedingung allemal das
Streben, das sich durch Wirksamkeit der »Einfallskraft« nur »transi-
torische« Schranken setzt (relativ synthetisiert). Die »Zeit ist Be-
dingung aller Synthesis« (II, 154, Nr. 117); aller Synthesis. Es be-
dürfte dieses Zusatzes nicht, wenn man sich klar macht, daß wir
trans-synthetisches Sein gar nicht erkennen können.
Dieser Zusammenhang erhellt schlaglichtartig die Szenerie, in
welcher sich Hardenbergs Begriff der Einbildungskraft mit dem der
Zeit und dem der Kraft identifiziert. Als erste Bestimmung für die
ihre eigene Endlichkeit affizierende Unendlichkeit wählte Novalis
- wie wir zeigten - zu Beginn der Fichte-Studien den Begriff des
»Lebens«, des »Werdens«. Er wurde von dem des »Triebes« und
schließlich von dem der »Zeit« abgelöst, von der Novalis später
sagt, sie sei es, die alles »mache«, »wie sie auch alles zerstört - bin-
det - trennt« (IX, 259, Nr. 100).84 Mit einem Wort: Die Zeit
erfüllt den Minimalbestand von Forderungen, die an die Einbil-
dungskraft zu stellen sind; ja, sie ist offensichtlich der ihr einzig an-
gemessene Begriff, denn sie verwirklicht neben der synthetischen
Prozessualität zusätzlich die »allein thätige Kraft«, welche als das
»absolute in der Sfäre« bestimmt war.

Die Zeit als »Schöpfungskraft«

Damit sind die Voraussetzungen gegeben, eine Interpretation


zwingend zu machen, derzufolge Novalis die Selbstvermittlung der
»Sfäre« schließlich als »irrdische Zeit« (IX, 259, Nr. 100) denkt.
Wir sahen, daß Novalis alles Seiende und Nichtseiende (xä (xrj
SVTCX) als Produkt der »schaffenden Einbildungskraft« versteht (IX,
413, Nr. 746; 418, Nr. 775), die alle Eigenaktivität ihrer Abstrakta
in sich vereinigt. Alle Dinge sind hinsichtlich der in den Produkten
unendlich mannigfach reflektierten »Kraft« eins. Nicht nur Nichtich
und Ich, auch »Raum und Zeit entstehn zugleich und sind also wohl
Eins. Raum ist beharrliche Zeit - Zeit ist fließender, variabler
Raum« (IX, 427/8, Nr. 809). Und entsprechend: »Das Object ist
ein Geronnenes - und das Subject ein Flüssiges« (IX, 441, Nr. 900);
aber »Beyde in Einer Function*, fügt Novalis an und unterstreicht
die beiden letzten Worte. Wir wissen, die Funktion, in der beide
einig sind, ist das »große Ich«, die absolute und allein tätige
»Kraft*, außer welcher es keine andere gibt (II, 167 ff.), aus der
folglich alles abgeleitet werden muß.
Die absolute Kraft wird durch Negation aus ihrer entfremdeten
Erscheinung, der »Thatsache«, rückerschlossen. Dahin zielt Harden-

216
bergs Bestimmung: »SelbstbewußtSeyn ist Action, wobey Vernunft
. . . mit im Spiel ist« (IX, 431, Nr. 832). D. h. es ist eine schon
durch Reflexion verständlich gemachte Kraft (vgl. IX, 409, Nr. 730).
Die Urkraft, das »Selbstbewußtseyn im größern Sinn« ist dagegen
»eine Aufgabe - ein Ideal« - es wäre der Zustand, worinn es keine
Zeitfortschreitung gäbe [,] ein zeitloser -beharrlicher immer
gleicher Zustand« (a.a.O., 431). Es wäre jener »Zustand, ohne Ver-
gangenheit und Zukunft«, den Novalis früher als »vollkommene
Gegenwart« charakterisiert hatte; ein »bloßes Wechseln — . . . ohne
weiter zu gehn«. »In ihm sind alle Zustände und Veränderungen
unsers empirischen Ich simultan.« Diesen Zustand erreichen wir
nur durch Negation des Seienden, er ist nicht und kann nicht sein.
Er taugt in der Tat nur als Schema der substantiierten Kraft, die
zugleich »eine Einheit, ohne Schranke und Bestimmung« (IX, 429/
30, Nr. 429) ist und in ihrem Sein nicht wirklich werden kann.
Anders gesagt: »Selbstheit ist der Grund aller Erkenntniß -
als der Grund der Beharrlichkeit im Veränderlichen auch das Prin-
cip der höchsten Mannich faltigkeit« (vgl. Anm. S. 985). Der Grund
des Mannigfaltigen ist nicht selbst mannigfaltig, so wie die zeitkon-
stituierende Kraft — als ein reiner Fluß ohne Verflossenes und ohne
Richtung - nicht selbst zeitlich sein kann 85 (vgl. IX, 304, Nr.
356; 258/9; XII, 648, Nr. 541). Als Grenzwert der sich negieren-
den Negation berührt sie die Zeit, wie der Tod das Leben berührt
und ein Phänomen für die Lebendigen ist. Die Urkraft hat demnach
nicht die Transzendenz undialektisdier Außerzeitlichkeit, sondern
die reine Kraft ist die Zeit selbst (die sich in ihrem Sein ohne Nicht-
sein nicht objektivieren kann). Deren Allmacht ist es, die »alles
macht..., wie sie auch alles zerstört — bindet — trennt« (IX, 259,
Nr. 100).
Mit den drei der Zeit zugeordneten Funktionen »zerstören -
binden - trennen« sind alle drei Stadien der Einbildungskraft und
und mit ihr die drei Dimensionen reproduziert. Sie ist die eine ge-
suchte Urtätigkeit, deren Verfolgung in die Räume des Unsinns
führt. »Überall«, versichert Novalis, »ist nur eine Kraft, oder
Action (quod idem est) transitorisch sichtbar« (vgl. IX, 423, Z.
15-25; VI, 553, Nr. 123). Im transitorischen Erscheinen (wodurch
die Kraft ihrem Sein entfremdet wird) ist die Unvermittelbarkeit
von »begrenzt und unbegrenzt zugleich« ausgetragen (vgl. IX, 418,
Z. 21). Novalis bezieht das sogleich auf das Theorem der »Selbstbe-
rührung« oder »Anwendung auf sich selbst« - d. h. der Elementari-
sierung des Unvordenklichen im selbsterzeugten Begriff seiner. Es
gibt nur eine Kraft, »die durchaus verbreitet, unter gewissen eintre-
tenden Bedingungen (Berührungen) sich zu offenbaren, wiroksam zu
werden scheint...«. Und mit deutlichem Rückbezug auf die Fichte-

217
Studien heißt es: »Alle Wirckungen sind nichts als Wirckungen
Einer Kraft - der Weltseele - die sich nur unter verschiednen Be-
dingen, Verhältnissen und Umständen offenbart - die überall und
nirgends ist« (ein freies Schellingzitat übrigens). Alle diese Bedin-
gungen haben gemein, daß in ihnen »eine Berührung des irrdischen
Geistes... durch einen himmlischen« (IX, 263, Nr. 124; vgl. 259,
Z. 21/2) erfolgt. Bei dieser Selbstberührung zersetzt sich »der Be-
griff Action . . . in den Begriff Stoff und Bewegung« (VI, 646, Nr.
469).86 Ähnlich: »Wie entsteht ein Stoff -? Augenblickliche, tem-
porelle Stofferzeugung? Im Flüssigen« (XII, 626, Nr. 447).
Wir scheinen Bekanntes zu wiederholen. Wie soll aber der Zu-
satz »beyde in einer Function« bezogen werden, wenn der Bezug
nicht eine exteriorische »Sfäre«, sondern das unzersetzte Sein der
Abstrakta Raum und Zeit selbst realisiert?
Von »Realisation« dürfen wir - genau genommen - nicht spre-
chen. Denn die vereinigende Funktion kann kein reales Machen
sein.87 »Thätigkeit ist ein synthetischer Begriff« (II, 292/3, Nr.
652; vgl. VI, 617, Z. 23/4), d. h. ein Synthetisiertes. Wir su-
chen aber die gemeinsame Funktion der im Synthetisierten »ent-
gegengesetzten Factoren«, in deren dichotomische Synthetizität die
reine Kraft qua »Kraftäußerung« sich zersetzt hat (XII, 660, Nr.
598). Wir suchen also die reine Kraft und finden die zeitliche »Le-
bensflamme«, die »Flamme zwischen Nichts und Etwas«, den »Fun-
ken«, welcher jenen instantanen Wechsel des »großen Ichs« im end-
lichen Medium widerspiegelt (IX, 259, Nr. 100; 273, Nr. 184).
Aber selbst die synthetische Tätigkeit der Zeit ist eine Vermittlung
der Polarität von Raum und Zeit; genau genommen, ist sie die Er-
möglichungsbedingung der sich selbst im Raum eingrenzenden Zeit,
der »Caussa« (vgl. VI, 588, Nr. 266).88 Diese kausale Zeit ist nur
ein Abstraktum der synthetischen Zeit - und also reproduziert sich
hier die Aporie im Begriff der Kraft, deren Abbild die synthetische
Zeit sein sollte. Die Zeit entzieht sich in der Verwandlung der ab-
strakten Zeit in abstrakten Raum genau so wie die Kraft, wenn sie
als Aktion in Substanz versteinert wird. Als »Kraft« »erscheint [sie]
nur im Ubergehn« (VI, 553, Nr. 123).
Tatsächlich identifiziert Novalis Kraft und >große Zeit<:» Alle
Kraft«, sagt er, »ist eine Function von Zeit und Raum./ (Anschau-
ung und Gedanke)« (XII, 620, Nr. 403). Die funktionale Interfe-
renz von Raum und Zeit ist also zugleich diejenige von Anschau-
ung und Gedanke. Anders gesagt: Alle Kraftäußerung (VI, 553, Nr.
223) ist das auf den ersten Seiten der Fichte-Studien beschworene
»Mittelproduct« der inzwischen als Raum und Zeit identifizierten
»Hin und Her Direction«. In ihrer »Äußerung« berührt sich die
rein wesende »Kraft« qua »Zeit« als kleine Zeit im Raum, den sie

218
zugleich überschreitet. Der unvordenkliche »Grund« der Äußerung
ist Freiheit, ein Sich-selbst-Hervorbringen ohne Reflexion, das nur
in der Reflexion durch die reflexiven Bestimmungen des »Sich-
selbst-Erzeugens« (XII, 648, Nr. 541; 662, Nr. 598; Z. 5/6) arti-
kuliert werden kann (vgl. »Die Geschichte erzeugt sich selbst...
durch Verknüpfung der Vergangenheit und Zukunft« - die Selbig-
keit des Erzeugens wird gerade durch die Identität der verknüpften
Ekstasen gewährleistet, die durch Reflexion ihrer Selbstheit ent-
fremdet sind). Demnach ist es einerlei, ob wir die Weltschöpfung
aus einem synthetischen Zusammenwirken der Konstituentien der
Einbildungskraft oder der kräftigen Zeit erklären (XII, 670, Nr.
611, Z. 29/30). So wie Zeit und Raum im Subjekt, so kommen Ge-
fühl und Reflexion auch in der Exteriorität vor. Novalis kann vom
»Beweis« sprechen, demzufolge die genannten Vermögen »auch in
der anorganischen Natur vorkommen. Was machen sie — die Welt*
(XII, 624, Nr. 427). Die Zeit der Äußerlichkeit hört nicht auf, sich
zu zeitigen, wenn sie das »Ich« konstituiert (415/6); so wie die Re-
flexion nicht aufhört, in der Natur das Siegel der Zeitlichkeit zu
tragen.
Es ist die These dieses Kapitels, daß in Hardenbergs Theorem
von der Selbstaffektion der unvordenklichen Subjektivität - an-
ders gesagt: daß der Selbstvermittlungsprozeß der absolut gründen-
den »Kraft« der Imagination als Zeit gedacht wird und daß Nova-
lis diese Konsequenz in den letzten Lebensjahren zu vollziehen im
Begriff war. Das zeichnet sich in dem schon zitierten Programm ab:
»Zeit und Raum - mehr lebendig behandelt. Natur - Gehörnes
- Hindeutung auf Zeugung« (VI, 647, Nr. 473) - das steht nicht
zufällig am Schluß einer Fragmentengruppe und unter anderen Ti-
teln, Entwürfen und Vorsätzen. Wichtiger ist, daß Novalis darauf
zurückgekommen ist und sein Programm für eingelöst erklärt. Daß
die Reflexion auf die Ursprünglichkeit der Kraft als die Einheits-
funktion der dynamischen Zeit-Raum-Synthesis in Hardenbergs
Denken wirklich erstklassige Relevanz hatte, ist aus einem Frag-
ment zu erschließen, welches Novalis später in einen Antwortbrief
an Friedrich Schlegel umformuliert hat (Brief vom 20. 1. 1799). Der
Anlaß dieses Briefes war Schlegels Frage, »ob Du Dich entschließen
kannst, wenigstens in einem gewissen Sinne das Christenthum ab-
solut negativ zu setzen« (Brief vom 2. 12. 98).89 Novalis antwor-
tet 90 :
»Die Meynung von der Negativitaet des Christenthums ist vortrefflich.
Das Christenthum wird dadurch zum Rang der Grundlage - der pro-
jectirenden Kraft eines neuen Weltgebäudes, und Menschenthums erhoben
- einer ächten Veste - eines lebendigen, moralischen Raums.
Damit schließt sich dies vortrefflich an meine Ideen von der bisherigen

219
Verkennung von Raum und Zeit, an, deren Persönlichkeit und Urkraft mir
unbeschreiblich einleuchtend geworden ist. Die Thätigkeit / des Raums
und der Zeit ist die Schöpfungskraft und ihre Verhältnisse sind die Angel
der Welt« (IX, 468/9, Nr. 1095).
Charakteristischerweise verschmilzt der Plural »Raum und Zeit«
in die funktionale Einheit ihrer »Persönlichkeit und Urkraft«. Es
gibt nicht zwei Tätigkeiten, sondern »die Thätigkeit« von Raum
und Zeit als erscheinenden Ekstasen der »Schöpfungskraft«. - Da-
mit ist Hardenbergs Christologie selbst unter den übergeordneten
Aspekt seiner Theorie von der gründenden Kraft und ihrer Verzeit-
lichung subordiniert, und zwar nach seinen eigenen Angaben.
Es wird von hier rückblickend deutlich, warum Novalis die un-
endliche Kraft der synthetischen Zeit als undarstellbar deduziert.
Ebenso wie die absolute Freiheit ist sie nur aus ihrer Erstarrung,
dem Raum, rückerschließbar. Da jede Organisation Produkt und
Grad der sich totalisierenden Zeit ist, wird »die absolute Frey-
heit [oder der »unbestimmte Trieb« auf Alles] . . . desto lebhafter«
»empfunden«, »je mannichfaltiger die Glieder des Ganzen sind«
(IX, 308, Nr. 378; II, 270, Nr. 566). »Empfinden« ist eine relativ
begrifflose, d. h. ungegenständliche Rezeption des Höchsten, welches
nicht thetisch gewußt werden kann. Anders gesagt: Je vielgestalti-
ger der Raum, desto besser begründet ist der Rückschluß auf die
Wirksamkeit der ungegenständlichen Zeit, desto »erklärter ist der
absolute Grund alles Begründens, die Freyheit darinn« (a.a.O.). 91
Den Trieb nach Verknüpfung (Synthetisierung) ordnet Novalis der
»theoretischen Freyheit« - also der durch »Einfallskraft« auf sich
selbst zurückgetriebenen und mit Trägheit infizierten Zeit-Kraft -
zu; den Trieb auf Mannigfaltigkeit der »practischen Freyheit« und
ihrer je nach dem Grade ihrer »Energie« im Verknüpfen sich objek-
tivierenden »Lebhaftigkeit«, die sich als die wahre Urkraft zugleich
verbirgt und darum in der inerten Mannigfaltigkeit der mit sich
selbst identischen Organisationen manifestiert.
»Ich«, erklärt Novalis, »bedeutet jenes negativ zu erkennende Absolute -
was nach aller Abstraction übrigbleibt - Was nur durch Handeln erkannt
werden kann und was sich durch ewigen Mangel realisirt« (II, 270, Z.
28-30).
Seine Realität besteht im Mangel des Absoluten, der totalisierten,
konkreten »Substanz« (II, 280, Nr. 611), als aktualisierte »Sfäre«
gedacht. Zeitlich ist alles, was nicht zur Gänze das ist, was es sei-
nem Wesen nach sein könnte. »So wird Ewigkeit durch Zeit reali-
sirt, ohnerachtet die Zeit der Ewigkeit widerspricht«. Oder anders:
»Das außer der Zeit Befindliche kann nur in der Zeit thätig, oder
sichtbar seyn« (II, 290, Nr. 650).
Ebenso kann das absolute » I c h . . . nur . . . im Entgegengesezten

220
wircksam und bestimmt für sich« werden und wird also nur als in
die Exteriorität der Materialität verschlungen erscheinen können.
Frage ich das Absolute selbst: »Was ist das?«, so verlange ich seine
»Entäußerung* und verfehle damit sein Wesen, »weil ich es bey der
Reflexion suchen muß und so umgekehrt« (II, 270/1, Nr. 566).
Die als Zeit ausgetragene Spannung ist die gleichzeitige »Abso-
lutheit und Abhängigkeit... unseres Lebens« (VI, 607, Nr. 385),
sagt Novalis. Eine moderne Position der Zeit-Ontologie wird ein-
werfen, diese Verzeitlichung sei zwar notwendig, aber nicht radikal
genug, da sie die Endlichkeit des Existierens durch die beruhigende
Hypostasierung eines in die Vermittlung eintretenden Absoluten
entschärfe. Das ist richtig. Aber Novalis kennt den Einwurf; und
er trägt ihm dadurch Rechnung, daß er erwidert: Wie läßt sich die
in der Zeit als totalisierende Einheit (Kontinuität) waltende Kraft
erklären, wenn die radikale Zeitlichkeit nicht zu hinterfragen
wäre? Der abstrakten Verzeitlichung müßten alle Spuren synthe-
tischer Organisation zum Opfer fallen; das Bewußtsein würde zur
reinen Zentrifugalität. Die Endlichkeit unseres Selbstbewußtseins,
die Novalis kritisch gegen Fichte geltend gemacht hat, zugestanden,
so ist doch aus ihr selbst nicht zu erklären, woher die Selbigkeit der
temporalen Synthesis, die Möglichkeit eines Sich-im-Werden-Wie-
dererkennens herrührt, wenn sich nicht diese Einheit unverfüglich
im Selbstbewußtseinsprozeß bekundet und verzeitlicht. Wir sahen,
daß Novalis diesem Faktum durch sein Theorem vom nicht-setzen-
den, ichlosen und präreflexiven Selbstbewußtsein Rechnung trägt.
Aber dieses Bewußtsein ist gerade keine Überwindung unserer Zeit-
lichkeit, sondern trägt deren Siegel: Es ist ein nicht-reflexives Selbst-
gewahren qua »Ohnmacht, Abhängigkeit vom Unwillkürlichen«.
Um es zugespitzt zu sagen: Das höchste uns mögliche Bewußtsein
ist das Bewußtsein von in der autonomen Praxis gefühlter Verwei-
gerung der Autonomie.
Das sind mystische Erfahrungen, wird man weiterhin einwenden.
Auch die mystische Spekulation hat das Phänomen der im Selbst-
bewußtsein manifesten eigentümlichen Enteignung spontaner Auto-
nomie gekannt. Man achte nur exemplarisch auf einen Eckehart-
schen Satz, in welchem die Identität der göttlichen Selbstheit in
ihrer Relation zur Seele »schlagartig« in eine Differenz aufgelöst
wird, deren eines Glied »mehr Ich« sein soll als ich selbst bin:
»Gott ist, der er ist, und das er ist, das ist mein, und das mein ist, das
liebe ich, und das ich liebe, das liebet mich, und ziehet mich in sich, und
das mich in sich gezogen hat, das bin ich mehr als mein Selbst« (Aus: Ecke-
hart, >Von der Edelkeit der Seele<).
Diese Selbstheit, höher als mein Selbst, die Urkraft, »ist auch
nichts an und für sich vorhandnes«, erklärt Novalis, »sondern das-

221
jenige, was als Gegenstand einer nothwendigen Idee den einzelnen
Sinnen zum Grunde liegt und sie erklärt - und sie einer theoreti-
schen Behandlung fähig macht« (II, 273, Nr. 568). Diese betonte
Integration des »Grundes« in das sich selbst entfliehende Ich ist
ohne Zweifel eine neue, in der Philosophie vor der Romantik unbe-
kannte Note. Daß Novalis, Schlegel, Schelling usw. diese Selbst-
flucht als Zeit erkannten, nähert ihre philosophischen Positionen auf
eine merkwürdige Weise denjenigen der modernen Zeitphilo-
sophien. Daß das Selbstbewußtsein sich verzeitlicht, ist etwas radi-
kal anderes als die undialektische neuplatonische Spannung von
Ewigkeit und Zeitlichkeit. Ja, wir können sagen, daß Novalis den
Begriff der Ewigkeit nur als die unerkennbare Voraussetzung der
Einheit in der Zeit akzeptiert. Wir sind auf die Zeit verwiesen.
Die Isolation des Außerzeitlichen muß in die Räume des »Unsinns«
führen. »Alles Filosofiren«, sagt Novalis, »zweckt auf Emancipa-
tion ab« (II, 273, Nr. 568). Ihr »oberstes Princip muß schlechter-
dings Nichts Gegebenes, sondern ein Frey Gemachtes, ein Erdich-
tetes, Erdachtes, seyn92, um ein allgemeines metaphysisches System
zu begründen, das von Freyheit anfängt und zu Freyheit geht«.
Die Dialektik dieser Selbstentwurzelung will es aber, daß das
Emanzipierte sich selbst in seiner Entwurzelung doch nicht begrei-
fen kann ohne die »unsinnige Idee« eines sie begründenden und
nicht wegzudenkenden Absoluten. So ist die als Zeitlichkeit verstan-
dene Existenz der »Schwebezustand« zwischen der unerreichlichen
Idee und deren Gegenständlichkeit. Gegenüber der unfestlegbaren,
wahrhaft unendlichen Idee verhält sich die Zeit als relatives Sein,
gegenüber der Substantialität aber als Transzendenz, deren Praxis
die Grenzen erkennt, setzt, fixiert, indem sie sie auflöst und über-
schreitet. Sie ist Synthesis nur insoweit, als die Relata nicht koinzi-
dieren; aber sie trennt sich von ihrer eigenen Vergangenheit in Rich-
tung auf ihr Nichtsein nur soweit, als sie ihre Ekstasen organisch
verbindet. Anders gesagt: die zeitliche Existenz ist, indem sie nicht
ist; und sie ist nicht, indem sie ist. Ihr Wesen ist Infixibilität.

Skizzen zu einer romantischen Poetik der Zeitlichkeit

Es ist fester Bestand der romantischen Selbstbewußtseins-Theorie


- Solger spricht von einer »unbestreitbaren . . . Thatsache« - , »daß
eben dies Bewußtseyn auf einem reinen Seyn beruht« (N. S. II,
247). Das Wissen als das Bedingte muß etwas »vor sich haben«,
»nämlich sich selber, so gewiß es causa sui ist« (I, 8, 62). Das eigent-
liche »Rätsel« ist das Bedingende des in der Selbsterfahrung gefühl-
ten Bedingtseins, welches sich zugleich als autonomen Selbstbezug

222
konstituiert. »So hat die Erfahrung, daß Selbstsein kraft inneren
Prinzips auf sich und nur auf sich bezogen ist, zu ihrem Komple-
ment nicht nur die Gewißheit, dennoch aus unverfügbarem Grunde
zu sein, sondern auch das Wissen, daß dieser Grund ihm unzugäng-
lich bleibt.«93 Es gibt, anders gesagt, keine adäquate Darstellung
des Gründenden in der Reflexion. Die Vermittlung beider Momente
schließt nicht »fugenlos« in einander.
»Wird Vermittlung unvordenklich genannt, so bedeutet dies, daß sie voll-
zogen werden muß, ohne daß man sich ihrer versichern kann. Sie ent-
spricht damit dem, als was sich zuvor modernes Bewußtsein schon ver-
standen hat: mit sich selbst zusammengeschlossen zu sein und aus der
Macht solcher Gegenwart zu leben, darin aber zugleich aus unverfügbarem
Grund und somit jenseits seiner selbst zu sein.«84
Es versteht sich, daß ein derart von sich geschiedenes Subjekt nie im be-
ständigen Wissen seiner selbst aufgehen kann. »Der Rückgang in die nie-
mals manifesten Voraussetzungen des Selbst ist zwar, als Vermittlung,
eine Affirmation seiner. Sie geschieht aber unter der doppelten Bedingung,
daß das Vermittelnde unbestimmt bleibt und daß darum in das Wissen
der Vermittlung Momente der Ungewißheit eingehen.«95
Behält man die klassische Definition der Kunst bei, daß sie das
sinnliche Scheinen der Idee< sei, ohne sich Hegels metaphysischer
Versöhnung zu verpflichten, so wird die symbolische Darstellung
des »Rätsels aller Rätsel« - nämlich des »Räthsels des Daseyns«
(KA X, 311) - selbst eine rätselhafte Darstellung sein müssen. Sie
manifestiert die Unbegreiflichkeit und Selbstentzogenheit des erleb-
ten Selbstbewußtseins in der Unbegreiflichkeit und Unausdeutbar-
keit ihrer künstlerischen Praxis. Mit anderen Worten, die Kunst der
Romantik ist durch die Angemessenheit zum sie Begründenden, dem
ewig entzogenen Absoluten, »wahr«. Sie bestimmt ihre Wahrheit
aus der Wirklichkeit der Selbstbewußtseinserfahrung.
Da sich dieser Anspruch durch die poetische Praxis qualifizieren
muß und sich nicht in Beteuerungen erschöpfen kann, genügt es,
wenn wir Hardenbergs Winke für eine Poetik nur skizzieren, die
seiner eigenen Philosophie der Zeitlichkeit korrespondiert. Eine ge-
sonderte Analyse der Tieckschen Dichtung soll zeigen, in wiefern Stil
und Textur romantischer Dichtung dem theoretischen Anspruch Ge-
nüge tun können, indem sie einen selbständigen Ausdruck finden
für eine Tieck und seinen (mehr zur Theorie neigenden) Freunden
gemeinsame Erfahrung. Wir beschränken uns im folgenden darauf,
in einzelnen Punkten zu demonstrieren, wie Hardenbergs Zeitphi-
losophie poetische Konsequenzen postuliert. Es ist vollkommen aus-
reichend, durch Erinnerung an die wesentlichen Ergebnisse des
Hauptteils dieser Arbeit die Durchsichtigkeit poetologischer Forde-
rungen für Hardenbergs Philosophieren als ein Ganzes zu gewähr-

223
leisten. Wir werden die Belegstellen, aus denen unsere Thesen sich
konstituieren, nur aufführen, ohne in die Einzelinterpretation ein-
zutreten.
i. Die Auflösung der aktuellen Allheit führt auf die »Multiver-
salität« eines in widersprüchliche Partikularitäten zersetzten Empi-
risch-Unendlichen. Das Absolute als die durch kein Prädikat zu er-
schöpfende Fülle offenbart sich »als Allheit in der Theilbarkeit«.
Das Material des Künstlers ist die in sich widersprüchliche Totali-
tät; nur durch deren allegorische Ausschöpfung ist er auf »das
Ganze« bezogen (IX, 376, Nr. 612; II, 201, Nr. 284; II, 141, Nr.
54; IX, 381, Nr. 633; IX, 252, Nr. 70, Z. 10 ff.; II, 242, Nr.
445; IX, 413, Z. 8/9; VI, 546, Nr. 110; VI, 534, Nr. 36; IX, 417,
Nr. 769; 290, Nr. 285; XII, 563, Nr. 58; IX, 406, Nr. 717, Z. 5/6;
IX, 268, Nr. 146; 290, Nr. 258; Schelling I, 9, 41/2).
2. Die Form der Philosophie muß sein »Systemlosigkeit in ein
System gebracht«. Nur eine dynamische Synthesis, die ihr Ganzes
nicht im Modus des Gewesenseins petrifiziert, sondern als die offene
Zukunft der zeitlichen totalisierenden Praxis anvisiert, kann das le-
bendige Chaos von einander negierenden Teilen schematisch kon-
struieren (Schelling I, 9, 209/10; II, 257, Nr. 484; IX, 334, Z. 12
ff.; 382, Z. 16 ff.; 375, Nr. 612; XII, 601, Nr. 291; IX, 414, Nr.
752; Z. 26/7; 409, Nr. 730; VIII, 157; 98, Z. 17 ff.; IX, 409/10,
Nr. 730; IX, 443, Nr. 914; 343, Z. 1/2; 448, Nr. 933 und 935; II,
288/9, Nr. 648).
3. Die Reflexion, ob sie sich in Philosophie oder Kunst darstellt,
hat kein über die endliche Selbstoffenbarung des Höchsten im Be-
griff seiner hinausgehendes Bewußtsein von der aktuellen Totalität.
Wenn sie dessen unvordenkliche Einheit dennoch darstellen will,
so bedarf sie des »repräsentativen Glaubens«, wodurch im Medium
bewußter »Fiction« das außer aller Zeit Befindliche so behandelt
wird, als könne es seine Ewigkeit in der Verzeitlichung retten. Sol-
che Symbolisierung des Höchsten führt dann auf »Aberglaube und
Irrthum«, wenn man sie mit der Parusie des Höchsten verwechselt.
Die Idee des »goldenen Zeitalters« ist eine in sich widersprüchliche
Bestimmung, für die Novalis nur Spott übrig hat. In der Zeit -
etwa als Zukunft - läßt sich ein prinzipiell Außerzeitliches weder
verwirklichen noch träumen (IX, 421, Z. 16 ff.; XII, 649, Nr. 550;
VI, 543, Nr. 88; IX, 397, Nr. 685, Z. 29 ff.; vgl. den Spott der
Schlegels gegen die Idee der goldenen Zeit: KA II, 148, Nr. 18;
KA II, 205/6, Nr. 243; 289/90; a.a.O. 295; 199, Nr. 218).
4. »Romantisieren« nennt Novalis die Totalisierung des Aktes
der Selbstaffektion. Das Absolute berührt sich in der entfremdeten
Gestalt seiner Endlichkeit und muß sich also »überall repräsentie-
ren« lassen. Jedes zeitliche Moment ist, was es ist, nur unter Vor-

224
aussetzung einer sich zugleich entziehenden und in ihm verwirk-
lichten Offenbarung. Das Wunderbare, Unbegreifliche, manifestiert
sich in »jeder Kleinigkeit des Alltagslebens«, so in »Kinderstube,
Polter- und Vorrathskammer«. Das wirkliche, in die Totalität sich
widersprechender Bestimmungen zersetzte Leben ist selbst von
Grund auf wunderbar und wird es in dem Maße mehr, als der
Blick die Dinge auf ihren Grund transparent werden läßt. Die
Dinge widersprechen einander nur insoweit, als sie als abstrakte
Negationen der Totalität betrachtet werden. Aufs Ganze bezogen,
das sich in allen gleichmäßig manifestiert, verweist jedes auf jedes
andere. Eine »Nußschale« gibt soviel Anlaß zur Entwicklung wie
der Begriff des Höchsten. Das »allgemeine Annihilationssystem«
der abstrakten Partikularitäten verwandelt sich in eine »Wechsel-
repräsentationslehre des Universums« (II, 291, Nr. 651, Z. 24 ff.;
IX, 445, Nr. 924; VI, 533, Nr. 33; IX, 434, Nr. 853; VI, 545,
Nr. 103, Nr. 105; IX, 332, Z. 21; IX, 256, Nr. 87; VI, 568,
Z. 32 ff.; XII, 572, Nr. 113; XII, 601, Nr. 291, Z. 5/6; IX, 254,
Nr. 79; 261, Nr. 113; XII, 685, Nr. 668; Solger, Erwin II, 228/9;
IX, 266, Nr. 137; 381, Nr. 633; 408, Nr. 723; VII, 663/4; XII,
650, Nr. 559; VIII, 54/5; IX, 295, Nr. 313; 292, Nr. 291).
5. Auch die symbolische Funktion überwindet nicht die Tran-
szendenz ihres Bedeuteten. Die endlichen Bestimmungen des Gan-
zen relativieren einander; ja die Philosophie ist es, die »die festen
Puncte aufhebt«, »alles los« macht, »das Universum relativirt«
(IX, 378, Nr. 622; V, 503, Nr. 68; VI, 610, Nr. 402; IX, 332,
Z. 21).
6. Die »zeitliche Personalitaet« (XII, 665, Z. 5/6) ist infixibel,
insofern sie ihre Vorfindlichkeit ständig überschreitet und die Inco-
ercibilität des Höchsten empirisch abspiegelt. »Pluralität« ist ihr
Wesen, sie geht in keiner wie immer beschaffenen Zuständlichkeit,
nicht einmal in der Realität ihrer eigenen »Empfindungen« auf, ist
»grenzenlos veränderlich«. Jedes Wie-Sein ist der Potenz nach ein
Alles-Sein-Können. Novalis nennt die innere Universalität »syn-
thetische Personalität«. Sie besteht in der prinzipiellen Weigerung,
»etwas zu sein«. »Der vollkommenste Mensch hat alle Constitutio-
nen samt ihren Veränderungen in seiner Gewalt.« Des Menschen
Geist ist ein »Verbindungsglied des völlig Ungleichen«. »Heimat-
lich« fühlt er sich im Chaos, denn das Chaos ist die Objektivation
seines Wesens. Hardenberg verlangt von der poetischen »Darstel-
lung von Menschen«, daß sie seiner prinzipiellen Unabschließbar-
keit dadurch Rechnung trägt, daß sie ihn »nicht als sogenannten
Charakter«, sondern in seiner radikalen »Inkonsequenz« zeige;
nicht in seiner Stabilität, sondern in seiner Hinfälligkeit; nicht in
seinem Sein, sondern in seiner Transzendenz; nicht in seiner Be-

"5
stimmtheit, nicht als »Eigenschaft«, sondern in seiner »Freiheit«,
nicht als Substanz, sondern in seiner inwendigen »Nichtigkeit« (III,
373, Nr. 34; Brief »Bd. 4, 175; II, 248 f.; VI, 444, Nr. 74; IX,
293, Nr. 297 und 300, Nr. 335; 418, Z. 21:416, Nr. 759; XII, 575,
Nr. 147; VII, 664, IX, 262, Nr. 117, Z. 25/6; IX, 471, Nr. n 12;
VIII, 189 oben; IX, 404, Nr. 713 (vgl. II, 233, Nr. 396); II, 273,
Nr. 568; Schelling I, 9, 215-219; VI, 649, Ns. 479; IX, 430, Nr.
820; XII, 571, Nr. 107; 662, Nr. 598; IX, 457, Nr. 1004; 451,
Nr. 952; 250, Nr. 63; 251, Z. 8/9; 262, Z. 25/6; XII, 577, Nr. 172;
583, Nr. 216; II, 291, Nr. 651; II, 233, Nr. 395; IX, 250, Nr. 63;
456, Nr. 997; 463, Nr. 1048; VI, 645, Nr. 466; IX, 332, Z. 19 ff.;
333, Nr. 457; 251, Nr. 64; XI, 529, Z. 29; IX, 350, Nr. 500; VI.
558, Nr. 140; IX, 306, Nr. 364; 248, Nr. 51; 444, Nr. 916; XII,
690, Nr. 689; 598, Nr. 269; IX, 448, Z. 8 ff.; 444, Nr. 916 und
VIII, 56, Z. 5 ff.; IX, 303, Nr. 353; VIII, 37, Nr. 98; Bd. 2 Einl.
S. 86/7; XII, 560, Nr. 34; 676, Z. 14; IX, 429/30, Nr. 820; XII,
681, Nr. 637; IX, 431, Nr. 828; 248, Nr. 51; Brief an Erasmus,
27. 2. 96; XII, 451, Nr. 952; IX, 362, Z. 10; 434, Nr. 857; XII,
556, Nr. 1; IX, 464, Nr. 1059; 436, Nr. 879; 406, Nr. 717; VI,
542, Nr. 79; XII, 558, Nr. 16; 604, Nr. 307; II, 257, Nr. 484; VI,
601, Nr. 352; II, 281, Nr. 626; »Bd. 4, S. 125).
7. Der Kunstschöpfungsprozeß ist nur durch das Ingrediens des
Bewußtseins vom Schaffen der Natur verschieden (»Beyde entsprin-
gen aus derselben Quelle«). Die Kunst, anders gesagt, ist die ideell
sich totalisierende Wirklichkeit selbst, folglich auch und insbeson-
dere der menschlichen Wirklichkeit, deren »Unausschöpflichkeit«
ein »gutes Gedicht« spiegeln muß. Kunst ist Selbstentäußerung,
nicht Nachahmung. »Der Mensch besteht in der Wahrheit.« Da
es nur eine Wahrheit gibt, ist die Wahrheit der Kunst mit der
Wahrheit des »allegorischen Menschen« identisch, den Novalis »eine
Analogienquelle für das Weltall« nennt. Das Transitorische seiner
Wirklichkeit muß die ihr angemessene Form finden: »Fragmente«,
Romane ohne Schluß usw. - als Chiffren einer grenzenlosen Po-
tentialität. (VI, 578/9, Nr. 237; VI, 573/4, Nr. 226; XII 673, Nr.
618; VI, 585/7, Nr. 252-254; XII, 663, Z. 1; 664, Nr. 603; IV,
428, Nr. 38; VI, 610, Nr. 401; VIII, 157; XII, 662, Nr. 598;
IX, 287, Nr. 261; VII, 670/1; IV, 450, Nr. 86 - vgl. Tieck Bd. 15,
68; K. S. I, 82 - ; VI, 593, Nr. 302; IX, 260, Nr. 105).
8. Als ein »ächter Ausfluß der Persönlichkeit« hat jedes Werk
»mehrere Veranlassungen, mehrere Bedeutungen, mehrfaches Inter-
esse, mehrere Seiten überhaupt«. Das »Wesen der Poesie« ist eben-
sowenig »zu bestimmen« wie das Wesen des infixiblen Menschen.
Dessen innere »Unendlichkeit« findet den ihr angemessenen Aus-
druck in der »Verworrenheit« der Kunst. Die Kunst muß die Re-

226
gellosigkeit der menschlichen Wirklichkeit durch »absichtliche Zu-
fallsproduktion«, durch »Zufalls-, Willkürregel« ideell zu reprodu-
zieren suchen. Sie muß die Kontingenz des Seienden überall auffäl-
lig und bewußt machen. (IV, 432/4, Nr. 58; Nr. 53; 452, Nr. 84;
IX, 336, Z. 19-21 u. 32 f.; 410, Nr. 734; XII, 578, Nr. 180; 676,
Nr. 623; IX, 409, Nr. 730; 451, Nr. 952; VI, 547, Nr. i n ; XII,
693, Nr. 705, Z. 4/5; 685/6, Nr. 671; VI, 610; Nr. 401).
9. Die romantische Kunst ist als eine präponderante Tendenz
auf Universalität von der klassischen als der Tendenz auf Einheit
unterschieden. Sein eigenes Schaffen charakterisiert Novalis als ein
Überbieten jedes vorläufigen Standpunktes in steter Erwartung
»der großen, alles verändernden Idee«. Es bildet, mit einem Wort,
die Zeitlichkeit des Existierens, den steten Ausstand der Erfüllung
ab. (Man hat Hardenbergs Äußerungen zu seinen Fragmenten miß-
deutet, indem man annahm, Novalis rechne mit der Realisierung
dieser »Idee« und erkläre seine Fragmente für »problematisch«.)
Die Differenz des Klassischen und Romantischen bedeutet für
Novalis keine Gleichberechtigung beider. Die Darstellung des Men-
schen und der Natur mit dem Akzent auf der »Einheit« verfälscht
die Realität des Existierens. So wirft Novalis Schiller eine unwahre
abstrakte Harmonisierung vor (er projiziere die Einheit von einem
»festen Puncte« in die Welt und erkenne seine Projektion demzu-
folge überall wieder). Schiller ist »unnatürlich«. Goethe hingegen
verdient Bewunderung, weil er Künstler der Form ist. Seine Nei-
gung, eher eine Lappalie kunstvoll zu gestalten als über der Ge-
staltung des Welträtsels formlos zu werden, akzeptiert Novalis
nicht ohne unüberhörbaren Spott. Von seiner Generation schreibt
er: »Wir sind aus der Zeit der allgemeingeltenden Formen heraus«
(VI, 522, Nr. 2; 318, Nr. 595; II, 232, Nr. 378; Nr. 382; VI,
640, Nr. 445; 641, Nr. 445, Z. 2 ff.; 649, Nr. 479).
10. Kunst und Philosophie sind Ausdruck eines und desselben Er-
lebnisses. In beiden kommt das Universum zum Bewußtsein seiner
selbst, in der Kunst durch reelle, im Denken durch ideelle Reflexion.
Dem Wesen nach ist Kunst die Praxis der Einbildungskraft selbst,
welche von der Philosophie reflektiert wird. Beide zu trennen, ist
»Zeichen krankhafter Konstitution«. Goethe verdient größtes Lob,
weil in seiner poetischen Praxis die »genaueste Abstraction« stets
mit einer gleichzeitigen »Construction des Objectes« einhergeht,
»dem die Abstraction entspricht. Dies ist nichts, als angewandte
Philosophie - und so fänden wir ihn am Ende . . . als anwenden-
den, practischen Philosophen, wie denn jeder ächte Künstler von
jeher nichts anderes war«. Mit anderen Worten, Philosoph und Poet
schöpfen die Verbindlichkeit ihrer Praxis aus der konkreten (objek-
tivierenden und abstrahierenden) Anschauung der Wirklichkeit, die

227
sie gestalten und reflektieren. Es war Solger, der in Tieck einen sol-
chen »ächten Künstler« entdeckte (XII, 640, Nr. 513; 693, Nr. 705;
VI, 641, Nr. 445; vgl. Fr. Schlegel, KA II, 161, Nr. 115; 163,
Nr. 123).
n . Es war Hardenbergs feste und theoretisch gründlich fun-
dierte Überzeugung, daß Kunst nicht nur »eine schöne Lüge« ist
(KA II, 168, Nr. 129), sondern »das acht absolute Reelle«, »allein
Realität«. Insofern sich in ihr »symbolisch« das Sein selbst darstellt
(ins Werk setzt), ist »Kritik der Poesie ein Unding«. Denn sie
kommt der Kritik des Wirklichen gleich. Es gibt nur einen Maß-
stand für den Wert von Dichtung; das ist ihre Wahrheit. 96 Die
Schwierigkeit in der Beurteilung von Kunst modifiziert sich also in
die Schwierigkeit »zu entscheiden . . . , ob etwas Poesie sey oder
nicht«.
Novalis hat die Kunst tatsächlich - wie wir es bei Fr. Schlegel
zeigten - aus dem »Leben« begründet. Ihre Wahrheit ist die Wahr-
heit des Lebens im früher bestimmten Sinne. Sie ist damit dessen
Zeitlichkeit verpflichtet und spiegelt - qua »Darstellung des inne-
ren Zustandes«, »qua »Ausfluß der Persönlichkeit« - die Inkon-
sistenz des Selbstbewußtseins. Ihre Rätselhaftigkeit ist die ins Be-
wußtsein gehobene Rätselhaftigkeit des »eigenen Daseyns«, ist
»Darstellung des Undarstellbaren«. An den Künstler sind die For-
derungen zu stellen, daß er die Totalität der Welt und die Zeitlich-
keit seines Gemütes sichtbar werden lasse, sich in alles verwandeln
und auf »alles aufmerksam« sein müsse. Sein Stil muß die Flüchtig-
keit seines Innern und seine »Vielseitigkeit« so objektivieren, daß
»keine Anheftung an Einen Gegenstand, keine Leidenschaft im vol-
len Sinne« im Leser aufkommen kann - eine von Tieck wieder-
holte Forderung. Novalis formuliert geradezu das Gebot »innerer
Mannichfaltigkeit... Für die Dichter ist nichts nützlicher, als eine
flüchtige Betrachtung der Weltgegenstände und ihrer Eigenschaften,
sowie der mancherley Wissenschaften«. Die Kunst kümmert sich
nicht um die Neigungen, sondern ist in ihrer Wahrheit »schlechthin
ungefällig« - »ästhetischer Imperativ« (IX, 263, Nr. 120; XII,
569, Nr. 94; 640, Nr. 513; 628, Nr. 461; 693, Nr. 705; 685/6, Nr.
671; VI, 647, Nr. 473; IX, 434, Nr. 853; IX, 377, Nr. 620; XII,
692, Nr. 703; IX, 466; Nr. 1073; XII, 662, Nr. 598; 650, Nr. 557;
693; VI, 610, Nr. 401; II, 283, Nr. 6375X11, 685/6, Nr. 671 - v g l .
Tieck Bd. 11, XXI/II - VI, 576, Nr. 233; III, 362, Nr. 21; VI,
535, Nr. 46; 534, Nr. 41; 547; Nr. 112; VIII, 168, Z. 26 ff.; IX,
332/3, Z. 3/4, Z. 21 ff.; 451, Nr. 953; IX, 414, Nr. 752; 409, Nr.
730; 413, Nr. 748; 441, Nr. 901; 449, Nr. 940; 430, Nr. 826; VI,
568, Z. 20 ff.; IX, 273, Nr. 183; XII, 561, Nr. 42 u. Nr. 43; XII,
641, Nr. 520; VI, 569, Nr. 207, Z. 6 ff.; VI, 541, Nr. 78; XII, 689,

228
685, 693. Nr. 7°3> % 4/5; IV, 418, Nr. 19; IX, 308, Nr. 377; Bd. 1,
281; 197; XII, 655, Nr. 583; 664, Nr. 603; IX, 413, Nr. 745; ebd.
Nr. 748).
12. Ausdrucksformen der Korrespondenz von innerer Pluralität
und äußerer Mannigfaltigkeit sind natürlich alle Kunstarten und
-Gattungen. Zwei Medien sind es aber vornehmlich, auf die No-
valis seine Kunstphilosophie angewendet hat: die Musik und die
Sprache.
Die Musik ist die zeitliche Kunst par excellence und in ihrer Zeit-
lichkeit der adäquate Ausdruck des »Selbstbewußtseins« (»Das
Prinzip der Zeit im Subject ist das Selbstbewußtseyn« (Schelling,
Ph. der Kunst, 135)). Sie ist »die grenzenloseste aller Künste«
(a.a.O., 148) und darum die Objektivation einer »unendlichen In-
dividualitaet«. »Unsere Seele muß Luft seyn, weil sie von der Musik
weiß.« Ihre Substantialität wird »ätherisiert, verluftigt, vergei-
stigt«, so wie die Vergangenheit von der Zukunft überflügelt wird.
Die Musik ist »die allgemeine n-Sprache«, d. h. das Ideal der abso-
luten Unbestimmtheit, in der die Seele ihre »Freiheit« wiederer-
kennt. Eine »absichtliche Zufallsproduktion«, die mit Bewußtsein
die Kontingenz des Selbstseins poetisch arrangiert, wäre dann am
vollkommensten, wenn sie es dahin brächte, »das N Machen mit
dem N Organ« zu erfinden - d. h. ein durch kein bestimmtes »Or-
gan« produziertes absolut unbestimmbares »Object«.
Die Radikalität dieser Forderung läßt alles hinter sich, was an
poetischen Versuchen im historischen Horizont des endenden 18.
Jahrhunderts denkbar war. Genau genommen, wird nichts Geringe-
res als die poetische Selbstauflösung der Kunst zugunsten des
»Chaos«, d. h. der wirklichen Welt, verlangt.
Die Vorliebe für die »Äolsharfe«, in deren Seiten »die Natur
selbst« »musikalisch fantasiert« und die insofern eine Metapher des
Selbstbewußtseins genannt werden kann, erklärt sich aus der ästhe-
tischen Freude, die das Gemüt empfindet, wenn es nichts Fremdarti-
ges, sondern sich selbst vernimmt. Denn »unbestimmte Empfindun-
gen - nicht bestimmte Empfindungen« erregen Wohlgefallen. Die
»musikalischen Seelenverhältnisse« erklären die Priorität des »Ge-
fühls« vor der Reflexion. Unser ursprüngliches Sein ist eine relativ
begrifflose Mannigfaltigkeit (»Chaos«), deren Selbsteingrenzung in
die »Form« zugleich - wie wir zeigten - ihre Entfremdung be-
deutet (XII, 564, Nr. 65; 575, Nr. 152; IX, 430, Nr. 826; 431, Nr.
828; 283, Nr. 245; XII, 564, Nr. 63; IX, 280, Nr. 234; 283/4, Nr.
245; 257, Nr. 92; VI, 611, Nr. 406; IX, 473, Nr. 1122; II, 295,
Nr. 662; 272/3, Nr. 568; 292, Nr. 651; VII, 667/8 (4. Dialog);
VI, 563, Nr. 188; IX, 349, Nr. 498; IX, 280/1, Nr. 234; IX, 454,
Nr. 986; XII, 558, Nr. 17; IX, 434, Nr. 855).

229
13- »Die Sprache ist Delphi«, sagt Novalis. Sie ist allbedeutend,
allsagend. Jede mögliche Antwort, jede Sinnerhellung ist in ihr auf-
gehoben. Als »Ausdruck des Geistes« kann sie sich wie jener in jede
mögliche Konkretion individualisieren. Versucht sie aber, ihrer un-
bestimmten Allheit sich widersetzend, etwas Bestimmtes zu sagen,
so ergeht es ihr wie allen Partikularitäten im endlichen Weltall: Sie
tun sich Schaden und heben sich wechselseitig auf. Die Kunstsprache
muß sich, indem sie Bestimmtes sagt, zugleich der Totalität versi-
chern und im einzelnen Wort alles bedeuten. Sie muß »unendliche
Sprache« werden und darum, »ursprünglich gedacht, identisch mit
der Allegorie« sein.
Das »Geheimniß« der Sprache ist, daß sie »eine Welt für sich«
ausmacht und ihre »originellsten Wahrheiten ausspricht«, wenn sich
der Sprechende der regellosen Spontaneität ihrer Offenbarungen
absichtslos überläßt. Denn dann spiegelt sich in seiner der Indivi-
dualität entsagenden Sprache »das seltsame Verhältnißspiel der
Dinge«, ihre wesenhafte »Freiheit« macht sich geltend - »in ihren
freien Bewegungen äußert sich die Weltseele und macht sie zu einem
Maaßstab und Grundriß der Dinge«. Also gerade im Verzicht auf
die absichtliche Formung, in der Abkehr von der Intention, »von
etwas Bestimmtem zu sprechen«, macht sich die Wahrheit geltend.
Die Sprache kehrt zurück in die Welt, von der sie spricht - anders
gesagt, die Kunst annihiliert sich vor ihrem Grunde. Es bedarf
gleichsam des Sprechens nicht mehr, denn man kann nicht vermei-
den, unangemessen zu sprechen. Die Ironie des Sprechens besteht
freilich darin, daß bei der von Solger behaupteten Deckungsgleich-
heit der Sphären von Denken und Sprechen ihr Gegenstand nur in
der Sprache, im Sprechen sich manifestiert. Die Kunst muß also ihre
Materialität negieren in genau jenem Sinne, in welchem die Refle-
xion sich zugunsten des Absoluten negiert (IX, 263, Nr. 122; VI,
560, Nr. 163; IX, 248, Nr. 51; 332, Nr. 454, Z. 21; IX, 267/8, Nr.
113; KA II, 348; VII, 672/3; Solger Erwin II, S. 74/5).
14. Alle Kunstformen der Sprache müssen die unvermeidliche
Bestimmtheit ihrer Form durch unbestimmten Inhalt zersprengen
und inwendig ironisieren. Das »Märchen« realisiert die Freiheit als
»ächte Naturanarchie« — »wie Tiecks Lieder«, notiert Novalis. »Er-
zählungen ohne Zusammenhang, jedoch mit Associationen, wie
Träume - blos wohlklingend und voll schöner Worte - aber
auch ohne allen Sinn und Zusammenhang - höchstens einzelne
Strofen verständlich«, diese berühmte Notiz wird wohl im Zusam-
menhang mit Hardenbergs Sternbald-Lektüre entstanden sein -
sie reproduziert in dem offensichtlich unbeabsichtigten Wechsel des
Themas »Erzählungen« in das: »Lyrik« geradezu Tiecks poetische
Verfahrensweise. Hardenbergs eigene poetische Praxis hat nichts

230
Vergleichbares vorzuweisen. (Er nennt Tiecks Poesie zwar gelegent-
lich »flach«, unterscheidet diesen Begriff aber von dem »Gründ-
licher, künstlicher Poesie«, über die er nichts Gutes und Löbliches
zu sagen findet. Man mag sich - wie es oft genug geschehen ist —
darüber entrüsten - Tatsache ist, daß Tieck den Auftrag hatte, den
>Ofterdingen< fortzusetzen - nur Friedrichs eifersüchtige Inter-
vention konnte ihn daran hindern, diesen von Wilhelm energisch
geförderten Plan in die Tat umzusetzen. Hardenbergs Selbstkritik
an seinem Stil betrifft denn in der Tat fast ausschließlich Merkmale,
die ihn ungünstig vom Tieckschen unterscheiden: zu große Befrach-
tung mit Gedanken, zu umständliche Syntax, zu wenig Leichtigkeit
und Anmut [XII, 647, Nr. 537; II, 258, Nr. 504].)
Das Drama reproduziert idealiter das »Werden und Vergehen«
- wir zeigten es oben.
An Hardenbergs Ableitung des Romans ist nur zu erinnern: Er
breitet die einheitslose Totalität eines »Lebens« vor uns aus: »In
eigentlichen Poemen«, sagt Novalis unmißverständlich, »ist keine
als die Einheit des Gemüths«. Das Gemüt aber ist »Chaos«.
Die Kunst wird prosaisiert, und zwar im gleichen Maße, wie die
Formung als eine Verstellung der Wahrheit erkannt wird. Die
Prosa ist »ganz Ausdruck des Gemüths, wo Empfindung, Gedanke,
Anschauung, Bild, Gespräch, Musik etc. unaufhörlich schnell wech-
selt und sich in hellen, klaren Massen nebeneinander stellt.« Es wird
zu zeigen sein, daß die romantische Prosa selbst für die am streng-
sten geformte poetische Gattung, die Lyrik, ein sprachliches Ideal
darstellt. Die Prosa ist das der musikalischen »n-Sprache« verwand-
teste Kunstmedium. »Die sogenannte Prosa ist« - wie die Welt
selbst - »aus Beschränkung der absoluten Extreme entstanden. Sie
ist nur ad interim da und spielt eine subalterne, temporelle Rolle.
Es kommt die Zeit, wo sie nicht mehr ist«. Der »repräsentative
Glaube« sieht in der Prosa wie in der »Existenz« wie in der
»Krankheit« den Zustand des unglücklichen Bewußtseins verwirk-
licht, der im »Glauben« überwunden wird.
Die Prosa muß »höchst abwechselnd - wunderbar - (voll) son-
derbarer Wendungen - rascher Sprünge« sein; sie muß die Wider-
sprüche fassen, nicht sie schlichtend verstellen. Die Redeweisen müs-
sen »unaufhörlich schnell wechseln«, die Erzählung darf nicht »chro-
nologisch« fortschreiten, sie ersetzt die begriffliche Durchdringung
durch die Assoziativität von Reihungen und Totalaufzählungen
(z. B. XII, 580 ff.), wie sie in Hardenbergs Aufzeichnungen so häu-
fig sind. Es ist kein Zufall, daß in diesem Zusammenhange noch-
mals der Name »Tiek« auftaucht. Nach Hardenbergs Ansicht ist er
der echte Vertreter einer »wahren rhetorischen Prosa«. Man »spielt«
in derselben »alle Rollen, geht durch alle Charaktere durch - durch

231
alle Zustände«. Es wird im folgenden zu demonstrieren sein, wie
weit und wie weit nicht Tiecks Dichtung in Hardenbergs Sinne eine
»angewandte Philosophie« genannt werden kann, wie weit sie, an-
ders gesagt, ein poetisches »Object zu construiren« imstande ist, des-
sen »Abstraction« die romantische Zeitphilosophie darstellt (IX,
377, Nr. 620; 438, Nr. 883; 303, Nr. 345; »Bd. 4, 294; XII, 572,
Nr. 113; II, Nr. 3; IX, 280, Nr. 234; IV, 456, Nr. 100; 454, Nr.
91; 468, Nr. 123; XII, 673, Z. 30/2 [ein Plan a la Tiecks k a r t e n -
der Poesie<?]; IX, 303, Nr. 345; VI, 535, Nr. 44; XII, 681, Nr.
642; 683, Nr. 656, Nr. 657; 673, Nr. 617, Z. 20; KA, XIX, 273,
Nr. 69; Solger N.S. II, 493; II, 291, Nr. 651; XII, 654, Nr. 580;
648/9, Nr. 547; 654, Nr. 576; 645, Nr. 532; XII, 601, Z. 4 ff.;
654/5, Nr. 580; VI, 546, Nr. 51).

23*
„ou 8' etoe&Tjxac; touiroc. iitTepcujj.evov"
[Aristophanes, Frösche (V. 1388)]

DIE POETISCHE GESTALTUNG DES ROMANTISCHEN


ZEITBEWUSSTSEINS IN TIECKS DICHTUNG

RICHTLINIEN DER INTERPRETATION

Die Zeit-Struktur des Verstehens als Modell des Verständnisses


von Zeitlichkeit

Wir haben die Philosophie Fr. Schlegels, Solgers und Harden-


bergs als Niederschlag einer vorwiegend theoretischen Einstellung
zur Erfahrung von Selbstbewußtsein gedeutet. Diese Erfahrung -
im Selbstbewußtsein offenbart sich die ewige Freiheit als Zeit - lie-
fert den phänomenalen Bestand. Sie ist, mit anderen Worten, im
dialektischen Prozeß des »Verstehens« nur das faktische Moment,
das sofort überschritten wird, um in der vollendeten Synthesis als
Anlaß aufgehoben zu werden. Es ist dem konkreten Bewußtsein
unwesentlich, ob es dem Faktum reflexiv oder in poetischer Anver-
wandlung korrespondiert. Denn »das Verstehen«, sagt Fr. Schlegel
(KA XIX, 331, Nr. 220), »hat einen viel weiteren Umfang als das
Begreifen«. Wenn Tiecks Dichtung in der Art, wie sie auf den An-
spruch des Faktums antwortet, von den philosophischen Explika-
tionen seiner Freunde abweicht, so werden wir diese »Variationen«
vom allgemeinen Schema »nicht als kontingente Anomalien, als Zu-
fälle, bedeutungslose Momente« deuten; »denn die Einzigartigkeit
des Verhaltens und des Begreifens ist ganz im Gegenteil vor allem
einmal konkrete Realität als erlebte Totalisierung, sie ist kein Ein-
zelding des Individuums, sie ist das totale in seinem Objektivie-
rungsprozeß begriffene Individuum.« 1 - Also wird das >Totale<,
von dem wir ausgehen als von einer bestimmten metaphysischen
Strömung der Wende vom 18. auf das 19. Jh., durch das Einzelne
erst bereichert und als eben diese und nicht jene Ganzheit bestimmt.
Wir gehen aus von der Struktur des im Schlegelschen Sinne über-
greifenden Verstehens, wie sie von der romantischen Hermeneutik
und, profilierter, aber auch enger, neuerdings von der existentialen
Phänomenologie herausgearbeitet worden ist.

»Der Mensch«, schreibt Sartre, »ist für sich selbst und für die anderen ein
bedeutendes Wesen, weil man niemals auch nur die geringste seiner Gesten
verstehen kann, ohne die reine Gegenwart zu überschreiten und sie durch
die Zukunft [xö oufe'vexa]zu erklären. (...) Der Mensch konstituiert Zei-

233
dien, weil er in seinem Sein selbst bedeutend ist, und er ist bedeutend,
weil er dialektisches Überschreiten alles bloß Gegebenen ist. Was wir Frei-
heit nennen, ist die Unzurückführbarkeit der Ordnung der Kultur auf die
der Natur.« 2
Die Freiheit ist die irreduzible causa sui, die aus der abstrakten
Analytizität eines An-sich-Seins die synthetische Struktur: >Erfah-
rung<, >Erlebnis<, >Verständnis< usw. macht. Der Entwurf, durch
welchen sich die Freiheit über alles ihr Gegebene hinaussetzt, erhellt
erst die Gegebenheit, indem sie sie ins Licht eines Situationsver-
ständnisses stellt. Die Wahl, kraft welcher die Existenz keine seeli-
sche Entität, »keine in sich selbst ruhende Substanz«, auch nicht
»Wille« oder dergleichen ist3, ist absolut vorgängig4 den durch sie
objektivierten Bedeutungen und literarischen Entitäten — derart,
daß wir durch Tiecks Wahl, gewisse Dramen, gewisse lyrische Ge-
dichte und Erzählungen von einer bestimmten unverwechselbaren
Textur zu schreiben, erst etwas über den Sinn des Erlebnisses von
Zeit erfahren, welches uns als ihr eigentlicher Anlaß erscheint und
sich im Werk objektiviert.
Stellen wir das merkwürdige uoxepov rp6tspov der Reihenfolge
von Entwurf und Objektivation zurecht: Eine bestimmte Erfah-
rung von Selbstsein als Anlaß wird Motiv eines irreduziblen Ent-
wurfs (Gestaltung der Zeitlichkeit im literarischen Kunstwerk).
Ich rekonstruiere aus der im Werk objektivierten >Vorhabe< den
Anlaß, den jene zugleich überschreitet und im Überschreiten als das,
was er ist (Anlaß), enthüllt: die Erfahrung im Selbstbewußtsein.
Aber zwischen die beiden objektiven Bestimmungen (des Anlasses,
der Vergangenheit, und seiner Reflexion im Werk) muß ich, im ver-
stehenden Nachvollzug, die nicht zu hinterfragende freie Wahl
Tiecks einsetzen. In Tiecks Fall ist die Anlaßerfahrung (Zeitlich-
keit und Substanzlosigkeit des Selbstseins) seinerseits als die Objek-
tivierung der sich selbst erfahrenden Freiheit verstanden. Und dar-
um ist hier die Struktur des Verstehens der Bedeutung von Tiecks
Werk mit der Struktur des in der Bedeutung Bedeuteten identisch
- die Struktur des Verstehens selbst ein Analogon der Bedeutung
von Tiecks Poesie.5 Das Thema >Selbstsein< wird in den ihm ein-
wohnenden Strukturen >Zeitlichkeit< literarisch objektiviert. Diese
Dichtung ist also nicht einfach Darstellung von . . ., sondern vor
allem Reflexion - aber in einem von der philosophischen Refle-
xion unterschiedenen Sinne.
Dabei ist die Frage ganz belanglos, ob Tieck selbst ein ausdrück-
liches Bewußtsein davon hatte: Denn jeder Entwurf ist zunächst in
einem nidit-thetischen Bewußtsein präsent, welches erst durch eine
Reflexion als Entwurf gesetzt (objektiviert, zur Selbstgegebenheit
gebracht) wird - so wie mir im Eifer eines Gesprächs die unerträg-

234
liehe Hitze im Zimmer, die mich verärgert, solange entgehen kann,
bis jemand durch öffnen des Fensters diese Situation als das, was sie
mir die ganze Zeit über war, enthüllt.6 Gleichwohl ist es sinnlos zu
leugnen, daß mein gereiztes Verhalten nicht bereits die Objektivität
dieser Empfindung ist. Sein partielles Verkennen des Entwurfs, der
für ihn selbst notwendig etwas anderes ist als für uns, hindert uns
also nicht daran, die Objektivität von Tiecks Sprache »regressiv«
auf das hin zu enthüllen, was als der Anlaß des Entwurfs zutage
tritt: die bestimmte, Tiecksche Erfahrung vom Selbstsein als Identi-
tätsverweigerung. Seine ganze Dichtung wird so be-deutend (im
romantischen Sinne >allegorisch<) für das in ihr nicht Darstellbare,
Infixible, im Selbstbewußtsein sich als Zeit ereignende Absolute.
Wir bedienten uns der Wörter »Sprache« und »Dichtung«. Beide
begreifen wir als »Moment« von »Tiecks »Praxis«1, die ihre Vor-
findlichkeit überschreitet und in der Sprache Zeichen eines Ver-
ständnisses der Faktizität setzt. Insofern ist die Sprache »selbst
Entwurf«6 - Progression - und weist »regressiv« auf den Akt zu-
rück, der als ihr transzendentaler »Ursprungsgrund« zumal ihre
»Struktur« bestimmt.9 Die synthetische Anordnung der Worte ist
die Objektivität jener konkreten Totalität, als welche wir das »Ver-
stehen« begreifen.10
Wir haben also zu fragen, unter welchen Bedingungen die Ver-
zeitlichung von Tiecks poetischem Stil möglich ist. Der Regreß auf
eine bestimmte Zeiterfahrung (die durch den Stil hindurch trans-
parent wird) reicht nicht hin, gerade diesen Stil zu erklären. Aber
die unverfügliche Handlung, die aus der Erfahrung (welche selbst
gewählt ist) gerade diese sprachliche Manifestation hervorbringt,
stellt sich selbst sprachlich dar, und die Frage nach den Bedingungen
der Verzeitlichung des poetischen Stils ist aus dieser negativen Ko-
präsenz des Entwurfs zur Objektivität der Sprache zu entwickeln.
»Bei der Beantwortung dieser Frage«, sagt Sartre, »müssen wir uns stets
vor Augen halten, daß der Stil eines Autors unmittelbar mit seiner Welt-
anschauung verbunden ist; denn Satzbau, Einleitung, Gebrauch und Stel-
lung des Substantivs, des Verbums usw., der Ansatz der Abschnitte und
das Typische der Erzählung - um nur einige Besonderheiten anzuführen
- prägen verborgene Voraussetzungen aus, die man differentiell bestim-
men kann, ohne noch die Biographie zu Rate zu ziehen.«11
Eben dies ist die Aufgabe, die wir uns gestellt haben.

Tiecks poetisches Selbstverständnis: Erlebnis und Entwurf


Tieck hat das Wesen der Kunst aus einem bestimmten Verhältnis
zur Praxis gedeutet. Kunst ist ein Entwurf, durch den eine irredu-
zible »Erfahrung«, die im Selbstbewußtsein ursprünglich zur Gege-

235
benheit gelangt, als »Bedeutung« die Worte und ihre Verbindung
tingiert und als >Bedeutung der Worte< in Friedrich Schlegels Sinne
allegorisch (KA II, 348) über sie hinaus- und auf das zurückweist,
was ihr Grund und was nicht seinerseits aussprechbar ist. »Erfah-
rung« und »Thätigkeit« verhalten sich im Entwurf wie Grund und
Bedeutungsstiftung zueinander. Als »Wahrheit« begreift Tieck die
Angemessenheit der Tätigkeit an die Erfahrung.
Das >Erleben< (vgl. Köpke II, 264)12 ist diejenige Modifikation
von Bewußtsein, durch die wir »das Unauflösbare . . . des Lebens«
kennen, »dessen sich immer wieder die Dichtkunst, wie sie sich auch
in Nachahmung und Darstellung zu ersättigen scheint, bemächtigt,
um den todten Buchstaben der gewöhnlichen Wahrheit neu zu bele-
ben und zu erklären« ( n , LXXXIX). Es ist das »Gefühl« (ebd.),
durch welches die Kunst in ihrem Ursprung auf jenes »Räthsel des
Herzens« (ebd., XC), jene prinzipielle Dunkelheit diesseits der
Sprache, bezogen ist und aus welcher Beziehung sie in ihrem wirk-
lichen Erscheinen die eigene Unausdeutbarkeit (»Unendlichkeit«)
gewinnt (11, X X I I ; vgl. KA X, 311, Z. 9 im Zusammenhang). Diese
»Unendlichkeit« ist die empirische Darstellung der Unendlichkeit
»des Lebens« selbst - und wie Fr. Schlegel, wie Novalis verurteilt
Tieck die abstrakte Trennung des »sogenannten Poetischen «-von der
»trockensten Prosa des Lebens« (I, 152,3). Darum ist jede Lebenssi-
tuation, in ihrem Wesen aufgefaßt, eine Kunstform (vgl. III, 932 —
in Tiecks gesamtem Giuvre finden wir dergleichen Identifikationen).
Tieck hat nun diese prinzipielle Dunkelheit des Lebens, des Gemütes,
»Natur« genannt, indem er eine Tradition aufgreift, aber um eine
wesentliche Nuance bereichert. Natur ist »dunkles, inneres Gesetz«
(BüSh. 372), »dunkler Trieb des Gemüths«, ein »Etwas, das sich
nicht beschreiben läßt« (ebd.) und dem »Genie« (Shakespeare zum
Beispiel) als Material der Kreation dient. Seine Produkte sind eben
darum, ganz im Unterschied zur bloßen Verstandesproduktion,
prinzipiell unaufklärbar. Ben Jonson ist Tiecks Beispiel für eine
Kunst ohne Natur, deren »Kunstabsicht und Vollendung... sich
auch mit dem Verstände völlig ergründen« läßt (11, XXI).
»Natur« (d. h. »wahre Dichtung als Kunst«) und »Kunst« (d. h.
Poesie im Sinne von »Künstlichkeit« (11, XXII ff.)) unterscheidet
Tieck durch das Verhältnis von Produktion zum Produkt. Das
Genie bringt Regeln selbst hervor; Kunst ahmt nach, was sich
ihr empirisch als Material des Lebens darbietet. Woher bezieht
das Genie sein Material? Tieck antwortet: nicht von außen,
sondern aus einer ursprünglichen aktiven Selbstbeziehung, in der
die Erfahrung selbst ein Produkt vorgängig zu denkender Ak-
tivität ist und umgekehrt diese Aktivität den »Stoff« (BüSh. 293)
der Erfahrung in Bedeutungen verwirklicht. Tieck knüpft diese Be-

236
Stimmungen an eine Apologie Shakespeares gegen den Vorwurf, er
halte sich nicht ziemlich an starre Kunstregeln (der »konventionel-
len Regelmäßigkeit«) (BüSh. 300). Diese Regeln, sagt Tieck, hän-
gen solange in der Luft, als ihnen der authentische Ausweis durch
die Phänomenalität eines Erlebbaren fehlt (a.a.O.). Für Tiecks
Selbstverständnis ist das erhellend. Er reklamiert eine ursprüng-
liche, auf »eignes Erleben« gegründete Natürlichkeit der Kunst
(BüSh., 372). Das Genie erschafft unter dem Anspruch einer ur-
sprünglichen Erfahrung die ihr angemessenen Regeln, und der Re-
kurs auf dieselbe Erfahrung ist einziges Fundament der Kunst-
kritik. Echte Kunstwerke »beruhen nicht auf Einem Satze, sondern
alles ist die höchste Willkür, die doch dem Dichter dient« (a.a.O.,
368); d. h. die poetische >Welt-Erfahrung< (a.a.O., 372) ist nicht
Hinnahme, sondern »Selbstthätigkeit«, die » e i n e . . . Ansicht der
Welt« (ebd.) schafft und nicht abgestorbene Hülle mit neuem Atem
vollbläst. »Natur«, notiert Tieck, »ein mißverstandener Begriff.
Kann in keiner Kunst Copie sein«, sondern ist ja eben das Prinzip
der poetischen Selbstdarstellung (a.a.O., 368) - >Darstellung des in-
nern Zustandest der freie, angeschaute Tätigkeit und nur, weil ange-
schaut, Zustand ist (vgl. Novalis). »Sh. ist nicht in diesem Sinne« wie
die »Niederländer« (die darum »keine Künstler« sind)13 »Dichter der
Natur«. Man sieht, die Natur ist für Tieck nicht Objekt der Nach-
ahmung, sondern Prinzip schöpferischer Selbstrealisierung. Der
Künstler ist Subjekt der Natur, in dem Sinne, wie Novalis »Poesie«
als »thätigen Sinn des Gefühls« (VI, 575, Nr. 226) definiert. Der
Künstler »wirkt nach dunkeln inneren Gesetzen, sein Kunsttrieb ist
sein Gesetz« (BüSh., 372). Die Gesetze der Kunst sind danach erst
Abstraktionen aus dem Niederschlag ursprünglicher Aktivitäten des
Bewußtseins, das sich in ihnen deutend auslegt.14 »Denn wie«, fragt
Tieck, »wäre es möglich, daß Jemand durch Raisonnement auf An-
sicht der Welt, auf Stimmungen verfallen könnte?« Dazu bedarf es
der Spontaneität. Die Welt allein ist stumm.
Mit einem Wort, zur bloßen »Darstellung der Welt« (BüSh. 372)
kommt ein Unaussprechliches (a.a.O., 391) hinzu, das sich im »Ge-
fühl« offenbart und selbst sich Gesetze gibt. Die Reflexivität dieser
Bewegung ist auffällig. Tiecks Wortneuschöpfung des »Sich-Erle-
bens«15 ist daraus verständlich zu machen: Das Objekt des Erle-
bens ist nicht die Welt, sondern das erlebende Ich. »Selbstthätig-
keit« und »Selbsterlebtes« (»Erfahrung... mit dem eigensten
Selbst«; 6,6; vgl. S. 3 u. 6, X-XII) sind die reflexiv ablösbaren Re-
lata jener ursprünglichen kreativen Selbstbeziehung14a.
Durch die Ableitung der Kunstregeln aus vorgängigen Aktivitä-
ten des Gemüts ist Tieck schon zwischen 1793-96 zentralen Theo-
remen seiner romantischen Freunde entgegengeeilt. Philosophie und

237
Poesie sind Ausdrude eines und desselben Phänomens: Beide sind
einer und derselben Erfahrung verpflichtet, die jene ideal, diese real
darstellt. Nur ist die Kunst als Prozeß (als Tun) die Offenbarung,
aus der die Philosophie ihren »Stoff« bezieht (Novalis) und darum
der Philosophie noch vorgeordnet (auch dies war ein Theorem von
Schelling, Novalis und Fr. Schlegel), die nur ihr Geschehen den-
kend auf den Begriff bringt, während Poesie die Tätigkeit und die
(begrifflose) Anschauung der Tätigkeit ist. Mit einem Wort: Poesie
ist die Tätigkeit («öhjots von itoietv), deren Reflexion die Philo-
sophie ist. Darum kann Tieck sagen: »Kann aus einem Dichter-
werke auch der tiefsinnigste Philosoph . . . nicht etwas Neues lernen,
so ist das Werk eben kein achtes« (i, IX/X). Ebenso ist Kunstkritik
solange ein »Unding« (Novalis, XII, 685/6, Nr. 671), als sie sich
nicht der Anschauung jener Aktivität, als deren Niederschlag der
Gegenstand der Kritik ist, selbst unterwirft: »Nur aus der Erfah-
rung, dem lebendigen Erkennen . . . kann die ächte Kritik hervor-
gehen« (1, XII, Z. 8 ff.) - insofern ist das Verstehen eines Kunst-
werks selbst ein Schaffen (III, 54; 481; vgl. I, 353-5).16
Die Kritik hat, mit anderen Worten, ihr reales Fundament in der
ständigen Möglichkeit aufzusuchen, das Kunstprodukt auf das in
ihm objektivierte und durch einen freien Entwurf überschrittene
»Erlebnis« transparent werden zu lassen. Ohne den Rekurs auf das,
was »Wahrheit« und »Authentizität« verbürgt, »wird mein Be-
kenntnis immer nur toter Buchstabe und Nachbeterei bleiben« (III,
745). Die Einigkeit über diese Erfahrung, bekennt Tieck vor Solger,
habe ihm Zutrauen gegen den Philosophen erregt, »weil Sie eben
immer nur das lebendige, das Erlebte aussprechen wollen. Wir wis-
sen ja wahrhaft nichts, was wir nicht erlebt haben« (»Zib., den
30ten 1. 17«, Briefwechsel Solgcr, 334). In Solger findet Tieck end-
lich »den Dolmetscher meiner Ansichten und Ahndungen« (7. May
16 an Solger), mit dessen Philosophie er sich vollständig identifi-
ziert17, bis er in ihr das »Wesen meines Lebens« erkennt. Sein »eig-
nes Innerstes« sei ihm durch sie zum begrifflichen Wissen gehoben
worden, ohne daß doch als Grund des Begriffs das »Faktum« der
unerklärlichen Offenbarung im »Selbstbewußtsein« preisgegeben
werde — ein Faktum, dessen »Erlebnis . . . mir ja eben immer mein
Sprechen mit den Philosophen von der Schule18 unmöglich« gemacht
habe17.
Was Tieck >Erlebnis< nennt, wird ihm identisch mit Solgers Rede
von der »Offenbarung«, die eine »wirkliche Erfahrung« (N.S.II,
156) ist und durch die sich im »Selbstbewußtsein« (Brief Berlin,
19. 11. 1815, 191) das im Abstand von sich selbst Existierende auf
sein wahres An-sich-Sein hin »aufhebt« (ebd.). Fichtes und Schel-
lings Frühwerk haben, meint Solger, diesen Standpunkt der Refle-

238
xionsnegation noch nicht ergriffen (wiewohl Hölderlin und Sinclair,
von welchen Solger nichts wissen konnte): »Die gerühmte Einheit
unser selbst im Bewußtsein ist auch immer nur etwas, das durch
Beziehung da ist, so lange ihr etwas äußeres gegenüber steht, das
wir nicht sind, und das doch für uns da ist« (Solger, »Den 4ten« (?),
S. 343 ff., 346). Das Innerste im Selbstbewußtsein ist präreflexiv
und selbstlos - es artikuliert sich aber in Gegensätzen; und durch
sie allein tritt es, wie noch Tiecks Novelle Der Schutzgeist luzide
beschreibt, in die Sukzession ein, in das »Für-sich«, »in das Gebiet
der unvollkommenen, zeitlichen Erkenntnis« (Solger an Tieck, Ber-
lin, 7. 12. 1817, 394), in welcher wir »noch stückweise beziehn, den-
ken, Zweck und Mittel vergleichen« (a.a.O., 396), und die jenes
»wahre positive Nichts« ist (a.a.O., 395), das »für uns in die Wirk-
lichkeit geworfene Wesen« das Letzterreichbare bleibt (1. 1. 19,
508). Wahrheit wird ihm nur dadurch zuteil, »daß man in jedem
Akte desselben [des zeitlichen Denkens] die Offenbarung einer fak-
tisch einwirkenden Macht wahrnehme, ohne welche er anstatt der
lebendigen Frucht der Überzeugung, die mit dem Glauben Eins ist,
eine taube Hülse treibt« (a.a.O., 506).
Tieck hat sich dieser Erfahrung schon im Brief an Fr. Schlegel
(»Zibingen, den 25t März 1813«) verpflichtet gezeigt: »Nur Gott,
L i e b e . . . sind ewig, alle andern Gedanken, Gefühle, Ansichten,
Weisheiten schwimmen auf und nieder, oft als bunte Iris, die bei
Wasserfällen wohl dicht vor unsern Füssen im Grase zu liegen
scheint.«

Der heuristische Wert eines üblichen Vorwurfs gegen Tieck


Es ist gewiß die Sehnsucht nach dem Unendlichen gewesen, die
Tiecks Dichtung und Solgers Philosophie der Zeitlichkeit anein-
anderrückte. Beide schließen die höchste Synthese, die im Hegel-
schen Sinne »konkrete Unendlichkeit«, als unglaubwürdige, un-
wahrhaftige Harmonisierung aus: Das Schicksal des Unendlichen,
in seiner ersehnten Reinheit gefaßt, ist an die Möglichkeit gebun-
den, es der primären Erfahrung des Endlichen, als deren Definiens
sich der Begriff von Zeit anbietet, entgegenzusetzen und durch die
Ironie der Reflexionsnegation in der Sprache selbst Verweise anzu-
bringen, durch welche sie sich als das Nichtvermeinte zugleich aus-
löscht. Die Sprache müßte es zu einer vollständigen Durchsichtig-
keit bringen, die keinen Zweifel läßt, daß sie selbst sich darin er-
schöpft, sich selbst nicht zu meinen, Zeichen zu sein. Gewiß, aber
»wie die Poesie so muß ja auch die Philosophie in ihrer gültigen
Allgemeinheit zugleich der Ausdruck des Individuellsten sein«
(Tieck an Solger, 521).

239
Die Forschung hat den »Ausdruck des Individuellsten« in Tiecks
Dichtung vergeblich gesucht. Macht das Durchscheinende ihrer
Sprache nicht jede Erfüllung durch Erlebnisqualitäten zunichte?
Reicht die Liebenswürdigkeit einer verweisenden Geste hin, den
Mangel an Präsenz des Bedeuteten unfühlbar zu machen?
Tatsächlich ist die Transparenz von Tiecks Sprache von jeher als
etwas »Antiromantisches«, als eine »impassibilite rationaliste« 19
kritisiert worden, obwohl Gundolf, Minder und Staiger sich darin
einig sind, daß die »geistige Helle« (»lucidite«) die eigenartige, un-
verwechselbare »Anmut« dieses Dichters ausmache.20 Man erwartet
gemeinhin von der poetischen Sprache eine symbolische Konkretion,
etwas wie eine Parusie des Inkommensurablen - bei Tieck scheinen
Bedeutetes und Sprache nebeneinander herzulaufen. Es gibt zwar
überall Durchblicke - das gehört ja zur Transparenz, daß sie für
etwas, das sich in ihr zeigt, durchsichtig ist - , aber die Sprache
scheint mit der Sache, auf die sie zeigt, nicht recht zusammenzurük-
ken; und unter der Hand hat die Nachwelt Tieck gerade jenen
Vorwurf gemacht, den er so entschieden gegen Zeitgenossen zu er-
heben pflegte: er rede nur über die Dinge, er komme aus dem bloß
Literarischen nicht heraus, dringe nicht ins »Mark« der Charaktere
vor, erfasse von der Welt nichts als ihre schimmernde Außenseite,
die Oberfläche der Gehalte - mit einem Wort, seine Dichtung be-
kunde »außer seinem raschen Geist und Gelenk seine Oberfläch-
lichkeit: Mangel an Tiefblick, an gründlicher Arbeit, Genügen am
Augenschein«.21 »Nur Worte« 22 - »ohne Gefühl für Gehalt und
Gewicht« - keine »Erscheinung von Lebensgründen«, die man »vom
Dichter verlangt« - ein Fehlen der »Lebensmitte, eines zeugenden
Nu« — »fähig alles zu spielen ohne etwas ganz zu wesen« - end-
lich »marklos«, »ohne Herz noch Natur im Leibe« und weder durch
»Stadt noch Haus noch Blut« zu »etwas anderem als einem Verstan-
desmenschen«23 prädeterminiert - das sind die wesentlichen Schlag-
worte einer Kritik an Tieck und seiner Dichtung (hier wird wenig
Unterschied gemacht); einer Kritik, die zwar durch die aparte
Wortwahl die individuelle Geistesart ihres Verfassers erkennen
läßt, aber in ihrer Allgemeinheit zugleich als Resume aller alten
wie als Quelle aller neueren gegen Tieck erhobenen Vorwürfe an-
gesehen werden kann.
Gewiß, Gundolfs Kritik ist durchaus nicht unangefochten. Es
stellt sich geradezu die Frage, wie wir uns jenes in der Literaturge-
schichte wohl singulare Phänomen erklären, daß Tiecks Dichtung
von den profiliertesten Kritikern und den bedeutendsten Geistern
seiner Zeit, selbst bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert, nahezu
ohne Ausnahme gleich hinter das Werk Goethes gestellt worden ist,
während die Kritiker, worunter Schiller, der späte Hegel und der

240
junge Kierkegaard, Tieck immerhin so sehr der Erwähnung für
wert halten, daß sie gegen ihn und seine philosophischen >Hand-
langer< Fr. Schlegel und Solger einige der leidenschaftlichsten At-
tacken führen, die sich in ihrem gesamten GEuvre finden. Es ist in
der Tat kein Dichter der Goethezeit so widerspruchsvoll beurteilt,
abwechselnd so weit über seine Zeitgenossen erhoben und so sehr
hinter die kleinsten Talente zurückgestellt worden wie Tieck. Als
Loebell, der Freund und Zeitgenosse, von Köpkes Plan einer Tieck-
Biographie erfährt, äußert er, es »gehöre Muth dazu«, »über un-
sern verewigten Freund zu reden«, und fährt fort: »Ich weiß nicht,
ob es in der gesammten Literatur ein zweites Beispiel gibt von einer
die lautwerdende Kritik so beherrschenden Gehässigkeit gegen
einen solchen Autor: Man findet ein wahres Behagen daran« usw.
(Köpke II, 259). Noch befremdlicher fast ist aber die Konformität
des gegen ihn erhobenen Vorwurfs, in welchem so entgegengesetzte
Geister wie Schiller, Hegel, die Jungdeutschen und Kierkegaard
plötzlich zusammenstimmen und der sich über Haym und Gundolf
bis zu Emil Staiger und seinen Doktoranden fortgeerbt hat: Es ist
der Vorwurf der >Substanzlosigkeit<.24 Man hat nämlich, beson-
ders Hegel und Kierkegaard, in Tiecks Dichtung den Ausbruch einer
Geisteshaltung erblicken wollen, die man, wie mißverstanden auch
immer, bei Fr. Schlegel, bei Novalis, bei Solger - ja auch bei Fichte
und Schelling wiederfinden konnte 25 - einer Haltung, die das »In-
coercible«, gleich in welcher Gestalt es sich verkörpert, das »Äthe-
rische«, das »Asystatische«, das »Infixible«, das »Substanzlose«25*
zum Prinzip erhebt, als Grund der »Freiheit« postuliert, gegen den
Dogmatismus des Systems polemisiert - und in eigenartiger Wahl-
verwandtschaft sich einigen Grundsätzen der modernen Ontologie
der Zeitlichkeit annähert, so diesen: »Alles das läuft darauf hinaus,
daß das Dasein »nicht an sich ist<, daß es »nichu zu sich selbst in ei-
ner unmittelbaren Nachbarschaft steht und daß es die Welt >über-
schreitet<, insofern es sich selbst setzt als nicht an sich seiend und als
nicht die Welt seiend*,** daß es, mit einem Wort, seine Substanz
darin findet, Gegensatz aller Substanz zu sein.
Können wir den Vorwurf der Substanzlosigkeit am Ende für
eine neue Interpretation des Tieckschen Werkes fruchtbar machen,
indem aus einer Analyse der Zeitlichkeit ein verändertes Licht dar-
auf fällt? Wie, wenn eben die Auflösung der Substanz, die sich in
der anmutigen Durchsichtigkeit von Tiecks poetischer Sprache nie-
derschlägt, das vermißte »Individuellste«, die gesuchte »Mitte«
wäre? Wenn der Symbolismus der Parusie aus Wahrheitsliebe der
Nichtidentität der Allegorie hätte weichen müssen, die ihr Ver-
meintes nicht selbst ist, sondern durch ihre relative Nichtigkeit hin-
durch bedeuten muß? - eine »Auffassung« vom Wesen des Poe-

241
tischen freilich, die, wie uns Gundolf versichert, »kein großer Dich-
ter je geteilt hat«. 27 Wir wollen zu zeigen versuchen, daß der ver-
mißte >Lebensnerv<, die fehlende und von Tieck doch postulierte
>Erlebtheit< seiner Dichtung - physiognomische Merkmale, die
man in seiner Sprache gespiegelt findet - gerade auf Tiecks eigent-
liches Erlebnis deuten, und bekennen uns darum, anders als Gun-
dolf, der Tieck durch sein Goethebild hindurch kritisiert, zu Tiecks
hermeneutischer Maxime, »daß man jeden Autor nur aus sich selber
kennen und kommentiren lernt, und daß jeder fremde Maßstab
daran gehalten, ein falscher ist«.28 Auch der Begriff des »Erlebens«,
des »Erlebnisses«, den, wie es scheint, Tieck in dieser spezifischen
Bedeutung allererst in die deutsche Sprache eingeführt hat29, er-
schließt sich erst aus Tiecks Selbstverständnis. Es ist »der Maßstab«,
an dem sich eine Kritik zu orientieren hat. Es versteht sich, daß die
Absicht, Tieck »hauptsächlich aus seinem eigenen Gemüth zu ent-
wickeln« (BüSh. 406) - so Tiecks Absicht mit seinem Vorbild
Shakespeare30 - aus der Hypothesis begründet werden muß, daß
dieser »Dichter... seine Poesie durchaus erlebt und nicht gemacht
hat« (a.a.O., 407).
Natürlich hat diese Immanenz ihre Grenzen: Im tiefsten Grunde
enthüllt sich das Erlebnis des Individuums als eine partielle Ent-
eignung seiner Autonomie - im gleichen Sinne, wie die Reflexion
aufs Ich dessen Unverfüglichkeit ans Licht bringt. Deutlicher gesagt:
das Erlebnis ist selbst eine Synthesis aus geschichtlicher Bedingtheit
und Praxis (Freiheit) des Individuums. Es ist, genau genommen, das
Produkt eines freien Sich-Verhaltens zur eignen zeitlichen Be-
dingtheit, setzt also die Faktizität von Geburt, Nationalität, ge-
schichtlicher Situation, sozio-ökonomischen Verhältnissen usw. ge-
rade voraus. - Jede andere Bestimmung von Freiheit wäre im
wörtlichen Sinne bodenlos. Zugleich erfordert das Sich-Verhalten
einen idealen Abstand zur Zeit, in welchem sich die Freiheit des In-
dividuums verwirklicht. Es geht, mit anderen Worten, nicht darum,
den vorrangigen Einfluß der geschichtlichen Situation, ja des Kol-
lektiven auf das produktive Individuum zu schmälern, sondern
um den Nachweis, daß die Geschichte keine Kausaldeterminante
darstellt (vgl. KA XIII, 27/8!). Jedes »Genieprodukt« ist Ausdruck
eines »neuen« »Erlebnisses«, welches eben darum neu ist, weil es
der seine Praxis bedingenden Faktizität etwas Unableitbares hinzu-
fügt (vgl. Sartres Beispiel [Racine] in »Was ist Literatur^, S. 92/3)
und - um Tiecks Beispiel anzuwenden - die allen Individuen des
elisabethanischen Feudalismus gleiche historisch-gesellschaftliche Si-
tuation ausgerechnet zu Shakespeare's unverwechselbarer Erfindung
werden läßt. In diesem idealen Raum des Unverrechenbaren reali-
siert sich die Freiheit als Konstituens jeder Totalisierung. Dies Un-

242
ableitbare läßt sich - für die Interpretation - auch durch die voll-
ständigste Kenntnis der Zeit, der geschichtlichen und individualpsy-
chologischen Bedingungen nicht ersetzen, sondern diese Bedingun-
gen sind nur ein (übrigens unentbehrliches) Moment der totalisie-
renden Praxis, deren synthetisches Produkt das irreduzible »Erleb-
nis« ist.31

EXPOSITION ALLER TYPEN VON ZEITERFAHRUNG UND -GESTALTUNG


IM ERZÄHL WERK

Wir wollen die Hypothese dieses Kapitels zunächst an einer Aus-


wahl von Tiecks Erzählwerk, und zwar vorwiegend am Leitfaden
des William Lovell erproben. Ich bin nicht der Ansicht, daß - viele
der Märchen und einiges aus der Novellistik ausgenommen — Tiecks
Prosa an die Bedeutung seines ziemlich unterschätzten dramatischen
und lyrischen Schaffens heranreicht. Das liegt daran, daß sie mehr
über die Phänomene redet, als sie darzustellen. Aber diese Schwäche
ist nicht nur im Medium der Prosa selbst begründet, sondern bietet
unserer Interpretation einen Vorzug; denn sie sichert die Realität
des Themas »Zeit« und demonstriert, wie Tieck dies Thema reflek-
tiert. Zugleich leiten diese immer von Theorie unterbrochenen De-
monstrationen der Zeitlichkeit zu einer begrifflichen Bestimmung
des »Menschen ohne Charakter« über, der, wie wir wissen, nicht
erst eine Erfindung Musils31a gewesen ist. Die neugewonnene Blick-
richtung leistet den Übergang zur Deutung der Temporalität im
dramatischen Werk.

Die Antizipation des Umschlags


(das erste Paradigma: >präreflexives Bewußtsein<)

Über den Helden des Romans William Lovell, dessen Liebes-


geschichte ohne Notwendigkeit mit einer Trennung von der Lieb-
sten beginnt, wird gleich auf der zweiten Seite diese besorgte Über-
legung angestellt: »Wenn er nur einmal erst neben mir festen Fuß
fassen wollte; aber er gedeiht in keinem Boden« (I, 238). Ein Zu-
satz, durch launige Selbstironie in seine Schranken gebracht, eröff-
net die diesem »vortrefflichen jungen Mann« eignenden Potentia-
litäten:

»Kein Adler steht mit dem Äther und allen himmlischen Lüften in so
gutem Vernehmen, als er; oft fliegt er mir so weit aus den Augen, daß ich
ganz im Ernste an den armen Ikarus denke - mit einem Wort: er ist ein
Schwärmer. - Wenn ein solches Wesen einst fühlt, wie die Kraft seiner
Fittiche erlahmt, wie die Luft unter ihm nachgibt, der er sich vertraute -

243
so läßt er sich blindlings herunterfallen, seine Flügel werden zerknickt,
und er muß nachher in Ewigkeit kriechen.« (ebd.)

Wer in keinem Boden gedeiht, dem droht in Zukunft (»einst«) die


Katastrophe der Ortlosigkeit und - in deren Folge - die Ver-
zweiflung. Sie wird der stets gegenwärtige Horizont jedes aktuellen
Bewußtseins sein. Tatsächlich hätte es Karl Wilmonts Zukunftsschau
über seinen »Gesellschafter« nicht bedurft. Lovells erster Brief an
den Freund Eduard (Burton) antizipiert den Umschlag seines gegen-
wärtigen Glücks in die Verzweiflung »einer dunklen Wüste . . . , wo
ich unter dämmernden Schatten hin und wider schwankende feind-
selige Dämonen erblidke« (I, 242). »Eine dunkle, ungewisse Ahnung
hat mich befallen« (ebd.). Und wenig später: »Ich ahne eine Zeit,
in welcher mir meine jetzigen Empfindungen wie leere Träume vor-
schweben werden, wo ich mitleidig über diesen Drang des Herzens
lächle, der itzt meine Qual und Seligkeit ist - und soll ich es Dir
gestehen, Eduard? - Diese Ahnung macht mich traurig - « (I, 244).
Nicht anders aber redet Lovells Geliebte: »Ich weiß selbst nicht,
was ich von mir will, die Zukunft und die ganze Welt liegt in einer
finstern Ausdehnung vor mir« (I, 276). Der Melancholiker Balder
nimmt gleich auf der ersten Seite seines frühesten Briefes die Verwe-
sung alles Lebendigen und den immerwährenden Tod aller Hoff-
nung vorweg (I, 290); und auch der in einer, wie man sagt, gesicher-
ten Existenz gefestigte Mortimer weiß sich »immer« beunruhigt
»durch Augenblicke im Leben, in/ denen der Mensch die Leere
fühlt, die ihn umgibt, wie wenig alle seine Beschäftigungen mit ihm
selbst zusammenhängen« und gegen welchen trügerischen Grund
sich das Glück seiner Ehe zu behaupten hat, durch die »man sich
fest an diese Erde gekettet« fühlt, »auf der man vorher nur Gast
und Fremdling war« (461/2). Eduard Burton, ein Engel der
Freundschaft, fühlt zur Empörung des Tieck-Kritikers Rudolf
Haym 32 , daß es keine Notwendigkeit gibt, die ihn zu sein zwingt,
was er ist: »Von welchen Zufälligkeiten hing es nun vielleicht ab,
daß ich nicht selbst schlecht wurde, und wer steht mir am Ende da-
für, daß ich gut bin, wie ich glaube?«33 - Schließlich verrät sich
auch Karl Wilmont, von dem die treffende Prophetie über Lovells
Zukunft herrührt, an seiner Spradie als zu gut mit der Erfahrung
des Auch-anders-sein-Könnens vertraut, um nur an seinen »Gesell-
schafter« zu denken, wenn er die Potentialitäten eines unbestimm-
baren Wesens erwägt. Sein Brief, der die eignen Formulierungen
durch eine beständige, meist heitere Ironie wieder bezweifelt, be-
ginnt mit einer Frage, die seine Sehnsucht nach Überwindung der
ländlichen Isolation verrät. Seine quälende »Langeweile« rührt aus
der Unzufriedenheit. Unzufriedenheit hat immer Zukunftshori-

244
zonte, aus denen ein Licht auf die Gegenwart fällt, das sie unerträg-
lich macht. Das ständige Planen und Entwerfen, das ihn in seiner
ländlichen Idylle nicht aufgehen läßt; »tausend Mutmaßungen«, die
ihm »durch den Kopf geflogen« sind und von denen »auch nicht
eine . . . eine bleibende Stelle (hat) finden können« (I, 237); endlich
der rasende Sprung von Thema zu Thema, die Bereitschaft, Gesagtes
ganz wieder aufzugeben und durch neue Gedanken zu vernichten,
ohne doch das Alte einer Tilgung für bedürftig zu halten - all
diese Symptome zeigen uns einen Menschen, der die Erfahrung
kennt, daß Sehnsucht die Gegenwart vergällt: Wer sich immer über-
schreitet, kann nie im Augenblick sein Genügen finden.
Den zitierten Äußerungen ist eines gemeinsam: eine unmittelbare,
aller Realisierung vorwegeilende Erfahrung der wesenhaften Kon-
tingenz und Vorläufigkeit dessen, was die Stabilität des Charakters
verbürgen könnte. Lovell schreibt in den ersten Zeilen, durch die er
sich dem Leser vorstellt: »Ich bin nie so aufmerksam, als in diesen
Augenblicken darauf gewesen, wie von einem kleinen Zufalle, von
einer unbedeutenden Kleinigkeit oft die Wendung unsers Charakters
abhängt. Ein unmerklicher Schlag richtet und formt unsern Geist
oft anders; wer kennt die Regeln, nach denen unser schützender Ge-
nius umgewechselt wird?« (I, 242). Diese Erfahrung ist weniger
um ihrer selbst willen beachtlich als durch den Zeitpunkt, an wel-
chem sie ausgesprochen wird: nämlich bevor die eigentliche Hand-
lung des Romans beginnt. Es muß eine Erfahrung sein, die nicht aus
einem Geschehen motiviert zu werden braucht und die aller Erfah-
rung-von-etwas vorangeht. Es ist eine »Ahndung«, eine »Sehn-
sucht« durch die Zukunft aufgeschlossen wird und von der Tieck
häufig versichert, sie sei unbewußt oder >kaum bewußt<. Im Eck-
bert besonders gibt es eine ganze Reihe von halbbewußten Im-
pulsen - »fast ohne daß ich es wußte« (4, 148) - vgl. besonders
Berthas Sehnsucht, die sie aus der Waldeinsamkeit heraus zieht: »Es
war fast, als wenn mein Vorhaben schon vor mir stünde, ohne mich
dessen deutlich bewußt zu sein« (4, 157).
Wir wollen im folgenden diese Erfahrung, Sartre folgend, als
>präreflexives< Bewußtsein (von) Zeit bezeichnen. Es ist eine
menschliche Erfahrung schlechthin, die nicht die gefährdeten Cha-
raktere allein bedroht, sondern ist der trügerische Grund, auf dem
auch die »Gesicherten« aufruhen. Zum Gegenstand der Reflexion
(des »deutlichen Bewußtseins«) wird sie freilich erst durch eine Rea-
lisierung in der Handlung. Wir müssen zusehen, wie Lovell sich
ihrer reflexiv bewußt wird.

245
Der ständige Wechsel und sein Reflex im Stil
(das zweite Paradigma: die >vorschnelle Reflexion<)

Das Unfestgelegte von Lovells Wesen hat seinen Reflex in der


Sprache. Von Brief zu Brief löst sich aus düstern Seelenlandschaften
und Bewußtseinszuständen wie »öde Nacht«, »ängstliche Beklem-
mung« (243), »hohles Echo ohne Trost«, »Jammer«, »einsame
Leere« (ebd.), »Einsamkeit«, »düstre Ahnung«, ja »Verzweiflung«
ein Gefühl »süßer Schwermut« ab, das sich in einen lachenden Him-
mel »in seinem hellsten Sonnenschein« verklärt - eine Wendung
in kurzem, parataktischem Hauptsatzstil, an die sich, wie immer
nach einem solchen Umschlag, eine Reihe paralleler Fügungen iterie-
rend anschließt, die von Erweiterung zu Erweiterung in die neue
Bewußtseinsstellung sich erst einzuüben scheinen: »Die Blumen und
Bäume stehn frischer und lieblicher da, das Gras nickt mir am See
freundlich entgegen, die Wellen tanzen ans Ufer zu mir heran. -
[Und nun, in jäher Verkehrung des Vorigen:] Nein, ich will nicht
verzweifeln, n i e . . . « (I, 251). Nur wenige Zeilen trennen die
»Ahnung«, daß »dieses glühende Herz nach und nach erkaltet«
(244), von der Gewißheit: »Nie [!] werde ich den Blick vergessen,
mit dem sie mich so betrachtet h a t . . . . Tief empfand ich e s . . . ,
daß mir das Andenken an Amalien nie [!] wie ein trüber Traum er-
scheinen wird« (I, 245). - Und da ist auch schon die erste Bekannt-
schaft mit »der flüchtigen Zeit« (I, 242), die solche Widersprüche
vermitteln muß.
Auch dort, wo kein Umschlag der Stimmung manifest wird, wi-
derspricht Lovells Stil dem wirklichen Bewußtsein seines Autors. An
die Geliebte schreibt er mit großer Geste: »O ja, Amalie, Ordnung,
Harmonie ist das große Grundgesetz aller unendlichen Naturen, sie
ist das Wesen, der Urstoff des Glücks, die erste bewegende Kraft« -
dergleichen hastige Appositionen geben jederzeit bei Tieck bedeut-
same Winke auf die Unsicherheit des Schreibers, der den Begriff,
welcher ihm vorschwebt, nicht ganz ergriffen hat und darum erwei-
tern muß - , »auch wir werden von den Speichen des großen Rades
ergriffen, wir sind Kinder der Natur und haben Ansprüche an ihre
Gesetze« (I, 262). Ist es nicht verräterisch für das behauptete Ver-
trauen in diese Ordnung, daß ihr ein der Ausgewogenheit des In-
halts so konträres Bild zugedacht ist wie das von der im Rade um-
getriebenen Bewegung, dem Ixion-Rade, das Lovell bald als Sinn-
bild seines absurden, fortschrittlosen Lebens begreifen wird? Und
wie viel besser gelingt ihm die Beschreibung der Ausgeliefertheit
gegenüber der behaupteten Autonomie des Handelnden im folgen-
den Satz: »Ja, Freund, der Mensch hält gewiß selbst die Zügel sei-
nes Schicksals, er regiere sie weise, und er ist glücklich; läßt er sie

246
aber mutlos fahren, so ergreift sie ein ergrimmter D ä m o n und jagt
ihn frohlockender in das furchtbare, schwarze Tal hinab, wo alle
Geburten des Unglücks auf ihn lauern« (I, 262). Das verrät eine
Bekanntschaft der Seele mit den Möglichkeiten der Verzweiflung,
aber keine Erfahrung von autonomer Lebensgestaltung, die der
Satz doch prätendiert.
U n d wer w ü r d e dem gejagten, hektisch gehetzten Tempo von
Lovells Sätzen, die mit überwachem Bewußtsein geschrieben und
auf jede Veränderung im voraus gefaßt scheinen, die behauptete
Unwandelbarkeit der Liebe abnehmen?

»Als der freie Platz im Walde kam, wo wir Abschied nehmen wollten -
alle Bäume und Hügel schwankten um mich her - eine unbeschreibliche
Angst drängte und wühlte in meinem Busen - der Wagen wollte halten,
ich ließ ihn weiterfahren und so immer in Gedanken von einem Baume
zum andern fort - immer noch eine kurze Frist gewonnen, in der ich sie
sah, in der ich den Klang ihrer Stimme hörte - endlich stand der Wagen.
- Wir stiegen ab. - Sie umarmte ihren Bruder lange Zeit, ich nahte mich
zitternd, ich wünschte diesen Augenblick im Innersten meines Herzens
vorüber, sie neigte sich mir entgegen, ich schwankte und sähe sie an - ich
war im Begriff in ihre Arme zu stürzen ich bog mich ihr entgegen und
küßte ihre Wange - eine eisige Kälte überflog mich - der Wagen rollte
fort.« (I, 245)

Und doch haben wir keinen Grund, an der Realität von Lovells
augenblicklicher Empfindung zu zweifeln. Er trägt seine Absichten
wie an der Oberfläche sichtbar. Ausgeschlossen ist, d a ß er nicht
wirklich empfindet, was er sagt - aber ebenso ist gewiß, daß er
nur das und nichts anderes empfindet, als was ihm dieser Augen-
blick eingibt. Durch ständiges Abwenden seines Bewußtseins von
den Dingen u n d Reflexion auf sich selbst fixiert er allaugenblicklich
seine Gedanken und Gefühle und reiht asyndetisch Widerspruch an
Widerspruch, indem er, unter der Geißel einer übermächtigen Ge-
genwärtigkeit, »stets nach dem Gefühle« handelnd, »das ihn ge-
rade in diesem Momente beseelt und ergreift, das ihn wie ein Gott
im Busen vorwärts treibt« (I, 459), immer sein präreflexives Selbst-
bewußtsein überspringt, jene »schreckliche Unruhe«, die das »Blut
ungestümer durch meine A d e r n . . . jagt« (I, 246). — In ständiger
Verdrängung der wesenhaften Leere seines Herzens flieht Lovell in
die >unreine Reflexion<.
Diese Beobachtung der übermächtigen Gegenwärtigkeit machen
wir allenthalben in Tiecks Werk. Sie besteht immer neben der
Ahnung des Umschlags 34 und ist von dieser, die nicht zufällig das
Attribut »dunkel« hat, durch die Helligkeit des Bewußtseins ge-
trennt, das durch Reflexion sich selbst >feststellt<.
In einem für seine poetische Praxis wichtigen Aufsatz hat Tieck

247
die vom Poetisch-Wunderbaren ausstrahlende Täuschung dadurch
erklärt, daß der Dichter die Fixation des Lesers auf einen bestimm-
ten Gegenstand mit Kunst vereitelt. Die von äußerer Reflexion un-
gestört sich entfaltende Wunderwelt gewinnt von innen her jene
für Tiecks poetischen Stil so typische zaubrische Kohäsion, dadurch,
»daß der Zuschauer nie auf irgend einen Gegenstand einen festen
und bleibenden Blick heftet« - eine beständige »Zerstreuung« ver-
hindert die Anwendung des Kausalgesetzes, jenseits dessen das
Reich des Wunderbaren sich auftut (K.S. I, 65; noch Schopenhauer
und Richard Wagner haben in der »Betrachtungsweise der Dinge
unabhängig vom Satze des Grundes« die Kunst überhaupt ansie-
deln wollen).35 Die »Phantome« der Poesie dürfen nie »zu viele
körperliche Consistenz erhalten und dadurch unwahrscheinlich wer-
den«. - Wie aber erreicht der Dichter das? Durch eine blitz-
schnelle Folge von Kontrasten, etwa des »Fürchterlichen und Lä-
cherlichen«, die Tieck nicht erst in Absicht der poetischen Wirkung
als Gegensatzpaar aufbietet, sondern an sich schon »in der mensch-
lichen/ Seele... so nahe beieinander findet, daß die Phantasie so
gern denselben Gegenstand komisch und entsetzlich macht, und daß
eben das, was jetzt Lachen erregt, bei gespannter Phantasie in
Schauder versetzen kann« (K. S. I, 55/6). Aller Effekt beruht auf
einer so rapiden Abfolge der kontrastierenden (immer in sich selbst
hellen) Phasen, daß der fixierende Verstand ereilt wird und er-
schrickt, noch ehe er versteht (ebd., 63). »Es gehört dies«, erklärt
Tieck nun sehr aufschlußreich, »zur unbegreiflich schnellen Beweg-
lichkeit der Imagination, die in zwei aufeinander folgenden Mo-
menten ganz verschiedene Ideen an einen und denselben Gegen-
stand knüpfen, und jetzt Lachen, und gleich darauf Entsetzen erre-
regen kann« (a.a.O., 56). Die beiden Phasen individuieren und ver-
stärken sich wechselseitig - und gleichwohl bleibt über alle hellen
Bewußtseinszustände der Dämmer des Wunderbaren gebreitet,
durch welchen »die Aufmerksamkeit beständig zerstreut und die
Phantasie in einer gewissen Verwirrung erhalten« wird (a.a.O., 55).
Von hier erklärt sich die Nähe zum echten Traumbewußtsein: »Die
Seele wird« durch ständig vorbeifliegende Kontraste, die den Ver-
stand endlich lähmen, »in eine Art von Schwindel versetzt, in wel-
chem sie sich am Ende gezwungen der Täuschung überläßt, da sie
alle Kennzeichen der Wahrheit oder des Irrthums verloren hat«
(a.a.O., 57, vgl. 25, 208,2 unten). Also ganz aus dem huschenden
Lauf der Zeit wird hier in ingeniöser Weise die Illusion erklärt 36 -
und wir finden aufs genaueste die Technik von Tiecks besten Mär-
chen sowie später in den Dramen die Auflösung der dramatischen
Motivation in eine träumerische Sukzession diesseits von Kausal-
gesetz antizipiert. Einer hinreichend langen Erfahrung erscheint die

248
Wirklichkeit als Traum. Tieck hat die Gleichzeitigkeit von Ver-
fließen der Zeit und ihrer Zerstreuung in einzelne helle Punkte sti-
listisch gestaltet. Man kommt vielen seiner Gestalten durch Annä-
herung nicht näher und kann sie auch durch die exakteste Analyse
nicht als das, was sie sind, erhaschen. Die Ungreifbarkeit ist in
ihnen mitgestaltet. Sie ist mit anwesend in der reflexiven Helligkeit
des Details, des Augenblicks, ihrer Äußerung-in-einer-Situation. Es
ist wirklich die intuitive Anwendung jener Einsicht Solgers (Erwin,
IV, 230), »daß gerade diese Ausführung des Einzelnen auch die
völlige Verflüchtigung und Auflösung desselben herbeiführt«.
Wir wollen dies Stilphänomen »punktuelle LuciditäU nennen.
Offenbar ist es auf eine besondere Weise Ausdruck von Tiecks Zeit-
erfahrung. Eine überwache Reflexion segmentiert den »ununter-
brochenen leisen Fluß der Zeit« (I, 912) in Augenblicke, auf denen
jeweils ein voller intentionaler Bewußtseinsstrahl momentan zu
verweilen scheint, bereit, sich von der kleinsten Veränderung ab-
lenken zu lassen, um aufs neue momentan ganz ins Detail verloren
zu sein, derart, daß trotz der wilden Veränderungen jene punk-
tuelle Lucidität auf jedem der kurzen, parataktisch sich ablösenden
Hauptsätze ruht. Die Sätze verschlingen einander wie die Zeitpha-
sen, deren sprachlicher Reflex sie sind; und nur in dem sprachlich
untergründig mitgestalteten Zukunftshorizont, den jeder Satz, jede
Zeitphase offenläßt, wird das präreflexive Bewußtsein (vom) orga-
nisch-synthetischen Zeitfluß fühlbar. Im Lovell sind die beiden Wei-
sen von Zeitbewußtsein deutlich unterschieden: »Es ist Mitter-
nacht«, schreibt Rosa, »und vom Turme her schlägt es zwölfe. Wenn
ich mir diese Uhr beseelt und verständig vorstelle, so müßte sie
notwendig in der Zeit, die sie nach willkürlichen Abteilungen mißt,
diese Abteilungen wiederfinden, und nicht ahnden, daß es ein gro-
ßer, göttlicher, ungemessener Strom ist, der vorübersaust, kühn und
herrlich und auch nicht eine Spur der kläglichen Einteilung trägt«
(I, 353). Aus der Dynamik von Trennung und Vermischung dieser
Bewußtseinsebenen lebt der Tiecksche Stil.
Ein Beispiel, wie durch die klarsten, kürzesten Hauptsatzpara-
taxen, in denen jedes Detail eigens im Licht zu stehen scheint, ein
Gefühl der Vorläufigkeit sich ausbreitet, das einen Umschlag vor-
bereitet, - ein solches Beispiel ist die Erzählung des unglücklichen
Greene (Dichterleben I; III, 355/6). Dort drängt Tieck in die
größte Einfachheit und Übersichtlichkeit rasch sukzedierender Satz-
Einheiten das Unbegreifliche eines Lebens. Eine scharfe, jede Phase
der Veränderung durchleuchtende Beobachtung wehrt sich gegen
den unkontrollierten Einbruch des Wunderbaren. Und doch ist es
plötzlich da, nicht greifbar, schwer zu zeigen, als eine Stimmung,
erkennbar an der Haltung, die längst auf große Gesten zu verzich-

249
ten gelernt hat, weil sie zu gut weiß, wie sehr auch die subtilste und
verfeinertste Sprache das Rätsel der Zeit nicht benennen kann - es
schlüpft ihr gleichsam durch die Maschen. Eigenschaftswörter sind
selten, die Sätze stark rhythmisch, nur gelegentlich von übersicht-
lichen Nebensätzen erweitert oder durch ein »sei es, daß« - »oder
daß« in eine Schwebe gebracht, meist stürzt die Hauptbetonung
nach vorn, wo gewöhnlich das Subjekt, oft auch (bei gleichbleiben-
dem Satzmetrum) das Objekt, eine Adverbialbestimmung, eine
Konjunktion in häufiger Variation einander ablösen (aus dieser Va-
riation kann eine ganz eigene Verwirrung entstehen) - selten er-
klärt ein »denn« oder ein »aber« die Logik eines Fortschritts. Bei-
spiele von einem Zeitrafferstil wie das folgende sind nicht selten:

»Ich suchte ihre Bekanntschaft, ich verschwieg ihr meinen Namen. Ich
fand sie meinen Wünschen geneigt, ich war auf dem höchsten Gipfel
meiner Seligkeit. Wie arm kam mir mein Leben bis dahin vor, wie ent-
sagte ich allen meinen Schwärmereien! Der Tag unsrer Hochzeit war
festgesetzt.« (I, 918)

oder:
»Das Morgenrot brach lieblich herauf. . . . Die Vögel wurden rege, die
Lerchen jubelten aus den Wolken herab, der Morgenwind schüttelte die
Zweige. Die Schläfer wurden nach und nach wieder wach: der Ritter
fühlte sich gestärkt und munter, der Einsiedler versicherte, daß seine
Wunde nichts zu bedeuten habe. Franz und Rudolph machten einen
Spaziergang durch den Wald.« (I, 911)

Tieck wählt diesen Stil37 für alle direkten Erzählungen, die so


häufig in seine Märchen, Romane und Novellen eingeblendet sind
und die Begegnung mit dem Wunderbaren vermitteln. So erzählen
Bertha, der Tannenhäuser, der Dichter Greene und die alte Gräfin
(Schutzgeist); und immer kontrastiert auf anmutige und zugleich
befremdliche Weise die Bescheidenheit der Diktion zu dem Wunder-
baren, manchmal Unheimlichen ihres Inhalts. Wir hören gebannt
zu, wenn der Tannenhäuser mit der vollkommensten Ökonomie der
Sprache erzählt:
»So mochte ein Jahr verflossen sein, als meine Angst bis zur Verzweiflung
stieg; es drängte mich weiter, weiter hinein in eine unbekannte Ferne, ich
hätte mich von den hohen Bergen hinab in den Glanz der Wiesenfarben,
in das kühle Gebrause der Ströme stürzen mögen, um den glühenden
Durst der Seele, die Unersättlichkeit zu löschen; ich sehnte mich nach der
Vernichtung, und wieder wie goldne Morgenwolken schwebten Hoffnung
und Lebenslust vor mir hin und lockten mich nach. Da kam ich auf den
Gedanken, daß die Hölle nach mir lüstern sei, und mir so Schmerzen wie
Freuden entgegen sende, um mich zu verderben. . . . Da gab ich mich gefan-
gen, um der Qualen, der wechselnden Entzückungen los zu werden. . . .

2J0
Ich . . . rief den Feind Gottes und der Menschen zu mir. . . . Er stand vor
mir, und ich empfand kein Grauen. . . .
Das . . . Lied führte mich über wunderbare Einöden fort, und alles übrige
in mir und außer mir hatte ich vergessen; es trug mich wie auf großen
Flügeln der Sehnsucht nach meiner Heimath. . . .
Wie in einem unterirdischen Bergwerke war mein Weg. Der Weg war . . .
schmal. . . . Ich vernahm den Klang der verborgenen Gewässer, ich hörte
die Geister, die die Erze und Gold und Silber bildeten, um den Menschen-
geist zu locken, ich fand die tiefen Klänge und Töne hier einzeln und
verborgen, aus denen die irdische Musik entsteht; je tiefer ich ging, je
mehr fiel es wie ein Schleier vor meinem Angesichte hinweg.« (4, 208/9)

D a ist eine einzige Bewegung, der sich die Sprache in ihrer syn-
taktischen Organisation flexibel anschmiegt, auf jeden Impuls, jede
Stockung, jede Beschleunigung, jede düstre Reflexion reagierend. D a
ist keine Muße, im Detail zu verweilen und das passende Eigen-
schaftswort zu suchen, sondern die Figuren sind getrieben von einem
rätselhaften D r a n g ; in der Luft liegt immer schon etwas wie ein
Umschlag, der sich in der durchsichtigen Verwirrung des sprach-
lichen Gewebes objektiviert. Schlag auf Schlag lösen die Zeitphasen
einander a b ; indem das Auge sie fixiert, sind sie schon verflüchtigt
und verdrängt, und erst aus der H ä u f u n g von Sätzen für die Be-
schreibung eines und desselben Gegenstandes bzw. dem flüchtigen
Überspringen ganzer Zwischenglieder merken wir, ob der Blick ver-
weilt oder dahinfliegt. Bald spricht ein einziger Satz aus: »So ging
ein volles J a h r hin« ( I I I , 874), bald ist eine einzige Nacht der Ge-
genstand wild wechselnder Gefühle:

»Die ganze Nacht hindurch weint' ich herzlich, ich fühlte mich so außer-
ordentlich verlassen, ich hatte ein solches Mitleiden mit mir selber, daß ich
zu sterben wünschte. Ich fürchtete den Anbruch des Tages, ich wußte
durchaus nicht, was ich anfangen sollte, ich wünschte mir alle mögliche
Geschicklichkeit und konnte gar nicht begreifen, warum ich einfältiger sei,
als die übrigen Kinder meiner Bekanntschaft. Ich war der Verzweiflung
nahe.« (4, 147)

Diese asyndetische Reihung der Sätze, meist ohne logische Ver-


knüpfung durch ein »denn« oder »aber«, hat eine erkenntnistheore-
tische Implikation: Das unmittelbare Erleben ist nicht zunächst lo-
gisch, sondern, wie die Erfahrung des Traums jedermann lehrt, das
Strömende der wirklichen Empfindungen ereilt den Verstand, der in
die Impressionen zunächst nur latent und unbewußt verschlungen
ist. Welch ein Unterschied an Erlebnisintensität ist zwischen den
beiden folgenden Beschreibungen:
Während ich in meiner gänzlichen Trostlosigkeit weinte und schrie, daß
meine Stimme auf eine schreckliche Art in den Felsentälern zurückhallte,
suchte ich, denn die Nacht brach herein, eine Moosstelle, um zu ruhen,

251
konnte aber nicht einschlafen, da ich in der Nacht die seltsamsten Töne
hörte, welche ich bald für wilde Tiere, bald für den Wind, der durch die
Felsen klage, bald für fremde Vögel hielt.

»Ich war ganz trostlos, ich weinte und schrie, und in den Felsenthälern
hallte meine Stimme auf eine schreckliche Art zurück. Nun brach die Nacht
herein, und ich suchte mir eine Moosstelle, um dort zu ruhn. Ich konnte
nicht schlafen, in der Nacht hörte ich die seltsamsten Töne, bald hielt ich
es für wilde Thiere, bald für den Wind, der durch die Felsen klage, bald
für fremde Vögel.« (4, 149)

Vor- und Nachzeitigkeit, die Interrelation der Satzteile ist ohne


Zweifel im ersten Beispiel logisch richtiger gegliedert - aber die
Stimmung unmittelbarer Erlebtheit ist fast ganz verloren. Tiecks
Nähe zu Novalis, der im Unbestimmten das der Seele Heimatliche
(»Vaterländische«), und Friedrich Schlegel, der eine Auszeichnung
seiner Philosophie darin sah, daß sie die »unendliche Fülle« der
»unendlichen Einheit« voranstellte (wir zeigten es), ist nirgends
deutlicher als in der Bevorzugung des unmittelbaren Mannigfalti-
gen vor der logisch geformten Einheit, die Tieck als etwas Nach-
trägliches, Gemachtes erkennt. Die Zeit ist die ursprüngliche Dimen-
sion, die Einheit wird nachträglich gesetzt, und die Dichtung muß
unmittelbar-erlebte Wirklichkeit gestalten. Aber in die präreflexive
Unmittelbarkeit seiner Darstellung mischt sich bei Tieck und seinen
Figuren der Verstand insofern ein, als jeder flüchtige Eindruck für
Augenblicke festgehalten und erst dann wieder losgelassen wird
(eine Einheit im Detail statt im Ganzen).
Diese Auflösung »des ununterbrochenen leisen Flusses der Zeit«
(I, 912) in abgetrennte Segmente38, auf denen je ein voller Strahl
der Reflexion zu ruhen scheint, macht Wesentliches und Beiläufiges
ununterscheidbar.39 Der Verstand hat nicht die Muße, die herein-
stürzenden Impressionen nach ihren Gewichten gleichsam sich ab-
setzen zu lassen; er ergreift sie spontan und versucht, den gerade
jetzt hereinstürzenden Augenblick durch überrasche Reflexion fest-
zuhalten, dem Schicksal des Verfließens zu entreißen, bevor er Op-
fer des nächstfolgenden wird. Aber durch die Klarheit des aufs De-
tail gerichteten Bewußtseins ist gleichsam alle intentionale Kraft
absorbiert und verliert der Verstand die Übersicht über die Tota-
lität aller Phasen - das Ganze eines erlebten Lebens. Das Ganze
einer poetischen Erzählung wird dunkel und geheimnisvoll. Tiecks
Figuren laufen wie durch eine Dämmerung, in der ihr Bewußtsein
nur den eigenen Standort aufzuhellen vermag und über der Freude,
etwas zu sehen, der Verführung erliegt, den Augenblick festzuhalten
und vorschnell zu totalisieren. Von hier erklärt sich auch Lovells
unbedenkliche Verwendung der Zeitadverbien »nie« und »ewig«.

252
Tieck spart in der Tat selten, besonders in seinen Novellen, mit
solchen Attributen, Adjektiven usw., die das Gefühl einer Person
über ihre gegenwärtige Befindlichkeit auf Kosten seiner - vor der
Folie eines ganzen Lebens geheimnisvoll gewordenen - Undurch-
dringlichkeit ins hellste Licht stellen und hinter denen nichts Ver-
stecktes zu suchen ist. Jedes Gefühl ist bis ins letzte penetrabel:
Man schenkt »mit vollem Herzen«, freut sich »ehrlich«, antwortet
»verdrießlich«, erlebt mit »echter« Teilnahme und kommt dem Le-
ser mit dem Lachen und Weinen zuvor, wenn etwas Lächerliches
oder Trauriges vorfällt (vgl. III, 360, 162/3) u s w - _ m a n «>*»jS je-
derzeit, wie einem gerade zumute ist: und eben daraus, aus lauter
hellen, nicht kausal untereinander verbundenen Augenblicken ent-
steht die Undurchsichtigkeit eines bewußt gelebten Lebens.
Tiecks Sätze scheinen sich gegen eine Stabilität aufzubäumen, die
in ihnen als Resultat einer scheinhaften Orientierung besteht, und
werden unversehens durchsichtig für das in ihnen einzig »Bestän-
dige«, nämlich diese »unglückselige Unbeständigkeit« (I, 873). Wie
ein Schleier breitet sich unversehens das Rätsel der Vergänglichkeit
über die funkelnden Lichter. Es ist die Atmosphäre, die das Erleb-
nis des Wunderbaren vorbereitet.

Der Widerstreit von Zeitbewußtsein und Zeitverdrängung

Kehren wir zurück zur Analyse des Lovell. Wenn sich der Ro-
manheld des wunderbaren Widerspruchs bewußt wird, der eine Er-
fahrung von der nächsten trennt, so reflektiert er mitunter wirklich
auf die Zeit selbst, die diesen Wechsel bewerkstelligt hat. Aber er
reflektiert auch hier unrein und totalisiert vorschnell. Die Erkennt-
nis, aus tausend Täuschungen als Resümee formuliert: »Man sollte
gar nichts in der Welt ernsthaft nehmen« (I, 563), hält ihn nicht ab,
bald wieder in der Autonomie der Lebensgestaltung einen Sinn zu
fixieren: »Es soll. . . anders werden! Es muß sich ä n d e r n ! . . .
Es ist endlich Zeit, daß ich mich zusammenraffe« (I, 619). - Lovell
weiß schon nicht mehr, daß er in den ersten Seiten seines Briefwech-
sels ähnlich gesprochen hatte (I, 262). Oder: Lovell gesteht: »Ich
bin wandelbar wie Proteus oder ein Chamäleon« (I, 585), er er-
kennt sogar hierin sein Unglück, erklärt die Verlogenheit des ein-
fachen Lebens aus einer Verdrängung der Freiheit (I, 460) und
schreibt doch in der Überzeugung des Augenblicks: »Ach..., wie
wenig braucht der Mensch, um glücklich zu sein!« (I, 424). Wenige
Zeilen weiter liest sich das aber so: »Mein Leben ist ein rastloses
Treiben ungestümer Wünsche, wie ein Wasserrad [wieder die Rad-
Vorstellung] vom heftigen Strome umgewälzt, jetzt ist das unten,

253
was eben noch oben war, und der Schaum der Wogen rauscht und
wirbelt durcheinander, und macht den Blick des Betrachtenden
schwindlicht« (I, 425). Das glückliche Leben bleibt Ausblick und
Entwurf in eine unbeschreitbare Zukunft. Auch die Reflexion auf
den Unbestand seiner Reflexionen - ein Akt, durch den er seine
Situation schlaglichtartig aufhellt - enthebt Lovell nicht dem Teu-
felskreis der Orientierungslosigkeit im Ganzen seines Lebens.
In Paris hat er kaum die Bekanntschaft der Comtesse Blainville
gemacht, als er dem Freunde in die Heimat schreibt: »Ein böser
Dämon verfolgt mich in der Gestalt eines Engels, um Amaliens Bild
aus meinem Herzen zu reißen« (I, 280). Die eigene Freiheit, die
Lovell hellsichtig als eine »Last« erkennt (I, 459), wird verdrängt
und einer magischen anonymen Macht, die nicht er selbst ist, zuge-
sprochen. »Aber dieser Versuch«, fährt Lovell fort, »wird in Ewig-
keit nicht gelingen, ich bleibe ihr und meinen ersten, meinen schö-
nern Gefühlen treu« (ebd.). - Nicht erst die folgende Beschreibung
der Comtesse, die Lovell, ohne daß er selbst davon weiß, in sie ver-
liebt zeigt, ist notwendig, um seine Gefährdung zur Untreue zu ent-
hüllen. Sie steckt schon in der Versicherung der Treue auf Ewigkeit.
Und vollends gelöst von seiner alten Bindung zeigt sich Lovell
durch den Satz: »Ihr [der Comtesse] ganzes Wesen h a t . . . einen ge-
wissen Zauber durch Bizarrerie und Pracht, wogegen Amaliens stille
Schönheit für die Phantasie gleichsam in den Schatten tritt«
(I, 281). Ein nachträgliches »Nie« und ein »Ewig« machen eine Un-
treue nicht mehr ungeschehen, über deren wahre Ursache sich Lovell
wirklich im unklaren ist und die ihm in der Folge die qualvollsten
Zweifel an seiner Identität zuführen und ihn an die Grenze des
Wahnsinns bringen: die Untreue liegt nicht in der Bizarrerie der
Comtesse, auch nicht in der Unrichtigkeit eines Vergleichs mit der
stilleren Schönheit Amaliens. Sie steht im Hintergrund eines Ent-
wurfs, der sich von der eigenen Liebe gelöst hat und durch eine neue
Verliebtheit hindurch Bedeutung stiftet, die nicht in den Dingen
selbst liegen, sondern aus einer wesensmäßigen Zukünftigkeit des
Bewußtseins herrühren, das sich unaufrichtig mit seiner eigenen
Vergangenheit identifiziert. Lovells Erkenntnis der Schönheit Loui-
ses enthüllt sich nur durch eine bestimmte Absicht hindurch, die sich
nicht über sich selbst aufklärt.
Nicht lange, so hat Lovell eine neue Reflexion angestellt, durch
die er sich von der Realität seiner Verliebtheit in die Comtesse über-
zeugt. Dadurch werden seine zwei Leidenschaften zu simultanen
Objekten seines Bewußtseins, die nicht zugleich darin bestehen kön-
nen, weil Lovells Bewußtsein ja zur Identifikation gezwungen ist;
und er begeht den gleichen Irrtum, der seine Leidenschaft partout
durch den Entwurf einer »ewigen« Liebe zu Amalie hindurchsehen

254
mußte, nun in umgekehrter Richtung gegenüber Amalie. Er ist jetzt
keineswegs, wie man glauben könnte, blind gegen deren »stille
Schönheit«, glaubt sich auch (durch reflexives Bewußtsein) nicht
gänzlich von ihr getrennt: »Soll ich dir sagen, daß ich treulos bin?
Treulos? Das Wort hat keinen Sinn, sie ist meinem Herzen so un-
entbehrlich wie je« (I, 289). Aber, indem er diesen Satz nieder-
schreibt, hat sich Lovell Schon als von Amalie Getrennten gewählt
und hypostasiert wieder seine lästige Freiheit zur kosmischen
Macht: »Welche Macht ist es, die uns« - nämlich ihn und die Blain-
ville - »zueinander führt?« (ebd.). Wenn es nicht Lovells Ich ist,
das die neue Verliebtheit stiftet, so muß es eine anonyme Macht
sein, der er ausgeliefert ist und der er, seiner Freiheit zu entfliehen,
Kausalität zuschreibt. Nicht er ist es, der sich für Amalie entschei-
det , sondern »Amaliens Andenken hielt mich grausam zurück«

Diese Unentschiedenheit ist dem Verstände unerträglich, und Lo-


vell ist zu einer zweiten unaufrichtigen Reflexion gezwungen, die
ihn mit seiner neugefaßten Leidenschaft identifiziert und ihm den er-
staunlichen Irrtum in die Feder diktiert: »Die Erinnerung an Ama-
lien erscheint mir wie in einer nächtlichen neblichten Ferne; ich habe
sie nie geliebt« (I, 299. »So ist mir der Name Amalie fremd gewor-
den« (I, 378) kann er später sagen).40 Treibt ihn wirklich eine
»dunkle Macht«, wie kann Lovell sie dann »Ich« nennen? Die ge-
genwärtige Verdrängung seiner Freiheit führt in neue Aporien.

Das Vergessen und seine Paradigmata - die Frage nach der


Identität des Bewußtseins

»Vergessen«, das ist der Ausweg, den Lovell und eine Reihe an-
derer Gestalten aus Tiecks Dichtung wählen. Nicht immer ist das
Vergessen Resultat einer Absicht; wohl aber stehen in Lovells Ab-
schiedsbrief an Amalie die Sätze: » A l l e . . . Träume sind nun aus-
geträumt . . . - Vergessen Sie mich, denn ich selbst arbeite schon
daran, mich zu vergessen« (I, 367).
Wie können wir uns diese Eskalation von Fluchtreaktionen er-
klären, die endlich zum Vergessen drängen? Lovell realisiert seine
innere Unbeständigkeit zwar als Zeit, aber er sucht die Zeit im Ge-
sicht der Dinge, nicht in seinem Herzen: »Es ist die Zeit, die auf
ihrem Wege durch die große weite Welt auch durch unser Inneres
zieht und dort alles auf wunderbare Weise verändert.« Dies Adjek-
tiv »wunderbar« steht, charakteristisch genug, für das Unvermö-
gen, die Weise der Veränderung von innen her zu begreifen. »Ver-
änderung ist die einzige Art, wie wir die Zeit bemerken« (I, 495;

25J
vgl. 5,34; I, 929; 5,79/80). Statt sich als Grund der Veränderung
zu ergreifen und wirklich »in den Griff zu bekommen« — derglei-
chen Wendungen sind in Lovells Munde rein rhetorisch, so sehr sie
auch sein präreflexives Selbstbewußtsein durchleuchten - , erfaßt
sich Lovell als von einer objektiven Entität, »Zeit«, durchwaltet,
die er zunächst als objektive, an sich seiende Veränderung (seines
eigenen objektiven Seins und der Dinge außer ihm) bemerkt. Es ist
nur konsequent, wenn er solange nie auf Schuldgefühle stößt, als
er sich bloß »verändert« fühlt und nicht »sich verändert« (>gezei-
tigt<, nicht >sich zeitigend<). Freilich, alle diese Briefe sind voller
Fragen und Geständnisse, voller Gewissensbisse und trotziger Leug-
nungen. Sie verraten das Dilemma, in das sich Lovell durch seine
unreinen Reflexionen bringt: Sie sind Versuche, sich im Wechsel als
Identität zu behaupten. Gelingt es ihm, sich als »Verändertem« eine
reine Passivität nach Art der Dinge zuzuschreiben (und die Tat-
handlung der Wahl zu vergessen, durch die er sich selbst als Passivi-
tät realisiert), so bleibt er mit sich selbst identisch, wie die Dauer
mit sich selbst identisch bleibt. Nun bietet sich eine Möglichkeit, sich
seiner Selbstentzweiung zu entledigen: Die Liebe zu Amalie wird
eine objektive Entität und ebenso seine Liebe zur Blainville. Diese
Unentschiedenheit verwandelt sich in das objektive logische Gesetz
vom ausgeschlossenen Dritten und zwingt den Verstand, sich für die
Blainville zu entscheiden. Das Bewußtsein hat ein Alibi: Es war
keine Freiheit im Spiel. Eine »fremde Macht«, nicht Lovell bewirkte
die Untreue. Der Entwurf ist ausgeklammert. Amalie ist zur Ver-
gangenheit geworden. Sie ist nicht mehr und muß vergessen wer-
den. Lovells Bewußtsein hat seine Identität gerettet.
Die beschriebene Flucht wäre vollkommen, wenn sich auch jenes
ganz unmittelbare (unreflektierte) Zeitbewußtsein, die »Ahndung«,
ausklammern ließe, die Lovell ständig den Wechsel, den Umschlag
seiner Gegenwart in deren Anders-Sein antizipieren läßt, noch be-
vor er irgendeine Spur von Veränderung erfährt. Es ist abzusehen,
daß seine unaufrichtige Reflexion mißlingen und daß die zerstörte
Gleichzeitigkeit zweier Entwürfe sich in ein Kausalverhältnis ver-
zaubern wird, durch welches die vergangene Liebe einen magischen
Einfluß auf Lovells Gegenwart gewinnt. Das ist ein unbeabsichtig-
ter Effekt, gewiß: Die ehemalige Spontaneität, durch die sich Lovell
einmal für die Liebe zu Amalie entschieden hat, wird unter dem
versteinernden Blick der unaufrichtigen Reflexion zu einer Tätig-
keit-an-sich (einer seelischen Entität, die nicht wesentlich von einem
vergessenen >Ding< unterschieden ist). Als Tätigkeit-an-sich hat sie
die Gesetze der objektiven Welt assimiliert und durchwaltet nun
rätselhaft jenes »seltsame Ich« (I, 691), das Lovell gleichzeitig nicht
zu sein braucht und das seine Freiheit entlastet. Sein Bewußtsein,

256
daß er nicht mit sich befaßt ist, muß Lovell freilich verdrängen; es
hat keinen Ort in seiner Welt, es ist ein utopisches, chimärisches Be-
wußtsein.
»Bei Dir«, schreibt Balder mit Kritik, »stirbt die Liebe mit der
Gegenwart der Geliebten« (I, 291). Er hat recht, was Lovells aktu-
elles Bewußtsein zu lieben betrifft. Als Vergangenheit ist diese Liebe
gerade zur psychischen Wirkungsmacht geworden, die stets hinter
dem Rücken seiner Entwürfe lauert, Lovells Leben verunsichert und
seine Freiheit >enteignet<. Sein Bewußtsein ist nun erst recht in Ge-
fahr, zersprengt zu werden.
Das Vergessen kann also einen therapeutischen Zweck erfüllen:
es rettet für Augenblicke die Identität eines Wesens, das seine Ver-
änderbarkeit nicht mit der Einheit seines Ichs vereinbaren kann.
Einige der Tieckschen Figuren »arbeiten daran, sich zu vergessen«
(wie Lovell); viele ertappen sich dabei, daß sie sich tatsächlich ver-
gessen haben, d. h. daß sie mit demjenigen Ich, das sie noch vor we-
nigen Augenblicken selbst waren, durch keine Erinnerung mehr ver-
bunden sind; andere scheinen sich selbst zu entgleiten, und plötzlich
kommt ihnen dasjenige, was sie bisher >Ich< nannten, wie etwas
Fremdes entgegen; andere wiederum erschrecken, daß die elimi-
nierte Dimension der Vergangenheit unversehens eine magische Ge-
walt über ihre Gegenwart gewinnt, an der ihre Freiheit zuschanden
wird. Wir wollen für jedes der drei Paradigmata Beispiele anführen
und die Genese der unvermeidlichen Katastrophe auf ihre einheit-
liche Struktur hin untersuchen.

Der Verlust der Erinnerung

Einer von Tiecks letzten Beiträgen für die Straußfedern (Ein


Tagebuch, 1798) macht sich durch die Inkonsistenz der Gedanken-
folgen einen tiefsinnigen Spaß mit dem aufgeklärten Leser. Das Ich
des Tagebuchautors ist so »inkonsequent«, daß gerade durch die
aufgeklärt-realistische Tendenz, ein wahrer Seismograph der Emp-
findungen zu sein, aus dem Tagebuch ein höchst verwirrtes Gebilde
entsteht. Alle Absichten, deren sich der Autor versichert, sind ihm
unversehens entglitten (vgl. 15, 293/4). Da sich diese Erfahrung
samt den daran geknüpften komischen Reflexionen überall wieder-
holt und keine bestimmte Empfindung nicht schon den Keim ihres
Umschlags in sich trägt, entfremdet die Reflexion auf diese Inkon-
sistenz den Autor von allen seinen Gedanken, die er als wahr nur für
den Augenblick des Entwurfs selbst erkennt. Jede Wahrheit hat nur
eine punktuelle Lucidität. In einer Meditation steht mitten im
Satze, in Klammern eingerückt: »das ist/ alles bloß in diesem

2J7
Augenblicke wahr, in welchem ich schreibe, das weiß ich schon vor-
her« (15, 301/2). Das präreflexive Bewußtsein der Vorläufigkeit
aller realen Aussagen des Bewußtseins und über das Bewußtsein
hat seine Veränderung schon immer vorweggenommen. Der Blick
ist in die Zukunft gerichtet, die Schelling das »eigentlich Zeitliche in
der Zeit« (I, 6, 275; I, 7, 238, CCXIV) nannte, weil aus ihr die
Gegenwart beunruhigt wird, wohingegen der Vergangenheit, die
der Tagebuchautor nicht von ungefähr dauernd vergißt, all das-
jenige zugeschrieben werden kann, von dem wir sagen: >das ist<.
»Ich weiß mich kaum noch des gestrigen Tages zu erinnern«,
schreibt Lovells Vater, »in der Zukunft wandelt mein Geist«
(I, 458). Es ist die Situation aller Tieckschen Helden, die von der
Veränderbarkeit ihres Wesens viel tiefer beeindruckt sind als von
dem, was sie sind (gewesen sind).41 So auch der Tagebuchautor.
Er wagt schließlich kaum eine Wendung mehr zu notieren, die nicht
das Bewußtsein ihrer Vorläufigkeit in die Formulierung selbst auf-
nimmt: »Ich muß nur das Licht ausputzen, sonst schreib' ich bis
morgen früh. - Aber -« und damit bricht er ab und eröffnet die
leere Aussicht auf die Möglichkeit einer sinnvollen Gegeninstanz
gegen seine Entscheidung; eine die Gegenmöglichkeit schon einlas-
sende Vorwegnahme des zukünftigen Wechsels in seinem Urteil.
Diese Gegeninstanz meldet sich prompt mit komischer Pünktlich-
keit am nächsten Morgen zu Wort: »Ich hatte wirklich unbeson-
nenerweise« — und doch mit der vollsten Besinnung einer punktu-
ellen Überzeugung - »das Licht frischweg ausgeputzt, aber wie ich
die ganze Nacht habe büßen müssen! Noch nie habe ich einen sol-
chen Trieb zum Schreiben empfunden, Ideen kamen mir auf Ideen,
so daß ich mich vor meinem eigenen Gedankenreichthum gar nicht
zu lassen wußte, und darum«, so versucht unser Autor seine Ver-
gangenheit mit der Gegenwart zu verknüpfen, »und darum will ich
auch jetzt am Morgen gleich weiter schreiben - « (15, 303). Es ge-
lingt nicht:
»Aber nun ist alles fort, denn so um drei Uhr schlief ich ein, und da hab'
ich meine schönsten Antithesen wieder weggeträumt. Nein! Ich kann mich
durchaus auf nichts besinnen!« (ebd.)
Was bleibt übrig, als diese Erfahrung der Inkohärenz durch eine
übergreifende Reflexion zum festen Bestand des Wissens zu machen
und die fehlende Kausalität der Vergangenheit durch einen will-
kürlichen Entwurf zu ersetzen:
»Künftig will ich mir ordentliche Fächer für meine Gedanken einrichten,
wo ich gleich alles hineinwerfen kann, was mir einfällt.«
Die Ironie will es, und »das Wichtigste war«, daß es sich ausge-
rechnet um »mancherlei vernünftige Vorsätze« handelt, die der ver-

258
geßliche Autor gefaßt hatte. Gerade dasjenige also, was er sich un-
ter dem Eindruck des Vergessens vornimmt, ist selbst ein Vergesse-
nes geworden (ebd.)!
Das Lachen des Lesers entdeckt die traurige Wahrheit, daß Ent-
schlüsse, die ich gestern gefaßt habe, mich heute nicht mehr binden,
wenn ich sie nicht durch freie Tathandlung wieder zum Leben
bringe. Zwischen dem Entschluß und seiner Ausführung besteht
keine Kausalverknüpfung. Das ist eine unabweisliche, aber sehr
folgenreiche Entdeckung, die der brave Theaterbesucher Fischer
durchaus nicht wahrhaben will, wenn er kritisiert, daß der König
im Stück (Gestiefelter Kater) seinem Charakter doch nicht einen
Augenblick getreu bleibe und immer zu vergessen scheine, was er
zuvor beschlossen (5, 213).
Noch absurder als im vorgeführten Beispiel vergißt sich der
Tagebuchautor, als er sich eine Forderung zum Duell aufbürdet. Da
sitzt er verwundert über der Schreibfeder und hat den genauen
Hergang und Anlaß des Streites vergessen, der seinem Leben ein
Ende setzen kann: »Ich begreife... nicht, wie es dazu kam; ich
kann mich gar nicht mehr erinnern» (15, 358)."
Die Leichtigkeit, mit der dieses >Tagebuch< Gedanken aufwirft
und stehen läßt, ohne sie weiter auszuführen, verrät einiges über
die geistige Haltung seines Verfassers. Man kann noch wieder alles
zurücknehmen, »nachdem man es versteht« (15, 300). Tieck bringt
Fragen aufs Tapet und läßt sie offen. Aber diese Fragen künden oft
von einer ungewöhnlichen Sensibilität und einer unerhörten Geistes-
gegenwart in des Wortes eigentlicher Bedeutung. Die Leichtigkeit
der Behandlung darf über den Ernst dessen, was in Frage steht,
nicht hinwegtäuschen, und ebensowenig über die außerordentliche
Erlebnisfähigkeit. Sie ist weniger ein Vermögen der Produktion un-
gewöhnlicher Einsichten als eine Begabung, durch all das, was dem
Bewußtsein Gegenstand wird, hindurchzuschauen auf das unverfüg-
liche, unserer Einflußnahme enteignete Schicksal dieses Bewußtseins
selbst. Dieser Blick dringt durch die Inhalte, die sich notwendig
entleeren, auf die Bewegung vor, als welche sich das Bewußtsein
selbst ständig überholt und über seine eigene Objektivität unbe-
greiflicherweise hinwegzusetzen gezwungen ist.
»Ich verliere mich immer in Gedanken, die ich anfangs gar nicht
gesucht habe: ein schlimmer Erfolg des Nachdenkens» (15, 354),
schreibt der Tagebuchautor. Er vergißt sich ständig und weiß dar-
um. Er schreibt über die »Langeweile« in einer gewissen Absicht:
»Doch ich vergesse«, unterbricht er seinen Gedankenfluß, » . . . daß
ich nur so über die Langeweile schreibe, um mir die Langeweile zu
vertreiben« ( I J , 355). Im Licht einer bestimmten Absicht (Vertrei-
bung der Langeweile) wird der bestimmte Inhalt (der Exkurs über

259
die Langeweile, über welchem die Absicht vergessen wird) nichtig.
Der Stil des Tagebuchs ist Reflex eines sich in zunehmendem
Maße der Regeln des begrifflichen Fortschritts begebenden assozia-
tiven Denkens. Das Schicksal keines angefangenen Satzes läßt sich
im voraus absehen. Die Sprache gibt und nimmt zugleich, weil der
Entwurf, der sie im Fluß hält, über der Ausgestaltung erlahmt und
sich in jäher Abwendung anders entscheidet. Betrachten wir einen
Passus wie den folgenden:
»Die Eifersucht hat darum etwas Bezauberndes, erstens, weil kein Mensch
von ihr frei ist [das läßt man sich noch gefallen], und zweitens, weil sie
am besten den Menschen ausdrückt [das erscheint, weil ihm gar kein Argu-
ment nachfolgt, wie in den Wind geredet], und drittens, weil alle andere
Leidenschaften in ihr zusammentreffen [diese Behauptung steht so völlig
unbegründet in der Luft, daß ihr argumentativer Wert, so sinnvoll sie
sonst sein mag, gleich Null ist]. Viertens, - nein, ich irre mich doch wohl,
mehr Gründe hau' ich nicht, und vielleicht sind die drei schon zu
viel.« (15, 323)
So löst sich die Gedankenverbindung schon über dem Aussprechen
in ihre Bestandteile auf, die Konsequenz wird vergessen und
schließlich der ganze Gedanke mitsamt der Absicht, die ihn auf-
stellte, als womöglich grundlos aufgegeben. Das ist wie mit einer
jener ätherischen Tuschen geschrieben, die bald nach der Berührung
mit dem Papier wieder verdunsten.
Der Stil ist gehetzt, springend: »Nein, da haben wirs« (324),
»Nein, so etwas ist noch gar nicht erhört« (325) usw. »Ich sitze hier
auf der ersten Station und schreibe meine Empfindungen nieder.
. . . Aber ich empfinde nichts besondres« (327), - sondern, möchte
man ergänzen, alles, und alles ist nicht auszusprechen, es sei denn,
die Sprache besänne sich der ihr immanenten Möglichkeit, jeden be-
sonderen Inhalt, den sie hervorbringt, nicht zu meinen und auszu-
löschen.43 Dadurch allein entsteht wirklich die Einheit in diesen
sonst schlechterdings zusammenhanglosen Aufzeichnungen. Es ist
die Kontinuität einer ironischen Form, die ihre Gehalte zum Ver-
schwinden bringt und in der Vernichtung für sich selbst durchschei-
nend macht. Die Ironie ist das ständige Bewußtsein jener das Tage-
buch in jedem Satze beunruhigenden und überschreitenden Frage:
»Was wohl aus unsrer jetzigen Gegenwart würde, fragte idi ihn,
wenn hundert Jahre verflossen wären?« 44 (333). Die Wirklichkeit
der alles verwandelnden Zukunft ist so vorrangig wichtig geworden,
daß sie Gegenwart und Vergangenheit auslöscht, alle Entwürfe
lähmt, indem sie auch das Entworfene schon mit dem Futur-Perfekt
des >Wird schon gewesen sein< einholt und der Vergessenheit über-
antwortet.44»
Das radikale Vergessen versucht sich an die der Zukunft geöff-

260
nete Gegenwart zu klammern und von der Vergangenheit ganz los-
zutrennen. Die zusätzliche reflexive Zerteilung des Erlebnisflusses in
Phasen zerstört die Einheit des Bewußtseins. Nur das verdrängte
unmittelbare Zeitbewußtsein gewahrt sie. Absichtlich unbeachtet,
hört es nicht auf, als unmerklicher Fluß die Phasen zu unterminie-
ren.
Die Unmöglichkeit, beide Weisen von Bewußtsein zu vereinigen,
führt auf quälende Zweifel an der eigenen Identität, die jäh erlebt
werden, bevor eine neue Reflexion sie in verfügbares Bewußtseins-
material umschmilzt.
So wird der Melancholiker Balder wahnsinnig, weil er das Be-
wußtsein seiner verlorenen Liebe nicht mehr mit seinem von dieser
Liebe getrennten gegenwärtigen Bewußtsein identifizieren kann:
Sein Geist spaltet sich buchstäblich in Erinnerung an die verlorene
Liebe und ständige Antizipation der Verwesung. Wie Friederike in
der Blaubart-Erzählung glaubt er im Grunde »an die unwandelbare
Dauer meiner Gefühle« (9, 157). Das ist freilich nur eine andere Art
von Unaufrichtigkeit. Balder tadelt, daß Lovell seine Liebe »ver-
gißt«, und behauptet, die Liebe sei allemal »eben dadurch Liebe,
daß sie gänzlich unsern Busen füllt« (I, 291). D.h. er tut so, als
gäbe es ein Bewußtsein, welches ist, was es ist, ohne »Leere«; als sei
ein Bewußtsein denkbar, das nicht zugleich von sich selbst getrennt
und über sich hinaus ist. - Neben diesem Glauben führt die Er-
fahrung der Getrenntheit des Bewußtseins von sich selbst ein unbe-
einträchtigtes Eigenleben. Das Bewußtsein, daß alles zunichte
wird, steht scheinbar in keiner Verbindung zum blinden Glauben
an die »gänzliche« Ausfüllung des Bewußtseins (zu) lieben durch
seinen Inhalt: die Liebe — obwohl es zugleich das Wissen von ihrem
Verluste ist. Beide Zustände müssen sich aber notwendig zerstören,
und an dieser Unverträglichkeit scheitert Balders Lebenslüge.
»Jetzt ist nicht immerdar«, lehrt die unheimliche Haushälterin
Mechthild (Die sieben Weiber des Blaubart), »und kein einziger
Augenblick hängt mit dem folgenden zusammen. Unser Wille wech-
selt; was wir jetzt selber sind, ist im nächsten Augenblicke unser
ärgster Feind, den wir verachten und hassen, und dann kehrt jenes
Selbst wieder zurück45, und so wanken wir hin und her, ein ewiger
Aprilwechsel« (9, 156/7).
»Wir selber« - »jenes Selbst« entschwindet uns auf Augenblicke,
weil es sich durch vorschnelle Reflexion mit einer Phase identifiziert,
die dann überschritten wird. Also vergeht es selbst mit der Phase,
an die es geknüpft war, und wir sind plötzlich nicht mehr wir
selbst, bis auch die neue Phase überschritten wird und wir uns
>rückidentifizieren< mit dem, was bis vor kurzem für eine für im-
mer überwundene, tote, vergessene Vergangenheit gehalten wurde.

261
Diese >Hin-und-her-Direction<, deren merkwürdige Bedeutung
schon Novalis auffiel, hat etwas zu tun mit der Frage nach der
Identität des Bewußtseins, das sich zugleich »Ich« nennt und aus
sich heraus-gesetzt fühlt (I, 468). Im Tagebuch scheint alle Hoff-
nung, die eigene Identität zu retten, aufgegeben. Aber ohne die
Einheit eines Bewußtseins wäre ja das ganze Tagebuch, in wie zer-
streuter Form auch immer, nicht zustandegekommen. Es ist die Wi-
derlegung der angeblichen Selbstvergessenheit. Zwischen des Autors
Vergangenheit und seiner Zukunft besteht ein merkwürdig dynami-
scher Zusammenhang. Tieck stellt die innere Pluralität seines Ver-
fassers durch den etwas handgreiflichen und der Nicolaischen Muse
angemessenen Trick her, daß jener sich innerlich dreiteilt und durch
sein Ich allein die Synthese seiner inwendigen Gegensätze bewerk-
stelligt. Bis zum Schluß wird nämlich nicht ganz deutlich, ob der
Maler Martin, Ferdinand und Martin Wertheim nicht er selber sind
(15, 362). Hieß es doch, gleich eingangs, nicht von ungefähr: »Es
sind zwei Prinzipe in mir, die ein drittes (das, wie ich glaube, ich
selbst bin) ordentlicherweise zum Narren haben -« (a.a.O., 302).
Und das Sujet zu jenem Narren, dessen Porträt zu zeichnen (er ist
also selbst Maler) ihm der testamentarische Wille des verstorbenen
Onkels zur Pflicht gemacht hatte, findet der Autor nach gründlicher
Suche schließlich in sich selbst (362), nachdem er zuvor den Maler
Martin und Martin Wertheim des Porträts für würdig erkannt
hatte. - Die durchsichtige Moral verschleiert aber nur fadenschei-
nig die erregten Lovell-Fragen: »Wer ist jenes Ich, dem es so vor-
kömmt?« (I, 613) und »Wer bin ich denn?« (I, 723; 468; vgl. I,
691). Die eigene Identität steht in Frage und kann zugleich nicht in
Frage stehen. Denn wer soll sie in Frage stellen, es sei denn sie
selbst?

Selbstentfremdung - das sich entgleitende Ich

In den Dichtergestalten Marlowe und Greene (Novelle Dichter-


leben I, 1826) hat Tieck zwei Weisen der Gefährdung des Künst-
lers (vgl. III, 1081) dargestellt, die in Shakespeare's Werk, wie
Tieck es versteht, harmonisch synthetisiert und aufgehoben wer-
den.
Greene ist eines der zahlreichen »unbefestigten Gemüter« im
Tieckschen Qiuvre, »das sich nur im Hin- und Herschwanken seiner
selbst bewußt wird«: »Deine Tugend«, spottet Marlowe, »ist ein
Tagesschmetterling, der das Abendrot nicht leuchten sieht. Wenn
ich dich noch einmal stark und konsequent sehen sollte, so würde
ich ohne Bedenken alle Wunder glauben« (III, 337).

262
Eine Geldspende durch einen Kunstmäzen setzt den verschulde-
ten, von seiner Familie unter schimpflichen Umständen entflohenen
Greene in die Lage, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen.
Aber schon in der ersten Verführung, die seinen Vorsatz in Gefahr
bringt, erfährt er jenes >Nichts<, das ihn an einem Rückfall in sein
früheres Dasein hindert, und vergißt sich.
Ist derjenige, der im Wirtshaus sitzt und sein jüngstes Versagen
dem Freunde Marlowe anvertraut, derselbe Greene, der mit den
herzlichsten Gefühlen zu einer würdigeren Existenz entschlossen
war? »Wie ich nach meiner Bekehrung zur alten Wildheit wieder
habe umsatteln mögen?«, so leiht Greene rhetorisch dem Freund
die Frage und erzählt statt einer Antwort die Geschichte von einem
»so wilden Hengst, daß ihn kein Mensch reiten konnte«, auch der
Kräftigste und Geschickteste »brach den Hals« (a.a.O.). Aber, von
einer unbegreiflichen Laune geplagt, habe sich Greene selbst auf das
Pferd geschwungen, sei im Sturmlauf fortgeschleudert worden,
»und die unsinnige Kreatur hatte zwei von den vier Beinen ge-
brochen«.
Die Parabel ist durchsichtig. Über den wilden Golo (Genoveva)
sagt der einfältige Dietrich: »Wenn er nur nicht so unbändig ritte«
(2, 15). Und der seiner selbst nicht mächtige Lovell hat die Vision:
»Schon seh ich die wilden Pferde die Zügel zerreißen, rasselnd sprin-
gen sie mit dem Wagen den schroffen Felsenweg hinunter, in den
Klippen zerschmettert liegt das Fuhrwerk da« (I, 368). Ähnlich hat-
te Goethes Egmont gesprochen, ähnlich verhängnisvoll sind noch die
wilden Pferde in Kafkas Landarzt. Es geht um die Einheit der Per-
son. Bin es wirklich ich selbst, der handelt, oder geht es - wie die
Redensart anschaulich macht - >mit mir durch<? Was ist dann jenes
merkwürdige »Es«?
»Sage, Marlowe«, fragt Greene, »sind wir es selbst, die solche
weise Streiche ausführen?« Und aller Ernst seiner Ratlosigkeit
schlägt durch in dem Argwohn: »und wenn wir es nicht sind?«
(III, 406). Greene bekommt es in seinem Leben zu spüren, daß er
nicht einfach er selber ist. Als er (vom alten Wirt) mit Namen
»Herr Greene!« gerufen wird, antwortet er: »Greene? — Der ist
nicht hier -« (III, 413). Ich ist ein anderer: »Jener Greene war ein
anderer..., als dieses Phantom. Du kommst viel zu spät, wenn du
jenen suchst« (III, 414). In dem »ich war - ich hatte« (III, 522, vgl.
19, 241 u.) liegt alle Wahrheit der Selbstentzweiung: Nur die Ver-
gangenheit ist. Und wenn der Tod ein Nicht-Sein ist, so war für
Greene sein Leben ein fortwährendes Sterben, ein ständiges Verges-
sen der Vergangenheit (dessen, was ist). Und der da »seiner eignen
Seele« zuschaut, als sei sie es nicht selbst, der erkennt den, welcher
aus seiner Gestalt heraus spricht, nicht mehr als seiend an: »Was

263
hier sitzt, ist nur ein leeres, hohles Gespenst, dem kein Geist in-
wohnt, ein Trugbild . . . Mein Leben war meine Krankheit« (III,
414). Es war die sukzessive Ausleerung aller Inhalte, die zur Nich-
tigkeit, zum physischen Nicht-mehr-Sein führt.
Dem stärkeren Shakespeare - wie der Novelle zweiter Teil vor-
führt - soll diese Erfahrung nicht erspart bleiben. Er erlebt die
Zeit zuerst durch den Widerspruch zwischen zwei Bewußtseinszu-
ständen, an der Veränderung also. »In diesem Zwiespalt aller Emp-
findungen«, erzählt er, »ward mir das Bewußtsein, wie die Gegen-
wart sich so gar nicht erfassen lasse, und wie wir immer nur zwi-
schen Vergangenheit und Zukunft leben« (III, 502).46 Diese beiden
Ekstasen stiften die Uneinheitlichkeit der Person, die nie bei sich
selbst, d. h. nie (bei) sich selbst gegenwärtig ist und sich entweder,
wie Baptista es nennt, »von Zeit zu Zeit abhanden« (III, 505) oder
erst aus der Zukunft entgegen kommt. Sie ist ihrer darum niemals
sicher, und Tieck leiht seinem liebsten Dichter »dieselbe Gespenster-
furcht vor dem Dasein« (502), die seine eigene Lebensgeschichte so
oft verdüstert hat. Sie hat das Vergangene immer schon aufgegeben
und kann nichts Gegenwärtiges betrachten, ohne seine Vernichtung,
den Wechsel, der es verändert, schon vorwegzunehmen: »Nun sah
ich in Gedanken diese Kinder schon erwachsen, mich alt, meinen
Vater gestorben« usw. (502). Der Blick auf das Jetzt hat immer
noch überschüssige Kraft, um zugleich auf das Morgen hinüberzuflie-
gen - und die Zweiheit der Blickpunkte macht die innere Zwie-
spältigkeit: »Man ist und bleibt doch immer ein doppelter Mensch«
(a.a.O., 511).
Gegenwart wird also als Anwesenheit-bei-sich verstanden. Das
sieht nach einem Wortspiel aus. Aber anders können wir den Unter-
schied einer Gegenwart, die ist, was sie ist, von einer ekstatischen
Gegenwart, die nur »bei sich« ist, d. h. die selbst nichts ist als die
»schwebende« Relation von Vergangenheit und Zukunft, nicht auf-
fällig machen. Nur die Vergangenheit ist, was sie ist. Aber ihr Sein
hat den Modus des Gewesenseins — die Zukunft hingegen hat gar
kein Sein, und sie ist die Richtung, in die Tiecks Figuren schreiten:
»Verlust ist wohl, Gewinn niemals möglich« (III, 522). D.h.: Sie
verlieren sich wohl ständig an die Vergangenheit, aber ihr Weg in
die Zukunft entschädigt sie nie für den Verlust, sondern ist >peren~
nierter Verluste »Glück muß zerrinnen, wie das Wasser durch das
Sieb gleitet, nur scheinbar festgehalten; Begeisterung« - ein Zu-
stand ekstatischer Einheit - »ist ein Blitz, der kaum gesehn schon
wieder entschwunden ist, und immer kann ich nur seufzen: ich war
- ich hatte« (ebd.). Wer »sich abhanden« kommt, ist seiner selbst,
ist »seines Selbst« nicht sicher, ist wesenhaft außer-sich, aus seinem
Ich verstoßen, ist zeitlich.

264
Shakespeare kann das Glück seiner Liebe nicht ungestört genie-
ßen. Die »trübe Ahndung« (III, 512), die sich zwischen die Liebe
zum Freund und seine frohe Gemütsstimmung drängt, legt in anmu-
tiger Sophistik dem Freunde die Frage vor, welches der beiden Ele-
mente von dessen innerer Doppelheit die Dauer der Freundschaft
wohl verbürge - der jähe Flug in die Zukunft - oder die Treue
zur Vergangenheit? »Wird diese Hast und Eil, die Euch zu mir
trieb, Euch nicht einmal ebenso plötzlich von mir entfernen? Wech-
selt doch alles im Leben, es muß so sein . . . Sehe ich denn nicht die
Möglichkeit dieser Untreue, Verstoßung, oder wie soll ich es nen-
nen?« (III, 512).
Als aber diese Katastrophe, die ihm Freund und Freundin zu-
gleich raubt, wirklich geworden ist, zerbricht der Zusammenhalt
von Shakespeare's Bewußtsein; und er, der so überwach die Mög-
lichkeit der Untreue erblickte, stellt, wie Lovell, in »Verzweiflung«
die Frage: »Habe ich denn je geliebt?« (III, 543). Zwischen der
Antizipation des Umschlags und dem wirklichen Verlust muß ein
so gewaltiger Unterschied bestehen, daß Shakespeare an dem zu
zweifeln beginnt, was sein Leben bisher ausfüllte. »In manchen
Stunden«, gesteht der seiner Treue entfremdete Southampton, »er-
kannte ich mich selbst nicht wieder« (III, 547).47
Es sieht ganz so aus, als sei nach dem Wechsel nur dem gegeben,
sich selbst zu verstehen, der seine Vergangenheit vergißt und den
Zwiespalt, der sich auftut, so gut wie möglich verdrängt, indem er
die abgetrennte Ichheit aus der vergessenen Phase in die gegenwär-
tige herüberholt. Aber natürlich bedarf es dazu der Einheit eines
Bewußtseins, das seine Vergangenheit weiß und die zweckmäßige
Handlung der Verdrängung (des Vergessens) selbst zuwege bringt.
Diese Einheit ist jenes traumähnliche Bewußtsein, das überall im
Werk Tiecks in solchen Situationen die an Inhalte festgeklammerte
Reflexion ablöst und dem diesseits aller Inhalte das reine ungegen-
ständliche Fließen der Zeit wieder bewußt wird. Es folgt der wie-
derholten Erfahrung des Umschlags nach wie ein die Konturen ver-
wischender Nebel und erlöst die Reflexion vor dem Wahnsinn der
Zusammenhanglosigkeit. Tiecks Shakespeare erfährt den Traum als
den Quell seiner jäh erwachten Poesie (III, 545), die jene ein-
drucksvollen Sonette auf die Vergänglichkeit alles Irdischen ge-
schaffen hat. Der Traum, in welchem das Interesse (in des Wortes
eigentlicher Bedeutung: Inter-esse) an der Welt überwunden ist,
wird »Trost und Arznei für ihn«, dem doch unwiederbringlich »ein
Teil seiner Seele entrissen und verloren« (III, 545) ist.

265
Permanente Selbstentfremdung - das Traumbewußtsein

Die hier in den drei Stadien ihrer Genese vorgeführte Entwick-


lung, die ein Erlebnis durch den Umschlag von sich selbst (dem Be-
wußtsein) entfremdet und wieder entfremdet und endlich von
einem inhaltlosen Traumbewußtsein überwunden wird, ist eine
gleichbleibende Struktur fast aller Tieckschen Dichtungen. Wir
wollen sie als solche abheben und gesondert markieren.
Wir sahen, daß zwei >Bewußtseinszustände<, ein nicht-theti-
sches (präreflexives) Gewahren der eigenen Zeitlichkeit, des Um-
schlags (wir wollen es >b< nennen), und ein thetisches (re-
flexives) Wissen des eigenen objektivierten Erlebnisses (>a<), neben-
einander bestehen. Das Merkwürdige ist, daß das immer präsente
(weil unmittelbare) Zeitbewußtsein, so oft es sich sprachlich artiku-
liert, nicht verhindern kann, daß sich das Gemüt mit seinen Inhalten
>befängt< und in Identitätskrisen gerät, wenn wirklich geschieht,
was nie in Frage stand. Ist ein Fundament der Selbstorientierung
(>a<) durch einen Umschlag von einem übermächtigen neuen Erleb-
nis (>c<) verdrängt worden, so kann a oder c, wie es sich ergibt,
»vergessen« werden. Wir sahen aber schon, daß auch ein Balanceakt
zwischen den »Polen« (Vergangenheit und Zukunft) des Bewußt-
seins sich einstellen kann: a relativiert c, c relativiert a. Es ist offen,
welches Bewußtsein »vergessen« wird. Der Verstand steht vor einem
Rätsel: »Ich begreife die Veränderung nicht, die in mir vorgegangen
ist« (I, 453). Der erste Affekt entscheidet sich für die neue Empfin-
dung und leugnet die Realität der früheren. Aber die Eliminierung
der Vergangenheit nach dem logischen Gesetz des ausgeschlossenen
Dritten 48 bringt ein inadäquates Kausalverhältnis ins Bewußtsein
und verleiht der objektiven Vergangenheit eine magische Wirkung
auf die Gegenwart. Lovells Schwanken ist daraus motiviert. Der
Eindruck, unter welchem Lovell sich ganz der Leidenschaft zur
Blainville hingibt (c) und der die Liebe zu Amalie (a) in die Schwebe
bringt, wird seinerseits durch das Gelöbnis »ewiger« Treue zurückge-
wiesen. Aber Amalie ist andererseits nur ein »Schatten« gegen die
Comtesse (c dominiert über a). Der unentschiedene Kampf zwischen
a und c wird schließlich aus der augenblicklichen Dominanz des
neuen Eindrucks (c) für beendet erklärt: »Ich habe sie [Amalie] nie
geliebt« (I, 299). Das muß Lovell notwendig denken, denn nachdem
einmal Gesetze der Logik ins Bewußtsein eingeführt sind, wird die
Verdrängung der alten Liebe zur Bedingung der Möglichkeit seines
jetzigen Bewußtseins: »nur« die Comtesse lieben zu können. (Das
Entsprechende tut Shakespeare.) Aber der folgende Morgen hat die
Waage wieder zugunsten des früheren Eindrucks a entschieden, und
Lovell erschrickt vor der Kontingenz seiner Gefühle, die er selbst

266
ihrer Freiheit entblößt hatte: »Ich erwache«, schreibt er, »und er-
schrecke, . . . indem ich dies noch einmal überlese: Wie ein Schwin-
del befällt mich die Erinnerung an gestern - Amaliens Andenken
kömmt in der ganzen Heiligkeit der Unschuld auf mich zu, mit
herzdurchschneidender Wehmut - o Balder, ich möchte vor mir
selbst entfliehen« (I, 300) - vor jenem Lovell nämlich, der in einer
Reflexion auf den Umschlag seiner Empfindungen auch nur eine
Sekunde lang an seiner Entscheidung für Amalie irre werden
konnte.
Das ist ein unerwarteter Rückschlag. Die vorschnelle Identifizie-
rung mit seiner Untreue erweist sich nun umgekehrt als Hindernis
für eine rückwärtige Bekehrung. »Und ist denn meine jetzige Mei-
nung nicht vielleicht ebensowohl Täuschung als meine vorherge-
hende?« (I, 380). Die eilige Reflexion auf die Untreue hat Lovell in
eine neue Bindung verstrickt, die wiederum im Widerspruch zur ge-
genwärtigen Bestimmung seines Bewußtseins steht und ihn sein Heil
in der Flucht vor sich selbst suchen läßt: »O ich muß fort, fort aus
Paris - ich muß! - Mir ist, als wollten die Häuser über mich zu-
sammenstürzen, der Himmel hängt trübe auf mich herab, — wir
wollen aufbrechen und nicht mehr säumen!« (I, 300).
Die Häufung solcher Erlebnisse der Vorläufigkeit treibt dahin,
daß sich das im »Labyrinth« »der tausend Widersprüche in sich
selbst« (I, 360, 451) verirrte Bewußtsein endlich jeder >Thesis< ent-
hält, indem es sich von den wandelbaren Inhalten abwendet und des
inhaltlosen objektiven Flusses versichert. Dies Bewußtsein ist das
»wunderbare traumähnliche Leben« Lovells und des resignierten
Shakespeare (III, 542, 544, 549), das, über jeden Inhalt schon hin-
aus, diesseits aller wirklichen Hoffnung und Enttäuschung bleibt
und dem Tieck selbst die zartesten und leichtesten Produktionen
seines Geistes verdankt. Der Traum ist wiedererrungene Synthesis
der Zeit und dem Stil als Ironie immanent. Es ist der Hauch von
Nichtigkeit über fast allen Tieckschen Dichtungen, der ein Ingre-
diens des Tieckschen Realismus ist. Das Bewußtsein der Tieckschen
Figuren ist ein sich selbst (qua Verfließen) nicht setzendes Bewußt-
sein von Inhalten, die gesetzt werden und sich wie Phasen verschlin-
gen, da sich in ihnen das nicht-thetische Bewußtsein teils abspiegelt,
teils in seinem reinen Fließen gehemmt ist: die Kontinuität des Strö-
mens zerbricht sich in die eruptive »Abwechselung« der objektiven
Veränderung, die das Bewußtsein zerspaltet. Endlich kommt es zur
Krisis, die Thesis der Inhalte wird suspendiert, sie verwandeln sich
in dahingleitende Schattenbilder von anmutiger Flüchtigkeit und
spiegeln, indem sie sich zeigen, zugleich ihre eigene Aufhebung.49
Man kann erkennen, wie sehr der Grund, auf welchem die Tieck-
sche Ironie steht, vom Wahnsinn gefährdet ist.

267
Im Schicksal Balders, in Kommentaren zu Richard II. und Ham-
let hat Tieck illustriert, welche Wendung ein Geist nehmen muß,
dessen Vergangenheit sich mit dem gegenwärtigen Entwurf ständig
die Waage hält und der um die Einheit seines Verstandes gebracht
wird. Die Psychologie eines unvermittelten »Uebergangs vom Ex-
trem einer Leidenschaft zum Wahnsinn« ist Tieck, wie seine Briefe
zeigen, aus eigener Erfahrung bekannt.
»Im Leben«, notiert er, »findet man diese Veränderung oft«, nämlich
einen Wahnsinn, der sich von der Besessenheit zur Verrücktheit zerstreut
und mäßigt, »und man sieht es gemeiniglich sehr falsch als ein Zeichen der
Beßerung an,/ denn ein solcher Verrückter kann in jedem Augenblick
zum Wahnsinn zurückkehren«, . . . (BüSh. 69/70).
Tieck zeigt, wie Richard IL, solange weder seine Hoffnung noch
seine Befürchtung gänzlich gegenstandslos geworden sind, »bestän-
dig hin und her« wankt,
»bis er von seinem Unglück überzeugt wird. Nun bleibt ihm keine Hoff-
nung und keine Entschlossenheit übrig, auf den ersten Wurf giebt er so-
gleich alles verlohren; aus Macbeths Schmerz wird Verzweiflung und end-
lich Raserei; aber zu dieser Gradation gehört Stärke; der schwache
Richard« überspringt das Extrem der Leidenschaft und »wird sogleich in
einen Seelenzustand geworfen, der jenseits dieser Extremen liegt. Es ist
die« träumerische »Schlaffheit, die hinter der Raserei liegt und die sich so
gern mit Gedankenreichthum verbindet und dadurch eben für die Aesthe-
tik ein so blüthenreiches Feld ist.«50 (a.a.O., 105).
Es ist der dunkle Grund, auf dem die anmutigsten Produkte der
Tieckschen Muse gedeihen. Weit entfernt, daß die heitere Ruhe, in
welcher sich der Wahnsinn der Bewußtseinsgespaltenheit beruhigt
und lindert, eine qualitative Veränderung wäre, ist eben das Sichab-
finden mit dem Unbegreiflichen das schlimmste Stadium der Ver-
zweiflung, welches den »Traum« so unheimlich macht. Der tobende
Wahnsinn hingegen hat noch ein dumpf aufbegehrendes Bewußtsein
von dem Unerhörten, Ungewöhnlichen dessen, was sich ihm darbie-
tet. Er hat die >Epoche< durchaus noch nicht vollzogen, ist an die
Dinge noch mit wilder Leidenschaft gefesselt, die sich in der anmu-
tig-tiefsinnigen Heiterkeit des verrückten Königs im Zerbino nur
durch Gewöhnung lindert und in jener alle Ereignisse belächelnden
Miene erst wirklich schauderhaft wird.

Unvollkommene Transzendenz: die Märchen

Wir sahen: Durch den Versuch, sie zu vergessen, wird die Vergan-
genheit ungewollt mit einer magischen Kausalität ausgestattet, die
bewußtseinszerrüttend die schließliche Katastrophe im Lovell-Ko-

268
man herbeiführt. Wir wollen dies Paradigma eines Verhaltens zur
Zeit mnvollkommene Transzendenz< nennen, indem wir den Be-
griff der Transzendenz im Sinne der Phänomenologen auf diejenige
Seinsweise anwenden, in welcher das Bewußtsein wesensmäßig über
sich selbst hinaus ist.51
In einem eilig niedergeschriebenen Einakter, Der Abschied
(1792), hatte Tieck das hochkomplizierte psychologische Thema
einer unaufrichtigen Reflexion der Vergangenheit schon früher ein-
mal behandelt.
Es geht hier um das scheinheilige Rollenspiel einer Jungverhei-
rateten, die sich die zweifelhafte Wahrheit einer früheren Liebe
durch eine anspruchsvolle Herausforderung ihrer Vergangenheit
durch die Ehe mit einem anderen Mann bestätigen lassen möchte
und diese Heirat zum Gegengewicht an einer Waage mißbraucht,
hinter deren Ausschlag sie ihre unentschiedene Freiheit verbirgt. In
der Sukzession von bösen Ahnungen und wehmütiger Erinnerung,
dem gleichzeitigen Wissen und prätendierten »Vergessen« (2, 273)
ihres echten Gefühls, in dem raschen Wechsel zwischen dem »Es
war« und dem »Es ist« (2, 275 f.) wird in Tiecks durchscheinender
Psychologie die Kollision der Zeiten dargestellt, die sich in der Ge-
spaltenheit des Bewußtseins dieser Frau wiederholt.
Mit der vorschnellen Reflexion, durch welche Louise sich »so
bald« (a.a.O., 290), wie sie sagt, verlassen fühlt, hat sie ihre Ver-
gangenheit überschritten, die erst dadurch zur Vergangenheit wurde
- aber die Reflexion war unaufrichtig, da Louise ihre Liebe nidit
vergessen, sondern nur sich bestätigen lassen wollte. Dies geschieht
wirklich durch die Rückkehr des angeblich Treulosen, der nie zu
vergessen gesucht hatte und dessen Einssein mit der gemeinsamen
Vergangenheit auch die verlorene Geliebte in die Gegenwärtigkeit
ihres Liebesgefühls zurückholt. Der Aufschub des endgültigen »Ab-
schieds«, die Unentschiedenheit des Herzens wird Motivation zur
Katastrophe - der Ehemann tritt hinzu, und seiner Eifersucht, der
Louise ihre Freiheit überantwortet hatte, fallen alle drei zum
Opfer.
Tieck zeigt hier zum erstenmal, wie die Existenz durch ihre noch
tätige Vergangenheit zerstört werden kann infolge einer Unauf-
richtigkeit: Die Heldin setzt etwas als vergangen, zu dem sie sich in
allen ihren Gedanken und Handlungen als gegenwärtig erweist (sie
wählte ihre alte Liebe immer noch), und führt so die notwendige
Katastrophe herbei, die sie durch ihre unehrliche Heirat heraufbe-
schworen hatte. Man ahnt, wie fern Tieck selbst mit dieser faden-
scheinigen Fabel der durch ihn angeblich initiierten >Schicksals-
tragödie< eines Werner, Houwald, Müllner - ja selbst noch eines
Grillparzer und Otto Ludwig steht.

269
Diese Struktur einer durch Vergessen objektivierten und mit
Kausalität ausgestatteten Vergangenheit, die die Gegenwart
schließlich zerrüttet, ist, wie wir zeigen wollen, in allen Märchen
Tiecks wiederzuerkennen.
Marianne Thalmann hat zuerst aus der eigentümlichen Struktur
aller Tieckmärchen Folgerungen abgeleitet: durch »zwei Erzählbö-
gen« wird eine »vergessene« und doch noch lebendige Vergangen-
heit mit einer Gegenwart in Verbindung gesetzt, deren Schicksal
von der Weise ihres Verhaltens zur Vorgeschichte abhängt.52 Sie
glaubt, mit Recht, alle Tieckschen Märchenhelden »unweigerlich aus
dem Vergangenen... begreifen« zu können 53 und hat durch ihre
Interpretation schlüssig bewiesen, daß deren »Gegenwart... auf
Erinnern und Ahnen, nicht auf dem Stillstehen in der Z e i t . . . be-
ruht«. 54 Es geht immer um Verrat oder Bewahrung eines Geheim-
nisses, das aus den Tiefen des eigenen Innern, einer Begegnung,
einer seelischen Bereitschaft, einer grundsätzlichen Offenheit des
Herzens hervorgeht. Die Wirklichkeit ist in diesen Märchen durch
die eigene Vorstellung hindurch erschlossen, und es kommt dadurch
so etwas wie Bedrohung und Verheißung aus Zukunft und Vergan-
genheit, als den Modi, in denen sich »Vergessen und . . . Ahnen«
(II, 876) abbilden. Aus den eilenden Wolken, den in Klagen spre-
chenden Bächen, den säuselnden Birken, dem Vogellied, dem Schrei
einer Wurzel, dem Gewirre bunt wogender Masken, der rückwärts
gewandten Geste des Uber-sein-Leben-Sinnens werden Chiffren der
Zeitlichkeit. Sie sind Schatten ursprünglicher Handlungsweisen der
Existenz, die sich in ihrem Selbstüberschritt auf die Dinge abbildet
und ihnen die Beseeltheit der Innerlichkeit und damit die Tempo-
ralität des Bewußtseinsflusses wiederschenkt. Das Fixierte, Substan-
tielle des Raums wird in das Strömende und Musikalische akustisch
erlebter Vorgänge hinübergeholt, weil im innersten Grunde der
Seele der Raum sich in Zeit auflöst55 (wir zeigten das an Novalis'
Philosophieren). Die Märchen-Natur ist eine erlebte Welt, und die
Subjektivität des Erlebens (was nicht gleichviel ist wie Individuali-
tät des Erlebens) ist in ihr mitgestaltet: Wir haben es mit einer er-
lebten Wirklichkeit zu tun. Diese Zusammenhänge haben Marianne
Thalmanns Interpretationen, neuerdings besonders ihre Poetolo-
g,'es5a wieder zugänglich gemacht. Wir wollen nur eine Akzentver-
schiebung vornehmen, um einen hier besonders wesentlichen Aspekt
der Märchen betrachten zu können.
Alle Tieckmärdien, wir sagten es, sind Beispiele für unvollkom-
mene Transzendenz<. Im Eckbert und Tannenhäuser steigt hinter
einer wenigstens alltäglichen Allerwelts-Fassade ein sonderba-
res Erlebnis hervor, das einmal überschritten und doch nie ganz
verloren wurde. 56 - In den übrigen Märchen - Marianne Thal-

270
mann hat es gezeigt - ist das Erlebnis und sein Vergessen in die
Sukzession einer Dramenhandlung aufgefächert, bis in den späten,
der Novelle sich nähernden Formen ein Absatz im Druck Vorge-
schichte und das aus ihr Erfolgende trennt. Immer ist der Einbruch
des Wunderbaren selbst einmal Zukunftshorizont einer Erwartung,
einer Sehnsucht gewesen. Bertha und Christian sehnen sich aus der
Enge ihres beschränkten Daseins hinaus, Emil blickt durch das Stu-
benfenster über die Stadtgasse hinweg in den Raum seiner Liebsten,
Ferdinand wartet auf den Stufen des Doms auf den Anblick seiner
schönen Fremden, Elfriede widersteht dem Reiz nicht, durch verbo-
tenes Gelände zu laufen, und der Tannenhäuser öffnet seine Seele
dem Zauber der fremden, mächtigen Töne. Sie alle machen die
gleiche Erfahrung, daß das Wesen ihres Innern nicht die gleiche
Ausdehnung hat wie die Realität ihres beschränkten Zuhause, daß
sich mit Notwendigkeit ihr Inneres über seine gegenwärtige Bestim-
mung hinausdrängt und im Vorblick auf eine prinzipielle Zukünf-
tigkeit existiert. Da werden rote Masken, ein zaubrischer Po-
kal oder ein Vogellied zu Trägern von Bedeutungen. Sie bleiben wie
Leitmotive gleich, aber die Menschen ändern sich inzwischen. In
einer veränderten Situation werden durch sie hindurch andere Be-
deutungen realisiert. Das liebliche Vogellied wird unerträglich,
denn es ist einer Zukunft im Wege, die eine Vergangenheit begra-
ben will. Bedeutungen kann nur ein Wesen stiften, das wesenhaft
über sich hinaus ist und die identischen Inhalte zu Chiffren einer
wandelbaren Zeiterfahrung werden läßt. — Hinter dem Darge-
stellten erhebt sich darum das Seinkönnen. Ein Blick ins Zimmer
des schönen Mädchens ist nicht nur Wahrnehmung einer städtischen
Realität, sondern darüber hinaus ein Entwurf, der aus den hellen
Augen die Liebenswürdigkeit eines hübschen Gesichts und die Zu-
künftigkeit einer Liebe erschließt - so wie aus dem Dolch die
Möglichkeit eines Mordes, aus einem Maskenball das Sinnverwir-
rende und Wahnsinnige einer verlorenen Eindeutigkeit usw.
Immer folgt einem solchen zeitlichen Überstieg eine Geschichte,
die die Sehnsucht verwirklicht und als etwas Erlebtes diesseits der
Worte rein bewahrt in der Erinnerung, die als die stets fühlbare
Nähe des Unaussprechlichen die Wiederbegegnung mit der ehedem
verlassenen, alltäglichen Wirklichkeit überdauert - schließlich hat
auch das Wunder, in dem die Zeit, wie in den Elfen, anders, ra-
scher gemessen wird 57 , seine Zukünftigkeit, die nur zurück in die
entflohene Welt führen kann.
Tieck hat in allen Märchen das Rätsel einer Zeiterfahrung ge-
staltet58, die an der Gleichzeitigkeit von Erinnerung und neuer Zu-
künftigkeit irre wird und eines um des anderen willen verrät, wor-
aus die Katastrophe des Transzendenz-Verlustes entstehen kann.

271
Christian, von der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Trivialnor-
men für verrückt erklärt, kehrt als der Treue zur Wunderwelt, die
in die Symbolik des Runenberges und der Bergkönigin gekleidet er-
scheint, zurück und vergißt nach einer quälerischen Hin-und-her-
Gerissenheit seine alte Wirklichkeit, der er einmal entflohen ist -
er erkennt zwar noch Elisabeth, seine Frau, aber so wie auch sie ihn
erkennt: mit dem Schrecken über eine Entfremdung, an der eine
Unverträglichkeit im eigenen Wesen schuld ist: die Unvermittelbar-
keit der Strebensrichtungen auf Bestand und in die Weite. Elisa-
beth ist eine ewige Vergangenheit geworden, zu der nur noch die
trübste Erinnerung gespenstig hinüberreicht. Emil (Liebeszauber)
tilgt durch einen Mord alle Spuren, die ein Geheimnis vor der Welt
zu enthüllen drohen, das einst Gegenstand seiner Sehnsucht war
und dessen Erfüllung schon einmal einen Mord an der Vergangen-
heit notwendig machte (symbolisiert durch die Liebe des kleinen
Mädchens, die der eigenen Liebe im Wege stand, und die Kluft einer
Gasse). Man sieht überall vorschnelle Reflexion, durch welche die
Zeit in eine unvermittelte, unbegreifliche Folge inkohärenter Pha-
sen zerlegt wird. »Mord« allein (d. h. Vernichtung der Vergan-
genheit) führt in die Zukunft.
Diese Menschen werden mit dem Faktum der Zeit nicht fertig,
oder vielmehr: sie scheitern an dem in der Zeit sich auftuenden Wi-
derspruch. Die den Lockruf der Ferne am unwiderstehlichsten ver-
nommen haben und von Zukunft wissen, werden im Zustand der
Verzauberung (wie Bertha) mit einemmal erschreckend ihrer prin-
zipiellen Zukünftigkeit inne: aus der abgeschiedenen Waldeinsam-
keit lockt eine neue Sehnsucht heraus. Ausgestattet mit den mitge-
führten Beweisstücken (den wunderbaren Perlen, dem Vogel),
dehnt sich vor der Wandernden die Möglichkeit der Rückkehr in die
beschränkte Wirklichkeit aus. Das ist eine Wirklichkeit, in der man
stirbt, heiratet, sich nicht mehr kennt, bescheidet, rechnet - den
Zwecken verfällt, mit denen die Erfahrung der prinzipiellen Ge-
fährdung eines Aus-Möglichkeiten-Lebens nicht zusammenbeste-
hen kann. Man kann nicht ungestraft zurückkehren, wenn man nicht
radikal zu vergessen versteht. (Bertha erwürgt den Vogel, die ort-
los gewordene Vergangenheit des Wunderbaren.) Wer, wie Elisa-
beth, die Pächtersleute, Friedrich die wunderbare Möglichkeit nur
von außen, vom »Hörensagen« kennt, der mag glücklich in der zeit-
losen Zeitlichkeit seines beschränkten Daseins vor sich hinleben kön-
nen. Aber diese Auserwählten werden der an Zwecke verfallenen
Gesellschaft zum Verhängnis, so Elfriede, so Bertha, so der Tan-
nenhäuser; denn »die Leute sagten, wer einen Kuß von einem aus
dem Berge bekommen, der könne der Lockung nicht widerstehn, die
ihn auch mit Zaubergewalt in die unterirdischen Klüfte reiße -«

272
(4, 213). - Daß alle Tieckschen Märchenfiguren, wie Lovell, die
Zeit nicht zuerst als organisierte, synthetische Struktur, sondern als
die Unvermittelbarkeit von Erinnerung und Ahnung begreifen, gibt
dieser Zeiterfahrung die flackernde Unheimlichkeit einer latenten
Gefährdung. Im Eckbert, in den Elfen, auch in der Melusine ist es
der Verrat eines Erlebnisses, das einmal als Zukunft sich eröffnete.
Durch den Verrat soll die zerstörte Einheit wiederhergestellt wer-
den. Jene Chiffre der Zukünftigkeit, die eilig sich bewegende, nie
stillstehende, nie zu beobachtende, stets grimassierende und hüsteln-
de, in tausend Gestalten verwandelbare Alte können aber Bertha
und Eckbert in allen ihren Verkörperungen als die Alte, als Wal-
ther, als Hugo nicht hinter sich bringen, auch nicht durch Mord aus
der Welt schaffen. Wer mit dem Wunder in Berührung gekommen
ist, kann sein Erlebnis nicht töten, kann das Wunder auf keine
Weise mit der Ebene der gemeinen, verständigen, zeitvergessenen
Alltäglichkeit vermitteln, mit jener Welt des Pächters Martin, die
ein Leben nach Jahren und mit der Uhr in der Hand, die Wirklich-
keit nach Bezirken und Raumeinheiten und das Glück nach Ernte-
erfolgen und Besitzstand mißt.
Der Mord am Wunderbaren verfehlt durchaus seine beabsichtigte
Wirkung. Was als ein Unaussprechliches das gemeine Leben über-
dauert und, wie im Pokal, rein bewahrt, zu einem wortlosen Glück
sich wenden kann, verliert im Nu seine Transzendenz durchs Aus-
sprechen: der Verräter, der sein Geheimnis - als mit seiner empiri-
schen Wirklichkeit unvermittelbar - loswerden wollte, legt sich
auf eine Rolle fest, die ihn fixiert. Gewiß, das war gerade seine Ab-
sicht. Aber sie hatte eine »Ahnung« verdrängt, durch die hindurch
auch das Fixierte mit der Zeit in Verbindung bleibt, und nun ver-
wandelt sich der wunderbar unausgesprochene Zauber über der Ge-
genwart in die magische Triebkraft einer Vergangenheit-an-sich, die
das Leben zerstört und in hundert Fratzen die Verräter verfolgt,
bis sie, in den Wahnsinn gehetzt, wie Eckbert den Grund ihres Ver-
derbens erklärt bekommen: »Warum verließ sie [Bertha] mich tük-
kisch?« (4, 169), fragt die Alte. »Sonst hätte sich alles gut und
schön geendet.« - Man darf solche Vergangenheit, wie sie in der
Gestalt der Alten (ohne Namen!) symbolisiert ist, nicht ungestraft
zu verlassen suchen: In Berthas Flucht aus der Waldeinsamkeit war
das »Verlassen« nur als Gefahr vorgezeichnet, es wurde erst sukzes-
siv durch das Erwürgen des Vogels, die Heirat mit Eckbert und end-
lich den Verrat der unvergeßlichen, übermächtigen Vergangenheit
Wirklichkeit, ein Verrat, der gleich oder bald mit dem Tode bezahlt
wird: Es gibt kein Weiterleben nach der Preisgabe der Zukünftig-
keit (dem Grund des Wunders).
Der Verrat (im Eckbert nicht mehr als in den Elfen) ist darum so

273
schrecklich, weil er in ein zeitliches und als zeitlich erlebtes Leben
eine unwahrhaftige Eindeutigkeit (eine Identität im Modus des An-
sich-Seins) trägt und den Menschen auf eine Rolle fixiert, die alle
Transzendenz aus seiner Wirklichkeit saugt. Freilich kann daran
nur scheitern, wer sich solche Vergangenheit zum Bewußtsein bringt
und nach dem Verrat die Erfahrung macht, daß sich die Ahnung
nicht mitverraten läßt. Man wird die Zeit nicht los, auf keine Weise
- wird sie verraten, so wird sie zu einer Zeit-an-sich, die alle Frei-
heit, alle Möglichkeit des Selbstüberstiegs wie ein Magnet zu sich
hinüberzieht und eine wehrlose Determination in ein Leben bringt,
das seine Freiheit loszuwerden suchte, um frei zu sein. Dies Abflie-
ßen der Transzendenz ist der Alpdruck, der auf Abdallah, auf Lo-
vell, auf Eckbert (in den Gestalten der Omar, Andrea, der Alten,
Walthers, der den vergessenen Namen »Strohmian« weiß) lastet
und gegen den noch in der späten Novelle Schutzgeist die damals
junge Gräfin sich verzweifelt wehrt, bis sie sich in Demut bescheidet.
Auch in dieser reiferen Version der Elfen — und das beweist die
Insistenz der Zeitproblematik in Tiecks Denken - wird eine Ver-
gangenheit durch eine wunderbar sich eröffnende Zukunft über-
schritten, alle Freiheit fließt zu ihr hinüber, aber dagegen empört
sich die alte Vergangenheit, die im jähzornigen Wunsch, das Ge-
betbuch wiederzuerhalten, zu sich zurückkehren will und nicht
kann, bis die Gräfin erkennt, daß nur ein Entweder-Oder die Ent-
scheidung ihres Lebens werden kann und sie die Wahl zugunsten
jener Seelenfähigkeit bestimmt, als deren Verkörperung sie ihren
»Schutzgeist« versteht und nun nie wieder verrät an die alte Ver-
gangenheit. Dadurch kann ihre wunderbare Zukünftigkeit, die sich
als Glaube an die Liebe enthüllt, wieder wirksam werden — es ist
die christliche Version von Christians Treue zur Bergkönigin.
Selbst in der Altersnovelle gibt es keine synthetische Organisation
der Zeit, sondern nur die Entscheidung für die Vergangenheit oder
für das Wunder, das freilich als bewahrtes Geheimnis (III, 883) ein
wunderloses Leben übersteht - eine Lösung, auf die schon der Po-
kal vorgedeutet hatte.
Eckbert nimmt hingegen den Kampf gegen das Wunder auf, um
Eindeutigkeit in sein Leben zu bringen, um nicht in Vergangenheit
und Zukunft zugleich leben zu müssen. Aber über allen Versuchen,
sich seiner Vergangenheit zu entledigen, erhebt sich in mannigfachen
Gestalten immer aufs neue wieder die eigene Vieldeutigkeit, die
ihm in der Gestalt der Alten am Ende wiederbegegnet. Eckbert
konnte nicht zur Ruhe kommen, weil, wie er »verscheidend« be-
kennt, er »diesen schrecklichen Gedanken immer geahndet« (4, 169)
habe. Es gibt kein Heilmittel gegen die Ahnung. Vergangenheit und
Zukünftigkeit, durch den Verrat als objektive Mächte zerstörerisch

274
ins Bewußtsein getreten, kämpfen in Eckberts Seele um ihre Vor-
herrschaft: der um seine Freiheit gebrachte wird das Opfer eines
Zwiespalts, an dem die Einheit seines Verstandes zugrunde geht wie
an einem Albtraum von zwei Wahrheiten, die zugleich bestehen,
gleiche Evidenz haben und sich doch direkt ausschließen: War es
Traum, daß er eine Frau namens Bertha hatte? Ist es Traum, daß
er jetzt das Vogellied vernimmt, Birken säuseln und einen Hund
dazwischen bellen hört? »Jetzt war es um das Bewußtsein, um die
Sinne Eckberts geschehn; er konnte sich nicht aus dem Räthsel her-
aus finden, ob er jetzt träume, oder ehemals von einem Weibe Ber-
tha geträumt habe, das Wunderbarste vermischte sich mit dem Ge-
wöhnlichsten, die Welt um/ ihn her war verzaubert, und er keines
Gedankens, keiner Erinnerung mächtig« (4, 168/9). _ Eine un-
aufrichtige Reflexion zerbricht an der »immer geahndeten« Eksta-
tik des Bewußtseins, das in der Sehnsucht zugleich Erinnerung und
im Erinnern zugleich Offenheit für neue Zukunft ist.
Unheimlicher, in der einfachsten Sprache vorgetragen und doch
undurchsichtiger als in den anderen Märchen, ist die Unentwirrbar-
keit von Vergangenheit und Zukunft im Tannenhäuser gestaltet.
Der Tannenhäuser, der eines Tages plötzlich verschwunden und,
Jahre später, ebenso plötzlich (»eines Abends«; 4, 200) im Pilger-
kleide zu seinem Freunde Friedrich zurückgekommen ist, erzählt
dort auf inständiges Bitten von einer Sage, »wie damals aus einem
seltsamen Berge ein Spielmann gekommen sei, dessen wunderliche
Töne so tiefe Sehnsucht, so wilde Wünsche in den Herzen aller Hö-
renden auferweckt haben, daß sie unwiderstehlich den Klängen
nachgerissen worden, um sich in jenem Gebirge zu verlieren. Die
Hölle hat damals ihre Pforten den armen Menschen weit aufgetan,
und sie mit lieblicher Musik zu sich herein gespielt« (4, 201). Seit
der Knabe von dieser Erzählung gehört habe, sei er selbst und sei
ihm die Natur wie verwandelt gewesen. Die erschreckende Einfach-
heit einer aufs äußerste ökonomischen Sprache beweist Tiecks Mei-
sterschaft in der Beschwörung einer Ahnung, die aus »der Lieblich-
keit und Fülle der herrlichen Natur« das Grauen »dunkler Traum-
bilder« aufsteigen läßt und wie aus dem Bewußtsein eines herrührt,
dessen Gefühle von der Undurchdringlichkeit der erlebten Welt auf-
gezehrt und matt geworden sind. Der Tannenhäuser habe sich jetzt
erst in ein Mädchen, Emma, verliebt, und in dieser Liebe sieht er
den »ungewissen Lauf seines Lebens... feste Richtung« (203/4)
gewinnen. Die Liebe ist wie von kaltem Fieberfrost angekränkelt,
elektrisierend. Er muß die roten Rosen auf ihren Mund küssen, die
in ihrem Garten stehen, sich in Tränen ergießen. Ein junger Ritter,
dem Emma mehr zugetan scheint als ihm, muß mit dem Leben bü-
ßen. Der Mord ist schaurig und feige. Man sagt ihm, Emma sei aus

275
»Gram über den Tod ihres Bräutigams« (206) gestorben. Jetzt
hört er Glockengeläut, eilt, dem Wahnsinn nahe, nach Hause und
sieht einen alten Traum bewahrheitet: Vater und Mutter sind ge-
storben, aus Kummer über ihn. Es fällt ihm »wie Blitze in seine
Seele« (206), in allerlei Ausschweifungen sucht er die Verzweiflung
zu betäuben. »Ich sehnte mich nach der Vernichtung und wieder wie
goldne Morgenwolken schwebten Hoffnung und Lebenslust vor
mir hin und lockten mich nach« (208). Das ist das äußerste Extrem
eines unvermittelten Nebeneinanders von Vernichtungsdrang und
Hoffnung. Da kommt er auf den Gedanken, »daß die Hölle nach
mir lüstern sei, und mir so Schmerzen wie Freuden entgegensende,
um mich zu verderben«. Er steigt auf einen hohen Berg, um den
»Feind Gottes und der Menschen« zu sich zu rufen, »mit allen Her-
zenskräften« (208). »Er stand plötzlich neben mir und ich empfand
kein Grauen« (ebd.). Alsbald hört er die Musik, die immer deut-
licher wird, bis er im Venusberge die »tiefen Klänge und Töne . . .
einzeln und verborgen« findet, »aus denen die irdische Musik ent-
steht; je tiefer ich ging, je mehr fiel es wie ein Schleier von meinem
Angesichte hinweg« (209). In der Entscheidung, der Lockung zu fol-
gen, gewinnt des Tannenhäusers Leben eine Eindeutigkeit, die »den
glühenden Durst der Seele, die Unersättlichkeit... löschen« (208)
konnte, sei es auch um den Preis jener friedlichen Existenz vor der
Bekanntschaft mit den Zaubertönen. Aber ihm ergeht es wie Bertha
im Eckbert. Die Zeit läßt sich für den, der einmal mit ihr bekannt
ist und die fürchterlichen Verwandlungen an sich erfahren hat, nicht
»vergessen« (II, 876, Z. 3 ff.); eine neue Sehnsucht nach der Erde
ergreift ihn endlich, er will fort aus dem mit Farben besinnungs-
raubender, gaukelnder Reize, lockender Verführungskraft gezeich-
neten Berge. »Wie das geschah, kann ich so wenig sagen wie fassen«
(211), gesteht der Tannenhäuser, und er sieht »eine unbegreifliche
Gnade des Allmächtigen« in der Ermöglichung einer »Rückkehr«
(ebd.) - denn Spuren eigener Tat und Leistung kann er darin nicht
erkennen. - Nun will er beim Heiligen Vater in Rom Absolution
zu empfangen suchen. Auch Vergebung kann er sich nicht selbst er-
teilen, so sehr ist sein Leben von etwas außer ihm durchwaltet.
Friedrich hört ihm »mit dem größten Erstaunen« zu, ist zu-
nächst, als die Erzählung innehält, »verlegen und nachdenkend«
(207) und »betrachtet« den Freund, nachdem er alles vernommen
hat, »mit einem prüfenden Blicke« (211). Er ist seit langem mit
Emma verheiratet, von einer Liebe des Freundes habe er nichts ge-
wußt, »und nie haben wir gekämpft oder uns gehaßt« (212). Emma
wird dem Pilger vorgestellt. Der erwidert nichts als: »Bei Gott, das
ist noch die seltsamste von allen meinen Begebenheiten.« - Mo-
nate später kommt er bleich und abgezehrt in zerfetzten Wall-

276
fahrtskleidern zurück, geht barfuß in Friedrichs Zimmer und
k ü ß t den Schlafenden auf den Mund, schnell hinzufügend, der
Heilige Vater habe ihm nicht verzeihen können. E m m a findet man
ermordet am nächsten Morgen. Weiber hatten den Tannenhäuser
im Vorbeigehn sagen hören: »Diese soll mich nicht in meinem Laufe
stören« (213); E m m a hatte ihn vergeblich »an seine Kindheit zu er-
innern« versucht. Friedrich aber befällt eine entsetzliche Sehnsucht,
ein Pilgrim habe ihn auf die Lippen geküßt, der K u ß brenne ihn, er
eilt fort, den wunderlichen Berg und den Tannenhäuser zu finden.
»Die Leute sagten, wer einen K u ß von einem aus dem Berge be-
kommen, der könne der Lockung nicht widerstehen, die ihn auch mit
Zaubergewalt in die unterirdischen Klüfte reiße - « (213).
Man m u ß den Lauf der Geschehnisse überblicken, um die unheim-
liche Bestrickung zu empfinden, in deren Fesseln solche Unentschie-
denheit zwischen den Zeiten schlagen kann. Von Friedrich ist in des
Tannenhäusers Erzählung gar nicht die Rede. Sein erzähltes Leben
beginnt mit der Kunde von den Tönen, die eine ungekannte Sehn-
sucht auslöst, die sich in der Liebe zu E m m a wiederzuerkennen
scheint, aber vernichtend gegen alles bisher Gekannte und Geliebte
(die Eltern, den Freund) sich wendet. Er kennt den Freund, den er
erschlägt, nicht wieder, der A l p t r a u m vom T o d der Eltern erfüllt
sich - aber nur in seinem Bewußtsein, wie es scheint, das sich aus
den Venusbergfesseln gar nicht mehr oder, wie in der Pilgerreise,
nur scheinhaft löst - denn Friedrich, die symbolisierte Jugend des
Tannenhäusers, gleichsam die mögliche Alltäglichkeit seines Lebens,
lebt in einer glücklichen Ehe mit Emma, der Freund ist plötzlich,
keiner wußte wohin, entflohen. Der unheimlich karge Satz: »Das
ist noch die seltsamste von allen meinen Begebenheiten« (212) zeigt,
d a ß dem Tannenhäuser nichts so unbegreiflich ist wie die wirkliche
Vergangenheit außerhalb seiner »Einbildung« (ebd.), als welche um-
gekehrt Friedrich die Erlebnisse des Freundes bezeichnet: »Auch kann
ich deine Erzählung nicht begreifen,/ denn es ist nicht anders mög-
lich, als d a ß alles, was du mir vorgetragen hast, nur eine Einbil-
dung von dir sein muß« (211/2).
So dissoziiert sich die durch die Venusbergmusik eröffnete Zu-
kunft unvereinbar von der alten, friedlich zurückgelassenen Vergan-
genheit, in die eine neue Sehnsucht den Tannenhäuser zurücktreibt,
der in dem Geschehen, das seine Identität in Erde und Hölle zer-
spaltet, schon längst nicht mehr eigene Tat, sondern Leistung der
H ö l l e erfährt. Die Hölle verbürgt gleichzeitig eine Identität, welche
die wechselnde Unentschiedenheit des Lebens verweigert: »Da gab
ich mich gefangen«, gesteht der Tannenhäuser, »um der Quaalen,
der wechselnden Entzückungen los zu werden« (208).
Von der verlaßnen Vergangenheit her k o m m t er sich endlich in

^• 77
der Gestalt seines Freundes gleichsam selbst, ausgestattet mit allem
versäumten Erdenglück und -behagen, glücklich verheiratet mit
Emma, entgegen. Die zurückgelassene, zeitentrückte Jugend tritt
ihm im Spiegelbild entgegen.59 Emma versucht, ihn an die gemein-
same glückliche Kindheit zu erinnern; vergebens, denn der Tannen-
häuser ist seit seiner Bekanntschaft mit dem Venusberg und der Wei-
gerung des Papstes, die ihm die Heimkehr unmöglich macht, nicht
mehr in die alte Sphäre zu binden und muß zurück »in meinen alten
Wohnsitz«. Emma »soll mich nicht in meinem Laufe stören«, sagt
er. Sie ist der Eindeutigkeit seiner Weltorientierung im Wege, die er,
nach dem gescheiterten Absolutionsgesuch, nur mehr in einer Rück-
kehr zum Venusberg finden kann. Für die Sünde, die Erfahrung des
Unwägbaren, der Zukünftigkeit, in die Welt der allgemeinen Aus-
gelegtheit<, mit welcher auch die Kirche steht und fällt, hineinzu-
schleppen, gibt es natürlicherweise keinen Generaldispens -
dergleichen ruiniert die künstliche Ordnung einer dem Zufall abge-
kämpften kirchlichen Kultur, die das Unwägbare selbst institutio-
nalisiert hat.
Der bisher stille und zufriedene Friedrich aber wird durch den
Kuß mit der zaubrischen Freiheit bekannt, die wie eine Infektion
aus dem gewohnten Zustand hinaustreibt und einer Notwendigkeit
die Treue hält, von der man in den glücklich beschränkten Verhält-
nissen der »alten Erde« nichts ahnt, weil hier gleichsam die Zeit
verschüttet ist. - Es ist derselbe Friedrich, der bei der Wiederkehr
des Tannenhäusers vor ihm »erschrak«, ihn »anstarrte«, das
»Feuer« in dessen »wilden Blicken« »unverständlich« (200) fand
und doch, von einer Neugier getrieben, die selbst eine verborgene
Bekanntschaft mit des Freundes Zukünftigkeit verrät, in ihn
»drang«, seine »Geschichte« zu erzählen. Aus der Gefahr einer An-
steckung wird am Ende Wirklichkeit. Die »Ahnung«, Krankheit
aller, auch der behaglichsten Tieckschen Gestalten, ist ein sicheres
Indiz einer in ihnen schlummernden Vertrautheit mit der verun-
sichernden Zukunft. Es bedarf nur eines Funkens, um die latente
Zukünftigkeit auflodern zu lassen, deren Unvereinbarkeit mit der
bisherigen Vergangenheit als ein Schicksal all diejenigen überfällt,
die davon wissen. Vor dem Bewußtsein gibt es keine Rettung.
Tiecks Gestalten existieren auf zwei unvereinbaren Ebenen60, sie
müssen wählen, ob sie die Wirklichkeit der »alten Erde« oder die
Sehnsuchtswelt der »irrenden, wirrenden Klänge« und »Funken«,
die »des Menschen Seele reißen« (195), für »Wahnsinn«, für
»Traum« halten wollen, wenn sie nicht, wie Eckbert, im Wahnsinn
verscheiden wollen. Der Wahnsinn ist die Folge einer Unentschie-
denheit. Der Tannenhäuser hat nur ein solches Erlebnis (wie sich
in seiner Reaktion auf Emmas Überleben verrät), das ihn irremacht

278
- er fühlt durch die Notwendigkeit zurückzukehren, von wo er
kam, wie ehemals »den ungewissen Lauf meines/ Lebens« in »eine
bestimmte Richtung gewiesen« (203/4) und endet wie der treue
Christian (Runenberg) durch einen gelungenen Mord an seiner Ver-
gangenheit, die sein alter ego, Friedrich, ganz mit hinübernimmt
und sich >einverleibt<.
Der Tannenhäuser, wie alle Märchenfiguren bei Tieck, flieht
nicht von ungefähr, sondern seine Flucht ist die Verwirklichung
einer Wesensbestimmung: nie aufzugehen in der »Gegenwart...,
die der Mensch eigentlich [als ek-statisch Seiendes] fast ganz ent-
behrt, so wie das Tier nur in dieser zu leben scheint« (III, 853). Es
verwirklicht sich darum nicht der Einbruch einer unbekannten,
fremden, allgewaltigen Macht in der »wilden Sehnsucht«, sondern
Erinnerung an das eigene zeitlose Wesen: die reine Zukünftigkeit,
in der Schelling das eigentliche Sein der Zeit erkannte (Schröter,
Erg. Bd. 2, 204, § 114), in die Tannenhäuser zurückflieht und die
nur in den Augen einer Gesellschaft schrecklich ist, die selbst in einer
scheinhaften Vergangenheit (welche immerzu Vergangenheit bleibt)
zurücksteht. Die Sprache, in der der Tannenhäuser erzählt, gewinnt
von hier etwas so schauerlich Leichtes, so Selbstverständliches, das
unser Grauen steigert, weil wir, wie über eine Barriere weg, halb
ängstlich, halb unbetroffen der Gefährlichkeit eines menschlichen
Innern zuschauen, dem auch eine Emma, ein Friedrich nicht ent-
kommen.
Die Zukünftigkeit ist also ein Erlebnis von Anamnesis; ein Auf-
schluß von des Menschen eigenstem Wesen legt sie, paradox genug,
durch das »Gedächtnis« (III, 852/3) frei. Die sehnsüchtige Mu-
sik entsteht ja aus dem Venusberge, dort sind alle Klänge »einzeln
und verborgen«, deren verwirrendes Spiel die »irdische Musik« zu-
stande bringt. »Wie Schleier«, erzählt der Tannenhäuser, sei es von
seinem Angesicht hinweggefallen. Der Weg zum Venusberg ist also
ein Weg in die unirdische Heimat jener faßlichsten Chiffre der Zeit,
der Musik.
Wir haben diese Zusammenhänge, daß die eigentliche Offenba-
rung des Selbstseins als »Erinnerung« im »Gedächtnis« erlebt wird,
in der romantischen Philosophie nachgewiesen und finden in einer
Interpretation von Tiecks Märchen deren poetische Gestaltung: Zeit
wird nur in ausgezeichneten Situationen, und dann unvermittelt
erlebt als ein Anspruch durch das im verfallenen Alltagsleben ver-
gessene zeitlose Sein des Menschen (III, 852/3).61

279
Die innere Leere und die Ekstatik des Herzens

Lovell, nicht anders als sein Dichter: Tieck, leben in einem ständi-
gen Aufschub ihres >Charakters<. Tiecks letzte Briefe vor seinem
Tode künden von den wichtigsten Plänen seines Lebens; und Lovell
läßt sich durch keine Enttäuschung in der Absicht entmutigen, sich
»morgen« in feste Hände zu bekommen (ständig »verspricht« er,
»mehr zu denken und mit freiem Willen zu handeln«; I, 303). Er
sieht die »In-konsistenz« der menschlichen »Stärke« ein (I, 302), ver-
spricht aber gleichwohl dem Freunde: »Itzt soll mich der äußere
Schein und eine elende Heuchelei nicht wieder so leicht hintergehen;
in Louise Blainville hab ich mich geirrt, aber mir wird kein zweiter
Irrtum begegnen« (I, 303). Freilich - dies schreibt Lovell in »Lyon«,
und Balder hat ganz recht, wenn er Lovells Liebe ganz ein Resultat
seiner Umgebung nennt. Denn in »Paris« verstand sich Lovell noch
sehr anders. Aus dem inneren »Zerfallensein« (I, 555) mit sich
selbst, aus den tausend Widersprüchen, die er in sich selbst findet
(I, 459), macht er eine passive Eigenschaft seines Herzens: »Der Bu-
sen des fühlenden Menschen hat für tausend Empfindungen Raum«
(I, 289) - das ist eine direkte Entgegnung auf Balders Behauptung,
das Herz werde durch das Gefühl der Liebe ausgefüllt. Ganz richtig
entlarvt er Balders unaufrichtige Reflexion, die die Leere seines
Herzens zu verdrängen suchte, indem sie sich in der Identität mit
dem Liebesgefühl begründete. Lovell fährt fort: »Warum will der
Mensch seiner eigenen Wonne zu enge Schranken setzen? Des To-
ren, der da schwört, daß er nie wieder lieben wolle! Kann er seine
Seele zurücklassen?« (ebd.) Die Frage verbirgt hinter der Sugge-
stion eine ähnliche Unaufrichtigkeit wie die Balders. Daraus, daß
die Seele sich selbst überschreitet, folgt nicht, daß sie sich in der
Identität einer zeitlosen Eigenschaft »Selbstüberstieg« zu gründen
vermöchte - , ein Versuch der Zeitvorstellung, der in den Zenoni-
schen Sophismen endet. Die Seele entgeht auch in dieser Gestalt
ihrer Freiheit nicht, die eine Freiheit nicht als passive Eigenschaft,
sondern als Spontaneität ist. Die Spontaneität ist der unverrechen-
bare Rest, der in keiner Selbstbestimmung, keinem Gefühl, keiner
Entscheidung aufgeht und die Handlungen eines in Bestimmungen
flüchtenden Lebens immer weiter treibt. Durch jedes Scheitern im
Versuch der Selbstbegründung wird Lovell mit ihr bekannter. Die
gleichbleibende Struktur aller seiner Entwürfe ist ein jäher Um-
schlag aus der äußersten Exaltation in die Kälte der Enttäuschung,
die aus der Asche der erloschenen Begeisterung allmählich neue Glut
schürt, bis der Funke der Leidenschaft herausschlägt und un-
versehens wieder »in trägem, dumpfem Stillstand« (I, 451) ver-
glüht. Nachdem sich diese Abfolge einigemale wiederholt hat, ge-

280
winnt das Bewußtsein der eigenen Freiheit, nach dem Lovell so
oft so leidenschaftlich fragt, allmählich die Oberhand - als Traum-
bewußtsein. Sehen wir zu, wie er sich selbst dieser ekstatischen Frei-
heit bewußt wird:
»Aber was ist es, (o könntest Du es mir erklären!) / daß ein Genuß nie unser
Herz ganz ausfüllt? - Welche unnennbare, wehmütige Sehnsucht ist es,
die mich zu neuen ungekannten Freuden drängt?« (1,321).
Ein Trieb nach Ganzheit (»Ergänzungstrieb«, sagt Novalis),
müßte die Antwort lauten, ein Versuch der Freiheit, sich als An-
sich-Seiendes, als eine Passivität nach Art der Dinge zu begründen,
ohne sich als Freiheit aufzugeben und ohne über diese glückliche
Einheit-mit-sich-selbst hinausgetrieben zu werden. Oft schon hüllten
Lovells unreine Reflexionen ihn in ein unehrliches Gefühl des Zu-
sammenhalts mit seinen Empfindungen. Aber das präreflexive An-
tizipationsbewußtsein hat noch immer diese Unaufrichtigkeit ent-
larvt:
»Im vollen Gefühle meines Glücks, auf der höchsten Stufe meiner Begei-
sterung ergreift mich kalt und gewaltsam eine Nüchternheit, eine dunkle
Ahndung - wie soll ich es Dir beschreiben? - wie ein feuchter nüchterner
Morgenwind auf der Spitze des Berges nach durchwachter Nacht, wie das
Auffahren aus einem schönen Traume in einem trüben engen Zimmer -«
(I, 321). Er habe sich, fährt Lovell fort, bisher über das Wesen dieses
»beklemmenden Gefühls« getäuscht und es als »Sehnsucht nach Liebe«
mißkannt, »aber« - nun folgt ein ungemein erhellendes Geständnis -
»auch neben Amalien quälte mich diese tyrannische Empfindung«, d. h.
selbst dort, wo das Gefühl sich zu verwirklichen scheint, drängt sich ein
Rest auf, der die Einheit der Person in dieser Empfindung überschreitet
und, »wenn sie [er] Herrscherin in meiner Seele würde [wie sie tatsächlich
ist], mich in einer ewigen Herzensleerheit62 von Pol zu Pol jagen
könnte« (a.a.O.).

Es ist wirklich so: die Seele ist konstant leer und immer nicht
das, dem sie gegenwärtig am leidenschaftlichsten sich hingibt (d. h.
bei dem sie gegenwärtig-anwesend ist, ohne es sein zu können).
Auf diesen stets verfehlten Zugriff aufs Ganz-sein-Können paßt
die Symbolik des Zeit-Rades, zu der sich Lovell schon im zitierten
Wort über die Harmonie (verräterisch für seine Geisteshaltung) be-
kannt hatte (»das rauschende Rad der Zeit«, heißt es 4, 292). Wer
über jedes Fenster, das sich ihm in die Zukunft öffnet, das Gitter der
schlimmsten Ahnungen hängt, so daß ihm die Zukunft schon Ver-
gangenheit geworden ist, bevor sie noch Zukunft war, dessen Leben
muß wie ein ewiger, auswegloser Umtrieb erscheinen - als ein
»nichtiger schwindelnder Zirkeltanz« (I, 367) von Entwurf und
Enttäuschung.63 »Ein solches Wesen«, meint Lovell und denkt an

281
sich, »müßte das elendeste unter Gottes Himmel sein; jede Freude
flieht heimtückisch zurück, indem er danach greift, er steht, wie ein
vom Schicksale verhöhnter Tantalus in der Natur da, wie Ixion
wird er in einem unaufhörlichen martervollen Wirbel herumge-
jagt.« Es ist die Situation des »vom Erinnern Kaufen« - »Müs-
sens« (Ged. I, 142), da das »Herz« vor der »unendlichen... Zu-
kunft« »immer leer in sich verglüht« (ebd. 141). Vergangenheit ist
das einzige, aber auch immer schon verlorene Seiende. Die Lineari-
tät des Entwurfs, der immer neue Zukunft erschließt und aus ihr
die Gegenwart erhellt, wird also darum als Rad reflektiert, weil
die Reflexion dem Entwurf in eine >eigentliche Zukunft< immer
schon vorausgeeilt ist und die wesenlose Gegenwart durch Antizi-
pation des stets aufs neue vergeblichen »Wird schon gewesen sein«
sich als die einfache Regel ewig getäuschter Sehnsucht begreift.64
Unter den hinterlassenen Papieren von Lovells unglücklichem
Vater findet sich eine Aufzeichnung, die die Resignation über die
perfektische Zukünftigkeit der Entwürfe thematisiert: »Die größte
Schwachheit des Menschen ist, Pläne für die Zukunft zu machen,
und doch besteht darin das Leben: auf nichts sollte man vertrauen,
denn nie entspricht die Zukunft unsern Erwartungen, wenn sie zur
Gegenwart wird, und wir selbst und unsre innersten Empfindungen
sind ebensogut dem Wechsel unterworfen, wie alles, was uns um-
gibt.« Und er fragt sich: »Reut mich jetzt, was mir vordem Freude
machte?« (I, 45 3)85 Dahinter tauchen immer wieder Fragen auf,
die an den Sinn eines Wechsels, der auf der Stelle tritt, rühren:
»Warum läßt Sisyphos seinen boshaften Stein nicht endlich liegen?
Warum werden die Danaiden ihrer unglückseligen Arbeit nicht
überdrüssig?« (I, 345) - Wohl darum, weil »es keinem Menschen
gegeben [ist], alles aus dem wahren Standpunkte zu betrachten,
weil er selbst irgendwo als umgetriebnes oder treibendes Rad
steckt« (I, 398).
Das Motiv des Entwurfs (der akute Mangel) und das Resultat
(erneuter Mangel) fallen zusammen, es gibt keinen echten Progreß,
bis endlich »die Phantasie sich durch hundertmalige Exaltation/ er-
schöpft hat - daß die Seele endlich ermüdet zurückfällt« (I, 321/2)
in jenes unbeteiligte »traumähnliche Leben«, das »die kalte, wüste
Leere in unserm Innern« (I, 442) in der Überwindung zugleich ent-
hüllt und ermattet hinter sich läßt; . . . »und so befällt uns endlich
jene Leerheit der Seele, jene dumpfe Trägheit, die alle Federn un-
seres Wesens lahm macht« (I, 322). Die aus »jener Trunkenheit des
Geistes« heimgekehrte Seele kommt endlich als Fremdling wieder
herab«, glaubt sich »in eine unbekannte Welt versetzt« (ebd.) und
hat »doch die Schwingkraft verloren, sich wieder über die Wolken
hinauszuheben« (ebd.).66 Die voreilige Ansiedlung in der rausch-

282
haft erlebten Einheit mit sich selbst erfährt die Ent-setzung; ein
Schicksal, das in der Ekstatik des Herzens von vornherein angelegt
war, aber verdrängt blieb. »Überall bin ich mir fremd« (I, 501),
spricht das enttäuschte Bewußtsein. Aber der Traum weiß es bes-
ser: »Wir entfliehen uns immerdar, um auch auf den seltsamsten
Umwegen uns wiederzufinden« (III, 852). Unsere Heimat ist viel-
leicht nicht das erfüllte Herz.
Was aber, müssen wir uns fragen, bleibt in einer Traumwelt er-
fahren, wenn ihr eigentümlicher Bewußtseinszustand die Erfahrung
einer erschöpften, totgedrehten Abgeschlagenheit von den Dingen
ist?

Die Auflösung der Inhalte als »Zeitkonsum«

Die menschliche Wirklichkeit wird ihren Inhalten gegenüber end-


lich in träumerischer Ermattung gleichgültig. Die Zeitlichkeit, die
darin auf präreflexive Weise zur Gegebenheit gelangt, ist die reine
Entleerung der Substanzen: »Die Zeit rinnt Tropfen für Tropfen
unmerklich und unaufhaltsam fort, und alles ist dann leer und
vorüber, in/ den Wind zerstreut und verflogen, daß der Mensch
sich wie berauscht umsieht, und nicht begreifen kann, wo alles ihm
unter den Händen fortgekommen ist, was er innig an sein Herz ge-
heftet glaubte« (I, 454/5). Die ständige Wechselvernichtung zweier
inhaltlich erfüllter Intentionen untereinander entleert die Gehalte
zur Gleich-gültigkeit. »Alles ist mir jetzt gleich« (I, 458) - das ist
die konsequente Einsicht in das Sein der menschlichen Wirklichkeit,
die sich überschreitet und darum ihr Wesen nicht als Substanz zu be-
gründen vermag, sondern sich verfehlt. Keine der »tausend Empfin-
dungen«, für die »der Busen des fühlenden Menschen Raum hat« (I,
321), prägt sich ihm präponderant ein, und den Liebenden, der die
Totalität seines Fühlvermögens der Welt öffnet, ergreift die läh-
mende »Langeweile«67 (die »gewiß die Qual der Hölle« (I, 390 ff.;
25, i8o,2) ist) oder »das Gespenst der Gleichgültigkeit« (Brief an
Fr. Schlegel, 16t. 12. 1803). Die Langeweile ist das Ergebnis einer
totalen Antizipation, die die ganze noch kommende Zeit ausschöpft
und der die Zeit als lähmend erscheinen muß: »Der Begriff von Zeit
ist mir jetzt fürchterlich« (I, 608, vgl. I, 390), sagt der seelisch
bankrottierte Lovell. - Sie bietet ihm nichts Neues, ist ein ödes
Nichts aus lauter Langeweile (vgl. I, 282, 390 ff.; »Es ist alles nur,
um die Zeit auszufüllen«, 383). Wenn Tieck in der Vorrede zu sei-
nen Kritischen Schriften behauptet (und im Brief an Solger schon
geschrieben hatte), er habe »nie jene vielfachen und gewaltigen Um-
änderungen erfahren, die Andere an sich rühmen, oder sich über sie
beklagen wollen« (K. S. I, VII), so ist diese Versicherung ähnlich

283
zu deuten: es ist nur die »unbegreiflich schnelle Beweglichkeit der
Imagination« (a.a.O., 57) und das ständige Wechseln, über welches
Tieck nie hinauskam.
Über alle Gefühle legt sich der Mehltau der Nichtigkeit, den das
präreflexive Bewußtsein durch seine die eigene Substanzlosigkeit
überschreitende Zeitigung als Reflex an den Dingen zurückläßt. »In
der Gleichgültigkeit ist kein Strom; weder Vergangenheit, noch Zu-
kunft, auch keine Gegenwart« (III, 182).68 Sie versammelt die Dinge
in der Synopsis eines über den ganzen Zeitraum gleitenden, alles
vernichtenden Blickes, der das allgemeine Urteil findet: »Es gibt
kein einziges ernsthaftes Geschäft in dieser Zeitlichkeit, als zu ster-
ben« (I, 457). Eines ist gleich-viel wie das andere; nämlich alle sind
- nichts.
Diese Entdinglichung steht im genauen Zusammenhang mit dem
eher Berkeley'schen als Kantischen Idealismus69 des Andrea-Bun-
des70, dem sich Lovell anschließt. Der Satz: »Ich selbst bin das ein-
zige Gesetz in der Natur, diesem Gesetz gehorcht alles« (I, 355),
ist skeptisch gemeint. Aus den Dingen, wie sie in sich sind, läßt sich
kein Sinn der Welt erschließen. Er tritt in die Welt durch die Ur-
stiftung eines Entwurfs (als Reflex einer bestimmten Absicht), durch
den Dasein die Dinge überschreitet (nichtet) und sich von den Din-
gen her seinen Entwurf ankündigen läßt. Der Entwurf bestimmt
sich von den Dingen her, und zwar zugleich als das nicht seiend,
was die Dinge sind. Darum hört die »Leere im Innern« nie auf. Da
Lovell in dem Licht, das nun auf die Dinge fällt, nur den Reflex
seiner Wahl wiedererkennt und diese Wahl als einen grundlosen
(unbegründbaren), durch keine andere Instanz als seine gegenwär-
tige Spontaneität zu rechtfertigenden Akt begreift, stürzt ihm der
Zweifel an der objektiven Welt zugleich mit dem Zweifel an der
eigenen Realität in eines zusammen. Das »System der Systemlosig-
keit« (I, 467), das in Hardenbergs und Schlegels Philosophieren zu
einem Zentralproblem wird, ist hier im Lovell zum erstenmal als
Aufgabe begriffen. Das »Gefühl« einer »ungeheuren Leere« (I,
467), die die Seele über jede Bestimmung hinausnötigt, läßt sie in
jeder Selbstbeschränkung nur eine »zufällige«, keineswegs not-
wendige Fixation erkennen - »Dieses Gefühl stößt so Zweifel als
Gewißheit um« (ebd.). Es macht schlechthin ortlos; und alles ist nur
»tote Zeichenschrift [die nichts bedeutet], wenn der Mensch sich nicht
am Ende über alle Philosophie und Systeme, selbst über das System
der Systemlosigkeit erhebt« (I, 467).
Nicht anders ergeht es Greene, einem jener Tieckschen »Men-
schen, der mit sich selber zerfallen ist« (I, 555). »O Christoph,
Freund«, ruft er aus, »mein Geist ist so abgejagt und müde, alles,
woran ich nur denken kann, erscheint mir so abgestanden schal und

284
nüchtern« (III, 406). Greene's »Krankheit« (wie er sein Leben
nennt) und Lovells Schicksal kommen in einem tertium compara-
tionis überein. Sie leiden am »rasenden Zeitkonsum«.
Dieses Ausdrucks hat sich Tieck in der Novelle Die Reisenden
bedient. Der wahnsinnige Methusalem, der der meßbaren Uhr-
zeit das inkommensurable Zeiterlebnis seines Innern entgegen-
stellt7», erklärt sich für »sechstausenddreihundertundvierundneun-
zig Jahre alt./ Gestern nachmittag hatte ich nur sechstausendund-
vierundneunzig; und denken Sie, in der kurzen Zeit bin ich schon
wieder um dreihundert Jahre älter geworden« (III, 181/2). (Nach
der objektiven Zeit ist er nur 23.) Was ihn in den Augen der Ge-
sellschaft zum Wahnsinnigen macht, ist der Realismus seiner Ein-
sicht in die »Relativität der Zeit«. - »Wissen Sie denn, was die
Zeit ist?«, fragt er mit bedeutungsvoll-leidender Geste, »o Lieber,
mancher Achtzigjährige geht zu Grabe, und hat vielleicht nicht
zwanzig Jahre, nicht zehn gelebt.« Die Zeit kann verdrängt und sie
muß allemal erlebt werden, anders gibt es kein Bewußtsein von
ihr. »Vielleicht gibt es Menschen, die von der Geburt an bis zum
Greisenalter nicht zur Zeit erwachen, und erst jenseit die erste
Stunde müssen kennen lernen. In der Gleichgültigkeit ist kein
Strom; weder Vergangenheit, noch Zukunft, auch keine Gegenwart.
Freude, Jubel und Glück sind rasende Kinder, die tobend umher-
springen und das zarte Stundenglas zerbrechen; hinter ihnen steht
der Tod und Nichtsein - der Himmel gab uns dafür keine Sinne«
(III, 182). Die Zeit wird also desto rasender erlebt, je mehr Vergan-
genheit sich aus dem Bewußtsein ablöst. Nichts ist folglich so läh-
mend wie der »Schmerz«: »Wie durch diesen Wunderbalsam die
Sekunde, die das Auge kaum unterscheidet, aufschwillt und mit der
Ewigkeit schwanger wird!« (ebd., dem peinigenden Gar-nicht-
mehr-Aufhören der Qual). Ein Augenblick der zeitentrückten Be-
geisterung aber - und es »waren Jahrtausende verlebt«, im Nu. -
Der wahnsinnige Methusalem, der so tiefsinnig räsoniert, wird
vom Direktor der Anstalt bei seiner Entlassung aufgefordert, »in
Eil« zu verschwinden (III, 194): »denn Ihr macht hier nur teure
Zeit, da Ihr sie so entsetzlich konsumiert.«72
Nun, der Gefahr, über Nacht 300 Jahre älter werden zu können,
ist jener reisende Bürger im Octavianus von vornherein nicht
ausgesetzt. Einig ist er mit dem Küster über die katastrophale, ge-
mütsverwirrende, alle »Einheit« aufhebende, »alle Regel« auflö-
sende, »anarchische« Wirkung einer nicht richtig gehenden Uhr:
»Doch ist die Uhr nur erst im Stande,/ Und das geschieht in kurzer
Frist,/ So weiß doch jedermann im Lande,/ Woran er mit sich sel-
ber ist« (1, 15).73 Die objektive Uhrzeit wird zum Symbol bürger-
lichen Selbstverständnisses. Der Reisende ergänzt:

285
»Das ist gewiß, nichts in der ganzen Welt
Geht über eine recht honette Uhr./
Warum? Man weiß dann stets in jeder Stunde,
Wie viel die Glocke eigentlich geschlagen.
Man ißt dann nicht zu spät und nicht zu früh,
Legt sich gesetzt zur rechten Zeit zu Bett,
Treibt das Studiren niemals über Macht,
Und da das Leben aus der Zeit besteht,
So muß man auch beständig danach sehn,
Wie viel es an der Zeit ist in der Welt.« (i, 15/6)
Aus der ganz richtigen Beobachtung, d a ß das Leben aus der Zeit
besteht, wird haarscharf die richtige Folgerung zu ziehen verfehlt.
Das bürgerliche Leben nach der Uhrzeit ist gerade das Leben ohne
Zeit. Die Mechanik des Uhrzeigerweges auf dem Zifferblatt be-
w a h r t vor der alarmierenden, revolutionierenden Erfahrung der
wesenhaften Ekstatik der Seele. Das Erleben der Zeit geht mit
einem Innewerden der Zersetzung aller Inhalte H a n d in H a n d .
Der Dichter Greene dagegen ist nicht Bürger genug, um sich an
einer »recht honetten Uhr« zu trösten. Sein ganzes Innere ist ihm
transzendent geworden. Auch der »schrecklichste« seelische Inhalt
ist der Leere des Bewußtseins vorzuziehen:
»O wohl dem74, der sich noch in den Abgrund schrecklicher Gefühle und
Ahnungen tauchen kann [das sind doch noch Substanzen!], dem aus seinem
gequälten Innern noch Schauder entgegentreten, der selbst im Labyrinth
seines Herzens noch mit dem Ungeheuer der Verzweiflung ringt! - aber
so wie oben Luft und blauer Himmel, Baum und Berg abgestorben und
verschwunden ist, so ist mir auch jene nächtliche Tiefe versunken, und
was ich sonst mein Inneres nannte, ist weder außen noch innen, ist nur
eine kahle, dürre, nichtige Fläche. Mein Leben ist weniger als ein Possen-
spiel, nüchterner als das Erwachen nach einem Rausch, und mein Tod wie
das Vergehen der Fliege an der Wand, ein Verhauchen, spurlos und ge-
räuschlos, kein Wesen wird mich vermissen, auch der schwächsten Seele
wird nicht nach mir bangen: ich war tot, längst ehe ich gestorben
war.« (III, 413)

Der physische Tod (der wider alle psychologische Kausalität ein-


tritt) ist nur noch die symbolische Realisierung der ständigen Ver-
fassung des Bewußtseins: des wahren Todes-im-Leben, eines Le-
bens, das sich rasend selbst »konsumiert«.
Doch welche Anmut zaubert ein Geistesverwandter der Lovell,
Greene, Florestan und Rudolph, der leichtsinnige Andalosia, aus
der Sprache, um die Verflüchtigung seines Lebens darzustellen:
»Wie hab' ich meine Z e i t . . .
In sündenvoller Eitelkeit vergeudet!/
War mein Erglänzen mehr als kalte Pracht
Des heitern Wintertages, der in Zacken

286
Gefrornen Eises blitzt in Baum und Strauch,
Liebäugelnd mit der starren todten Erden,
Indeß ohnmächtiger Mücken nicht'ger Schwärm
Im kalten Strahl ein kurzes Stündchen spielt,
Wie nachgeträumter Sommer? . . .
Indessen ich, ein wesenlos Gespenst,
Umzieh' wie nicht'ge schwache Frühlingsfäden,
Die jeder Windhauch wirft, und meine Gaben
Wie ungreifbarer Schaum des Golds zerflattern.« (3, 479/80)

Dergleichen Verse hat die Literaturgeschichte bis heute »markvol-


lerer« Diktion hintangestellt. R. Hayms gefährliches Diktum von
Tiecks »Stümperei« ist ziemlich unangefochten geblieben. »Man
schafft«, sagt Haym, »nichts Einheitliches, kein größeres harmoni-
sches Ganzes, wenn man nicht einig in sich selbst ist, im innersten
Herzen auf festem Grund steht und das Mark der Ueberzeugung im
Busen trägt. Dieser sichere Halt gerade war es, der dem Verfasser
des Lovell fehlte. Um seine Seele stritten sich die verschiedensten
Geister: in der mangelnden Einheit der Kunstform spiegelte sich
nur der Mangel eines positiven, den ganzen Menschen beherrschen-
den Pathos. -« 7 5 So lange, bis dies »Pathos« und der Stil der Po-
lonius-Rede in der Literaturgeschichte einmal verdächtig genug ge-
worden ist, wird das Urteil über Tiecks Poesie auf seine Rehabilita-
tion noch warten müssen.

Die Angst vor der Freiheit und der Taumel


der Möglichkeiten 76

Lovells Bewußtsein erlebt sich als eine substanzlose Leere, die sich
auf ihre Inhalte hin vernichtet, reine Zentrifugalität, reine Durch-
sichtigkeit, das gerade Gegenteil von Passivität. Als Spontaneität ist
es nicht in der Situation des »Sklaven«, der »nach einem Gesetze
sucht, nach dem er handeln müsse« (I, 459), sondern es bringt durch
irreduzible Akte der »Willkür« die Gesetze seines Handelns her-
vor: »Die Willkür«, schreibt Lovell, »stempelt den freien Men-
schen; von allen Banden losgelassen, rausch ich wie ein Sturmwind
dahin. . . . Mag's hinter mir stürzen und vor mir wanken, was sind
mir die Ruinen, die mich in meinem Laufe aufhalten sollten« (I,
369). Die Freiheit legt sich als das >Nichts<, das an der Ausführung
dieses oder jenes Entwurfs hindert, zwischen das Bewußtsein und
die Verwirklichung: »Nichts hindert mich, . . . zu . ..« (I, 441). Dem
Freunde Eduard gibt er zu bedenken: »Wo willst Du den Punkt,
den Moment auffinden, in welchem eine reine Seele zu einer schlech-
ten wird?« (I, 420). Ein Nichts von Wahl steht zwischen beiden

287
Möglichkeiten. Keine innere Notwendigkeit drängt, keine Kausali-
tät nötigt das Bewußtsein zu seiner Entscheidung.
»Ich will nicht«, ruft Friederike in der Blaubart-Erzählung, »ich
will frei seyn! Ich will, sag' ich Dir! - Es kann seyn, daß Du es jetzt
willst, sagte die Haushälterin; aber jetzt ist nicht immerdar, und kein
einziger Augenblick hängt mit dem folgenden zusammen« (9,

Auf solchem Grunde, da die Wirklichkeit immer von Potentialität


>überschwellt< wird, muß dem Bewußtsein vor sich selbst angst wer-
den. »Wie ein Schwindel befällt« (I, 200) es77 der Taumel seiner
Möglichkeiten, das jähe Entsetzen vor der Kontingenz seiner Ent-
scheidungen. Dies Innewerden der Zufälligkeit unserer Möglichkeiten
erzeugt »in uns eine Furcht, die ganz ohne Gegenstand ist, und die
sich oft . . . ohne alle Veranlassung meldet« (III, 872). Während uns
ähnliche, von ungefähr angewehte Stimmungen, wie »Andacht,...
plötzliche Freude an der Natur« usw. »durch ihre Sonnenklarheit
beglücken, so ist jene dunkle Angst eine stumme Verzweiflung«
(ebd.). Das ist jene »Furcht«, die Tieck, in seiner Analyse des vor
seinen Möglichkeiten schaudernden Richard II, als »die Grundlage,
gleichsam, aller Empfindungen« bezeichnet hat (BüSh. 116) und in
der sich auch der gesicherten Existenz der dunkle Grund ihres Da-
seins unüberhörbar vernehmlich macht. Wer dieses Bewußtsein in
sich zum Schweigen bringen will (indem er sich an die »sichern Pfei-
ler der Grundsätze... lehnt«, I, 460), verstedct sich, »weil es ihm
lästig ist, frei zu sein« (I, 459). »Die Grundsätze werden von den
Menschen nur erfunden«, um die lästige Freiheit hinter erlogenen
Sicherheiten zu verbergen »und in jedem Moment das Ganze über-
sehn zu können« (a.a.O.). Aber dieses Ganze ist nicht die Wahrheit
der menschlichen Existenz, und der Grundsatz-Entwurf muß
tatsächlich aus einer zweckmäßigen Handlung des Bewußtseins ge-
deutet werden, durch die es sich die Zeitlichkeit von der Seele fern-
zuhalten strebt, und setzt also die Erfahrung der Unbeständigkeit,
den »Schwindel« gerade voraus: »Sie haben es in irgendeinem
Augenblicke ihres Daseins recht lebendig gefühlt, daß kein Gedanke
und keine Vorstellung fest und unerschütterlich in uns stehen78,
daß eine strömende Empfindung, die oft plötzlich hereinbricht, das
niederreißt und hinwegführt, was oft seit Jahren mühsam aufge-
baut wurde; darum haben sie etwas ersinnen wollen, was die Ge-
fühle wie mit Klammern aneinanderhält, sie haben die meisten Sai-
ten der Laute zerrissen, um alle Töne im Gedächtnisse zu behalten,
und sich durch keinen Klang überraschen und verwirren zu lassen.«
Aber wer sich der gefährlichen Erfahrung öffnet, der »findet tau-
send Widersprüche in sich selber,/ alle Töne schlagen in ihm an«
(I, 459/60). Die Endgültigkeit der Weltorientierung wird durch

288
die disharmonische Vielstimmigkeit der hereinstürzenden Möglich-
keiten jäh in Frage gestellt.
Das >Aufrichtige< und >die Freundschaft< - dergleichen Ideale
glaubt Lovell als die Krücken des zur Labilität verurteilten Men-
schenwesens entlarven zu können. »Erinnerst Du Dich noch des
Tages«, fragt er seinen innigsten, treuesten Freund (Eduard Burton),
»an welchem zuerst aus einer Bekanntschaft unsre sogenannte
Freundschaft entstand? - « (I, 460). In solchen Situationen des
Entstehens und Vergehens, des Überganges, lauert jenes Nichts von
Freiheit, das Lovell einstmals mit einer ihm »unbegreiflichen Lust
ergriff«, den geliebten Gefährten von einer ausgesetzten Felsklippe
zu stürzen, welche die beiden im Anfange jener Begebenheit, an
die Lovell soeben erinnert, nach einer gefährlichen Kletterei er-
reicht hatten, während der sich der Kamerad geschickter gezeigt
hatte. »Ich hatte Dich bewundert«, erzählte Lovell,
»aber Dir war es noch nicht genug. Du stelltest Dich jetzt auf den äußer-
sten Punkt eines hervorragenden, zerbröckelten Gesteins, so daß mir hinter
Dir schwindelte. Ich sah Dich frei in der Luft schweben, und eine unbe-
greifliche Lust ergriff mich, Dich von der Spitze des Felsens in die Tiefe
hinunterzustoßen; je mehr ich mich dieser Begierde erwehren wollte, desto
heftiger ward sie in mir [denn sie ist das Bewußtsein der ängstigenden
Freiheit, an nichts und durch nichts gehindert zu sein - und muß desto
stärker anwachsen, je mehr eine Instanz in der Seele - etwa das morali-
sche Empfinden - gegen sie zugleich aufgeboten und entbehrt wird]; end-
lich um mich selbst zu überwältigen, riß ich Dich mit gewaltigen Armen
zurück und schloß Dich an meine Brust, und weinte laut . . . so band Dich
ein bloßer, schrecklicher Irrtum an mich.« (I, 461) -

Ein Irrtum, der darum »schrecklich« ist, weil er den trügerischen


Grund und die »unumschränkte Freiheit« (I, 460), auf der die
Freundschaft beruht, nicht aufreißt, sondern mit Illusionen über-
kleidet. »Wer sich selbst etwas näher kennt, wird die Menschen für
Ungeheuer halten« (I, 461), beschließt Lovell sein ihm abgeforder-
tes Geständnis (»weil Du doch immer so strenge Wahrheit ver-
langst«, ebd.); das bitterer gegen den Freund ausfällt, als es gemeint
ist; denn der wirklich Desillusionierte ist Lovell selbst, dem aufs
leidenschaftlichste die Frage nach dem Sinn der Zeit auf den Nägeln
brennt und der davor schaudert, sich mit dieser vernichtenden Leere
für einerlei Wesen erkennen zu sollen: Was ist denn »unser« aller
»Zufälligkeit« (I, 470) entkleidetes »Wesen«, »unser eigentliches
Selbst«, das in dem Maße ungreifbar wird, »je mehr wir unser jetzi-
ges Selbst aus den Augen verlieren« (I, 471). Ein Rätsel, ein in kei-
ner Bestimmung restlos Aufgehendes, ewig Veränderliches, vor
dessen »ungewissen, flatternden Gestalten« (I, 470) jene errungene
»Festigkeit des Blickes« sich sofort wieder einzubüßen verurteilt ist.

289
Man m u ß aus Lovells eigenen Worten jenes >Je ne sais quoi< von
unmittelbarer Erfahrung heraushören:
»Wenn ich manchmal in der Abenddämmerung sitze und sinne«, so erzählt
er in der typischen Pose von Tiecks Märchenhelden, »da ist es manchmal,
als schwingt sich mir etwas im Herzen empor, ein Gefühl, das mich über-
rascht und erschreckt . . . : ich greife dann mit dem Gedächtnis, wie mit
einer Hand darnach, um es mir selber aufzubewahren. Aber sonderbar,
Rosa, es ist in mir, und verschwindet mir dann doch ganz plötzlich wieder,
so daß ich seiner nicht habhaft werden kann. Alle meine Gedanken stehn
mir zu Gebot, alle meine Erinnerungen und Anschauungen, aber dies ist
ein Gefühl, das feiner und geistiger ist, als alles übrige; aber was ist es
und woher kömmt es und wohin geht es, wenn es nicht mehr in mir
bleibt? -« (I, 471)

Es ist die Offenbarung der Zeit und ihrer Ekstasen als Gegen-
wart, Vergangenheit und Zukunft, deren letztere zwei Lovell mit
sich selbst nicht zu identifizieren vermag: Sie bleiben entweder nicht
in ihm oder er ist ständig außer ihnen. Das Bild, welches er wählt,
verrät ihn: »Sollten diese Zustände vielleicht ebenso in uns sein, wie
das Sonnenlicht in einer gläsernen Flasche, das kömmt und geht, so
wie die Wolken ziehn?« (a.a.O.). 79 Und noch erhellender ist die
Assoziation, die Lovell in einem neuen Absatz gleich die folgende
Frage aufdrängt:

»Wie mag es überhaupt wohl um unsre Willkür stehen? Wer weiß, was es
ist, was uns regelt und regiert, welcher Geist, der außer uns wohnt, und
nur allmächtig und unwiderstehlich in uns hineingreift. Aus meinen Kin-
derjahren fallen mir manche Tage ein, wo ich unaufhörlich etwas Greu-
liches und Entsetzliches denken mußte, wo ich statt meinem stillen Gebete
Gott mit den gräßlichsten Flüchen lästerte und darüber weinte, und es doch
nicht unterlassen konnte, wo es mich unwiderstehlich drängte, meine Ge-
spielen zu ermorden, und ich mich oft schlafen legte, bloß um es nicht zu
tun80 - nein Rosa, damals war ich gewiß unschuldig und unverdorben
[d. h. nicht im geringsten aus einer seelischen Verfaßtheit zu Greueltaten
prädisponiert], und doch war diese Entsetzlichkeit in mir einheimisch - was
war es denn nun, das mich trieb, und mit gräßlicher Hand in meinem
Herzen wühlte?« (I, 471).

Die Frage rührt an die Faktizität der Freiheit: eine Antwort dar-
auf ist sinnlos: Das Wesenhaft-Unfaßbare der Existenz gerinnt nur
um den Preis einer schönen, aber gefährlichen Lebenslüge der Ver-
nunft (wie bei Eduard Burton) zum Verständnis. - Man wird nicht
erwarten, daß eine Erfahrung, die so sehr an die Fundamente des
Selbstseins rührt und den unreflektierten Verlaß auf etwas wie be-
sten Charakter< mit so scharfer Analyse in Frage stellt, im Werk
eines Dichters wie Tieck stationär bleibt. Tieck hat sich ihr immer
wieder ausgesetzt, und wir möchten glauben, daß es gerade diese

290
Erfahrung gewesen ist, die er so oft als das Material reklamiert, aus
dem seine Dichtung gestaltet sei und die so sehr und in so indivi-
dueller Ausprägung den Stil seiner Dichtungen tingiert, daß der
Kenner Tieck unfehlbar daran erkennen muß.
Antizipation des Umschlags aller Gefühle und Anschauungen81,
Bereitschaft zur Preisgabe jedes Bewußtseinszustandes - das ist die
geistige Gebärde Tiecks in so vielen seiner Briefe - so etwa, wenn
er an Friedrich Schlegel über den kranken Hardenberg schreibt:
»Sowie ich von seiner Krankheit hörte, hielt ich ihn für gestorben,
ja seit ich ihn kenne, sah ich ihn als Toten an, und meine Ahndung
hat mich nicht geirrt: doch hat mich diese Vorempfindung keines-
wegs abstumpfen können, ich war vorbereitet, um den Schmerz
schon im voraus zu fühlen« (23. April 01). Und zum Tode der klei-
nen Auguste Böhmer teilt er dem Freunde August Wilhelm mit:
»Seit lange hat mich kein Gedanke so durchaus betrübt gemacht und
kein Fall so hart getroffen. Nun ist es freilich sonderbar an mir,
daß ich durch einige ängstigende Verluste gewöhnt bin, alles nur
wie einen Traum zu empfinden und nicht daran zu glauben, so daß
mir seit lange schon das wirkliche Leben mit all seinen Ereignissen
nur wie ein Traum vorschwebt« (27. August 1800). So ist das Be-
wußtsein vom Möglichkeitstaumel mit der ständigen Antizipation
und dem Leben-wie-im-Traum verbunden.
Noch die alte Gräfin in der reifen Altersnovelle Schutzgeist
weiß von der Bodenlosigkeit des Existierens in Möglichkeiten. Sie
kennt jenen Lovell'schen »Schwindel« (III, 858) vor dem Potentiel-
len in der eigenen Seele: »Da alles, was von Menschen geschieht«,
bekennt sie, »auch als möglich in der eignen Seele ruht, so erfaßt uns
ein Entsetzen vor uns selbst, das auf lange allem Urteil Laut und
Stimme nimmt« (a.a.O.; vgl. fast ebenso I, 747, Z. 11/12). Aus der
Erfahrung der Relativität und Haltlosigkeit all dessen, worin sich
die Freiheit der Seele manifestiert und darstellt, sind jene Erleb-
nisse und Begebenheiten in Tiecks Werk zu deuten, mit denen seine
Kritiker bisher zu häufig ein Blindekuhspiel trieben. Man muß sich
ihnen zuvor aussetzen, auch um den Preis, daß ein an der klassizisti-
schen Charaktertragödie geschulter Blick oder ein tief in der Ge-
wohnheit eingewurzeltes Vertrauen in die Konsistenz der Ichheit zu
einer umstürzenden Reflexion auf das, was ein Charakter wohl
eigentlich sein mag, gezwungen wird. Dann kann jener Schwindel
vor der »unumschränkten Freiheit« (I, 460), deren Erfahrung we-
der Haym noch Gundolf ihr >Anäthema< gegen Tieck aussetzten,
zu der in ihrer Destruktion wirklich fruchtbaren Frage Lovells füh-
ren: »O Rosa, was ist Unsinn und was Vernunft? . . . ich schwin-
dele . . . « (I, 488).

291
Die Inkonsequenz des Bewußtseins

Fragen wir uns aber, was mit den vorangegangenen Bestimmun-


gen insgesamt gewonnen ist. Sie alle sind Aspekte und durchschei-
nende Folie der Temporalität der menschlichen Wirklichkeit. Das ist
richtig - aber unsere vorwiegend am Leitfaden des William Lovell
sich entlangtastende Fragestellung war zunächst vordergründiger.
Wir suchen eine Erklärung für das, was wir die Unfestlegbarkeit
des Charakters nannten. Diese Erklärung soll uns die Interpretation
der Tieckschen Dichtung tatsächlich erschließen.
Dem steten unmittelbaren Bewußtsein des bevorstehenden Um-
schlags der Gegenwart in eine düstere Zukunft mußten wir einen an-
deren Bewußtseinsstatus einräumen als jener punktuellen Lucidi-
tät^ die die Gegenwart fixiert und darum den Blick lenkt in ein
Labyrinth der Weglosigkeit, in welchem zwar jeder gerade jetzt
erreichte Ort vom Irrenden punktuell erleuchtet wird, aber derart,
daß sich die hellen Eindrücke gegenseitig verwirren müssen und die
Orientierung nur möglich wird durch ein radikales Vergessen der
jüngst vergangenen Gegenwart. Dieselbe kann sich restituieren und
die jetzige Gegenwart in die Schwebe bringen. Dann werden sich
bei häufiger Wiederholung alle fixierten Inhalte aufheben; und das,
was bleibt, wird sich als ein träumerisches Bewußtsein herausstellen,
das die Inhalte - präreflexiv, selbst nicht fixierend, gleichsam nach
Durchgang durch die Reflexion - vernichtet. Es realisiert sich selbst
als eine Leere, die sich über alle psychophysischen Entitäten und ihr
unmittelbares Objekt >Ichheit< ekstatisch hinwegsetzt und, nur im
Abstand zu sich selbst existierend, mitunter die Grundlosigkeit sei-
ner Entwürfe in dem Gefühl einer »Furcht ohne Gegenstand« er-
lebt.
Was aber heißt das: >Grundlosigkeit seiner Entwürfe<? Nichts
anderes, als daß in Hinsicht auf das (Zeit-)Bewußtsein selbst alle
Geltung des Satzes vom Grunde suspendiert ist. Das Bewußtsein
hängt mit seiner Bestimmung, die es sich zugleich bestimmt, selbst
nicht zu sein, nicht notwendig zusammen - oder vielmehr: es
bringt, wie in einer ständigen Schöpfung aus Nichts, sein Sein an-
dauernd durch Spontaneität, anstatt durch Kausalität hervor. -
Offenbar gehen alle obigen Paradigmata in dieser Bestimmung zu-
sammen, daß das Bewußtsein von Tiecks Gestalten inkonsequent,
d. h. ohne kausale Kohärenz zwischen seinen Zuständen ist. Im Ge-
spräch mit Köpke gesteht der alte Tieck: »Einer der widerstrebend-
sten Gedanken ist für mich der des Zusammenhanges« (Köpke II,
250) - andere Sätze aus dem Umkreis dieser Erfahrung erweitern
und ergänzen das. Eine Logik des Charakters, die uns instand set-
zen könnte, uns begrifflich zu kennen, gibt es also nicht: »Wem ist

292
es denn gegeben, sich selber zu kennen« (15, 256; I, 921), ist die be-
ständige, teils ausgesprochene, teils in den Stil der Beschreibungen
verflüchtigte Frage von Tiecks Personen, die um »jenen Zwiespalt
des Lebens« (11, LXXXIX) 8 2 zu gut wissen, als daß sie das »in al-
len Richtungen des Lebens und Gefühls« aufstoßende »Unauflös-
bare« (a.a.O.) in der harmonisierenden Versöhnung wiederfinden
könnten. Die Poesie aber hat das Unauflösbare darzustellen als
das, was es ist, und wird also selbst von dieser Unauflöslichkeit
ihres Gegenstandes83 durchdrungen sein, die das Kunstwerk »in
seiner Unendlichkeit« gestalten, nicht verdrängen soll (a.a.O.,
XXII). Das Infixible wird selbst ein ästhetischer Wert: »Dieser
ewige Wechsel der Gestalten, dies mannigfaltige, sich durchkreu-
zende Interesse, daß diese Figuren nie auch nur einen Augenblick in
Stillstand geraten«, sagt Franz Sternbald über eine Marktszene, »ist
es gerade, was es so wunderbar schön macht« (I, 942). Aber eben
wegen der Inkonsequenz »ist es«, wie es im Roman in Briefen
recht schnoddrig heißt, »um die Schilderung des Menschen eine miß-
liche Sache« (15, 255).
Das versteht sich von selbst, wenn alle kausale Folge aus den
Charakteren und deren Zuständen entfernt ist, wenn die »Seele in
Leid und Freude schwankt« und »kein Entschluß Wurzel fassen
kann« (»ich weiß nicht, was ich bin, ich weiß nicht, was ich suche«,
I, 802).
In das inkonsequente Bewußtsein, wo das Jetztsein nicht als
verständliche Konsequenz aus dessen vorherigem Status begriffen
werden kann, bricht der Unsinn des Kontingenten ein, wo »meine
Hand« mir plötzlich fremd werden kann, wo ich mir als ein
»Fremdling . . . begegne, der mir den Arm entgegenstreckt« (I, 359),
wo der »eigne Ton«, die »eigne S t i m m e . . . fremd und schrecklich
geworden sind« (I, 14), wo jeder sich »überall... fremd« ist (I,
501) — und wo schließlich der seiner Orientierung beraubte Ver-
stand dem Vergessen seiner ursprünglichen Zwecke kein Hindernis
mehr in den Weg zu stellen weiß. »Ich weiß selbst nicht, wie es
kömmt, daß ich meinen Zweck fast ganz und gar vergesse« (I, 932),
klagt Sternbald. Aber Ludovico belehrt ihn (zu Rudolf Hayms
Empörung): »Man kann seinen Zweck nicht vergessen,... weil der
vernünftige Mensch sich schon so einrichtet, daß er gar keinen
Zweck hat« (ebd.). Vernunft bewährt sich gerade darin, daß man
die Verstandesregel nicht auf die Zwecke des Lebens anwendet.84
In einer der von der Kritik wegen ihrer Verworrenheit und
Formlosigkeit am meisten zerzausten Erzählungen Tiecks (Die sie-
ben Weiber des Blaubart) - »das Unsinnigste und Verworrenste,
was je aus Tiecks Feder geflossen ist«, sagt Haym 85 - findet sich der
folgende Dialog:

293
»Wenn Ihr es überlegt, daß im ganzen Menschenleben kein Zweck und
Zusammenhang zu finden ist, so werdet Ihr es auch gern aufgeben, diese
Dinge in meinen Lebenslauf hineinzubringen.
Wahrhaftig, Du hast Recht, sagte Bernard, und Du bist wirklich verstän-
diger, als ich dachte.
Ich bin vielleicht klüger als Ihr, sagte Peter, ich lasse mir nur selten etwas
merken.
So wäre also, sagte Bernard tiefsinnig, das ganze große Menschendaseyn
nichts in sich Festes und Begründetes? Es führte vielleicht zu nichts und
hätte nichts zu bedeuten, Thorheit wäre es, hier historischen Zusammen-
hang und eine große poetische Composition zu suchen; eine Bambocchiade
oder ein Wouvermanns drückten es vielleicht am richtigsten aus.« (9, 193;
vgl. ebd., 105; 156/7)
»Verstand« zeigt Peter Berner, der darin »vielleicht klüger« als
Bernard ist, gerade darin, daß er den Verlust des Verstandes-
Zwecks als eine reale, von der Kunst nicht zu vermeidende Bestim-
mung des »Menschendaseyns« erfaßt. Die Ironie der ganzen Wen-
dung (die freilich noch eine aktuell satirische und apologetische Ab-
sicht verfolgt) entlarvt ein eingewöhntes Vorurteil über den
menschlichen Charakter, der womöglich nur dadurch »richtig dar-
gestellt« ist, daß ihn der Künstler gar nicht als Charakter dar-
stellt.86 Eben weil »ich mir überall fremd bin«, sagt Lovell, »finde
ich . . . in dem verworrenen Wechsel des Lebens . . . überall mit
meinen Ideen einen wundervollen Zusammenhang« (I, 394; 501).
Die Kausalität ist durch die »Willkürregel« (Novalis) ersetzt. Das
>Von ungefähr« schleicht sich verunsichernd ein. Daß der soge-
nannte »Charakter« oft »von einem kleinen Zufalle . . . abhängt«
(I, 241; 692), weiß Lovell, noch bevor er sein Wissen durch sein Le-
ben erproben muß.
»Du solltest Dich doch schon daran gewöhnt haben«, schreibt
Mortimer dem Freund Karl Wilmont, »daß es in dieser Sterblich-
keit eine Menge von Vorfällen, Wirkungen, Handlungen, und Un-
terlassungen ohne Ursache gibt. — Es gibt Leute, die bei einem Al-
legro weinen können, oder die beim schmelzendsten Adagio einen
unwiderstehlichen Beruf zum Tanzen fühlen, wer wird hier nach den
Ursachen fragen?« (I, 253). In diesem Sein-von-ungefähr liegt etwas
vom »Rätselhaftesten und Unbegreiflichsten« (I, 397) in der Men-
schennatur. Es ist die dunkle »Grundbedingung unserer Existenz«,
von der noch der alte Tieck sprechen wird 87 und die dem Märchen
- das diesseits der logischen Erfahrung entspringt - das Einfalls-
tor in unsere Wirklichkeit offenhält. Wie im Märchen, sagt Lovell,
»schwebt die Welt mit ihren Menschen und Zufälligkeiten vor mei-
nen Augen. Oft erschein ich mir dann selbst wie ein mitspielender
Schatten, der kömmt und geht, und sich wunderlich gebärdet, ohne
zu wissen warum« (I, 402). Andreas »Lotto« und »Glücksspiel« mit

294
den Menschenleben (I, 484) ist aus der Willkür der ins Positive ge-
wendeten Verzweiflung darüber motiviert, »daß der Mensch die
Konsequenz nicht hat, auf die ihr eure Berechnungen gründet« (An-
drea, I, 397). Das ist die Einsicht, die diesseits aller ästhetischen
Kategorien den Wert eines die ganze Spanne einer menschlichen
Existenz überdauernden Erlebnisses besitzt und zunächst und zu-
vörderst nach dieser ihrer >Lebens-Wahrheit< beurteilt sein will.

Der »Mensch ohne Charakter« in Tiecks Theorie

In den Literarischen Notizheften schreibt Friedrich Schlegel:


»Der einzige Charakter im Lovell ist er selbst, ein Mensch ohne
Charakter« (L. N., 525). Das sieht auf den ersten Blick nach einer
witzigen Kritik aus. Aber Schlegel hat im Athenäum seine Ansicht
zu verstehen gegeben, daß »so tief und ausführlich... Tieck viel-
leicht noch keinen Charakter wieder dargestellt« habe (KA II, 245,
Nr. 418). Tiecks beste charakterologische Studie bringt also einen
Menschen ohne Charakter zustande?
Wir sind in der glücklichen Lage, Tiecks poetisches Selbstver-
ständnis nicht allein aus seinen Dichtungen erschließen zu müssen,
sondern besitzen einen »etwa 1794« (Lüdeke), gleichzeitig also mit
der Arbeit am Lovell, entstandenen Shakespeare-Kommentar, der
jener auf die erste Lektüre etwas blassen Historie von einem der
ersten >schwierigen< Charaktere der modernen Dramatik, dem Ri-
chard IL, »große Vorzüge vor allen bisher gelesenen Stücken Sh.«
(BüSh. 103) einräumt. »Es ist«, so scheint Tieck in direkter Erwide-
rung dem später gegen ihn gemachten Vorwurf sich zu stellen, das
»Haltlose« seiner Charaktere sei die blanke Unfähigkeit, aus
»Mark« und »zeugendem Nu« volle Menschen zu gestalten (Gun-
dolf) - »Es ist gewiß eine größere Kunst, als manche Dichter und
Kritiker glauben, Wesen ohne Charakter, wie Richard ist« und wie,
fügen wir hinzu, auch Golo, Lovell, Greene, der Blaubart usw. sind,
»interessant zu zeichnen« (a.a.O., 105). Tatsache ist, daß Tieck die
»Marklosigkeit« seiner Charaktere mit Gründen verteidigte, auf
die sich seine Kritiker bis zum heutigen Tage nicht eingelassen ha-
ben.88
Die Struktur von Lovells Unentschiedenheit, die innere Plurali-
tät seiner Zustände, die Unfähigkeit, sein Leben zu reflektieren,
ohne daß diese Reflexion nur neuer Behextheit von übermächtiger
Gegenwart zu überführen wäre, sein endliches Versinken in dem
träumerischen Leben ohne Inhalte - all diese Momente und deren
psychographische Reihenfolge hat Tieck als psychologische Wahr-

295
heit an Shakespeare's Behandlung des schwachen Richard IL ge-
rühmt (a.a.O., 102 ff.). Durch jedes einzelne dieser Stadien und ihre
genetische Abfolge ist Richard ein wahrer menschlicher Charakter.
Zweierlei ist für uns besonders bemerkenswert an Tiecks Bespre-
chung: zum ersten nämlich, daß Shakespeare's poetische Darstel-
lung der menschlichen Seele - wie Tieck sie versteht - an dem ge-
messen wird, was Tieck als die wirkliche Verfaßtheit der mensch-
lichen Seele reklamiert (das ganze Buch über Shakespeare häuft
solche Rekurse auf die wirkliche Psychologie des handelnden Men-
schen). Zum anderen stellt Tieck durch den Verweis auf eine Stelle
in seinem Abdallah (8, 164/5) e m e s e n r erhellende Querverbin-
dung zu seiner eigenen poetischen Praxis her, die verrät, daß er sich
der gleichen Wirklichkeit verpflichtet weiß. Dieser Verweis aber be-
trifft ein substantielles Strukturelement des Tieckschen Frühwerks,
nämlich die an eine Erfahrung des wiederholten Selbstverlustes an-
geschlossene Verzweiflung, sich selbst je in den Griff zu bekommen,
- eine Erfahrung, die sich in der Pose des überschwenglichen Auf-
gebens gefällt. Sie ist nicht zu verwechseln mit »jenem beständigen
Gefühl von der Nichtigkeit des irdischen Glücks, jener unaufhör-
lichen Idee der Vergänglichkeit« (BüSh. 113), sondern unterschei-
det sich radikal davon darin, daß Richards überschwengliche Ver-
zweiflung als eine Verdrängung seiner unerträglichen Freiheit inter-
pretiert wird, welche Tieck als »die Grundlage, gleichsam, aller
seiner Empfindungen« (a.a.O., 116) enthüllt. Die Verzweiflung des
Aufgebens ist der Versuch, aus dem rasenden »Leichtsinn« wechseln-
der Gemütszustände und dem sich jagenden Springen zwischen den
Extremen in die Eindeutigkeit eines Weltekels zu flüchten. Die Of-
fenheit, das selbstverschuldete Verfolgtsein von Möglichkeiten ist
ihm unerträglich. »Daher«, schreibt Tieck, »ahndet er . . . die trauri-
ge Bothschaft des Salisbury, und überläßt sich nun gänzlich einer
kalten Verzweiflung, die er und Johnson mit ihm sehr unrichtig für
Seelenstärke ansieht. Schon damit er nicht länger mit Zweifeln zu
kämpfen braucht, wünscht er in einer Art Bangigkeit die Gewißheit
seines Unglücks« (a.a.O., 114), indem er das Unbegründbare seiner
Existenz, sei es auch in der Verzweiflung, festmachen will, aber
nicht kann.
Richards Taumel von Gegenwart zu Gegenwart — den Fluß der
Zeit verdrängend - hat Tieck aus der Unfähigkeit zu einer Total-
reflexion gedeutet. »Die inkonsequente [wider besseres Wissen er-
folgende] Art, . . . sich selbst... zu belügen und zu betäuben«, die
Flucht vor »aller mühsamen Thätigkeit« läßt ihn den »im Grunde
seines Herzens [nagenden Zweifel] an jedem glücklichen Erfolg«
unter Aussparung aller »Mittelideen« in einer »Art von Schwärme-
rei« verdrängen, in der Richard sein Glück mehr »beschwört« (ebd.)

296
als wahrnimmt. Die nachfolgende Enttäuschung stürzt ihn sogleich
aus der mutwilligen Selbstaufgabe-an-die-Hoffnung, und zwar
schon beim ersten vagen Anzeichen eines Unglücks, in die ebenso
mutwillige Selbstaufgabe an »das äußerste Extrem, an die lezte
Vorstellung seines Unglücks, er übersieht ganz und gar die dazwi-
schen liegenden Vorstellungen« (a.a.O., 115). Dieser Sprung und
dieses Übersehen sind nur verständlich aus einem präreflexiven
Selbstbewußtsein (von) sich als unbegründbarer Existenz: Nur sie
kann die zweckmäßige Handlung einer verzweifelten Identifizie-
rung mit dem Unglück motivieren, der gleich die Identifizierungen
mit neuer Hoffnung und wieder neuem Unheil folgen - alles un-
ter Ausklammerung des Bewußtseins vom Wechsel als solchem - ,
bis schließlich das schon beschriebene Traumbewußtsein Richard in
eine Art von Anerkennung seiner inwendigen Substanzflucht erlöst.
Es ist eine sehr feine Beobachtung Tiecks, daß »die Schlüsse des
Verstandes und die Empfindungen des Herzens«, wie er sich aus-
drückt, »bei den meisten Menschen ganz genau zusammenhängen«
(a.a.O., 114) und daß »gewiß fast immer von den Analogien des
Denkens der moralische Charakter, die Stärke oder Schwäche eines
Menschen« abhängt (115). »Man sollte daher«, empfiehlt Tieck,
»auf die Art, Ideen zu verbinden, sehr aufmerksam sein« (ebd.). Es
verraten sich in den »Empfindungsreihen« (117) und der Art, wie in
ihnen Zustände, Bewußtseins-Phasen assoziiert werden, die wech-
selseitigen Präponderanzen von Begriff und Sinnlichkeit (über ein-
ander). »Der bloß sinnliche Mensch«, schreibt Tieck mit Rücksicht
auf Richard, »kennt keine Thätigkeit und kein Vergnügen der Seele
[d. h. des Geistes, im Unterschied zum »Sinn«], für ihn giebt es nur
angenehme und unangenehme Empfindungen einer Art gerade zu ge-
genüber gestellt, Langeweile und Unterhaltung; aus dieser Art zu
empfinden bildet sich bald eine Art zu schließen, die allenthalben
die Extreme gegenüber stellt, und/ diese Art zu schließen hat wie-
der, wie sehr natürlich, auf die Empfindungen großen Einfluß. Da-
her kommt Richard jetzt mit einem Sprung an das äußerste Extrem,
an die lezte Vorstellung seines Unglücks, er übersieht ganz und gar
die dazwischen liegenden Vorstellungen« (114/j. So, fast wörtlich
gleich, hatte Tieck schon die »Rapidität der Empfindungen« beim
Romeo erklärt, 49 unten). - Im Lovell werden die unterschied-
lichen Präponderanzen von Begriff und Sinnlichkeit im Charakter
(für die wir stilistische Illustrationen vorführten) aus unterschied-
lichen Verhaltensweisen zur Zeit erklärt. Das Sensuelle erliegt dem
Unmittelbaren der punktuellen Lucidität: es sieht sich, unter Ver-
drängung des inneren Zeitflusses, dem es desto hilfloser ausgeliefert
ist, an die Gegenwart gewiesen und überspringt im Wechsel das
Wechseln selbst, um sich erst bei dessen Resultat wiederzufinden und

297
darin sogleich wieder aufzugehen. Was Tieck das »Sinnliche« nennt,
ist die Erfahrung übermächtiger Gegenwärtigkeit, zugleich mit dem
Versuch, die eigene Freiheit loszuwerden. »Brutus«, erklärt Tieck
zur Illustration des gegenteiligen Typs, »bleibt . . . im Unglück...
immer kalt und gemäßigt, er hat sich gewöhnt, eine Sache ganz zu
übersehn und ein Gefühl nach allen seinen Abstufungen und Graden
durchzuempfinden, ihm kann daher eine solche schmähliche Ueber-
raschung, wie Richard hier, nie begegnen.«
Was Richard mangelt, ist also die begriffliche Durchdringung sei-
ner (unmittelbaren) Empfindungen. Er täuscht sich von einer zur
nächsten, hofft und fürchtet stets gänzlich und alles, weil sein Be-
griff ihn nicht zu weiteren Konsequenzen trägt.
Tiecks Empfehlung entsprechend, darauf zu sehen, wie Personen
ihre Gedanken verbinden, finden wir fast überall bei Tieck diesen
präponderanten Sensualismus, der sich aus der Projektion in die
Welt erfährt (sie ist labyrinthisch, inkohärent - erst eine Reflexion
erkennt das Gemüt als Grund dieser Undurchsichtigkeit).
Der Kommentar des gerade Einundzwanzigjährigen arbeitet
noch mit den traditionellen Termini der Charakterstudie (Les-
sing!). Aber kein Zweifel: Tieck sah damals schon hinter den
Charakteren das undeterminierte Freisein aufleuchten, das auf
keine Weise aus xharakterlichen Prädispositionen< zu erklären ist.
Terminologisch angemessener sind die Erörterungen über das We-
sen des menschlichen Charakters in der Shakespeare-Novelle, in der
wir Tiecks einzig autorisiertes (nämlich selbst dem Druck über-
gebenes) Gesamturteil über Shakespeare, wenngleich in poetisierter
Form, haben. Dort widerspricht Shakespeare aufs heftigste der Be-
hauptung seines Freundes, die Erinnerung an gewisse Angehörige
habe in seiner Phantasie sich als so abgeschlossen bewahrt, daß »ich
. . . imstande (war), fast im voraus zu bestimmen, was jeder von
den deinigen bei jeder Veranlassung sagen würde« (III, 500) - mit
Ausnahme des Vaters, den William als zu streng und unzugänglich
geschildert habe und der doch das gerade Gegenteil sei. Diese auf-
fällige Enttäuschung einer Vormeinung wird zum Vehikel einer
ganz veränderten Reflexion auf das Wesen dessen, was man ge-
meinhin als festen Charakter einer Person zuschreibt. »Denn dar-
in«, läßt sich Tieck durch Williams Mund vernehmen,

»irren manche dramatische Dichter, daß sie den Menschen, wenn sie ihm
einmal einen Charakter beigelegt haben, nur einzig und allein in dieser
Hülle oder Gewohnheit erscheinen lassen. Der Ungesellige ist zuzeiten
freundlich und zutunlich, der Rohe, Verwilderte auf Stunden fein und
höflich, der Menschenfeind nachgebend und human. Sehr oft ist die rauhe
Außenseite nur eine bequeme Maske, um ein leicht wechselndes Gemüt,
dessen Regungen von gewöhnlichen Menschen oft verkannt werden, zu

298
verbergen. Es gibt viele willkürlich angenommene Charaktere, die oft nur
durch Fortspielen zu wirklichen werden.« (a.a.O., 501)
Danach ist also der jeweilige Zustand des Charakters temporär,
nicht stetig. Das verraten die Zeitadverbien »zuzeiten« - »auf
Stunden« - »sehr oft« (vgl. 26, 366, Z. 16/7).89 Kann man aber
noch >Charakter< nennen, was nur die aktuelle Verwirklichung
einer Rolle ist, die neben anderen Rollen zur Wahl steht? In jedem
Menschen ist latent ein Mehr-als-er-selbst mitangelegt, »eine andere
Natur, die auch/ in ihm liegt« (a.a.O., 500/1), »nadidem es seine
Rolle mit sich bringt« (I, 451).90
So leben Tiecks Komödien aus der Anmut unendlicher Vertausch-
barkeit von Charakteren. Aber auch das Rollenspiel in den Reisen-
den taugt zur Illustration jenes Begriffs vom »synthetischen Cha-
rakter« (Novalis). Der Wahnsinn wird in dieser Novelle zur Alle-
gorie des Unfestlegbaren in der menschlichen Wirklichkeit.
Charlotte (im Jungen Tischlermeister) »versteht«, wie sie sagt,
»nur das, was ewig wiederkehrt, nie wandelt, weil es selbst der
Wandel ist«, nämlich »jene Schwäche in der menschlichen Natur«
(IV, 378), die ihr in Goethes »Weisungen . . . so meisterhaft geschil-
dert« scheint, daß in ihm »die menschliche Natur selbst... unver-
gleichlich präsentiert« sei (ebd.). Die »menschliche Natur selbst«
also ist ständiger Wandel, und der echteste Realismus, der nicht
»nur Larven und widerwärtige, wenigstens gleichgültige Gespen-
ster« (a.a.O., 379) hervorbringt, sondern die »echten« Menschen,
die uns wegen ihrer Lebenswirklichkeit allein »wirklich. . . inter-
essant« (378) sind, darstellt, wird Figuren von der Art eines Weis-
ungen, einer Adelheid jenen statischen Charakteren um eben dieser
Lebenswirklichkeit willen unendlich vorziehen. »Und Götz selbst«,
meint Charlotte, »fällt er nicht fast ohne Ursache von seiner Treue
ab, um der Anführer der rebellischen Bauern zu werden?« usw.
»Alle Hochachtung vor Tugend und Wahrheit! aber herrschten . . .
a l l e i n . . . jene festen, unerschütterlichen, dem Reiz und der Schön-
heit unzugänglichen« Menschen, »so gäbe es wenigstens keine Poe-
sie« (a.a.O.). Eine sich so verstehende Poesie steht und fällt mit
einer Welterfahrung, die für das Eindeutige und Festgelegte nur die
Diagnose der absichtlichen und unwahrhaftigen Beschränkung
kennt. 91 Es gibt nur die Zeitlichkeit - oder die Flucht vor ihr.

DAS >SCHAUSPIEL<

Wir haben durch die vorangegangenen Untersuchungen eine


Theorie des Charakters gewonnen, deren Relevanz in der dramati-
schen Behandlung erst recht auffällig werden kann. Wirklich hat

299
Tieck nie eine sogenannte Charaktertragödie zu schreiben versucht.
Im »Schauspiel« - das ist Tiecks Name für das untragische Thea-
ter - wird, im Gegensatz zur Tragödie, nicht viel aus der Indivi-
dualität der Charaktere entwickelt. Sie müssen daher offener, Tieck
sagt »allgemeiner« sein (BüSh. 388) »als in der Tragödie«, wo Cha-
raktere die Handlung determinieren (a.a.O., 391). Die Allgemein-
heit ist ein Stilmerkmal, durch welche »das Stück die ganze Welt...
enthält« (a.a.O., 387). Sie wird herbeigeführt durch jenen gleiten-
den Flug der Phantasie, die jede Haftung an den Dingen verhindert
und auch dort, wo sie auf Grenzen stößt, in der Anmut des Über-
sich-hinaus-Weisens, in der »Leichtigkeit«, welche »das Wesen des
Lustspiels ist« (a.a.O., 390), das >Alles< bedeutet. Der Blick darf
also nicht auf Inhalten haften — und alle Schauspiele, die diese
Machart tragen, nennt Tieck später konsequent »Lustspiel« (so den
Octavianus). Shakespeare's Wintermärchen ist ihm ein Beispiel da-
für. Man muß es nicht schlechthin für eine traditionelle Komödie
erklären; es ist »von allem etwas«, nur >nichts Bestimmtest »Es ist
offenbar eine eigene Gattung von Stück, weder ein Intriguenstück,
Charakterstück, Tragödie, Lustspiel, Pastorale, von allen etwas
darinn« (a.a.O., 394).

Komik und Phlegma - Tiecks Theorie des Lächerlichen

Es ist bei Gelegenheit dieses Schauspiels, daß Tieck »das Wesen


des Lächerlichen« (BüSh. 18) glaubt neu bestimmen zu müssen; neu,
d. h. polemisch gegen eine Tradition (z. B. »Hobbes«), die den Re-
kurs auf die Erfahrung des ekstatischen Selbstseins vermeidet und
an die Möglichkeit der Darstellung von in sich gegründeten Cha-
rakteren glaubt, denen die Zeit so äußerlich ist wie der aufgehenden
Sonne der Uhrzeigerstand auf dem Zifferblatt; eine Tradition also,
die die Zeit als Bewegung (Veränderung) im Raum darstellt und
nie über die Zenonischen Sophismen hinausgekommen ist. Aber et-
was, das sich darin erschöpft, das zu sein, was es ist (ob Charakter
oder Ding), ist nicht lächerlich. Das Gelächter taucht in einer Welt
von objektiven Bestimmtheiten erst durch ein solches Wesen auf, das
über seine eigene Objektivität immer schon hinaus ist und darum im
Abstand von sich selbst existiert. Erst ein Seiendes, dessen An-sich-
Sein zur Anwesenheit-bei-sich verfallen ist, kann auch in die Dinge
oder Charaktere oder in Verhältnisse zwischen Dingen oder in Re-
lationen von Dingen zu Charakteren den »Widerspruch« hineintra-
gen (usw. - Beziehungen, die selbst nicht ekstatisch sind, aber ein
Wesen voraussetzen, das Relationen stiftet).
»Das Wesen des Komischen«, sagt Tieck, »kann nicht, wie/ er

300
[Hobbes] behauptet, darinn bestehen« (a.a.O., 18/9), »daß wir uns
über dem verlachten Gegenstande erhaben fühlen müssen« (auch
diese Erklärung müßte natürlich als Ermöglidiungsgrund den
Menschen voraussetzen). Es »besteht [vielmehr] in einem beständi-
gen Widerspruch des moralischen Mangels mit dem moralischen We-
sen selbst und den ihn umgebenden Subjekten«.92
Der »Widerspruch«, den das Subjekt im Überschreiten einer Si-
tuation entdeckt, kann sich so darstellen, daß im Lichte seiner Er-
fahrung oder zum Zwecke seines Vorhabens zwei Dinge, oder ein
Charakter und ein Ding gar nicht zueinanderpassen wollen und ihre
Unverträglichkeit Gelächter erregt (»Situationskomik«) - oder so,
daß sein eigener Entwurf für den Zuschauer komisch mit dem über-
schrittenen Charakter des Entwerfenden kontrastiert, je nachdem,
ob der Entwurf im Lichte des Charakters, oder der Charakter im
Lichte des Entwurfs gesehen werden (»Charakterkomik«).
In der »Situationskomik« bleibt der Charakter als solcher, was
er einmal ist. Jede zeitliche Veränderung ist ihm äußerlich und be-
wahrt ihn als den, der er war. Nur eine komische Umgebung ver-
flicht ihn, ohne daß er aufhört, er selbst zu sein, in eine lächerliche
Zusammenstellung.
»In einer Situation«, erklärt Tieck, »kann der ernsthafte, ja der
verehrungswürdigste Mensch lächerlich werden, [aber] der komische
Charakter macht die Situation lächerlich« (a.a.O., 18). Der letztere
allein dissoziiert sein eigenes Sein von seinem Entwurf und konsti-
tuiert sich selbst als Objekt des Lachens; er trennt von »seinem mo-
ralischen Wesen« sich selbst und erschließt die Differenz als »Man-
gel«. Tieck illustriert das:
»Ein Betrunkener an sich ist nicht lächerlich", aber er wird es, sobald ihn
ein guter Freund begegnet, der sich ganz ernsthaft einen vernünftigen Rath
von ihm ausbäte, Molieres Geiziger ist am lächerlichsten, wenn er gern
freigebig scheinen möchte, Sh. Dummköpfe, wenn sie sich klug stellen.
In Thiere oder leblose Wesen, sagt der Spectator, die wir belachen sollen,
tragen wir erst Verstand hinein, aber eben so den Widerspruch mit sich
selbst, oder wenigstens mit dem von ihnen unzertrennlichen, mit dem,
womit sie ein Ganzes ausmachen. -« (19)
Die Situationskomik lebt, mit einem Wort, aus einer Ekstatik, die
wir, betrachtend, erst ins Spiel bringen und die der komischen Re-
lation äußerlich ist94; Charakterkomik hingegen entspringt unmit-
telbar aus dem unangemessenen Überstieg eines Wesens über »sich
selbst«.
Diese ganze Erörterung ist von einer Beobachtung angeregt, die
auf Shakespeare nicht besser als auf Tieck zutrifft: »Fast alfe ko-
mischen Charaktere Sh. sind etwas phlegmatisch« (a.a.O., 18). Das
findet Tieck »sehr natürlich« und erklärt es sehr einleuchtend aus

301
dem Obigen: Wenn Komik das Ergebnis einer tätigen Selbstent-
zweiung ist, durch die ein spontaner, temporeller Entwurf sehr wi-
dersinnig gegen das zurückbleibende substantielle Sein des Charak-
ters kontrastiert, so muß »der Dichter . . . eine Eigenschaft (aufsu-
chen), die allen seinen körperlichen Gefühlen [d. h. allem rein Sinn-
lichen der Personen], allen unentwickelten Charakteren gemein ist,
die Seelenträgheit, ein gewisses Phlegma, daher diese phlegmatische
Gleichmüthigkeit in allen komischen Charakteren. Nimmt man
dieses Phlegma hinweg, so (sinkt der Charakter) wird der Charak-
ter entweder ein ernsthafter, oder ein witziger, man kann nicht
mehr über ihnen lachen« (a.a.O., 21).
Der komische Entwurf, durch den ein Charakter »sich über die
äußern Verhältnisse hinübersetzt« (a.a.O., 369), läßt sein statisches
Sein als charakterliche Substanz zurück und entlarvt den jäh sich
lösenden Impuls als ein bloßes Akzidens, das keine echte Verände-
rung erwirkt, sondern trotz seiner Fliehkraft im Schwerefeld der
»Seelenträgheit« verbleibt, die ihre >vis inertiae< nicht wahrhaft
preisgibt, weil das überschrittene »Phlegma . . . natürlich . . . mit
hinübergenommen« wird (a.a.O.). Es ist ein Fall von unvollkom-
mener Transzendenz<. Das Akzidens oder der temporelle Überstieg
stiftet Komik aber nur im Rekurs auf die zurückbleibende Substanz,
so wie umgekehrt (möglicherweise) diese Substanz nur aus der mit
unangemessenem Gewicht ausgestatteten Beiläufigkeit ihrer Akzi-
dentien komisch erscheint: Der Charakter, für sich genommen, vom
Überstieg gelöst, würde das »Ernsthafte« des Tragödienhelden, das
bloß Überfliegende aber würde das abstrakt »Flüchtige« des von
Tieck so genannten »Witzes« (vgl. dazu a.a.O., 296) isolieren. »Die-
ser Witz«, erklärt Tieck,
»läßt sich leichter mit ernsthaften Begebenheiten verschmelzen, als das
eigentlich Komische, denn er ist an sich schon über das Komische erhaben,
und jenes Phlegma, das beim Komischen so unentbehrlich ist, steht der
Verbindung im Wege: Der Witz ist an sich flüchtiger, er fesselt auch das
Interesse nicht so, als die vis comica der Charaktere« (a.a.O., 296), darum
die witzige Beatrice nicht eigentlich liebenswürdig genannt werden kann
(a.a.O., 298).

Witzige Charaktere haben daher, wie Tieck folgert, eigentlich


gar keinen Charakter, so wie reine Charaktere keinerlei komische
Transzendenz, geschweige Witz besitzen. Die einen sind nie außer,
die anderen nie bei sich. Beide Einseitigkeiten (des Charaktertragi-
schen und des Witzigen) werden daher der ekstatischen Struktur der
menschlichen Wirklichkeit nicht gerecht. Sie ist Übersteigendes nur,
insoweit sie ihre Substantialität zugleich (gewesen) ist, und ist Uber-
stiegenes nur, insoweit sie es selbst ist, die sich von sich ablöst, um
auf sich zurückzukommen. Diese »Hinübersetzung«, betont Tieck.

302
muß eine wirkliche Transzendenz des (subjektiven) Charakters sein,
d. h. sie darf nicht von äußeren Umständen (von der »Situation«)
ausgehen, wie etwa von der Situation akuter »Geldnoth« (369), die
sich aus dem Wege räumen ließe, sondern muß handelnd das Innere,
Substantielle (Phlegma) des eigenen Ichs überwinden: Ist das nicht
der Fall, so » . . . finden . . . wir nur ein äußeres Hinderniß, keine
eigentliche Handlung; dies könnte in jedem Momente aufgehoben
werden, und das Stück wäre zu Ende« (369/70).
Charakter-Komik ist also die Zeitlichkeit des Gemüts selbst, so-
fern wir über seine Transzendenz lachen müssen. Das substantielle
Sein, die Habitualität des Charakters muß durch einen sich auftuen-
den Abstand aus seiner Identität mit sich selbst herausgeholt wer-
den, indem das Phlegma, die »Trägheit«, sich (zum Beispiel) von
einer in spontanem Gefühl ergriffenen Anwandlung von Liebeslei-
denschaft absetzt und wir zwischen dem stehenden Charakter und
seiner jähen Aktualisierung sozusagen wie durch eine Spalte hin-
durchblicken können. Man sieht nun nämlich, daß nicht der ganze
substantielle Kern des Menschen in der Liebesleidenschaft steckt,
sondern mit einem Bein in die rasche Leidenschaft vorschreitet, wäh-
rend das andere in einer unangemessenen Behaglichkeit zurücksteht.
Tieck nennt Beispiele: So wird etwa aus »Einbildung - [jähe] Eitel-
keit, [aus] Trübsinn trübe Laune (die eben so lächerlich als die ko-
mische dargestellt werden kann), aus Haß Zorn, aus körperlicher
Zuneigung Zärtlichkeit, aus Menschenhaß Zorn gegen die Men-
schen, aus Lustigkeit Laune, aus Stupidität Dummheit und Naivi-
tät. Feigheit, Furcht* usw. Das ist eine ganze Skala von Habitua-
litäten oder reflexiv erfaßten Seelenzuständen (Passivitäten), die
sich in aktuelle Realisierungen verflüssigen können. Tieck kommen-
tiert das so: »Aber aus allem diesem entstehn auch die ernsthaften
Charaktere im Drama und in der Tragödie, es muß noch eine Mi-
schung hinzukommen, die sie einzig zu komischen Wesen macht. —
Durch die Erwärmung [Verflüssigung] ihres körperlichen [ = sub-
stantiellen, zuständlichen] Gefühls müssen sie uns näher gebracht
sein, aber izt stehen sie uns zu nahe, und die Erhabenheit ist ein
nothwendiger Beding des Lächerlichen geworden.« Was ist das für
ein Ingrediens von »Erhabenheit«? Eben dasjenige, was Tieck als
die Unabhängigkeit vom bloß Äußerlichen der »Situation« (z. B.
der »physischen Bedürfnisse,... Beschränktheit der Lagen und Um-
welt« (a.a.O., 369), etwa »Geldnoth«) erklärt hat. Komisch - wir
wiederholen - ist nach Tieck einzig und allein der Selbstüberstieg
der charakterlichen Substanz in und aus ihr selber. Wir lachen, wenn
wir sehen, wie sich aus der Schwerkraft der »Seelenträgheit« (eines
>mental habit<, z. B. Menschenhaß), gleichsam verdampfend, eine
aktuelle Gefühlsaufwallung (etwa Zorn) derart aufschwingt, daß

3°3
das sich »erwärmende« Gefühl nie ganz seine phlegmatische Her-
kunft verleugnet oder ihrer Gravitation entflieht. Aber das ist nur
eine Möglichkeit. Statt nach flüchtigem Impuls schlaff ins Schwere-
feld des Phlegmas zurückzusinken, kann die sich befreiende Ge-
fühls-»Erwärmung« unerwartet eine magische Repulsion gegen die
Seelensubstanz ausüben, über die sie sich erhoben hat, und sich
ganz von dem lösen, was wir als ihr wahres Sein vermuteten. Das
erste wäre ein komischer Fall von unvollkommener Transzendenz,
das zweite ein auf komische Weise radikales Vergessen. Bevor wir
uns in Tiecks Schauspielen nach Beispielen für beide Paradigmata
von Komik umsehen, wollen wir uns an einer erklärten Illustration
Tiecks für das erste Beispiel orientieren:
»Ein leichtsinniger, unbefangener Mensch« - dies sein >mental habit< -,
»der sich in das erste Frauenzimmer verliebt, das ihm aufstößt« - dies
die Aktualisierung, die »Hinübersetzung« - »mit einer Portion Phlegma
versehn« - dies die im Überstieg zurückbleibende seelische Trägheit -,
»wäre ein sehr komischer Charakter« (a.a.O., 21).
Tiecks Blaubart, in der Erzählung deutlicher als im Schauspiel,
hat manche Ähnlichkeit mit diesem komischen Paradigma, mehr
noch jener phlegmatische Liebhaber aus dem unveröffentlichten,
während der Arbeit am Shakespeare-Kommentar niedergeschriebe-
nen Puppenspiel Hanswurst als Emigrant. »Du weißt«, sagt dieser
Liebhaber, »ich bin ein Liebhaber, ich habe daher Langeweile ge-
nug, um zehn Morgen Landes damit zu besäen« (Tieck, NS. I, 80;
vgl. 12, 35). Die Visionen dieses Verliebten nehmen sich so aus, daß
jeder erkennt, durch welches Phlegma hindurch seine Leidenschafts-
ausbrüche vermittelt sind:
»Sie,
Nur sie steht ewig mir vor Augen!
Kaum heb' ich nur ein Gläschen Bier zum Munde,
So schwimmt ihr Bildniß drin! Von jedem Butterbrot
Schneid' ich mit Künstlersinn mir ihre Silhouette!
Jüngst trat ich gar ans Fenster, weil mir war,
Als riefe man >Rosalie< auf der Straße;
Und sieh! ein altes Weib schreit nur Radieschen aus.
So weit geht meines Herzens heiße Sehnsucht!«
(Tieck, N.S. I, 88)

Beispiele von komischer unvollkommener Transzendenz<

Unter den nachgelassenen Fragmenten zum Shakespeare-Buch


haben sich ein paar übersetzte Szenen von Ben Jonson und Beau-
mont-Fletcher gefunden. Die Auswahl scheint beabsichtigt (oder ist

304
jedenfalls gut geeignet), Tiecks Theorie des Lächerlichen zu illustrie-
ren. In The Woman Hater spricht Lazarillo mit sich selbst (BüSh.
384):
»O du vortrefflicher, herrlicher Appetit, den jede lebendige Creatur emp-
findet! O hör, hör auf mich so zu quälen! Schon drei verschiedene Sorten
von Sallat, mit feinem Oehl und Weinessig hab' ich hinabgeschluckt um
dir Genüge zu thun. - Knabe!«
Hier beruht alle Komik darin, daß die Freßgier und Schnäkerei
als unabänderliche Notwendigkeit hingestellt wird: Der ausschwei-
fende Habitus >Freßgier< wird zum >Appetit< herabgestimmt und
kann als solcher »jeder lebendigen Creatur« zugeschrieben werden.
Diese simulierte und prätendierte Notwendigkeit 941 ist das Phlegma,
welches in komischen Widerspruch zu dem jähen, mit panegyrischen
Adjektiven gepriesenen Appetit tritt, durch den die vorgebliche Na-
turnotwendigkeit in Wahrheit bejaht und damit als >Qual< über-
schritten wird. Lazarillo hat sich über dies Phlegma immer schon
»hinübergesetzt«, ohne sich wirklich davon zu trennen.
Dieser Typus von Scherz findet sich in Tiecks eigenem Werk sehr
häufig. Die Komik entspringt aus der offenbaren Unangemessenheit
der behaupteten charakterlichen Notwendigkeit (Determination) an
die dem Leser offensichtliche Freiheit des Wählenden, der, um seine
Freßgier realisieren zu können, ohne sie verraten zu müssen, sie
schon immer in einem unaufrichtig reflektierenden Überstieg verlas-
sen haben muß (als >Substanz< zurückgelassen). Das ganze un-
glaubhafte Ausgeliefertsein an die Freßlust, die mit emphatischer
Wiederholung ersucht wird, ihn (den passiv Ausgelieferten) nicht
länger zu quälen, wird entlarvt durch den Ruf »Knabe!« - durch
welchen Lazarillo die nächsten Schritte einleitet, um die Qual der
Ausgeliefertheit blitzschnell als Hunger-Qual des hemmungslosen
»Appetits« hinzustellen — ein Trick, hinter den man schon wegen
der Exaltation kommen mußte, in die Lazarillo geriet, wenn er in
der Erwartung des Küchenzettels sogar in Versen zu sprechen be-
gann (a.a.O., 382).
Es ist sehr gut möglich, daß Tieck für seinen König im Gestiefel-
ten Kater sich hiervon hat anregen lassen. Der König liebt gelehrte
Tischgespräche. »Mir schmeckt kein Bissen«, sagt er, »wenn nicht
auch der Geist einige Nahrung hat« (5, 220). Als aber das Kanin-
chen, das erste nach einer vom König verwünschten Spanferkel-Pe-
riode, gerade serviert wird, unterbricht er eine gelehrte Zurecht-
weisung seines Hof gelehrten, die mit diesen Worten endet:
»Kann Er sich denn nicht (da der Dumme doch sein Nächster ist) men-
schenfreundlich zu ihm setzen und liebreich sagen: sieh, Schatz, das ist so,
und jenes so, Du bist hierin zurück, ich will Dich mit Liebe auf den Weg

305
des Lichtes bringen, und dann etwas gründliche Logik, Metaphysik und
Hydrostatik ihm vorsprechen, daß der Dumme in sich schlägt und sich
bekehrt? So muß einer handeln, der ein Weltweiser heißen will.
[Regieanweisung:] Der Koch trägt das Kaninchen auf und entfernt sich.
König: Das Kaninchen! - Ich weiß nicht, die andern Herren essen es
wohl nicht gerne? -
(Alle verneigen sich)
Nun, so will ich es denn mit Ihrer Erlaubnis für mich allein behalten. -
(Er ißt).« (5, 229)
Der Umschlag entlarvt jäh und komisch die unwahrhaftige Atti-
tüde der Vorliebe für gelehrte Tischgespräche, welcher der König
sich bereits über Seiten hingegeben hatte und die mit einem Appell
an die Nächstenliebe beschloß und nun durch die karge Regieanwei-
sung »Der Koch trägt das Kaninchen auf« urplötzlich und über-
gangslos ihr Ende findet. Ebenso unwahrhaftig ist aber die Höflich-
keit des Monarchen, der sich für die Maxime »Selber essen macht
fett« schon entschieden hatte, bevor noch der gute Ton eine rhetori-
sche Frage gebot. Noch immer ist das königliche Phlegma hinter
Masken versteckt. Aber selbst die fallen durch eine Beobachtung
der Prinzessin: »Mich dünkt, der König zieht Gesichter, als wenn er
seine Zufälle wieder bekäme«; und alles Folgende ist eine unver-
blümte Darstellung der egoistischen Konsumgier eines in seiner
weitschweifigen (der Enttäuschung gar nicht angemessenen), poeti-
schen Raserei doch wieder sehr phlegmatischen Monarchen, dessen
erhabene Vorlieben: Königswürde, kluge Gespräche, Wissenschaft,
Höflichkeit, Sorge um den Staat, Liebe für die Tochter usw. zusam-
mensinken in die habituelle Zuständlichkeit: egoistische Freßgier:
»König: (aufstehend, in Wuth.)
Das Kaninchen ist verbrannt! -
O Heer des Himmels! Erde/ - Was noch sonst?
Nenn ich die Hölle mit? -
Prinzessin: Mein Vater-
König: Durch welchen Mißverstand hat dieser Fremdling
Zu Menschen sich verirrt? - Sein Aug' ist trocken!
(Alle erheben sich voll Besorgniß, Hanswurst läuft geschäftigt hin und wie-
der, Hinze bleibt sitzen und ißt heimlich.) /
Gieb diesen Todten mir heraus. Ich muß
Ihn wieder haben!
Prinzessin: Hole doch einer schnell den Besänftiger.«
( j , 229/30)
Dieser Rat wird befolgt und leitet eine neue Wendung ein. Der
König, soeben unvermittelt in seinen Egoismus zurückgefallen und
noch immer dabei, in Rage die Klassiker der Weltliteratur zu zitie-
ren, ist durch das Glockenspiel eines für dergleichen Gelegenheiten
am Hofe beamteten »Besänftigers« ebenso rasch wieder über seinen

306
Egoismus hinaus, als er vorher aus dem geistigen und empfindsamen
Höhenflug in denselben zurückgestürzt war.
»König: Wie ist mir. (Weinend.) Ach, ich habe schon wieder meinen Zufall
gehabt. -
Schafft mir den Anblick des Kaninchens aus den Augen. -
(Er legt sich voll Gram mit dem Kopf auf den Tisch und schluchzt.)«
(5.230)
Dieselbe Komödie bietet uns ein strukturgleiches Beispiel von
einem unaufrichtigen Entwurf, der erst durch eine doppelte Entlar-
vung hindurch auf das substantielle Phlegma der »Seelenträgheit«
bzw. Profitgier zurückgeführt werden kann und in drei Phasen sich
entwickelt.
In der ersten will der König im Märchenbuchstil von seiner Toch-
ter erfahren, warum sie alle Heiratsangebote von »tausend schönen
Prinzen«, die »ihre Königreiche zu (ihren) Füßen gelegt« (5, 186),
ausschlägt: »Sage uns die Ursach davon, mein Kleinod.« - Die
Antwort der Prinzessin, sie »habe immer geglaubt«, daß ihr »Herz
erst einige Empfindungen zeigen müsse, ehe ich meinen Nacken in
das Joch des Ehestandes beugte. Denn eine Ehe ohne Liebe, sagt
man, ist die wahre Hölle auf Erden« (5, 187 - schon eine andere
Stilebene, die des aufgeklärten Trivialgeredes). Diese Antwort also
führt eine Veränderung in der Attitüde des Königs herbei, die zu-
nächst noch ganz im Gewand väterlicher Fürsorge einherschreitet,
aber mit zunehmender »Erwärmung des Gefühls« Schale für Schale
von seiner angenommenen Nächstenliebe abspringen läßt, allerdings
immer noch rechtzeitig wieder aus den sich steigernden Verwün-
schungen seiner »verewigten« Gemahlin in eine philanthropische
Schlußsentenz zurückfindet. Anfänglich urteilt der König, daß seine
Tochter ein »wahres Wort« gesprochen habe:

»eine Hölle auf Erden!... Deine Mutter, meine höchst seelige Gemahlin, -
ach, Prinzessin, sieh, die Thränen stehn mir noch auf meinen alten Tagen in
den Augen, - sie war eine gute Fürstin, sie trug die Krone mit einer un-
glaublichen Majestät, - aber mir hat sie gar wenige Ruhe gelassen. - Nun,
sanft ruhe ihre Asche neben ihren fürstlichen Anverwandten!« (j, 187)

Diese Assoziation des Königs ist ganz richtig, denn die Prinzes-
sin hatte von einer »Ehe ohne Liebe« gesprochen.
Im zweiten Anlauf folgt auf die moralische Anleitung: »Auf mei-
nen Knieen möcht ich Dich beschwören, - nimm Dich beim Verhei-
rathen ja in Acht« usw. eine im Tone gesteigerte Wehklage:
»Was hab ich gelitten! Kein Tag verging ohne Zank, ich konnte nicht in
Ruhe schlafen, ich konnte/ die Reichsgeschäfte nicht mit Bequemlichkeit
verwalten, ich konnte über nichts denken, ich konnte mit Verstand keine

307
Zeitung lesen, - [und nun, die Seelenträgheit des Königs und damit einen
glaubwürdigem Grund für die Disharmonie mit der »Gemahlin« enthül-
lend:] bei Tische, beim besten Braten, beim gesundesten Appetit, immer
mußte ich alles nur mit Verdruß hinunter würgen, so wurde gezankt,
gescholten, gegrämelt, gebrummt, gemault, gegrollt, geschmollt, gekeift,
gebissen, gemurrt, geknurrt und geschnurrt [lauter Dinge, die sich nach
dem Tod der Königin durch den tyrannischen Egoismus des Königs sowie
die komische Einbeziehung von Knurr- und Schnurrgeräuschen bei fast
jedem und vor allem dem folgenden Essen wiederholen sollen; derart,
fährt der König fort], daß ich mir oft an der Tafel mitten unter den Gerich-
ten den Tod gewünscht habe. -« (5, 187/8)

Es folgt wieder die simulierte Besinnung auf die philanthropische


Geste: »Und doch sehnt sich mein Geist, verewigte Klotilde, jezu-
weilen nach Dir zurück« usw., in welchem Satz das komische »je-
zuweilen« das Naturell des Königs nicht ganz aus dem Blick gleiten
läßt.
Ein dritter Anlauf gebärdet sich entschieden elegisch und philo-
sophisch: »Statt Nektar trinken wir oft Gift, dann ist unser Lager
von Thränen naß, alle Hoffnung, aller Trost ist dahin. -« Einer
Regieanweisung »Man hört blasen« folgt der entlarvende Ausruf:
»Es ist doch noch nicht Tischzeit?«, der aber rasch in eine rührende
Schlußsentenz an die Tochter umgebogen wird, es sei wohl doch nur
ein neuer Bewerber und: »Hüte Dich, meine Tochter, Du bist mein
einziges Kind, und Du glaubst nicht, wie sehr mir Dein Glück am
Herzen liegt. (Er küßt sie und geht ab, im Parterr wird ge-
klatscht.)« (5, 188). - So weit, so gut. Es ist wirklich ein neuer Be-
werber, der sich vorstellt, nämlich der Prinz Nathanael von Mal-
sinki. Er eröffnet dem König die verführerische Möglichkeit, durch
eine günstige Heirat sein Reich unabsehbar zu vergrößern, und der
König flüstert seiner Tochter zu: »Artig, meine Tochter, höflich, er
ist ein angesehener Prinz, weit her, sein Land steht gar nicht einmal
auf meiner Landkarte, ich habe schon nachgesehn; ich habe einen
erstaunlichen Respekt vor ihm« (5, 192).
Wo, fragt sich der Zuschauer, ist jene altruistische Warnung ge-
blieben, sich vor der Heirat jedenfalls zu hüten? Sie hat gar nie
als Altruismus existiert, sondern war zunächst durch die egoistische
Erinnerung an seine Leidenszeit in der Ehe hindurch vermittelt. Die
väterliche Sorge sank aus ihrer schönen Gebärde bei der nächsten
besten Aussicht, zum eigenen Vorteil die Tochter, sei's auch zu ihrem
Unglück, doch zu verheiraten, kraftlos in sich zusammen; und nun
wird der König, der sich im Gespräch mit dem Koch wegen der Ra-
rität von Kaninchenbraten gewaltig echauffiert hatte, zornig auf
die Tochter, die sich dem Glück des Vaters entgegenstellt und das
nicht tun will, was nicht zu tun derselbe Vater ihr so angelegen

308
hatte sein lassen: »Geh, Undankbare, Ungehorsame, Du bereitest
meinem grauen Kopfe durch Dein Weigern, ein, ach! nur allzu-
frühzeitiges Grab! — (Er stützt sich auf den Thron, verdeckt mit
dem Mantel das Gesicht und weint heftig)« (5, 213).
In diesem Augenblick wird dem König das Eintreffen eines Ka-
ninchenbratens gemeldet. Der durch die Weigerung der Prinzessin
inzwischen überflüssige Prinz will seinen »demüthigsten Abschied«
nehmen, - aber der König ist über der Freude, ein Kaninchen zu
besitzen, ganz zur alten Haltung zurückgekehrt:

»Ja so, das hätt' ich über der Freude bald vergessen. - Leben Sie wohl,
Prinz. Ja, Sie müssen andern Freiwerbern Platz machen, das ist nicht
anders. - Adieu! Ich wollte, Sie hätten Chaussee bis nach Hause.«
(5.215)

- das ist alles, was der begeisterte Monarch zum Abschied sagt.
Hinter das komische »es ist nicht anders« hat sich alle Freiheit des
Königs, der auch fürsorglich sein kann, versteckt.
Wir haben hier die handgreifliche Veranschaulichung des phle-
gmatischen Charakters, dessen (aktuelle) altruistische Gefühlsauf-
wallungen jederzeit nur die gleichbleibende >Wärme< der substan-
tiellen Selbstliebe durchscheinen lassen. Keine von des Königs
scheinbaren Ekstasen über sein egoistisches Sein trennt sich mehr als
nur scheinhaft von seinem Phlegma; doch bleibt er auch nie eindeutig
bei seinem Egoismus, und insofern hat der aufmerksame Zuschauer
Fischer weder ganz recht noch ganz unrecht, wenn er sich beschwert:
»Der König bleibt seinem Charakter doch nicht einen Augenblick
getreu« (5,213).
Beim Kater Hinze sind es Natur und sittliche Bildung, die in Wi-
derspruch zueinander treten. Der Fortschritt, den das Gesetz der
Freiheit über seinen anarchischen Naturzustand erreicht hat und der
den Kater so hoch über seinen einfältigen Herrn erhebt, steht auf
unsicherem Boden — mit einer ständigen Abschüssigkeit zur verlas-
senen Naturstufe. Zwar weiß er Gottliebs Verwunderung: »Wie Ka-
ter, Du sprichst?« und die der »Kunstrichter im Parterr« (5, 178):
»Der Kater spricht? - Was ist denn das?« (ebd.) sehr wirkungs-
voll zu zerstreuen, indem er tiefsinnig über den Vorteil des Schwei-
gens im Umgang mit den Menschen spricht, die, sagt er, »in dem
Irrthume s t e h n . . . , daß an uns jenes seltsame Murren, das aus
einem gewissen Wohlbehagen entsteht, das einzige Merkwürdige
sei« usw. (a.a.O., 179). In Wahrheit hat der Kater sich von seiner
»Natur« gelöst und wird in der Fortsetzung seiner Geschichte als
ein geadelter, von allen wegen seiner Verständigkeit geachteter Mi-
nister der Aufklärung enden. So hat sich sein Wesen von der Natur
auf den Geist verlagert. Aber so sehr Hinze gegen den Knechtsgeist

309
der H u n d e schimpft und in der Attitüde der freien Selbstbestim-
mung als stolzer Rousseauist sich versteht, so abhängig m u ß er sich
als Fallensteller von der überwundenen N a t u r erfahren:

»(Eine Nachtigall im benachbarten Busch fängt an zu schmettern.) Sie


singt vortrefflich, die Sängerin der Haine, - wie delikat muß sie erst
schmecken! - Die Großen der Erde sind doch darin recht glücklich, daß
sie Nachtigallen und Lerchen essen können, so viel sie nur wollen, - wir
armen gemeinen Leute müssen uns mit dem Gesänge zufrieden stellen, mit
der schönen Natur, mit der unbegreiflich süßen Harmonie. -«
(ebd., 206)

Ein Widerspruch tut sich auf: Der emanzipatorische Überstieg


zur Selbstbestimmung ertappt sich im Schwerefeld der N a t u r . N u n
er sich aber einmal für die Kultur entschieden hat, in die er wie in
seine Stiefel hineingeschlüpft ist, bleibt ihm nichts als die Besinnung:

»Es ist fatal, daß ich nichts kann/ singen hören, ohne Lust zu kriegen,
es zu fressen. - Natur! Natur! Warum störst du mich dadurch immer in
meinen allerzartesten Empfindungen, daß du meinen Geschmack für Musik
so pöbelhaft eingerichtet hast? - Fast krieg' ich Lust, mir die Stiefeln
[das Zivilisationssymbol] auszuziehn und sacht den Baum dort hinauf zu
klettern!« (a.a.O., 206/7)

Der arme H i n z e hat sein Selbstverständnis ausgerechnet auf das,


was er nur sein will, entworfen und wird sich nun in Verfolgung
dieser Entscheidung zum ernstesten Gegner in der eigenen Brust;
dem, was ihm unmittelbar gefällt, weil es ihm schmeckt, das soll
nicht sein Geschmack, sondern gerade sein Gehör wegen der »unbe-
greiflich süßen Harmonie« schätzen; und umgekehrt das, wofür
seine Ohren von N a t u r taub sind, weil es nur seinen Geschmacks-
Sinn affiziert, soll er akustisch begehren. Der Versuchung, das er-
beutete Kaninchen vernünftigerweise selbst zu essen, widersteht er
durch den Tadel:

»Pfui! schäme dich Hinz! - Ist es nicht Pflicht des Edlen, sich und seine
Neigungen dem Glück seiner Mitgeschöpfe aufzuopfern? Dies ist der
Endzweck, zu welchem wir geschaffen werden, und wer das nicht kann, -
o ihm wäre besser, daß seine Mutter ihn nie geboren hätte. - (Er will
abgehen, man klatscht heftig und ruft allgemein da Capo, er muß die letzte
schöne Stelle noch einmal hersagen, dann verneigt er sich ehrerbietig und
geht mit dem Kaninchen ab.)« (a.a.O., 210, vgl. 10, 58).

Der Kater sucht gerade in dem seine N a t u r , was in ihm Ergebnis


eines illusionären Selbstverständnisses (einer scheinhaften Refle-
xion) ist und durchdringt auch seine plötzlich aufkeimenden Regun-
gen nicht auf ihre wahre Bedeutung. Insofern trifft des Hofraths
Hanswurst perfider R a t auf Hinzes Klage über seine eigentümliche

310
Naturreminiszenz, das Schnurren, genau ins Schwarze: »Da Sie nun
einmal so sind, so sollten Sie sich das gar nicht anfechten lassen«
(10, 58). Und von einem ähnlichen (nur dort unheimlichen, hier
komischen) Möglichkeitstaumel wie Lovell, der, um den wilden
Trieben seines Herzens nicht anheimzufallen, sich mit Gewalt schla-
fen legen mußte (I, 471), wird auch der brave Hinze befallen, wenn
er spricht: »Ich muß mich wahrhaftig in Acht nehmen, daß ich das
Wildprett nicht selber auffresse. Ich muß nur geschwinde den Tor-
nister zubinden, damit ich meine Affekten bezähme« (5, 210).95
Eine unverwechselbar Tiecksche Komik liegt in des Katers Ant-
wort auf Gottliebs Frage, ob's ihm geschmeckt hat (5, 203): »Recht
gut, recht schön« (ebd.). - Gerade heraus das simple Essen loben,
kann die stolze Katze nicht - sie beläßt es bei der Qualifikation
»recht -«. Aber wieviel verrät sich in dieser winzigen Geste! Das
ganze Verhältnis zu einem Manne des tiers etat, Gottlieb, dem er
zugleich über den Kopf gewachsen und doch von Natur nicht sozial
gleichgestellt ist, reflektiert sich darin - sodann die Ungeduld, die
schon während des Essens auf die Gestaltung der Zukunft vorblickt;
weiter die aus der selbstauferlegten Kultur bedingte Askese, die ein
zu starkes Lob des Essens schmählich erscheinen lassen müßte, aber
auch die Milde gegen seinen »Kamerad«; und schließlich noch die
Unmöglichkeit, ein vermutlich sehr bescheidenes, karges Bauernmahl
der Rede wert zu finden, wenn man denkt, wie man Minister wird
und den Kameraden zum König macht. Darum also äußert er nichts
als: »Recht gut, recht schön.« — Aber unvermittelt herauszuplat-
zen: »Das Gemüse eß ich nicht« (5, 218)96 verhindert ihn an des
Königs Tafel nur anfangs der Respekt vor dem Monarchen. Aber
der läßt im gleichen Maße nach, als sein Widerwille gegen das un-
natürliche Gericht zunimmt. Und der Widerwille nimmt im gleichen
Maße zu, als Hinze in der Muße des Essens nach und nach sich sei-
ner Verdienste und Leistungen besinnt, durch die er sich über den
Naturzustand hochgearbeitet und zur erwünschtesten Erscheinung
am Hofe gemacht hat. Wieder - so will es die Ironie - gerät
Hinze in Konflikt mit seinem kulturellen Überbau (übernatürlichen
Missionsbewußtsein), der sich nicht völlig vom eingebornen Cha-
rakter gelöst hat und im rechten Augenblick zurückfällt: »Ich sage
Euch, ich kann den weißen Kohl nicht vertragen« (5, 218).
Im Zerbino ist der nun geadelte Minister »Hinze von Hinzen-
feld« endlich in seiner zweiten Natur aufgegangen. »Das lernt sich
eben so schnell«, bemerkt er, »als Mäusefangen, es liegt uns in der
Natur« (10, 38). Er meint das Vornehmtun des »ehemaligen Ka-
ters«, der, so betrachtet, auch im Überstieg nie wirklich über das
hinausgegangen ist, was in ihm »Natur« ist (10, 57/8).

311
Die Komik der vorschnellen Reflexion<

Nicht nur das Prosawerk, auch die Komödie Tiecks kennt Bei-
spiele von vorschneller Reflexion<. Er erreicht durch dies Mittel
eine Komik, die ihm ganz eigen ist, die zu charakterisieren97 schon
die sprachgewandtesten seiner Zeitgenossen resigniert und darum
kurz das »Tieckische« genannt haben.98
Am Parnaß (Verkehrte Welt) ist unter dem neuen Regiment des
Skaramuz die Hippokrene für eine Brauerei nutzbar gemacht wor-
den, und einige betrunkene Gäste geraten alsbald lallend ins Ge-
spräch. Aus dem Gespräch wird Zank, aus dem Zank schließlich
Rauferei.
»Dritter Gast: Tragt den Besoffenen, - so - soffenen nach Hause.
Vierter Gast: Kommt; ich für meine Person, seht Ihr, als wenn ich sagen
wollte Ich, als zum Exempel Ich, so wie ich Euch da vor mir sehe und
vor mir stehe, ich kann keine besoffene Perschon, wenigstens für meine
Perschon,/ ausstehn. So viel davon, aber kein Wort weiter; denn, wie
man zu sagen pflegt, es sind doch nur unnütze Reden, und da sogar der
große Nebukadnezar hat auf allen Vieren gehen müssen, nun - warum
sollen wir uns denn schämen? So pfleg ich nur immer zu sagen.«
(5. 326/7)
Eine unsinnige Reflexion hat allen Überstieg im Keim erstickt
und läßt die Person in den Netzen einer ganz absurden Selbstbe-
schränkung zappeln. Gleich anfangs hat die Aufforderung
»kommt« durch die unsinnige Reflexion »ich für meine Person«
keinerlei Folgen und wird zwecklos. Die Reflexion verstrickt sich in
sich selbst, und der Fortschritt der Rede kommt über das »Ich, als
zum Exempel Ich«, das durch erweiternde analytische Nebensätze
die Schlingen um sich her noch enger zieht, gar nicht mehr heraus
und wird sich schließlich selbst unversehens zum Objekt: »so wie
ich Euch da vor mir sehe« - meint noch einen anderen -, »und vor
mir stehe« - meint bereits sich selbst. Das Ich des Sprechers steht
sich selbst im Wege. Nach einer Atempause folgen ein paar Tautolo-
gien, die endlich wieder, wie ein Sack Hohlheiten, von einer sehr
fundamentalen Reflexion »so pfleg ich nur immer zu sagen« zuge-
schnürt werden. So kommt der Redner ewig nicht von sich selbst
los, obwohl seine ganze Rede eine Absicht hat (auf eine Selbst-Ent-
äußerung abzweckt). - Betrachten wir den folgenden Dialog. Der
Streit ist inzwischen ausgeartet, der Brauer hat die »Obrigkeit« ge-
rufen, und in die schlichtenden Worte des herbeigeeilten Skaramuz
mischt sich unser Gast ein:

»Skaramuz: Er muß das Bier nicht so stark brauen, sonst gerathen mir
meine Untertahnen doch noch auf die Dithyrambe, und das soll nicht

312
sein. - Geht nach Hause, lieben Leute, und beruhigt Euch; aus der-
gleichen Händeln kann doch nichts herauskommen.
Vierter Gast: Warum nicht? Ich frage immer gern, warum?
Skaramuz: Daß ich ihn nicht mit seinen anstößigen Reden der Haupt-
wache anvertraue, da soll ihm die Begeisterung bald verrauchen.«
(5.329)

In die an sich schon unglaublich nichtssagende und -begründende


Rede purzelt der Einwurf »Warum nicht? Ich frage immer gern,
warum?« Was erregt daran Gelächter? Zunächst die Unangemes-
senheit der Sprachtempi. Ein solch breites, wertloses Salbadern
hätte keinen spontanen Einwurf erwartet; geschweige, da es keiner-
lei Argumente auffahren konnte, eine Bitte um Begründung, die
obendrein so allgemein und grundstürzend wie überhaupt nur mög-
lich ansetzt mit der Frage: »Warum?« Das Verblüffende wird aber
noch gesteigert durch die Wiederholung der Frage, wodurch sie sich
- wie im obigen Beispiel - ohne Fortschritt in sich selbst aufrollt,
was einesteils die Betrunkenheit des Mannes zeigt, zugleich aber
wieder die ganz unangebracht hastige Selbstreflexion des Fragen-
den in der Frage selbst: »Ich frage immer gern, warum?«. Das ist
wider alle psychologische Wahrscheinlichkeit. In dem ulkigen Zeit-
adverb »immer« verbirgt der Gast das etwas Dreiste einer unstatt-
haften, gar zu respektlosen Schnauze gegenüber der »Obrigkeit«.
Sein vorgezeigtes >Phlegma< soll das jähe Herausplatzen in die alte
Identität eines Seins-wie-er-immer-ist, also in einen angeblichen
Habitus, zurücknehmen.
Von der gleichen Struktur 99 ist die Reflexion in Martins wieder-
holter Frage (Blaubart), die in der Repetition noch sich in sich selbst
aufwickelt, als ihm erzählt wird, der gefährliche Peter Berner habe
einen blauen Bart.

»Martin: Wie sagt Ihr? Er hätte einen blauen Bart?


Conrad: Freilich, und der sitzt ihm an einem verhenkerten Gesichte, an
einer wahren Galgen-Physiognomie.
Martin: Ordentlich blau? Was man so blau nennt?« (j, 10)

Die Reflexion hält sich bei einem Merkmal auf, über das Conrad
mit Grund hinausdrängt, da es ja nur als Zeichen für ein unheim-
liches Wesen von Belang ist und dies Zeichen überschritten werden
muß auf vorsorgende Planung, wie man wirkungsvoll sich schützen
könne vor der indizierten Gefahr. Die Komik potenziert sich noch,
als Martin von Felsberg nach der ersten Nachricht von einem Siege
des Blaubart die eigene Not ganz vergißt über der Enttäuschung,
durchs geschlossene Visier des Berner keinen blauen Bart schimmern
gesehen zu haben (5, 23); und schließlich, als Gefangener nach einer

313
selbst erlittenen Niederlage abgeführt, zuerst einmal bestätigt: »Ich
hab' Euch immer nicht glauben wollen, - aber Ihr habt ganz
Recht, er hat einen blauen, wahrhaft blauen Bart« (5, 27). Es wird
noch zu zeigen sein, daß solche Verwechslung von Zeichen und Be-
deutetem, weil sie die Ekstatik des Charakters überspringt, für
Martin und seine Freunde tödlich wird.

Das übersteigerte Selbstbewußtsein

Auf dies Phänomen hat Peter Szondi100 zuerst aufmerksam ge-


macht. Es ist in der Forschungsliteratur oft zu lesen, daß Tiecks Ko-
mödien die Illusionszertrümmerung durch das Aus-der-Rolle-Fallen
erreichen. Man hat nachgewiesen (ein Nachweis, der die Mühe
kaum lohnt) 101 , daß dies nicht seine eigene Erfindung ist. Szondi
zeigt, daß diese Beobachtung weder richtig noch falsch ist, sondern
am Wesen der Tieckschen Ironie vorbeigeht. Es sind nicht Rollen,
die sich selbst zerstören und nach Ablegen der Maske in ihrem
wahren Sein (als Schauspieler) ergreifen - so einfach ist der Vor-
läufigkeit dieser dramatischen Existenz nicht zu entrinnen -, son-
dern Rollen, die »Einsicht in die dramaturgische Bedingtheit der
eigenen Existenz« haben und »über sich selbst als Rolle« reden.
»Dadurch wird sie aber nicht reduziert, sondern potenziert.« 102
Man muß wahrhaftig keinen Beleg dafür suchen, daß Tieck die
menschliche Wirklichkeit selbst zugleich als Rollenwahl und als
ständigen Überstieg über sich selbst gedeutet hat. Von einem Aus-
der-Rolle-Fallen kann keine Rede sein. Denn das würde voraus-
setzen, daß irgendeine Person eine in sich konsistente Rolle spielt.
Der König - ein Beispiel aus dem Kater - fällt nicht aus der
Rolle, wenn er über die Unmöglichkeit nachdenkt, daß der Prinz
von Malsinki in der deutschen Sprache so geläufig konversiert (5,
194), sondern er übernimmt nur die Rolle des Schauspielers, die
ihrerseits nicht weniger vorläufig ist als die Rolle des Königs. Dasein
ist In-Rollen-Leben. Man kommt durch keinen Überstieg in einem
>wahren Kern des Charakters< an.103 Das Rollenspiel muß aber als
eine Fluchtbewegung gedeutet werden. Sie entspringt im Innewer-
den unendlicher Veränderlichkeit:

»- O wie wechselnd ist


Doch mein Gemüth, so wandelbar, veränderlich
Ist nichts mehr in der weiten Welt: denn bald
Bin ich so glücklich, so von Herzen froh,
So in mir selber groß, daß ich mit Frechheit
Die Sterne pflücken möchte, und wie Blumen

314
Zum Kranze für mein Haupt zusammen flechten.
Ein Augenblick, so wechselt diese Flut,
Sie tritt zurück und macht das Ufer nackt,
Und ärmlich dünkt mir dann mein ganzes Innre.«
(10, 114) 1 0 4

Dieser Zustand wird durch eine übersteigerte Selbstreflexion (die


sich in dem fixieren möchte, als was sie sich gerade vorfindet) auf
unwahrhaftige Weise und nur scheinbar überwunden.
Wenn der Hanswurst und der König sich in ihrer Rollendepen-
denz vom Dramaturgen oder der Abhängigkeit ihres Seins von der
Phantasie des Dichters reflektieren (10, 147 f.), so bedeutet das, wie
Szondi zeigt, keine Gefährdung ihrer Rolle, sondern eine sich mit
Haut und Haar in die Rollenexistenz flüchtende Bewegung; eine
Flucht, die so vordringlich wichtig ist, daß die Unbequemlichkeit,
womöglich »weniger als Luft, Geburten einer fremden Phantasie,/
Die sie nach eigensinn'ger Willkühr lenkt« (10, 148), zu sein, da-
gegen irrelevant wird. Es ist eine Flucht vor der Nichtigkeit in eine
in ihrer Nichtigkeit doch zugleich substantielle Rollenexistenz.
So ist die Szene des Wirts aus der Verkehrten Welt zu deuten.
Dieser Wirt hat sich derart blindlings und kopfüber mit seiner Rolle
identifiziert, daß er seine Existenz nicht mehr bloß aus seiner Funk-
tion im gegenwärtigen Drama gefährdet sieht, sondern aus dem
Stand der Themenwahl in der zeitgenössischen Dramatik, die dem
Wirt die Existenzgrundlage abzuschneiden droht (5, 319/20).
Die Komik solcher Szenen scheint an Situationskomik zu gren-
zen, da sie auf einer scheinbar >objektiven Ironie<, einem objektiven
Mißverhältnis des Selbstverständnisses dieses Wirts zu seiner dra-
matisch determinierten Situation beruht, statt aus dem Charakter
entwickelt zu werden. Dieser Eindruck ist aber unrichtig. Der Wirt
kann vielmehr über die Gefährdung seiner Stellung als Wirt nur
darum räsonieren, weil er durch ein unmittelbares Bewußtsein von
der Bodenlosigkeit seiner Existenz ständig weiß und die unaufrich-
tige Reflexion auf sein Wirt-Sein der ganz zweckmäßigen Hand-
lung einer Verdrängung entsprungen ist: Er will, obwohl er sich da-
mit einer neuen Gefährdung durch die zeitgenössische dramatische
Mode ausliefert, um jeden Preis lieber Wirt sein als ein sich selbst
wissendes >Nichts<. In dieser Verdrängungsbewegung ist nicht mehr
deutlich zu unterscheiden, wo das >Phlegma< dieses Wirtes sitzt: ob
in der Insistenz seiner Einmauerung in den Gastwirtsberuf, die je-
den Überstieg in ihren Bann zurückzieht, - oder vielmehr in einer
ständigen Furcht, die gerade durch die Wahl des Wirtsberufs ver-
drängt werden soll? Es sieht ganz so aus, als ob dieser Wirt eine
Verlagerung seines phlegmatischen Schwerpunkts auf eine andere
Rolle überleben würde (dann wäre eben die Furcht vor der Leere

315
in ihm das Phlegma, das sich im Wechsel durchhält). Nur wird er
sich nicht in seiner Rolle als Wirt überleben. Diese Rolle müßte vor-
her »Selbstmord« (5, 425) begehen.

Das komische >Vergessen<

So geschieht es dem ehemaligen Zuschauer, nunmehrigen Schau-


spieler Grünhelm (Verkehrte Welt). Er weiß, daß er nicht schlecht-
hin die Vorläufigkeit einer Rolle überschreitet, sondern die Rolle
des Schauspielers nur gegen die Rolle des Zuschauers vertauscht. Der
Überstieg ist abrupt und wirklich ein partieller Selbstmord: »Meine
Geehrtesten! sehn Sie, ich bin nun bis zum Selbstmorde gekommen:
ich meine, daß ich den Schauplatz wieder verlassen will« (5, 425).
Das geht nicht ohne Tränen ab, der Absprung von der Felsenklippe
»in das Parterr hinab« (a.a.O., 427) greift den Zuschauer Wachtel
gewaltig an; aber auch auf der Schauspiel ebene fühlt sich der seines
Adjutanten beraubte Skaramuz zu einer philosophischen Bemer-
kung über diesen Tod gedrängt: »Ach, er ist zu beneiden, lieben
Freunde; auf die Fieberschauer dieses Lebens schläft er wohl, er ist
glücklich« (a.a.O., 428). - Man sieht, das Rollenspiel wird nir-
gends unterbrochen, und der Wechsel der Rollen in Grünhelms Le-
ben ist wie der Tod der Undine: das >vorher< und >nachher< trennt
ein Nichts an Zeit, die alte Existenz wird entweder im Nu verges-
sen oder distanziert erinnert: Man ist nicht mehr, was man war. La-
chen oder weinen können über das Schicksal der Verwandlung nur
die Zuschauer, die das Ehemalige und das Jetzige verbinden und
einen herzzerreißenden Widerspruch auftun, weil sie selbst ihr ek-
statisches Wesen in diese Verwandlung abgebildet sehen. - Erst das
Bewußtsein des Wechsels in der Einheit eines fortdauernden Ge-
wahrens macht in Tiecks Werk auch die Reflexion auf die Zeit mög-
lich.
Was den Wechsel der Rollen überlebt, ist nur die Infixibilität
des Charakters, das Hinüberwechseln selbst. Als Grünhelms Thea-
tergattin (Thalia) den in die Zuschauersphäre fliehenden Mann mit
folgenden Worten zum Bleiben bewegen will:
»Erinnre Dich der frohen Stunden, die wir mit einander verlebt haben;
gedenke der süßen Hoffnungen, von denen wir uns unterhielten. - Soll
alles dies nun gänzlich vorüber sein? - Wie? bist Du gerührt?«
antwortet der Gatte: »Keineswegs, Geliebte, außer zum Weglau-
fen, und das bin ich, wie gesagt, schon von Natur« (5, 425). »Von
Natur« also fühlt sich Grünhelm »zum Weglaufen« gerührt. Er ist

316
seiner selbst nicht sicher, und da er nicht freiwillig, sondern, gleich
Christian (Runenberg), »wie mit fremder Gewalt« (4, 217) aus
seiner Sphäre herausgezogen wird, »von Natur« sich selbst entflieht,
kann er sich über den Entschluß, ins Parterre zu springen, auch als
über eine »Bestimmung« verwundern: »Ich hätte nicht geglaubt,
daß meine Bestimmung mich dahin bringen sollte« (5, 425). Kein
Wunder, wenn unter dem Eindruck der ständigen Rollenflucht der
Zuschauer Müller im Gestiefelten Kater klagt: »Der Dichter ver-
gißt immer selber, was er den Augenblick vorher gesagt hat« (5,
195)-
Lenken wir den Blick auf eine andere Szene der Verkehrten Welt.
Seelmann, einen Soldaten, hat der unglückliche Ausgang einer See-
schlacht auf eine Felsenklippe im wüsten Ozean verschlagen.
Der arme ist dabei, an der Hoffnung auf Rettung zu verzweifeln.
Das erfahren wir aus einem Monolog in »Versen, die [nach
dem Urteil von Emil Staiger] zu den stimmungsvollsten der ganzen
deutschen Literatur gehören.«105 Tatsächlich hat Tieck viel von
dem, was die Psychologie nach Schilder »Sphäre«106 nennt, in diese
Blankverse gelegt; aber das ist nur bemerkenswert um des Kontra-
stes willen, in dem diese Verse untereinander und zum Fortgang des
Geschehens stehen - eines Kontrastes, den Staiger Tieck sehr übel
nimmt.
Seelmann beklagt nämlich seine Einsamkeit zunächst in wunder-
voll poetischen Bildern der Melancholie. Über der Darstellung der
Hoffnungslosigkeit verliert sich sein verklärter Blick in dämmern-
den Fernen mit wilder Sehnsucht: »Dann vergeß ich wohl,/ Daß
diese Klippe meine Heimath ist -« (5, 402). Eine kleine Regiean-
weisung: »Die Sonne geht auf« reicht zur Motivation hin, um diesen
Ton jäh zu verändern. Unter der Empfindung des »furchtbar maje-
stätisch« strömenden Glanzes der Sonne bekommen die Verse einen
festlich getragenen Rhythmus, gipfelnd in den Worten: »Was ist
der Mensch, daß er um Leiden jammert?/ Wer sieht die Allmacht,
die mit goldnem Fittig/ So unermeßlich in die Welt hinein rauscht/
Und denkt an sich? hinweg, du kindisch Zagen« (5, 402/3). Komi-
scherweise hat Seelmann diesen Wechsel von Verzweiflung in feier-
liche Demut noch »an jedem Morgen« (402) erfahren. Noch immer
ist in diesen letzten Versen die Stilebene wenigstens hoch. Aber da
kommt unversehens Rettung:
»(Ein Boot mit Matrosen rudert heran.)
Erster Matrose: Sieh, wie der Mensch da oben am Felsen klebt!
Zweiter Matrose: Bis jetzt ist es uns noch nie gelungen, einen solchen
Vogel auszunehmen.
Erster Matrose: Steig' herunter, Mensch!
Seelmann (herunter kletternd): O Freude! Freude!

317
Nach langem Leide,
Seh' ich die lieben Brüder,
Die Menschen wieder!
Zweiter Matrose: Höre nur, er singt ordentlich.
Erster Matrose: Er hat sich hier in der Einsamkeit wohl aufs Singen
legen müssen?
Seelmann (im Boot): O Leute, ein ganzes Buch will ich schreiben, /
Das soll jedem Leser die Zeit vertreiben. . . .
Erster Matrose: Es ist wohl sehr einsam da oben?
Seelmann: Freunde, Ihr glaubts nicht, wenn mans auch erzählt,
Wie sehr es an guter Gesellschaft fehlt;
Man ist nur immer mit sich allein,
Da mag der Henker lange verständig sein:
Man lebt hier beinahe wie auf dem Land,
Keine Neuigkeit kömmt einem zur Hand,
Von Maskeraden schweig ich nun gar und von Bällen,
Die einzige Unterhaltung sind Meereswellen;...
In dieser weiten Ferne könnt' ich den Soufleur nicht spüren,
Und doch mußt' ich einen großen Monolog rezitiren.«
(5. 403/4)

Seelmann hat in einer sehr kurzen Zeitspanne sich auf drei ver-
schiedene Stilebenen gelegt. Die rasche Veränderung hat keine Stim-
mungsintensität aufkommen lassen. Es sieht ganz so aus, als sei Seel-
mann zu abrupt aus seinen Rollen gefallen. Daß am Ende sogar
der Souffleur genannt wird, scheint der dramatischen Illusion den
Garaus zu machen.
Aber das scheint nur so. Während der übermächtigen Empfindung
seiner Ausgesetztheit ist Seelmanns Deklamation seinem Gefühl
vollkommen angemessen. Nach dem Sonnenaufgang ist diese Rolle
abgelegt. Seelmann als ein Verzweifelter erkennt sich im strömen-
den Glanz der Sonne nicht wieder, er stimmt sein Herz der Lage
entsprechend, und nach der Errettung fällt er, ganz ziemlich, in den
Komödienton zurück. Ein radikales Vergessen ist das Mittel, durch
welches er zweimal seiner eigenen Vergangenheit aufkündigt und
sein ganzes Sein (für Augenblicke) in das neue Gefühl herübernimmt.
Er liefert sich völlig an die Gegenwart aus - wie der Autor des
Tagebuchs - und identifiziert sich Hals-über-Kopf mit der jeweils
neuen Gegenwart. Aber so unvermittelt kann der Übergang nur
sein, weil Seelmann den Wechsel kennt. Er weiß, daß kein Zustand,
keine Gestimmtheit, keine Rolle die Unermeßlichkeit seiner Mög-
lichkeiten aussdiöpft, und gerade das Fehlen einer Überraschung, die
selbstverständliche Hinnahme des Umschlags einer Empfindung in
ihr Gegenteil macht hier die Komik aus.
Wir haben es in diesem Beispiel mit der spiegelverkehrten Struk-
tur von unvollkommener Transzendenz< zu tun. Der Überstieg

318
wird nicht als scheinhaft entlarvt, indem der Schritt in die Zukunft
jäh sein Verhaftetsein im Schwerefeld des alten >Phlegmas< zu spü-
ren bekommt, sondern löst sich so völlig in seinem Zielpunkt auf,
daß das ganze phlegmatische Sein transitorisch (mit hinübergenom-
men) wird. Das Phlegma und das Ziel des Überstiegs sind beide nur
Rollen. Eine Gegenwart verschluckt die andere und nivelliert We-
sen und Akzidens der Person. Das im Prozeß des Anschießens um
einen neuen Gegenwarts-Kern stets gestörte und wieder aufgelöste
Selbstbewußtsein hat endlich alle Orientierung verloren. Ihm bleibt
nichts, als sich immer wieder ganz aus seinem >Jetzt< zu verstehen
und das Wissen um die jähe Veränderlichkeit nie ganz zu verges-
sen. Es äußert sich im Ausbleiben der Verwunderung nach dem
Wechsel - als eine Resignation a priori sozusagen, die fast alle
Tieckschen Komödienfiguren107 teilen.

Ironie als dramatischer Stil

In Tiecks dramatischer Produktion sind die Strukturen der Tem-


poralität, die zunächst vorwiegend am Leitfaden des William Lo-
vell herausgearbeitet waren, wiederzuerkennen. Aber da ist noch
etwas anderes, das wir durch eine Beschreibung von Strukturen
nicht erfassen können und das doch viel unmittelbarer die Erfah-
rung von Zeitlichkeit indiziert: das Leichte und Anmutige der poe-
tischen Behandlung; ein Merkmal, das im Lovell noch kaum auf-
fiel.
Die Zeitlichkeit ist nicht nur ein Thema und eine Struktur der
Tieckschen Dichtung. Sie ist als Ironie in seinem Stil präsent.
Die Literatur hat die Tiecksche Ironie in die Tradition der Illu-
sionszerstörung gestellt und von dieser Seite mit Recht nur eine
vage und äußerliche Beziehung zu Fr. Schlegel und Solger entdecken
können. Aber gerade die Vormeinung, man werde nur jene grobe
materiale (theoriefähige) Ironie antreffen, muß den Leser am We-
sen des Tieckschen Werks vorbeiirren lassen.108 Tiecks Ironie ist in
die Behandlung seiner Sprache mit Haut und Haar eingegangen;
und aus diesem Standpunkt beurteilte er selbst seine Verwandt-
schaft zu Solger. Bis heute hat sie keine Arbeit der Forschung be-
friedigend erklärt.
Tieck nennt die Ironie - und wir erinnern an Solgers Bestim-
mungen - »das Göttlich-Menschliche in der Poesie« (Köpke II,
238), - den Punkt, in welchem sich das Sich-Offenbarende in die
Endlichkeit des zerspaltenen menschlichen Selbstbewußtseins auslie-
fert und in demselben als Vernichtung des abstrakt Endlichen sich
selbst (als das Offenbarende) zur Geltung bringt. Für diese Erfah-

319
rung reklamiert Tieck das »Erleben« (ebd. und 6, XXIX), das durch
keine Solgerlektüre und Kenntnis des philosophischen Buchstabens
ersetzt werden kann; weil auch die Vernunft nur »negativ«, d. h.
selbst ein Geoffenbartes ist, das ursprünglich »erfahren« sein muß
(vgl. unser letztes Schlegel-Kapitel). »Die Ironie, von der ich spre-
che, ist ja/ nicht Spott, Hohn, Persiflage, oder was man sonst der
Art gewöhnlich darunter zu verstehen pflegt, es ist vielmehr der
tiefste Ernst, der zugleich mit Scherz und Heiterkeit verbunden ist.
Sie ist nicht blos negativ, sondern etwas durchaus Positives« (Köpke
II, 238/9; vermutlich eine Erwiderung auf Hegels Vorwurf) -
nämlich das dargestellte Undarstellbare, das das Medium der Dar-
stellung zur Selbstaufhebung treibt. Dies Medium aber ist die Spra-
che in ihrer Materialität. Wer poetische Charaktere sprachlich dar-
stellen will, muß die ekstatische Grundverfaßtheit der >conditio
humana< - wie Shakespeare es tut - mit darstellen. »Man mag
hingreifen, wo man w i l l . . . Alles ist ironisch«, rühmt Tieck. »Das
gibt seinen Charakteren eben das Anschauliche und Begreifliche,
und dadurch sind sie wirkliche Menschen« (Köpke II, 223). Ihre
Asystasie, die Wandelbarkeit ihres Herzens muß in der dramati-
schen Sprache anwesend sein - sonst »begreifen« wir uns nicht als
die durch das Kunstwerk selbst in ihrem »Unmittelbarsten«, im »in-
nersten Wesen« (a.a.O., 251) Dargestellten. Kurz: die objektive
Ironie ist Stil.
Tieck hat »die ganz einfache Ironie, die Umkehrung der Sache,
daß das Sdilechte gut und das Gute schlecht genannt wird, wie Swift
und andre . . . sie oft gebraucht/ haben« (6, XXVII/III), radikal
unterschieden von »der sokratischen, oder jener Ironie . . . , die Sol-
ger als jedem Kunstwerk unerläßlich verkündigt hat« (ebd.). Was
wird derjenige, der nur diese materiale Ironie zu erkennen Sinn
hat, »mit jener Ironie« anfangen, die Stil geworden ist? Tieck be-
schreibt sie so:

»Ueber dem Ganzen eines platonischen Dialogs (nehmen wir nur das
Gastmal,) schwebt doch wohl eine höhere geistigere Ironie, als sich etwa
in Sokrates scheinbarer Unwissenheit verkündigt [das wäre ja bloß die
äußerliche, »einfache Ironie«]. Und wie wollen denn Kritiker oder Philo-
sophen jene letzte Vollendung eines poetischen Kunstwerks, . . . jenen
Aethergeist, der so sehr er das Werk bis in seine Tiefen mit Liebe durch-
drang, doch befriedigt und unbefangen über dem Ganzen schwebt, und es
von dieser Höhe nur, (so wie der Genießende) erschaffen und fassen kann,
nennen?« (6, XXVIII).

Diese Ironie als Stilmerkmal gibt dem Kunstwerk seine »Unend-


lichkeit« zurück, durch welche es »sich niemals erschöpfen läßt, son-
dern in seinem Geheimniß auch dem eifrigsten Forscher wieder neue

320
Beziehungen, Verständnisse und ungeahndete Entdeckungen, indem
Stimmung oder die Stellung des Auges wechseln, immerdar anbie-
tet« (i i, XXII). Es ist diese Ironie, durch die ein »Ganzes [Drama]
. . . traumähnlich festgehalten und auch wieder verflüchtiget« wird
(i, XXIX/X) und in der das Äußerliche von Stimmungsbrü-
chen durch etwas der Sprache Inwendiges vorbereitet wird.
So sind die drei Epochen von Seelmanns Geschichte — um an Be-
kanntes zu erinnern - nicht in gehetzter Sprache (also nicht durch
ein handgreifliches Mittel) vorgetragen, obwohl zweimal ein jäher
Umschlag der Empfindung auf kleinstem Raum dargestellt ist. Die
Flüchtigkeit der ganzen Bewegung hat nicht das Detail verwischt.
Man muß nur jede Epoche für sich lesen, um zu sehen, daß sie auf
anmutige Weise maßvoll und durchsichtig ist. Auf jeder scheint die
Helle der poetischen Intentionalität ganz zu ruhen, das Unzusam-
menhängende bricht übergangslos ein, aber die neue Rolle ist nicht
minder tansparent als die letzte.
Auf diese Weise reflektiert sich in Tiecks dramatischem Stil die
Ambiguosität der zwei Bewußtseinsebenen. So wie das Feste der
Charaktere unterminiert wird von Potentialitäten, so wird die re-
flexive Fixation verflüchtigt durch das präreflexive Bewußtsein
(von) Zeitlichkeit, das, als ungegenständliches Selbstbewußtsein, im
Stil nur eine ungegenständliche Spur zurückläßt. Das liefert den
Grund für die obige Behauptung, daß auch die hellste Beleuchtung,
die auf die Gegenstände fällt, sie immer wie aus der Ferne ange-
schaut erscheinen läßt. Diese Ferne, aus welcher nichts als Ober-
fläche geschaut wird, ist in Tiecks Stil wesenhaft mitgestaltet. Sie
läßt sich durch keine Annäherung, durch keine Analyse beseitigen;
und wer ganz nahetritt und eine Passage wie etwa den lyrischen,
von poetischer Dichte und Dämmerung funkelnden Monolog Seel-
manns gleichsam unter der Lupe betrachtet, wird eine Erfahrung
dabei machen:
»Seltsam klingt
Der Zug von Wasservögeln über mir;
Wie grauenhaft dehnt sich die Dunkelheit
So tief hinaus und dämmert ungewiß
Vom Widerschein der Sterne in der Fluth;
Bald spricht die Welle wie mit Menschenstimmen,
Und höhnt mein einsam Leiden boshaft spottend;
Bald sieht mein schwindelnder Blick in grauer Ferne
Ein Land so wie in Wolken stehn, mit Bergen,
Mit Bäumen ausgeschmückt, und meine Sehnsucht
Vernimmt ein Waldgeräusch, der Aexte Klang,
Den Fall der Bäume: dann vergeß ich wohl,
Daß diese Klippe meine Heimath ist. -«
(5.402)

321
Wenn es dem Leser nicht so ergeht wie jenem Zuschauer Müller
(Kater), der nach einer zu viel erzählenden, zu wenig tragierenden
Exposition dem Kritiker entgegnet: »Aber ich habe doch alles recht
gut verstanden« ( j , 175), - so wird er durch das Vordergründige
und Deutliche des Inhalts hinaus eben diesen Inhalt plötzlich selt-
sam flimmern sehen, und indem sich die Konturen des Fixierten
leicht verwischen, bereitet sich wie unter einem Vorhang das Gefühl
einer bevorstehenden Veränderung vor. Wir werden in Tiecks Ly-
rik wesentlich auffälligere Beispiele dafür namhaft machen. - Aber
selbst in diesem lichtdurchfluteten Monolog Seelmanns gibt es Däm-
merstellen. Dem Bewußtsein versammelt sich eine so große Man-
nigfaltigkeit, wie sie ihm hier in behutsamer Eskalation zugemutet
wird, nur scheinbar in die Einheit eines Blicks.109 Was einer klaren
Intention sich entzieht, wirkt aber unbewußt aufs Gefühl fort und
stimmt es in eben der Weise, wie es der Leser an sich erfahren kann.
Es ist, mit einem Wort, mehr in diesen Blankversen virulent, als
wirklich ans Licht des Bewußtseins tritt. - Gleich der Anfang
»Seltsam« hat eine stark emotionale Sphäre, ebenso das »tief hin-
aus«, »dämmert ungewiß« usw. Die Folge »Bald - bald - dann«
bringt syntaktisch ein logisch gegliedertes temporales Gerüst in die
Verse, das den Verstand täuscht, weil die Fülle der angeschlagenen
Stimmungen zu einer so merkwürdig gegenwendigen, so dezent ge-
steigerten Verwirrung angeordnet ist, daß das Bewußtsein allmäh-
lich von seinem Versuch, Sachen zu fixieren, zurückgeschlagen wird
und über die Inhalte mit leichter Berührung hinweggleitet. Vom
»Zug der Wasservögel« über die Spiegelung auf der Welle (statt
im klaren Wasser), die »Menschenstimmen«, den »schwindelnden
Blick« . . . »in graue Ferne«, das »Waldgeräusch«, der »Aexte
Klang« usw. beschreiben alle Inhalte eine Bewegung oder einen
Klang (etwas Transitorisches also) oder wenden den Blick von dem
Gesagten weg und weisen auf etwas Bedeutetes oder nur Anvisiertes
hin. Kaum ein Substantiv ist hier nicht Glied einer Relation, Ver-
weis auf etwas: man blickt auf etwas, Stimmen rühren von jeman-
dem her, Äxteklang gehört in den Wald, Welle zum Ozean, Was-
servögel in die Nähe einer Seeinsel usw. So entsteht aus den vielen
in sich klaren Punkten - wie wir es früher beschrieben haben -
durch die zu rasche Folge ein Gefunkel, das die Masse des in schö-
nen, leichten, regelmäßigen Hendekasyllaben skandierten Gedichtes
auflöst und die Phantasie unversehens in die Erwartung einer Ver-
änderung vorausschickt.
Wir müssen nur in Erinnerung bringen, was Tieck über das die
synthetische Kraft des Verstandes ereilende Tempo der Phantasie
geschrieben hat, »die in zwei aufeinander folgenden Momenten
ganz verschiedene Ideen an einen und denselben Gegenstand knüp-

322
fen kann« (K. S. I, 56), wodurch wir »auf eine Zeitlang ganz die
Analogie unserer Begriffe verlieren und uns eine neue [Welt] er-
schaffen« (a.a.O., 45). Der rasende Wechsel der Phantasie zwischen
z. B. Furchtbarem und Komischem, »Grauen und Scherz«, erzeugt
eine von äußerer Reflexion ganz ungestört sich entfaltende Wun-
derwelt, die von innen her eine zaubrische Kohäsion dadurch ge-
winnt, »daß der Zuschauer nie auf irgend einen Gegenstand einen
festen und bleibenden Blick heftet« (a.a.O., 55). Wir erkennen in
dieser theoretischen Studie des kaum Zwanzigjährigen seine eigene
dramatische Praxis wieder; zugleich aber jenen durchgehenden Zug
seiner Poesie, ihre eigene Rechtmäßigkeit aus der Realität der
Selbsterfahrung abzuleiten; so die Suspendierung der logischen
Konsequenz aus dem realen Tempo unserer Einbildungskraft und
die Ungestörtheit durch äußere Reflexion aus der wirklichen Erfah-
rung des Traums.
»Im Traume«, schreibt er nämlich, »verfährt die Phantasie oft eben so;
das Lächerliche präparirt sehr oft das Gräßliche. Wir würden oft das Furcht-
bare bezweifeln, aber eben durch die komischen, individuellen Züge, die
oft aus der gewöhnlichen Welt hervorgenommen sind, werden wir gezwun-
gen, es zu glauben, denn unsere Urtheilskraft wird so verwirrt, daß wir
die Kennzeichen vergessen, nach denen wir sonst das Wahre beurtheilen,
wir finden nichts, worauf wir unser Auge fixiren könnten; die Seele wird
in eine Art von Schwindel versetzt, in welchem sie sich am Ende gezwun-
gen der Täuschung überläßt, da sie alle Kennzeichen der Wahrheit oder
des Irrthums verloren hat.« (K.S. I, J7)1M
Durch diese Entsprechung zur Realität der Erfahrung erweist sich
die Dichtung, wie wir zeigten, als der Wahrheit eines Selbstbe-
wußtseins verpflichtet. Sie produziert eine »eigne Ansicht der Welt«
(BüSh., 372). Tieck stellt sich diesen Prozeß wirklich ganz analog
zur »transzendentalen Poetik« seines Freundes Hardenberg vor.
Jede »Anschauung« (K. S. I, 84) von »Natur« (a.a.O., 82) ist
nämlich eine Vereinigung des Subjekts, welches anschaut, mit dem
angeschauten Gegenstand. »Die Natur«, so »wie sie ist« - das ist
ein unstatthafter Begriff, der in der Anschauung vom Anschauen-
den zu abstrahieren versucht. »Jedes Auge«, erklärt Tieck, »muß sie
in einem gewissen Zusammenhang mit dem Herzen sehen, oder es
sieht nichts« (a.a.O., 82).»»» Die Konstitution von Objektivität ist
also eine Leistung des Menschen, der im Erschließen von Welt we-
senhaft »poetisch« ist, indem er, was immer ihm Objekt wird, als
etwas erkennt, d. h. im Lichte einer bestimmten Stimmung oder
Absicht sieht, die nicht aus dem Objekte selbst erklärt werden kann
(a.a.O., 82/3): »Nicht die grünen Stauden und Gewächse entzük-
ken uns, sondern die geheimen Ahndungen, die aus ihnen gleichsam
heraussteigen und uns begrüßen.« Hier geht es um keine »idealisi-

323
rende« Überhöhung, sondern um eine »Darstellung des inneren Zu-
standes«. Das ist die ontologische Fundierung der Poesie. Erkennt-
nis ist ihrem Wesen nach Poesie, »und dann bedarf es wahrlich kei-
ner Verschönerungen, keiner erlogenen Zusätze, um schöne und ent-
zückende Gedichte niederzuschreiben« (a.a.O.). »Mich dünkt«,
schreibt Tieck, »daß der Mensch, als denkendes und fühlendes We-
sen die Natur betrachtet; daß ihm also manches bei einem Blatt und
einem See einfällt, was gewiß für ein ander organisirtes Wesen
nicht in der Sache liegt, sondern blos in der Seele des Betrachten-
den« (a.a.O., 83). Schon Lovells idealistischer Skeptizismus verrät
den Blick des Künstlers:
»Freilich kann alles, was ich außer mir wahrzunehmen glaube, nur in mir
selber existieren. Meine äußern Sinne modifizieren die Erscheinungen, und
mein innerer Sinn ordnet sie, und gibt/ ihnen Zusammenhang. Dieser
innere Sinn [bei Kant durch die ursprünglichste »formale Anschauung«
(KRV, B 160/1), die Zeit, bestimmt] gleicht einem künstlich geschliffenen
Spiegel, der zerstreute und unkenntliche Formen in ein geordnetes Ge-
mälde zusammenzieht« (I, 353/4).
Die Synthesis des Erkennens gleicht also dem formenden Akt im
Kunstprozeß. Das bedeutet keine Subjektivierung der Natur, lie-
fert die Naturauslegung nicht der Willkür des Individuums aus;
Tieck hat nur Konsequenzen aus der unabweislichen Tatsache gezo-
gen, daß jede Schilderung von Wirklichkeit eine Wirklichkeit vor-
stellt, wie sie durchs gestimmte Bewußtsein konstituiert ist. Dich-
tung ist gesehene Wirklichkeit; und »das schöne Amt und Vorrecht
des Dichters« ist, uns zu denjenigen »Anschauungen* hinaufzuhe-
ben, durch die hindurch die gestaltete Wirklichkeit erschlossen ist.
Man sieht, Tieck deutet Poesie als die Objektivierung, als ein Ins-
Werk-Setzen dessen, was in der Welterfahrung aller Menschen all-
augenblicklich auf je individuelle Weise unbewußt geschieht (vgl.
Novalis, VI, 573 f., Nr. 226). Er stellt die Frage: »Und kann denn
die Poesie, auch die beste, etwas anderes, als ein Widerhall, ein
Edio der Wirklichkeit sein«»»2 (III, 331) und verlangt, daß
sowohl der Gegenstand der Kunst (K. S. I, 84) als auch die
(z. B. metrische) Form eines Gedichtes (K.S. I, 108) an der Entspre-
chung der Wirklichkeit zum Gemüt sich auszuweisen haben. Das
sind »noch nie untersuchte« Fragen (ebd.). »Oft«, gibt Tieck zu be-
denken, »ist anscheinende Willkürlichkeit nichts als ein strenger Ge-
horsam gegen ein inneres Gesetz, das bis dahin noch nicht ausge-
sprochen ist, oder sich auch vielleicht nicht aussprechen l ä ß t . . . «
(a.a.O., 110). Es kommt darauf an, dieses Gesetz, das sich in Tiecks
Selbstdeutung nur »erfahren« läßt, zum Kriterium auch eines Ur-
teils über Poesie werden zu lassen. Dies Urteil wird aber zusammen-
fallen mit dem Verständnis dessen, was die menschliche Wirklichkeit

324
oder, wie die Romantiker sagten, das >Gemüt< ist. »Denn es/ gibt
doch nur Eine Poesie. . . . Sie ist nichts weiter, als das menschliche
Gemüth selbst in allen seinen Tiefen, jenes unbekannte Wesen, wel-
ches immer ein Geheimniß bleiben wird, das sich aber auf unend-
liche Weise zu gestalten sucht« (K.S. I, 187/8). »Je mehr der
Mensch von seinem Gemüth weiß, je mehr weiß er von der Poesie«
(ebd. 188). Dasjenige Moment, in welchem Gemüt und Poesie eines
sind, ist nichts anderes als die eine und selbe »Wahrheit«, die »in
vielfachem S t r a h l . . . sich bricht, die Gemüter können nicht alle auf
eine Weise sich befriedigen« (III, 453). »Und weil die Wahrheit
überall an und für sich dieselbe ist«, folgert Tiecks Freund Solger,
»so müssen wir auch in den mannigfaltigsten Gestaltungen der
Kunst alles zur einfachsten Einsicht zu erheben suchen« (Solger,
N.S., IX 627). Die Geschichte der Poesie muß darum so unendlich
wie die des Geistes sein (K.S. I, 188). »Ihre Geschichte kann keine
andere sein, als die des Gemüthes« (a.a.O.).
Wenn die Wahrheit des Selbstseins, wie Fr. Schlegel und Tieck
es tun, als »Freiheit«113 erfahren wird, so läßt sich der Solger-
Tiecksche Satz so modifizieren: »Es gibt nur eine Freiheit, doch ma-
nifestiert sie sich, je nach den Umständen [der Situation, in der ein
Mensch sie gerade >erfährt<], auf verschiedene Weise.«114 Tieck
erfährt sie als ein Überströmen des Potentiellen über die umrissene
Gestalt. Die ihm vorgeworfene »Oberflächlichkeit« ist ein bewußt
eingesetztes Stilmittel. Die Traum gewordene Welt - eine Folge der
Zeitwahrnehmung — ist wenigstens durch zwei Charaktere aus-
gezeichnet, die Sartre's Phänomenologie als »Quasi-Observation«
und als »absolute Ferne«115 bezeichnet hat. Als Stilelement ist uns
die erstere unter dem Titel der punktuellen Lucidität< bekannt:
Das Objekt präsentiert sich ohne Abschattungen in einer vollstän-
digen Offenbarkeit-auf-den-ersten-Bliok, so wie uns jene flächen-
hafte Beleuchtung die Bewußtseinszustände der Tieckschen Gestal-
ten stets — ohne Tiefe - ganz so, wie sie gerade sind, auf der Folie
ihrer Handlungen darbietet. Wechseln wir von der imaginativen
Bewußtseinseinstellung auf die der Wahrnehmung, so verschwindet
das helle Detail vor unserem Blick wie ein leuchtender Stern am
Abendhimmel. Dieser Wechsel entspricht dem von der präreflexi-
ven Bewußtseinsebene auf die der Reflexion. Indem beide zusam-
menwirken, spürt man hinter der Lucidität des Details etwas von
der Vorläufigkeit seiner Präsenz hindurch — ein Merkmal, das
Hebbel in einer Tagebuchnotiz (München, 10. Februar 1838) her-
ausgestellt hat:
»Die einzige Spannung, die Tieck . . . zu erregen sucht, wurzelt darin,
daß man fühlt: die Menschen können so nicht bleiben, wie sie sind, des-
wegen betrachtet man auch alle Situationen, die anderswo die ganze Auf-

325
merksamkeit in Anspruch nehmen, nur als Hebel und Schrauben, welche
die innere Katastrophe [d. h. den >Umschlag] < herbeiführen sollen.«
(Kasack II, 300)
Die Figuren des Tieckschen Schauspiels sind erst nichts. Sie indi-
viduieren sich durch ihre Handlung und erwerben so erst Individu-
alität. 116 Im psychologischen Drama enthüllt sich umgekehrt ein
fixer Charakter aus den Handlungen, die er durch sein Sein deter-
miniert.
Das andere Moment, die »absolute Ferne«, ist ein Merkmal jener
prinzipiellen Ungreifbarkeit, durch welche Tieck seinen Charakte-
ren die irreale Tiefendimension nimmt, um ihre Aktivität wie eine
aus der (jeder »Quasi-Observation« wesenseigentümlichen) Distanz
wahrgenommene Bewegung erscheinen zu lassen.117 Tieck hat aus
diesem Grunde gegen die Tiefe der Schaubühne polemisiert. Sie ver-
stellt die Rolle durch den unaufrichtigen Naturalismus der Drei-
dimensionalität.»»8 Das Wesen des Bewußtseins ist aber die Ek-
stase: Nicht in der »Tiefe«, nicht im »Innern« geht die Verwand-
lung vor sich. Sie erscheint dort draußen im Gesicht der Dinge, in
der Geste des Handelnden als die der Welt eigene Tendenz, auf den
Gestalten nur zu schweben, um sie ihrer Flüchtigkeit, ihrer Ver-
gänglichkeit, ja, wenn die Zeit das Wesen des Menschen ist, ihrer
Menschlichkeit zu überführen.»19
Tiecks Drama bedarf nicht der Eingleisigkeit einer aus fixen Cha-
rakteren nach Gesetzen psychologischer Motivation und Kausalität
entwickelten Handlung. Es ist kein Zeit-Fluß in ihr, sondern die
Chimäre einer Bewegung-an-sich, die das Potentielle säuberlich vom
Aktuellen sondert und ein »erregendes Moment«, einen »äußer-
lichen Anstoß«, eine an sich seiende charakterliche Disposition und
die Illusion der dreidimensionalen Bühne braucht, um eine Hand-
lung in Gang zu bringen. Die >Katastrophe< der klassischen Tra-
gödie steckt in Tiecks Drama gleichsam schon im einzelnen Satz, im
Wort - durch seinen Kontext bekommt es seine natürliche (weil
menschliche) Transzendenz zurückgeschenkt, wird wieder Sponta-
neität, Willkür und Wechsel. Daraus ergibt sich
a) jene für Tieck typische, leichte, ganz unpsychologische drama-
tische Motivation, ein Merkmal, in welchem Solger die Anwendung
seines Begriffs von Ironie (wie er oben entwickelt ist) wiedererkannt
hat;
b) eine Gefährdung für Tiecks Sprache. Indem er, wie Solger
verlangt hat, das Einzelne in seiner Einzelnheit zeigt - statt das
Absolute in eine »Unzahl von Erscheinungen« zu zersplittern»20 -,
überantwortet er es zumal der Zeit, die als sein Schicksal in ihm
zugleich ausgetragen und dargestellt wird. »Die Sprache«, urteilt
A. W. Schlegel über Tiecks Poesie, »hat sich gleichsam alles Körper-

326
liehen begeben und löst sich in einen geistigen Hauch auf« (Lud-
wig Tiecks Volksmärchen von Peter Leberecht, in: Athenäum I,
1798). Aber auch dasjenige an der Sprache, was sich alles Körper-
lichen begeben hat, hat noch einen materiellen Kern. Die an Tiecks
Poesie getadelte Verflüchtigungstendenz, das in den Wind Geschrie-
bene seiner Sprache ist Ausdruck ihres Versuchs, sich buchstäblich zu
vernichten. Das sprachliche Ideal ist »etwas Leichtes, Schwebendes,
das nur in Tönen lebt« (I, 874; I, 935,3). Kein Wunder: Tiecks
Sprache ist darum in ihrer anmutigsten Geschwätzigkeit dicht am
Verstummen (vgl. 15, 352). Im folgenden sollen ausgewählte Ein-
zelinterpretationen die beiden Konsequenzen veranschaulichen.

Die lockere dramatische Motivation

Den Fortunat, welchen Tieck zu seinen besten Dichtungen zählte,


haben Solger und A. W. Schlegel, neuerdings wieder Marianne
Thalmann»2» als ironisches Meisterwerk hoch über viele andere
Dichtungen der Zeit gestellt. Er ist, wie Tieck wußte, karger und
bitterer als die geschwätzigen früheren Dramen»22 und sein letzter
dramatischer Versuch - im Witz spröder und ein glänzendes Bei-
spiel für jene in die Sprache hineinverlegte wesenhafte poetische
Distanz.
Betrachten wir eine der ersten Szenen in ihrem Kontext: Theo-
dor aus Cypern hat, um es den reichen Adelsfamilien wenigstens
gleich zu tun, allmählich sein Vermögen verwirtschaftet und ist auf
Borg angewiesen. Sein Sohn Fortunat ist ein willkommener Freund
vieler adeliger Jünglinge und wegen seiner Geschicklichkeit und sei-
nes beweglichen Geistes überall beliebt als einer, der mehr gibt als
empfängt und mehr lehrt als lernt. Seines Vaters Verschuldung ver-
ändert diese Beliebtheit gleichsam über Nacht. Als Fortunat zum
erstenmal auftritt und sein Kommen die Klagen des Vaters unter-
bricht, entsteht der folgende Dialog:
»Theodor: Woher, Landstreicher?
Fortunat: Von der Beize komm' ich.
Theodor: Ging's gut?
Fortunat: Der Wind war fast zu stark, der Falk
Ist noch was jung. Dann war ein wildes Pferd,
Das ritt ich für den Grafen Eglamor.
Theodor: Der auch ist von den alten sonst'gen Freunden.
Fortunat: Man spricht davon, daß bald Turnier und Rennen
Gehalten wird, der König kommt zurück.
Theodor: O meine Hengste! meine Hengste! hätt'
Ich nur ein einzig, einzig Pferd behalten!/

327
Fortunat: Ja, Vater, fast sollt' man bereuen, daß
Man lebt, 's ist wahrlich nicht der Mühe werth.
Theodor: Schweig still, ich habe schon Verdruß genug.
Am Ende - ja, um dich thut's mir nur leid -
Groß ist er, stark, nicht ohne Witz und Sinn -
Und bleibt doch immer nur ein Tagedieb.
Fortunat: Still, Vater, Cypern ist ja nicht die Welt.
Da draus ist's groß und frei, wer weiß, wo noch
Mein Glück mir blüht; ich fühle Muth und Kraft,
Ich bleibe nicht wie Ihr, so heimisch, still
Auf einem Flecke sitzen; und dann giebt sich's
Wohl noch einmal, daß ich mit meinem Zuge,
Mit schönen Pferden, Dienern, Falkenjägern
Einreit'; Ihr steht dann vor der Thür, begrüßt mich,
Ich tret' in's Haus, Ihr ladet mich zu Tisch,
Und haltet mir beim Waschen selbst das Becken.
Theodor (giebt ihm einen Backenschlag):
Da nimm vorerst den Handschlag drauf du Bube!
Dein eigner Vater dir, du Unverschämter,
Das Silberbecken halten, sich vergessen?
Fortunat: Schon gut, noch ist nicht aller Tage Abend,
Und über Nacht blüht manchem wohl sein Glück.
(geht ab.)
Theodor: Bei alle dem recht adliche Gesinnung.
Ihm's Becken halten? Hm, so übel nicht,/
Wenn er als Graf, als Herzog mal so käme -
Ein hoher Geist ist in dem dummen Jungen.
Er kennt die Welt noch nicht, wird schon einmal
Die wilden Hörner sich vom Kopfe rennen.
Lucie (tritt ein):
Ich habe drin das Essen aufgetragen.
Theodor: Komm, Frau, 's ist angerichtet.
Gratiana: Doch, der Sohn -
Theodor: Laß ihn, er wird schon kommen, wenn ihn hungert.
(sie gehn ab.)«
(3, 26-28)
Eine Person wird vorgestellt und tritt vor der Folie einer be-
stimmten (schon entschiedenen) Situation auf. Durch die väterlichen
Benennungen »Landstreicher«, »Tagedieb« erfahren wir sowohl
etwas über die Gemütsverfassung des Vaters wie über die des Soh-
nes. Da der Sohn selbst als sprechende Perxon auftritt, sind wir aber
auf diese Attribute nicht angewiesen, sondern gewinnen einen un-
mittelbaren ersten Eindruck: »Groß ist er, stark, nicht ohne Witz
und Sinn«, dabei verliebt in Spiel und Willkür, lebhaft, flink und
leichtsinnig. Das sind Eigenschaften, die irrationale Qualitäten ins
Spiel bringen: Weit entfernt, den personalen >Kern< sich auskristal-
lisieren zu lassen oder wenigstens einen Wink darauf zu geben, wo

328
sich die Phantasie des Lesers festmachen soll, verwischen und zer-
sprengen sie die Eindeutigkeit dieser Person. - Der Vater charakte-
risiert sich selbst als einen Menschen, dessen Beständigkeit diesen
jungen Mann mit Recht für einen Taugenichts erklären darf. Aber
was ist damit für ein Urteil über seinen eigenen Charakter gewon-
nen? Nichts in der Tat über seinen Charakter, sondern ausschließ-
lich etwas über seine prekäre Situation, die ihm die Fassung,
die Sammlung zu einer conditio sine qua non seiner gesellschaft-
lichen Fortexistenz machen. Aus einem bisher nur ins Auge gefaßten
Lebensentwurf heraus wird der Sohn, für den der strenge Vater
überall Vorliebe und Nachsicht verrät, zu einem »Tagedieb« - und
selbst ein Tagedieb ist dieser Vater, der sein Geld nicht zusammen-
halten kann und der Verführung erliegt, über sein Vermögen hinaus
in den Augen der Aristokraten etwas zu gelten. Die Mittel, deren
sich Tieck bedient, sind erstaunlich einfach. Die strengste Ökonomie
herrscht überall.123 Die Kargheit und das Knappe der Sprache
verhindern im Verein mit dem Unausgeführten und Offenen der
Charaktere jene emotionale, zu stark sympathisierende »Erwär-
mung« des Lesers, die, wie Tieck gezeigt hat, sich nur an durch-
gebildete, volle Charaktere heften kann. In ein paar Zeilen ist eine
epische Distanz ausgebreitet, die uns die ganze Szene wie aus der
Ferne und wie in die Oberfläche (alter Stiche) projiziert sehen
macht. Der ganze Fortunat wahrt konsequent diese Perspektive.
Damit über die Leichtfertigkeit nicht nur in einer sehr flüchtigen,
sehr vieles offen lassenden Sprache geredet wird, müssen die Ak-
teure als Handelnde Proben geben. Durch welche Erfahrung, durch
welchen Wink auf ein Erlebnis wird aber die melancholische Äuße-
rung: »Fast sollt' man bereuen, daß/ Man lebt, 's ist wahrlich nicht
der Mühe werth« motiviert? Es reimt sich gar nicht zum Über-
schwenglichen und Sorglosen der Sprache Fortunats, noch weniger
zu seiner farbige Zukunftshorizonte eröffnenden Schwärmerei und
dem leicht dahingeredeten »Schon gut, noch ist nicht aller Tage
Abend,/ Und über Nacht blüht manchem wohl sein Glück«.
Der Vater, der, zum Kontrast gegen den Jungen, als einer hinge-
stellt wird, der »so heimisch, still/ Auf einem Flecke sitzen« bleibt,
tut es seinem Sohne wenigstens gleich. Von Geldnot gedrückt, voll
Bitterkeit gegen einen »von den alten sonstigen Freunden«, denen
sein Sohn für nichts und wieder nichts »ein wildes Pferd« einreitet,
verliert er sich doch sogleich wieder in den Wunsch, vor dem König
im »Turnier und Rennen« mit einem »Hengste« glänzen zu können;
und die empört mit einer Ohrfeige quittierte Zukunftsaussicht, daß
er dermaleinst seinem in Glück und Reichtum heimkehrenden Sohn
das Waschbecken darreichen wird, schmeichelt ihm doch zwei Zeilen
später wieder sehr, da sie in ihrem kecken Stolz, ihrer Träumerei

329
ohne reelle Basis seinen eigenen Leichtsinn und sein Adelsstreben re-
produziert; wenngleich ohne »jedoch« und »aber« - asyndetisch -
die Sentenz folgt, der Junge kenne eben die Welt noch nicht. Das
mag sein, allein der Vater kennt sie und kennt sie doch noch nicht.
Und selbst die wenigen Worte bei Gelegenheit der Nachricht vom
bereitgestellten Mittagessen, an dem die besorgte Mutter gern auch
den Sohn beteiligt wüßte, zerstören die Möglichkeit, sich ein Bild
vom Charakter des Vaters zu machen: »Laß ihn, er wird schon
kommen, wenn ihn hungert«. Das kann Ausdruck des Ärgers sein;
wahrscheinlich ist es selbstgefällige Nachsicht gegen Fortunats will-
kürlichen Lebensstil. Der Alte ähnelt seinem Sohn darin, daß er mit
allem ebenso bereitwillig rechnet wie mit nichts - Hoffnung und
Verzagnis sind unvermittelt benachbart, kein kausales »jedoch«
oder »andererseits« leitet diese Pendelschläge der Seele ein. Das
Herz dieser Figuren ist die allaugenblickliche Konkretion derjeni-
gen Möglichkeit, die sie gerade ergreifen; sie sind ihre Möglichkei-
ten, es sind echte Freunde der Fortuna, die ihren bald jauchzenden,
bald verzweifelten Kindern in deren wechselndem Lebenslauf so
zugetan ist, daß sie sie mit der am schwersten zu verwaltenden, zum
Glück wie zum Ruin gleich gut geschaffenen Gabe, dem Geld, be-
schenken wird. Die jähe Gegenwart von Glück und Unglück, der
Occasio Haarlocke oder ein Kuß der Fortuna, das sind die gefähr-
lichen Schicksalsmöglichkeiten im Leben solcher charakterloser und
darum recht menschlicher Charaktere. Zwischen einem barocken
Prolog und einem in seiner Grausamkeit alle Hoffnung ersticken-
den Ausgang ist dieses Drama zu einer ironischen Lebensbühne ge-
worden, die ihre Figuren vor unsern Augen wie ohne Plan oder
vielmehr: wie nach dem Plane des Augenblicks dahintaumeln, sich
wieder fassen, sammeln, ihre Anmut entfalten und weiterirren läßt,
bis ihre Unbefangenheit an einer brutalen Gesellschaft zuschanden
wird (auf den unerwarteten Schluß des Fortunat hat Tieck mit
Recht große Stücke gehalten; Brief an Solger, 334).
Es ist nicht nur Fortunat und sein leichtsinniger Sohn Andalosia,
fast alle Charaktere Tieckscher Dramen, auch die schlimmen wie der
hartherzige, heuchlerische und brutale Graf Nimian, sind nicht aus
einem substantiellen Egoismus entwickelt, sondern haben teil an der
Flüchtigkeit und Leichtigkeit von Entschließungen, die die Zukunft
nicht determinieren, sondern spontan aus Laune, aus Willkür, >von
ungefähr< entspringen und keine Motivation von außen abzuwar-
ten gezwungen sind.122* Man verabschiedet sich nach gewichtigem
Disput auf Lebenszeit mit 4 Worten: »Lebt wohl, mein Freund«,
und fährt, an einen andern gewandt, fort: »Sieh da, Meister Hiero-
nimus, der Wind hat sich gedreht, wir lichten in einer Stunde die
Anker. Ich gehe jetzt, um einige Worte mit des Königs Marschall zu

330
sprechen, und bin dann bereit (ab mit Gefolge)« (3, 29). - Und
doch ist für die Handlung keines dieser Worte überflüssig. - Betrach-
ten wir eine andere Szene.
Fortunat hat inzwischen die bittere Erfahrung erleben müssen,
daß man den Umgang mit dem Sohn des verarmten Theodor nicht
mehr wünscht in reichen Familien: »Man hat sich verstanden, mein
junger Freund?« (a.a.O., 31). Auch der Kaufmann Valerio wünscht
den Abbruch aller Vertraulichkeiten Fortunats mit Felix, seinem
Sohn, dem jener die Falknerei beibringt. Fortunat verabschiedet
sich in der folgenden Szene von diesem Freunde (nachdem sein Zür-
nen über den Wechsel in der ihm entgegengebrachten Freundlichkeit
nicht viel Verwunderung bewiesen hatte):
»(Fortunat und Felix kommen.)
Felix: Es ist dein Ernst?
Fortunat: Mein fester Wille, ich bin des Lebens hier überdrüssig. Dein
Vater hat mir den Umgang mit dir verboten, meinen Falken habe ich
fliegen lassen. -
Felix: Deinen Falken?
Fortunat: Was soll ich mit dem, wenn ich fortgehe?
Felix: Aber wohin?
Fortunat: Das weiß ich selbst noch nicht, wohin mich meine Sterne
führen.
Felix: O daß ich mit dir könnte! Aber ich muß da beim Rechenbuch und
verrufenen Münzen sitzen; ich wollte, ich hätte deinen Muth.
Fortunat: Wir sehen uns wohl einmal wieder. Lebe wohl, lieber Junge,
und vergiß mich nicht./
Felix: Lebe recht wohl, wenn du weg bist, wird mir die ganze Insel wie
ein Gefängniß sein, (ab.)«
(3.35/6)
Nirgendwo in dieser Szene, die ein Dichter wie Tieck ohne Mühe
mit Rührseligkeit hätte ausstatten können, verlieren wir uns in lei-
denschaftliche Sympathie. Wir sind Zeugen einer von ferne beobach-
teten Trennung, deren Gesten wir beobachten und zu der wir uns
die Worte hinzudenken; zu fern stehen wir, um die Gefühle der
Scheidenden zu durchdringen. Aber wir vermissen doch ein wenig
das Sich-Sperrende, das Verweilende, die Zeit Hinziehende einer
herzlichen Verabschiedung, die mit der Trennung (womöglich für
immer) zögert. Die Sätze sind so knapp und informativ wie möglich
(sie demonstrieren ihren Inhalt gleichsam) - und eröffnen so wenig
bestimmte Zukunft wie nur möglich. Der Lieblingsfalke ist entlas-
sen, das bedeutet Abschied vom bisher Liebsten, in die Zukunft füh-
ren aber nicht genaue Absichten, sondern die »Sterne« (also kein
Entwurf, der die Sinnesart des Planenden erschließen läßt). Ein
Wiedersehen ist »wohl einmal« möglich, nicht gewiß. Und doch ist
etwas in dieser distanzierten Rede, das mehr verrät, als die Wor-

33i
te aussprechen: Felix so gut wie Fortunat, spürt man, wußten
diesen Abschied voraus (oder vielmehr: der Dichter hat in beiden
Figuren durch die Art, wie sie sprechen, dies Wissen sich verraten
lassen) - sie leben mit einem in ihrer Sprache niedergeschlagenen
Wissen um die Vorläufigkeit jeder festen Bindung, einem Wissen,
das so fest in ihnen steckt, daß in der Stunde seiner Verwirklichung
nicht viel mehr zu sagen ist als »Lebe recht wohl« und »Wenn du
weg bist, wird mir die ganze Insel wie ein Gefängniß sein«. Dann
trennt man sich.
Die Trennung, aber ebenso das nicht minder zufällige Wieder-
sehen (a.a.O., 73 f.), scheint sich von selbst zu verstehen. Die Auf-
lösung des Bestehenden und die Kontingenz neuer Fügungen und
Begegnungen ist etwas so Alltägliches, daß Tiecks Figuren keine
Verwunderung mehr aufbringen. Das gehört zur Struktur jener
punktuellen Lucidität<: man weiß immer schon, man wußte im-
mer schon — aber wie es weitergehen wird, wissen die »Sterne«
(»Mich treibt die Macht der Sterne zu dir her« (3, 132), flüstert For-
tuna ihrem Liebling zu); es steht im Namen »Fortunat«. Die Fra-
gen: »Ein Irrthum? oder Plan? Wozu? « (3, 478) haben die
Spannweite eines ganzen Lebens. - Ein Monolog Fortunats, der
mit den Worten beginnt: »Hier will ich sterben. Jede Aussicht,
Hoffnung/ Ist nun auf ewig hin«, fährt sogleich fort: »nur Wun-
der kann mich retten« (3, 130 ff.), ein Monolog, dem übrigens aufs
genaueste derjenige des Andalosia parallelisiert ist, aus dem sich
keine Hoffnung mehr befreien wird (»So schnell erstirbt des Lebens
Lust und Glück«, sind des ganzen »Mährchens« letzte Worte).
Durch die Gegenwendigkeit einer alle Hoffnung, auch noch »auf
ewig«, fahren lassenden Verzweiflung und einer sich im Entwurf
aufs Wunderbare doch noch als in die Zukunft gerichtet verratenden
Sehnsucht wird des Lesers Vermögen, sich in Fortunats Gefühlen zu
orientieren, zuschanden. Der zu rasche Wechsel bringt eine Distanz
ins Geschehen, die es der psychischen Einfühlung (der psychomoto-
rischen Kausalität) entwindet und zu einer kontingenten Handlung
werden läßt: geschickhaft, nicht eigentlich geschichtlich. — Ergeht
sich denn wirklich einer, der für ewig resigniert, noch in leiden-
schaftlichen Klagen über den Verlust? Wer so klagt, hat noch nicht
Abschied von der Welt genommen. - Und dann der allmähliche
Übergang zu einer süßen, wehmutsvollen Schwermut: »Sanft - sanft -
schläft sich's,/ Still, still - stirbt sich's,/ Ruhe, Ruhe - weit um-
her« (3, 130 ff.). Schließlich löst sich eine gewisse Froheit aus der
Schwermut, die sich in träumerische Verzückung verklärt, aus der
wieder der Funke neuer wilder Hoffnung schlägt; das alles in einer
Sprache vorgetragen, die jeden Wechsel in einer je anders rhythmi-
sierten Sprache spiegelt, die Tieck differenziert handhabt und die

332
ihm zu jedem Umschlag gebötig scheint. - Und überall in dieser
Szene der Begegnung mit Fortuna finden wir die am Lovell her-
auspräparierten Strukturen der vorschnellen, unwahrhaftigen Re-
flexion wieder, die über der Gegenwart das Fließen der Zeit vergißt
und mit den Adverbien »nie« und »ewig« maßzuhalten versäumt.
Fortunat, eben noch zum Sterben entschlossen, verrät ein Wissen
selbst um die Unentschiedenheit des letzten Augenblicks. Nicht ein-
mal der Todeswille war gewiß, und im Nu steht das latente Kon-
tingenzbewußtsein auch reflexiv zu Gebote: »Ja, Sterne sind's, die
unseres Lebens Wagen ziehn,/ Vernunft genügt der fremden Rosse
Lenkung nicht« (a.a.O., 132), und noch entschiedener scheint die Re-
flexion: »Es fällt vom Geist wie eine Binde mir,/ Ich fühle mich um
zwanzig Jahre älter,/ Die Thorheit, Unbesonnenheit der Jugend/
Weit hinter mir« (a.a.O., 133). »Weit hinter ihm« soll liegen, was
vor Sekunden Gegenstand der trostlosesten Klage war? Gewiß
nicht in Wahrheit; und sogleich ist dieser Satz auch wieder verges-
sen, denn Fortunat ist mit dem beschenkt worden, was er bereits
besaß, dem »Wankelmuth«, der »lächelt diesem hold und jenem
nicht« (a.a.O., 132); zugleich aber mit dem Wissen um die Vorläu-
figkeit jedes Besitzes, der Einsicht in das Unglück eines ungefestig-
ten Lebens, dem »das Glück . . . immer ein etwas fremder und selt-
samer Gast« ist (5, 4). Das ist ein Wissen, welches vor den vor-
schnellen Versuchen nicht bewahrt, sich in einer neu konstituierten
Rolle sogleich wieder fest zu begründen. Im Nu breitet sich die ver-
lorene Zukunft wieder vor dieses Glückskinds Augen farbig aus.
»Auch hebt sich nun vom Auge/ Der Schleier, reiche Landschaft liegt
vor mir,/ Ich sehe Burgen, Städte in der Ferne,/ Klöster, Kapellen
in der Morgensonne,/ Da breitet sich ein Weg hin durch den
Wald,/ Erneuten Muths betret' ich diese Straße« (a.a.O., 133).
Das verwandelte, unfestlegbare Gemüt wird zum Zauberstab, vor
dessen Berührung sich eine gleichgestimmte, aber auch gleich flüchtig
gewebte Welt eröffnet.
Auch die dramatische Motivation ist ein Reflex des infixiblen
Herzens. Wir haben in Tiecks Werk zahlreiche Beispiele für jene
Beiläufigkeit in Situationen, die einen runden Charakter gar sehr in
Hitze bringen und zu sehr grundsätzlichen Erklärungen bewegen
möchten.
Eine längere Beschwerde Ridolfos über den »Windbeutel« und
»Obenaus« Fortunat (3, 62) und die Geschichte des finanziellen
Ruins seiner Eltern aus Leichtsinn, die Einheirat des Vaters in eine
begüterte Familie, die bei des Vaters anfänglichem Wohlstand gerne
einwilligte, bald aber »ein Landgut, einen Meierhof nach dem an-
dern, . . . das ganze Leibgedinge der Frau, so wie sein eignes Vermö-
gen« abwandern sehen mußte, bis »jetzt (die beiden) im Elende . . .

333
sitzen und . . . allen Verwandten und Bekannten mit Borgen be-
schwerlich . . . fallen« (a.a.O., 33) - auf diese ganze Rede antwor-
tet Valerio nichts als:
»Ja, ja, mancher Verwandte hat denn auch seinen Vortheil dabei ersehn«
und wechselt, als sei damit genug und recht eigentlich alles gesagt, unver-
mittelt zu einem anderen Thema: »Euer Landgut am Meer ist in schönem
Zustand, Schwager« (a.a.O., 33).
Valerio erzählt sodann vom Vornehmtun der Armen, die's »den
Vornehmen . . . gleich thun wollen« (a.a.O., 34) und »verschwen-
den« und wie alles so »ganz anders«/ in »Handel und Verkehr«
geworden sei gegen die guten haushälterischen Zeiten von früher. Er
beschließt: »O die Haare stehn mir zu Berge, wenn ich an die böse
Zeit denke!« (a.a.O., 34). Und nun ist Ridolfo an der Reihe, der
mit einem fundamentalen Satz antwortet, dessen Knappheit und
Beiläufigkeit komisch wirkt: »Die ganze Welt ist umgekehrt, das ist
gewiß«, sich sogleich an einen der Beistehenden wendet und fragt:
»Aber Herr Hieronimus, Ihr sagt kein Wort dazu?«. Der antwor-
tet, und nach wenigen Worten ist man auseinandergeflogen, die
Sprache höhlt sich selber aus, die Worte scheinen in den Wind ge-
sprochen und verweht. Es hat nichts so viel Gewicht, daß man wis-
sen kann: »War es Traum? War's Wirklichkeit?« (3, 133). Denn
die Wirklichkeit ist ein so ätherischer Stoff geworden, daß sie zu-
weilen von dem dünnen Gewebe des Traumes nicht mehr zu unter-
scheiden ist.
Nicht selten hat Tieck die ausbleibende Verwunderung über un-
erwartete Fügungen als komisches Stilmittel eingesetzt, so in der
»Schusterszene« im Gestiefelten Kater. Daß Tieck sich aller Moti-
vierung für überhoben glaubt, veranlaßt den Zuschauer Fischer
prompt zum Ausruf: »Welcher Unsinn!« (5, 186). Der Kater will
Stiefel haben, um den Fortschritt über seinen Naturzustand zu re-
präsentieren. Gottlieb gibt nach: »Nun, wie Du meinst, - aber der
Schuster wird sich wundern« (5, 183). - »Gar nicht«, antwortet
Hinze und gibt einen gescheiten Wink auf die dramatische Technik,
durch die die Verwunderung glatt übersprungen wird: »Man muß
nur nicht thun, als wenn es etwas Besonderes wäre, daß ich Stiefeln
tragen will; man gewöhnt sich an alles.« Und Gottlieb stellt bei-
pflichtend fest, daß ihm »doch der Diskurs mit Dir ordentlich ganz
geläufig geworden« ist. Wir wollen auf die Psychologie der nun
folgenden Szene achten:
»Gottlieb: . . . Aber noch eins, da wir jetzt so gute Freunde geworden
sind, so nenne mich auch Du; warum wollen wir noch Komplimente
mit einandei machen; macht die Liebe nicht alle Stände gleich?
Hinze: Wie Du willst.

334
Gottlieb: Da geht gerade der Schuhmacher vorbei. - He! pst! Herr
Gevatter Leichdorn! Will er wohl einen Augenblick bei mir ein-
sprechen?
(Der Schuhmacher kömmt herein.)
Schuhmacher: Prosit! - Was giebts Neues?
Gottlieb: Ich habe lange keine Arbeit bei ihm bestellt -
Schuhmacher: Nein, Herr Gevatter, ich habe jetzt überhaupt gar
wenig zu thun.
Gottlieb: Ich möchte mir wohl wieder ein Paar Stiefeln machen lassen - /
Schuhmacher: Setz Er sich nur nieder, das Maas hab ich bei mir.
Gottlieb: Nicht für mich, sondern für meinen jungen Freund da.
Schuhmacher: Für den da? - Gut.
Hinze: (Setzt sich auf einen Stuhl nieder und hält das rechte Bein hin.)
Schuhmacher: Wie beliebt Er denn Musje?
Hinze: Erstlich, gute Sohlen, dann braune Klappen, und vor allen
Dingen steif.
Schuhmacher: Gut. - (Er nimmt Maas.) Will er nicht so gut sein, - die
Krallen, - oder Nägel etwas einzuziehen? Ich habe mich schon geris-
sen.
Hinze: Und schnell müssen sie fertig werden. (Da ihm das Bein gestrei-
chelt wird, fängt er wider Willen an zu spinnen.)
Schuhmacher: Der Musje ist recht vergnügt.
Gottlieb: Ja, er ist ein aufgeräumter Kopf, er ist erst von der Schule
gekommen, was man so einen Vokativus nennt.
Schuhmacher: Na, Adjes. (Ab.)« (5, 183/4)
Diese ganze Szene, angefangen bei dem komischen Wechsel von
der Gewöhnung an den Dialog mit H i n z e bis auf das Angebot, ihn
zu duzen, hat etwas von der Manier, in der man einen Einkaufszet-
tel nach erledigten Besorgungen abhakt. Durch die Sprache verrät
sich nichts von den Gefühlen der H a n d e l n d e n , sie informiert nur.
Wenn Schuhe vonnöten sind, so ist das einerlei mit der Tatsache, d a ß
gerade der Schuhmacher vorbeikommt. Der grüßt etwas skurril karg
und spricht mit einer ebenso unbeirrten Bezogenheit auf Zwecke wie
Gottlieb, der nach zwei vermittelnden Redewendungen sogleich zu
seinem Auftrag kommt, und H i n z e , der seinen Wunsch in »Erst-
lich, . . . d a n n . . . , und vor allen Dingen« gliedert, ohne sich eine
Sekunde zu besinnen. Der Schuhmacher seinerseits geht völlig darin
auf, ein Schuhmacher zu sein - die verlegene Redensart Gottliebs,
er habe ihm schon lange keinen Auftrag gegeben, beantwortet er
durch eine Reflexion auf seine allgemeine Berufslage, er habe ȟber-
haupt« seit einiger Zeit wenig Aufträge (vielleicht ein satirischer
Seitenhieb). Das »Maas« trägt ein rechter Schuhmacher bei sich, und
auf das Seltsame, d a ß ein Kater der Stiefelträger sein soll, gibt er
nur die A n t w o r t : »Für den da? - Gut.« H i n z e seinerseits über-
hört geflissentlich, d a ß sich der Gevatter Leichdorn schon an seinen
»Krallen, — oder Nägeln« gerissen hat, und fährt mit der Anwei-

335
sung fort: »Und schnell müssen sie fertig werden.« Daß der Musje
spinnt, erwähnt man beiläufig, es ist ganz in der Ordnung: »Der
Musje ist recht vergnügt«, und geht nach Gottliebs komisch herbei-
eilender Erklärung mit einem »Na, Adjes« ab.
Es ist wie ein Traum, und die Zuschauer rügen denn auch die Un-
terschlagung einer einigermaßen wahrscheinlichen Gefühlskausali-
tät. Sie bekommen nicht abgeschriebene Wirklichkeit vorgesetzt,
sondern Szenen, die wie in einem spröden Stummfilm knapp unter-
titelt sind und nur das verständlicher wiederholen, was aus den Ge-
sten und Mienen der Figuren schon hinreichend zu erschließen ist.
Der Duktus der ganzen Szene zwingt zur Assimilation des Wun-
derlichen im Alltäglichen, Realität und skurriler Spuk gehen so flink
durcheinander, die Sprache suggeriert die provokanteste Selbstver-
ständlichkeit, die Charaktere sind mit dem Wunderlichen so durch-
aus vertraut, daß sie zu staunen sich längst abgewöhnt haben. Das
Wunderliche ist natürlich geworden. Man muß mit allem rechnen;
wer weiß, vielleicht verrät es Lebensweisheit, wenn man als Schuh-
macher den Auftrag, einem Kater Stiefeln anzumessen, mit einem
»Gut« beantwortet.
»Vergeßt auch nicht, meine Freunde«, sagt Manfred in den Phan-
t(j5«5-Gesprächen, »daß die Menschen zwar, wenn ihnen etwas
Außerordentliches als zukünftig bevorsteht, sich die Haare ausrau-
fen und Himmel und Erde in Bewegung setzen wollen, um es abzu-
wenden, daß sie sich aber gelinde das Seltsamste gefallen lassen, so
wie es nur einmal da ist und nicht mehr zu ändern steht« (5,5). Das
Bewußtsein der steten Möglichkeit von Gefährdung kann aber
selbst habituell werden: Die Welt wird Märchen, indem sich das
Seltsamste und Alltäglichste rätselhaft und ununterscheidbar ver-
wirrt. Das Kriterium ist verloren, was sich als Folge aus welchem
Ereignis erklären lassen mag.
Wir wollen die Suspendierung der dramatischen Motivation nicht
nur an Szenen, sondern exemplarisch an der Handlung eines ganzen
Dramas von Tieck zeigen. Der Blaubart bietet sich dazu an.

Handlungsgefüge und Persönlichkeitsstruktur in Tiecks


>Blaubart<
Der Blaubart, »fast in einer Nacht« des Jahres 1796 niederge-
schrieben, gehörte zu A. W. Schlegels und Solgers liebsten Stücken
(Solger an Tieck, 23. 11.1816, 306) Besonders Solger führt ihn
wiederholt als vollkommen gelungenes Beispiel für seine Theorie
der »wahren Ironie«123* an und glaubt den Rang der zeitgenös-
sischen Dichtung vor allem an dem durch dies Schauspiel repräsen-
tierten Niveau messen zu sollen.124 Hebbel zählt ihn zu den besten

336
Werken der gesamten Literatur (Briefe IV, 295). Der Blaubart hat
noch nicht die durchgängige Leichtigkeit des Fortunat; er ist zuwei-
len packend und vernichtet dadurch gelegentlich jäh die Distanz, die
der Textur des Fortunat stilistisch einverwoben ist. Eine bedrük-
kende Dichte unheimlicher Gefühle wechselt mit den hellsten, geist-
vollsten Nichtigkeiten. »Es ist Alles wie ein fremdes Mährchen,
wenn ich es aus der Ferne ansehe«, sagt Agnes nach ihrer grauen-
vollen Entdeckung, »und dann - daß ich im Mittelpunkt dieses ent-
setzlichen Gemäldes stehe!« - (5, 127). Dem Leser geht es ähnlich.
Er wird aus seiner unmittelbaren Teilnahme gewaltsam herausgeris-
sen. Seine Phantasie wechselt zwischen Einfühlung und Illusionsver-
lust. Darüber hinaus spart Tieck nicht mit satirischen Seitenhieben -
die gleichsam als dritte Schicht seinen Personen funktional aufgetra-
gen sind.
Das hat ihm Rudolf Haym nie verzeihen können. Er bedauert
die Illusionszerstörung darum so sehr, weil Tieck gerade im Blau-
bart einmal lebendige, ergreifende Charaktere geschaffen habe.
Ist das wirklich so? Es scheint auf der Hand zu liegen. Da sind
der tatendurstige, zu rasch entschlossene und einfältige Heymon mit
seinem geschwätzigeren Bruder Conrad, der leidgeprüfte, tiefsin-
nig-witzige Narr Claus und der stupend-geistlose Ratgeber, der
dämonische Blaubart, die anmutige, leichtsinnige Agnes und ihre
unglücklich liebende, bedächtige und schwermütige Schwester, die
Brüder Simon, Anton und Leopold, der erste ein melancholischer
Grübler und Prophet, der zweite gar zu verständig und haushälte-
risch, Leopold endlich dem Grübeln abhold, ein leichtsinniger Vogel,
der auf den rechten Augenblick setzt; da sind weiter der Junker
Winfred, der überall eine unglückliche Figur macht, stets mürrisch
und in seiner unfreiwilligen Komik sehr verletzlich ist, Mechtilde,
undurchsichtig, hintersonnen und hexenhaft, Hans von Marloff, ein
alter, sorgsamer, kleinkrämerischer, polternder und rasch versöhnter
Vater, Ulrich, der wehrbare, leicht zum Ausplauden zu verfüh-
ende Knecht, Brigitte, die brave, unerfahrene, aber mehr neugie-
rige als vorsichtige Tochter, endlich der treue alte Diener Caspar,
den seine Gutmütigkeit zur folgenschwersten Unachtsamkeit verlei-
tet. Man wird erwarten, daß die Handlung aus den profilierten In-
dividualitäten ihrer Akteure determiniert wird. Wie steht es damit
wirklich? Sehen wir zu, wie die Charaktere in den Handlungsab-
lauf integriert werden, mit dem sie funktional verbunden sind.
Der Haudegen Heymon und sein etwas bedenklicherer Bruder
Conrad beraten mit Martin von Felsberg über einen Krieg gegen
den mörderischen Blaubart. Heymons zweiter Satz ist gleich ein
Entschluß: »Krieg! Fehde! - Wer ist dieser Peter Berner, daß er
unser Gebiet brandschatzen darf? Sollen wir denn immer in Furcht

337
und Sorgen leben vor einem Nichtswürdigen?« (5, 9). Während
Conrad diese eilige Entschließung durch einige vermittelnde Rück-
sichten hindurch bedenken will (a.a.O., 10), verweilt sich Martin
mit komischer Insistenz auf Berners physiognomischem Merkmal,
dem blauen Bart. Heymon ergreift währenddessen jede Aporie, in
die sich die »Absicht... [verirrt], ein vernünftiges Wort mit einan-
der zu reden« (a.a.O., 11), um erneut zur Tat aufzurufen. Sein Rat-
schlagen, das in immer neuen Wendungen, die die gleiche Monoma-
nie an den Tag legen, »noch einmal zum Kriege« rät (12), ist durch-
aus scheinhaft, denn er läßt keine Gegen-Instanz an sein geistiges Ohr
dringen. Kein Wunder, daß er so große Stücke auf seinen »Ratge-
ber« hält, dessen Antworten sich in tautologischen Wendungen er-
schöpfen. Die pralle Komik dieser professionellen Weissagungen
rührt daher, daß sie - genau wie die Frager - niemals einen un-
sicheren oder gar unerwünschten Ausgang des Unternehmens in Be-
tracht ziehen. Im Ratgeber - Heymon stellt ihn nicht von unge-
fähr als »weitläufigen Verwandten von uns« (11) vor - finden wir,
zum Blödsinnigen, Automatenhaften gesteigert, jene geistige Eigen-
schaft wieder, die Heymon und, nur graduell verschieden, auch Con-
rad teilen: die Unfähigkeit, das Phänomen der offenen Möglichkeit
ins Spiel zu bringen. Alle drei sind, auch wo sie Kommendes erwä-
gen, in Wahrheit blind für den Horizont der Zukunft. Des Narren
Einrede: »Und wo bleibt denn der Blaubart?« beantwortet Hey-
mon mit einem: »Narr, der kömmt ja in der Schlacht um« (12),
während Conrad immerhin erwägt: »Und wenn er auch nicht um-
kömmt, so wird er in ein Gefängniß gesteckt« (13). Der tautolo-
gische Leerlauf von in sich kreisenden analytischen Sätzen, die den
Ratgeber die Situation auf keine Weise zu überschreiten instand
setzen, soll durch Heymons Machtwort: »Nun, so laßt uns denn
nicht zaudern, sondern hastig aufbrechen« (13), überwunden wer-
den; aber ein dringlicherer Einwurf des Narren, der den Tod als
Möglichkeit eröffnet, stiftet solange Verzug, bis man sich besinnt,
daß Claus ja nur ein Narr ist, und die Aporie, die einer Ausklamme-
rung des Zukunftsaspekts ihre Unauflösbarkeit verdankt, auf rein
logischem Wege für überwunden hält.
Die kopflose Hast der Brüder wird — in einer späteren Szene -
der Grund ihres taktisch törichten Vorgehens. Ihre Phantasielosig-
keit, Einblick in die Zukunft zu nehmen, verspielt ihnen auch die
Chance, sich vor dem Blaubart ihr Leben abzuhandeln. Diejenigen,
die über den Augenblick nicht hinausschauen können - ihr Geist
hat die Analytizität einer Maschine, die sich selbst reproduziert —,
tragen, Peter zu rühren, die unbedachte Phrase vor, »es stehe kei-
nem an der Stirn geschrieben, weß Todes er sterben solle. . . . Nie-
mand . . . kann sich vor seinem Tode glücklich preisen« (30). Das

338
geht noch hin. Tödlich wird ihnen aber die kopflose Beleidigung,
welche das eigene »gute Naturell« gegen die Exzentrizität eines
blauen Bartes (31) ausspielt. Der unsinnige Tod dieser Ritter stellt
die unbeschwerte Heiterkeit der ersten Szenen in ein Zwielicht, in
dem das Lachen mit einem gewissen Entsetzen grundiert ist und
ziemlich jäh das Beunruhigende einer fraglichen Zukünftigkeit ein-
bricht. Wer Entwurf und Wirklichkeit identifiziert, ist gerade dar-
um ungesicherter als die Ungesicherten, als er sich unwillentlich dem
»Vormund der Unmündigen«, wie Claus das »Schicksal« nennt,
überantwortet; und diese einfältigsten, eindimensionalen Charak-
tere des Heymon und seines Bruders werden durch die lächerliche,
unwahrhaftige Logik, die ihr Geschick wird, bedeutsam und zei-
chenhaft für die Unsicherheit, die sich von nun an als düstre Atmo-
sphäre auf alle Gefühle der im Stücke auftretenden Personen legt
und sie daran hindert, der wesenhaften Offenheit ihres Charakters,
der Zukünftigkeit ihrer Herzen zu entfliehen.
Diesen Eindruck verdichtet Tieck, indem er den Narren Claus
mehr als sonst im Stück zu Wort kommen läßt. Schon physiogno-
misch ist er ausgezeichnet: »Er ist klein und ungestalt, pucklicht,
hinkt auf einem Beine, und geht sehr behende an einer Krücke«
(11). Als Narr steht er außerhalb der verständigen Gesellschaft, de-
ren Lieblosigkeiten (vgl. 18 oben) ihm zu vertraut sind, als daß er
sich noch verwundern könnte. Die Resignation ist ihm Eigenschaft
geworden (15). Es gehört zur Paradoxie seines Metiers, daß er
gleichwohl nicht unterlassen kann, Einfluß auf die Welt zu nehmen,
da er sie ununterbrochen in seinen Beruf, die Narrheit, hineinpfu-
schen sieht (18). Ihm erscheint die » W e l t . . . lumpig« (18), denn er
sieht, wie die konsequent sich gebärdende Menschheit gerade darin
am inkonsequentesten sich zeigt, daß »sie sich mit denselben Hän-
den todtschlagen, mit denen sie sonst so viele Höflichkeitsgebärden
veranstalten« (26). Aber diese Inkonsequenz ist den Menschen we-
senhaft (daher die Resignation dieses Narren); er weiß, daß die
Konsequenz von der Dialektik des Geschehens als das radikal In-
konsequente überführt wird, ja daß sie tödlich sein kann.
Dem Hinrichtungsurteil Blaubarts läßt Tieck die Vorführung des
Narren folgen, der in einem beständigen Gefühl »der Unsicherheit«
(26) sich hinter einem Strauch verborgen hatte. Wieder ein großer
Kontrast!
»Peter: Komm her, ich bin grade in der rechten Stimmung, dir dein
Todesurteil zu sprechen.
Claus: Und ich sage Euch, ich bin grade in der rechten Stimmung, daß
ich nichts danach frage. (...)
Peter: Wie? du hast das Leben nicht lieb?
Claus: So wenig als einen sauren Apfel. (...)

339
Peter: . . . wenn du Gründe hast, so sage sie mir doch, warum du dein
Leben nicht achtest.« (32)
In der folgenden langen Rede, die in einzelnen Wendungen wie
ein Vorspuk der Schopenhauerschen Führung durch Leiden u n d
Nichtigkeiten des Lebens scheint u n d dessen Vorliebe für Tieck ge-
wiß gefördert hat, zeigt der N a r r , wie wenig »vernünftige U r -
sache« er hat, »das Leben lieb [ z u ] haben«. Er ist klein, krüppelig,
unbrauchbar, gesellschaftlich geächtet, überzählig in seinem Dasein,
ohne Hoffnung auf irdische Auszeichnung, sein Leben nur »Last«.
Die Rede gipfelt in den folgenden Sätzen:

»Und was ist denn das Leben selbst? Eine beständige Furcht vor dem
Tode, wenn man an ihn denkt, und ein leerer, nüchterner, genußloser
Rausch, wenn man ihn vergißt, denn man verschwendet dann einen Tag
nach dem andern, und vergißt darüber, daß die Gegenwart so klein ist,
und/ daß jeder Augenblick vom nächstfolgenden verschlungen wird. Je-
der Mensch wünscht alt zu werden, und wünscht damit nichts anders, als
mit tausend Gebrechen, mit tausend Schmerzen in Bekanntschaft zu treten.
Da schleichen sie denn ohne Zähne und ohne Wünsche, mit leerem zittern-
den Kopfe, mit Händen und Armen, die ihnen schon längst den Dienst
aufgekündiget haben, und die nur noch als abgeschmackte Zierrathen von
den Schultern verwelkt herunter hängen, ihrem Grabe keuchend und
hustend entgegen, dem sie auf keine Weise entrinnen können. - Und ich,
wie müßte ich nun gar seyn, wenn ich alt würde? . . . Nein, gnädiger
Herr, laßt mich immer frisch hängen, Ihr habt ganz Recht, das wird wohl
der beste Rath seyn.« (33/4)125
Das »gefällt« dem Blaubart. Derselbe, der die an die Gegenwart
gefesselten Einfaltspinsel (»Narren«, 36) H e y m o n , Conrad u n d
Martin ans Schwert liefert, rettet den N a r r e n , der unter der Über-
last der Einsicht in die Zukunft am Sinn des gegenwärtigen Lebens
verzweifelt u n d die Bereitschaft, sich auf eine endgültige Verände-
rung einzurichten, zu seinem Sein gemacht hat und der nicht weiß,
ob er »lachen« oder »weinen« soll, weil die Perspektiven sich zu
rasch austauschen lassen (36), je nachdem, ob m a n sein Leben mehr
von innen, leidend, oder von außen, als »Puppenspiel«, betrachtet.
Ist es der Einbruch des unentwirrbar Vielschichtigen, der den
Blaubart zu seiner Begnadigung bewegt, die Affinität, die er gegen-
über dem Gefährdeten, Komplizierten empfindet? O d e r der Reiz,
grundsätzlich gegen den Willen der Menschen zu handeln? Gewiß
liegt hier ein Wink für die Deutung: Blaubart hat etwas zu tun mit
der >Offenheit für die Zukunft<; und sie ist auch der Beziehungs-
p u n k t , auf den sich die folgenden vier Akte insgesamt ausrichten.
Sehen wir zu! Die Szene ist verändert. Auf Burg Friedheim un-
terhalten sich die Schwestern Anne und Agnes; jene durch die un-
glückliche, nie verwundene Liebe zum ihr versagten Liebsten (Rein-

340
hold) zu ernsten Gedanken geneigt, diese von einer leichtsinnig-neu-
gierigen Offenheit für das Fremde - also recht, wie es scheint, eine
der anderen Gegenbild.
Agnes, der die Schwester alles »Talent zur Musik« (37) abspricht,
singt ein Lied, das Anne »besser« findet, »als ich gedacht hätte«
(38):
»Wie rauschen die Bäume
So winterlich schon;
Es fliegen die Träume
Der Liebe davon!
(...)

Rosen und Nelken


Bekränzen das Haupt,
Und ach! sie verwelken,
Der Baum steht entlaubt;
Der Frühling, er scheidet,
Macht Winter zum Herrn,
Die Liebe vermeidet
Und fliehet so fern. -

Verworrenes Leben,
Was ist dir gegeben? -
Erinnern und Hoffen
Zur Qual und zur Lust -
Ach! ihnen bleibt offen
Die zitternde Brust.« (37/8)

Agnes mag es immer leugnen, weil es ihr nicht bewußt ist, so ver-
rät sich doch ihr Gemüt. Sie singt Strophen, deren Anmut Zeile für
Zeile aus den Bildern einer Verflüchtigung des Bedeuteten empor-
steigt. Alles ist in einem vorübergleitenden Fluß geschaut, der un-
versehens in die Vernichtung führt. Die Bäume rauschen, es bedeu-
tet den Winter. Die Träume fliegen, aber ihr Ziel ist der Hoffnung
entgegen. Die Blumen verwelken morgen. Frühling ist wie ein
Wind auf den Wangen; man fühlt ihn zugleich mit der Winterkälte,
die er zurückläßt. Die Liebe, das Thema das Gedichtes (wenn es
wirklich eines hat), »vermeidet/ U n d fliehet so fern«. Die Inhalte
gehen dahin. Was übrig bleibt, sind nur die Weisen, wie sich ein
Geist, der wesenhaft »offen . . . bleibt«, zu ihnen verhält - als »Er-
innern und Hoffen« - jenes die Weise, wie Anne, dieses die Art,
wie Agnes ihr Leben erfährt. »Jeder Mensch hat seine eigene Weise,
laß mir die meinige«, sagt Anne, als ihre Schwester sie tadelt.
Agnes, die »glücklich« ist, weil sie nicht »begreift«, was die Liebe
zu einem so »äußerst wunderbaren Ding« macht (39), singt von de-
ren Vergänglichkeit, Anne hingegen, der dies Lied gefiel und die

34i
weiß, wie gern die Liebe »vermeidet und fliehet« (38), läßt sich die
Laute geben und singt:
»Beglückt, wer an des Treuen Brust
In voller Liebe ruht,
Kein Kummer naht und stört die Lust,
Nur heller brennt die Glut.

Kein Wechsel, kein Wanken,


Zum ruhigen Glück/
Fliehn alle Gedanken
Der Ferne zurück.

Und lieber und bänger


Drückt Mund sich an Mund,
So inn'ger, so länger:
Von Stunde zu Stund
Beschränkter und enger
Der liebliche Bund.« (40/1)
Da ist nun im Gegenteil von Treue, ruhigem Glück, Beständigkeit
die Rede - das meiste nicht unmittelbar genannt, sondern in Wen-
dungen besungen, die die Flüchtigkeit negieren: »Kein Kummer
naht«, »Kein Wechsel, kein Wanken«, zurück »fliehn alle Gedanken
der Ferne« vor dem »ruhigen Glück« der Nähe. Aber als aufgeho-
bene Negationen bleiben Wechsel und Wanken die Konstituentien
dieses Gedichts, das seine Anmut dem Wechsel der Metren, dem hu-
schenden Flug schwereloser Gedanken und, in der letzten Strophe,
der verwirrenden syntaktischen Verschränkung verdankt. 126 Der
Eindruck, den das Lied macht, ist gerade entgegengesetzt seinem
Inhalt, der zugleich nebensächlich wird und die aufgehobene Nega-
tion zur eigentlichen Bedeutung erhebt.
Agnes, deren wildes Fernweh phantastische Bilder vor ihrer
Sehnsucht auftürmt, die in der Vision eines »Schlüssels« gipfeln,
welcher ihr »plötzlich« »ein fremdes Schloß« eröffnet, »wo mir alles
neu, alles merkwürdig ist« (40), ist für die Zukunft »offen«, singt
aber von der Vergänglichkeit und Flüchtigkeit; Anne, deren Liebe
noch immer still glühende Hoffnung ist und die den Verlust bereits
erlebt hat, singt in flüchtigen, bestandlosen Reimen von der treuen
Beständigkeit; und indem der Leser (Zuschauer) sich daranmacht,
seine Eindrücke zu formen, verschwimmen ihm unversehens die
Konturen; die Kontraste zwischen den entgegengesetzten Charakte-
ren lösen sich auf wie farbige Reflexe auf einer Wasserfläche, die das
Auge eine Zeitlang täuschen, bis es, durchdringend, in der durch-
sichtigen Tiefe beider das gleiche Element erkennt. Anne, wie wir
sahen, gefällt das Lied der Agnes gut, und Agnes, die Annes Lied
leichter zu singen als zu verstehen findet, soll es im Nu verstehen

342
lernen. Der Wechsel, mit dem beide, die eine durch Erleben, die an-
dere durch Ahnung, bekannt sind, nivelliert diese Unterschiede, bis
sie wesenlos werden. Wir wollen sehen, ob uns diese Beobachtung
auch sonst nützlich ist.
Daß Anne mit auf Blaubarts Schloß gehen soll, ist eine symboli-
sche Bitte. Die Liebe würde sonst ganz fehlen (70). Die heitere Agnes
fühlt, daß Anne, deren Liebe zu Reinhold durch die Begegnung
mit dessen Vater jäh erneuert wird, sie »fast melankolisch machen«
kann (70), während die ernste Anne schwärmerisch ausruft: »Alles
[ist] in mir erneut und sein Bild wieder lebhaft vor meine Seele ge-
rufen« (ebd.). So rasch wechseln die Rollen; und dieselbe Anne, die
sich in ihre Erinnerung isoliert, tadelt den Bruder: »Aber warum
legst Du auch Deinen Geist immer so auf einen Gedanken?« (60)
Tieck bereitet diese Nivellierung der Charaktere sehr behutsam
vor. Vom Tode der »Narren« Heymon-Conrad-Martin über
Claus' große Rede und die im Zwiegespräch zwischen den Schwe-
stern von Friedheim aufflackernde Einsicht in die grundsätzliche
»Offenheit« des Gemüts führt eine genau verfolgbare Eskalation
bis zum ersten Auftritt des merkwürdigen Simon. Tieck benutzt
diese Szene, um in einem erneuten Kontrast diesen Simon gegen sei-
nen leichtsinnigen Bruder Leopold zu individualisieren, der, worin
ihn Agnes verteidigt (41), selbst »noch nicht. . . recht weiß«, was
und wohin er eigentlich will, der nur dies weiß, daß »ich . . . Euch
auf ein paar Tage verlassen« muß (42). Denn, meint er, es ist »am
Ende doch . . . nur einfältig«, Pläne zu machen, da nicht Absicht und
Verstand, sondern »Glück und Zufall« darüber entscheiden, ob »un-
sere Pläne . . . gescheidt oder unbesonnen« sind (ebd.), und erklärt
die haushälterische, besonnene und beschränktere Geistesart des
Bruders Anton nur aus dessen andersartigem Verhältnis zur innern
Zeit: »So halten die meisten Menschen die langsame Einfalt für ver-
ständiger, als die berührige Unachtsamkeit, und der Unterschied
liegt doch wahrhaft nur im Gange« (43), ob einer nämlich »auf allen
Vieren [zu] kriechen« oder »aufrecht zu gehen« wählt (42).
Anton weiß dagegen nichts ins Feld zu führen. Er warnt nur sehr
mürrisch und obenhin und verrät eine Ahnung, daß sich nicht gut
etwas einwenden läßt gegen ein: »Mir ist so leicht, daß ich gewiß
glaube, ich werde glücklich seyn« (43). Eines Tages wird es Antons
Heil sein, daß er seine eigene Ahnung nicht mehr unterdrückt.
Auch Simon warnt den Bruder. Aber, anders als Anton, denkt er
auf der gleichen temporalen Basis wie Leopold, der das Planen ver-
wirft, weil, wie er sagt, wir nie sehen können, »wie vielleicht alles im
Voraus bestellt« ist und unsere Entwürfe doch nur ins Dunkle tap-
pen (43). Wie Leopold sieht auch er in die Zukunft, weiß aber alle
Gegenwart von böser »Ahnung« bedroht: das Unwißbare der offe-

343
nen Zukunft gestaltet sich vor seinem Herzen als ungreifbare Be-
drohung, die Tieck mit komischer Gebärde ihn beschwören läßt:
»Es ist so ein Wesen, so ein Klagen, so ein Zittern in der Luft.
Agnes: Wie meinst du das, Bruder?
Anton: So wie er alles meint, - er weiß nicht warum, er meint es
nur so.
Simon: Sieh, man kann eigentlich nicht sagen, warum man Unglück voraus
ahndet, aber es ist doch manchmal etwas im Herzen, - das -
Leopold: Nun?
Simon: Ach! wer kann dir das deutlich machen!« (44)
Diese Zeilen sind mit Tiecks leichtester Feder geschrieben und
scheinen sich durch die inwendige Ironie des Stils selbst zu relativie-
ren. Aber gerade diese Relativität ist zugleich ihr Inhalt: Agnes -
eben noch voll freudiger Hoffnung - zeigt an Simons düsteren
Ahnungen ein aus keinem äußeren Geschehnis motiviertes Inter-
esse; Anton klammert die Realität der Offenheit für die Zukunft
aus, weil es seinem kurzsichtigen Faktensinn zuwider ist; und Leo-
pold, von dem sich Simon gar nicht hinsichtlich seiner Ausgelegtheit
auf Zukunft unterscheidet, ist nur darum verärgert, weil Simon (wie
Anne) die Zukunft in düsteren, statt, wie er (und Agnes) in heite-
ren Farben sieht. Leopold geht verärgert ab; und hatte er soeben
noch im Verein mit Anton über Simon gelästert, so sind sich Anton
und Simon doch nun sogleich über Leopold einig:
»Anton: Seine Wildheit wird ihn noch einmal unglücklich machen.
Simon: Gewiß.« (44)
Wir haben folgende symmetrische Konstellation, die sich um die
Kontraste Anne-Agnes und ihre jeweiligen Zuordnungen erweitern
ließe. Wo eine Warnung gegen Leopolds Leichtsinn nötig scheint,
sind sich Anton und der düstere Simon, wo gegen Simons Melancho-
lie und Schwärmerei etwas zu entgegnen ist, sind sich Anton und
Leopold, wo etwas gegen Antons Kurzsichtigkeit zu sagen ist, sind
sich alle Geschwister einig. (Anton wirft, was er zu Leopold gesagt
hatte, später dem Simon auch vor: »Du weißt nie recht, was Du
willst« (67)).
Die Differenz dieser Charaktere, die sich durch verschiedene wi-
dersprüchliche Anordnungen nivelliert, rührt nämlich gar nicht aus
ihrem innersten Kern, sondern aus der Unvereinbarkeit zweier, mit
je verschiedenen Inhalten erfüllter Entwürfe, die nicht hinsichtlich
ihrer Zukünftigkeit, sondern ihrer zufälligen Bestimmtheit kolli-
dieren (Antons Einsicht in die Zukunft kommt, wie wir zeigen wer-
den, etwas später, gerade noch rechtzeitigig, um seine Familie vor
einer Katastrophe zu bewahren).
Simon wirft darum dem Bruder Anton vor, daß er seinen Ver-

344
stand, den er mit einer Zwiebel vergleicht, nicht bis in den »letzten,
inwendigen Kern« hin durchdringe, sondern »nur die oberste Haut
in einige Bewegung« setze (46), während Leopold »gar nicht« den-
ke: »Er denkt nur mit der Zunge; . . . / und was er gesprochen hat,
hat er auch in demselben Augenblick wieder vergessen, in dem er es
von der Zunge geschüttelt« (46/7). Über sich selbst aber weiß er
keine Auskunft zu geben. Seine »Krankheit«, die der Arzt (ein Gei-
stesverwandter Ratgebers) zu physisch, zu mechanisch behandelt,
ist, daß, wie er sagt, »mir beständig etwas im Kopfe liegt« (49), das
mit der Zukunft zu tun hat und vermöge welcher Erfahrung ihm
aus aller Gegenwart deren Zufälligkeit entgegenlodert. »Und dann
ängstigt's mich oft«, sagt er, »warum eine Sache gerade so und nicht
anders ist« (50).»27 Das kann nur sagen, wem der Überstieg und
der Wechsel von Zuständen so vertraut geworden ist, daß er über
der Wirklichkeit einer Sache immer noch mitbedenkt, was sie sein
könnte:
»Und manchmal ist mir, als müßt' ich durchaus auf meine Pulsschläge
Acht geben, und als würde bei dem einen plötzlich eine schmerzhafte
Krankheit ausbrechen.« (50)
Die übermächtige Möglichkeit vereitelt die selbstgenügsame Be-
scheidung auf ein >Hic et nunc< und hat überall das >Auge zuviel«.
Simon ist das genaue Gegenstück zum Ritter Heymon; jener der
abstrakte Mangel an Gegenwart (dies Simons »Krankheit«), dieser
der abstrakte Mangel an Zukunft.
Eine spätere Szene thematisiert die Zukunftsoffenheit nun mit
Worten:
»Könnt Ihr machen«, fragt Simon den Arzt, »daß ich die Zukunft/ er-
gründe, wie ein Exempel, das ich berechne? Wohlan, dann will ich das
Leben und Eure Kunst für etwas halten.« (61/2)
Das Wort ist ausgesprochen, welches das Geschehen hinfort in
Atem hält.
Peters Heirat mit Agnes gestaltet sich inzwischen nicht wie er-
wartet. Die neugierige ist wortkarg und entdeckt, daß sie nicht
liebt (ihr Herz folgt ihrer Neugier nicht nach). Sie spricht es
erst später aus; aber die physiognomische Merkwürdigkeit ihres
Freiers, später die wüste Gegend, regt in ihr böse Ahnungen auf
(82) —, die Peter ihr erst von den Lippen abzulesen und zu ent-
kräftigen sucht (58/9), später, merkwürdig widerspruchsvoll, selbst
noch anheizt (82/3), bis Agnes endlich ihre ehemalige Sehnsucht
nach Fremde und Ferne gar nicht mehr verstehen kann (83).Als sie
von Friedheim aufbricht, gibt ihr ein guter Instinkt den Wunsch ein,
die Schwester mitzunehmen. Aus dem alten Fernweh ist plötzlich
Heimweh geworden, von dem ihr so konträren Simon kann sie sich

345
vollends gar nicht trennen (79), im gleichen Maße, wie die verzagte
Anne Hoffnung faßt (70). Anton, den solche Bedenklichkeiten in
seinen familienpolitischen Kalkulationen stören, bemerkt dazu:
»Ja, das ist nicht anders im menschlichen Leben, die Zeit bringt die Ab-
wechselungen herbei« (79), aber der mürrische Simon belehrt ihn gar
spitzfindig: »Die Zeit nun wohl nicht, denn, genau genommen, macht ja
eben die Folge dieser Abwechselungen das aus, was wir Zeit nennen.«(80)
Eine fast läppische Korrektur an einem trivialen Satz, die aber
vor dem Hintergrund einer Katastrophe, die sich soeben anzubah-
nen beginnt und atmosphärisch bereits ankündigt, einiges Gewicht
bekommt: Simon ertappt den Bruder bei einer gedankenlosen
Phrase über die Zeit, die ihn entlarvt als Menschen, der sie gefähr-
lich verdrängt. Das ist ein Wink, den wir nicht übersehen.
Simon, der später in einem Traum das Ende des Blaubart durch
ihn (Simon) selbst vorwegnimmt, ist gleich bei der ersten Begegnung
dessen Feind, indem er Peter vorhält, er sei »ein schlechter Prophet«
(63; Peter hatte mit halb komischer, halb unheimlicher Scheinheilig-
keit die Heirat als Heilmittel gegen die Schwermut empfohlen). Die
beiden sind einander entgegengesetzt in ihrem Verhalten zur Zu-
kunft. »Seht«, verteidigt sich Simon vor dem Arzt, »alle Leute geben
sich mit Prophezeiungen ab, sie thun nichts lieber als die Zukunft vor-
hersagen, und doch findet Ihr es bei mir so sonderbar, daß ich auf
diesen Wunsch verfallen bin« (64).»28 Der Blaubart hingegen
treibt ein Spiel mit der Zukunft, indem er seine Opfer durch deren
prinzipielle Unergründlichkeit ködert und vernichtet. In einer hoch-
komischen Sezene erbittet er sich vom Arzt (der nicht zufällig auch
Simon kurieren soll) die Auskunft, was er gegen dasjenige Indiz tun
könne, das ihn zum eindeutigen Objekt böser Ahnungen prädesti-
niert, seinen blauen Bart. (Es geht ihm also, anders als Simon, nicht
um die Erkenntnis, sondern die Verschleierung der Zukunft, von der
er weiß, daß durch sie die Lockung des Unwägbaren ins Leben ein-
bricht.) In der Szene des Abschieds von Simon spricht er geradezu
aus: »Ahnungen muß man nicht trauen, sie hintergehen uns fast
immer« (79). Und doch steigen vor seiner letzten Schlacht plötzlich
Bedenklichkeiten in ihm auf (93/4). Man sieht, unser Eindruck ver-
stärkt sich, daß er etwas mit der Offenheit-für-die-Zukunft zu tun
hat, die er zugleich kennt, leugnet und anstachelt.
Die Unentschiedenheit einer von bösen Ahnungen verstellten Zu-
kunft verdichtet sich atmosphärisch in den Worten der alten, un-
heimlichen Hexe Mechtilde. Sie ist das Symbol der Unentrinnbar-
keit vor der Zeit. Sie macht Agnes Angst, steigert ihre Neugier
(87 ff.) und zwingt sie zugleich zu einer ihr bisher ungewohnten
Reflexion:

346
»Ja, das will das junge Blut immer nicht glauben«, erzählt sie, »sie denken
gewöhnlich: das bleibt beständig so, wie heute! Ja, heute, und morgen ist
wieder ein Heute, und übermorgen auch, und so nimmt ein Tag nach dem
andern Abschied, und man denkt in der jugendlichen Vergeßlichkeit nicht
daran, daß daraus die Zeit besteht. Eh wir es uns dann versehn, heißt es
hinter uns: seht die alte Frau, die da hingeht! Die ersten Male wollt'
ich's ordentlich nicht glauben, daß das mir gälte; ich bin es aber nachher
wohl inne geworden.« (89)
Plötzlich bricht sie ihren Gedanken ab und sagt: »Unser Ritter
wird sogleich wieder abreisen« (ebd.). Da ist eine neue Möglichkeit
eröffnet, die Agnes mit schrecklicher Gewalt aufs Herz fällt und in
der sie zum erstenmal ihrer Freiheit innewird: »Nun steht es endlich
in meiner Gewalt, die längst gewünschten Kostbarkeiten zu be-
trachten« (96). Ihre zunächst bösen Ahnungen, die sie beim Ab-
schied als Sorge um den Gatten ausgibt, schneidet Peter durch den
Satz ab: »Sey ruhig, ich habe noch nie etwas gefürchtet -« (90); und
doch sagt derselbe nur wenig später zu seiner Frau: »Das Leben von
uns Allen ist wohl nur ein albernes Puppenspiel« (95) - ein Wort,
das, unmotiviert wie es auftaucht, sich zu Peters Sympathie für den
Narren Claus zwar reimt, aber ein sehr gespenstiges Licht auf seine
vorgebliche Furchtlosigkeit wirft. - Agnes wird nach Peters Ab-
reise, durch das Verbot gelockt, mit dem quälenden Taumel der
Möglichkeiten bekannt, mit der unerträglichen Freiheit, die sich als
der wahre Sinn ihrer ursprünglichen Sehnsucht und Neugier heraus-
stellt. Nur ein Wesen, dessen Geist nicht Maschine (wie Ratgeber,
Heymon), sondern Spontaneität ist, kann sich fürchten, sehnen,
kann erinnern, hoffen, Pläne fassen. Als Agnes die entsetzliche
Kammer gesehen hat, will ihr Mechtilde, nach der Geschichte von
den drei blutigen Händen, als »alte Hexe« erscheinen»29; aber un-
heimlicher noch ist ihr Zweifel an der Identität der Schwester:
»Ach, Anne, es wäre schrecklich, wenn ich mir nur einbildete, daß
Du mich so schwesterlich tröstetest, wenn die Alte es wäre, die mir
jetzt gegenüber säße. - (Sie greift sie an.) Aber Du bist es, nicht
wahr?« (127). Agnes hat erfahren, daß keine Nähe von Menschen,
auch nicht die Nähe der Schwester, die sie in Armen hält, den Ein-
bruch des Fürchterlichen aus der Zukunft, der die »Brust... offen
ist«, abhalten kann:
»Was macht das? - die Entsetzlichkeit ist doch nicht weit von uns. Du
darfst nur zu jener Thür hinaustreten, so liegt die andere vor Dir.«
(126)
Und gerade Anne ist es ja gewesen, die ihrer Schwester Neugier
»bange« (98) machte, die sie warnte:
»Nicht immer ist der Fortgang so munter und frisch, wie der Anfang. Die
neuen Kleider tragen sich ab, der frische Baum wird entlaubt, und der

347
Abend sieht oft ganz anders aus, als es der Morgen versprach. Wie fröhlich
beginnt der Jüngling oft, was die spätem Jahre ernsthaft verweisen, und
zuweilen ist ein anscheinendes Glück nur die Vorbereitung zum Elend.«
(98)
Man muß vor dieser Folie einer jäh hereinstürzenden, alles ver-
unsichernden Zeiterfahrung Agnes' großartige Monologe (113/4;
116/7; 124/5) lesen, die ohne Zweifel zu Tiecks glanzvollsten
Darstellungen des Möglichkeitstaumels gehören bzw. des Grauens,
in das der Verlust der Freiheit nach begangener Tat führt - sym-
bolisiert in dem alles eröffnenden Schlüssel und später dem blutigen
Fleck, der sich nicht mehr abreiben läßt.
Es ist in diesem Stadium der Handlung, daß Simons übermäch-
tige böse Ahnungen eine prophetische Intensität erwerben, die dem
verständigen Anton als letzter noch lebender Person (von dem un-
sinnigen Ratgeber abgesehen) die Erfahrung der Zeit aufzwingt
(118 ff.). Zum erstenmal in seinem Leben ist er von etwas über-
zeugt, das nicht Ergebnis eines Verstandesurteils ist:
»Anton: Das Tollste bei der Tollheit ist, daß sie vernünftige Menschen
ansteckt.
Simon: Du wirst sehen, daß ich mich nicht irre.
Anton: Ich begreife selbst nicht, warum ich Dir nachgebe.« (121)
Auch Agnes ist endlich, expressis verbis, von einer bösen
»Ahnung« erfaßt (138), daß Peter früher wiederkommen müsse.
Ein Wettlauf um die Zeit entsteht zwischen Simon-Anton und dem
heimgekehrten Blaubart, der aus dem makabren Kabinett wieder-
holt seine Frau zur Hinrichtung ruft. Simon trifft endlich nach einer
hochdramatischen Szene ein und erfüllt seinen prophetischen
Traum. Die wache Erkenntnis der Zukunft siegt über das absichts-
volle Spiel mit dem Unwägbaren.
Das Drama ist nach dem Blaubart betitelt. Wollen wir darin
nicht einen Zufall sehen (wozu unsere bisherigen Beobachtungen
wenig Anlaß bieten), so wird sich eine Gesamtdeutung des Schau-
spiels aus den Winken geben lassen, die wir unterwegs über Peter
Berner sammelten.
Er läßt, in grausamer Laune, die einfältigen Ritter von Wallen-
rod samt Martin von Felsberg hinrichten, findet aber Gefallen am
Narren Claus, den er verschont.»30 Beide Handlungen stehen offen-
bar im Zusammenhang. Er haßt diejenigen, die zwischen Absicht
und Erfolg nicht unterscheiden können (liegt darin nicht so etwas
wie Neid über das Glück der Dummheit?) und faßt Neigung zu
einem Menschen, der zu weit in die Zukunft hineinschaut, um sein
Leben lieben zu können.
Aber tut das nicht Simon ebenso wie Claus? Gewiß, aber dessen

348
böse Ahnungen, die Peter ihm (und Agnes) als Aberglauben vor-
hält, haben alle Gefahr, ihm (Peter) selbst bedrohlich zu werden,
während der Narr kontemplativ bleibt.
Peter Berner treibt ein Spiel mit der menschlichen Neugier, die er
auf alle Weise anstachelt und doch, wo es geboten scheint, mitsamt
der wesenhaften Zukünftigkeit der Menschen für nichtig erklärt.
Seiner Frau Agnes verbietet er »Ahnungen« und genießt doch ihre
»Angst« (82, 138). Er schneidet die Zukünftigkeit ab, indem er auf
sie aufmerksam macht.131 Daß ihm selbst die Zukünftigkeit des
Charakters zum Erlebnis geworden ist und er sein Leben selbst vom
Taumel der Möglichkeiten fortgerissen fühlt, - dies zu schließen,
legen seine gelegentlichen Reflexionen auf des Lebens Nichtigkeit
(schon sein Wohlgefallen an Claus' Rede) sowie dessen »Puppen-
spiel«-Charakter nahe (vgl. Brief Tiecks an Ida von Lüttichau, Ber-
lin, 10. November 1852, 37 unten und 38); ferner das gespenstische
Einvernehmen mit der gezielten Panikmache seiner Haushälterin,
das fortwährende Spiel, das er mit seinen sieben Frauen treibt und
über dessen wirklichen Charakter er sich und andere betrügt - so
etwa, wenn er dem mürrischen Simon zur Heirat als einem Heilmit-
tel vor seiner Krankheit rät, einer Krankheit, an der er selbst lei-
det; am deutlichsten sein wilder Ausbruch nach Agnes' Entdek-
kung (141/2), der ihn verrät. Was ihm selbst zum Schicksal gewor-
den ist, der Möglichkeitstaumel, das projiziert er in den uralten
Mythos vom verführerischen, neugierigen Weibe (vgl. schon seine
biblische Warnung: »Agnes! laß Dich nicht gelüsten, das siebente
Zimmer zu öffnen!«, 96), dessen sündhafte, »schändliche Neugier,...
verächtliche Schwachheit Eures Gemüthes« (141) zum Stachel wird,

»alle Bande [zu] zerreißen, die Treue, die Ihr gelobt, [zu] brechen, die
Euch dann, mit Feigheit gesellt, zu/ den verruchtesten Mordthaten reißt.
Ja zur Hölle, in die Umarmung der Teufel werdet Ihr gelockt, um diese
Lust zu büßen. - Gut, Du hast Dir selbst Dein Schicksal gewählt.«
(I4l/2)1S2

Zur Willkür der Morde hingerissen, schreibt Peter Berner mit


teuflischer Berechnung, und nicht ganz zu Unrecht, den Ermordeten
selbst die Schuld zu. Jede seiner sieben Frauen muß ihm aufs neue
sein altes Leiden bestätigen, daß es keine Versicherung gegen das Un-
wägbare, das Unabschließbare, prinzipiell Offene des menschlichen
Gemütes gibt. Das Sadistische seiner Morde besteht darin, daß er
diese Erfahrung an anderen erprobt und sich an ihnen zum Rächer
seiner eigenen Neugier ernennt. Kein Wunder, daß er die Mensch-
heit als »albernes Puppenspiel« bezeichnet: Spiel ist es, durch das er
sich boshaft an ihr rächt. Jede seiner Taten und Äußerungen reimt
sich zur Erfahrung der bodenlosen Willkür, wie er sie in diesem

349
Vergleich als Erlebnis bekennt. D e r Blaubart wird zur Chiffre einer
Zeitlichkeit, wie sie sich in den dämonischen Farben einer H e r a u s -
forderung an die wesenhafte Zukünftigkeit des Menschen darstellt.
Vor dem Hintergrund dieser Zukünftigkeit sind alle Charaktere
gleich.
Das Geschehen um den Blaubart, wie in den meisten Schauspie-
len Tiecks, wird von einer zweisträngigen Nebenhandlung durch-
flochten: den Ereignissen, die sich an die Brautwerbungsfahrt des
alten H a n s von Marloff knüpfen, nämlich Winfreds und des leicht-
sinnigen Leopold Entführung von Marioffs Tochter Brigitte und, in
deren Folge, die Wiedervereinigung der getrennten Liebenden Anne
und Reinhold. Ist diese Nebenhandlung auch aus der Temporal-
struktur ihrer Personen motiviert? Für jede Figur, die auftritt, ist
der Nachweis leicht zu führen:

Da ist der unglückliche Winfred, der überall eine läppische Figur abgibt,
gern ein Leopold sein möchte und dem über dem »unbegreiflichen« (22)
Gedanken, warum er nun gerade so und nicht anders ist, das Von-Unge-
fähr des Charakters aufgeht:
»Vielleicht, daß der Mensch, wenn er sieh auch recht was Besonderes
vorsetzt, und Glück und Sterne lassen es gelingen, und sein Vorsatz
paßt für ihn, daß er dann ein Held, ein Dichter, ein Weiser, oder ein
großer Luftspringer wird; fügt sich's aber, daß die Sterne und die
Schicksale nicht damit harmoniren, sondern sich zwischen ihn und seine
Absichten so recht mit breitem Rücken hinstellen, so wird aus dem
nemlichen Menschen wohl ein simpler Narr« (22). Das komische Ent-
weder-Oder braucht nicht zu sein; man kann auch ein simpler Narr
und ein großer Luftspringer zugleich werden. Winfreds Schicksal be-
weist es.
In keinem Falle ist in den wechselnden Bestimmungen des Charakters
eine vernünftige Kausalität am Werke zu erkennen. Winfred hat sich nicht
in der Hand, seine verletzliche Eitelkeit verwickelt ihn vor der Freiers-
fahrt in ein Gefecht, aus dem er zu zerschunden hervorgeht, um noch
einen attraktiven Freier vorzustellen. Da kommt heraus, was mit den
lebensgestaltenden Sternen gemeint war: es ist das Unberechenbare in der
eignen Brust, die unabwendbar je selbst gewählte Rolle, deren Abhängig-
keit allein vom Wählenden, wie Agnes' Beispiel lehrt, in einen rechten
»Schwindel« versetzen kann.
Der alte sorgsame Vater Hans von Marloff hat bei seinem Abschied gleich
»böse Ahndungen« ($5, deutlicher noch 79); »denn«, sagt er, »man kann
manchmal nicht wissen, wie Unglück entsteht, es ist oft früher da, als wir
es gewahr werden« (52).
Der treue, bewährte Diener Caspar, mit der gewissenhaftesten Sorge um
die zurückgelassene Tochter betreut, wird ausgerechnet in dem Augenblick
schwach, als die Entführer eintreffen; und nach einem tiefen Rausch kom-
men ihm am nächsten Morgen sogleich böse Ahnungen (104/5). Prächtig
ist der Zank mit dem heimkehrenden Hans, in welchem jähe, heftige

350
Empörung und die alte siegende Gutmütigkeit so gar rasch abwechseln.
»Die Zankscene zwischen dem alten Ritter Marlowe [sie] und seinem
Caspar (auf die ich viel halte und sie originell finde)«, schreibt Tieck an
Devrient, »muß ganz schnell, abwechselnd, von Jähzorn zur scheinbaren
Ruhe gegeben werden. Es ist schwierig, diese beiden Rollen zu besetzen«
(Letters of L. Tieck, 540).
Reinholds Diener Ulrich, dessen Heftigkeit dem armen Winfred zum
Verhängnis wird, kann, obwohl er aufs Schweigen vereidigt ist, im rechten
Augenblick den Mund durchaus nicht halten (74) und weiß es noch oben-
drein.
Und Brigitte und Leopold erkennen im Nu die Unwiederbringlichkeit eines
Kairos: »Schnell schwindet die Zeit/ Und Zögern gereut;/ Die Stunde ver-
geht,/ Dann ist es zu spät« (104). Es bedarf nur einer winzigen Gegenrede,
um aus einem »Ich sollte meinen alten Vater verlassen?« ein »Ich bin Dein«
(ebd.) zu machen; und die leichte, rasche Folge der Szenen und Ereignisse,
das Flüchtige und Anmutige der Dramaturgie spiegelt das Federleichte die-
ser Herzen.
Anne schließlich hat nie aufgehört zu hoffen, so sehr sie sich in
die Erinnerung abschließt und die rasch bewegliche, immer sehnsüchtige
Schwester tadelt: »Und so wolltest du alt werden? dich durch ein trübes,
unzusammenhängendes Leben arbeiten?« (40). Der Bruder Anton, der -
wir zeigten es - die Zeit aus seinen Entwürfen bis zur vorletzten Minute
gleichsam ausklammert, ist ihr zuweilen zur Qual: »Er versteht die Emp-
findungen des Herzens nicht, seine Gegenwart bedrängt mich, und ich
wage es nicht, so zu seyn, wie ich meiner Natur nach bin« (70), nämlich in
Sehnsucht über sich selbst hinaus bei ihrem Liebsten, den sie schließlich
wieder umarmen kann (150) und der, auf Marioffs Suche nach Brigitte
unversehens gefunden, im Nu mit dem besorgten Vater ausgesöhnt ist
(134), der ihn wegen seiner Neigung zu der unbegüterten Anne von Hause
verstoßen hatte (21). Das gehört mit zu den Ahnungen des alten Hans,
daß auch das Herz leichter umzuwenden ist, als ein früherer Entschluß
gestatten wollte: »So geht's in der Welt: ein Kind verloren, eins gefun-
den« (134). Die es am wenigsten erwartet haben, finden sich plötzlich in
das wunderbarste Leben verstrickt; und nur die, die von den anderen für
verrückt gehalten werden (wie Simon von Winfred (22) oder Claus von
den Wallenrods), sind auf den Einbruch des Unberechneten gewärtig. Die
inkonsequenten, die »seltsamen Charaktere« sind am Ende die allein kon-
sequenten.
Und welcher verständig die Wahrscheinlichkeiten Abwägende hätte dem
mürrischen, unglücklichen Winfred noch Hoffnung auf eine Heirat mit der
geliebten Agnes (vgl. 21) machen wollen? Nur »Sterne« könne dergleichen
»gelingen . . . lassen« (22); wer schließlich hätte das ironische happy ending
diesem unheimlichen Drama prophezeit? Es gehört zur Verliebtheit der
Tieckschen Muse in Unberechenbares, Überraschendes, daß der täppische
Winfred, der einmal wieder seinen Hut vergessen hat, folgendes unange-
messene Schlußwort spricht; das zugleich eine weitere Illustration zu
Tiecks Theorie des Lächerlichen ist:
»O mein Hut, mein schöner Hut, der liegt noch in der Sänfte. Schnell!
Wie konnte ich das nur vergessen? Mit dem verbundenen Kopf und

351
mit dieser/ Mütze sehe ich zu erbärmlich aus. - So, nun sind die Spu
ren aller Leiden vertilgt, nun können wir wieder fröhlich seyn.
(Gehen Alle in die Burg; Trompeten, Freudengeschrei.)« (151/2)

Die Auflösung der Wirklichkeit in Schein - das Wunderbare

Die Charaktere im Blaubart ließen den Vergleich mit farbigen


Reflexen auf einer in sich durchsichtigen Wasserfläche sinnvoll er-
scheinen. Nur als Reflexe sind diese wesenlosen Farbtupfen gegen-
einander abhebbar; in ihrer Realität als Spiegelungen eines und des-
selben Wassers sind sie einerlei: durchsichtig, von flüssigem Aggre-
gat. Das entspricht auf das genaueste Schellings Bestimmungen der
Endlichkeit (Schröter, Erg.Bd. II, U7ff., 146ff. = I, 6, 188ff.,
216 ff.), der die empirische Realität als »relatives Nichtseyn« oder als
bloßen »Reflex«, abgesehen vom Wesen, deduziert. Solgers Idee
vom »positiven Nichts« steht in Schellings Tradition. Tieck muß sie
wie eine Offenbarung vernommen haben, seine Briefe und Novellen
sind voll von Anspielungen darauf und von Bildern, die die Wirk-
lichkeit als bloßen »Traum«, als »Schein« darstellen.
Die Schwerelosigkeit vieler dramatischer Szenen, Figuren und
Dialoge in Tiecks Dramen (hier noch mehr als in Erzählungen, wo
die Deskription vieles notwendig zerstört) ist einer Art von STTOYJ)
verdankt, durch die der Reflex als solcher isoliert wird, da er das
einzige ist, »was wir von den Dingen/ Begreifen können« (10, 52).
Dasjenige Bewußtsein, das vor dem stets getäuschten Wunsch, Rea-
lität zu greifen, endlich resigniert, ist das früher charakterisierte
Traumbewußtsein, das mit den schwerelosen, nichtigen Reflexen
spielt. Im Traum ist die Möglichkeit von der Wirklichkeit emanzi-
piert. Unter seinen Flügeln bereitet sich eine Verwischung der Kon-
turen dessen vor, was sein und was nicht sein könnte. 133
»Immer wieder«, bekennt der alte Tieck, »komme ich auf das
Eine zurück, auf die Resignation, als das Höchste, was der Mensch
erreichen kann« (Köpke II, 256). Sie ist die Reflexion auf einen
durch die Flüchtigkeit des Wirklichen aufgedrungenen Skeptizis-
mus, der den Verstand (das »fixirende«, »setzende Vermögen«)134
nicht als einziges Werkzeug zur Weltorientierung begreift: »Hier
tritt der Glaube rettend ein, der die tiefste Kluft dennoch füllt; es ist
die Hingabe an den unendlichen Willen Gottes« (ebd.).... »Die
letzte, höchste Skepsis führt zur Resignation, und diese ist Glaube«
(ebd.). Der Verstand wird schließlich durch ein Organ ersetzt, wel-
ches Tieck, übrigens wie Fr. Schlegel und Novalis, auch »Instinct«
nennt:

352
»Ich möchte«, erklärt er, »Alles so nennen, was sein [des Menschen] tief-
stes Wesen, seine innersten Beziehungen zu Gott ausdrückt, mit einem
Worte jene ganze Welt, welche er nur ahnt, die er mit seiner gewöhnlichen
Logik nicht zu bezwingen vermag, in der er eine höhere Macht anerkennen
muß, die er nur fühlt, ohne über sie zum klaren Bewußtsein zu kommen
[weil zum setzenden Verstandesbewußtsein das Gegebensein von etwas
Setzbarem, Verständlichem gehört, was hier fortfällt].155 Dies Unmittel-
barste macht das innerste Wesen des Menschen aus.« (Köpke II, 241)

Tiecks Bestimmungen dessen, was Glaube sei, haben die Eigen-


tümlichkeit, daß sie die alltägliche Welterfahrung nicht überschrei-
ten, sondern als die einzige Möglichkeit verstanden werden, diese
Wirklichkeit selbst zu fassen: Wir leben in einer Welt, die sich gar
nicht begreifen, die sich nur glauben läßt, denn »wir haben alles nur
im Glauben« (III, 315). Dieser »Glaube« ersetzt in Tiecks Alters-
werk in synonymer Verwendung das Wort »Traumbewußtsein«.
Die Wirklichkeit ist zu scheinhaft, zu unzusammenhängend und
zu flüchtig, um thetisch begriffen werden zu können. Sie ist selbst
wunderbar und poetisch - daher Tieck so häufig Lebenssituationen
als ein Märchen, Drama, Gedicht, einen Roman usw. bezeichnet:
»Wir leben eigentlich... ein Märchen« (III, 931; 481/2); und
Shakespeare sagt: »War mir doch zuweilen, . . . als würde ich erst
durch mein Gedicht erschaffen, und mein eigenstes Wesen zum Le-
ben gebracht« (III, 481). - Was heißt das anderes, als daß die
traumhafte Poesie die einzig erkenntnistheoretisch angemessene
Weise ist, Welt zu verstehen und darzustellen, der das Wunder nicht
durch absurde und darum »uninteressante . . . Zufälligkeiten« von
außen untermischt wird, sondern die selbst durch und durch »unbe-
greiflich« ist (I, 309). Ganz unsinnig ist es, meint Tieck, »einen un-
bedingten Gegensatz vom Poetischen und Unpoetischen anzuneh-
men« (vgl. auch I, 152). Das »Wunder« ( n , LXXXVII) ist nichts
anderes als »das Unauflösbare im Leben«136 (11, LXXXIX), und
die Unergründlichkeit und Unausschöpflichkeit eines Kunstwerks
ist die in ihm dargestellte Wirklichkeit »in ihrer Unendlichkeit« (11,
XXII). 137 Ja, das »Wunder« ist das »Alltägliche«, wie wir »es im
Leben selbst . . . erfahren« (11, LXXXIV ff.) und wie es vom
Traumbewußtsein in seiner Wahrheit aufgefaßt wird. Der »Zwie-
spalt des Lebens« und die »Räthsel des Herzens« (11, LXXXIX
und XC) müssen als das, was sie sind, dargestellt werden - als
Rätsel. Eine Interpretation, die sie dem Verstände zu vermitteln
sucht, hat das Phänomen verfälscht. Denn

»es ist in allen Richtungen des Lebens und Gefühls ein Unauflösbares,
dessen sich immer wieder die Dichtkunst, wie sie sich auch in Nachahmung
und Darstellung zu ersättigen scheint, bemächtigt, um den todten Buch-

353
Stäben der gewöhnlichen Wahrheit neu zu beleben und zu erklären.«
(II, LXXXIX)
Dergleichen Affirmationen sind im Tieckschen Werk und beson-
ders im Briefwechsel nicht singulär, sondern so häufig, daß kein
Zweifel an dem Gewicht sein kann, das Tieck ihnen beimaß. Im
hohen Alter noch sagt er zu Köpke:
»Das Wunder . . . ist kein außerordentlicher Zustand, es umgibt uns an
allen Orten. Aber der Mensch ist stumpf dagegen geworden. Die Schwere
des Lebens ergibt sich daraus, daß tiefere Naturen das Wunder ahnen,
aber nicht erklären können.« (Köpke II, 251)
Um dem Verfallen an die Dinge zu entgehen, bedarf es der >Auf-
fälligkeit< von »wunderbaren Tagen«, die Tieck im Lebrecht »die
unruhigen Tage« genannt hat (I, 153) und die, ohne im geringsten
unwirklich zu sein, sich nicht allein aus ihrer alltäglichen Wirklich-
keit verstehen lassen. Daher müssen wir gelegentlich »nur einmal
versuchen, uns das Gewöhnliche fremd zu machen« (I, 124/5; ^>
468), um nicht in der abstrakten, aber als diese unerkannten Schein-
haftigkeit des Daseins zu versinken. Wir werden finden, daß nichts
so wunderbar ist wie die Wirklichkeit (I, 259). Dergleichen Kon-
trasteffekte setzen allerdings noch immer die ungute Ȋsthetische
Unterscheidung« 138 voraus, die hier ganz wegfallen muß: Im poe-
tischen Traum wird gerade durch die rasende Folge von Impressio-
nen in der Einbildungskraft das Wunderbare alltäglich und vertraut.
Die Zeit löst das sich fixierende Gemüt zu rasch von den Gegen-
ständen los, als daß das Herz an einem dauernd haften könnte, und
so wird aus allen Ekstasen endlich ein Spiel.»39

Spiel mit der Willkür

An einem Beispiel noch wollen wir den Reflex des Traumbewußt-


seins in einem Schauspiel, Tiecks Zerbino, illustrieren. An Leichtig-
keit der Dialoge und beschwingter Anmut übertrifft dies Lustspiel
alles, was Tieck im dramatischen Fach gedichtet hat.
Der alte König, im Gestiefelten Kater ein Dummkopf, ist zu
einer kindischen Weisheit gelangt, welche der an die Welt der ra-
tionellen Zwecke verfallenen Hofgesellschaft für ausschweifendste
Verrücktheit gilt. Mit einer Bleisoldatenarmee spielt er, wie er das
nennt, »Schicksal«.
Worin besteht des Alten Verrücktheit, die seinen »schönen Ver-
stand« (10,48/9) ruiniert hat? Ihm ist ein >criterium dijudicationis<
zwischen Wirklichkeit und poetischem Spiel abhanden gekommen.
Er negiert die empirische Realität von Staat, Staatsheer und Gesell-

354
schaff und weiß sich insofern weiser als ein echter Oberbefehlshaber
des Heeres140, als in seinem Bleisoldatenspiel wirklich nur mit
Scheinfiguren gespielt wird. Der König ersetzt den Schein von Rea-
lität tiefsinnig durch die Realität des Scheins:
»Der Schein ist alles, was wir von den Dingen
Begreifen können, darum könnt' ich sagen,
Dies Heer besteht aus wirklichen Soldaten,
Die wirklichen sind diesen nachgemachte.«
(10, 52, vgl. jo)

Was ist aber dann noch »Wirklichkeit«?


Das Spiel dieses alten Monarchen ist so perfekt geworden, d a ß er
sein eigenes Spiel selbst für Schein erkennen und sich blitzschnell in
die Trivialitäten der höfischen Maske retirieren kann, sobald seine
Philosophie Ärgernis erregt (10, 51). D e n n eigentlich ist ihm die
Folge des Altwerdens als notwendige Konsequenz des Jungseins
ebenso unerklärlich wie die Willkür, die er spielerisch selbst an sei-
ner Armee praktiziert:
»Nun wollen wir also die Generale zusammen stellen und ein
Schicksal machen.
Curio: Ein Schicksal?
König: Ja, ich zähle immer fünfzehn ab, und wen die Zahl fünfzehn
trifft, bei dem bedeutet's, daß er todt ist, und sodann immer weiter.
Leander: Warum aber gerade fünfzehn, mein König?
König: Das könntest Du aber auch bei jeder andern Zahl fragen. -
(Zählt.)
Zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn - hier, dieser Husar ist todt;
fahr fort, Leander.
Leander: Zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn - der Reiter -
König: O weh! der schönste Mann geht zur Vernichtung!
Ach ja! das Schicksal kehrt sich nicht an Kronen,
An Schönheit, Reichtum, an Talente nicht!
Die unerbittlich blinde Hand, gelenkt
Von einem dunkeln räthselvollen Willen,
Greift unversehns hinein und führt die Beute
Zum Orkus, ohne sie nur zu betrachten.
Wenn wir die Fünfzehn, die geheime Regel
Der Mächte doch erforschen könnten, die
Wir nur die himmlischen zu nennen pflegen,
Weil himmlisch uns das Unbekannte ausdrückt!/
Und Regel muß doch sein, sonst war' es Zufall;
Zufall zu glauben ist der höchste Wahnsinn,
Und Wahnsinn streitet gegen die Vernunft.
Leander: Mein König —
König: Ich weiß nicht, ich habe heut einen sehr schlimmen Tag. - Fahrt
fort zu zählen und spielt das Schicksal weiter, wir wollen sehn, wer
zuletzt übrig bleibt.« (10, 53/4)

355
Dieser verrückte König hat schon alle Willkür des Camusschen
»verrückten« Caligula, dem »alle Taten gleichwertig«141 sind und
der die Planlosigkeit des »Schicksals« durch die Raserei der Willkür
bewußt imitiert. Gespenstig wird unser Lachen, wenn wir sehen,
daß der König seine Rollen wie Gewänder tauscht, sich in die Ein-
würfe seiner Partner schickt, von der Notwendigkeit der »Regel«
leichthin plaudert, an deren Stelle sonst »Wahnsinn«, wie er sagt,
treten müßte - und wirklich tritt. 142 Die eigene Freiheit, das
eigene Bewußtsein wird zum »dunklen räthselvollen Willen«, der
»himmlisch« nur darum genannt werden kann, »weil himmlisch uns
das Unbekannte ausdrückt« - dahinter steht die alte Loveilfrage:
»Wer ist das seltsame Ich«, das sich selbst »überall . . . fremd« ist
(I, 691, 501)? Die Leichtigkeit der Sprache und der wirklich komi-
sche Gestus der Szene indizieren nur den äußersten Grad eines
dunklen, der Verwunderung nicht mehr fähigen Einverständnisses
mit der blinden Willkür der Welt-»Ordnung«.
Daß die Orientierung in der Eindimensionalität des auf Zwecke
abgerichteten Verstandes überhaupt unmöglich geworden ist, zeigt
der Kursus des ganzen Dramas, insbesondere die sprachliche Form
der Dialoge. Die verständigen Leute praktizieren, nur ohne des Kö-
nigs Bewußtsein, die gleiche Willkür in ihren Taten, wie der König
im bloßen Spiel - und das ist gefährlicher. Am Ende des Stücks
verwundert sich keiner mehr über den tyrannischen Sieg der Ver-
ständigen, die keine phänomenale Evidenz für Verständigkeit in
der Welteinrichtung vorzeigen können und deren Planlosigkeit in
einem geistigen Verdrängungsakt nur blankweg leugnen.143 So und
nicht >tiefsinniger< ist auch das Zurückdrehen der Zeit im Stück zu
verstehen (10, 329 ff.).144 Die evidente Irreversibilität der Zeit
wird dadurch erst komisch zum Kontrast. Die >verkehrte Welt<, als
die Erfahrung eines auf alles, auch das Unmögliche gewärtigen
Traumbewußtseins145, ist ein Alptraum des Geistes - denn viel-
leicht ist die durch den Verstand zum Urteil erhobene eindimensio-
nale Linearität der Zeit auch nur Schein? Dergleichen Gedanken-
spiele sind natürlich selbst erst aus einer ursprünglichen Erfahrung
von Zeitlichkeit motiviert.

Die Verflüchtigung des Dialogs

Aber die Sprache selbst ist im Zerbino, mehr als in anderen Dra-
men, von ihrer Zeitlichkeit tingiert. Sie ist die Spiegelung der Irre-
alität ihres Gegenstandes und reflektiert sich, wo nicht in den Köp-
fen aller Sprecher, so doch in sich selbst ironisch in ihrer Nichtig-
keit.

356
Der Narr Claus und ebenso der Hanswurst haben Bewußtsein
davon, und sie spielen bewußt mit einer Sprache, deren Unwesent-
lichkeit sie bis auf den Grund durchschauen. »Sie drücken sich sehr
angenehm aus«, lobt Lisette den Narren (Verkehrte Welt), und der
erklärt: »Ich schüttle die Worte zwischen den Zähnen herum, und
werfe sie dann dreist und gleichgültig wie Würfel heraus. Glauben
Sie mir, es geräth den Menschen selten, alle Sechse zu werfen, er
mag nun besonnen oder unbesonnen spielen« (5, 363). Wer weiß,
wieviel Einsicht Hardenbergs Monolog (VII, 672/3) einem Studium
von seines Freundes Jugendwerk verdankt? Die Sprache mißrät, wo
sie zu abischtlicher Mitteilung eingesetzt wird. Am anmutigsten und
wahrsten, d. h. der eigenen Realität am angemessensten ist sie in
der Willkür eines reinen Spiels, das sie mit sich selbst treibt. Die
Zweckhaften tadeln dergleichen Weisheiten, und Tiecks Narren
sind allemal weise und resigniert genug, auch damit zu rechnen, daß
man sie zu schweigen auffordert:
»Verzeiht«, entschuldigt sich Claus, »es geschah nur, um mir mit Reden
einen Zeitvertreib zu machen. Ihr wißt, ich plaudre gern, und da beseh'
ich denn die Worte vorher nicht so genau; es ist doch bald vorbei, wenn
man redet, und da lohnt's der Mühe nicht, daß man es so genau nimmt.«
(5. I5)148

Der Prolog des Zerbino bittet im voraus um Verzeihung, »wenn's


manchmal scheinen sollt', als ob/ In diesem lustigen, aus Luft ge-
webten/ Gedichte der Verstand so gänzlich fehle,/ Dem man doch
sonst gewöhnlich in den Träumen/ Der nichtgen, müßgen Phanta-
sie begegnet« (10,5). Aus Luft gewebt scheinen aber allerdings solche
Plaudereien wie insbesondere die folgende auszugsweise zitierte,
die sich im Fortgang immer mehr in sich selbst und ihre formale
Logik verwirrt und endlich keinen Inhalt mehr hat (freilich ist ihr
wieder eine satirische Schicht aufgetragen; der zivilisierte, korpu-
lente Kater im Ministerrang hat sehr große Ähnlichkeit mit seiner
Exzellenz, dem Minister von Goethe aus den Jahren 1796-98;
auch versiert Hinze gelegentlich in Goethischen Allgemeinheiten).147
»(Saal der Akademie. Hanswurst. Hinzenfeld.)
Hanswurst: Sie sehn für Ihr Alter recht wohl aus.
Hinzenfeld: Gottlob, mir fehlt eben nichts. - Die Geschäfte dienen
manchmal sehr zur Verbesserung unsers Leibes- und Seelenzustandes.
Hanswurst: Nachdem das Temperament ist.
Hinzenfeld: Warum das, lieber Hofrath? Ich glaube, ein jeder Mensch
müsse seine gehörigen Geschäfte haben, so würden wir alle zufrieden
sein.
Hanswurst: Wie man den Satz versteht, mein Theuerster.
Hinzenfeld: Ja wohl, wie man ihn versteht, denn darauf kömmt freilich
alles an.« (10, 54)

357
Diese Tautologie ist schon komisch, aber es kommt noch toller:
»Hanswurst: Zum Exempel, wenn ich Lust hätte, ihn umzukehren.
Hinzenfeld: Ja, es kömmt aber doch dabei auf die Art an, wie man ihn
umkehrt.
Hanswurst: Nun, das ist gerade, was ich meine.
Hinzenfeld: Also! - Aber wovon sprachen wir doch?
Hanswurst: Von Geschäften.
Hinzenfeld: Ganz recht. - Aber a propos, was macht denn der Prinz?«
(a.a.O., 55)
Hinzenfeld zieht in diesem Gespräch, das immer aus den Fakten
in die Relativität des »je nach dem« ausschert, entschieden den kür-
zeren und wird sogar in seinem abstrakt-verständigen Katzennatu-
rell entlarvt. Mit einem »Also!« will er abbrechen und hofft, auf In-
halte, die das Gespräch unterwegs verloren hatte, zurückzusteuern.
Als ihm aber aus des Hofrats Antwort nur das Thema, das sich die
tautologischen Nichtigkeiten zum Anlaß ihrer selbst gewählt hat-
ten, aufs neue entgegenschlägt, merkt er, daß er besser nicht auf das,
»wovon wir doch sprachen«, zurückkommen, sondern ein ganz neu-
es Thema aufs Tapet bringen sollte. Aber der Hofrat verwickelt
ihn sogleich in neue Haltlosigkeiten, die er mit einem Goetheschen
»Hm! - Ja -« (55) und blamablen Proben seiner Unbildung ko-
misch kommentiert; da aber diese Gelegenheit, seine Bildung vorzu-
stellen, seiner Eitelkeit schmeichelt, läßt er sie nicht ungenützt und
sagt endlich:
»Ja wohl. - O ich spreche doch gar zu gerne mit Ihnen.
Hanswurst: Ich bitte -
Hinzenfeld: Nein, im Ernst, diese Belesenheit, diese - wie soll ich sagen?
- diese Geschicklichkeit, die Gesinnungen des andern zu errathen, -
nein, in der That, ich bin jederzeit charmirt davon.« (10, 56)
Die traurige Bilanz der Unterhaltung ist aber eben, daß man sich
nichts sagen kann 148 und daß das Gefühl, verstanden zu sein, einer
Eitelkeit und dem alten Katzenphlegma Hinzes verdankt ist, wel-
ches sich in der folgenden Wendung, die nun der Hofrat an der
Reihe ist nicht zu verstehen, auf komisch-rührende Weise in der
Verzweiflung über die unausrottbare Inklination zum Schnurren
ausspricht. Und so geht es über Seiten. Man spricht und spricht, und
die Inhalte sind so gänzlich getilgt, daß man keine größere
Verwirrung stiften kann, als an die Realität zu gemahnen, eine
Aufgabe, die die unbeliebten Narren 149 zu übernehmen haben. Der
eitle, selbstgefällige, nichtssagende Schwätzer Sappi, Hofweiser von
Profession, weiß dem Hanswurst, welcher unvermittelt die Realität
der Tugend, über die der Philosoph peroriert hatte, in Frage stellt,
nichts zu erwidern als ein: »Ei, so würde ich ein Entsetzen vor

358
Ihnen bekommen«; d. h. er erwidert nichts, was einem Argument
ähnlich sieht, sondern beschreibt seinen Gefühlszustand bei Gelegen-
heit einer solchen Ungeheuerlichkeit. Die folgende Szene ist ein
Spiegel der adligen oder schlechthin der gelehrten Gesellschaft, die
die Frage nach dem »Xöfov öioovai«, nach dem Ausweis der W a h r -
heit ganz richtig als Decouvrierung ihrer irrationalen Privilegien
begreift und durch soziale Ächtung (man ist als Frager der N a r r )
bestraft:

»Hinzenfeld: Nein, Hofrath, ich zweifle gern selber manchmal in müßi-


gen Stunden, aber da geht Ihr denn doch zu weit. Nein die Tugend
müßt Ihr stehn lassen, denn Ihr müßt wissen, die Tugend ist kein leerer
Name, ein Satz, den sogar schon die Heiden zugegeben haben.150
Sappi: Nein, der Adel der Menschheit verträgt auch solchen Glauben
nimmermehr.
Leander: O der Hofrath geht noch viel weiter; zweifelte er doch gestern
sogar an der Wirklichkeit.
Hinzenfeld: An der Wirklichkeit? - Laßt mich das Ding mal/ etwas
näher besehn, - an der ordentlichen, - zweckmäßigen, - an der
eigentlichen Wirklichkeit?
Hanswurst: Woran soll man denn sonst zweifeln, wenn man sich einmal
die Mühe giebt?
Hinzenfeld: Nein, Freund, ernsthaft gesprochen, das ist excentrisch, das
geht zu weit. Es giebt so tausend Dinge, über die man sich wohl einmal
einen artigen Zweifel erlauben darf, aber bei dem allerausgemach-
testen - 1 5 1
Sappi: Und ist die Tugend nicht eben so wirklich, als die Wirklichkeit?
Lysippus: Es thut mir ordentlich am Herzen weh, wenn man mir das
wegläugnen will, was mir das Liebste auf der Welt ist.
Sappi: Einen Mann, der die Tugend läugnet, sollte man vermeiden.
Leander: Ich möchte ihm nimmermehr trauen.
Lysippus: Es ist schlecht von Ihnen, Herr Hofrath.
Sappi: Die bürgerliche Gesellschaft-
(Die ganze Gesellschaft durcheinander:) Alles wird zerstört. - Jeder ist
in Lebensgefahr. - Die Religion hält dann nicht mehr Stich. - Alles/
wird Aufruhr, und Staaten und Throne fallen von selbst um. - Die
Ordnung stirbt.« (10, 65-67)

Wie vom Winde sind sogleich diese Phrasen verweht, und die
Konversation kreist gähnend um ein »Lehrgedicht« des Sappi. Die
Szenen wechseln so rasch wie die Grundsätze. U n d was wäre so
leicht vergessen wie die Verlegenheit (16-18), in welche der A r z t
im Verlauf jenes Gespräches geraten war, auf das Leander ange-
spielt h a t t e :

»Arzt: Nein, mein Freund, ich gehe auf die Wirklichkeit los und halte
mich nicht an leeren Idealen.
Hanswurst: Die Wirklichkeit ist leer.

359
Arzt: Nein, mein Freund.
Hanswurst: Ja, Herr Doktor!
Arzt: Nein, Herr Hofrath!
Hanswurst: Es giebt gar keine Wirklichkeit.
Arzt: Keine Wirklichkeit? Nun hören Sie einmal, meine Herren! Keine
Wirklichkeit? O so müßte ja der Donner drein schlagen, wenn es nicht
einmal eine Wirklichkeit geben sollte? Und was war denn ich, und
diese Herren, und der König, und der Hof, und der Hof/gelehrte, und
unsre königliche Bibliothek und der Teufel und seine Großmutter?
Hanswurst: Geburten der Phantasie.« (10, 15/6)

Alles, worüber man Worte machen kann, ist nichtig und zeitlich
und verfällt einem radikalen Zweifel, der dem Traumbewußtsein
die schweigende Wendung zum Offenbarungserlebnis des Glaubens
weist. — Diejenigen, die, wie der Arzt, dagegen streiten, entlarven
sich selbst durch die peinliche Aufdeckung ihrer selbstsüchtigen Ver-
fallenheit an das, was Heidegger das »Gerede« genannt hat.152

Mißtrauen gegen die Sprache

Der Briefwechsel und die Gespräche mit Solger haben Tieck das
begriffliche Rüstzeug gegeben, seine Erfahrung auch theoretisch
vollkommen angemessen zugänglich zu machen. Die Sprache ist in
der Deutung des alten Tieck nur ein zeitlicher Reflex der in »unserm
innersten Selbst« (III, 850) allaugenblicklich sich ereignenden »un-
mittelbaren Offenbarung Gottes« (ebd., 848,2), welche durch kein
Aussprechen in ihrer Unendlichkeit zu erschöpfen ist, sondern uns
»immerdar ein Rätsel« (a.a.O., 850) bleibt und sich nur allegorisch,
in Bildern, darstellt: 153 »Wir gehen mit uns selbst immer nur im
Bilde um, wie mit einer dritten Person«, und das Wunderbarste ist,
»daß wir uns [zwar] nur in einem Spiegelbild erkennen, und doch,
wenn wir uns besinnen, es recht gut wissen, daß jene scheinbare We-
senheit [unser reales Ich] nur eine Spiegelung ist« (a.a.O., 850). Dies
»Unmittelbarste« »kann . . . nur erlebt werden« (a.a.O., 848), ist an
sich unaussprechlich, denn auch die Sprache ist Darstellungsform je-
nes nichtigen Reflexes, der sich in der Gestalt der » Z e i t . . . [als] die
gewaltigste Beherrscherin unserer Seele« (a.a.O., 852) zu erkennen
gibt. Nur als zeitliche Wesen haben wir ein Bewußtsein von uns,
und nur die zeitliche Sprache vermittelt uns die empirische Darstel-
lung unsres unaussprechlichen Selbstbewußtseins:154 »Denn durch
die Folge der Worte und Gedanken in der Zeit«, sagt der Priester
Theodor in der Novelle Schutzgeist, »erfährt unser Geist nur von
sich selbst etwas, und nur so kann Gefühl, Kraft und Überzeugung

360
auf ihn einwirken« (a.a.O., 852). Aber dieses zeitliche Selbstbe-
wußtsein ist durch ein »Abtrennen von der Liebe« entstanden; und
dem Menschen ist die zeitliche Sehnsucht, die ihn über sich selbst
hinausträgt, doch zugleich »unentbehrlich, weil sie dadurch den
Mangel in ihm ergänzt und also dadurch ein Symbol der ewigen
Fülle wird« (Brief an Fr. Schlegel, Ziebingen, 16. 12. 1803). Wer
»das Totale« (6, XX) unmittelbar aussprechen will, gerät in »diese
Erschöpfung und Klage, diese Gestaltlosigkeit, diesen jammernden
Tod der Hoffnung« (III, 862), sprechend mit dem höchsten Sein in
Verbindung zu bleiben, welches, »wechselnd, zerfließend, immer an-
ders und doch eins«, sich in »Gestaltung hineinbannt«, nur um als
Zeit über sie hinauszufließen. Tieck kennt die Solgersche Erfahrung,
»wie alle Erscheinung, alle Gestaltung vergänglich ist und gleichsam
im Verschwinden nur lebt« (III, 866/7) _ u n c l s e i n e Sprache trägt
die Ironie als ein Schicksal aus: »Wie kann unsre menschliche Rede,
diese Zwillingsschwester der Lüge, das, was ich in diesen Momenten
der Wahrheit erfahren habe, nur irgend aussagen, oder andeuten?«
(III, 851).155
Die leichteste Anmut Tieckscher Dialoge ist darum dem Verstum-
men in ihrer flüchtigen Beredsamkeit immer nahe (vgl. 15, 352), und
das Geistige, das die sprachliche Materialität wie einen lästigen
Körper zurückzulassen scheint, ist in seiner Bindung an diese Kör-
perlichkeit doch immer noch unvollkommen. So wendet sich die Su-
che nach dem Absoluten endlich zerstörerisch gegen das Medium der
Dichtung selbst; und das Schweigen des Priesters Theodor nach dem
letzten Erlebnis im Straßburger Münster ist die letzte Antwort auf
alle Fragen des Daseins.»56 Die Erfahrung allein, die zu solchem
Schweigen den Grund schickt, kann die unglaubliche Nachlässigkeit
Tiecks gegen seine Dichtung und seine Gleichgültigkeit, die sich oft
zum entsetzten Argwohn gegen das Medium der Sprache steigert,
erklären; ein Mißtrauen, das sich in fast allen wesentlichen Briefen
(und natürlich in den Märchen) Tiecks oft genug ausspricht. Man
erkennt aus diesen Gesten die Identität einer Persönlichkeit wieder,
deren mündlicher Vortrag Menschen aus fremden Erdteilen nach
Dresden lockte, den das einstimmige, unwidersprochene Urteil sei-
ner Zeitgenossen als »das größte mimische Talent« erkannte, »das
jemals die Bühne nicht betreten« hat»57 und dem Bettina das schöne
Kompliment macht: »Seine Bücher sind nichts gegen ihn.« 158
Das Mißtrauen gegen die Sprache ist gewiß nicht erst Erfahrung
der letzten Lebensjahre, auch nicht nur Solgers Einfluß. Im längsten
erhaltenen Privatbrief Tiecks, an Fr. Schlegel (»Ziebingen, den
i6ten December 1803«), äußert Tieck bereits Zweifel, »meine ganze
Empfindung aussprechen zu können«. Die Behutsamkeit in der Mit-
teilung seiner wesentlichen Erlebnisse, die ganz ungewöhnliche Zu-

361
rückhaltung und Geheimhaltung seines Innern (wir haben so gut
als keinen intimen Brief von Tieck und wissen, daß er das meiste
eigenhändig vernichtete) - all dies sind Winke, die auf eine Erfah-
rung deuten, daß das Beste unaussprechlich bleibt. Es »ist mir die
Sprachverwirrung durchaus entgegen, wenn du mich nicht mit dei-
nem eigenen Herzen verstehst und längst dasselbe gefühlt hast«.158
»Meine Briefe«, sucht Tieck ebenso bescheiden wie beschwörend
zu erklären, »haben es immer in der Art, daß sie keinen Inhalt ha-
ben«. Tiecks Briefe gehören aber zu den lebendigsten und anmutig-
sten Dokumenten der Goethezeit. Naiv wird sich dies Bekenntnis
also nicht lesen lassen dürfen. Es hat sich eine prinzipielle Skepsis
gegen die Möglichkeit der Mitteilung darin niedergeschlagen. Hin-
sichtlich ihrer selbst ist die Sprache leer, »nichtig«, »ohne Inhalt«,
wie die Zeit. Wird das Unaussprechliche, das sie nur ironisch bedeu-
tet, ohne es selbst zu sein, nicht wortlos hineingelegt, so bleibt nur
ihre abstrakte, nichtshafte Materialität, aus der sich nichts verstehen
läßt. Wie stumme Gesten nur als das, was sie jenseits ihrer Körper-
lichkeit (ihres Zeichen-Seins), als das, was sie bedeuten, etwas sind,
so auch die Sprache. Man muß, das ist Tiecks ständig wiederholter
Rat, die Sprache, wie die Zeit und die stummen Gesten, auf ihr un-
aussprechlich Bedeutetes hin überschreiten, um sie zu verstehen. Ver-
stehen ist ein Erlebnis diesseits der Worte. Daher die große »Ein-
samkeit« eines Menschen wie Tieck, der ein Genie der Freundschaft
gewesen ist und eine persönliche Ausstrahlung besaß, die seine bit-
tersten Gegner, so Laube und Kühne, auf Augenblicke hinriß und
»Toaste« auf ihren Erzfeind ausbringen ließ.160 Einsam bleibt den-
noch das, was durch Worte nicht dargestellt werden kann. Und nur
insofern sind Tiecks Briefe inhaltsleer. Ihr >Was< ist zeitlich und geht
dahin. Die Ausleerung aller Gehalte wird ex negativo ein Wink auf
die als solche unaussprechliche Ewigkeit. Ein nicht immer so ex-
plizit reflektierter, aber überall in der Anmut der Flüchtigkeit an-
wesender Zweifel am Medium der Sprache liegt über fast allen
Werken Tiecks und verleiht ihnen den »zaubrischen Duft«161, das-
jenige, was früherer Sprachgebrauch viel sachbezogener, als uns
heute scheint, das »Himmlische« seiner Poesie nennen konnte.
Tieck hat denn konsequent vieles »unserer verworrenen mensch-
lichen Sprache« (a.a.O.) nicht anvertraut. Zwischen seiner inneren
Erfahrung, die sich nicht sagen läßt - »man muß so etwas erlebt
haben«, »denn [nur] was man erlebt hat, hat Dasein«162 -, und
der nichtigen Äußerung gibt es keine Vermittlung. »Die strenge
Wahrheit des Lebens ergriff mich wie eine dunkle Nacht« 163 , teilt
Tieck dem Freunde Schlegel mit (a.a.O.), »da ich das Leben selbst
immer für eine poetische Erscheinung hatte ansehen wollen«. Er
habe sich »entfremdet von allem« gefühlt, »weil mir fast alles

362
Äußerliche gleichgültig war«. Dieses Gefühl habe ihn auch abgehal-
ten, seine »Gedichte über die Musik« (a.a.O., S. 150) »jetzt schon
drucken zu lassen«. Ida von Lüttichau begriff ihren Freund wohl
recht gut, wenn sie auf seine vielen Klagen, nicht sagen zu können,
was er fühle, antwortete: »Das Leben ist so ungeheuer tragisch und
tiefsinnig, daß das der Grund alles Schweigens ist. . . . Wir haben
beide so viel erlebt und gedacht, und es dreht sich alles um einen
Kreis herum: man steht im Mittelpunkt und schweigt.«164

D I E LYRIK

In der Solger-Tieckschen Ästhetik, nicht anders als in den Theo-


rien Hardenbergs und Schellings, ist die Lyrik die poetische Dar-
stellung der unmittelbaren Erfahrung von Welt. Die Einheit der
Idee ist in die Mannigfaltigkeit der Sukzession so eingebildet, daß,
von der »Analogie mit der Musik« abgesehen, in keiner Kunstgat-
tung so sehr wie in der Lyrik »das Endliche, die Differenz, die Be-
sonderheit das Herrschende« sind. »Sie geht unmittelbarer als ir-
gend eine andere Dichtart von dem Subjekt und demnach von der
Besonderheit aus« und wird, ihrer »inneren Identität unerachtet«,
doch im »Wechsel der Zustände« die Präponderanz von »Differen-
zen* vor der Einheit so zur Gegebenheit bringen, daß sie als die ins
Bewußtsein gehobene Zeit selbst angeschaut wird. In der Lyrik, »wie
in der Musik«, gibt es keine substantielle Einheit, da »zwischen dem
einen Ton und dem folgenden eine wahre Stetigkeit unmöglich
ist«.165 Gleichwohl ist die Einheit als organisierendes Prinzip, als
Negation der Differenz in der Differenz oder als die Kontinuität im
Fließen mit anwesend.
Wir wollen durch ausgewählte Interpretationen die ironische
Dialektik des »G e g e n s a t z e s von Unendlichem und Endli-
chem«165 demonstrieren und wählen Beispiele von Tiecks lyrischer
Behandlung des Liebesthemas. Die in der Struktur der Liebe mani-
feste Einheit, die sich in der Mannigfaltigkeit wechselnder Gefühle
spiegelnd anschaut, ist nach Tiecks Anspruch zugleich eine allegori-
sche Darstellung dessen, was er als das Wesen der romantischen Poe-
sie begreift.

363
Interpretation von >Liebe und Treue<

Wir geben die Interlinearversion der beiden Fassungen, in denen


das Gedicht überliefert ist.
Aus: Kaiser Octavianus, IL Teil, Aus: Gedichte, Dritter Teil,
Beginn des IV. Akts; 1, 327/8168 Dresden 1823, 95-97167

»M a r c e b i l l e . »Liebe u n d Treue.
Seht die Wasser, wie sie gleiten,
Und sich in der Fluth die Bäume
Still beschauen, gold'ne Träume - goldne -
Seh' ich durch die Wolken schrei-
ten.
Wie die Wogen ringend streiten,
Sich entfliehen und vereinen,
Spielen mit den Widerscheinen,
Und die Blumen roth und gold
Sich bespiegeln, und so hold
Thau in diese Wellen weinen!

R o x a n e.
Ist es nicht ein Liebesringen? Sieh, es ist ein Liebesringen,
Welle hascht die flücht'ge Welle
Und sie lacht so fröhlich; helle, fröhlich, helle,
Glänzend sie sich all verschlingen,
T
S Alle liebend sich durchdringen,
Im Ergötzen lieblidi spielen;
Wie sie durch einander wühlen
Scheint der reine blaue Himmel
In das hüpfende Getümmel,
Seine Wange abzukühlen.

L e a 1 i a.
Also spiegelt Liebestreue
Sich im wechselnden Empfinden; Empfinden,
Die Gefühle kommen, schwinden, Wie Gefühle kommen, schwinden,
Manche fliehen, so wie scheue Im Erinnern baden, neue
25 Reh' im Walde, kindlich neue Sich vermischen in die Reihe,
Schauen ferne bang zurück: Wandeln vor und gern zurück,
Doch des Herzens Liebesblick, Doch der innerlichste Blick
Sieht, wie auch die Bilder fliegen, Sieht Gestalten forgeschwommen,
Siegen diese, die erliegen, Und die andern nahe kommen,
30 In dem Wechsel nur Ein Glück. Und in allen nur Ein Glück.

M a r c e b i 11 e.
Darum wechselt nur Gedanken,
Wie ihr wandelt in Gestalten,
Weiß ich eins doch fest zu halten
Ohne Wandel, ohne Wanken.

364
R o x a n e.
35 Denn nie darf der Glaub' erkran-
ken,
Glaube ist das Element,
In dem siegreich Liebe brennt. In dem nur die Liebe brennt.

L e a 1 i a.
Und des Herzens reinste Bläue
Klärt sich hell und heller, Treue
40 Sich in Liebe nur erkennt.« In der Liebe sich erkennt.«

Tieck h a t dieses, wahrscheinlich 1803 für den Schluß des Octa-


vianus entstandene lyrisch-dramatische Gespräch, das sich über unser
Zitat hinaus fortsetzt, in geringfügiger Umarbeitung für seine bei
P . G. Hilscher (Dresden) veranstaltete Gedichtausgabe aus dem
K o n t e x t herausgelöst. Die im Schauspiel folgenden Zeilen sind
ebenfalls 4hebige, gelegentlich katalektische Trochäen (versos re-
dondillos), reimen aber durch Assonanz und führen die Reimform
abba/ acc/ ddc nicht fort. Die vier Strophen ließen sich also, auf
den ersten Blick zu urteilen, ohne Gewalt aussondern.
Auf der anderen Seite leiten sie, keineswegs beiläufig, eine Szene
der Begegnung Marcebilles mit ihrem Liebsten ein. Weder die Zu-
ordnung bestimmter Strophen und Strophenteile zu bestimmten
Mädchen, noch die Versform selbst ist diesem dramatischen Ab-
schnitt des Schauspiels zufällig.

»Es war«, erklärt Tieck, »in Deutschland vom Charakter des Romanti-
schen so viel die Rede gewesen, und vom Calderon für die allegorische
Poesie begeistert, versuchte ich in diesen wundersamen Mädchen zugleich
meine Ansicht der romantischen Poesie allegorisch, lyrisch und dramatisch
niederzulegen. Der Prolog war bestimmt,/ diese Absicht deutlich anzu-
kündigen, und die Romanze hier und im ersten Theil des Gedichtes, so
wie Felicitas und die schöne Türkin [Marcebille] in der zweiten Hälfte,
sollten in Poesie und als lebende Personen die dichterische Ansicht der
Poesie und Liebe168 aussprechen. Ebenso zieht sich die Allegorie und das
Bild der Rose und Lilie [Roxane und Lealia] durch das Gedicht.«
(1, XXXVIII/IX)

Der Prolog, von dem Tieck spricht, gipfelt in den berühmten Ver-
sen ( 1 , 35/6), die, über ihre lyrische Insichbeschlossenheit hinaus,
zugleich allegorisch für Tiecks romantische Ideale »Liebe, Tapfer-
keit, Scherz und Glauben« bedeutsam sind und in leitmotivischer
Variation das ganze »Lustspiel« durchdringen. Sie haben fast die
gleiche 10-zeilige, 4hebige Trochäen-Strophenform (mit gelegent-
lichen Katalexen) wie >Liebe u n d Treue< (nämlich abab/ acc/
ddc); und auch >Liebe und Treue< ist nichts anderes als eine sehr
freie Variation des im Prolog zuerst erklingenden Leitmotivs, mit

365
dem sich die letzten Strophen des Finales (Anklänge und Motive
aus >Liebe und Treue<) endlich sogar durchdringen (i, 420). Um
den funktionalen Ort der Allegorien in unseren Strophen genau zu
bestimmen, müssen wir sagen, daß sie auf freie Weise, um die Alle-
gorien der treuen Liebessehnsucht und -erfüllung (Marcebille), des
»Liebeswollens« (Leidenschaft, Roxane, die Rose) und der »An-
dacht« (Lealia, die Lilie) (1, 271 ff.) bereichert, die Glosse des Pro-
logs wiederaufnehmen und die Erfüllung des Finales antizipieren.
Nicht zufällig, sagten wir, spricht jedes der Mädchen eine Strophe,
in der sich besonders ihr Gemüt, d. h. dasjenige, was in ihr allegori-
siert ist, spiegelt, während in die letzte alle drei sich (in gleicher
Reihenfolge) teilen. Wir können unsere Interpretation also von die-
sen Verweisen über das Gedicht selbst hinaus nicht ganz losmachen.
Vielleicht wird uns aber dies Hinüberspielen in eine für Tiecks An-
sicht dessen, was romantische Poesie überhaupt sei, erhellende The-
matik im Gegenteil nützlich und lenkt unsere Deutung in die Bah-
nen, die von der Sache selbst vorgezeichnet sind. Diese notwendigen
Restriktionen sollen in der folgenden Analyse nicht vergessen
werden.
Daß die gleitenden Wasser, aus denen Marcebille ihr Gemüt ge-
spiegelt zurückempfängt, die Fluten »der Seine« (1, 327) sind, ist
nur ein äußerlicher Bezug auf die Szene im »Lager der Marcebille«.
Einen durchaus internen Bezug zu Marcebilles Gemüt stellt aber
Tiecks Wahl des Bildes von sich vermischenden, gleitenden, unsteten
Wellen dar: es ist das Medium, in dem sich ihr Gemüt auslegt und
erkennt. Diesen Bezug spricht erst Roxane in der nächsten Strophe
aus: »Ist es nicht ein Liebesringen?« Aber sie legt nicht eigentlich
den Inhalt der allegorischen Empfindungen ihrer Freundin aus, son-
dern deutet in die Erklärung von Marcebilles Worten ihr eigenes
Gemüt hinein, welches aus der Betrachtung desselben Phänomens
eine andere Bedeutung stiftet: die Leidenschaft, die ihre Wange in
dem hüpfenden Gewimmel der Wellen abkühlt. Lealia endlich
schöpft aus dem Anblick der Wasser, indem sie ihrerseits in Roxa-
nes Worten die dunkle Glut unversehens in die reine Flut des steti-
gen Zusammenhalts umdeutet, eine andere Nuance - und alle drei
Analysen einer und derselben Anschauung synthetisiert das Trio der
letzten Strophe. Marcebilles »Wandeln« in unsteten Gestalten trägt
nun den geringfügig anders gesetzten Akzent auf dem »Festhalten«,
Roxanes leidenschaftliche Glut erkennt sich als siegreiches »Brennen«
im Glauben, und Lealia, die schon in der ihr zugemessenen Strophe
durch einen überschauenden Vergleich (»Also« . . . , Z. 21 ff.) die bei-
den Allegorien in Beziehung gesetzt hatte, sieht die Treue in der
Liebe sich erkennen und holt die Gegensätze zusammen, die immer
schon potentielle Einheit einer Bewegung waren.

366
Marcebille macht zuerst darauf aufmerksam, daß sich die Bäume
in der Flut selbst beschauen (Z. 2/3). Roxanes Leidenschaft deutet
dieselbe Spiegelung als Sichherniederneigen des »reinen blauen
Himmels« (Z. 18) auf die Flut, in deren »Liebesringen«, deren hit-
zigem »Getümmel« er »seine Wange abkühlt« - eine merkwürdige
Verdrehung der Qualitäten. Sie beobachtet also in der Spiegelung
die Bewegung einer Vereinigung und gibt doch zugleich, indem sie
die Bewegung beschreibt, den Blick frei auf das Stetige, auf welches
in der folgenden Zeile Lealia den Akzent setzt. Lealia sieht nämlich
in der Spiegelung die »Liebestreue« durch das »wechselnde Empfin-
den« (Z. 21/2) sich durchhalten. Sie dreht Roxanes Verkehrung
wieder um und findet im spiegelnden Blau des Himmels »des Her-
zens reinste Bläue« (Z. 38) wieder, die nicht dunkel glüht, sondern
»sich hell und heller klärt« (Z. 39) und nicht in der liebenden Be-
rührung mit der Welle, sondern in der distanzierten »Erkenntnis«
(Z. 40) ihrer Identität mit dem Gegenbilde auf der tanzenden
Welle, also als Liebestreue erfaßt. Diese synthetisierende Korrektur
beschließt die Einheit der Anschauungen der einen Liebe in den be-
wegten Wellen des Spiegelbildes.
Ein und dasselbe Bild hält sich also in dreifach verschiedener
Analyse identisch durch und löst sich aus seinen Differenzen am
Ende wieder in die Einheit einer Gesamtanschauung auf, die um
ihre analytischen Eigenschaften nicht reicher, aber ihrer selbst be-
wußter geworden ist (sich als Treue »erkennt«). Die Dreizahl, in die
sich die Analyse auffächert, ist also durchaus nicht gleichgültig; und
die Vierzahl der Strophen fügt der dreifachen Analyse eine har-
monische Synthese an. Eine Synthesis fügt, so in Schellings Philoso-
phie, immer ein viertes Moment zu den drei Gliedern, die sie befaßt
und in der sie selbst als Glied mitbegriffen ist.169
Das identische Bild, in dem Roxane ein »Liebesringen«, ein ziel-
loses »Durcheinanderwühlen«, Lealia umgekehrt eine »Liebestreue«
erkennt, die sich durch das »wechselnde Empfinden« durchhält, ist
die Allegorie der Liebe als Synthesis. Liebe (Marcebille) spiegelt sich
im gleitenden Wasser, im ringenden Streit, im Glitzern der Wider-
scheine, in die noch der Wellentau von Blumentränen weint. Die
Bilder, die das eine Bild der gleitenden, zurückschnellenden Wasser
konstituieren, sind so dicht gedrängt; in ihrer Stellung sind die
Sätze so geschickt gegeneinander verschoben; die Zeilen fließen so
ungestüm in einander über und pausieren nur gelegentlich einmal
am Versende, daß sich die reproduktive Phantasie bald in einen
leichten Schwindel versetzt fühlt, aus dem sie weder Roxanes Ge-
sang von der Leidenschaft, noch Lealias beschwichtigende Rede von
der Treue erlöst. Man achte nur einmal darauf, welche künstliche
Verwirrung die syntaktische Verschiebung der Satzparallelismen in

367
den ersten 4 Zeilen anrichtet. Die Zeile »Seht die Wasser, wie sie
gleiten« ist parallel gebaut und wird gleich betont wie die fol-
gende: »Und sich in der Fluth die Bäume«. Aber »Fluth« ist Teil
einer adverbialen Bestimmung, und nicht direktes Objekt wie »die
Wasser«. »Die Bäume« erst entspricht dem Akkusativ »die Wasser«;
und man versteht diese chiastische Verdrehung erst, wenn man die
zweite Zeile unverzüglich in die dritte hinüberliest. Das Enjambe-
ment von der 3. auf die 4. Zeile endlich reproduziert auch wieder
nicht die syntaktische Organisation der 1. Zeile (wie der Rhythmus
suggeriert), sondern vertauscht die Reihenfolge von Verb und Ob-
jekt durch eine Vorausstellung des Akkusativ-Objekts. Auch das rea-
lisiert nur, wer sogleich über die Zeile hinausliest, die nun überra-
schend in sich selbst beschlossen scheint. In Wahrheit hängt die fol-
gende Konstruktion »Wie . . .« noch von »Seht« (eine >inconcinni-
tas<!) ab - aber auch das erkennt nur retrospektiv, wer bis zur
10. Zeile fortgelesen und keine Entsprechung für den vermuteten,
durch »wie« eingeleiteten Vergleich gefunden hat. Die Phantasie
läßt endlich ermüdet von dem Versuch ab, einen den Verstand be-
hutsam leitenden Fortschritt zu suchen, vollzieht die Epoche der
Setzung eines realen Gehaltes, nicht länger verwundert zu lesen,
daß »die Blumen roth und gold/ Sich bespiegeln«. Sie resigniert
auch in den Versuch, die allein richtigen Relationen herstellen zu
wollen. Könnte z. B. nicht das »helle« (Z. 13) ebenso gut das Lachen
der fröhlichen Welle wie ihre glänzende Verschlingung charakteri-
sieren? Aber ein Semikolon trennt es ab, während die Gedichtfas-
sung ein Komma wählt. Bei Tiecks Art, seine Arbeiten durchzuse-
hen, liegt die Möglichkeit nicht fern, daß es sich bei dem Semikolon
um einen Druckfehler handelt; wie auch immer, klingt das »helle«,
als zur gleichen Zeile gehörig, sowohl in das Lachen herüber wie in
das »Glänzend sie sich all verschlingen« voraus. Da ist nichts, was
nicht zu etwas anderem im Verhältnis möglicher (beziehungsweiser)
Unverträglichkeit stünde, wenn man die Gleichzeitigkeit nicht in
eine Abfolge auflöst. Die Inhalte: bedächtiges Schreiten der Wol-
ken, das stille Sich-Beschauen der Bäume im Wasser wollen gar nicht
zur funkelnden Oszillation der Sätze stimmen, die davon sprechen.
Die Wogen entfliehen und vereinen sich. Zwei widerstreitende Be-
wegungen heben sich in ein »Spielen mit den Widerscheinen« auf -
eine Wendung, in der das Kontradiktorische des Inhalts weitgehend
schon getilgt ist und das Klingen hell tönender Vokale dem Gehör
eine Empfindung von ganz anderer Einheit auflockt, als sie der Ver-
stand sucht. Und allmählich verklärt sich das Unzusammenhän-
gende in eine feine, undingliche Anmut, in der, was rot ist, im Golde
sich spiegeln kann als ein wesenloses »Spielen« leuchtender, durch-
sichtiger Reflexe, die nur für einen Augenblick zu schimmern schei-

368
nen, um mühelos sich wieder zu verflüchtigen, wo sie einer anderen
Impression Platz machen müssen. Dem entsprechen die Assonanzen,
die über die Reimanordnung hinweg Verbindungen stiften
(Z. 1/4/5 z u 6/7/10; in der zweiten Strophe gibt es nur noch
helle e-, i- und ü-Reime; in der dritten ist nur der »eu«-Diphthong
eine Variante, die von den »äu«-Reimen der ersten Strophe noch als
vertraut im Ohre nachklingt; und die gemessen-schweren a-Silben
der Schlußstrophe sprechen, gleichsam gegen ihre Natur, vom leich-
ten Wandel, Wanken, Wechseln in Gestalten und Gedanken).
So ist in der Wahl hell klingender Silben mit zahlreichen Frikati-
ven, Bilabialen und Plosivlauten, dem eilig Springenden der Tro-
chäen, der kunstvollen, durch Assonanz noch in ihrer Kapazität er-
weiterten Anordnung von Reimen, den vielen Verweisen und moti-
vischen Allusionen auf andere Szenen des Schauspiels, dem In-Eins
von Allegorie, Lyrik und dramatischem Gespräch das >Incoercible<
des Inhalts vortrefflich gespiegelt. Ob Marcebille von dem Gewirre
hingleitender und zurücktanzender Wellen singt oder Roxane vom
Kühlen der Leidenschaft im hüpfenden Getümmel oder Lealia von
der Treue »im wechselnden Empfinden« - immer ist in allen Stro-
phen das Flüssige von Inhalt und Rhythmus gleich. Und auch,
wo, wie in der letzten Strophe, ein Bekenntnis zur Festigkeit aus-
gesprochen ist, vertraut es sich, als Negation der Negation, dem
Wandel, dem Wanken (dem Negierten) an und wirft sich selbst
gleichsam mit Haut und Haar in den Strom wechselnder Gefühle.
Endlich verschwimmen alle Individualitäten: Roxane, die »süße
Rose« (1, 274), stellt sich nicht anders dar als Lealia, die »holdsel'ge
Lüge« (1, 277), - und beide sind ja nur transitorische Gestalten der
einen substantiellen Liebe, die in Marcebille allegorisiert ist. Wir er-
kennen ihre allegorischen Individualitäten gleichsam nur im Ver-
schwinden, wenn wir nicht gar zu scharf unseren Blick auf das rich-
ten, was sie in sich selbst sind — und dann nivellieren sich alle
Eigenheiten - alles löst sich auf ins inhaltslose Gleiten der Wellen,
die eine ganze Welt von Gefühlen mit sich treiben (vgl. I, 957,4).
Am verwunderlichsten ist aber, daß wir das Gewirre und Geflim-
mer nicht als blendend, grell, sondern als harmonisch empfinden.
Wenn wir gleich auf nichts bleibend unseren Blick heften können, so
nehmen wir doch die Einheit einer anmutig gleitenden Kontinuität
und das Übersichtliche der Gesamtanschauung überall wahr. Wir
lernen während des Zuhörens - anders hören: Das Beständige von
»Liebestreue« »spiegelt... sich im wechselnden Empfinden«. Dem
Wechsel müssen wir die Einheit abgewinnen. Er ist das primär Ge-
gebene.

369
Einheit im Spiegel der Fülle

Vermittelt uns das analysierte Gedicht wirklich eine allegorische


Anschauung der Tieckschen Dichtung?
W i r sagten, d a ß es die Allegorien der Liebe (Marcebille), der
Rose (Roxane, Leidenschaft), der Lilie (Lealia, gläubige Andacht)
bewußt verwendet. Es zieht in verdichteter Wiederholung die Es-
senz der Gespräche zu Beginn des I I I . Aktes (Octavianus, IL Teil,
i, 271 ff.) zusammen und hat seine Parallele in der Wahl je eines
Liebsten, der - im Plot des Dramas - den allegorischen Eigen-
schaften seiner Braut genau entspricht. Die Sprache der drei M ä d -
chen scheint gleich. Es sind immer nur Nuancen von Abweichungen,
durch die sie sich flüchtig individualisieren: als »Liebeswollen« ( 1 ,
276), »Farbengluth« (273), »das Roth, ein heimlich Feuer«, »ent-
brennende Lust« (274), »Flammen« (271) einerseits - als »Ge-
heimniß«, nach dem die T r ä n e n »zielen« (278), »sehnsüchtige A n -
dacht« (278), »Gebet« andererseits. Aus diesen Gegensätzen ist die
Synthesis der »Liebe« gewoben.
Schon dort, also schon zu Beginn des I I I . Akts (IL Teil), spricht
Marcebille von der wechselnden Bewegung hoffender Liebessehn-
sucht, die, wie die atmende Brust, sich ausdehnt und in sich zusam-
menzieht:

»Wie die Schatten gehn und kommen


Und die Sonne wechselnd blicket,
Ist die trunke Flur entzücket,
Doch vom Schatten überschwommen
Ist der Glanz hinweggenommen
Und es bleibt ein ernstes Grün:
Also auch mein Herz und Sinn,
Freude bald und stille Schmerzen
Wechseln im verborgnen Herzen,
Wandeln her und wandeln hin.«
(».271)

Die vieldeutige Bewegung des Gemüts spiegelt sich in der Bewe-


gung der N a t u r und ergreift sich (mit Bewußtsein) selbst nur durch
den Vergleich »also«. U n d d a ist auch schon die Metapher der Spie-
gelung auf dem Strom:
»Ist es Trauer? Ist es Freude?
Nein es ist ein süß Ermatten,
Wie das Kühl im Waldesschatten,
Wie die Siumen auf der Heide,
Wenn sie mit beglänztem Kleide
Ungewiß im Strome spiegeln:
Wie von waldumwachsnen Hügeln

37°
Heimlich eine Quelle springt,
Ungesehn durch Büsche dringt
Mit kristallnen weichen Flügeln.«
(a.a.O.)
Und Roxane deutet das gleiche, in dunklen Assonanzen (wie Lea-
lia in hell klingenden), auf ihre Weise, ganz wie in >Liebe und
Treue<:
»O du Glanz des vollen Stromes,
Meer mit deinem weiten Spiegel...
Ach, wie ist ein Liebesblut
Das Gefilde, wann du oben
An Gesträuchen blühend dichte
Wankst und zitterst mit den Knospen,
Und die heißen Sommerwinde
In der Farbengluth verloren
Kühlend baden, sich berauschen:
Nein, so schön ist nicht geworden
Was die Erde liebend treibet,/
Was vom Himmel schaut die Sonne,
Als flatternd auf grünem Stengel
Meine liebste rothe Rose;
Rose, liebste Mädchenblume,
Liebesblume, süße Rose!«
(a.a.O. 273/4)
In »das Labyrinth« der Rosen-»Blätter« (274) m u ß der Blick sich
verlieren, in der Farbenglut sich kühlen und berauschen (wieder die
Verkehrung der Qualitäten!), bis er aus dem Widerschein in der
Rose die Einheit einer Bewegung schöpft:
»Und im Sträuben und Ergeben
Löset sich der wunderholde
Zauber, Liebe wird zur Liebe . . .
Und es rauschen und es treiben
Quillend ungestüm die rothen
Blumen her, bedecken blutig,
Lächelnd, küssend voll und voller,
Knospend, blumend, ganz den Anger . . .
Also wurdest du geboren,
Mädchenblume, Liebesblume,
Rosenblume, süße Rose.«
( I . 276)

So zentriert sich das »quillend« Zerfließende endlich um das Leit-


thema des Gedichtes, in welchem der Fluß erstarrt, die Rose.
Aber Lealias Gesang deutet schon hier - auf ähnliche Weise wie
(1, 322/3) - die Spiegelung des Himmelslichtes, des »blauen Aethers«
(a.a.O., 277), aus der verwandelnd-klärenden »stillen Kraft der

37i
Wellen«, die das wilde Drängen der Leidenschaft mit der läutern-
den Qualität der klaren Kühle vertauscht. Wer das eine liebt, »liebt
auch dich, holdsel'ge Lilge« (277). Die »rieselnden Quellen« werden
zu »Wassern« vor den »Augen« (278), zu Tränen-Quellen, in denen
sich »des Herzens Tiefe«, das »Geheimniß« der Liebe spiegelt, die
Liebe in den sich begegnenden Blicken »erwiedert«. In dieser Spie-
gelung wird das eine »Geheimniß« »erinnert« (279):
»Ward ja aus der Fluth Geheimniß
Doch der Bau der Welt gebildet.«
Symbol und Erinnerung solcher bedeutenden Tränen, die »inn'-
g e r . . . die Liebe . . . fühlen« machen (279), ist die aus Tränen ins
Dasein verwandelte »sanfte goldne, silberweiße . . . Liebeslilge«
(279)- _
Lealias Gesang spannt den Bogen zurück zum Geheimnis der
Flut, das Marcebille, die Allegorie der harmonischen Vereinigung
von Vielheit-in-der-Einheit (der Lilie »Geheimniß«) und von in
Vielheit zersetzter Einheit (Roxane, Verliebtheit in die sinnliche
Fülle), in den leicht dahinfließenden Versen ihrer Liebesklage be-
singt, welche so viele Wendungen aus >Liebe und Treue< vorweg-
nimmt:
»Seht! wie süß der Frühling pran-
get,/
Wie die lauen Lüfte spielen
In bewegten Blumen wühlen, (hier die gleiche Gegenwendigkeit
Wie der Baum voll Blüthen hanget, von syntaktischer Organisation zur
Und den Schmetterling verlanget Parallelität der Satzmetren wie in
Und die Biene nach dem Glänze, der ersten Strophe von >Liebe und
Und die Wiese nach dem Kranze, Treue<!)
Und die kleinen blauen Quellen
Rennen mit den lust'gen Wellen
Eilig, eilig, wie zum Tanze. . . .
Alle grünen Blätter regen
Zur Umarmung sich entgegen,
Tönen nur und flüstern Küsse, . . .
Sind die Blumen nicht wie Sterne
In das grüne Gras gesunken?
Locken sie den Blick nicht trunken
Nach dem lichten Brande gerne?
Alles ist so nah und ferne;
Möcht' ich nicht, mich zu beglücken,
An die Brust den Frühling drücken?
Und ihm sagen, wie ich fühle,
Daß er diese Sehnsucht kühle,
Oder ende dies Entzücken. -«
(1, 271/2)

372
Marcebilles »Entzücken« spricht nicht nur von der Bewegung,
sondern ist in der Sprache selbst die Bewegung geworden, von der
sie spricht. Das Wechselnde ihrer Liebe, durch welches hindurch das
Strömen in die Fühlingsnatur einbricht, folgt den eigenen unbe-
rechenbaren Impulsen. Die größten Extreme holt die Phantasie zu-
sammen: »Alles ist so nah und ferne«, und löscht dadurch alle real-
empirischen räumlichen Relationen aus, die eine solche Annäherung
von Nähe und Ferne unmöglich machen könnten. Die Dinge werden
nur oberflächlich angeschaut und sind im Nu solchen Bildern zum
Vergleich (»Wie ...«) gegenübergestellt, in denen als das tertium
comparationis allemal ihr Rieseln, Glänzen, Tanzen, Tönen, Sin-
ken, Flüstern, Sichumarmen, Wühlen, Prangen usw. sich enthüllt,
d. h. ihre wahre Essenz durchsichtig wird, die nichts ist als ihre we-
senhafte »Unbeständigkeit«: »Audi die Schönheit ist Lüge, Täu-
schung, Traum; sie flieht wie der Frühling, wie der Gesang, wie die
Liebe, und nichts ist beständig, als diese unglückselige Unbeständig-
keit« (I, 873). Das steigt wie ein Refrain aus diesen Zeilen, die nicht
nur alle gezielten Intentionen durch das anmutig-verflüchtigende
Gleiten unterminieren und wie Treibgut auf den »lust'gen Wellen/
Eilig, eilig wie zum Tanze« mitflößen, sondern darin zugleich das
wahre Wesen der Gefühle - als Schein, Täuschung, Trug - auf-
decken.
Kein Medium ist so gut wie die Lyrik zur Darstellung des
Traumbewußtseins geschaffen, das wie in einem selbst nichtigen
Fluß die Spiegelung des Beständigen, das sich nur im Gleiten offen-
bart, aufbewahrt und im Verschwinden anwesen läßt. Und es ist
kein Zufall, daß gerade die Erfahrung der Liebe sich in den Wellen
der Vergänglichkeit anschaut und in mannigfach verschiedenen Bil-
dern als Eines wiedererkennt.»69a
Dies Bild von der Spiegelung170 läßt Tieck denn auch nicht mehr
los. Kaum wird sich diese Erfahrung leichter, anmutiger und klarer
darstellen lassen als in dem lyrischen Gespräch von Dorus und Lila
(Zerbino, 10, 41/2). Sie erscheint ganz eingehüllt in die wechselnde
Vielgestalt ihrer Erscheinungsformen, die ihre Identität unendlich-
fach brechen und zersplittern wie einen prismatisch gefilterten
Lichtstrahl. »Das Eine Bild« »spiegelt« sich selbst dort noch, wo die
>Pausen des Herzens<, ein scheinbares Vergessen, es ganz aus dem
Bewußtsein zu drängen drohten. - Durch alle Anfechtungen, die
Untreue, die Lila noch als Gefährdung erfahren soll (10, 114/5),
hindurch hält sich »die eingeschlafne Harmonie« in erweckbarer La-
tenz durch und kann ins Bewußtsein gehoben werden als das Eine,
das »so müde und so heiter« »wie aus ferner Gegend« herklingt und
zum bleibenden Ton anschwellen kann, der wieder verklingt 171 ,
wie er erstanden war. Die Liebe stellt sich in allem dar, was flüchtig

373
ist: sie hängt als Liebeslied an den Blättern, die Luft atmet sie, sie ist
überall das Spirituellste: Gedanke, Erinnerung, sie fließt als Schim-
mer vom Himmel nieder, schwebt durch Luft und Waldung, spielt
in Wolkenbildern, klingt, irrt - sie ist »ein süßer Ton, der im Ohre
schläft« (4, 295) - , und kein noch so flüchtiger Funke ist, was er ist,
in sich selber: »Kein Element gehört sich selber an«; sie alle gehören
zu jener »liebevollen Täuschung«, als die sich die endliche Er-
scheinung der einen Liebe wie ein entfernter Hauch, ein »blauer
Nebel« (10, 43), über die Wirklichkeit breitet.
Wir beobachten übrigens, wie Lilas und Dorus' Charaktere sich
in der Gemeinsamkeit dieser Erfahrung nivellieren, wie also auch
kein Charakter »sich selber angehört«. Beide kennen die Leere ihrer
Seele. Es gibt keine »Liebe aus voller Seele« (»Als liebt ich ihn aus
voller Seele nicht«). Sie würde sich sonst vor dem Wechsel zuschlie-
ßen, der als ein Sog, als »Sehnsucht«, als »Schmachten« (10, 5/6;
381/2) in die Seele nur darum dringen kann, weil sie Mangel,
Leere, »Wähnen schönrer Sterne« ist, weil sie nicht völlig mit sich
selbst ausgefüllt sein kann. Und so, in unregelmäßigen Rhythmen,
die jeden Impuls ihres Liebesgefühls augenblicklich aufzufangen
scheinen und wie Federn im Wind leichter Launen dahinwehen las-
sen, singen Tiecks Liebende über ihre Liebe:

»Wandert mein Gedanke aufwärts, abwärts,


Durch den Wald wohl in die weite, weite Fern,
Sieht mein Auge, sieht mein liebend treu Herz
Schönres nichts, als meiner Liebe Stern.
Ueber alle Berge, über Seen,
Flieg' ich herzhaft, wenn ich sonst auch furchtsam bin,
Ach! es haucht mich fort der Liebe Wehen,
Und bezwungen ist mein schwacher Mädchensinn.
Einsam könnt' ich ihn in Wäldern suchen,
Suchen bis zur tiefsten fernsten Dunkelheit...
Kehr frühlingsgleich der Braut zurück!
Zurück,
Lock ich mit liebenden Tönen mein Glück.« (...)
(10. 44)

Die insistierenden, kaum variierten Wiederholungen »aufwärts,


abwärts«, »in die weite, weite Fern«, »Zurück, zurück«, »über alle
Berge, über Seen«, die Hinauszögerung der Bestimmungswörter
(»mein liebend treu Herz«, »Suchen bis zur tiefsten fernsten Dunkel-
heit« usw.) bilden die Bewegung des verfehlten Zugriffs auf ein im-
mer zurückweichendes Ziel sehr angemessen ab - kein Zweifel, daß
Tieck Rhythmen einer bald bangen, bald schmachtenden Brust, die
Wechsel von Systole und Diastole, des gepreßten und des sich aus-
strömenden Atems metrisch zu kopieren sucht, worunter nicht selten

374
die Wortwahl zu leiden hat. Das Beständige im Gedicht ist allein
diese in allem Wechsel unerfüllte, stets weiter drängende Sehnsucht
selbst:
»Vom Berge schau' ich nur nach ihm,
Es fließt und klagt der klare Bach,
Ich sehe seinen Wellen nach,
Ich weine, wenn die Vögel ziehn,
Die Bäume blühn,
Die Rosen glühn
Und winterlicher nur mein Herz,
Vom Verlangen
Befangen,
Zerrissen von der Trennung Schmerz.«
(10,223)

Da ist nichts fest als das »Verlangen«, in welchem das Herz »be-
fangen« ist. Vom Berge eröffnen sich neue Aussichten, der Bach setzt
die Klage fließend fort, und wieder sind die Wellen ein Spiegelbild
des Herzens, das dahintreibt, »zerrissen«,weil mit sich selbst uneins.»71*
Alles wird ähnlich; der Reim, die Assonanzen, die Alliterationen
werden zum Beweis wesensmäßiger Verwandtschaft aller Dinge, die
sich dann erschließt, wenn man diese Dinge auf ihren wahren Kern,
die >Anmut ihres Vergänglich-Scheins< hin durchdringt (eine Theo-
rie des Reims, die Tieck mehr als einmal formuliert hat, z. B. K. S.
I, 198-201; IV, 367/8; ebd. 438). Dann bedarf es keines vermitteln-
den »Wie« mehr, um eine Verwandtschaft zu indizieren: Stern und
flüssiges Element, das den Schein zurückwirft, werden eins: »Es regt
sich die Welle ein schimmernder Stern« (Ged. 2, 154): Das Blitzen
der Welle ist ja gerade das Schimmern des Sterns. In ihrer Flüch-
tigkeit sind sie einerlei; so wie das verliebte Herz der Aufbruch des
Frühlings ist: »Nun ist mein Herz als Frühling aufgebrochen« (13,
2
37)-
Als eine sich in die unendliche Fülle zerschlagende Einheit und als
Sehnsucht zurück nach der Einheit offenbart sich die Liebe - dies
ist eine gleichbleibende Struktur von Tiecks Lyrik. Er hat es unmit-
telbar thematisiert (vgl. 10, 253). Wer mit »irrendem Auge/ In das
blendende Farben- und Glanzgetümmel« blickt, »das sich ihm ent-
gegenschüttet« (a.a.O., 254), wie der Schäfer, der davon singt, um
dessen Selbstbewußtsein ist es geschehen: Die >unendliche Fülle<
sprengt die Einheit des Bewußtseins, das Wunderbare bricht herein,
und die Wirklichkeit mitsamt dem eigenen Selbst wird »Traum«:
»Klingen im Ohr die vollen wechselnden Töne,
Kann ich mich selbst nicht begreifen,
Halte nur alles für Traum,«—
(10, 245)

375
Die >unendliche Fülle<, der rasende Wechsel, machen es unmög-
lich, daß das Ich sich mit sich selbst auskennt. Immer wieder gibt es
in Tiecks Lyrik jene Gesten der Resignation, die verzagt dem Zu-
griff auf die eigene Identität entsagen:
»Wie ist's, daß mir im Traum
Alle Gedanken
Auf und nieder schwanken!
Ich kenne mich noch kaum.«
(Ged. 2, 40)

Im Verlust des Ichbewußtseins ist die größte Entfernung von der


Einheit, wir können auch sagen: die deutlichste Präponderanz der
unendlichen Fülle< Wirklichkeit geworden. Liebe aber ist eine
Synthesis.
Wir sind - einmal mehr - in der glücklichen Lage, das Ergeb-
nis einer Interpretation mit einer Theorie, die Tieck selbst formu-
liert hat, in Beziehung setzen zu können, um die Angemessenheit
der dichterischen Gestaltung an das, was ihr »Grund« (im Hölder-
linschen Sinne) ist, zu prüfen. Der Gedanke von der Selbstoffenba-
rung des Grundes im Selbstbewußtsein war Tieck, wie wir aus dem
umfänglichen Brief an Fr. Schlegel wissen, längst vor seiner Be-
kanntschaft mit Solger vertraut. »Liebe«, das war nicht nur Tiecks
Begriff für die höchste aller erringbaren Erfahrungen - Hölderlin,
Sinclair, Hegel, Novalis, Friedrich Schlegel hatten auf eine in der
Geschichte des Gedankens vorbildlose Weise in der Liebe die Ver-
einigung der wesenhaften Strebensrichtungen des Menschen er-
kannt»72: Die Liebe synthetisiert - wie die Ironie (KA XVIII,
203, Nr. 76) - den Trieb zur unendlichen Fülle< und die Sehn-
sucht nach der absoluten Einheit<, gibt also auch die Lösung auf die
Frage nach der Vereinbarkeit von Universalität und »Selbständig-
keit« (Selbsterhaltung). Tieck schreibt (Brief an Fr. Schlegel, »Zie-
bingen, den i6ten December 1803«)»73, er fühle von neuem
schmerzlich,
»wie jeder gestorbene und entfernte Freund ein entrissenes Organ unsres
Innern ist, wie darum unsre Liebe so mannichfaltig sein darf, um sich erst
frei in unendlichen und unendlich verschiedenen Gegenden unsres Gemü-
thes zu entwickeln, und im eignen Innersten dann wieder zu fühlen, wie
alle Strahlen denselben Mittelpunkt suchen, sich in ihm verliehren, mit
neuen Farben und Kräfften daraus hervorspielen. Ich bin um so mehr ein
Individuum, um so mehr ich mich in alles verliehren kann; es ist kein
Verliehren, denn wir verstehn, fühlen eine Sache nur, insofern wir die
Sache sind.« Die unendliche Fülle bedroht die Liebe nicht. Sie ist eine
Seite dieser Liebe, die geoffenbarte Liebe selbst. »Indem man es liebt,
geschieht es ja auf ewig, das Abtrennen von der Liebe . . . halte ich für
den schnödesten Selbstmord.«

376
Die Erfahrung der ewigen Einheit ist die Erfahrung eines Ver-
lustes. Erst der Überstieg auf die Ewigkeit stiftet als bewußte Er-
kenntnis unser komplementäres Endlichsein; erst der verfehlten A n -
strengung, die Einheit zu denken, verwandelt sich die ewige Einheit
in die Zeitlichkeit:
»O Jammer, was ich ewig stets genannt,
Steht wild und zeitlich vor mir hingebannt!«
(Ged. i , 108)
ruft die v o m Ewigen als losgetrennt sich erfahrende »Seele«, der
die »Liebe weit entflohen« ist (ebd.). U n d doch zeigt sich durch die
Sehnsucht nach der Einheit eine aller Zeit vorgängige ursprüngliche
Vertrautheit mit dem, was >Liebe< meint.
»Denn«, schreibt Tieck (a.a.O.) weiter, »selbst wenn ich einen Irrthum
liebe, ist es ja doch der Irrthum nicht, den ich liebe. . . . Auf jenem Wege
ist es ja nur, daß sich der Mensch vom Ueberirdischen und der Ewigkeit
trennt, indem er die Fähigkeit in sich selbst freiwillig vernichtet, sie zu
erkennen, sich die Arme ablöst, um sie zu umfassen.«
U n t e r der H a n d , im Ausführen des Gedankens, hat sich Tiecks
Bekenntnis zum Universalismus unversehens in das Bewußtsein ver-
wandelt, gerade wegen unserer notwendigen Restriktion an die
Differenz durch einen »Glaubens«-Sprung das »Eine« lieben zu
müssen, um nicht aller Identität verlustig zu gehen. U n d umgekehrt
- im absichtlichen Zugriff auf Einheit ist unversehens wieder die
Universalität unser Objekt geworden. Indem w i r das Eine setzen:
als Eines wollen und dadurch zu uns selbst in Gegensatz bringen,
wird es, was es nicht sein sollte: Mannigfaltigkeit. Die Dialektik
dieses unversehenen Umschlags hat Tieck so beschrieben:
»Aller Geist ist nur dadurch Geist, daß er einzig, individuell, und nicht
dieser und jener ist, noch mehr ist es aber, möcht ich sagen, unsre Liebe,
und wir sollten sie darum früh so auszubilden suchen. Man soll sich recht
beschränken174, aber« - und nun bringt sich der Umschlag zur Geltung -
»wenn dem Menschen die Gabe verliehen ist, mancherlei zu verstehn, zu
bedürfen, zu lieben, so soll er jedes als das seine, und doch als ein eigenes
und einziges liebes, was ihm darum unentbehrlich ist, weil es einzig ist,
weil es dadurch den Mangel in ihm ergänzt und also dadurch zum Symbol
der ewigen Fülle wird.«
Einheit und Totalität sind nur zu vereinigen, wenn das Einzelne
Symbol der ewigen Fülle wird u n d die Fülle sich im Einzelnen in-
korporiert. Auch Zeit und Ewigkeit sind nur durch eine ironische
Dialektik zu verbinden. Als etwas, das in seiner abstrakten End-
lichkeit nicht sein soll, empfindet Tieck durchaus die Zeit:
»Diese Kürze des Lebens nöthigt uns auch, . . . daß wir die Ewigkeit in
jedem vergänglichen Momente fühlen, dann ist es nicht mehr vergänglich.«

377
Überall meldet sich die Sorge, das Leben zu verpassen über der
Zerstreuung ins Leben, d. h. seiner reinen Diesseitigkeit zu verfal-
len, die sich nicht ironisch selbst vernichtet und auf das in ihr nur
bedeutete Ewige hin übersteigt. Tieck setzt dieser Gefährdung, so
schreibt er dem Freund, seinen »Glauben an die Offenbarungen des
Christenthums« entgegen, den er »für das Herz [als den] Einen Mit-
telpunkt« fordert, ohne welchen die Zerstreuung seines Bewußtseins
dem Wahnsinn verfallen müßte.
»Ohne diesen einfältigen Glauben, ohne diese Anschauungen lockt mich
alles was da ist nur in einen ungeheuren Abgrund von Wahnsinn, dem ich
auf keinem Wege entrinnen kann, ohne ihn ist mir alles unverständlich,
mit ihm alles mehr als verständlich, nur muß der Geist und das Herz sich
demüthigen, nicht begreifen, wissen wollen, statt zu fühlen und sich der
Liebe hinzugeben.«
Dies Bekenntnis klingt wie eine Bereitschaft für die Begegnung
mit Solger. Und da ist endlich das Bild vom »Spiegel«, der die un-
endlich vielen Strahlen auffangen kann, welche die eine Liebe wirft,
oder aber - dies seine Gefährdung - wie Schelling (in Tiecks Kri-
tik) »alle Gestalten und Kräffte der Welt wie in einem äussern Spie-
gel auffassen und greifen« will und in Wahrheit nur »nach vor-
überfliehenden Schattenbildern . . . hascht«, meinend, »daß ihre
Gespensterfurcht das Gefühl der Geisternähe und ihre Hitze Inspi-
ration sei«. Tieck sieht darin, so wie in Goethes neuesten Werken,
einen unromantischen Geist am Werk, der das Endlich-Zeitliche
nicht »ironisch« auf das Unendliche hin überschreitet, sondern sich
mit subjektiver Niedertracht der »anmaßlichen Objektivität« einer
abstrakten positiven Diesseitigkeit in die Arme wirft und meint,
mit der Formel »Liebe« die Welt schon erklärt zu haben, ohne zu
verstehen, daß man in der Liebe »diese Liebe« selbst »ewig lieben«
muß, um der Zeitlichkeit zu entkommen.
Man muß die Dialektik der im Begriff der Liebe vereinigten,
aber nicht aufgehobenen (nicht in ihrer latenten Differenz vernich-
teten) Strebensrichtungen kennen, um in Tiecks Schwelgen in der
unendlichen Fülle< »aller Wünsche, aller Tränen/ Zittern vor der
Ewigkeit« (Ged. i, 122) mitzuvernehmen. Die Fülle als das, was sie
in ihr selbst ist, soll nicht sein — nur wenn die »Treue« sich in ihr
selbst »anschaut«, ist die wechselnde Fülle der Gestalten etwas, das
sich bejahen läßt. Aber gerade dadurch wird die Fülle das Einfalls-
tor des Glaubens an das Nichtseiende.
Es kann geschehen, daß nicht die eigene Treue aus der Spiegelung
auf der »Welle« zurückschaut (10, 366/7) - und durch diese Ir-
rung, in welcher der vergängliche Zauber der Spiegelung das
Herz augenblicklich einfängt und nicht auf die Identität des Spie-
gelnden zurückbefragt wird, müssen viele Tiecksche Liebende, so

378
Cleon und Lila, Helikanus und Cleora, so Peter und Magelone
(Zulima) hindurch. Die abstrakte Zeitlichkeit ist, wie der Schleier
der Maja, eine Täuschung, die zugleich in der Ekstatik des Herzens
begründet liegt (4, 311, bes. 6. Strophe).

Interpretation des »Schlaflieds« (Magelonen-Zyklus) -


Modulation und Rhythmus

Eine Einzelinterpretation des »Schlaflieds« (Ged. 2, 52/3; 4,


330) ist geeignet, unsere Beobachtungen zusammenzufassen und um
ein wesentliches Merkmal zu erweitern.
»Ruhe, Süßliebchen im Schatten
Der grünen dämmernden Nacht,
Es säuselt das Gras auf den Matten,
Es fächelt und kühlt dich der Schatten,
Und treue Liebe wacht.
Schlafe, schlaf ein,
Leiser rauschet der Hain, -
Ewig bin ich dein.
Schweigt, ihr versteckten Gesänge,
Und stört nicht die süßeste Ruh!
Es lauscht der Vögel Gedränge,
Es ruhen die lauten Gesänge,
Schließ, Liebchen, dein Auge zu.
Schlafe, schlaf ein,
Im dämmernden Schein, -
Ich will dein Wächter sein.
Murmelt fort ihr Melodien,
Rausche nur, du stiller Bach,
Schöne Liebesphantasien
Sprechen in den Melodien,
Zarte Träume schwimmen nach,
Durch den flüsternden Hain
Schwärmen goldene Bienelein,
Und summen zum Schlummer dich ein.«
Dem Reimschema sehen wir folgende Organisation der Strophen
ab (identische Reimwörter durch die großen Buchstaben oder durch
Strich (c') indiziert): AbaAbCc'c/ DedDeCcc/ FgfFgc'cC. Die
Strophen, bemerken wir schon aus diesem Schema, sind unter sich
verbunden. Wir können sie nicht paradigmatisch isolieren. Ungleich
problematischer ist eine Auskunft über die metrische Organisation.
Wenn wir uns nämlich an die Skizzierung eines metrischen Schemas
machen, geraten wir in unerwartete Schwierigkeiten. Das klingt

379
verwunderlich. Die Verse lesen sich ja leicht und flüssig. Wer der
eigentümlichen Bezauberung, welche die metrisch-klangliche Anord-
nung so suggestiv macht, nicht weiter nachfragen will, wird das
außerordentlich komplizierte und geschickt gefügte Arrangement,
getäuscht durch dessen scheinbare Simplizität, nicht bemerken. Er
erinnert sich höchstens an daktylisch-anapästische, also 3teilige
Takte und 2teilige vom jambisch-troohäischen Typ. Aber kaum eine
Zeile hat nicht ihre Eigentümlichkeit: Stimmt die Anzahl der He-
bungen und Versfüße in zwei Zeilen überein, so gewiß nicht Silben-
zahl, Auftakt und Kadenz. Sowohl in der i. wie in der 2. Strophe
sind die formal scheinbar einzig identischen Zeilen 1-4 dadurch
einander unähnlich, daß sich abwechselnd in die zweite bzw. dritte
Zeile ein Takt von anderem Typ einschleicht (ein Trochäus), wäh-
rend die entsprechende Strophe an der gleichen Stelle daktylisch
skandiert. (In der zweiten Strophe ist diese Unregelmäßigkeit spür-
barer, weil der ebenmäßige Parallelismus der 3-/4. Zeilen da-
durch zerstört wird.)
Das Reimschema, aber auch der optische Aufbau der Zeilen im
Druckbild, liefern die gemeinschaftliche Gliederung aller Strophen. -
Einer stollenähnlichen, 5-zeiligen atmosphärischen Einstimmung
folgen, wie ein variierter Refrain, drei gleichgereimte Zeilen, welche
der Liebsten sich zuwenden und sie in Schlummer flüstern. Wie sind
die 3hebigen und die 2hebigen Takte verteilt, wenn ein eindeutiges
metrisches Schema sich nicht anbringen läßt?
Wir beobachten, daß, so wie im Duktus der Abfolge aller drei
(durch gleiche Reime verbundenen) Strophen die Daktylen der
>Stollen< von Trochäen verdrängt werden, um in der dritten Stro-
phe endlich dominant sich zu behaupten, - im gleichen Maße die
Jamben und Trochäen der >Refrain<-Stücke sich umgekehrt mehr
und mehr in Daktylen verwandeln, Silbenzahl und damit Zeilen-
umfang vergrößern, bis in der letzten Strophe die Schlußzeile als
die wortreichste und visuell längste sich heraushebt, obwohl sie eine
Hebung weniger als die Stollenverse trägt.
Das ist eine Umstülpung (Gegenwendigkeit), die der Rhythmus
des Gedichts aufs exakteste spiegelt. Die hüpfenden Dreitakter der
ersten und der letzten Zeilen sind, ihrer ökonomischen Verwen-
dung ungeachtet, die am meisten bewegten, am lebendigsten schil-
lernden des Gedichts, auch wenn nicht die meiste Emphase auf ihnen
liegt.
Mit den einzigen zwei erwähnten Abweichungen sind die Stollen-
verse der zweiten Strophe metrisch identisch mit denen des 1. Stol-
lens. Gleichwohl ist dem Ohr die Assimilation der Daktylen an
einen jambisch-trochäischen Rhythmus hier auffälliger als im ersten
Stollen. Diese Verse lassen sich nur gegen ihren Sinn emphatisch

380
skandieren. Das hüpfende Tempo der Dreitakter wird nämlich in
der 3. Zeile merkwürdig retardiert.
Vergleichen wir:

»Es säuselt das Gras auf den Matten«


und
»Es lauscht der Vögel Gedränge«.

Diese Retardation läßt sich nicht nur aus einer in der zweiten
Zeile fehlenden Takt-Kürze erklären. Sie wird verstärkt durch die
Wahl und Komposition der Phoneme, die Tieck einander folgen
läßt. Das umgelautete »äu« läßt sich rascher artikulieren als das
»au«, zumal wenn es zwischen Frikativlauten steht und über ein
kurzes »e« mit einer Lateralkombination verbunden ist. Das »au«
in »lauscht« fährt aber hörbar fest auf ein » f«. Daß dies Absicht
ist, beweist die Möglichkeit, die Silbe »lauscht« in ein »lauschet«
aufzulösen (wodurch keine Störung in den Lauf der Daktylen ein-
treten würde) - wie Tieck in »rauschet«, »ruhen« [Erstfassung
»ruhn«], »Bienelein«, in der umgekehrten Absicht, Daktylen zu
gewinnen, eine kurze »e«-Silbe wirklich eingefügt hat. 175 - Das
folgende Wort (nach »lauscht«) wird von ihm ganz abgehoben
durch eine deutliche Senkung, der eine ebenso eindeutige Hebung
folgt, die nun zwar wieder erster Iktus zweier Daktylen ist. Aber
diese Daktylen konstituieren sich aus Silben mit hell klingenden
Vokalen oder Umlauten, die nicht nur hier, sondern im ganzen
zweiten Stollen gegen das Versende zu fliehen und den beschwerten,
dunklen Vokalen »a« und »u«, die im ersten Stollen, hell klingende
Vokale und Umlaute - in umgekehrter Reihenfolge - ablösend,
die Reimwörter stellen, den Zeilenanfang freigeben.
Das entspricht aufs genaueste der Bedeutung der Zeilen: Dort die
dahingleitende, hin und her tanzende Bewegung des vom Winde
durchwühlten Grases, hier die innehaltende Geste des Lauschens, in
welcher das »Gedränge« (des ersten Stollens) — durch die hellen,
flüchtigen Umlaute indiziert - gerade zur Ruhe kommt. Durch die
Aufsparung der Umlautsilben für die Reimwörter wird die in ihnen
virulente Beweglichkeit festgemacht (fixiert) - während im ersten
Stollen ihre Beweglichkeit sich durch daktylisches Übergreifen ge-
rade ausströmen kann und die dunklen Vollvokale als statische
Reimwörter nur die stehende Folie, so wie die »Matten« nur den
ruhigen Hintergrund, bilden, vor dem die »säuselnde, fächelnde«
Bewegung kontrastierend dahintanzt. - Das ist also der Grund,
warum uns die Daktylen des zweiten Stollens >trochäenähnlicher<
vorkommen als die des ersten; und das Entsprechende läßt sich für

381
die 4-hebigen Trochäen des dritten Stollens nachweisen: Sie klingen
gelegentlich wie Anapäste, und Brahms' Vertonung hat die Not-
wendigkeit akustisch versinnlicht, daß man hier keine zu scharfen
Akzente setzen darf. Die Unruhe einer sich steigernden, aufs neue
aufgeregten Bewegung wird im Arrangement der dunklen und
hellen Silben auffällig. In der Zeile »Rausche nur, du stiller Bach«
ist gerade die gegenteilige Wirkung zu der Zeile »Es lauscht der
Vögel Gedränge« erreicht (obwohl der Rhythmus der letzteren
Zeile aufgeregter ist). Der Rhythmus läuft nicht auf einen dunklen,
langatmigen Diphthong + Frikativ + Dental zu, sondern löst sich
aus ihm ab in eine Sequenz von sich aufhellenden Vokabeln. So ist
bei fast gleichbleibendem Metrum die Phonemqualität und -Sukzes-
sion des ersten Stollens im zweiten umgekehrt gespiegelt - die Mo-
dulation arbeitet der Eindeutigkeit des Metrums entgegen.
Wir könnten das die Emanzipation der musikalischen Kompo-
nente im Gedicht nennen. August Wilhelm Schlegel hat als »die Be-
standteile der Musik«176 »Rhythmus, Modulation und Harmonie«
aufgeführt (Schelling ist ihm in seiner Ästhetik gefolgt).177 »Rhyth-
mus«, sagt Schlegel, ist das Maß und der Modus von Zeiterfüllung;
»Modulation« die abwechselnde Qualität der zeiterfüllenden Phasen
in ihrer Abfolge, mit ausschließlicher Rücksicht auf Verhältnisse
»ihrer Beschaffenheit, jeden [der Töne] einzeln für sich betrachtet«
(207); »Harmonie« beruht »auf ihrer Beschaffenheit im Verhält-
nis zueinander«; »Melodie« endlich »ist die Kombination der beiden
Begriffe von Rhythmus und Modulation« (ebd.). Den Rhythmus
definiert A. W. Schlegel »als eine solche Anordnung des Zeiterfül-
lenden, worin bemerkbare Verhältnisse stattfinden. Es gehört also
zum Rhythmus zweierlei: ein gemeinschaftliches Zeitmaß für die
ganze Reihe von Sukzessionen und Abwechslung in der Dauer der
einzelnen. Wo eins von beiden Stücken fehlt, ist noch kein Rhyth-
mus vorhanden« (209).
In diesem Sinne ist dem »Schlaflied« der Rhythmus zwar nicht
abzusprechen, wohl aber haben wir so etwas wie »Sukzession von
inkommensurabel verschiedener Dauer« (a.a.O.), zwar nicht »ohne
Regel«, aber nach einer Regel, die sich selbst in Adäquation zu
ihrem Gehalt spontan hervorbringt. In keiner Zeile ist es an der
Oberfläche abzulesen, wie wir die Takte in ihr verteilen sollen, und
jeder Takt ist in erster Linie ein aus der Modulation (Tonqualität)
abgeleiteter Träger von Akzent-Gewichten (Tieck äußert sich aus-
führlich dazu K. S. I, 197-200).»78 Zeilenenden sind nicht not-
wendig Sprechpausen; nicht in dem Sinne, daß sie folglich durch En-
jambements verbunden gelesen werden müßten, sondern derart, daß
eine Einheit von Takten sich aus der Mitte einer Zeile losreißt und
erst in der Mitte der nächsten sich vollendet. Brahms hat in seiner

382
Vertonung die ersten beiden Zeilen in drei Daktyluspaare aufge-
teilt:
»Ruhe, Süßliebchen / im Schatten der grünen / dämmernden Nacht.«
Keines der Paare ist freilich dem anderen ganz gleich; im ersten
und letzten fehlt der Auftakt, den das zweite hat, dafür klingt die
dritte Einheit >stumpf< aus, die erste und zweite >klingend<178*,
aber dem Schluß der zweiten Einheit folgt nicht die notwendige
zweite Senkung des Daktylus. So ist das ganze Gedicht eine viel-
stimmige Komposition aus einzelnen Taktarten, deren keine die
ganze Zeile determiniert, sondern deren Metrum sich allaugenblick-
lich (punktuell) selbst hervorbringt.
Am auffälligsten ist das an den Stollenversen, die, nur mit schwe-
bender, andere Skandierung nicht ausschließender Betonung lesbar,
zwischen Daktylen und zweihebigen Takten schillern:
»Schlafe, schlaf ein,
Leiser rauschet der Hain, -
Ewig bin ich dein.«
Die Silbe »schlaf« ist zu lang, in der Wiederholung zu gewich-
tig, um glatt unterschlagen zu werden; und der Takt »rauschet« löst
nicht zufällig den Trochäus »leiser« ab - die Form »rauscht« würde
die Beruhigung in den Trochäen der Schlußzeile zu stark vorweg-
nehmen. Und wie soll man diese Zeile betonen?
»Schließ, Liebchen, dein Auge zu.«
Die Sperrung im Satz ist gewiß kein Zufall. Es heißt nicht in
Trochäen:
Liebchen, schließ dein Auge zu.
Selbst wenn man folgendermaßen skandieren wollte (wogegen
sich übrigens die Tonqualitäten der Silben sträuben):
X XX X X XX
bliebe eine rhythmische Inkonzinnität in der Zeile.
Und wie vollends sollen die komplizierten Taktfolgen des
Schlußstollens betont werden? Brahms' Vertonung bringt alle Sil-
ben fast wie eine Folge gleichgewichtiger Hebungen heraus (wobei
die Tonqualität von Silbe zu Silbe wechselt - wie in einer >Reihe<);
ebenso im Übergang vom Stollen zum Refrainstück: »Und treue
Liebe wacht«: Jede Silbe hat einen eigenen Ton und eigenen Ak-
zent. Das sind Merkmale, durch welche A. W. Schlegel gerade den
Rhythmus für aufgehoben erklärt. In der Synthese der Satzmelo-
die behauptet sich, wie wir sehen, die Modulation entschieden vor
dem mechanischen Rhythmus. Schwerpunkte werden dort gesetzt,
wo die Tonqualitäten es von selbst vorschreiben, die ihrerseits seis-
mographisch auf alle Tempi und Intensitäten der »Empfindungs-
reihe« reagieren.179

383
»Es liegt«, erklärt Tieck seinen Terminus im BüSh., »überhaupt schon in
der Seele, ein und denselben Ton immer stärker anzuschlagen, dasselbe
Gefühl immer glühender zu empfinden, dadurch thut sich die Seele am
Ende gleichsam auf, auf grössern Grad erwärmt, verbinden sich mehrere
Gefühle mit dem vorigen, immer neue Aussichten eröffnen sich,« . . .
(a.a.O., 117).

»Empfindungsreihen« (vgl. G. M. Hopkins: »Unter >Gefühlsfolge<


verstehe ich eine bestimmte (?) dramatische Eigenschaft, welche be-
wirkt, daß dasjenige, was vorangeht, das, was später kommt, zu be-
dingen oder zu erzeugen scheint; zum mindesten stellt es sich so
dar, nachdem man das Ganze gehört hat« [in (?) Dixon, Stony-
hurst, Blackburn. 13. Juni 1878; Gedichte. Schriften. Briefe. S. 605])
also nennt Tieck solche Skalen einer immer aus sich selbst gezeugten
Steigerung und Abschwächung der Gefühlssukzession. Auf das
Wechseln, das Vermeiden der Monotonie kommt es an. Kein Dich-
ter darf »diese Fähigkeit und das schnelle Wechseln der Empfindun-
gen« entbehren (a.a.O., 117; 117/8).180
Wie artikuliert sich aber denn die Bewegung der Empfindung im
Gedicht? Aus der Lebhaftigkeit einer zwar in ihrem Dahinfliehen
schwerelosen, aber immer in Bewegung geschauten Waldlandschaft
(die Tieck oft als »grüne Nacht« beschrieben hat; z. B. I, 864) stimmt
sich die Emfindung (ausgewogene, akzentuierte Jamben!) auf das
treue Vorhaben herab, die Liebste zu beschützen: »Und treue Liebe
wacht«. Zwischen ein »Ruhe, Süßliebchen« und ein »Schlafe, schlaf
ein« ist die Strophe gewissermaßen eingerahmt.
Die beschwichtigende Behutsamkeit hält sich atmosphärisch auch
in der daktylischen Lebhaftigkeit des folgenden Stollens durch, der
durch eine sehr vorsichtige Wahl und Anordnung der Phonemgrup-
pen etwas Ausgewogenes behält - trotz der metrischen Ähnlichkeit
dieser Zeilen mit denen der ersten Strophe. Dafür haben wir einen
bewegteren Übergang zum Refrain: »Schließ, Liebchen, dein Auge
zu«, dem die trochäische Dominanz nur mehr schwach abzusehen
ist. Und da schleidien sich gleich zwei jener flimmernden Umlaute
ein: »dämmernden Schein«, »Wächter sein«, deren erster frei die
»dämmernde«, bewegt geschaute Waldlandschaft des ersten Stollens
ins Gedächtnis zurückruft.
Das gesteigerte Tempo setzt sich in der nächsten Zeile (des
Schlußstollens) fließend fort: das getragene Metrum der Trochäen
steht ganz im Widerspruch zu den pseudo-daktylischen Imperativen
»Murmelt fort«, »Rausche nur« und der Wendung »stiller Bach«.
Das sind zwar Wörter aus der Bedeutungssphäre gedämpfter Ge-
räusche. Aber die Lebhaftigkeit des Einsatzes, die Imperativform
und der Rhythmus zeigen eine Veränderung des Gefühls an: Hier
ist keine Einladung zur »Ruhe« mehr (wie im ersten Refrain, weni-

384
ger deutlich wiederholt und schon unruhiger im zweiten Refrain):
der »Bach«, so »still« er fließen mag, soll »rauschen«, die Melodien
sind aufgefordert fortzumurmeln, statt, wie der Vogelsang, zu
schweigen. Aus »Melodien« »sprechen schöne Liebesphantasien«, de-
nen »zarte Träume« nachschwimmen (wieder ist die Reihenfolge
der Sukzession Umlaut-Vokal verkehrt worden) - sehr anderer
Art sind diese »Liebesphantasien« als in den beruhigenden Affirma-
tionen: »Ewig bin ich dein« oder »Ich will dein Wächter sein«, wel-
che Wendung bereits den Lakonismus des ersten Beispiels durch das
bloß beteuernde, geschwätzige »will« merkwürdig verdünnt.
Der Refrain der Schlußstrophe endlich kehrt zu den gehäuften
Umlauten des ersten Stollens zurück, die Zeilen dehnen sich mit der
Bewegung der Melodien aus und werden, was die Stollenverse nur
schienen, zu Daktylen. Der »leiser rauschende Hain« »flüstert« in-
zwischen wie das säuselnde Gras; die erst »versteckten Gesänge«
brechen im summenden Schwärmen der »goldene(n) Bienelein«
(lauter helle, künstlich vermehrte Silben) wieder hervor, und die
am wenigsten ruhige Zeile der Strophe kehrt mit den dunklen
»u«-Silben, den Reibelauten (s, J), Nasalen und Liquiden (m, n,
r) in sonderbarer Gegenwendigkeit von Rhythmus und Modula-
tion zur erklärten Absicht, die Liebste in Schlaf zu singen, zurück.
Übersetzen wir diese Beobachtung: In der erklärten Absicht do-
miniert die Unwahrhaftigkeit der Gesinnung über den Buchstaben
der Worte, wie über die Modulation der bewegte Rhythmus - we-
nigstens bringen sich beide in die Schwebe einer Unentschiedenheit,
mit welcher dieses Gedicht ausklingt. Wir können daraus allerlei
schließen. Um nicht willkürlichen Mutmaßungen die Tür zu öffnen,
wollen wir unsere Beobachtung hier nur statuieren und sehen, ob
sich über eine funktionale Betrachtung der Stellung des ganzen Ge-
dichts zu seiner Situation etwas für die Deutung gewinnen läßt.
Wir machten nämlich die Erfahrung, daß die harmonische Melo-
die des Gedichts sich in einzelne Takte auflöst und aus deren Inter-
relation so etwas wie eine Rhythmus-Modulation-Synthese hervor-
bringt. Ein Takt wie »Es lauscht« erfüllt seine spezifische Funktion
nur durch seine Umgebung, von der er sich löst und in die er hin-
überragt, also vor der Folie eines, wie A. W. Schlegel gesagt hatte,
Zeitmaßes, von dem er abweicht oder an dessen Konstitution er als
Teil mitwirkt. So wie den einzelnen Takten ergeht es jeder Zeile,
jeder Strophe - alle sind durch Verweise (sogar durch das Reim-
schema) aneinander gebunden. Und so ergeht es endlich dem ganzen
Gedicht. Es ist selbst Funktion in der Geschichte eines Lebens, im
Kontext einer Erzählung (deren lyrische Einlagen organisierte Teile
eines Zyklus werden). Gefühle, durch die hindurch Welt erlebt
wird, durch deren Intentionalität hindurch Objektivität überhaupt

385
erschlossen wird (vgl. Tiecks Theorie), sind nicht durch das Bild von
erratischen Blöcken zu beschreiben, die sich vor der Lebenstotalität
abstrakt isolieren ließen. Sie verweisen über sich hinaus in die Zu-
kunft, so wie sie aus einer Situation motiviert sind. Es ist zwar eine
Grundtatsache des Bewußtseins, daß Verstehen einen Entwurf vor-
aussetzt, der etwas als etwas von seinem (Vergangen-)Sein her und
auf seine (zukünftige) Bedeutung hin überschreitet: »Eine Sache ist
oder wird, wie ich sie setze, voraussetze«, notiert Novalis (VI, 591,
Nr. 285) als eine Selbstverständlichkeit; und Tieck hat die eigene
Produktivität, konform zur romantischen Theorie, als zum Verste-
hen des Kunstwerks unerläßlich erklärt: »Ein Kunstwerk ganz ver-
stehen, heißt, es gewissermaßen erschaffen« (III, 54).
Wie dem auch sei, seit Rudolf Haym empört sich die Forschungs-
literatur in seltsamer Homophonie, daß es »diesen [Tiecks] Liedern
an jedem soliden K e r n . . . fehlt«. »Musikalisch unbestimmt«, wie
sie seien, können sie »nur erst durch den Text der Erzählung Halt
und Deutung gewinnen.«181
Daß jede Stimmung ihre Vergangenheit und ihren Zukunftshori-
zont hat, auch wenn sie sich um eine »Hauptempfindung« grup-
piert, macht der Wahrheit halber erforderlich, daß diese Ekstatik
mitdargestellt wird. Tieck wußte das. Die Kritik darf nicht verges-
sen, daß Tiecks Vorwort zu seiner Gedichtsammlung die Anlage der
Anthologie damit entschuldigt, daß er dem dringenden Wunsche
vieler Liebhaber entsprochen habe, die zu bekannten Melodien gern
die Texte besitzen möchten (Ged. 1, Vorbericht, s. o.). An sich haben
die Gedichte ihren Ort im Kontext einer übergreifenden Dichtung.
Noch hat sich aber kein Kritiker dem Wahrheitsanspruch jener
Kontextbeziehung gestellt. Die Kritik operiert ohne eigenes Funda-
ment und hebt sich darum selbst auf. Gegen ein solches Verfahren
ist Hegels Satz gegen Tholuck in Erinnerung zu bringen: »Wenn
man das sagen will, was Geister tun, so muß man mit Geist das
Faktum aufzufassen vermögen; sonst ist unter der Hand das Fak-
tum falsch geworden« (in der ersten großen Anmerkung zur zwei-
ten Vorrede der Enzyklopädie, Berlin, 25. Mai 1827 [ = Theorie-
Werkausgabe, Bd. 8, Ffm. 1970, S. 19/20]).
Es gehört ganz einfach zu einer konsequent durchgehaltenen
Darstellung von Zeitlichkeit, daß lyrische Ergüsse ihre Vergangen-
heit und Zukunft haben, in die ihre gegenwärtige Präsentation hin-
über verweist. Die romantische Theorie hat ein abstraktes Kunst-
gebilde als »unwahr« bezeichnet, weil es nicht auf allegorisch-ver-
weisende Art (Ironie!) »das Ganze« bedeutend zeigt. Der lyrischen
Poesie, »die nicht Glied eines größeren Ganzen ist«, hat Friedrich
Schlegel (KA II, Satz 4 von Ath.-Frgt. Nr. 116; vgl. LX/LXI) »die
Totalität und also die Berechtigung abgesprochen«. Das Gedicht ist

386
wesenhaft kontextgebunden, wie stets in Tiecks Romanen oder Dra-
men. Das liegt an seiner temporalen Struktur, die es in schlechte
Synthesen< zum Vorhergehenden als seiner verinnerlichten Vergan-
genheit und zu seiner Folge als der in ihm vorbereiteten Zukunft
einbindet (vgl. Schelling I, 6, 270 ff.: ein wesenhafter »Mangel« ist
in der Isolation jeder Zeitdimension mitgesetzt, der einen Überstieg
über sich, einen Zugriff auf »Ergänzung« begründet). Diese Kon-
textabhängigkeit vieler Tieckscher Gedichte hat wohl verhindert,
daß so ausgezeichnete Lyrik wie Marcebilles Stanzen an den Schlaf
(1, 304/5), gewiß eines der stimmungsvollsten Schlaflieder der Ro-
mantik, in bekannten Anthologien Aufnahme gefunden hat. Tiecks
Gedichte haben jene ironische Transzendenz, die Fr. Schlegel als
»Parekbase« bezeichnet hat.
Auch das soeben interpretierte Gedicht markiert eine im Gang
der Geschichte erreichte Station: Die schöne Magelone fühlt wäh-
rend des anstrengenden Ritts (halbe Nacht und halber Tag) auf
ihrer Flucht mit dem Grafen Peter von der Provence »gegen Mit-
tag« »eine große Müdigkeit« (4, 329) und möchte ausruhen, aber ja
nicht zu lange, »damit wir bald bei deinen lieben Eltern anlangen
können«. Sie bittet, im Einschlafen seine »süße Stimme« hören zu
dürfen. Das ist der äußere Anlaß.
Indem sie dem Liebsten ins Auge sieht, ergreift die schöne Mage-
lone ein freudiges Erschrecken: »von den Menschen fern und einer
dem andern ganz eigen« (a.a.O.). Es ist das Erschrecken über die
Seligkeit einer nicht länger durch feindliche Gesellschaft und Auf-
sicht gestörten Liebe. Magelone will schlafen, aber eigentlich müde
ist sie nicht. Sie verrät ihren Sinn in der Art, wie ihr die Natur be-
gegnet: Da ist schon die grüne Nacht des Schirmdaches (a.a.O.), das
Geflüster und Geschwatze »wie mit eben so vielen Zungen« als der
Baum Blätter hat. »Aus dem dichten Walde schallt Vogelgesang
herauf, und vermischt sich mit dem rieselnden Quellen« - Geister
scheinen sich aus der Einsamkeit zuzurufen und zu antworten —
der Liebste soll schließlich »durch dieses harmonische Gewirre noch
seine süße S t i m m e . . . ertönen« lassen, »damit die schöne Musik
vollständig sei« (a.a.O.).
Wir sehen, Magelone vertraut die Gefühle der Ruhe ganz ebenso
wie Peter im Lied dem Gewirre, der Bewegung, dem Unruhigen an:
Das Waldesrauschen ist die Objektivation ihrer Weise von Müdig-
keit - die Geister, welche rufen, sind vielleicht Stimmen aus der
eigenen Brust.
»Peter lächelte« (4, 330) über den Wunsch seiner Braut. Warum?
Ihn entzückt der »Schatten«, den »die langen schwarzen Wimper182
auf dem holden Angesichte bildeten«. Und dann singt er von der
sanften Unruhe im Walde, die wie kühler Wind die Liebste in den

387
Schlaf fächeln soll - er redet in Imperativen zu der »laut singen-
den«, sich »drängenden« Natur, daß sie »schweigen« soll. Aber ge-
rade durch die negierte Negation bedient er sich derjenigen Laute,
die grell und flackernd, laut und klingend sind und seiner Liebsten
Ruhe gar leicht gefährden könnten. Und endlich fordert er die Me-
lodien, den »stillen« Bach geradezu auf, zu »rauschen« - ein fast
unmerklicher Übergang, den nur eine virtuos ironische Leichtig-
keit der Sprache vermitteln kann.
Nun »betrachtet« Peter weiter »das holdselige Angesicht der
schönen Magelone, die im Schlafe süß lächelte« (4, 331). Die Vögel
drängen sich nun wirklich, was ihnen die Beschwörung des Liedes
verboten hatte, dicht um die schlummernde Braut. Aber Peter ist
nicht beunruhigt, er ist entzückt, »daß diese unvernünftigen Krea-
turen an der schönen Magelone ein Wohlgefallen zu bezeigen schie-
nen« (ebd.) - einen schwarzen Raben ausgenommen, der ihm »häß-
lich« und unpassend in der »Gesellschaft dieser bunten Tierchen«
vorkommt.
Endlich will Peter bedünken, als atme Magelone »mit Bangig-
keit«. »Er schnürte sie daher etwas auf, und ihr weißer schöner Bu-
sen trat aus den verhüllenden Gewändern hervor.« Über »die un-
aussprechliche Schönheit« entzückt, glaubt Peter sich im Himmel,
Magelone noch nie so geliebt zu haben und noch niemals so glücklich
gewesen zu sein. Zwischen den »Brüsten« entdeckt er endlich einen
»rothen Zindel«, den seine »Neugier« zu öffnen sich nicht versagen
kann, findet die von ihm der Liebsten geschenkten Ringe aufbe-
wahrt; da stürzt der Rabe herab, entführt den Zindel, Peter ver-
folgt ihn und wird so von der schlummernden Braut, die er ja be-
schützen wollte (»Ich will dein Wächter sein«), entführt.
Peters wirkliche Absicht entsprach nicht ganz dem, was er seinem
Herzen gestattete, sich bewußt zu machen. Aber auch Magelones
Sinn war nicht durchaus zum Schlafen aufgelegt. Jene »Empfin-
dungsreihe«, die aus der liebenden Fürsorge fast unmerklich die
Leidenschaft emporsteigen läßt, ist im Gedicht gespiegelt: Die Lei-
denschaft war als die sinnliche Bewegung der Takte und der Modu-
lation erst im Zustand bloßer Virtualität; bis sie allmählich, in un-
wahrhaftigem Bewußtsein, dasjenige, was in den ersten Strophen
nur Form war, selbst zum Inhalt macht (die erregt flackernde At-
mosphäre der Unruhe) - durch welche Verkehrung ein Verweis
sowohl auf Peters aktuelle Gemütsbewegung wie auch, über seine
(ihm reflexiv bewußte) Absicht hinaus, ein Vorblick auf die er-
wachende Leidenschaft gegeben wird, aus deren Aktualisierung die
Gefährdung und das glückliche Ende der Liebesgeschichte motiviert
werden. Zugleich ist im Gedicht selbst die Haltung der Erzählung
(allegorisch und ironisch) Ereignis geworden, daß nämlich nicht

388
äußere Schicksale, sondern Handlungen und Sehnsüchte (Zukünf-
tigkeiten), als Versagen, als Bedrohung, endlich als Sieg das Leben
der Liebe bestimmen. »Peters Herz«, - erst »groß von Sehnsucht«,
»sich dem Zufall und den Sternen« überlassend (4, 344) - erfährt
endlich den Sieg der bewußt gewählten Liebe als Sieg über das
bloße Von-Ungefähr des Glücks:
»Errungen
Bezwungen
Von Lieb ist das Glück,« . . .
(4.357)-

Lyrische Sprache und innere Zeit


Aus welchem Prinzip läßt sich, was wir beobachtet haben, näm-
lich die Verdrängung des rhythmischen Elements durch die Modula-
tion einerseits und die akausale Interrelation der Takte anderer-
seits erklären? Offenbar begibt sich in dieser Technik der Verstand
einer Regel, den ursprünglichen Fluß der Empfindungen zu gestal-
ten. Tieck hat in seinem Aufsatz übers Wunderbare die Priorität
des zeitlichen Strömens vor der Verstandesoperation, die das Ge-
setz von Ursache und Wirkung anwendet, überzeugend dargetan.
Die Empfindungen haben einen Bewußtseinsmodus, der präreflexiv
und nicht-intellektuell ist, wie schon Kant gezeigt hatte: »Die An-
schauung bedarf der Funktionen des Denkens auf keine Weise«
(KRV, A 91, vgl. A 90). In diesem präkategorialen Bewußtsein
gibt es noch keine Einheit und kein thetisches Selbstbewußtsein.
Beide werden unterminiert von einer ursprünglicheren Entität, dem
zeitlichen Fließen, in dem auch der Verstand selbst sich bewegt. No-
valis vor allem - wir zeigten es - hatte den von Heidegger als
Versäumnis Kants betrachteten »entscheidenden Zusammenhang
zwischen der Zeit und dem >Ich denke<«183 aufzuhellen versucht
und das Prinzip der Aktivität, der »Kraft« in der Synthesis »Einbil-
dungs-Kraft«, als das Sein der »Zeit«, »das allein Thätige und Kräf-
tige« bestimmt. Tiecks Dichtung hat zuerst mit der Temporalität
der Einbildungskraft poetisch Ernst gemacht. Er hat als das »In-
nerste« des Ichs die »unbegreiflich schnelle Beweglichkeit der Ima-
gination« erkannt, »die in zwei aufeinander folgenden Momenten
ganz verschiedene Ideen an einen und denselben Gegenstand knüp-
fen, und jetzt Lachen und gleich darauf Entsetzen erregen kann«
(K.S. I, 56). Unser Dasein selbst ist nicht, sondern es zeitigt, es ver-
zeitlicht sich:

»Alles wandelt und Nichts besteht, und im Wandeln ist es nur unser; wir
sind nur, weil wir uns immerdar verändern, und können es nicht fassen,
wie ein Dasein ohne Wechsel ein Dasein heißen könnte.« (22, 120)184

389
Tieck - wir zeigten es - erfährt die Zeit zuerst als »Verände-
rung«. Aber er schreibt die Veränderung, die sich an »demselben
Gegenstand« zeigt, nicht einer Veränderung des Gegenstands, son-
dern der »unbegreiflich schnellen Beweglichkeit der Imagination«
zu, deren Temporalität und Ekstasis-Struktur sich in der Welt nur
abbilde. Die Ekstasen Vergangenheit und Zukunft, im Selbstbe-
wußtsein als »Erinnerung und unbekannte Sehnsucht« (I, 870) re-
flektiert, werden in die Welt projiziert.
»Jeder Gegenstand der Natur«, heißt es im Sternbald über den Dichter,
»jede bewegte Blume, jede ziehende Wolke ist ihm eine Erinnerung oder
ein Wink in die Zukunft, besonders ist der Geist des Dichters ein ewig
bewegter Strom, dessen murmelnde Melodie in keinem Moment schweigt,
jeder Hauch rührt ihn an und läßt eine Spur zurück, er bedarf der lästigen
Materie am wenigsten und hängt am meisten von sich selber ab.«
Die Lyrik stellt insbesondere ursprünglich erfahrene Wirklichkeit
dar. Sie wird daher beurteilt werden, nachdem sie den Rhythmus
und die Modulation, als die Melodie des im präreflexiven, Tieck
sagt: im »sinnlichen«, Selbstbewußtsein erfahrenen Strömens der
Empfindung, in Sprache übersetzt.
Die Sprache muß so blitzschnell auf den Wechsel reagieren kön-
nen, wie es das Verhältnis ihrer Angemessenheit an die Wirklich-
keit erfordert. Wie soll sich aber ein ekstatisches Gemüt jederzeit in
Blankversen artikulieren? (Gelegentlich hat Tieck die Unangemes-
senheit klassischer Versmaße zur Erzielung hochkomischer Kon-
trasteffekte benutzt; so 5, 504-510; 542—545; 555-557; 564 f. u.
passim.) Die Sprache muß sich, um erlebte Zeit darzustellen,
von den »konventionellen Regeln« befreien und ganz Nieder-
schlag ursprünglicher Zeittempi im Bewußtsein sein.185 Den kon-
ventionellen Regeln fehlt nämlich jener authentische Ausweis,
den solch freie Rhythmen haben, welche »innern Regeln« folgen
(BüSh. 300), »die die Natur der Kunst erfordert . . .«. Der echte
Dichter kennt nur eine Regel, ».. . auf alles Rücksicht [zu] nehmen,
was die Natur der Empfindungen erfodert.«186
Wir haben dieses poetische Selbstverständnis bei Tieck bereits ins
Licht gerückt. Inzwischen fehlt es uns nicht an Material, es mit sei-
ner poetischen Praxis zusammenzuhalten. Tieck reklamiert eine ur-
sprüngliche, auf eigenes »Erleben« gegründete »Natürlichkeit«,
d. h. eine gleichsam autoptisch erfahrene Authentizität der dichteri-
schen Weltanschauung, deren reale Darstellung sich am Selbstbe-
wußtsein auszuweisen hat; die weiter ihre Regeln aus sich selbst ge-
winnt und in Verhältnismäßigkeit zu der sie stiftenden Erfahrung
schafft, ohne in steriler Reproduktion abstrakt gewordene Traditio-
nen zu adoptieren, nach deren Legitimität »man« nicht mehr fragt,
weil sie ein geistloses Gewohnheitsrecht erworben haben.187

390
Da ist ein neues Selbstverständnis manifest: Kunst ist Darstel-
lung einer ursprünglichen Erfahrung des Selbstbewußtseins, die aus
einer unmittelbaren Anschauung ihre nicht hinterfragbaren (aber
kritisch prüfbaren) Regeln ableitet. Zwischen Welt und Bewußtsein
steht die ordnende Synthesis der zeitlichen Ekstasis, die aus der an
sich seienden Natur die menschliche Kunst schafft (»Ich will nicht
Bäume und Berge abschreiben, sondern mein Gemüt, meine Stim-
mung, die mich in dieser Stunde regiert... will ich mir festhalten«,
I, 894). Kunst wiederholt nicht einfach, was schon da ist, sondern
erschafft die eigene transzendente Wirklichkeit als die Synthesis
>Wirklichkeit< (I, 353-5). Dichtung ist so immer ein Ins-Werk-
Setzen der Wahrheit. 188 Sie ist die Wahrheit der Natur; d. h. in
der Tieck-Solgerschen Fassung: »des Wesens der im Selbstbewußt-
sein sich ereignenden Offenbarung des Grundes«.
Kunst untersteht damit dem Gebot der Angemessenheit. »Wahr-
heit« der Kunst soll hier durchaus im Hegelschen Sinne »Überein-
stimmung eines Inhalts mit sich selbst«189, statt mit der Form, be-
deuten. Die Form ihrer Darstellung wird das reflektieren: »Un-
wahr heißt dann soviel als schlecht, in sich unangemessen«189 — in
jenem Sprachgebrauch, der »von einem wahren Freund«, »einem
wahren Kunstwerk« redet und darunter die Angemessenheit einer
Aktionsart zu ihrem Begriff versteht. - In eben diesem Sinne sind
viele Beispiele Tieckscher Lyrik - so das vorgeführte >Schlaflied<
- »wahre Kunstwerke«, d. h. »sind im höchsten Sinne, was sie sein
können« (I, 945). Sie beziehen ihre Gesetze aus dem der Willkür
sich entschlagenden Anspruch und Gebot der inneren Zeiterfahrung,
die den Rhythmus in der Vermittlung der Modulation, also die Me-
lodie ihres sprachlichen Ausdrucks mitgebietet. Die Sprache soll
darum für die geringfügigsten Nuancen im Tempo sofort empfäng-
lich sein und wird sich prinzipiell »an keine Form ausschließlich
binden«.190

>Brechung des lyrischen Melos< - die N ä h e zum


erzählenden Prosastil
öffnet sich die Sprache ganz den Impulsen der inneren Tempo-
ralität, so wird sie sich mehr als die klassizistische, abstrakt-poe-
tische Form mit der Stimmung des unmittelbaren Erlebens durch-
tränken, wird sich der Logik syntaktischer Ordnung weitgehend
entwinden und den bekannten asyndetischen Parataxen des Prosa-
stils sich nähern. Die Bewegung der Zeit soll ja aufs genaueste aufge-
fangen sein: Verweilt das Gemüt auf einem Gegenstande, so tut
es die Sprache. Strömt es wild dahin, so verwendet Tieck seinen
Zeitrafferstil, in dem die Jahre dahinstürzen. Ist der Sinn der Zeit-

39i
bewegung unentschieden (wie im Grauen, in der Langeweile, der
Verzauberung), so gibt es solch unheimliche Bilder eines Fortschritts,
der in sich selbst zurückkehrt.»91 »In der Nacht tönte der Lauf der
Bergquellen an mein Ohr, die Winde rauschten durch die Bäume,
der Mond stieg herauf und ging wieder unter« (I, 919). Im Lovell
ist dergleichen oft noch per hiatum mit dem Gemüt, wenn es sich um
eine Außenweltsbeschreibung, und mit der Außenwelt, wenn es sich
um eine Gemütsäußerung handelt, verbunden; d. h. die Schilderung
von Welt ist nicht schon selbst Stimmung. Ein Beispiel:
»Man öffnete die Fenster; die Morgenluft brach herein, der Himmel war
wie eine Platte buntgestreifter Marmor, die Wände der Welt waren wie
immer mit ihren seltsamen Gewächsen ausgelegt, und wie ein wildes Tier,
so fiel eine nüchterne Empfindung mein Herz an.« - Man sieht, Empfin-
dung und Welt stehn zwar in Korrespondenz, sind aber noch von einander
abhebbar. - Der Text fährt fort: »Wo steht die letzte Empfindung, daß
ich zu ihr gehe? Wo wandeln die seltsamsten Gefühle, daß ich mich unter
sie mische? Daß ich von diesem Traume erwache und einen andern noch
fester träume!
Wolken fliehen und kommen wieder, das seltsamste Morgenrot wird
Tagesschein. - So wird es mit diesem Herzen gehen. - Leider, daß ich
das schon jetzt empfinde!« (I, 492)
Das ist eine Passage im schon charakterisierten Tieckschen Prosa-
stil. Auf die Nähe der Tieckschen Lyrik zu seinem Prosastil hat
schon Gundolf hingewiesen: »Tiecks lockere, an sich schon poetisie-
rende Prosa ist jeden Augenblick bereit in dünne Verse aufzuflat-
tern«, 192 schreibt er. Der Zauber seiner Landschaften verdanke sich
solcher »Entstofflichung«. Wirklich hat ja die Gestaltung der Zeit-
lichkeit in der Prosaerzählung der gleichen Wirklichkeit Rechnung
zu tragen wie der lyrische Stil. Die logische Durchdringung der un-
mittelbaren Mannigfaltigkeit ist ein späteres Moment - das Aprio-
ri starr regelmäßiger klassizistischer Verse ist fraglich geworden.
H.-G. Gadamer hat in einem Vortrag über das Wesen der modernen
Kunst einmal von der »Brechung des lyrischen Melos« gesprochen.
Auf eben diesen Effekt zielt Tiecks Auflösung des exklusiv-poeti-
schen Charakters vieler seiner Verse; gemäß seiner Verurteilung der
Absonderung der Kunst vom »wirklichen Leben«. Und so - durch
die »ästhetische Nichtunterscheidung«193 - kann es geschehen, daß
die »Prosa der Wirklichkeit« (Tieck) unversehens Lyrik wird; aus
den freien Rhythmen der parataktischen Hauptsätze steigen unter
der Hand die freien Rhythmen eines Gedichtes auf:
»Ich höre Töne -
Sind's ferne Wasser?
Sind's tönende Wälder?
Sind's Menschenstimmen?
So fremd und vertraulich,

392
So ernst und so freundlich
Klingt's fern herüber.
Ach wie trotzig braust der Strom sein Lied fort,
Ziehende Vögel spotten meiner aus der Ferne,
Wolken sammeln sich um den Mond und nehmen ihn mit sich,
Ach kein Wesen, das meiner sich erbarmte.«
(I, 5i6) m
Da ist die gleiche bekannte Technik wie im Erzählstil: kleine,
kurze Sätze, kaum einmal durch einen übersichtlichen Nebensatz
erweitert, Substantive, selten durch Adjektive spezifiziert, Fragen,
die aus der vielstimmigen Mehrdeutigkeit des Wahrgenommenen
sich aufdrängen, eine durch den zeitlichsten aller Sinne, das Gehör,
erfahrene Wirklichkeit, von der keiner entscheiden mag, wo ihr An-
sich-Sein in der Gestimmtheit des Gemüts aufgelöst wird; geballte
Bilder und Prädikativa, die gar nicht auf einander abgestimmt sind
und oft nicht einmal aus derselben Sphäre rühren wie »fremd und
vertraulich«, »so ernst und so freundlich«. Dinge, Geräusche werden
gefärbt mit der Unentschiedenheit des ekstatischen Subjekts, das sie
erfährt, und die Sukzession zwischen Ernst und Freundlichkeit,
Fremde und Vertraulichkeit wird nicht in einen Mittelwert ver-
mischt, sondern es werden Gegensätze in impressionistischer Technik
dicht nebeneinandergestellt, um sich, aus der Ferne gesehen, zu
einem Eindruck zu verbinden. Die Oxymora von »frohem Schmerz
und trüber Lust« (10, 82), die das Abwediselnde des inneren Flie-
ßens in die Simultaneität eines Paradoxes zusammengreifen, sind
nicht fern. Nächstes und Entrücktes muß die Phantasie des Lesers
vermöge der »unbegreiflich schnellen Beweglichkeit der Einbil-
dungskraft« aus den Peripherien der Innenwelt zusammenholen.
Und was für Gegensätze müssen übersprungen und verbunden wer-
den, um die vier letzten Zeilen zur Einheit einer Stimmung zu ver-
sammeln! Und da ist endlich kein »denn« und »aber«, welches, in-
dem es eine Kausalität in die bloße Abfolge brächte195, den Ver-
stand behutsam leitete: Er muß jeder Regel zur Bewältigung von
Eindrücken entsagen, die ihm zuvorkommen, weil als ihr Wesen die
Zeit selbst zutage liegt.
Selbst die Verwendung des Reims, in der man einen Rückfall ins
»ästhetische Bewußtsein« abstrakter Trennung von Wirklichkeit
und Poesie vermuten könnte, schafft keine wesentliche Differenz
zum Prosastil, den nicht erst Hegel die Sprache der Wirklichkeit
nannte. Ganz wie in Lovells Brief ist die Unentschiedenheit eines
Hin-und-Her in den folgenden (gereimten) Versen Sprache ge-
worden : , T r ä u ft v o m Himmel der kühle Tau,
Tun die Blumen die Kelche zu,
Spätrot sieht scheidend nach der Au,
Flüstern die Pappeln, sinkt nieder die nächtige Ruh.

393
Kommen und gehn die Schatten,
Wolken bleiben noch spät auf,
Und ziehn mit schwerem, unbeholfnem Lauf
Über die erfrischten Matten.
Schimmern die Sterne und schwinden wieder,
Blicken winkend und flüchtig nieder,
Wohnt im Wald die Dunkelheit,
Dehnt sich Finster weit und breit.
Hinterm Wasser wie flimmende Flammen,
Berggipfel oben mit Gold beschienen,
Neigen rauschend und ernst die grünen
Gebüsche die blinkenden Häupter zusammen.« . . .
(I, 870)
Wirklich variieren ja die Zeilen »Kommen und gehn die Schat-
ten« und »Schimmern die Sterne und schwinden wieder«, ohne
Wechsel der Stilart, den Satz aus Lovells Brief: »Wolken fliehen
und kommen wieder.« Mehr noch — die künstliche Verwirrung der
Prosa ist im Gedicht noch weiter gesteigert (noch prosaischer gewor-
den, möchte man sagen), indem sie nicht nur von der logischen Ver-
knüpfung, sondern weitgehend auch von der syntaktischen Gesetz-
mäßigkeit emanzipiert ist. Wer will entscheiden, welcher gramma-
tischen Regel die Anordnung dieser Zeilen Rechnung trägt? Sind
es konditionale oder gar temporale Nebensätze, die in Hauptsätze
münden? Sind es elliptische Wendungen, die ein »Es« oder ein
Hilfsverb einsparen? Sind es am Ende Fragen? Keine der drei
Möglichkeiten kann jedenfalls, wenn wir sie durchprobieren, für
alle 4 abwechselnd abab — abba - aabb - abba (-abab) gereimten
Strophen zugleich gelten.
Eine Skizzierung der Hebungen und Senkungen müßte einmal
mehr den Beweis erbringen, daß die Verse kein Metrum haben. Was
wir am >Schlaflied< beobachtet haben, wiederholt sich hier in po-
tenzierter Form. Achten wir also auf die Angemessenheit der inne-
ren Tempi zu denen der Sprache. Wie suchen sich die Tonqualitäten
ihren Rhythmus?
Die Ruhe eines Abends ist in ein verwirrendes Flimmern flüchti-
ger visueller und akustischer Reize und Bewegungen zerbrochen.
Wo nicht geradezu - wie beim Flüstern der Pappeln - der zeit-
liche Sinn des Gehörs affiziert wird, ist das Visuelle (Räumliche)
jedenfalls nicht der fixierenden Anschauung zugänglich - es flim-
mert, gewinnt selbst die sekundär musikalische Qualität des »Win-
kend-Flüchtigen«. Bald staut sich die Masse der Hebungen, daß fast
jede Silbe einen Akzent verlangt (»Spätrot sieht scheidend nach der
Au«), bald verflüchtigt sich ihr Abstand durch allerlei flüssig auf-
einander folgende Senkungen (»Schimmern die Sterne und schwin-

394
den wieder,/ Blicken winkend und flüchtig nieder«), um sich aufs
neue zu verdichten (»Wohnt im Wald die Dunkelheit«). Die Pho-
neme spielen mit. Wo es nicht, wie in der Häufung der hellen »i«-
oder »e«-Silben, um die absichtliche Verwischung der Wortkonturen
(ihre Assimilation) geht196, ist Tiecks Absicht unverkennbar, keinen
einzigen Vokal auf seinesgleichen folgen zu lassen, sondern mit
strenger Abwechslung so zu modulieren, daß jeder Takt durch seine
Tonqualität zunächst atomisiert und erst dadurch in Relation zu
seiner Umgebung gebracht wird, daß er dieselbe aus innerer Not-
wendigkeit erfordert (da er nur durch den Unterschied von seiner
Umgebung in seiner Individualität existieren kann: er setzt sich
selbst durch Negation seines Kontextes und umgekehrt). Das ist das
Gegenteil zu einem Klassizismus der Form, die metrisch eine ganze
Reihe samt der Modulation (welche nur einen kleinen rhythmischen
Spielraum behält) determiniert. Tiecks Prinzip der Spontaneität
muß den Satz, die Regel erst schaffen, nach der sie sich formiert.
Die >Durchführung< ist nicht an die >Variation< gebunden. Durch
punktuelle Lucidität< ist jeder Takt die Mitte des Gedichts.

Das Kompositionsprinzip: >totale Durchführung<


>Mondscheinlied< war das auszugsweise zitierte Gedicht über-
schrieben. Vom Mondschein freilich handelt es nicht mehr als vom
Flimmen der Flammen, dem Fliehen der treibenden Wolken, dem
Flüstern der Pappeln, dem Schweifen der Wünsche, dem Strom der
Zeit, dem Funkeln der wandernden Quellen und der Vergänglich-
keit der Jugend (I, 870/1). Es besteht offenbar keine Notwendig-
keit für Tieck, beim Thema zu bleiben (vgl. I, 861, 928, 945,4), weil
»es die Zeit in der Art hat, daß sie vergeht« (10, 342), wie es Gott-
lieb (Zerbino) provozierend albern sagt. Akzidentelles und Essen-
tielles werden ununterscheidbar; denn selbst die Konstanz eines The-
mas realisiert sich nur noch als Kontinuität einer Veränderung. Von
einer Identität der Unbeständigkeit könnte man also wohl sprechen,
um Tieck zu überführen, daß er ohne eine gewisse Einheit denn
doch nicht gut auskomme und folglich sich selbst widerspreche. Al-
lein dieser Einwurf ist unsinnig, weil es für diese Art von Identität
(die Identität der Nicht-Identität) in lyrischen Gebilden wie dem
>Mondscheinlied< gar keine Alternative gibt. Die Identität der
Nicht-Identität ist durchgängig. Sie steht zu nichts in Widerspruch
- alles ist solche »Nicht-Identität der Identität«.»97
Adorno hat von einem »von Wagner inaugurierten Nominalis-
mus der musikalischen Sprache«198 geredet. In ihm sei jene »para-
doxe Beziehung zur Zeit«199 aufgehoben, die in der klassischen
Musik als in der Veränderung identisch sich durchhaltendes Thema

395
inkorporiert sei.200 Die Invarianz der Themen durch die Zeit hin-
durch behindert zugleich die »Durchführung«; denn »nur solange
Durchführung nicht total, nur solange ein ihr nicht Unterworfenes,
ein musikalisches Ding an sich Kantisch gleichsam ihr vorgegeben
ist, vermag die Musik die leere Gewalt der Zeit beschwörend fernzu-
halten«. 201 Aber eine durchbrechende, moderne Zeiterfahrung muß
diese gegen die Zeit sich behauptende Formgebung als unwahrhaf-
tig entlarven. Statt der thematisch oktroyierten, bloß äußerlichen
Einheit der »konventionellen Regel« muß der neue, kritisch gewor-
dene Künstler »die Einheit des Werkes gleichsam [wie Brahms, der
Tiecks Mageionenlieder vertonte] in jedem Augenblick neu, aus
Freiheit« (im Gegensatz zur formalen Determination) 202 hervor-
bringen. Diese spontan zuwegegebrachte Einheit wird aber die
»formbildende Kraft« klassischer Organisation 203 notwendig ein-
büßen, als Lüge aufgeben. Einheit wird nur mehr phasenhaft, all-
augenblicklich, >punktuell< zustande gebracht werden. Durch das
»radikale Vergessen«204 wird allaugenblicklich die Einheit des Gan-
zen »negiert«. Die Vernunft begibt sich einer Regel, eines Ideen-
gefüges, mit der sie das »Labyrinth« 205 der im »Kunstwerk« reflek-
tierten Wirklichkeit bewältigt. Indessen, indem sie sich so beschei-
det, ist sie schon überlistet: Auch keine Regel zuzulassen, »den Zu-
fall anzubeten« (Novalis), setzt eine Regel voraus - und so ist auch
die ironische Auflösung des Unterschieds »von Essentiellem und Ak-
zidentellem«206, wodurch es keine Themen und »folglich auch keine
Entwicklung« mehr gibt, selbst Ausdruck einer Regel ( des »Systems
der Systemlosigkeit«).207
Die undurchsichtige Unregelmäßigkeit des Ganzen verträgt sich
am besten mit der Helligkeit des atomisierten Details, wie wir zeig-
ten. Nichts ist der undurchsichtigen Totalität willkommener als die
Eindeutigkeit inkongruenter Teile. Wie Lovell, so weiß auch der
unglücklich von der Liebsten getrennte Peter: »Denn nimmer wird
es gut« (4, 334), fühlt sich trotzdem bald über »alles Bangen« her-
ausgehoben (ebd. 347), »mit neuem Muthe« der »vielgeliebten
Schwelle,/ Endlich meinem Glück entgegen« gehn (ebd.), erkennt
wiederum am Schicksal der Blume, die »verwelket eh es taget« (4,
351), sein eigenes Verhängnis, »die scharfe Qual,/ Daß ich sie und
all mein Glücke/ Nimmer, nimmermehr erblicke« (ebd.), und singt
endlich mit der Liebsten, »kein Zweifel« mache die »treue Liebe«
bange, »immer bleibt ihr Muth gesund« (4, 357); - es ist ihm, mit
einem Wort, die Totalität des Lebens undurchsichtig, er orientiert
sich, vorschnell reflektierend, an den Augenblicken; und mit deren
Sukzession wechseln auch seine Stimmungen, Überzeugungen, sein
»Nie« und »Immer«. Die gleiche punktuelle Lucidität aber haben
Tiecks Gedichte selbst: Wechsel von Strophe zu Strophe, ja von

396
Takt zu Takt. Die Phase deutet nie durch ihren (in sich beschlos-
senen) Inhalt, sondern immer nur durch die Leichtigkeit der sprach-
lichen Behandlung in ihre Zukunft voraus.
Die Einheit der Phase zerstört die Einheit der Totalität und spie-
gelt so die sukzessive Synthetizität der Zeit, die im Trennen Pha-
sen verbindet und konstituiert und in der Verbindung voneinander
absondert, aber verhindert, daß Einheit in der Differenz symbolisch
Ereignis wird. Mit einer gegenüber der Klassik solchergestalt verän-
derten Hermeneutik des Selbstbewußtseins haben wir es bei einer
Interpretation von Tiecks Lyrik zu tun. Zur Statuierung des Fak-
tums von Zeitlichkeit gehört die Aufrichtigkeit der Praxis: die Dar-
stellung erlebter Wirklichkeit darf dem Faktum nicht ausweichen.208

Zeit als Allegorie und als Symbol

Tiecks Lyrik ist in jenem eminenten Sinne zeitlich, daß sie Einheit
und Mannigfaltigkeit nur relativ synthetisiert. Die Einheit ist
keine synthetische Versammlung von Mannigfaltigem in eine zeit-
enthobene, simultane Präsentation der Form, sondern Einheit und
Mannigfaltigkeit trennen sich in Vor und Nach, sukzedieren. Es
gibt in Tiecks Lyrik nicht das Phänomen der >Totalität-als-Einheit<
oder, wie Schelling es nennt: der »aktuellen Totalität«. Die Einheit
ist ins Detail molekularisiert (als »relative Synthesis«, wie Schelling
sagt). Indem sie die vergängliche Phase fixiert und wie ein wan-
derndes Licht, punktuell Einheit stiftend, über den Strom des Suk-
zedierenden gleitet, entzieht sich solcher Einheit die Homogenität
des Ganzen. Aber gerade diese Homogenität des Ganzen kann
nicht einfach aufgegeben werden. Sie kommt zwar nicht in der sym-
bolischen Präsentation der Form zustande; aber sie kündigt sich
durch die Selbstaufhebung der fixierten Form negativ an. Die Ein-
heit des Details ist ein >constitutum< des thetischen Bewußtseins;
sie wird aufgelöst vom präreflexiven Fließen, der »Welle«, die die
konkrete Form mit sich fort führt und auch das Bestimmteste in
einen Hauch von Leichtigkeit einhüllt. Diese Leichtigkeit, wir zeig-
ten es, ist aus dem Detail allein nicht zu erschließen. Sie kündigt
sich an in der Relation der Phasen, in welcher eine unmittelbare,
nicht-thetische Beziehung auf Zeit sich verrät; wie übrigens in der
beständigen »Erinnerung«, »Ahnung« und »Sehnsucht« von Tiecks
Helden; einer ekstatischen Konstitution, die die endliche Bestim-
mung von innen her übersteigt und dadurch als »Mangel« enthüllt.
In der Endlichkeit selbst kündigt sich die Gegenwart als der ersehn-
ten Einheit ermangelnd an. Und nur so, durch Negation der Bestim-
mung - da die Bestimmung fast immer Resultat einer unwahr-

397
haftig-voreiligen Reflexion ist, können wir auch sagen: durch Re-
flexionsnegation, Freisetzung des nicht-thetischen Selbstbewußt-
seins - geschieht in der endlichen Form ein Verweis auf die un-
wirkliche, aber dem Denken unentbehrliche »unendliche Einheit«.
Fr. Schlegel - wir beschrieben es ausführlich - hat diesen ekstati-
schen Verweis auf Einheit als das Wesen der romantischen Allego-
rie bestimmt. Diese bedeutete Einheit ist als das Sein der Wirklich-
keit zugleich das, was nicht selbst wirklich ist. Kein wirklich Seien-
des ist die seiende Einheit. Darum ist nur das »Alles« der unerreich-
bare Grenzwert einer Approximation, in welcher die Allegorie dem
Symbol sich nähert. Damit schwindet aus der Bestimmtheit des
»Sektors« aller Sinn von Wahrheit. Und die Totalität ist eine jede
bestimmte Erkenntnis zersprengende Gestaltlosigkeit - ist »rien
que le tout«. 209
Es liegt im Wesen der Zeit selbst, daß sie die symbolische Darstel-
lung verhindert. Nie ist eine abstrakte Phase Symbol der Ewigkeit;
weil sie Phase gerade nur um den Preis des Verlustes von syntheti-
scher Einheit ist und sich als Einheit nur gegen den nivellierenden
Strom der Vergänglichkeit behauptet. Etwas, das nur im Gegensatz
gegen sein Gegenteil zu bestimmen ist und sich darum wesenhaft
selbst überschreitet, kann nicht Ort einer Epiphanie sein. Es würde
den Ort verlassen haben und nicht mehr sein, was Stätte symboli-
scher Präsentation war. Symbolismus hat immer Vergangenheits-
charakter, weil die zeitliche Transzendenz ihn immer schon über-
schritten hat als etwas, was zu sein ihr verwehrt ist.
Goethe glaubte, Erscheinung und Idee im »Bilde«, im »Symbol«
synthetisieren zu können. Er notierte zwar: »Die höchste Lyrik ist
entschieden historisch«210, d. h. gewinnt ihr Material aus der zeit-
lichen Endlichkeit. Aber, da »alle Kunst in Anachronismen ver-
kehrt« 211 , wird die temporale Endlichkeit symbolisch gebannt
durch eine Assimilation der Ewigkeit, die im endlichen Zeitlichen
unzeitlich Ereignis wird. Die Zeitlichkeit wird in der Form ent-
machtet und aufgehoben. Solchen Magismus des Symbols hat das
moderne Bewußtsein als unwahrhaftig aufgegeben. Betrachten wir
zur Probe folgende Verse des Epimetheus aus Goethes Pandora. Sie
sind gewiß ein Ausdruck von Zeiterfahrung:

»O wie gerne band ich wieder


Diesen Kranz! Wie gern verknüpft' ich,
Wär's zum Kranze, wär's zum Strauße,
Flora-Cypris, deine Gaben!
Doch mir bleiben Kranz und Sträuße
Nicht beisammen. Alles löst sich.
Einzeln schafft sich Blum' und Blume
Durch das Grüne Raum und Platz.

398
Pflückend geh' ich und verliere
Das Gepflückte. Schnell entschwindet's.
Rose, brech' ich deine Schöne,
Lilie, du bist schon dahin!«*»*

Viele Symptome stimmen zu unserer Bestimmung von Zeitlich-


keit. Epimetheus kann die Einheit des Ganzen nicht ergreifen; ihm
bleibt, was er sammelt, »nicht beisammen«. Die »Einzeln«heit ist
übermächtig über die Einheit. Und wie vollendet ist die Flüchtig-
keit geglückter Einheit in den Schlußzeilen Sprache geworden! Die
gepflückte Lilie ist, indem der »Rose Schöne« gebrochen wird,
»schon dahin«. Die Syntax gehorcht auch hier einer anderen als der
»gemeinen Regel«. Trotzdem ist die Zeit, die Epimetheus erfährt,
uns nicht bedrohlich. Sie steckt in einem klassischen Korsett, von
vorzüglicher Anmut und Leichtigkeit gewiß; aber sie überantwortet
die Zeiterfahrung nicht auch ihrem eigenen Rhythmus. Die Zeilen
zersplittern durchaus nicht in Phasen, deren eine die andere ver-
schlingt, derart, daß die Form dem Inhalt vollkommen adäquat
wäre. Die Form ist nicht, wovon sie spricht. In regelmäßigen, 4he-
bigen Trochäen, mit einem sehr übersichtlichen und auch in gramma-
tischen Freiheiten immer mit einem Blick wahrnehmbaren Duktus
der Empfindungen, bannt sie die Temporalität symbolisch. Sie ist
versteinert in einer Form, darin sie Ewigkeit hat. Epimetheus singt
von der Zeit, wie sie an sich ist. Unter der Hand ist sie zur Sub-
stanz geronnen. Sie bedrängt uns nicht. Ihre Ekstatik ist auf das
räumliche Nebeneinander abgebildet. Und dort bietet sie sich der
wehmütig verweilenden Kontemplation, in sich selbst befriedigt,
dar.
Wie soll aber eine Zeitlichkeit sich artikulieren, die ist, wovon
sie singt? Welche die »Einsamkeit« des »In-der-Zeit- . . . Stehens«
(Ged. i, 89) aushält und sich so reflektiert (darin allerdings, sogar
im Rhythmus, ähnlich wie Epimetheus spricht):

»Alles will um mich zerrinnen,


Mir entfliehet die Gestalt,
Steigt in meine tiefsten Sinnen
Schon die Hölle schwarz und kalt.« (ebd.)

Das ist eine Reflexion und also selbst eine Thematisierung von
Zeit. Aber sie findet doch andere Töne als Epimetheus. Ohne kunst-
volle Enjambements, viel weniger kunstvoll überhaupt, fließen die
Zeilen dahin. Der syntaktisch unklare Anschluß der 3. Zeile hat et-
was wirklich Beunruhigendes: ein fehlendes Wort indiziert das
Tempo der Empfindung. Eine Phase scheint übersprungen zu sein,
wie oft bei Tieck. Und endlich ist, anders als bei Goethe, die Thema-

399
tisierung der Zeit und der Auflösung der Form wirklich zugleich
eine Thematisierung der Tieckschen Poesie, die durch die Erfahrung,
welche sie unermüdlich gestaltet, selbst gefährdet ist.

Die Auflösung der Form

Tieck ist der einzige Vertreter der Frühromantik, in dessen Werk


ein verändertes poetisches Selbstverständnis Konsequenzen für die
Form der Dichtung hatte; ein Anspruch, den wir mit Rücksicht auf
Fr. Schlegel und Novalis nur sehr begrenzt werden gelten lassen
können. Nicht nur das; Tiecks Auflösung der Form ging weiter als
alles, was seine unmittelbaren Nachahmer an Formexperimenten
wagten. Weder Brentano noch Eidiendorff haben die Sprache so
aufgelockert, so extrem verflüchtigt wie Tieck; nirgendwo ist so sehr
wie bei ihm die Zeiterfahrung Stil geworden. Aber diese einstige
Progressivität geriet seiner Lyrik zum Verhängnis. Was einmal als
der am weitesten sich vorwagende Ausdruck einer universalen Re-
lativitätserfahrung gelten konnte, hatte in seiner Zeit keine wirk-
liche Nachfolge. Der französische Symbolismus schloß kaum an
Tieck an; gewiß nicht an das, was wir als das Progressive an seiner
Dichtung herausstellten. Das späte 19. und die erste Hälfte des
20. Jahrhunderts versperrte sich durch die bekannte pauschale und
unfruchtbare Polemik die Möglichkeit, von Tieck zu lernen. Und als
sich endlich das Bewußtsein so gewandelt hatte, daß Tieck auf eine
Renaissance hoffen durfte, waren die Potentialitäten seiner Lyrik
von der Kunst der Gegenwart bereits ausgeschöpft; und man emp-
fand als »obsolet«213 und als »Klamotte«214, was nie die Chance
gehabt hatte, in seiner Progressivität sich vorzustellen. Wir statuie-
ren ein literarhistorisches Versäumnis an Tieck.
Die Kenntnis selbst neuerer Publikationen über Tieck läßt freilich
daran zweifeln, ob dieser Dichter wirklich so überholt ist. Man er-
regt sich noch immer über Stilmerkmale, von denen man glauben
sollte, sie seien als Kriterien moderner Dichtung anerkannt. So sieht
G. Kluge215 eine der »Schwächen« von Tiecks Lyrik ausgerechnet
in der »Auflösung der Metaphorik und Bildersprache«.216 Wo aber,
wie wir zeigten und wie noch Sartre wiederholt hat, der Gehalt
»das Absolute« selbst ist, das in keiner bestimmten Gestalt darge-
stellt werden kann, so daß alle Form zur Selbstaufhebung gedrängt
wird, muß eine statische Metaphorik und Bildersprache eine Har-
monie, eine Ubersetzbarkeit der Zeichen simulieren, die ihr schlech-
terdings nicht zukommt. Bei Tieck beginnt sowohl die Brechung des
lyrischen Melos, als auch jene Unbestimmtheit der Sprache, die gele-
gentlich ans Unverständliche, nicht mehr Übersetzbare streift; einer

400
Sprache, die kein konkretes Ding mehr zum Stern ihrer Wahrheit
machen kann und der darum »die Gestalt entflieht«, weil die mensch-
liche Existenz in sich selbst als substanzlos erfahren, weil ihre Sub-
stanz die Freiheit ist. Deren vergegenständlichter Ausdruck ist eben
das Widersprüchliche und Ironische der Dichtung, welche Tieck mit
dem »Gemüth« in eins setzt, nicht aber, wie Kluge und seine Motti
suggerieren wollen (und wie es die Staigerschule bis heute wieder-
holt hat), mit dem Individuum. Subjektiv ist nicht individuell. Das
Zitat Christian Gottfried Körners (Brief an Schiller), »das Herz
fordere ein Bild von der Phantasie«, die Poesie dürfe nicht »in einer
gestaltlosen Unendlichkeit« schweben, darf von einem Historiker
der Literatur nicht gegen Tieck angeführt werden, da die Verständ-
nislosigkeit der älteren Generation gegenüber diesen neuen Tönen
die dialektische Diskontinuität des Epochenwechsels, eine geschicht-
liche Wende bemerkbar macht, deren Auswirkungen wir noch nicht
überschauen können, weil wir offenbar noch betroffen sind. Das
Hilfesuchen bei Autoritäten macht Kluges Kritik nicht gewichtiger,
sondern zeigt, daß er das historische Novum nicht erkennt. Daß
»künstlerische Formgebung«217 des Gedichts eine »Notwendigkeit«
sei, gilt nur unter der hermeneutisdien Voraussetzung eines die
»Form« ermöglichenden Selbstverständnisses des Dichtenden und
bleibt in Kluges Mund ein unausgewiesenes Vorurteil.
Tatsache ist, daß die Jenaer Allgemeine Literaturzeitung (1799,
Bd. 1, Nr. 71, 566) auf die Sternbald-Gedichte Tiecks analog rea-
gierte wie nachmals die Journale auf Richard Wagners »unendliche
Melodie« und wie später auf Schönbergs strengen Satz. Statt Ver-
sen wollte man »vielmehr Reime ohne Metrum noch Wohlklang«
finden. Bedenklicher, weil gewiß nicht aus dem üblichen Unver-
ständnis einer Zeit für das Neue motiviert, stimmen die bald neidi-
schen, bald warnenden Töne der Brüder Schlegel. Friedrich findet
doch manches »etwas schnell und liederlich« gemacht218, er, der
»die leichteste Art der Lieder« (KA XIX, 273, Nr. 76) sich selbst
als poetisches Postulat aufgibt und Tiecks merkwürdige große Ro-
manze (Ged. 1, S. 22-50) einfach »göttlich« findet.219 August Wil-
helm, der »ein Stück von meiner Seligkeit« (Jena, 7. 12. 98, an
Tieck) verkaufen möchte, um »das Weinlied des Florestan« oder
»das von den Zugvögeln« . . . »gemacht zu haben«220, bittet Tieck
um ein paar Romanzen oder »freye Lieder«, wie er sie nennt
(Braunschweig, 23. 11. 1800). Er müsse sich »an keine Form aus-
schließend binden« (23. November 98, Jena). Aber da sind auch die
ersten Warnungen: »Manchmal sind Sie mir in der Regellosigkeit
des Sylbenmasses zu weit gegangen« (Jena, 7. 12. 98).
Nicht ohne Amüsement liest man die Streitereien über die Redak-
tion des gemeinsamen Musenalmanachs. Ständig schickt der pedan-

401
tische Wilhelm Tadel an Tieck wegen zu großer Liberalität im
Austausch von Wörtern im Gedicht und zu weit getriebener poeti-
scher Lizenzen. Tieck aber ist auf eine komische Weise unbeküm-
mert über die dicksten Schnitzer im Drucksatz. »p 7«, schreibt Tieck,
nicht aus eigenem Antrieb, sondern den lästigen Mahnungen statt-
gebend, »steht in der 3ten Strophe Licht und Liebe, wo ich schrieb
Furcht und Liebe, (Gottesfurcht) dies«, fügt Tieck hinzu, »geht aber
an« (an Wilhelm, Dresden, Sept. 1801). Ähnlich war im Gedicht
>Der neue Frühling< (Ged. 1, 7 ff.) ein »plötzlich« durch ein »kläg-
lich« verändert (an A. W., Berlin, Okt. 1798). Tieck vermerkt das -
und hat es noch bei seiner eigenhändigen Gedichteredaktion (Jahr-
zehnte später) nicht der Korrektur lohnend empfunden.221 Seine
Kommentare lauten: »Aber wie gesagt, laß nur alles, es macht sonst
so viele Umstände« oder: »Es thut auch nichts« (Dresden, Sept.
1801). Tiecks Sonette lobt Wilhelm als »göttlich« (Berlin, 30. Juni
1801), tadelt aber das Gedicht >Einsamkeit< (Ged. 1, 105 ff.) wegen
der intransitiven Verwendung von »neigen« und der Verwendung
der Adverbform »-lieh« im adjektivischen Sinne. Endlich habe
Tieck es mit den Assonanzen »eu« und »ei« »zu lax genommen«. Da
ist eine Warnung Friedrichs: »Nimm Dich nur in Acht, Deine Poesie
nicht zu sehr zu zersplittern« (Paris, 25. 9. 1802). Und Wilhelm
erteilt eine ernstliche Ermahnung bei Gelegenheit eines Verses aus
der großen Romanze. Da heißt es (und Ähnliches gibt es oft bei
Tieck):
»Daß wir leben, sind wir Sünder,
In dem Tod die Lilienblume.«
»Die eine Stelle«, rügt der gewissenhafte Freund, sichtlich verär-
gert, ohne einen Tadel über die Mühe zu unterdrücken, die er »bey
der Enträthselung dieser seltsamen Chiffren«, Tiecks Handschrift
nämlich, gehabt habe, - »Die eine Stelle habe ich so construirt:
>Wir sind Sünder, daß (damit) wir in den Tod die Lilienblume
lieben.< Wie du die Lilienblume construiren willst, wenn du leben
schreibst [das war eine Korrektur Tiecks am Aushängebogen], kann
ich mir aus dem Gedächtnisse gar nicht vorstellen. - Kurz, du wirst
künftig wohl mehr Sorge anwenden müssen . . ., daß du selbst deine
Produkte nicht so straußenähnlich verwahrlosest« (Jena, 17. Sept.
1801).
Was entgegnet Tieck auf solcherlei Vorwürfe? »Der strengste Ri-
gorismus ist nur die einzig würdige Art, die Kunst zu behandeln«,
schreibt er (an A. W., Berlin, Dez. 1800). Was aber die gerügten
Mißgriffe und Hudeligkeiten betrifft, so verteidigt sie Tieck zu un-
serem Erstaunen, der Reihe nach, mit der Geste des souveränen Li-
teraturkenners und -kritikers. Und die »vorgeschlagenen Verbes-
serungen« für die Minnelieder weist Tieck mit gleichzeitigem

402
Punkt-für-Punkt-Nachweis von Wilhelms Irrtümern zurück (vgl.
den dritten Brief aus Dresden, Sept. 1801, und Brief Ziebingen,
30. 5. 03). 222
Nun, Wilhelm hat künftig geschwiegen. Es ist eine merkwürdige
Tatsache, daß dieser gründlichste Kritiker der sogenannten Goethe-
zeit, dem Goethe seine Hexameter zur Verbesserung vorlegte, dem
leichtfertigen Tieck - von der aus verletzter Eitelkeit motivierten
Reaktion bei Gelegenheit der Shakespeare-Korrekturen abgesehen
- nie wieder am Zeuge geflickt hat.
Was Tieck ex tempore an Argumenten und Vergleichstellen vor-
tragen konnte, wann immer er wegen poetischer Lizenzen angeklagt
wurde, ist beachtlich und war seinen Kritikern von jeher fatal. An
Devrient breitet er, mit beiläufiger Geste, eine so erstaunliche
Kenntnis und Musikalität in der Behandlung von Versmaßen und
Tonqualitäten aus, daß keiner annehmen wird, es habe nicht langer
und eingehender Studien im Stillen dazu bedurft. So bittet er sich
von A. W. Schlegel aus: »Laß mir meine Art, ich bin nie müssig, es
ist mir von Gott verliehen, immer im Gemüth beschäftigt zu sein,
ich weiß, was ich lerne und anschaue: du lernst mit der Feder, oder
mit einem Buche in der Hand, ich habe dies nie an dir verachtet, sei
eben so billig gegen mich« (Dresden, Juni 1801). So kritisiert er um-
gekehrt Schlegels Gedicht >Fortunat<, und hierbei tritt »sein Stand-
punkt« zutage: In Wilhelms Gedicht sei das »Wunder, Grauen«,
das »uns unmittelbar mit dem Universum auf dunkle Weise ver-
knüpfen soll«, bloß behauptet; sein »Warum« erklärt, statt als
Stimmung präsent. Aber »es liegt in diesen Romanzen und Sagen
etwas Tieferes zum Grunde, welches alles tingiren muß, und welches
ich fühlen muß, ehe ich noch das Warum und Wie verstehe: dieses
Warum... ist für mich [in Deinem >Fortunat<] nur scheinbar, es
fehlt ihm der innerste Zusammenhang«. Und wenn Wilhelm dies
Gedicht für besonders gelungen halte, nur weil er die größte Sorg-
falt darauf verwendet habe, so sei er gern erbötig, des Freundes
Selbstverständnis »psychologisch [zu] erklären«, »ohne so sehr in
die Irre zu gerathen«. Die meiste Mühe, die strengste, künstlichste
Form ist noch nicht die wirkliche Erscheinung des tiefen Gefühls -
und »jeder Dichter« muß sich, weil er äußerlich den nur von ihm
gefühlten Gehalt zur objektiven Form hinzuträgt, »über sein bestes
und schwächstes Werk irren können« (ebd.).
Diese Kritik ist für Tiecks »Standpunkt« sehr aufschlußreich. Sie
reimt sich zu seiner Theorie des Wunderbaren: Das Gedicht muß
so »unmittelbar« - auf die Verwendung dieses Ausdrucks haben
wir achten gelernt - aus der Stimmung, die sein »Grund« ist, über-
tragen sein und auf die Stimmung wirken, daß der Verstand erst
urteilt, wenn das Gemüt bereits gestimmt ist. Ist aber die Formung

403
in erster Linie eine Leistung des Verstandes, so wird, um der Wirk-
lichkeit des Gefühls willen, die Form weitgehend entbehrt werden
müssen. Die Wirklichkeit ist diesseits der Form.
Sie entzieht sich also prinzipiell der Darstellung? Wäre das so,
dann wäre nicht Wirklichkeit die in die Totalität eingebildete Un-
endlichkeit, das »Chaos«, als welches romantische Theorie sie be-
greift. Im Begriff der unendlichen Fülle< liegt ein Widerspruch -
wenigstens für den Verstand.
Auch die dargestellte >unendliche Fülle< muß in Form gerinnen,
wenn sie nicht Nichts sein soll. Das unmittelbarste Gefühl, verlangt
Tieck, muß zu »Form« erstarren, die »auch im leichtesten Gedan-
ken . . . eine Nothwendigkeit« ist (an Solger, Zib., 29. Juli 1816).
Die postulierte Formlosigkeit hat ihren Grenzwert in der Absolutie-
rung der Formlosigkeit. Mit der Annäherung an diese Grenze ver-
flüchtigt sich der Widerspruch zur Form. Schelling beschrieb das, in
seiner Philosophie der Kunst, wie folgt:
»Die Grundanschauung des Chaos liegt in der Anschauung des Absoluten.
Das innere Wesen des Absoluten, worin alles als eins und eins als alles
liegt, ist das ursprüngliche Chaos selbt; aber eben auch hier begegnen wir
jener Identität der absoluten Form mit der Formlosigkeit; denn jenes
Chaos ist nicht bloße Negation der Form, sondern Formlosigkeit in der
höchsten und absoluten Form, sowie umgekehrt höchste und absolute Form
in der Formlosigkeit: absolute Form, weil in jeder Form alle und in alle
jede gebildet ist, Formlosigkeit, weil eben in dieser Einheit aller Formen
keine als besondere unterschieden ist.« (Ph. der Kunst, 109)

Absolute Form ist in der endlichen, in die Differenz eingebildeten


Sprache nicht möglich - alle Form ist Form-in-der-Differenz.
Wohl aber lassen sich in der endlichen Form selbst Zeichen anbrin-
gen, die sie als endliche destruieren — durch die Leichtigkeit der
Behandlung, die, nennend, zugleich mehr meint, als sie nennt und
nennen kann. Indem Sprache der Tendenz nach >Alles< darstellt,
nähert sie sich dem Umschlagpunkt der Formlosigkeit in absolute
Form. Es gilt also, zwei Widersprüche zu vermitteln: Ein unend-
licher Inhalt soll in endliche Form gebracht werden: die endliche
Form soll sich zerstörerisch gegen ihre eigene Endlichkeit richten,
um das Bewußtsein der Unangemessenheit an ihren Inhalt mitdar-
zustellen. Sie soll geformte Formlosigkeit sein.
Das »arrangierte Chaos«223 ist eine ästhetische Aufgabe, die an
die Formkraft eines Dichters höchste Ansprüche stellt. Die Überwin-
dung der strengen Form in der Form selbst ist paradoxerweise das
am schwersten zu Formende; gerade deshalb, weil sie ihr Chaos
arrangiert, muß sie die klassizistische Form zu einer Ausdrucks-
fähigkeit verfeinern, die in zweifacher Vermittlung ein Undarstell-
bares nicht darstellt, aber bedeutend zur Präsenz bringt. Vor diesem

404
Anspruch hält ein großer Teil der Tieckschen Lyrik nicht stand; und
es ist vermutlich diese A r t von »Leichtfertigkeit«, die Friedrich
Schlegel rügt. Er tadelt nicht die zu weit getriebene Verflüchtigung
der Sprache, sondern die zu leichtfertige W a h l von Worten oder
Reimen, welche die doppelte Aufhebung nicht leisten, also die Spra-
che nicht verflüchtigen, sondern im Gegenteil störend auf H ä r t e n
aufmerksam machen. Das Ideal einer Modulation, welche sich
ihren Rhythmus u n t e n a n macht, macht die alltäglichen Wortbedeu-
tungen vergessen: Das Gemüt ist durch die Melodie der Verse bezau-
bert, die Banalität einzelner Wörter ist durch eine subtile Ausschöp-
fung der Klangqualitäten im Kontext so geschickt gebannt, daß wir
diese Wörter nicht fixieren noch Zeit haben, sie »banal« zu finden.
Einige der Mageionenlieder leisten diesen Effekt, u n d andere Ge-
dichte Tiecks kommen dem Ideal wenigstens sehr nahe. Äußerst
raffinierte lyrische Gebilde wie >Der Minnesängen scheitern aber,
wo nicht durchaus, so in einzelnen Strophen:
»Alle Blüthen sind verstreuet,
Grünen
Möchte Laub und Gras so treulich,
Blumen möchten seyn erfreulich,
Doch das Jahr ist schon entzweiet;
Und erschienen
Ist der Sommer mit den Früchten,
Nachtigall sieht alles reifen muß in andre Frühling' flüchten.«
(Ged. i, 157)
Man erkennt Tiecks Absicht, durch Auswertung der Klangquali-
täten eine am gemeinen Sprachgebrauch orientierte semantische Re-
flexion zu verhindern. Aber die Silben »treulich«, »erfreulich«,
»entzweiet« und »Frühling« haben zu viel Gewicht, d. h. sind zu
wenig flüchtig, um die aufdringliche Wortbedeutung glatt überlesen
zu machen. Wir stolpern gleichsam über H ä r t e n , die die Wirkung
der Melodie paralysieren - welche übrigens auch im Rhythmus nicht
so leicht und so anmutig verwirrend dahinfließt wie etwa die 6. und
8. Strophe. Auch hier gibt es H ä r t e n , aber als Annäherung an ein
fast nicht angemessen zu verwirklichendes Ideal werden wir die ge-
lungene P r ä d o m i n a n z der Modulation anerkennen:
»Darum pflückt die Garten-Sterne
Sinnend
Gern das liebesschwangre Herze,
Trägt sie wie die glimmende Kerze
Still behutsam nur so ferne,
Daß sie brennend
Des Geliebten Hand mag fassen,
Und der lächelt in die Flamme, die am Abend muß verblassen.
(...)

405
Also muß ein liebes Singen
Innig,
Wie es flüchtig geistig schwebet,
Kaum bewußt sich, daß es lebet,
Das geliebte Herz durchdringen:
Ach, das bin ich!
Klagt die Seele in die Töne,
Um so kürzer euer Leben, um so mehr nur hold und schöne.«
(a.a.O., 159 und 160)

Unangemessene Wortverbindungen, merkwürdige Verstellungen,


unangebrachte Adjektive, Auflösung der regelrechten Syntax - lau-
ter Merkmale, die in der gleichen Verwendung für die Alltags-
sprache auffallen müßten, sind in diesen Strophen z w a r nicht gänz-
lich unauffällig; wir werden aber gerechterweise zugestehen, daß
die Modulation u n d der Rhythmus sie erfolgreich niederhalten und
das Gehör auf das hin lenken, was nicht gesagt, sondern >bedeutet<
ist. Aber in ihrer Banalität entblößt stehen die Wörter der folgen-
den Zeilen d a :

»Wie flücht'ge Augenblicke


Mein Glücke!
Wie lange, lange Dauer
Der Trennung düstre schwere Trauer! -
Zurück zu kehren
Und dich entbehren!«
(Ged. 1, 142)

H i e r bringt selbst die häufige Wiederkehr des Reims nicht zu-


stande, was die Absicht der Zeilen ist: die semantische Realität eines
bloß gesagten Abschieds durch die Musikalität einer immateriellen
Form zu ersetzen. U n d dergleichen Verse sind bei Tieck nicht selten.
Es gibt Fälle, w o die Gewichte von Semantik und Form (Melo-
die und Rhythmus) einander in die Schwebe bringen:

»O Thränen,
Du himmelsüsses Sehen,
Verdunkelt doch die Augen mein,/
Daß ich den Frühlingsglanz nicht sehe,
Mir wird von Pracht und Farbenschein
Im Herzen gar zu wehe.«
(a.a.O. 170/1)

oder:

»Siehst du die Sonne nicht


Glänzen im Bach?

406
Wo du bist, spielt das Licht
Freundlich dir nach.«
(I. 789)
oder:
»Drängt sich nicht mit stillem Licht der Chor
Aller Sterne, ihn zu sehen, vor?«
(I. 790),
Verse, die freilich nur im Kontext zu lesen sind, weil die H a r m o -
nie ihres Rhythmus nur vor dem disharmonischen Hintergrund
ihrer kontextualen Bindung auffällig wird. Wir verlieren den In-
halt nicht aus den Augen, und doch konzentriert die bloße Melodie-
führung ein gewisses Interesse auf sich.
Es schwebt als Gefährdung über Tiecks Lyrik, daß sie die strenge
Form nicht durch eine äußerst verfeinerte Artistik der Formlosig-
keit, welche ihre immanente Form sich gegen sich selbst wenden
läßt, ersetzt, sondern zu oft durch eine nur zur Schau getragene
Indifferenz gegen das endliche Medium der Sprachmaterialität. Es
sieht so aus, als beflügle die poetische Begeisterung Tieck nicht
immer dazu, dasjenige, was er für höher als Poesie erkennt, in der
Poesie und mit poetischen M i t t e l n - d . h. ironisch-zu >bedeuten<. Die
Poesie scheint solcher Mühe nicht wert. Unter Versen von einer in
der deutschen Literatur seltenen Federleichtigkeit finden sich Ge-
bilde von ungekannter, fast möchte man sagen >unpoetischer<
Sorglosigkeit:
»Das Rädchen Bald seh' ich Seen
Dreht munter Wenn's Rädchen surrt,
Das Fäddien So wie es schnurrt
Hinunter: Erscheinen Feen.
Wo weilst du Und Er geleitet
O Lieber, Ist unter ihnen:
Was eilst du Wie stolz er schreitet!
Fern über? Ihm Geister dienen.
Und sinn' ich Tagelang Dann fliegt er fröhlich
Und spinn ich Wochenlang, Durch Abendröthe,
Bist du mein einziger Gedank. - Es tönt so selig
Die Schäferflöte:
Dann wünsch' ich Schwingen
Zu ihm zu fliegen,
Aufwärts zu springen
In Wolken die Flügel zu wie-
gen.«
(10, 79/80)
M a n k a n n die Banalität der Zeilen, die Zersetzung der Syntax,
den bedenkenlosen Reim, die Mühelosigkeit der Komposition nicht
verurteilen, ohne zugleich verwundert zu gestehen, d a ß sich die

407
Sprache bis zur augenblicklichen Verdunstung entkörperlicht: Zu
einem Ohr, wie man sagt, herein, zum anderen hinaus kommen und
schwinden die Töne - wie eine Täuschung des Gehörs. Infolge
einer Verwischung der wesenhaften Differenz von perzeptivem und
imaginativem Bewußtsein haften sie nur flüchtig in der Erinnerung.

Übermacht des Wirklichen

Es liegt ein verkannter Anspruch in jenem Ärgernis, welches


Tiecks Dichtung für die Literaturgeschichte darstellt. Der Anspruch
ist die Behauptung, es sei um der Wahrheit der menschlichen Wirk-
lichkeit willen, daß Form als Lüge denunziert wird. Tieck aber
weicht dem Vorwurf, er könne die Form nur in ihr selbst, bedeu-
tend, nicht aktualiter zerstören, komme also zu keiner Alternative,
dadurch aus, daß er sein Desinteresse an dem erklärt, was in der
Dichtung selbst Sprache ist. Vor dem, was in der Poesie Bedeutetes
ist, verstummt die Dichtung. Seine intimen Briefe hat Tieck zu ver-
nichten angeordnet. Das ist nichts Außergewöhnliches. Verwunder-
lich ist aber die heitere Geste, mit welcher Tieck eigene Werke für
»verloren« erklärt. In Erzählungen hatte Tieck, wie Zeitgenossen
berichten, das nie wirklich vollendete Lebenswerk, sein »Buch über
Shakespeare«, fertiggestellt - es blieb zeitlebens ein Produkt seines
Geistes, das nicht schriftlich fixiert wurde. Die Unbekümmertheit
gegen die schriftliche Form seiner Werke reimt sich endlich zu der
Erfahrung eines Menschen, der im Sprechen den illusorischen Ver-
such erkannte, mit Schattenhänden Scheinbilder zu haschen. Es gibt
nichts Substantielles, es sei denn als Ziel einer Vernichtung des Nich-
tigen.
Vor dem, was im >Erlebnis< sich immer verbirgt, muß auch die
größte Annäherung an das, was Tieck das »Innerste, Unmittelbare«
nennt, sich in ihrer Nichtshaftigkeit, in der gemeinen Existenz, in
welcher sie »weder etwas noch nichts ist«, aufheben. Die sprachlich
gestaltete gemeine Wirklichkeit, darin stimmte Tieck mit Solger
überein, ist »eben bloß der Schatten, den das Wesen in seinem ge-
trennten Dasein auf sich selbst wirft, und auf welchem wir, wie auf
einem Rauch, das Bild des Guten und des Bösen hinwerfen kön-
nen« (Solger an Tiedc, 345/6). Auf dasjenige, in welchem sich ne-
gativ die ihm zugrundeliegende Einheit ankündigt, kann es nicht
ankommen, weder im Leben noch in der Dichtung. »Darum fühlen
wir, daß das Zweckmäßige, Besonnene, Vernunftmäßige in uns also
nicht das Beste ist, sondern das, worin wir augenblicklich ganz ent-
halten sind, und uns als reflektirende Wesen ganz verlieren«, d. h.
nicht mehr reflektierend uns verhalten. »Dieses ist eben, worauf

408
allein Kunst und Religion beruhen« (a.a.O.). Das ist ein unerhörter
Anspruch. Dasjenige, das »selbst in uns Existenz angenommen und
sich dadurch von sich selbst geschieden hat« — wir erleben es im
Ereignis des Selbstbewußtseins in jeder aufmerksam erlebten Se-
kunde — ebendasselbe können wir nur »durch Selbstaufopferung«
alles in uns Endlichen zu sich selbst befreien - selbst dann, wenn wir
uns des Mediums der Kunst bedienen, d. h. des höchsten Ausdrucks
unverfüglichen Selbstseins.
Die Kunst meint sich in solcher Erfahrung nicht selbst. Sie ver-
läßt damit die gewöhnlichen Maßstäbe der Kunstkritik, um die sie
unbekümmert ist. Sie vollzieht in Tiecks Werk ihre Selbstaufhebung
auch ohne testamentarische Verfügung. Ihre Sprache hat den vor-
dringlichen Zweck, sich selbst überflüssig zu machen, mit Worten
ihre Machtlosigkeit vor der Wirklichkeit zu demonstrieren. In der
»Anmut des Vergänglichscheinens« ist Tiecks Dichtung nicht über-
troffen worden. »Aber alles Leichte«, sagt Schelling, »ist an sich ver-
dächtig« (I, 8, 132). Die Nachwelt hat Hawthorne's Wort recht
gegeben: »All merely graceful attributes are usually the most
evanescent« (The Custom House).
Tiecks Dichtung erreicht in ihren besten Produkten den Stand-
punkt der bedeutenden Ironie. Auf ihm verwandelt sich die Anmut
der Selbstaufhebung in die sichtbar gewordene Wahrheit unserer
Zeitlichkeit. Und in dem Maße, wie sich abstrakte Künstlichkeit in
ihr negiert, macht Tiecks Dichtung geltend, daß sie »nicht blos ne-
gativ, sondern etwas durchaus Positives« ist (Köpke II, 238). Die
Kunst als ein Abstraktum ist am Ende. Es geht um den Sinn ihrer
Vorläufigkeit.

409
ANMERKUNGEN

EINLEITUNG
1
Auf die Einfügung eines Kapitels über Schellings Theorie des Zeitbe-
wußtseins und der Zeitlichkeit konnte in der vorliegenden Arbeit ver-
zichtet werden. Denn wenngleich Schelling unter allen idealistischen
Systementwürfen die bestdurchdachte und vollkommenste Theorie
der Zeit anzubieten hatte, so ist doch mit Grund einzuwenden, daß
sie in weit äußerlicherer Beziehung zur poetischen Praxis entstanden
ist, als man das von Solgers, Schlegels und Novalis' Theorien nach-
weisen kann. Tieck selbst erklärte die von Schelling behauptete Nähe
von dessen Philosophie zu seiner Dichtung für unverständlich. -
Trotzdem werden wir uns im folgenden häufig der klaren Schelling-
schen Distinktionen bedienen. Schellings Entwurf einer systematischen
Zeitphilosophie steht überall im Hintergrund unserer Darstellungen.
2
Vgl. die Arbeit von Hans Robert Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcel
Prousts »A la recherche du temps perdu*, Heidelberg 1955 ( = Hei-
delberger Forschungen, 3. Heft). Reichliche Literaturangaben in einer
kürzlich erschienenen Arbeit von Jochen Vogt, Struktur und Konti-
nuum. Über Zeit, Erinnerung und Identität in Hans Henny Jahnns
Romantrilogie »Fluss ohne Ufer*. München 1970.
8
Staiger begeht den gravierenden und mit romantischem Selbstverständ-
nis unverträglichen Fehler, die aus Heideggers Kant-Interpretation
(M. H., Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt a. M.
1956') bekannte Gleichung von Einbildungskraft und Zeit [qua
»transzendentaler Urstruktur des Menschen überhaupt«, »innerstem
Wesen des Selbst« (E.S., Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters,
Zürich 19633, S. 74)] mit der einer poetischen Individualität imprä-
gnierten »Art« zu identifizieren (a.a.O., 73), in welcher sie »die Welt
sieht, bevor ein Gegenstand da ist«. Diese Verwechslung von tran-
szendentaler »Einbildungskraft« und individueller »Phantasie« wider-
spricht nicht nur Kants eindringlicher Differenzierung (vgl. z. B.
§ 25 ff. der Anthropologie), sondern korrumpiert Staigers Roman-
tikbild auf die bekannte Weise (vgl. S. 57/8 seines Buches Friedrich
Schiller, Zürich 1967). Wir indizieren diesen Fehler, den der letzte
Abschnitt seines Kleistaufsatzes (in: Meisterwerke deutscher Sprache
aus dem neunzehnten Jahrhundert, Zürich 19614, S. 117) sowie sein
Beitrag in Martin Heidegger im Gespräch (hg. von R. Wisse, 1970)
wiederholt haben, hier nur, um die Alternative durch unsere eigne In-
terpretation herzustellen.
3a
Vgl. die »philosophischen Raisonnements« von Sinclair, soeben publi-
ziert von Hannelore Hegel (Isaak von Sinclair zwischen Fichte, Höl-
derlin und Hegel. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der idealisti-
schen Philosophie [= Philosophische Abhandlung Bd. 37], Ffm. 1971,
S. 243/4 «.)•
4
Vgl. § 81 Bd. 1 der Ideen . . ., Husserliana Bd. III, S. 196 ff.
4a
Vgl. Klaus Held, Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise

410
des transzendentalen Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden
der Zeitproblematik (Diss. Köln 1962), Den Haag 1966.
Husserl hat dies absolut vorauszusetzende, sich selbst übernehmende
Bewußtsein »Erlebnis« genannt. Sartre hat in seinen jüngsten Publika-
tionen die Kategorie des »vecu« entwickelt.
Vgl. Th. S. Kuhn, Die Strukturen wissenschaftlicher Revolutionen,
Ffm. 1967.
Friedrich Schleiermachers Dialektik. Im Auftrage der Preussischen
Akademie der Wissenschaften auf Grund bisher unveröffentlichten Ma-
terials hrsg. von Rudolf Odebrecht. Leipzig 1942; vide S. 270-314
(hinfort zitiert: Dialektik, ed. Odebrecht).
• Den prinzipiell theologischen Charakter unverfüglichen Selbstseins hat
vorzüglich H.-G. Gadamer hervorgehoben (Zur Problematik des
Selbstverständnisses, in: Einsichten. E. Krüger zum 60. Geburtstag,
Ffm. 1962, S. 81/2).
Vgl. zum ganzen Problem Dieter Henrich, Über die Einheit der Sub-
jektivität, in: Philosophische Rundschau III, 28-69.

FRIEDRICH SCHLEGEL

» »Ein Objekt setzen, und - sich selbst nicht setzen, ist gleichbedeu-
tend« (I, 193). Es ist kein Zufall, daß Fichte in der Folge das Activum
»Setzen« nur noch für die Ding-Konstitution verwendet, während aus
dem für-sich-selbst-luciden »Sichsetzen« das Passivum »Eingesetztsein«
wird (»Kraft, der ein Auge eingesetzt ist«; Fichte XI, 18; II, 19, 37,
249; IV, 33; vgl. Dieter Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, Frank-
furt a.M. 1967, 25 ff.).
8
»dessen Dasein . .. immer vorauszusetzen ist«, wie immer es sein We-
sen bestimmen möge (1. Einl. in die WL., 14, vgl. 116; Kursivierung
von mir). Die präkategoriale Einheit des Seins mit dem Wesen im
Selbstbewußtsein folgt aus dem »ontologischen Beweis« (vgl. Schel-
ling, I, 1, 168/9), Anm. 1; Fichte I, 1, 97/8).
8
In der Wissenschaftslehre von 1804 unterscheidet Fichte wesentlich dif-
ferenzierter das »reine Wissen« oder »Wissen an sich«, als Einheit von
Subjekt und Objekt, vom »Bewußtsein, das stets ein Sein setzt und
darum nur die Eine Hälfte ist« (Janke, 28, 82, 87). Diese Unterschei-
dung ist in den Jahren vor 1801 wesentlich eine Leistung der Roman-
tiker gewesen. Schleiermacher kennt sie expressis verbis. Man hält sie
heute gern für eine Entdeckung der transzendentalen Phänomenologie.
Aber schon Fr. Schlegel schreibt mit aller Deutlichkeit: »Jede Vorstel-
lung ist die Vorstellung von etwas, also das Denken eines Gegenstandes,
welcher gedachte Gegenstand von dem denkenden Ich verschieden ist.
Jede Vorstellung hat also einen Gegenstand außer dem denkenden Ich,
oder ein Nicht-Ich, und kann daher nur beschränkten Wesen beigelegt
werden« (KA XIII, 228; ebenso Fichte II, 13-15). Zugleich gewahrt
das Ich sein Vorstellen anderer Dinge, derart, daß dies Gewahren
ȟberhaupt nie Gegenstand eines sinnlichen Eindrucks oder einer

411
eigentlichen Erfahrung sein« kann. Durchs Gewahren ist das Gegen-
standsbewutßsein sich selbst lucide im Bewußtsein seiner als zugleich
und vor allem (unlösbar) auf Objekte bezogen (KA XII, 327; 140).
(Über das relative Nichtsein des Selbstbewußtseins gegenüber dem
durch es thematisierten »Seyn« vide Schelling I, 10, 303/4 u. ff.; II, 1,
288 f.; II, 3,295/6, Z. 1 ff.; ebenso Schellings Theorie des jedem Bewußt-
sein-wn-etwas impliziten Selbstbewußtseins (»Mit-Bewußtseyn-Wis-
sen«; I, 6, 510; vgl. 508-512). Das objektive Erkennen ist zumal »der
Begriff des unendlichen Erkennens«, d. h. »unmittelbar wieder ein Wis-
sen dieses Wissens« (a.a.O., 173). Hegel hatte diese Einsicht Schellings
nur zu zitieren (G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, ed.
J. Hoffmeister, Hamburg 19526, S. 72, Z. 12-15).)
4
Schellings Kritik scheint restlos akzeptiert im Theorem der Reflexions-
negation von 1804, vgl. Janke 77. Vgl. dort die Ausführungen über die
Vernichtung des Für-sich vor dem An-sich, das nun nicht mehr ent-
gegengesetzt ist.
5
Schelling hat diese seine Fichtekritik 1804 wiederholt (I, 6, 122 ff. (bes.
126 ff.), 143-5).
• Übrigens hat Schelling die Idee vom »Schematismus der Zeit« - am
Beispiel der Vermittlung von »Naturgesetz« des endlichen (von sich
selbst getrennten) Ichs mit dem »Moralgesetz« (als Forderung nach
Identität) - schon 1795 konzipiert (vgl. I, 1, 177 [§7, 2. Abschnitt],
180, 199-209, 232 ff.) und im System des transzendentalen Idealis-
mus weiter ausgeführt.
7
Vgl. KA XII, 156: »Sie [die Idealisten] geben der bedingten Ichheit
den Vorrang vor der unbedingten«,... usw.
8
Vgl. KA XII, 474/5: »Jede Philosophie, die über das Wirkliche hin-
ausgeht, ist transzendent. - Es ist hiemit aber nicht das gemeine, em-
pirische Wirkliche gemeint, sondern das höhere Wahre und Reale, das
unendliche Welt-Ich. Nicht das Notwendige ist Gegenstand der Philo-
sophie, als insofern das Wirkliche selbst notwendig ist. - Ist nur das
Wirkliche Gegenstand der Philosophie, gibt es nur ein einzig Wirk-
liches, und ist das Wirkliche/ zusammen nur eins, so darf man auch
nur eine einzige Welt annehmen. Wir haben zwar von einer himm-
lischen und einer irdischen Welt gesprochen, aber alles das sind nur ver-
schiedene Sphären, nur Teile des einzigen Weltganzen.« - Freilich
bleibt dies notwendig ein negativer Begriff von Totalität, wie Schlegel
an zahlreichen Stellen seiner Kölner Vorlesungen beteuert, und recht-
fertigt keine Hegelianisierende Interpretation. Zur Immanenz des
Schlegelschen Philosophierens gehört auch die Bevorzugung der »un-
endlichen Fülle« vor der »unendlichen Einheit« - die empirische Man-
nigfaltigkeit ist der Wirklichkeit nach früher als die Einheit ihres Ur-
sprungs (KA XII, 401) - eine sehr merkwürdige Akzentverschie-
bung!
1
Walter Benjamin, Schriften II, Frankfurt a.M. 1955, S. 479 ff.
10
Vgl. Schlegels häufige Rede vom allgegenwärtigen »Mittelpunkt« (KA
XII, 9) in der Philosophie und von der Zirkelstruktur des Bewußtseins
in der Jenenser Transzendentalphilosophie, z.B. KA XII, 11; vgl.
insbesondere das anschauliche Bild, a.a.O., letzter Abschnitt S. 10, wel-

412
dies zugleich das Verhältnis von intensiver und extensiver Unendlich-
keit erklärt. Novalis spricht von der »Kreisbewegung der Vernunft«
(IX, 434, Nr. 854). Am deutlichsten erklärt sich Schlegel über diesen
Zusammenhang KA XII, 328: »Unsere Philosophie fängt nicht wie an-
dere mit einem ersten Grundsatze an, wo der erste Satz gleichsam der
Kern oder erste Ring des Kometen, das übrige ein langer Schweif von
Dunst zu sein pflegt, - wir gehen von einem zwar kleinen, aber le-
bendigen Keime aus, der Kern liegt bei uns in der Mitte. Aus dem
unscheinbaren geringen Anfange, dem Zweifel an dem Ding, der sich
doch zum Teil bei allen nachdenkenden Menschen äußert, - und der
doch immer vorhandenen überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Ichs
wird sich unsere Philosophie nach und nach entwickeln und in steter
Progression sich selbst verstärken, bis sie zu dem höchsten Punkte
menschlicher Erkenntnis durchdringt und den Umfang so wie die Gren-
zen alles Wissens zeigt.« Diese Eigentümlichkeit teilt Schlegels System
mit Hegels Phänomenologie«, nur daß jenes nicht in absoluter Ge-
wißheit endet, sondern dieselbe in »unendlicher Approximation« nur
»verstärkt«.
Daß die Progressivität aller »Totalitäten« in Zirkelstrukturen sich
bewegt, darüber siehe KA XIII, 27. Vgl. a.a.O., 282 f.; Schleiermacher,
Dialektik (ed. Odebrecht), 317; Novalis IX, 405, Nr. 717; 253, Z. 5 ff.;
401, N r . 7 0 1 ; 457, N r . 1000).
Natürlich entspricht Schlegels Lehre vom Vernunftmittelpunkt ziem-
lich genau Sartres »regressiv-progressiver Methode«, d. h. einer metho-
dischen Konzeption, die - im Gegensatz zu einer Ursprungsphiloso-
phie - nicht »bei einem ersten Satz« (qua Prinzip) ihren Ausgang
nimmt, um das Endlich-Konkrete zu deduzieren, für die andererseits -
im Gegensatz zu einer Dialektik des absoluten Geistes - das Konkrete
immer nur Prinzipiiertes sein kann, dessen synthetische Organisation
transparent bleibt für das undarstellbare Abstrakt-Absolute. Umge-
kehrt macht der Rückschluß auf's Prinzip die Notwendigkeit sichtbar,
das Abstrakte progressiv zu überschreiten (zu konkretisieren), ohne
daß das Konkrete suisuffizient wäre (Geist). - (Darüber vide im Zu-
sammenhang Gerhard Seel, Sartres Dialektik, (. . .), Bonn 1971, 4off.
[bes. 48 ff.] und unsere Anm. 48 unten!).
11
Die sich steigernde »Wahrscheinlichkeit« wird der Grund des Glau-
bens an die Identität des Selbst. Das Ich ist sich selbst als Wissen-sei-
ner nur durch den Glauben vermittelt: KA XIII, 175. Über die bedin-
gungsweise Rechtfertigbarkeit eines solchen circulus in probando vide
KA XIII, 313/4, weiterhin KA XIX, 70, Nr. 280. Noch zwischen
1810 und 1812 notiert Schlegel: »Immer bleibt es aber nur eine unend-
liche Wahrscheinlichkeit, welche die Gotteserkenntniß hienieden zu-
läßt, eine durch den Glauben zu ergänzende Gewißheit, als ein eigent-
lich absolutes Wissen« (KA XIX, 302, Nr. 50); dies vielleicht gegen
Hegel erwidert.
18
Kluckhohn setzt in seiner Novalisausgabe die Allegorie als ein frosti-
ges Verstandesprodukt unter das Symbol. Walter Benjamin (Schriften
I, 294 f., 312, 315) hat die mit der Schlegelschen identische Theorie
der Allegorie rühmend beurteilt und nachhaltig rehabilitiert. Man darf

413
vermuten, daß er selbst diesen für ihn wichtigen Begriff aus seiner Be-
schäftigung mit der spekulativen Frühromantik gewonnen hat, wenn
ihm derselbe nicht aus der jüdisch-kabbalistischen Tradition längst ver-
traut war.
13
Schlegels Bestimmungen dessen, was als relative Synthesis bezeichnet
ist, reichen an Präzision nicht an diejenigen Schellings im Würzburger
System. Es ist aber doch deutlich, daß ihm die Vorstellung einer ab-
strakten Realität des Endlichen vorgeschwebt hat; d. h. einer Realität,
in deren Präsenz nicht auf das in sie verschlungene Absolute reflek-
tiert, die also in ihrer losgelösten, scheinhaften Diesseitigkeit gemeint
ist (vgl. KA XVIII, 410, Nr. 1081, Nr. 1079). Da Schlegel alle Wirk-
lichkeit nur ins Ideal setzt, muß er die empirischen Wirklichkeiten als
relative Synthesen zwischen Sein und Nichtsein, d. h. als symbolische
Darstellungen von Sein im Nichtsein, vorstellen (andernfalls sie nichts
wären - osix ovra statt [j-r, OVTO, sozusagen - in Schellings Worten -
Synthesen unter dem Exponenten des abstrakt Endlichen). Schlegel
liebt es, das Absolute, welches die Potenz der konkreten Synthesis
schlechthin ist, mit Ausdrücken wie »Unendlichkeit«, »das Ganze« usw.
zu bezeichnen, die zur Sphäre der empirischen Unendlichkeit gehören
(schon Fichte tat das). Es ist dabei zu beachten, daß Schlegel immer
an aktuelle Unendlichkeit denkt, d. h. eine Unendlichkeit, die nicht im
Gegensatz zur Endlichkeit sich bestimmt, sondern deren absolute un-
vordenkliche Identität bedeutet; eine Differenz, auf die wir noch eini-
ges Licht zu werfen haben.
14
Siehe Anm. 13.
15
Vgl. O. Walzel (Hrsg.), a.a.O. i n .
18
Auch Schleiermachcr kennt »einen approximativen oder symbolischen
Wert, nämlich den transzendenten Grund auszudrücken, was nicht ad-
äquat geschieht« (Dialektik, ed. Odebrecht, 300).
17
»Das Wesen des Schönen ist die göttliche Bedeutung; es giebt nur diese,
wessen Bedeutung nicht göttlich ist, das ist nichtig oder «nbedeutend«
(KA XIX, 90, Nr. 79; vgl. Ideen Nr. 3). Zur Rede von »Bedeutung«
vgl. KA XII, 358 und Umgebung sowie KA XIII, 55 f. (und 173/4):
»Wollte man bloß Zierde und Anmut zum Zwecke der Kunst machen,
so wäre sie schlecht begründet. . . . Die Menschheit hat ernstere und er-
habenere Zwecke, als daß sie so viel Tätigkeit und Kraft an eine bloße
Zierde verschwenden sollte, welche in der Natur ohnehin in einem
weit größern und vollkommenem Maße angetroffen wird. - Aber et-
was ganz anderes ist es, wenn man die Bedeutung zum Zwecke der
Kunst macht. . . . Die Offenbarung, auf der alles Höhere im mensch-
lichen Geiste beruht, ist für den Menschen, als zu erhaben, doch nicht
natürlich. Hier tritt die bildende Kunst ins Mittel« - wieder haben
wir einen Beleg für Schlegels Begriff des >Mittels< - , »um durch die
Deutlichkeit der sinnlichen Darstellung ihm diese klar und deutlich
vor die Augen zu stellen, und ihn in sinnvollen Bildern und Gestalten
von allen Seiten mit Zeichen und Andeutungen des göttlichen Lebens
zu umgeben, und ihm so seine hohe Bestimmung lebendig zu vergegen-
wärtigen.« - Nirgends ist die Funktion der Kunst so deutlich be-
stimmt wie in Schlegels Kölner Privatvorlesung 1807: »Es ist . . . in

414
Erinnerung zu bringen, daß die Notwendigkeit der Poesie [sich] auf
das Bedürfnis [gründet], welches aus der Unvollkommenheit der Phi-
losophie hervorgeht, das Unendliche darzustellen. Dies ist die philoso-
phische Begründung der Poesie«. (S. 52 r.; zit. nach Karl Konrad Pol-
heim, Die Arabeske, Ansichten und Ideen aus Friedrich Schlegels Poetik,
München-Paderborn-Wien 1966, S. 59; dort wichtige ähnliche Belege
aus dieser ungedruckten Vorlesung. Überdieselbe vide a.a.O. 372 oben!)
18
Daß sich dieser Satz in einer Erörterung von Piatons Dialogen findet,
wirft ein Licht auf den Ursprung von Schlegels Begriff der Ironie.
19
Was A. Nivelle (Frühromantische Dichtungstheorie, Berlin 1970) über
Witz und Ironie schreibt, vermittelt sehr wenig Einsicht in Schlegels
philosophische Absicht (139 ff.).
80
Zur Metapher des Blitzes der Fantasie vgl. Fichte I, 284.
81
KA II, 398.
88
In neuerer Zeit hat Emil Staiger diesen durch Schlegels eigenes Werk
widerlegten Einwand in besonders unsinniger Schärfe wiederholt, vgl.
ders. Friedrich Schiller, S. 57/8.
23
Eine Fichtes Ableitung des »Gefühls« analoge Struktur (vgl. Fichte I,
291/2).
84
Vgl. KA XVIII, 290, Nr. 1136; a.a.O., 123, Nr. 2.
85
Da Schlegel aber »nur Ein Wissen« annimmt und dieses eine für »un-
endlich theilbar« erklärt (KA XVIII, 76, Nr. 569; XII, 10 u. passim),
ist schon im voraus abzusehen, daß sein Zugeständnis eines Chaos
außerhalb der Einheit dessen Einholbarkeit ins systematische Wissen
nicht beeinträchtigen wird. Das Chaos wird durch ein »Herausgehen
der Philosophie aus sich selbst« (KA XII, 91) erklärt, ohne welche
»Trennung der Mensch sich nicht als Ganzes darstellen« könnte (ebd.,
vgl. KA XVIII, 258, Nr. 782). Schlegel empfand es als eine Auszeich-
nung seiner Philosophie, daß sie nicht von der intellektuellen Anschau-
ung der Einheit wie von einem fundamentum inconcussum ausgeht,
sondern das Wagnis einer unendlichen Suche auf sich nimmt, durch die
redlicherweise nur eine sich vermehrende Wahrscheinlichkeit des geahn-
ten Zieles erreicht wird. Er spricht darum von einem »System der chao-
tischen Philosophie* und nennt sie »eine transcendentale Arabeske*
(KA XVIII, i n , Nr. 978). - Zum Begriff der Arabeske vgl. Karl
Konrad Polheim, Die Arabeske, bes. 122 ff.
29
Vgl. Fichte I, 265/6; Kröner 163: »Masse ist fixierter Fluß«; KA XIX,
57, Nr. 165.
27
Nach dieser Definition ist das, was E. lonesco in seinem Tagebuch
(Neuwied und Berlin 1967) das »große«, nämlich kein bestimmtes
Dieses, sondern alles Seiende überhaupt in Frage stellende »Warum«
nennt, ein ironischer Begriff (vgl. 41; 42; 13; 31/2).
28
»Das Ich fühlt in sieh ein Sehnen; es fühlt sich bedürftig.« »Es ist dem-
nach eine Thätigkeit, die gar kein Object hat, aber dennoch unwider-
stehlich getrieben auf eins ausgeht, und die bloss gefühlt wird« (Fichte
I, 302/3). Das Gefühl ist ein Bewußtseinsmodus, in welchem das Ich
sich einer Thesis enthält - ein nicht-positionales Selbstbewußtsein,
wie Sartre sagen würde. Diesen Modus haben die romantischen Be-
wußtseinstheorien, allen voran die von Novalis und Schleiermacher,
eigens thematisiert.
415
29
Jean-Paul Sartre. L'etre et le neant. Essai d'ontologie phenome-
nologique. Paris 1943, S. 127 ff. (deutsch: Das Sein und das Nichts.
Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Reinbek 1962; S. 138 ff.).
Das »Soi« ist Gottes identisches Selbstbewußtsein. »Da . . . in Gott das
Reflektierte Alles in Einem und Eins in Allem, und das Reflektierende
gleichfalls Alles in Einem und Eins in Allem sein würde, so würde in
und durch Gott Reflektiertes und Reflektierendes,« - Sartres Urwider-
spruch im endlichen Bewußtsein! - »das Bewußtsein selbst und der
Gegenstand desselben, sich nicht unterscheiden lassen« . . . (Fichte I,
2
75)-
30
Vgl. Schelling I, 3, 561: »Dadurch allein, daß die Freiheit in jedem
Moment begrenzt, und doch in jedem wieder unendlich wird, ihrem
Streben nach, ist das Bewußtsein der Freiheit möglich.« Eine solche, an
die Individualität restringierte Freiheit hat schon Fichte als »Willkür«
bezeichnet. Schelling definiert sie geradezu als empirische Erscheinung
der absoluten Freiheit (I, 3, 576 ff.: »Willkür i s t . . . alle individuelle
Freiheit«, I, 6, 560; vgl. § 307). Man hat bisher fast immer - vermut-
lich aus Gleichgültigkeit gegen Schlegels eigne ausführliche Erörterun-
gen - übersehen, daß Schlegels Willkürbegriff gerade eine Einschrän-
kung der Freiheit meint. Wenn er - vielleicht bewußt auf Schiller an-
spielend - sagt, daß des Künstlers Willkür kein Gesetz über sich dulde,
so ist damit nur in Erinnerung gebracht, daß in einer endlichen Welt
allein durch ein Höchstmaß an Demonstration von Autonomie die Er-
innerung an das freie Wesen des Menschen allegorisch dargestellt wer-
den könne. (Vgl. zum Beleg: K A X I X , 71, Nr. 294; K A U , 167, Nr. 15;
a.a.O., 170, Nr. 34; a.a.O., 164, Nr. 26; als »negatives Vermögen«
wird sie ausdrücklich abgeleitet in KA XII, 370 ff., 372). Der Begriff
Willkür fungiert in Schlegels Philosophieren in ähnlicher Stellung wie
der des »Zufalls« bei Novalis - vgl. E. Heftrichs kluge Erklärung
in: ders., Novalis. Vom Logos der Poesie. Frankfurt a.M. 1969. S.
123 unten - als empirische Erscheinung der absoluten Freiheit, als
Kontingenz anstelle von Absolutheit. Vgl. Eichners Erklärung des
Wortgebrauchs im Vorwort zum V. Band der KA (S. XXXVII). Wir
haben hinreichend Material zur Korrektur des subjektivistischen Vor-
urteils gegen Schlegel.
81
Das Paradox, das Inhalt der witzigen oder fragmentarischen Form
ist, erscheint nun in einem neuen Lichte. Es wird selbst durch ein höhe-
res >esoterisches Paradox« gestiftet. Im witzigen Paradox steht der
Gegensatz des Bedingten und Unbedingten unter der Vormacht des
Bedingten. Im ironischen Paradox ist dies Paradox selbst als ein end-
liches in Widerstreit gegen das unendliche getreten.
32
Vgl. die Metaphorik von Systole und Diastole in der Einbildungskraft.
Sie sei, sagt Schlegel, »das Vermögen des Ausdehnens [Allegorie] und
Zusammenziehens [Witz]« (KA XII, 360/1).
33
Sehr aufschlußreich ist für diesen Zusammenhang eine Erläuterung
Schlegels: » Der Satz des Widerspruchs sollte eigentlich heißen: Es
kann ein Ding nicht zu gleicher Zeit und an derselben Stelle sein und
nicht sein. - Also auch er bezieht sich nur auf das Dasein, - auf das
bedingte. - Das Unendliche aber kann sehr wohl zugleich sein und

416
nicht sein« (KA XIX, 71, Nr. 289; a.a.O., 73/4, Nr. 320). Da Schle-
gel aber dem Unendlichen keinen reflexiven Bewußtseinsmodus zuord-
net, kann es keinen Begriff von einem höchsten Seienden geben, das, in-
dem es ist, zumal nicht ist. Die Zeitlichkeit definiert die Sphäre des
»Bedingten«, des, wie Schlegel sagt, »Daseins«. Verschiedenheit im
Raum läßt sich letztlich selbst nur aus einer Zeitdifferenz erklären:
der Raum ist kein selbständig Seiendes, sondern selbst eine Ekstase der
Zeit.
34
Vgl.: »vermittelnder Zwischenraum« (II, 3, 306); »Interstitium«
(a.a.O., 306-8) der vorwirklichen (»überseyenden«) »Möglichkeit der
Zeit« (ebd.) qua einer »rein noetischen Folge« (II, 1, 311 f.) - natür-
lich eine späte Anwendungsform des »Schematismus«-Konzeptes von
1795 und 1800. Die Potenz-Zeit ist in den WA als die »dem Ewigen
innere Zeit« (WA I, 77), als »ewige« oder »absolute Zeit« bestimmt.
(I, 8, 260; WA I, 81); vgl. »zeitlose Zeit« (II, 1, 235).
» Vgl. Schelling I, 3, 386; WA II, 122,,.
39
Wir geraten offenbar in einen neuen Zirkel, wenn wir das »Zugleich-
sein zwei entgegengesetzter Zustände« (KA XVIII, 123, Nr. 2, vgl.
KA XIII, 2i, 5 ) als wirklich denken wollen. Dieser Zirkel hat eine
unverkennbare strukturelle Analogie zu Schellings Begriff der »rotie-
renden Zeit«, die sich nicht befreien kann in die wirkliche Sukzession,
sondern, weil »vor dem Seyn«, in quälendem »Umtrieb« um sich selbst
kreist, Einheit und Vielheit nicht in die Abfolge dissoziiert und dar-
um, indem sie fortschreitet, zugleich sich kontrahiert; also als Fort-
schritt zugleich aufhebt und darum nicht ist (II, 3, 123/4, 275 ff.; I,
9, 231; I, 8, 245, 230, 232; WA passim; II, 2, 83/4).
37
Das »Schweben« der Einbildungskraft zwischen den Extremen und die
Verzeitlichung desselben zu »einem Zeit-Momente« (Fichte I, 217),
außerhalb dessen nichts empirische Wirklichkeit habe noch »denkbar«
sei, hat freilich schon Fichte beschrieben. Gleichwohl bleibt er dabei,
daß es »nur für die Einbildungskraft . . . eine Zeit« gibt, während »für
die bloße reine Vernunft . . . alles zugleich« ist (Fichte I, 279). Schlegel
kritisiert Fichte, indem er ihm vorwirft, über die negative Erkenntnis
nicht hinauszudringen und gleichwohl der Vernunft die Erkenntnis von
Ewigkeit zuzugestehen. In Schlegels Philosophie ist Zeit nicht »für*
die Vernunft oder für die Einbildungskraft - so wäre sie ja doch nur
ein Gegenstand, den das Bewußtsein von Zeit sich selbst vom Leibe
hält - , sondern die Vernunft zeitigt sich selbst. Sie selbst ist nichts an-
deres als der Prozeß des sich verzeitliehenden Zusichkommens des Ewi-
gen in der Reflexion.
38
In seiner Arbeit Solgers Philosophie der ironischen Dialektik (Berlin
1928) polemisiert Josef Heller in der Nachfolge jenes personalisieren-
den Tons von Schlegelkritik, wie ihn Hegel aufgebracht hat (vgl. He-
gels Werke, Bd. 14, 63): »alles umfassen und an nichts gebunden sein.«
Auch das gehört zur Schlegelkritik, daß man ihn weniger aus der
Quelle, als durch Vermittlung von Kircher, Mehlis usw. zitiert, wie
das falsche Zitat, das von A.W.Schlegel stammt, beweist (S. 173).
Heller lastet den Umstand, daß er selbst sich bei Schlegels Ableitungen
nichts Ordentliches denken kann, kurzerhand »Schlegels . . . typisch-ro-

417
mantischer Art [an], den Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen, in-
dem man sie als irrationale Elemente des Absoluten, von dem sich alles
und nichts aussagen läßt, umstempelt« (48/9). Wo, fragt man sich, hat
Schlegel das getan? Hellers Kritik der petitio principii zu überfüh-
ren, würde ihr zuviel Ehre antun - denn was er sich unter »typisch-
romantisch« vorstellt, reproduziert ein gehässiges und völlig verkitsch-
tes Romantik-Bild, in welchem für Schlegel neben den Atributen
»feminin«, »faul« (S. 12) nur das der Gefräßigkeit taktvoll ausge-
spart wurde. Für dieses Romantikbild ist Heller selbst nicht verant-
wortlich zu machen, er reicht die Schablone aber weiter und wird
gerade dadurch repräsentativ für die alte und viele neue Schlegellitera-
tur. - Es scheint, daß Heller sich über die Konsequenzen seiner ganz
treffenden Beobachtung nicht klar wird, wenn er schreibt, daß bei
Schlegel in der Ironie »das Subjekt sich selbst zu einer und gleicher
Zeit vernichtet und schafft« (51).
39
Marburger Handschriften, Heft I, S. 18; zit. nach I. Strohschneider-
Kohrs, Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung, Tübingen
i960 ( = Hermaea. Germanische Forschungen, N. F. Bd. 6), S. 30.
40
Das Attribut der Unendlichkeit für das absolute Ich übernimmt Schle-
gel, wie viele Termini, von Fichte. Allerdings ist das Unendliche ein
Relationsbegriff. Das Absolute ist das auch hinsichtlich seiner Unend-
lichkeit freie, ab-solute. Schlegel nennt darum den Reflexionsbegriff
>Unendlichkeit< unzweideutig >Chaos< oder >Fülle<. Schelling hat
die Differenz von empirischer und absoluter Unendlichkeit ganz in
Schlegels Sinne definiert (I, 6, 232): »Die empirische Unendlichkeit ist
das falsche Sdieinbild der wahren oder aktuellen Unendlichkeit und
ein bloßes Produkt der Imagination.* A.a.O. 233: »Oder anders aus-
gedrückt; Die empirische Unendlichkeit ist ein Modus der Imagination,
wodurch das vom All Abstrahirte in dieser Abtrennung vom All
gleichwohl reell gesetzt werden soll.« Diese Realität-außer-dem-Un-
endlichen nannten wir bisher die abstrakte Realität. Schlegel nennt sie
»relative Unendlichkeit« (KA XII, 42) oder, im Gegensatz gegen die
»intensive«, auch »extensive Unendlichkeit« (KA XII, 9 und 334/5).
41
In den Ekstasen des Bewußtseins (»Erinnerung« und »Sehnsucht«) ist
die Richtung der Ablösung des Chaos aus der gründenden Einheit
abgebildet. Die Sehnsucht ist danach das Organ fürs Chaos. Sie macht
sich von der an die Ureinheit sich klammernden »Erinnerung« los und
wird so durch die Entzweiung, die sie bewirkt, der »erste Anfang des
Bewußtseins« (KA XII, 378), welches sich zeitigend konstituiert und
nicht zunächst ein Wissen von sich als zeitlichem Bewußtsein hat.
42
Daß Schlegel das System letztlich doch als abstrakte Einheitskraft faßt
- wie Kants Synthesis, die der gegebenen Mannigfaltigkeit gegen-
übersteht und sie, gleichsam von außen, durch einen Akt synthetisiert - ,
beweist Fragment KA XVIII, 312, Nr. 1427: »rcäv = yaoe -J- xosu,occ.
Das -äv erst ist die absolute Allheit von Universum und System, die
beide nur Momente der höchsten Synthesis sind.
48
Vgl. Schlegels Bemerkung über die Methodik der Auflösung eines
Dilemmas, KA XIII, 319.
44
Ein von Fichte geborgter Terminus, vgl. z. B. Fichte I, 287.

418
45
Vgl. neben dem früher gegebenen Zitat KA XVIII, 207, Nr. 121:
»Andeutungen, Anspielungen, Aussichten ins Unendliche pp.«: »An-
deutung des Unendlichen und . . . Aussicht in dasselbe« (KA XII, 210).
* Mao: »Unsere Revolutionen folgen einander, eine nach der anderen.«
»Es wird Revolutionen geben, selbst wenn das Stadium des Kommunis-
mus erreicht worden ist.«
16
Am bekanntesten unter Schlegels Bestimmungen der Progressivität ist
das programmatische Athenäumsfragment 116 (KA II, 182), das die
»göttliche Unruhe« zum Prinzip der »Verfahrungsweise« in der Poesie
macht. Schlegel spricht von der »progressiven Universalpoesie«, die
von seiten der Darstellung die Universalität schematisch konstruiert:
»Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehrere
Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst, bis zu dem Seufzer,
dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosem Gesang«,
ein Satz, der ganz offensichtlich darauf abzielt, zwischen zweien Ex-
tremen die ganze Unendlichkeit des Objektiven - was nämlich wäre
nach Schlegels Anspruch schon nicht »poetisch«? - ahnen zu lassen.
Die Poesie kann sich vollständig beschränken (im Witz) - dann wäre
sie klassisch - , »und doch kann sie auch am meisten zwischen dem
Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und ide-
alen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte
schweben [Den Begriff des »Schwebens« übernimmt Schlegel natürlich
aus der Wissenschaftslehre. Er muß in der Tat nicht für Schlegels Erfin-
dung ausgegeben werden und ist nicht einmal identisch mit seinem Be-
griff »Ironie«, da ihm das Moment »Vernichtung des Endlichen, weil
es endlich ist«, abgeht. Das berühmte Fragment 116 scheint mir nur
geeignet als Kommentar zu Schlegels Theorem vom allgegenwärtigen
Mittelpunkt der Philosophie, zum Medium der Reflexion als »Kunst«.
Vgl. Fichte I, 216/7; dort auch den Verweis auf Zeit. Die Einbil-
dungskraft ist die mittlere Position zwischen Realismus und Idealismus,
also auch bei Fichte ein Medium, zu dessen Position sich die Wissen-
schaftslehre selbst bekennt (Fichte I, 284).], diese Reflexion immer wie-
der potenzieren und wie in einer endlosen/ Reihe von Spiegeln ver-
vielfachen« (a.a.O., 182/3). ~ Hier wird der Zusammenhang zwi-
schen dem Medium der Reflexion - dem Mittel, das die Einbildungs-
kraft zwischen das Unendliche und das reflexive Endliche einschiebt: als
»Bild« - und der Progressivität der aufs Unendliche »anspielenden«
Ironie besonders deutlich. Eine symbolische Kunst läßt sich nur aus der
Progressivität begründen.
47
Vgl. ders., Phänomenologie des Geistes, ed. Hoffmeister, S. 558. Zum
Unterschied einer romantischen Position von Zeitspekulation (derjeni-
gen Schellings) zu der Hegels vgl. Jürgen Habermas: Dialektischer
Idealismus im Übergang zum Materialismus - Gesdnchtsphilosophi-
sche Folgerungen aus Schellings Idee einer Contraction Gottes. In:
Theorie und Praxis, Sozialphilosophische Studien. Neuwied und Ber-
lin 19698, S. 131/2.
48
Auf diese Weise ist die Reflexivität des Kritizismus bedacht (der in-
fragegestellte Begriff der Erkenntnis muß schon als das, was er ist, im
voraus gesichert sein), ohne mit dem Hegeischen Vorurteil absoluten

419
Sichwissens (Reflexionsnegation als Komplement gelungener Begriffs-
konstruktion) erkauft zu sein. Zugleich ist das Dilemma eines absolu-
ten Anfangs« vermieden: Reflexion findet sich immer schon bedingt
(aus ihrem >Sein< qua >Gewesensein<), d. h. findet sich je schon in
einem objektiven Traditionszusammenhang, den sie überschreitet und
dadurch erhellt (vgl, dazu Jürgen Habermas, Erkenntnis und Inter-
esse, Frankfurt a.M. 1968, S. 14-35. Habermas spricht von den
»empirischen Bedingungen des transzendentalen Feldes« (vgl. a.a.O.,
43 f.; ders., Zur Logik der Sozialwissenschaften. Ffm. 1970, S. 218/9
u. passim)). Was Schlegel vorschwebt, ist ein gesellschaftlicher Totali-
sierungsprozeß, der sich sukzessiv als Transzendenz luzide wird, ohne
im Begriff absoluten Sichwissens zu stagnieren (dieser Begriff enthüllt
sich nämlich als Reflexionsbestimmung usw.), ohne andererseits - in-
folge seiner inwendigen Lucidität für sich selbst - einen absoluten Zeit-
punkt abwarten zu müssen, vor dessen Erreichung sie »unbewußt«
bleibe (eben so lautet die Kritik von Marx und Engels an Hegel, vgl.
z. B. MEW 2, S. 90). Das Hegel-kritische Beharren auf immediater
(nicht-reflexiver) Selbstdurchsichtigkeit der Praxis [für sich selbst] ist
das philosophische Erbe des Fichte-Schlegelschen Idealismus, dessen
Tradition sich mühelos noch bei Georg Lukäcs (vgl.: Geschichte und
Klassenbewußtsein, Neuwied und Berlin 19712, 80 ff.; ebd. [Vorwort
von 1967] S. 23-25) und natürlich bei Sartre nachweisen läßt, dessen
Erkenntnistheorie (?) mit derjenigen Fichtes, wie sie etwa im »Versuch
einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre* von 1797 vorliegt,
weitgehend identisch ist. Auf den latenten (Hegel(?)) Fichteanismus in
Marxens Vermittlungsmodell der »Arbeit« hat Jürgen Habermas auf-
merksam gemacht (in: Erkenntnis und Interesse, Ffm. 19702, S. 52 ff.),
und auf die Notwendigkeit, zur (?) Begründung des Marxismus auf
Fichte zurückzugehen, Roger Garaudy (?) (»Thesen zu einer Diskus-
sion der Grundlagen der Moral*, in: Moral und Gesellschaft, Ffm.
1968, S. 58-81).
Also trafen wir das Rechte, wenn wir oben die Frage nach der Mög-
lichkeit einer »intellektuellen Anschauung des Chaos« als Frage nach
der Möglichkeit von »Ironie« deuteten.
Wir deuten dieses Fragment, um dessen Enträtselung sich Ingrid
Strohschneider-Kohrs viel Mühe gibt, so: Die Beziehung, die zwischen
Agilität, Chaos und Ironie hergestellt wird, wird einleuchtend, wenn
die Ironie als das Schema gefaßt wird, welches allein in den Augen des
Bewußtseins das Chaos sich selbst konstruieren läßt. Das Chaos ist die
abstrakte Unendlichkeit oder, wie Solger sagt, »das Seyn, welches in
sich nichts Besonderes und Wirkliches hervortreten läßt, sondern alles
in gleicher UnUnterscheidbarkeit in sich trägt« (Solger, N. S. II 730).
Das Schema, vermittels dessen allein sich unser Bewußtsein einen Be-
griff von einer ihrem Wesen nach abstrakten, relativ-begrifflosen Un-
endlichkeit herzustellen vermag, ist in der unendlichen Agilität vorge-
zeichnet: sie konstruiert schematisch den das Chaos konstituierenden
Urwiderspruch, ohne den das Choas eine Harmonie oder ein System
sein müßte. Chaos ist dargestelltes reines Ur-Sein, aber das »reine
Seyn, das dem wirklichen Daseyn zuvorging, und nur durch sein Ge-
gentheil ausgesprochen werden kann« (Solger, N . S. II, 730). Das Ge-
genteil des reinen Seins ist notwendig auch ein Abstraktum, die ab-
strakte Realität, die einzige uns mögliche Vorstellung des Absoluten.
Denn »es liegt«, wie Schelling sagt, »in den Tiefen des menschlichen
Geistes der Grund, warum alles Unendliche, da eine absolute Unend-
lichkeit in uns und außer uns nie wirklich seyn kann, als eine empi-
rische Unendlichkeit in der Zeit construirt werden muß« (Schröter I,
587). Das Bewußtsein dieser Konstruktion ist die Ironie.
51
»Die Idee der Philosophie ist nur durch eine unendliche Progression
von Systemen zu erreichen. Ihre Form ist ein Kreislauf.« Schlegel er-
klärt das am Bilde des Kreises, in welchem das Zentrum »der positive
Faktor«, der Radius »der negative Faktor« und der »PeripheriePunkt
der IndifferenzPunkt« ist. »Nun hat der positive Faktor in dem Dif-
ferenzPunkt das Streben, sich mit dem positiven Faktor im Centro zu
vereinigen; kraft des negativen Faktors aber kann er sich dem Centro
nicht nähern, sondern wird bloß um das Centrum herumgetrieben«
(KA XII, 10). Diejenige Philosophie wird die umspannendste sein (im
Bilde zu bleiben), deren »Centrum überall und deren Peripherie nir-
gends ist* (a.a.O., 11).
58
Dieser Begriff taucht charakteristischerweise bei der Deskription der
Agilität der Einbildungskraft wieder auf (KA XII, 360,3).
58
Schlegel spricht auch von dem »Gesetz des steten Fortschreitens, wel-
ches die Denkkraft in ihrem Kreislaufe befolgt« (KA XIII, 298). Vgl.
Hinrich Knittermeyer, Schelling und die romantische Schule, München
1929, S. 110/1.
54
Der Begriff »volles Chaos« wird sein Analogon in dem der »vollen
Zeit« finden.
55
Man sieht, wie Schlegels Bestimmungen selbst diese zyklische Bewe-
gung, über die sie sprechen, in sich abbilden. Man wird dadurch leicht
zur Unaufmerksamkeit hinsichtlich des gedanklichen Fortschritts ver-
leitet, glaubt, die Struktur längst durchschaut zu haben, und sieht sich
dann unversehens in Widersprüche verwickelt. Wirklich abgeschlossen
scheinen Schlegels methodische Reflexionen erst in den Kölner Vorle-
sungen: Die unversöhnlichen Gegensätze von »Freiheit und Einheit«,
System und Chaos, Einheit und Unendlichkeit usw. sind durch die
Idee des »Werdens« oder deren »Grundbegriff«, den »Begriff der
Entwicklung*, vermittelt (KA XII, 416). Jedes »Werden« erlischt
»endlich* in seinem »Ziel* und »springt,.. . da es nicht weitergehen
kann, entweder zurück in seinen eigenen, aber verwandelten Anfang,
oder hinüber in sein Gegenteil* ([KA XII, 417^]; angewendet auf die
»Naturgeschichte« vgl. 425 f., 431,4 und passim), da das Werden vermö-
ge seiner wesenhaften Unendlichkeit keine Grenze finden kann. »Gesetz«
und »Freiheit« sind damit weniger Gegensätze als vielmehr fixierte Sta-
dien einer Entwicklung; d. h. sie sind nur hinsichtlich ihrer abstrakten
Endlichkeit etwas, nur als gewesene Geschichte wirklich: »Weil die Ge-
setze und Gegensätze abgeleitet und bedingt sind, so sind sie immer nur
vorübergehend, nur Übergänge und Mittel zum Zweck* (a.a.O., 417).
Die unendliche in der Zeit erscheinende Freiheit setzt sich über alle Ge-
setze, denen sie sich nur transitorisch, im Fluge gleichsam, als Vergan-

421
genheit unterwirft, unendlich siegreich immer wieder hinweg. »Die Welt
ist kein System, sondern eine Geschichte, aus der nachher freilich Ge-
setze folgen können.« In dem »nachher« liegt ein sehr deutlicher Fin-
gerzeig auf die Temporalität, in welcher das unendliche Streben (die
infixible Zukünftigkeit) sein substantielles Gewesensein (was in Ana-
logie zum Raum mit sich selbst koinzidiert, sich nicht überschreitet) als
Vergangenheit absetzt. So kann Schlegel sagen, in der Geschichte ge-
schehe ein ständiger Sieg der Zeit über den Raum (vgl. 431 ff.). Denn
»die Zeit ist unvollendet wie die Welt selbst« (a.a.O., 416). Das als »in
sich vollendet« zurückgelassene substantielle »Wesen . . . ist der Raum«
(ebd.). Im Wechselspiel beider entsteht das Leben der Welt, ihr sukzes-
sives »Ein- und Ausatmen« (a.a.O.), die stets erneute Absorption des
Räumlichen durch die Zeit (vgl. KA XIII, 21, 24 f., 28 ff.).
Allegorie ist dasjenige Moment in der ironischen Synthesis, wodurch
sie als endliche überschritten und auf ihr Wesen rückbezogen wird.
Auch Solger spricht vom Absoluten als »in jener Welt« (N.S. II, 295).
Über die merkwürdige Synonymie von System und Historie vgl. KA
XVIII, 85, Nr. 671; a.a.O., 108, Nr. 947 (- »wie die Historie über die
Ironie . . . hinaus . . . ist«). Über das Verhältnis von Progressivität, Ge-
schichte und System vgl. KA XIII, 20 ff., 23 ff. Die Progressivität, wel-
che die Trennung noch nicht überwindet und zur Praxis gehört, verharrt
in der negativen Erkenntnis, ja ist der »reinen Erkenntnis unterlegen«
(a.a.O., 20 und 22). Wenig später erklärt Schlegel, daß »die Theorie
der Progressivität und Perfektibilität... gar kein Naturgesetz ist
für die Geschichte, sondern das praktische Gesetz für alle Methode«
(a.a.O., 27). Die »Geschichte« selbst wird nur in »positiver Erkenntnis«
gefaßt, insofern Geschichte nicht das Werdende, sondern das Wesen des
Werdens selbst begreift: »Alle vollendete Wissenschaft ist Geschichte.
Der Zweck alles Wissens ist Weltverständnis, Weltweisheit, Geschichte
mit einem Wort; - insofern die Geschichte alles Werden umfaßt. Auf/
dem höchsten Standpunkte aber gibt es nur ein Werden, also auch nur
eine Wissenschaft, die Geschichte, die sich aber in verschiedene Sphären
einteilt« (a.a.O., 23/4; vgl. KA XIX, 88, Nr. 52 und ebd. 87, Nr. 42
sowie 89, Nr. 61), so wie auch der menschliche Geist als ein Prozeß
des Sich-zu-sich-Verhaltens aus Sphären konstituiert ist, welche die
Stadien der an sich »gleichsam formlosen«, weil »höchsten, allgemein-
sten, natürlichsten Form des menschlichen Geistes«, d. h. der »Ge-
schichte« (KA XIII, 24), objektivieren.

Die Pluralität der Geistesvermögen (das »zerspaltene Bewußtsein«) ist


nämlich, »da alle wahre Erkenntnis genetisch, d. h. historisch« (a.a.O.)
ist, auch nur historisdi zu begreifen, insofern auch im »menschlichen Be-
wußtsein« (a.a.O., 25) »diese allgemeinen Gesetze des Werdens . . . sich
vorfinden. Eben weil das menschliche Bewußtsein aus allen möglichen
Formen des Bewußtseins so äußerst zusammengesetzt ist, finden auch
alle Gesetze, die früher in der Weltentwicklung sind aufgezeigt wor-
den, für dasselbe statt. Doch sind ihrer so viele, daß die Schwierigkeit,
sie alle einzeln aufzustellen, nicht geringe ist. Die Anwendung der all-
gemeinen Weltgesetze auf das menschliche Bewußtsein muß nach der
Analogie bestimmt werden.« Wie Schlegel das tut, wird zu zeigen
sein. -
422
So ist die Geschichte das Sein auch des Bewußtseins in seiner größten
Allgemeinheit. Ein simultanes Nebeneinander ist, außer in der Sphäre
des »Nichtseins« (a.a.O., 22), undenkbar. »Der Irrtum«, erklärt Schle-
gel, »besteht . . . darin, daß das Beharrliche, das Ding, das Nichtsein
für das Reelle gehalten wird« (ebd.). Die wahre Realität ist die Rea-
lität des Geistes, die Geistesgeschichte, deren Wesen es ist, nie im Be-
griff ihrer selbst gleichsam aufzuhören, Geschichtlichkeit zu sein.
Vgl. Ernst Behler, Friedrich Schlegel und Hegel, in: Hegel-Studien 2
(1963), S. 223: »Ironie und Witz sind also als methodische Prinzipien
der SCHLEGELschen Philosophie innig verflochten . . . In ihrer Ver-
bindung bilden sie SCHLEGELS entscheidende philosophische Metho-
dik, deren Bedeutung für sein Denken etwa mit der Stellung der Dia-
lektik in Hegels Philosophie vergleichbar ist.« Josef Heller spricht in
seinem Solger-Buch geradezu von einer »Philosophie der ironischen
Dialektik«. Der Begriff stammt von Schlegel selbst und steht für eine
negative Dialektik, die nie aufhören kann, »unglückliches Bewußtsein«
zu sein, weil die absolute Aufhebung im Hegeischen Sinne ihr un-
glaubwürdig ist. Zum Unterschied von Ironie und Dialektik aus He-
gelscher Sicht (mit Belegstellen) vgl. Behler, a.a.O., S. 214.
Vgl. dazu KA XVIII, 362, Nr. 498 und a.a.O., 388, Nr. 814. Zur Ab-
leitung des dialektischen Prozesses als eines Widerspiels von toter Re-
gelmäßigkeit und Freiheit vgl. KA XII, 416-418; KA XIII, 24; KA
XIX, 8, Nr. 51). Schlegel beschreibt die beiden »genetischen Gesetze«
(vgl. KA XIII, 280 ff.) wie folgt: »Die beiden Grundsätze alles Wer-
dens sind das Gesetz des Zurückkehrens in den Anfang, und des Über-
springens in das Gegenteil«. Vor Hegels Entwurf einer Geschichts-
philosophie ist hier schon »das Gesetz« beschrieben, »daß, wenn eine
Tätigkeit den höchsten Gipfel erreicht hat, und nicht weiter mehr stei-
gen kann, sie in den Gegensatz überspringt«, ein Gesetz, fügt Schlegel
hinzu, das »sich in mancher Epoche der Geschichte offenbaren . . . wird«
(KA XIII, 27, 280 ff., bes. 284,4).
Die häufige Wendung »bis zur Ironie« wird man analog zu Kleists
»unendlicher Reflexion« deuten dürfen (H. v. Kleist. Anekdoten,
Kleine Schriften. Hg. von Helmut Sembdner ( = dtv-Gesamtausgabe
Bd. 5, München 1964), S. 71-78). »Naiv bis zur Ironie« (KA II,
172/3, Nr. 51; L. N. 424) würde demnach bedeuten: Wiederherstellung
der ehedem im Nichtwissen ihrer selbst »klassischen« Naivität durch
unendliche Reflektiertheit, durch unendliches Bewußtsein. Naivität bis
zur Ironie ist intelligenter Instinkt (KA XVIII, 115, Nr. 1035; a.a.O.,
128, Nr. 68); analog Bildung bis zur Ironie: Bildung, die ihres unend-
lichen Strebens unendlich bewußt ist, die sich selbst will.
»Bildung« ist ein vermutlich aus Herders Ideen entborgter (wahr-
scheinlich von Hülsen beeinflußter) und Schlegels eigner Philosophie
gefügig gemachter Begriff. Auch der Gedanke von der Totalisierung
des historischen Organismus scheint Herderisch: »Die Kette der Bil-
dung allein macht aus diesen Trümmern ein Ganzes, in welchem zwar
Menschengestalten verschwinden, aber der Menschengeist unsterblich
und fortwirkend lebet« (Herders Philosophie, hg. von H. Stephan,
Leipzig 1906 (Philosophische Bibliothek)).

423
83
»Bilden und Vervollkommnen« sind wirklich als Synonyme gebraucht
(KA XII, 154/5; KA XIII, 283, Anm. d). Das Streben, welches alle
Partikularitäten vernichtet, stellt sich als »Praxis«, »Agilität«, eine
»fortgehende Kette der ungeheuersten Revoluzionen« dar (KA II, 255,
Nr. 451; KA XVIII, 82/3, Nr. 637, a.a.O., 342, Nr. 241).
Auf der Suche nach dem Unendlichen ist jede Selbsterweiterung will-
kommen (KA XVIII, 299, Nr. 1254). Bildung hat eine Nähe zur »Po-
lemik« - und die Verbindung dieser beiden in Schlegels Denken maß-
geblichen Begriffe vermittelt abermals die Ironie, die schon früher als
»Nothwendigkeit und Unmöglichkeit einer vollständigen Mitteilung«
bestimmt war. Ähnlich schreibt Schlegel: »Die Nothwendigkeit der
Polemik ist wohl besonders daraus zu deduciren, daß Einer nicht Alles
sein kann. Soll Einer dieß, der andre das sein, so entsteht von selbst
Streit, damit alles was sein soll für sich bei seiner classischen Verschie-
denheit und dazu nothwendigem/ Rigorism erhalten und gegen ein-
ander in seinen Rechten geschützt werde« (KA XVIII, 81/2, Nr. 624).
In die gleiche Richtung zielt auch Schlegels Wort: »Niemand versteht
sich selbst, in so fern er nur er selbst und nicht zugleich auch ein andrer
ist* (ebd., 84, Nr. 652; KA II, 226, Nr. 344). Darum muß sich aus We-
sensnotwendigkeit »theoretisch und artistisch jeder Mensch auf jede
beliebige Weise stimmen können« (KA XVIII, 89, Nr. 719). Indivi-
duen sind Systeme (a.a.O., 89, Nr. 715). Aber nodi »giebt es wenig
Menschen die Individuen sind« (a.a.O., 90, Nr. 725). Zur Individuali-
tät gehört ein Hof von Potentialitäten, welche Individualität als Sein-
in-Möglichkeiten überhaupt definieren; derart, daß Selbsterkenntnis
Erkenntnis der unendlichen Potentialitäten des Selbst ist: »Je mehr
Vielseitigkeit also, desto mehr Selbsterkenntnis (KA, II, 116). Sich die-
ses Wesens zu versichern und Polemik zu führen gegen die vorschnelle
Vereinheitlichung der Person definiert geradezu die Rolle der Bildung;
das obige Zitat lautet in der erweiterten Fassung charakteristischer-
weise so: »Ein recht freier und gebildeter Mensch müßte sich selbst nach
Belieben . . . stimmen können, ganz willkürlich, wie man ein Instru-
ment stimmt, zu jeder Zeit, und in jedem Grade« (KA II, 154, Nr. 55).
Es ist also eine Auszeichnung der Bildung, polemisch über sich selbst
hinaus Sinn für die grenzenlose Universalität der Menschheit über-
haupt zu haben. Der gebildete Polemiker widerspricht nicht sowohl
andern als vielmehr sich selbst, insofern er eine »echt synthetische Per-
son« (Novalis IX, 250, Nr. 63) ist: »Jeder Satz, jedes Buch, so sich
nicht selbst widerspricht, ist unvollständig« (KA XVIII, 83, Nr. 647;
vgl. a.a.O., 106, Nr. 916, ein Wort von »rigoristischer Liberalität«, -
ein rechtes Schlegel-Paradox; vgl. KA II, 163, Nr. 123).

64
Denn »Ironie ist eigentlich das höchste Gut und der Mittelpunkt der
Menschheit« (KA XVIII, 219, Nr. 302).
65
Schlegels Denken bewegt sich mit Vorliebe in Analogien; darum sind
seine Begriffe selten in ihrer Isolation verständlich, so, wenn er schreibt:
»Streben nach einem Gesetz und Gesetz eines Strebens = BILDUNG«
(KA XVIII, 479, Nr. 81). Hätte er die Formulierung gewählt: »Streben
nach dem Unendlichen«, dessen Derivat erst das Gesetz ist, so hätte er

424
die Wendung nicht vergleichbar sinnvoll umkehren können. Vermutlich
hat er sich deswegen für die Wahl des Wortes »Gesetz« entschieden.
In seiner Einleitung zum XII. Band der KA schreibt Jean-Jacques
Anstett, im Jahre 1800, als Schlegel seine Vorlesung über Transzen-
dentalphilosophie in Jena begann, habe er »noch keine Lösung für das
. . . philosophische Problem gefunden, das ihn von Jugend auf beschäf-
tigte, nämlich das Problem der Bildung, d. h. der Harmonisierung der
gegenseitigen Beziehungen zwischen Ich und Welt« - ein Terminus,
dessen sich Novalis, beiläufig bemerkt, auch bedient; er redet z. B. von
»höherer« und »niederer Bildung« - »denn die Bildung wird von
ihm als die Überwindung des endlichen, zerstückelten Zustandes des
Ich durch eine erweiternde, vervollkommnende Übereinstimmung mit
dem gegenüberstehenden organischen unendlichen Universum aufge-
faßt. Er sieht sie als eine ersehnte, doch auch nie zu erreichende Har-
monisierung zweier Triebe des Ich, nämlich nach allumfassender Ein-
heit und nach unendlicher Fülle« (a.a.O., S. XIII).
Es bleibt »absolutes Ideal . . .« für die Praxis. Die »Transphänomenali-
tät des Seins« hat für Schlegels (?) Methode die gleichen - auch gleich-
motivierten - Folgen wie für Sartres Dialektik (vgl. die ausgezeichnete
Arbeit von G. Seel, a.a.O., bes. 77-119).
Allein durch »die Begeisterung« (die Schlegel KA XIX, 58, Nr. 175
mit der »Ahndung* gleichsetzt) »entsteht« »die positive Idee des Un-
endlichen oder der Gottheit« (KA XIII, 32). Aus der Vernunft kann
sich diese Begeisterung nicht »erklären lassen«, »also muß [sie] einer
höhern Mitwirkung gleichfalls zugeschrieben werden« (ebd.). Die hö-
here Mitwirkung ist aber eine »Offenbarung« - Schlegel attribuiert:
»positive Offenbarung« (KA XIII, 182), »die unsere Vernunft über-
steigt« - , weit »höher« als diejenige also, in welcher die Vernunft ihren
Ursprung hat (a.a.O., 33, vgl. 3i, 2 die Rede von einer »zweifachen
. . . Offenbarung«). Die Vernunft erkennt nur Gottes Taten, »aber nicht
den lebendigen Gott selbst, den himmlischen Vater und Herrscher«
(a.a.O., 33, 39/40), die erste, verborgenste und gründende Person der
Trinität (a.a.O., 39,^ 40, 2 ; vgl. hierzu die erstaunlich weitreichenden
Spekulationen KA XIX, 63, Nr. 215; 135, Nr. 451: »Die ewige Frei-
heit« ist »noch vor dem Vater«, »das erste Element des Vaters«; ebd.
Nr. 455: die zur Offenbarung drängende »Sehnsucht«, Schellings
»Wille«). Die Begeisterung dagegen »beruht« »auf der positiven Idee
des Unendlichen oder der Gottheit« (KA XIII, 33, 34). Diese positive
Idee der Gottheit ist zugleich dem vernünftigen Ich als sein höheres
Selbst durchs »Gefühl«, Schlegel sagt auch: durch den »Glauben« ver-
mittelt. Er beendet das »Schwanken« des Ich zwischen sich und dem
Ding (KA XIII, 175,3). Dasjenige Bewußtsein, das das endliche Ich
von sich selbst als von einem verlornen höheren hat, also das »höhere
Selbstbewußtsein«, beruht selbst auf Glauben. Die absolute Einheit,
von der sich das zeitliche Bewußtsein durchwaltet fühlt, kann auf keine
Weise von ihm selbst geschaffen sein. Das erklärt den Stellenwert der
Begriffe »Offenbarung« und »Glauben« in Friedrich Schlegels Theorie
des Selbstbewußtseins, als dessen »Quelle*, dessen »nothwendige Be-
dingung« (KA XIX, 74, Nr. 324; KA XIII, 175; KA XIX, 85, Nr.
18) sie begriffen werden.

4^5
Wir können das für die Entwicklung und Selbstaufhebung des deut-
schen Idealismus paradigmatische, bei Schlegel zuerst thematisierte
Verhältnis von Sein und Begriff, Substanz und Nicht-Identität, positi-
ver und negativer Erkenntnis hier nicht weiter verfolgen, als insoweit
es in Schlegels Entdeckung des Zeitbewußtseins tragend wird. Im fol-
genden seien Belegstellen von wesentlichen, hier ausgeklammerten Er-
weiterungen und Präzisierungen angeführt: KA XII, 115, 117, 136,
164, Kröner XXXVII; KA XII, 165/6; 164 ff.; dort Winke auf die
»Sukzession« und Zeitlichkeit der Explikation dessen, was in der posi-
tiven Einheit simultan ist; vgl. Kröner 180; weiterhin KA XII, 41,
301).
Damit verbunden ist auch die Umkehrung des Offenbarungs-Verhält-
nisses aller Momente der trinitarischen Synthesis Gottes (KA XIII,
43,4) in der negativen Erkenntnis. Für unser Erkennen ist das schöp-
ferische Prinzip, der Vater, am spätesten nur und am schwierigsten zu
fassen (a.a.O., 40, 43). In den Augen des »reflektierenden« Geistes
dreht sich die Reihenfolge der Offenbarung genau um. Novalis nennt
das den »ordo inversus« im Selbstbewußtsein. (Schelling spricht von
Gottes »Ironie« (II, 3, 304/5), übrigens neben II, 2, 90 die einzige
Stelle in seinem Werk, in der dieser Begriff zentrale Bedeutung hat;
in der »Ph. der Kunst« steht er in deutlicher Abhängigkeit von Schle-
gels Bestimmung (z. B. 669 ff.) und verdient die ausdrückliche Er-
wähnung, die I. Strohschneider-Kohrs ihm zuteil werden läßt, nicht.)
Vgl. KA XIII, 175; 94,3 u. 5 ; 123; KA XIX, 85, Nr. 18; 74, Nr.
324.
Josef Heller (Solgers Philosophie der ironischen Dialektik) sieht in der
»Ironisierung der romantischen und subjektiven Ironie« Solgers entschei-
dende Leistung. Er setzt >subjektivistisch< unbedenklich gleich mit
»Verhältnis zum konkreten individuellen Ich« und behauptet, Schle-
gels Denken sei in diesem Sinne subjektivistisch; eine ganz unhaltbare,
auch philologisch längst widerlegte Behauptung, die J. Körner zwar
schon 1935 »unbegreiflich« nannte (S. 13) - er edierte erstmals 2Ve«e
philosophische Schriften von Fr. Schlegel - , die aber insofern Er-
wähnung verdient, als sie in einflußreichen Arbeiten der Forschung, so
paradigmatisch in E. Staigers Schiller-Buch, immer noch verbreitet
wird. Schlegel, liest man dort, »leitet... jenen übertriebenen Kult des
Individuellen ein, der heute noch üblich ist und dazu führt, daß alle
Kunst überhaupt ganz selbstverständlich nur als Ausdruck subjektiven,
weiter nicht verbindlichen Daseins gilt. Je aparter, desto besser! So
lautet, in metaphysischer Verbrämung, der frühromantische Rat«
(a.a.O., S. 58). Der frühromantische Rat lautet zwar vielmehr so:
»Es wäre zu wünschen, daß ein transzendentaler Linne' die verschiede-
nen Ichs klassifizierte und eine recht genaue Beschreibung derselben
allenfalls mit illuminierten Kupfern herausgäbe, damit das philoso-
phierende Ich nicht mehr so oft mit dem philosophierten Ich verwechselt
würde« (KA II, 226, Nr. 345); aber man muß doch zweifeln, ob die-
ser neue begriffsanalytische Linne in der Staigerschule besseren Nutzen
stiften würde als Schlegels eigne Schriften, deren eigentliche Polemik
dem abstrakten Individualismus der »Selbstigkeit« (KA XIII, 17) gilt,

6
eine Polemik, die - ein merkwürdiges Mißverständnis der neuen Gei-
stesgeschichte! - von Hegel unterstützt und deren Spitze ausgerechnet —
gegen Friedrich Schlegel gerichtet wurde; so wie umgekehrt Schle-
gel Hegels Individualismus, den er »noch um eine Stufe schlimmer als
den Atheismus oder die Ich- und Selbstvergötterung (Fichte's)« fand,
als »philosophischen Satanismus« verurteilte (KA XIX, 327, Nr. 197;
vgl. KA XII, 446 f., 473 f.). In Schlegels Werk vgl.: KA XVIII, 47,
Nr. 292; 48, Nr. 302; 97, Nr. 827; 468, Nr. 356; 562, Nr. 21 - diese
Belegstellen zeigen, daß Schlegel das Attribut »abstrakt« ganz im Sinne
Hegels verwendet: KA XII, 6, 24, 34, 39, 85, 86; KA XIII, i 6 , 2 -
i 7 > 1 ; KA XII, 249,5; KA XIX, 86, Nr. 37; KA II, 320; KA XVIII,
134, Nr. 146; 56, Nr. 372. Neuerdings hat A. Nivelle (Frühromanti-
sche Dichtungstheorie, S. 53/4) diese Zusammenhänge zureditgerückt.
Die These von der romantischen Subjektivierung der Kunst wird man
nach Dieter Jähnigs grundlegender Arbeit (Schelling. Die Kunst in der
Philosophie. 2 Bde. Pfullingen 1966 und 1969) für endgültig, weil
schlagend, widerlegt halten dürfen.
Nach Hellers exemplarischer Darstellung erhebe sich Solger, indem er
die romantische, subjektivistische Ironie wiederum ironisiere, über die
subjektive und (etwa in Hegels »List der Idee« manifeste) objektive
Ironie zu »einer absoluten Ironie« (a.a.O., 202). Eben dies war, insbe-
sondere der Formulierung nach, gerade Schlegels Leistung. Hellers Ver-
wechslung von Friedrich Schlegel mit seinem Bruder ist ein Irrtum,
der leider die Schlegelforschung charakterisiert und beweist, daß Schle-
gels eigenes Werk ziemlich unbekannt ist.
72
Die »Ironie der Ironie« hebt die Historie selbst wieder auf, denn
Historie ist eine Wissenschaft des »Scheins«. Beim Eintritt in die ewige
Wahrheit wird auch das Werden ausgelöscht (vgl. Fichtes Wissen-
schaftslehre von 1804, Janke 26).
73
»das im gemeinen Leben gebräuchliche und durch Erfahrung gelehrte
Prinzip, daß das Leben und überhaupt alles auf Widersprüchen beruht
. . . u n d durch Gegensätze bestehe« (KA XII, 32i, 2 ) - während Sub-
stanz Sich-selbst-Gleichheit bedeutet.
74
Schlegel erörtert diese Möglichkeit bei Gelegenheit einer Reflexion auf
den Sinn des Begriffs »Gegenwart«, die dem Ich ganz fehlt. - Vgl.
zum folgenden die parallele Kurzfassung der »Psychologie« in »Pro-
pädeutik und Logik« (KA XIII, 227 ff.).
75
Die Potenzierungen des unendlichen Regresses vermeidet das Moment
der »Willkür« in der Selbstbestimmung, durch die ein ewiger Anfang
geschaffen wird (vgl. a.a.O., 325/6; KA XIII, 232-4; KA XIX, 78,
Nr. 358).
79
Dieser Gedanke hat zu dem Solgerschen von der Nichtigkeit der Er-
scheinung des Innerlichen (des »Dinges«) außerordentliche Nähe, wie
wir zeigen werden.
77
Diese Reservierung des »Denkens« für das Vermögen des Begriffs
vom Unbedingten geht auf Kants Vorrede zur KRV zurück: »Die
Dinge an sich lassen sich denken, aber nicht Erkennen« (2. Aufl. 1787,
S. XXVI; vgl. Novalis III, 387, Z. 21). Vgl. Schlegel: »Man kann
Gott selbst, in seiner Wesenheit, nicht schauen (hier in der Zeitlichkeit)«

427
(KA XIX, 301, Nr. 44). »Vorstellen«, erklärt er, »ist von Denken
noch unterschieden, Vorstellen ist ein beschränktes Denken« (KA XIII,
228; vgl. KA XIX, 176, Nr. 184: »Anschauen heißt sich als ruhend
oder substantiell vorstellen; denken als beweglich, unendlich beweg-
lich; begreifen als genetisch, in der Mitte.« Nur denkend läßt sich also
die Incoercibilität des Ichs bewußt machen!). Auch im »Glauben« findet
ein »Denken des Unendlichen« (KA XII, 332) statt: »In dem lebendi-
gen Glauben denkt man Gott; er enthält zugleich Gedanken und Ge-
fühl und Überzeugung von der Richtigkeit des Gefühles.«
Novalis hat das nicht-thetische Selbstbewußtsein auch »Gefühl«, auch
»Selbstgefühl« genannt - vor Schleiermacher; vgl. Vf., Euphorion 63,
1969, S. 94 ff. (95). Schlegel erkennt im »Gefühl« das »Centrum der
Philosophie* (KA X, 550); vgl. KA XII, 476, r
»Und wenn früher von dem Glauben an uns selbst die Rede war«,
schreibt Schlegel später mit offenbarem Bezug auf das »Selbstgefühl«,
»so wurde darunter nur das noch unerkannte Göttliche verstanden«
(KA XIII, 123,3).
Wie bei Novalis wird das Gefühl erst durch Synthesis mit dem Ver-
stände dem Begriff vermittelt. Das Positive als Positives sprengt jedes
Begreifen. Jedes unmittelbare Empfinden ist positiv, auch das Gefühl
von Gott: »Wir kennen Gott eher und klarer als uns selbst«, notiert
Schlegel. »Das erste ist unmittelbar, das letzte nur mittelbar -« (KA
XIX, 232, Nr. 251).
Vgl. Novalis II, 134 fr.; 138, Nr. 50: »Wir fühlen uns als Theil und
sind eben darum das Ganze«. Durch »Mangel« werden wir unserer
Endlichkeit inne.
»Ohne die Gesinnung der Demuth ists nichts und wirds nichts wer-
den« (KA XIX, 14, Nr. 114).
Daß Schlegel das Ur-Ich doch auch Ich nennt - obwohl er den Sinn
einer solchen Benennung ausdrücklich leugnet (z.B. KA XVIII, 512,
Nr. 73) - , läßt seine Fichtekritik und den Vorwurf der Ich-Vergot-
tung als Schlag ins Leere erscheinen (KA XIX, 181, Nr. 224; 185, Nr.
260; KA XII, 342/3). Diese Kritik macht Fichte den Vorwurf, daß
er »das Machen des Ichs* überbetone, »verleitet« von der Tatsache,
»daß das Ich allerdings nur im Denken gefunden wird«, während
Schlegel zeigt, wie dasjenige Ich, von dem wir einzig sprechen können,
nur abgeleitet sein und unmöglich »göttliche Freyheit« oder »Schöpfer
unseres Selbst« sein, nur »gefunden« werden kann - als Produkt einer
uns unverfüglichen Tat. Die »stolze Freiheit, die selbst Gott seyn will«,
der »Hochmuth«, der »Eigensinn«, die »Erbsünde« der »Ichheit* - das
sind nun die Begriffe, denen Schlegels religiös leidenschaftliche Polemik
gilt. Das gleiche will zwar Hegel Fr. Schlegel zu bedenken geben, ohne
zu ahnen, wie sehr Schlegel Hegel an »Demuth« vor dem Absoluten
übertraf (vgl. dazu KA XIX, 314, Nr. 133; 189, Nr. 292; 238, Nr.
295; 309/10, Nr. 107; 231, Nr. 243; 244, Nr. 331; 310, Nr. 109;
333, Nr. 234; 339, Nr. 225; 249, Nr. 369; 299 ff., bes. 300, Nr. 35 und
Nr. 38; deutlich auf Schleiermachers Spuren: »Glaube ist besonders das
im Selbstbewußtsein gesetzte Bewußtsein von dem Mitgesetzten« (Mar-
ginalglosse Schleiermachers zum § 8 der ersten Auflage S. 29 (Hand-

428
exemplar) der Glaubenslehre von 1821; zit. nach Wilhelm Dilthey,
Leben Schleiermachers, 2. Bd.: Schleiermachers System als Philo-
sophie und Theologie, hg. von Martin Redeker. Göttingen 1966);
dort eine Umdeutung des früher und bisher im Begriff der »Ver-
nunft« Gedachten. Schlegel deutet sie jetzt als »Vernehmen der
Stimme Gottes« (KA XIX, 299, Nr. 30); a.a.O., 301, Nr. 44; 296,
Nr. 13; 309, Nr. 105; 312, Nr. 123; 330, Nr. 217)).
84
Die »Freiheit« ist das »Wesen des Menschen« (KA XIII, 5), und zwar
genauer bestimmt, »ganz negativ gedacht als das negative Wesen
des Menschen im Gegensatz gegen das Ding« (a.a.O., io8, 6 ).
»Diese innere Verdoppelung ist die Bedingung des Gedankens
der Freiheit« (KA XII, 408). Freiheit ist also nicht möglich
ohne die Negation ihres Seins, dessen, was ihre Objektivität ist. Dies
definiert ihre Negativität: »Die Freiheit«, sagt Schlegel, »setzt das
Nichts und die mögliche Hinwirkung zum Nichts . . . voraus« (KA
XIX, 335, Nr. 242). Dies Nichts ist die ideale Getrenntheit des Ichs
von sich selbst, wodurch es von allem, auch sich selbst in Freiheit ge-
setzt wird. »Die Freiheit. . . besteht darin, ohne Beweggründe, ja ge-
gegen alle vernünftige und sinnliche Beweggründe handeln zu kön-
nen; d. h. sich dem Nichts zuwenden und in das Nichts hineinstreben
und hineinleben zu können. Hier zeigt sich die Wichtigkeit jenes Be-
griffs vom Nichts« (KA XIX, 339, Nr. 260). Außer in Schellings
Weltalterspekulationen findet sich kaum etwas im deutschen Idealis-
mus, das hinsichtlich der Bestimmung des Seins von Freiheit so nahe an
die Position der phänomenologischen Ontologie unserer Tage heran-
reicht wie diejenige Schlegels (zur Synonymie von Freiheit, Identitäts-
verweigerung, Zeit und Ichheit vide im Zusammenhang: KA XIII, 5;
8/9; 9-11 (bes. io, 2 ); 14; KA XIX, 340, Nr. 260).
85
Ein vielleicht von Schelling übernommener, aber durch Schlegel stark
modifizierter Terminus (vgl. Schelling I, 4, z. B. 251^).
86
Die Ahnung darf nicht mit der religiösen Hoffnung verwechselt wer-
den. Die »Hoffnung« als »Wesen der Religion« trachtet, »uns mit dem
verlohrnen Princip uns [sie] wieder zu vereinigen« (KA XIX, 26, Nr.
233). Schlegel redet auch von der »unversieglichen Hoffnung eines Ein-
verständnisses, überhaupt einer endlich noch zu erreichenden Einheit«
(KA XII, 356); also einer Überwindung der Zeitlichkeit selbst.
Ahnung dagegen konstituiert die Zeitdimension Zukunft.
87
Die große Ähnlichkeit dieser Ableitung zu Schellings Weltaltern (die
fast 10 Jahre später ohne Kenntnis von Schlegels Kölner Vorlesungen
entstanden sind), ist auch dann noch erstaunlich, wenn man in beiden
die Böhmesche Tradition nachweist. Wie Schelling beschreibt auch
Schlegel die Unvordenklichkeit und Unerklärbarkeit der »Entschei-
dung« des Ewigen zur Zeit, die darum unerklärlich für den Verstand
ist, weil er selbst sich nur als Resultat derselben, als Gezeitigtes reflek-
tieren kann: »Die erste Regung der Sehnsucht kann aus nichts abgelei-
tet werden, sie ist das schlechthin Erste und Höchste. Die Liebe ist ab-
solut unbedingt; sie erklären, hieße sie vernichten, und an ihrer Stelle
das Nichtige, Notwendige setzen. Beweisen und herleiten läßt sich der
erste Anfangspunkt nicht, weil sonst das Verhältnis dessen, was abge-

429
leitet, und dessen, woraus es abgeleitet werden muß, ganz umgekehrt
würde« (KA XII, 475). Kaum irgendwo wird Schlegels Differenz von
nichtiger und positiver Erkenntnis so deutlich: »Nicht auf dem Wege
des Verstandes allein ist hier die Überzeugung möglich, wo die Lösung
des Rätsels in der geheimsten, tiefsten Quelle alles Wissens, dem leben-
digen Gefühle liegt« (a.a.O., 476). Bemerkenswert ähnlich mit Schel-
lings Darstellung ist Schlegels Entwurf einer Kosmogonie von 1815
(KA XIX, 321/2, Nr. 170; 322, Nr. 173), wo Schlegel sich, jedoch
nicht grundsätzlich, gegen »die alte Theorie von drei Weltaltern« er-
klärt. In der 8. Vorlesung der Philosophie des Lebens ist der Terminus
»Weltalter« dann wirklich eingeführt (KA X, 145 ff.).
88
In Schleiermachers Dialektik findet sich etwas ganz Ähnliches (§ 218 ff.).
Auch ihm ist die Einheit das Woher und die einheitslose Totalität
der »terminus ad quem« der Offenbarungsbewegung (von Gott zur
Welt).
Aber auch bei Novalis, der an Fichte vermißt, daß er nach der In-
thronisierung des Einheitsprinzips nicht auch »das Princip der hödi-
sten Mannich faltigkeit« aufgestellt habe (IX, 430, Nr. 820; vgl. Nr.
843 und 924). Fichte fehlt »die andre Hälfte des schaffenden Geistes«
(a.a.O., 465, Nr. 1067). Die Gleichursprünglichkeit beider ist ihm wie
Schlegel Axiom (vgl. 371, Nr. 594, Z. 21/2; 378, Z. 1; vgl. Mahls
Anm. a.a.O., 994, zu S. 465, 19 f.).
89
P. S., Friedrich Schlegel und die romantische Ironie, in: Satz und
Gegensatz. Sechs Essays. Frankfurt a. M. 1964.
90
a.a.O., j .
91
a.a.O., 12.
92
a.a.O., 13; wogegen Schlegels eigene Erklärung KA XVIII, 92, Nr.
750 und KA II, 168, Nr. 22 (»jenem« muß als »letzterem« gelesen
werden, wie häufig bei Schlegel).
93
»Einst wird es nur Vergangenheit geben«, das heißt: Am Schluß der
Zeiten enthüllt sich das Sein der Zukunft als Sein im Status des Futur-
Perfekt: »wird gewesen sein« (vgl. KA XVIII, 181, Nr. 664). Alles
Sein ist Vergangensein. Indem sich die Zeit beschließt, kehrt sie ganz in
den alles in sich absorbierenden Modus der Vergangenheit zurück, er-
starrt zu Sein, d.h.: ist völlig objektiv geworden, genau wie das infi-
xible Leben eines Menschen durch den Tod vollkommen objektiv ge-
worden ist, alle Freiheit verloren hat. Durch diese Substantiierung ge-
schieht aber keinerlei Wink auf die »Ewigkeit«.
Die völlige Objektivierung der Zeit ist aber ein unendliches Ereignis,
das nie (d. h. in keiner Phase der Zeit) eintreten kann, ohne daß die
Zeit ihrem Wesen entfremdet und nicht mehr - Zeit sein würde. »Es ist
die Wahrheit der Zeit«, sagt Hegel, »daß nicht die Zukunft, sondern
die Vergangenheit das Ziel ist« (Zusatz zu § 261 der »Enzyklopädie*).
94
»Das Reich Gottes als Vollendung und Verklärung der Natur« ist, wie
Fichtes »Ich als Idee«, zwar »das höchste Ideal aller Praxis« (KA XIII,
173). Aber das ist »schon ein theologischer Begriff«, auf dessen Einlö-
sung die »höhere«, d. h. »auf das Unendliche« tendierende »Praxis«
»durch eine stete Annäherung . . . hinwirken« soll. Schlegel sagt aus-
drücklich, daß durch diese »Annäherung« die Philosophie ihr ewig aus-

430
stehendes Ziel »nie vollkommen erreichen könne« (KA XIII, 317). In
diesem Sinne gibt Schlegel zu bedenken, »daß die nähere Anwendung
des Prinzips der Praxis, d. i. des Strebens nach dem Unendlichen, Kri-
tik erfordert, weil sonst allerdings die Praxis irrig angewandt werden
und manche von dem rechten Wege abführende Mißgriffe entstehen
könnten« (KA XIII, 23,g).
95
Szondi, a.a.O., 15.
99
Noch in einer der jüngsten Arbeiten wird die romantische Geschichts-
auffassung mit der »triadischen Struktur« als Unernstnehmen der End-
lichkeit interpretiert, ohne daß eine Reflexion auf den Sinn der Zu-
künftigkeit zu Bedenklichkeiten triebe. Bei E. Heftrich (Novalis. Vom
Logos der Poesie ( = Studien zur Literatur des neunzehnten Jahrhun-
derts. Bd. 4), Frankfurt a. M. 1969) liest man: »Von der Zukunft
als Bastion der Hoffnung aus wird über die Gegenwart in die Vergan-
genheit zurückgeschaut, bis der Blick in einer frühen heilen Zeit das
Versprechen erblickt, dessen die Hoffnung auf die Zukunft zur Recht-
fertigung bedarf« (a.a.O., 55,4; vgl. 54 ff.).
97
Szondi, a.a.O.,14.
98
Ausdrücklich verweist Schlegel jede eschatologische Hoffnung an die
»Offenbarung« durch »Begeisterung«. So gewiß jedem Wissen ein Glau-
ben zugrundeliegend gedacht werden muß, so wenig ist die mytholo-
gische »Idee eines sichtbaren Reichs Gottes auf Erden« abzuweisen
(KA XIII, 34). Sie ist aber nicht notwendig zu machen, sondern, wie
alle mythologischen Totalisierungen, bloß »aller Analogie gemäß«
(a.a.O., 34/5; 46,3).
99
Wenn Schlegel so häufig von einer »Rückkehr ins Unendliche«, vom
»Opfer« als der »Rückkehr in die absolute Einheit« redet (KA XII,
36; 348 ff.; 467/8; ebenso KA XIII, 14; 13; KA XIX, 16, Nr. 147), so
bedeutet dieses Opfer nicht die Suspendierung der Gegenwart zugunsten
einer scheinbar erfüllten Zukunft, die doch immer nur als Gegenwart
wird erlebt werden können, sondern meint Reflexionsnegation, Annihi-
lierung der Zeit vor dem Absoluten. »Erinnerung«, nicht »Hoffnung«
ist der Sinn des Fragments (KA XII, XVIII, 2 ; 219). Der Trieb zur
»Äußerung, der Darstellung« seines unvordenklichen Wesens (das der
Mensch außerhalb seiner selbst - ek-statisch -ist), sei »in dem Menschen
. . . so erhöht, daß ein Streben nach Freiheit entsteht und die Sehnsucht
nach dem Unendlichen, zur Rückkehr in das Reich des/ Lichtes und der
allgemeinen Freiheit erwacht« (KA XII, 467/81). Daß Schlegel die
Verwirklichung des Absoluten als »Rückkehr« bestimmt, definiert ein-
mal mehr die wesentliche -Kluft zu Hegel, in dessen System der Geist
erst am Ende als das Wesen des Weges zu diesem Ende wirklich ist
(nicht nur ein vorweltliches Sein restituiert). Man kann einwenden, daß
auch eine »Rückkehr« immer ein Schreiten in die Zukunft sei, ob dies
nun als »Hoffnung« oder »Erinnerung« ausgegeben werde. Dieser Ein-
wand ändert nichts daran, daß es immer nicht die Zukunft als Zukunft
ist, die ersehnt wird. Ist die Sehnsucht aber gar nicht auf eine dermal-
einstige Synthesis, wie Szondi meint, gerichtet, sondern auf Überwin-
dung der Endlichkeit selbst, so ist es sinnlos, von einem »futurischen
Element« in dieser gläubigen Hoffnung zu reden. Eine Zukunft, die

431
ist, was sie ist, existiert nur als Vergangenheit (>wird schon gewesen
sein«). Was nur gewesen sein kann, aber nie ist, kann, wie schon Schel-
ling zeigte und wie noch Sartre wiederholt hat, nur von der Erinne-
rung wahrgenommen werden. Schlegel notiert: »Das Unendliche ist
kein Vorgefühl sondern eine Erinnerung« (KA XIX, 89, Nr. 65).
Wahrscheinlich gehört die Akzentuierung der Zukunftsdimension
zur Wirkungsgeschichte Heideggers. Heidegger läßt die Zukunft
sich erschließen aus des Daseins wesenhaftem »Sich-vorweg-schon-
sein-bei-der-Welt« oder »Vorlaufen zum Tode«. Der Tod ist aber
kein metaphysisches Ereignis, sondern eine unentrinnbare Möglich-
keit, die das zeitliche Dasein ergreifen muß. - Auf Schlegel läßt
sich diese Struktur nicht anwenden. Denn in Szondis Darstellung
müßte dieses Vorlaufen zur »Zukunft« qua »absoluter Gegenwart«
(Novalis) gerade das Bewußtsein des Endes der ganzen Zeitlichkeit
und deren Aufhebung erwirken. Zukunft kann es aber gerade nur ge-
ben unter der Voraussetzung, daß Zeit ist. Aus der bloßen Vergäng-
lichkeit der Zeit folgt keineswegs die Ewigkeit, sondern deren Unmög-
lichkeit (in der Zeit).
100
Szondi, a.a.O., 17/8.
101
a.a.O. »zukünftige Einheit« - ein aus dem gleichen Grunde wider-
sprüchlicher Begriff: Zeit beruht in der Differenz ihrer Dimensionen.
102
Vgl. KA XVIII, 421, Nr. 1214: »Zeit* ist als »erstes Individuum,
organisch zu denken« (vgl. Schelling, WA I, 14, 80 ff.).
1<)8
Schlegel mißt dieser Konstruktion großen Wert bei. S. 480 (a.a.O.)
beschließt er bemerkenswerterweise: »Raum und Zeit sind Glieder und
Teile des unendlichen [negativen!] Welt-Ichs, sind reelle, lebendige, gei-
stige Wesen und Kräfte. Dieses ist die Ansicht des Idealismus in kur-
zem zusammengefaßt.« Wenn wir von der traditionellen Parallelisie-
rung von »Raum und Zeit«, die freilich durch Schlegel eine ganz neue
Deutung erfährt, zunächst absehen, erstaunen wir über den ungewohn-
ten Anspruch, daß der Idealismus selbst durch seine Ansicht der Zeit
sich qualifizieren muß.
104
Noch in der 4. Vorlesung der Philosophie der Sprache und des Wortes
hat Schlegel Zeit ganz ähnlich abgeleitet (KA X, 380 ff.) und diese Ab-
leitung zum festen Bestand seiner Theorie gemacht. Ernst Behler
(a.a.O., S. LH) findet in diesen »Analysen von Zeit und Ewigkeit«
nichts anderes bemerkenswert, als daß sie »eine subtile Neufassung der
Augustinischen Konzeption darstellen«. Davon abgesehen, daß ihr
Wert dadurch nicht geschmälert würde (noch Husserl empfahl die
Augustin-Kenntnis zum Studium seiner Phänomenologie des Zeitbe-
wußtseins), so ist es doch Schlegels Art nicht, die Quelle zu verschwei-
gen (Augustinus ist in KA XII/XIII selten und kritisch, in KA X gar
nicht erwähnt), und Behlers Hinweis greift gewiß zu kurz, es sei denn,
die Formulierung »Neufassung« wolle auf eine Verwandlung der Tra-
dition aufmerksam machen. - Schlegels Thematisierung der Zeit de-
finiert vielmehr eine Etappe in der Geschichte des Idealismus. Die
Transzendenz des Wissensgrundes, die Ableitung aus dem transzenden-
talen Selbstbewußtsein und die Erkenntnis einer unerträglichen Span-
nung von Begrenztheit und Idee haben ihr Fundament in einer Erfah-

432
rung, die von der Augustinischen durch Welten getrennt ist, die koperni-
kanische Wende des Kantischen Kritizismus mit wachem Bewußtsein
erlebt hat und nie hinter die kritische Reflexion in einen patristischen
Dogmatismus zurückzufallen in Gefahr war.
05
»Die beiden I d e e n . . . sind im Grunde nur eine und dieselbe Idee in
zwei verschiedenen Richtungen und Gestalten. Man k ö n n t e . . . sehr
gut sagen, es gibt in dem menschlichen Geiste nur die eine Idee des
Unendlichen, aber dieses Unendliche ist zweifacher Art: eine unend-
liche Einheit und eine unendliche Fülle und Mannigfaltigkeit; man
kann aber auch beides nun wirklich trennen und zwei verschiedene
Ideen annehmen, die aber in der innigsten Verbindung und Beziehung
stehen« (KA XIII, 245; 243-247). - Zum Verhältnis der reinen un-
endlichen Fülle zu einer unendlichen (abgeleiteten) komplizierten Kau-
salkette und Sukzession in »Vor und Nach« vgl. KA XIX, 52, Nr.
103. - Die »unendliche Fülle« kann keine extensive Unendlichkeit
sein, d. h. überhaupt in keiner Beziehung stehen zu Quantität und
Grad. Sie ist »aktuelle Totalität« oder, wie Schlegel sagt: »Fülle =
Unzahl« (KA XIX, 90, Nr. 72; 192, Nr. 315). Die absolute Einheit
selbst steht noch über der unendlichen Einheit und der unendlichen
Fülle, als 4. Moment der Synthesis (wie bei Schelling). Schlegel nennt
sie »die ewige Freiheit, das stille Nichts noch vor dem Vater« (KA
XIX, 135, Nr. 451).
109
Schlegel spricht von der »Idee von der unendlichen Fülle und Man-
nigfaltigkeit in der Zeit« (KA XIX, m , Nr. 258). - Vgl. damit das
Kapitel »Von dem Verhältnisse des Unendlichen zum Endlichen« in
Propädeutik und Logik (KA XIII, 274 ff.). »Man mache den Versuch«,
heißt es dort, »und entferne aus dem Gegensatz des Endlichen und
Unendlichen den Begriff des ewigen, unveränderlichen, beharrlichen
Seins, und setze an dessen Stelle den entgegengesetzten Begriff des ewi-
gen Lebens und Werdens, so fällt alle Schwierigkeit [einer Vermitt-
lung] weg, und es zeigt sich, daß nicht nur eine Verbindung zwischen
dem Endlichen und Unendlichen, sondern daß beide eigentlich eins
und dasselbe/ und nur dem Grade und dem Maße nach verschieden
seien« (a.a.O., 277,2 u n | I 3)- F>ie Vermittlung ist also eine organische
Struktur: »Die wahre Philosophie kann nirgends eine beharrliche Sub-
stanz, ein/ Ruhendes, Unveränderliches, statuieren, sie findet die
höchste Realität nur in einem ewigen Werden, einer ewig lebendig be-
weglichen Tätigkeit, die unter stets wechselnden Formen und Gestalten
eine unendliche Fülle und Mannigfaltigkeit aus sich erzeugt« (a.a.O.,
277/8).
107
Schon J. S. Beck hatte, vor Schelling, Raum und Zeit, wie die Kate-
gorien, als ursprüngliche Synthesen interpretiert. Schlegel nennt sie die
ersten »Individuen« oder »die ursprünglichen Faktoren des ältesten
Ich« (KA XIX, 30, Nr. 273). Als die ältesten Faktoren gehen sie
offenbar der Synthesis Ichheit-als-Reflexion voraus!
108
Die Einbildungskraft ist denselben »genetischen Grundsätzen« unter-
worfen, die Schlegel für die Historie nachwies (z. B. dem des »Uber-
springens in das Gegenteil* (KA XIII, 293)). Er spricht geradezu von
den »Sprüngen der Einbildungskraft* (a.a.O., auch von einem »Ab-
wechseln von Expansion und Kontraktion« (KA XII, 478)).
433
109
Außer Novalis, der Raum einen Niederschlag aus der Zeit nennt,
hatte auch Schelling den Raum als i. Dimension der Zeit abgeleitet.
Einleuchtender als bei Schlegel ist ihm »die Vergangenheit... die als
Raum gesetzte Zeit« (I, 7, 238).
110
Der Begriff Zeit stammt selbst aus negativer Erkenntnis, da sie ge-
wiß gewußt wird. Denn nur in negativer Erkenntnis findet »eine
durchaus selbständige, vollkommene Gewißheit« statt. Die positive
lebt nur aus der sich progressiv vermehrenden »Wahrscheinlichkeit«
der »höchsten Wahrheit« (KA XIII, 314 f.), die geglaubt und gefühlt
wird. - Die Zeit ist nur die Darstellung der als diese ungreifbaren
Freiheit, ihr »negatives Merkmal« (KA XII, 4io, 2 ), »ein notwendi-
ges Kriterium« derselben (ebd.).
111
»Wird die Gegenwart unendlich voll gedacht, so ist auch das Denken
der Gegenwart gut« (KA XVIII, 190, Nr. 765).
118
Die Freiheit gehört wesentlich zum endlichen Sein des Menschen und
definiert seine Existenz als Mangel: »Selbst die Gesetze der Freiheit,
des Werdens sind in einem höhern Sinn genommen nur relativ, sie
gehen ja nur dadurch hervor, daß die/ Freiheit noch nicht vollendet
ist; ist dieses höchste Ziel erreicht, so fallen auch sie weg« (KA XIII,
8/9; 5>3; 4>i). Noch deutlicher: Die Freiheit ist das »unendliche Ich
im Werden*. »Nur wenn die Welt als werdend gedacht wird, als in
steigender Entwicklung sich ihrer Vollendung annähernd, ist Freiheit
möglich. Wäre die Welt vollendet, so könnte auch in ihr nichts mehr
verändert, gewirkt und hervorgebracht werden, und die Freiheit
wäre unmöglich.« Das Leben der Zeit ist der Ausdruck von Unvoll-
kommenheit, die sich zu komplettieren trachtet, um wieder absolut
identisches und doch reflektiertes »Sich«, nicht länger nur »Für-sich«
als Gegensatz zum »An-sich« zu sein.
Es ist wichtig, sich deutlich zu machen, daß Friedrich Schlegel Freiheit
als ein Negativum bestimmt. Freiheit ist nicht Allmacht ohne Grenzen,
sondern das menschliche Los, in keiner Bestimmung aufzugehen, jede
voreilige Identifizierung des Gemüts mit seinen Zuständen, Situationen
und Befindlichkeiten zu negieren. Diese Schranken werden als Objekte
der Nichtung gerade vorausgesetzt.
Es ist klar, daß die Wesensbestimmung >Freiheit< dem widerspricht,
was man >festen Charakter« nennt. Ein Wesen, das lebt, um sich selbst
zu erschaffen, kann sich nur auf Kosten der Aufrichtigkeit aus dem
heraus verstehen und durch das bestimmt glauben, was sein Produkt
ist. Keine der menschlichen Weisen, aus sich heraus zu gehen, erschöpft
sein unendliches Sein; und in diesen Zusammenhang ist auch Schlegels
berühmtes Wort zu stellen: »Wir müssen uns über unsere eigne Liebe
erheben, und was wir anbeten, in Gedanken vernichten können: sonst
fehlt uns, was wir auch für andre Fähigkeiten haben, der Sinn für das
Unendliche und mit ihm der Sinn für die Welt« (KA II, 131, Anm. 3).
Romantische Dichtung wird dem Faktum der Freiheit Rechnung tragen
müssen, wenn sie nicht >unaufrichtig< darstellen will.
113
»Organisation«, sagt Schlegel, »ist nichts anders, als an den Körper
gebundenes Leben in der mannigfaltigsten Entwicklung« (KA XII,
462 (f.)). In diesem Sinne ist die Zeit der Archetyp aller Organisation.
114
»Man kann die Welt ansehen als einen Versuch, den leeren Raum, als
das der Mannigfaltigkeit durchaus Entgegenstehende, vollkommen zu
erfüllen« (479).
115
Schon zwischen 1800 und 1801 hatte Friedrich Schlegel notiert: »Der
Geist soll also ganz in Vergangenheit und Zukunft leben. Wird die
Gegenwart unendlich voll gedacht [also als Beziehung auf die beiden
Dimensionen, nicht als Substanz], so ist auch das Denken der Gegen-
wart gut wie bei den Frauen. -« (KA XVIII, 190, Nr. 765). Ebd.
Nr. 763: »der Geist ist nur dazu da, um die Gegenwart zu vernich-
ten. - « .
119
»Das Bewußtsein des Ich, ja das Wissen ist ein Bruch, dessen Zähler
in der Vergangenheit, dessen Nenner aber in der Zukunft liegt *
(KA XVIII, 416, Nr. 1137).
I10
* Noch Wittgenstein hat die Apriorität des Logischen aus dem Faktum,
daß wir nicht anders denken können, abgeleitet, also empirisch (Trac-
tatus, 5. 4731).
117
Daß die terminologische Unterscheidung von negativer und positiver
Philosophie in ihrer ganzen Tragweite, die sie für den späten Schelling
hat, schon Jahrzehnte früher bei Fr. Schlegel vollkommen entwickelt
ist, läßt sich einwandfrei belegen (z. B. KA XII, 276^/277,,). Schelling
selbst hat diese Verwandtschaft - wie die von H. Fuhrmanns editierte
Nachschrift seiner Vorlesung 1832/3 zeigt - würdigend herausgehoben
(38. Vorlesung, S. 262) - insbesondere den Schlegelschen Begriff der
»Erfahrung*.
118
Dieses »durch . . . Unmittelbarkeit jede vermittelte (erst erschlossene
oder durch Entwicklung gefundene) Wahrheit an Evidenz . . . übertref-
fende« Bewußtsein nennt Schelling »Gefühl« oder »Erfahrung« (II,
1, 303/4, 315,3 f., 326; II, 3, 127; I, 10, 219 f.). So ist etwa die abso-
lute »Thathandlung« »nichts a priori Einzusehendes, sondern nur a
posteriori Erkennbares« (II, 3, 127).
119
»Der Actus überhaupt (der Thathandlung unseres Selbstbewußt-
seyns) ist doch eigentlich nicht im Begriff, sondern in der Erfahrung«
(II, 1, 315). »Das was nur Actus ist, entzieht sich dem Begriff«. Das
hier anwendbare, von Fichte wie von Kant aufgebotene ontologische
Argument (ou T) oiiaia tivsp-feia) kann nicht Kausalschluß vom vorgängi-
gen Wesen auf die resultierende Existenz bedeuten; es kann mit Sinn
nur gesagt werden, »daß hier das Wesen selbst bloß im Actus bestehe«
(a.a.O., 316). - Es ist eine der bemerkenswertesten unter den von
Kant mit Sicherheit unbeabsichtigten Konsequenzen, daß er der »rei-
nen transzendentalen Apperzeption« als »bloßem Daß« von Synthe-
sis (KRV, B 157/8 Anm.) eine (zwar präkategoriale, wie er sagt, aber
doch) »innere Erfahrung« ihrer selbst zuspricht (B 400/1; Anm. B
422/3); eine unversehene Konsequenz, die zu entdecken unter den
Idealisten allein Schellings Hellsichtigkeit vorbehalten war (I, 10, 87;
vgl. den Kontext!).
Allerdings hatte auch Fr. Schlegel Kant darin kritisiert, daß er aus der
Statuierung der »Leere« und »Inhalt«-losigkeit der »Vernunft« nicht
die Konsequenz gezogen habe, »nun anzuerkennen, daß diese [entbehr-
te Fülle] nur durch innere Wahrnehmung (und göttliche Offenbarung)

435
erlangt werde, d.i^ die höhere Philosophie eine Erfahrungswissenschaft
sei« (KA VI, 3 9 8, 2 ).
180
Fichte XI, 347/8.
121
H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Grundzüge einer philoso-
phischen Hermeneutik, Tübingen 19652, S. 285.
122
Dieter Henridi, Kunstphilosophie der Gegenwart (Überlegungen mit
Rücksicht auf Hegel), in: Immanente Ästhetik - Ästhetische Reflexion,
München 1966 ( = Poetik und Hermeneutik, Bd. II), S. 21).

KARL WILHELM FERDINAND SOLGER


1
So Josef Heller, Solgers Philosophie der ironischen Dialektik, S. 173.
Fr. Schlegel hingegen hat in seinen Dresdener Vorträgen 1828/9 Sol-
ger in die interessante Nachbarschaft jener »außer allem System ste-
henden ausgezeichnetsten Selbstdenker . . . der neuern Epoche wie Har-
denberg, Schleiermacher« (KA X, 473) gestellt.
8
Ingrid Strohschneider-Kohrs (Die romantische Ironie . . .) sagt ganz
mit Recht: »Es handelt sich bei beiden, bei Friedrich Schlegel wie bei
Solger darum, daß in der künstlerischen Tätigkeit wie im Kunstwerk
die Spannung und Relation von Endlichem und Unendlichem zum
Austrag kommt« (213/4). In diesem Satz scheint mir nur die Ein-
schränkung der Ironie auf die Kunst fragwürdig. Sie ist vielmehr bei
Schlegel und Solger ein Phänomen des »Lebens« überhaupt. »Wir dür-
fen behaupten, daß in der Tat das von Friedrich Schlegel bezeichnete
Problem der Ironie in Solgers philosophischer Kunstlehre [aber nicht
nur dort!] reicher entfaltet und tiefer begründet, aber gleichen Grund-
sinnes bestimmt und offenbar gemacht worden ist« (a.a.O., 114).
2
* Im Gegensatz der »reinen Einheit« (V., 77,2), die »als eine und die-
selbe« nicht »wirklich* ist und »in die Gegensätze der Existenz« (»oder
der Wirklichkeit«) sich »entfalten« kann (Kursivsetzung von mir).
8
Diese Dialektik von »Sein und Nichts« der »Dinge« ist schon sehr
ausgeführt in Fr. Schlegels Kölner Vorlesungen dargestellt (KA XII,
3o8,2). Auch hat Schlegel bereits die Negativität des Dinges mit der
Niditshaftigkeit der Erkenntnis in Beziehung gebracht (a.a.O., 308/9).
Wir zeigten, daß in der Unterscheidung von negativer und positiver
Erkenntnis das Konzept der Fichteschen Reflexionsnegation, unabhän-
gig von diesem, entwickelt ist. - Noch auffälliger als die Überein-
stimmung mit Schlegel ist die mit Schleiermacher (Dialektik, ed. Ode-
brecht, 205/6, §§ 160 ff.), dem Solger »die einzig wahre Ansicht der
Religion« (N.S. I, 115/6) nicht von ungefähr zugestand. - Übrigens
deutete schon Kant auf die Unmöglichkeit, das durch seine Prädikate
verstellte »Substantiale . . . ein[zu]sehen* (Kants Vorlesungen über Me-
taphysik, hg. von Pölitz, 1821).
4
Wo vom Erkennen des Selbstbewußtseins die Rede ist, da ist freilich
ein Sich-Erkennen gemeint: Denn im Ich ist die Identität von Erken-
nen und Erkanntwerden evident. Das SicZ>erkennen ist zumal nicht
das Erkennen der übrigen Dinge (219, 3. Abschnitt). Was durch diesen
Akt der Selbstreflexion erkannt wird, ist freilich nicht das Wesen des
Selbstseins an sich, sondern nur dasjenige relative Sein, das als eine

436
relative Synthesis von Sein und Nichts, unter der Vorherrschaft des
Erkennens, erklärt wurde. Was Solgers Erörterung so kompliziert
macht, ist der auffällige Mangel an terminologischen Nuancen. Allein
das Wort »Sein« fungiert in mehreren Bedeutungen, die zueinander in
Opposition stehen. In Sätzen wie denen: »Meyn Seyn ist das Nichtseyn
aller übrigen Dinge« (219) ist »meyn Seyn« - schon wegen des Perso-
nalpronomens - offensichtlich mein besonderes Sein, d. h. selbst schon
eine Negation des An-sich-Seins (eine Synthesis von Nichts und Sein).
Denn nur als eine relative Synthesis vermag sich »meyn Sein« von den
»übrigen Dingen« auszusondern. Das beweist der Anschluß: »Eben
dasselbe ist mein Erkennen.« »Mein Sein« ist also = »mein Erkennen«;
eine nur durch die relative Vermittlung beider verständliche Gleichung.
Da mein Erkennen die Nichtigkeit der übrigen Dinge ist und mein An-
sich-Sein nicht ins Erkennen (meiner selbst) fallen kann, mein beson-
deres Sein aber mein Erkennen ist (qua Nichtsein der andern Dinge),
so ist die Erkenntnis der übrigen Dinge zugleich eine Erkenntnis meines
besonderen Seins - genau genommen eine Äquivokation, hinter der
nichts steht als die Einsicht, daß dem Bewußtsein sein eigenes Sein
(daß es ist) transzendent bleibt. Da nun Bewußtsein wesenhaft Bewußt-
sein von den übrigen Dingen ist (das eigene Sein ausgenommen), so
ist das Bewußtsein-von-den-übrigen-Dingen zugleich sein eigenes
transzendentes Sein. Der eigenen Transzendenz versichert sich das Ich
aber durch ein höheres Bewußtsein (ein nicht-thetisches Wissen), wel-
ches das gemeine Bewußtsein, das »immer nur mit dem Nichts ver-
kehrt«, seinerseits negiert (219). - Umgekehrt ist freilich das Erken-
nen des Seins der übrigen Dinge das Nichtsein des Erkennenden -
denn das Erkennen des Seins der übrigen Dinge ist wesensmäßig das
mit dem Sein der übrigen Dinge relativ-synthetisierte und verknüpfte
Erkennen - dies alles übrigens gedacht wie Sartres »negation externe«!
Die Ähnlichkeit, bis in die Wahl der Termini, zu Sartres Analyse des
»conscience (de) soi« (vgl. neben L'etre et le neant J--P- Sartres
These vom 2. Juni 1947: Conscience de soi et connaissance de soi. In:
Bulletin de la Societe Francaise de Philosophie, Bd. 42, 1948) ist hier
so außerordentlich, daß die zukunftweisende Bedeutung von Solgers
Bewußtseinstheorie als Beitrag zu einer Ontologie der Zeitlichkeit gar
nicht übersehen werden kann. (Vgl. Klaus Hartmann, Grundzüge der
Ontologie Sartres in ihrem Verhältnis zu Hegel, Berlin 1963, S. 132-
135). Freilich müssen wir hinzusetzen, daß Solger Fichtes und Schel-
lings Theorien des Selbstbewußtseins nur anders akzentuiert hat. Aber
keiner der Idealisten hat die Reflexivität des Bewußtseins mit solchem
Nachdruck zur Fundierung dessen herausgearbeitet, was er die »Zeit-
lichkeit« nennt - nicht mehr »Schranke«, »Nicht-Ich«, »Erscheinung«
usw. Daß Solger nirgends detaillierte Analysen der einzelnen Zeitdi-
mensionen vornahm, spricht eher für die Emphase, mit der er »Zeit«
als Gesamtorganisation unserer Endlichkeit und als ihr definiens her-
aushob.
1
Denn es ist »der Keim aller Dinge«; ja, Solger geht so weit zu sagen,
das Sein schaffe sich sein eigenes Nichtsein (a.a.O., 233), ein Satz, der
im bisherigen Kontext als unverständlich bezeichnet werden muß, aber
gleich deutlich werden soll.
437
7
Das stete Verschlingen alles Selbstgeschaffenen hat Solger noch in
seinen »Ideen über die Religion der Griechen« (N.S. II, 760) als das
Wesen der Zeit betrachtet. Er wehrt sich darum gegen die Vorstel-
lung, »daß Kronos die Zeit bedeute« mit dem Argument: »Es heißt
ja nicht, er fresse« - wie die Zeit - »seine Kinder immer fort ins
Unendliche« (760).
8
Die Ausdehnung beginnt, indem die Wirklichkeit sich von ihrem Wesen
losreißt. Ausdrücklich (»damit wir uns ja recht verstehen«) versichert
Solger, daß er nicht »an eine Ausdehnung im Räume von Einem Mit-
telpuncte nach allen Seiten« denke. »Die ganze Ausdehnung ist mir
nur ein Bild, um die beiden Entgegengesetzten zu vereinigen. Denn das
reine Urseyn und das ihm nothwendig gegenüberstehende Nichtseyn
sind mir zwei Puncte, die entweder gar nichts sind, oder wieder zu
Einem zusammenfließen, wenn nicht eine gerade Linie dazwischen ist«.
Die Linie ist das Schema der Zeit, die Getrennte relativ in Verbindung
bringt, aber verhindert, daß sie koinzidieren.
9
Nun ist gleichwohl diese allgemeine, alles Besondere in Nichts auf-
lösende »Erkenntnis der Erkenntnis« eines mit der »Erkenntnis des
Seyns«; denn ihre Allgemeinheit besteht in gar nichts anderm als in der
Verneinung jeder besonderen Erkenntnis. Und umgekehrt ist jede be-
sondere Erkenntnis nichts als Negation der Allgemeinheit alles übrigen
Seienden (245).
Anders gesagt: Das Sein wird nur im Zustande seines Nichtseins er-
kannt (als Synthesis mit dem Nichts oder Erkennen). Die allgemeine
Erkenntnis des Seins ist das Nichtsein überhaupt. Wenn ich aber das
unteilbare Sein selbst erkennen will, wie es an ihm selber ist, negiere
ich das allgemeine Nichtsein. Dies kann seine Allgemeinheit aber sei-
nerseits nur durch Negation des besonderen Seins darstellen. Und wie
kein Nichtsein oder Sein vor der relativen Synthesis des In-der-Zeit-
Seins wirklich wird (weder das abstrakte Sein noch das abstrakte
Nichts sind ja), so kann kein Sein sich offenbaren als durch erneute
Negation des im Erkennen sich negierenden (relativen oder besonde-
ren) Seins. Das Erkennen des A ist »zugleich das allgemeine Gegen-
teil des Seyns und zugleich die Abbilder alles einzelnen und besonde-
ren Seyns« (248), d. h. »unmittelbar auch ein Nichtseyn aller übrigen
begrenzten Dinge« (ebd.).
10
Ein Ausdruck Schellings (vgl. I, 7, 54 u. passim).
11
Ein häufiges Bild beim späten Schelling (z. B. II, 3, 206 f., WA II,
138), natürlich aus der gleichen Jakob-Böhme'schen Tradition ge-
schöpft, der noch die Metaphorik von Karl Marx und J.-P. Sartre -
über viele Vermittiungskanäle - verpflichtet ist.
18
So Novalis II, 179, Nr. 234. Vgl. Hegels Exkurs zur Endlichkeits-
funktion des »es gibt« im Zusatz zum § 112 der Enzyklopädie.
13
Die Unterscheidung der Bewußtseinsweisen geht natürlich auf Fichtes
Unterscheidung von »Sich-setzen« und »Sich-ansdiauen« zurück. Aus-
gearbeitet hat sie bereits Fr. Schlegel (KA XII, 364, 367, 397 u. pas-
sim). Und Schleiermacher hat die Differenz und Zugehörigkeit beider
zueinander, besonders im »Christlichen Glauben« ( = Der christliche
Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusam-

438
menhange dargestellt von Friedrich Schleiermacher. 7. Aufl. (Bd. 1) -
Auf Grund der zweiten Auflage und kritischer Prüfung des Textes
neu h r s g . . . . von Martin Redeker. Berlin i960; darin bes. §§ 1-9,
§ 32) und in der »Dialektik« (ed. Odebrecht) in minutiösen Analysen
thematisiert (a.a.O., S. 157-186 im Zusammenhang der Darlegung;
S. 205 ff.; 230 ff.; 249 ff.; bes. 270-314). Auch bei Schleiermacher
kommt die Zeit ins Spiel.
4
Solger nennt die »gemeine« auch die »relative Erkenntniß« (N.S. II,
167).
15
Josef Heller erklärt die »Idee« als das, was wir vom Absoluten allein
erkennen können, vermittels der Offenbarung: »Wir erfassen das Ab-
solute nicht an sich«, sagt er, »sondern in seiner Idee*, als »objektive
Einheit« im »Denken« (a.a.O., 75, 77). Alles, was für das Absolute
nicht an sich ist, auch das Für-sich-selbst Gottes, ist Idee. Daß diese
überlegte Unterscheidung Hellers in Solgers Terminologie fixiert ist,
davon konnte ich mich nach Kenntnis aller Belegstellen nicht überzeu-
gen. Er gebraucht Wesen und Idee fast durchaus als Synonyma. Und
wo, wie in >Erwin< I, 147 oder >Erwin< II, 124/5 I ^ e e a l s Erschei-
nung des Wesens interpretiert werden kann, bleibt der Sinn einer Rede
vom Wesen unausgemacht. Das Problem der Selbstvermittlung der
Transzendenz wäre nur um eine Stufe potenziert.
19
»Erkenntniß« ist immer ein >Synthet6n< (welches eine Thesis impli-
ziert) - daher, wie schon Kant zeigte, auf die reine, transzendentale
Analysis der Apperception unanwendbar (KRV, B 157-159). »Selbst-
erkenntniß« (Sartres »connaissance de soi«) setzt also immer schon
(nichtthetisches) »Selbstbewußtseyn« (Sartres »conscience (de) soi«)
voraus (vgl. die erwähnte These!).
17
Denn zuvor war sie ja noch nicht »Thätigkeit«, sondern reines In-
sich-Sein.
18
Sartres »presence du Soi ä soi« als »reflet refletant«!
19
Man sieht die Selbstverständlichkeit, mit welcher Solger »Leben« und
»Selbstbewußtsein« identifiziert; nicht anders als Fr. Schlegel.
20
»Dieß war eben die Schwierigkeit aller Philosophie, die nicht Dualis-
mus sein wollte«, sagt Fichte in der Wissenschaftslehre von 1804, »son-
dern mit dem Suchen der Einheit Ernst machte, daß entweder wir zu
Grunde gehen mußten, oder Gott. Wir wollten nicht, Gott sollte
nicht!« (Janke, 54). Im Grunde ist dies genau das Problem Solgers und
Sartres, zwei negativ-dualistischen Positionen also, die beide infolge
eines vorgängigen Entscheids für die Ewigkeit auf je eigene Weise da-
zu kommen, den Menschen sich vernichten zu lassen. Tatsächlich, wie
man weiß, kehrt Fichtes Satz in Sartres Hauptwerk wieder: »Der
Mensch richtet sich als Mensch zugrunde (se perd en tant qu'homme),
damit Gott entstehe« (Sein und Nichts, 770 und passim).
Expressis verbis spricht Solger von der »Selbstvernichtung des indivi-
duellen Bewußtseins« (V., 67,3) und von Reflexionsnegation (V., 69,^
in den Vorlesungen über Ästhetik (vide S. 66 ff.), doch vermeiden
wir bewußt den Rekurs auf diese Vorlesungsnachschrift K. W. L. Hey-
ses, die sich in wesentlichen Punkten als so stark an Hegeische Termino-
logie und Begriffskonstruktion angelehnt erweist, daß Solgers in Op-

439
Position zu Hegels formulierte ursprüngliche philosophische Einsicht
verwischt wird. Ohne diesen Verdacht wird man merkwürdige Hiate
in der Argumentationsweise wie den zwischen S. 66 und S. 67, der in
Heyses Textrekonstruktion fast zu einem Bruch in der Deduktion
wird, nicht angemessen verstehen. (In Solgers authentisch publiziertem
Werk gibt es für dergleichen keinerlei Parallelen.)
81
Vgl. Friedrich Schlegel: »Die Aufhebung des Nichts (nach dem wahren
Begriff der Gottheit) ist eben Offenbarung, und dieß der wahre Grund-
begriff davon« (KA XIX, 327, Nr. 198).
88
Solger verbindet seine Darstellung mit einer sehr vornehmen und be-
scheidenen Fichte- und Schellingkritik. Daß Solger sich auffällig wenig
auf Namen beruft (besonders denjenigen Schlegels vermißt man), ist als
Einlösung seiner Maxime zu betrachten, stets nur an die Sache, nie an
Personen sich zu halten. Das unterscheidet ihn sehr vorteilhaft von der
stark persönlichen und haßgespeisten Schimpferei Hegels gegen Schle-
gel und Tieck.
23
Ein, wie wir zeigten, Schlegelsdies Theorem (vgl. KA XIX, 85, Nr.
18; 74, Nr. 324). Vgl. ebenso mit Hardenbergs Deduktion der Philo-
sophie, Vf., in: Euphorion 63/1969, S. 95 ff. Solger schreibt: »Diese
Offenbarung und der durch sie erzeugte Glaube macht ja den ganzen
inneren Gehalt unsers Denkens aus« (N.S. II, 162).
24
»Man möge sich also stellen wie man wolle«, sagt Solger, »man könnte
nicht einmal die besonderen Handlungen des Denkens bis zum Wissen
abschließen, ohne zu glauben; nur wird man sich dessen nicht als des
Glaubens bewußt, weil man den Stoff desselben blos in der besonderen
Thatsache findet« (a.a.O., 142).
25
Die unendliche Annäherung ans absolute Wissen lehnt Solger ab: »Es
ist unbegreiflich, wie man sich bei einem Wissen begnügen kann, das
noch keins ist, aber eins werden kann« (a.a.O., 143).
89
Einen Wink gibt Solgers Geständnis, daß er Fichtes Kolleg über die
Wissenschaftslehre von 1804 »mit unendlichem Vergnügen und Vortheil,
wie ich hoffe,« gehört habe (N.S. I, 131).
87
Wie glänzend Ludwig Tieck sich diese Anschauung, als auf ein irredu-
zibles »Erleben« gegründet, zu eigen gemacht hat und wie sicher und
leicht er Solgers Gedanken auch in eigner Sprache zu handhaben
verstand, beweisen schlagend viele Passagen aus seinem späteren
Werk, neben den Briefen an Frau von Lüttichau besonders die
Dialoge der Novelle Schutzgeist. Wir werden zu zeigen haben, daß
Tieck auf diesen Gedanken nicht erst durch Solger gekommen ist, son-
dern seinem Freunde nur die Klarheit der Begrifflichkeit verdankt. -
Dessen ungeachtet weiß Merker-Stammlers Reallexikon der deutschen
Literaturgeschichte unter dem Artikel >Ironie< zu berichten, daß Tieck
aus seiner geistigen Disposition heraus unfähig gewesen sei, Schlegel-
Solgers Begriff der Ironie zu fassen. Leider hat Ingrid Strohsdineider-
Kohrs diese Insuffizienz-Bescheinigung wiederholt. Dergleichen gehört
zur Wirkungsgeschichte eines Vorurteils, das nur durch die Quellen wi-
derlegt wird.
88
Solger spricht von dem »Abgrund der Heiligkeit, in welchem sich
Ewiges und Zeitliches wieder begegnen und auf das innigste vereinigen,
auf den wir beständig vertrauen können und müssen«, eben weil
wir ihn nicht erkennen (reflexiv wissen), und doch nicht abweisen kön-
nen (N.S. II, 469).
Nachdem wir gesehen haben, wie die Zeit zugleich mit der Reflexivität
des Bewußtseins entspringt, versteht sich von selber, wie Solger Rela-
tivität, Freiheit, Sichselbstgleichheit, Reflexivität, Verlust des Wesens,
Nichtigkeit und Zeitlichkeit einfach gleichsetzen kann.
'• 'Es gibt nur eine Philosophie. »Die Philosophie ist es ganz und unge-
theilt«, sagt Schelling (I, 5, 106), wie immer sie sich darstellt.
w
Auch Fr. Schlegel identifiziert ebenso das Schöne mit dem Wahren:
»Betrachten wir das Göttliche ganz unabhängig für sich ohne Rück-
sicht auf sein Verhältnis zum Irdischen, so ist es das Schöne und das
Wahre« (KA XII, 399). - Eine wirklich eindeutige Abgrenzung zwi-
schen Arbeit, in der ja auch Freiheit versinnlicht und als versinnlichte
Praxis angeschaut wird, und Kunst scheint mir unter den Romantikern
nur Novalis geliefert zu haben (VI, 585, Nr. 252; auch a.a.O., 587,
Nr. 234; Hinweise bei Solger, V., 110 ff., 116 f.).
31
Wie fatal die Verwechslung beider Begriffe sich auswirken kann, zeigt
Emil Staigers Versuch, aus dem Verhältnis eines Dichters zur Zeit das
Funktionieren und die Individualität seiner Einbildungskraft freizule-
gen, die doch gerade kein dichterisches, geschweige ein individuell lenk-
bares, sondern ein allen erkennenden Wesen gleichermaßen zur Kon-
stitution von Wirklichkeit unentbehrliches und unwillkürliches »Seelen-
vermögen« ist.
82
Da im göttlichen »Schaffen keine Zeitfolge sein kann, so ist ja wohl
in dem Augenblick der Handlung das Schöne zugleich ganz im Schaf-
fen, und zugleich in dem wirklichen Ding« (a.a.O., 247). Indem Solger
die »stufenweise Vermittlung« (249) leugnet, muß es sich nach seiner
Vorstellung im Erscheinen zugleich verbergen. Insofern es sich offen-
bart, löst sich die Schönheit »also, als Erscheinung, ganz auf in das-
selbe« (250) und muß doch, weil das Wesen sich als ein »Fremdling«
(137) und etwas »ganz Feindliches« in der zeitlichen Welt ausnimmt,
das Nichtsein eben dieser Wirklichkeit sein. Diese Unvermittelbarkeit
des An-sich-Einigen mit der Zeit verhindert Solger, die Formel von der
sinnlichen Erscheinung der Idee im Hegeischen Sinne zu verwenden.
Die sinnliche Erscheinung ist selbst ein Widerspruch, nicht dessen Auf-
lösung.
33
Den Einwurf, daß ja das Schöne »selbst göttlichen Ursprungs« sei und
in der Versöhnung dieses Widerspruches (a.a.O., 256) bestehe, akzep-
ziert Solger (»vollkommen wahr!«), aber er insistiert darauf, daß diese
Versöhnung tanszendent bleibt, den wirklichen Widerspruch nicht auf-
hebt. Gegen eine »Vermittlung« im Hegeischen Sinne hat er Bedenken:
»Diese Vermittlung,... ist sie etwas anderes, als was überhaupt das
Werk der Zeit bei der Verbindung des Allgemeinen im Begriffe mit
der besonderen Wahrnehmung ist« (Erwin II, 137)? Vermittlung ist
ein Relationsbegriff.
34
Vgl. Friedrich Schlegel, KA XIX, 37, Nr. 345, und Schleiermacher,
Dialektik (Odebrecht), S. 153: »Der religiöse Mensch hat kein Arg
daraus, das Bewußtsein Gottes nur zu haben an dem frischen und le-

441
bendigen Bewußtsein eines Irdischen«. Denn »wollen wir das Bewußt-
sein Gottes isolieren, so geraten wir in ein bewußtloses Brüten«.
35
Eine Differenz übrigens, die einigermaßen parallel zu Solgers Unter-
scheidung von Symbol und Allegorie verläuft.
39
In welcher Tradition Solgers Rede vom sichtbaren Zeitlichen und vom
unsichtbaren Ewigen steht, verrät sich an solchen Wendungen gut (vgl.
2. Kor. 4, 16 ff.).
37
Dieser Begriff steht deutlich in frühromantischer Tradition, vgl. Nova-
lis VI, 641, Nr. 445: »Der Sitz der eigentlichen Kunst ist lediglich im
Verstände.«
38
Die beiden Richtungen entsprechen offensichtlich Schlegels Gegensatz-
paar »Witz« und »Begeisterung«: » . . . o b so wie durch den Witz das
höhere Bewußtsein in das niedere gleichsam hinunterfährt, es so auch
einen Zustand gebe, der uns aus dem niedern Bewußtsein über die
Schranken hinaus in das hohe, freie, unendliche hinaufhebt. Und wirk-
lich ist ein solcher in der Begeisterung vorhanden« (KA XII, 393).
39
Anschaulicher ist das folgende Bild: »Nun schlägt dieselbe [die Fülle
der Anschauung] in das Besondere ein, und aus diesem Blitze verbrei-
tet sich ein Licht, in welchem erst die Idee als gegenwärtig, das Beson-
dere als vernichtet und zugleich in der Idee verklärt erscheint« (a.a.O.,
264).
40
Solger versucht, ganz ohne transzendente Spekulation auszukommen:
»Ich sage dir, wer nicht den Muth hat, die Ideen selbst in ihrer ganzen
Vergänglichkeit und Nichtigkeit aufzufassen, der ist wenigstens für
die Kunst verloren« (a.a.O., 277). Aus solchen Sätzen wird Solgers
Vorliebe für Tiecks Dichtungen verständlich.
41
In einer virtuellen Zeitlichkeit.

NOVALIS
1
Eine solche Gefahr ist z. B. gegeben in jenem berühmten Blütenstaub-
Fragment (IV, 420/2 Nr. 23), das man als Dokument einer Wende
in Hardenbergs geistiger Entwicklung glaubte deuten zu dürfen;
etwa derart, daß sich Novalis, unter dem Eindruck von Liebe und
Tod seiner Braut, neuerschlossenen, die kritische Reflexion überschrei-
tenden mystischen Erfahrungen geöffnet habe. Novalis verwirft dort
die Leugnung außersinnlichen Bewußtseins (»des Vermögens, außer sid}
..., mit Bewußtseyn jenseits der Sinne zu seyn«) als »das w i l l k ü r -
lichste Vorurtheil«. Wer die Fichte-Studien kennt und auf Hardenbergs
Neigung gefaßt ist, bekannte Gedanken in überraschender, ungewohn-
ter Form zu wiederholen, wird in der poetisierten Formulierung einen
neuen Ausdruck für seine früheste Fichtekorrektur wiedererkennen:
Es gibt ein Offenbarungsbewußtsein im Ich und vom Ich, welches nicht
aus Reflexion zu erklären ist. Nur eine Kenntnis der Genese von Har-
denbergs philosophischer Entwicklung, unter stets wechselnder Termi-
nologie, aber immer um dieselbe Problematik bemüht, kann hier vor
Mißverständnissen bewahren. Fichte scheint sich an Hardenbergs Nei-
gung, philosophische Reflexion in poetisierter Sprache vorzutragen, so
sehr gestoßen zu haben, daß er in einer Unterhaltung über Harden-
bergs »Lieblingsmaterie« mit »sanfter Schonung« glaubt abwehren zu
müssen, ohne auf den sachlichen, für ihn selbst so bewegenden Kern
des Disputes zu dringen, »da er«, wie Novalis vermutet, »meine Mey-
nung für eine Abgedrungene hielt« (Brief an Fr. Schlegel, 5. Sept.
1797). Das wird wohl heißen: Fichte argwöhnt, daß Hardenbergs phi-
losophische Uberbietung des Standpunktes der Wissenschaftslehre aus
überwiegend außerphilosophischen, stark persönlich gefärbten Erleb-
nissen gespeist sei und nicht Gegenargumentation, sondern Takt und
sensible Behandlung erfordere. Fichte wurde so vielleicht zum Para-
digma eines großen Teils der Forschungsliteratur über Hardenberg.
2
Ein jeder weiß seine Ichheit vor jeder Erfahrung. Und was sollte auch
diese Erfahrung verursachen, wenn nicht das Ich? Wer anders als Ich
selbst soll mich lehren, daß Ich Ich bin? Die Evidenz dieser Gewißheit
ist weder erfahren noch gelernt, sondern schlechthin unabieitbar. Das
Ich bringt sich durch Spontaneität hervor. Darum gibt es kein Prinzip,
das basaler und fundamentaler wäre als dieses.
3
Es ist offensichtlich, daß Novalis in IX, 219, Nr. 813 an diese Kant-
Passage anschließt.
4
Es muß sich bei der »Existenz« der reinen transcendentalen Apper-
ception, da 1. »Realität« und »Dasein« kategoriale (und d. h. zugleich
auf Anschauung verweisende) Bestimmungen sind (vgl. II, 3, 47), 2.
von jedem »gebenden« Bezug auf »Empfindung« abstrahiert werden
muß, um eine präkategoriale (B 422/3, Anm., B 418/9) - d.h. auch
das Bestimmtsein durch »Modalität« abstreifende - Bestimmung han-
deln. In dieser radikalen Diesseitigkeit von Anschauung und Begriff
fungiert Kants merkwürdig aporetische Konstruktion einer »unbe-
stimmten . . . inneren Wahrnehmung« bzw. »inneren Erfahrung« *
(B 400/1 und B 422/3), die, unbeschadet ihres latenten Ver-
weises aufs »Empirische«, »rein intellektuell« sein soll, gleichwohl aber
eine »Spontaneität« begreift, deren Existenz der Apperception als »et-
was R e a l e s . . . gegeben worden, und zwar nur zum Denken überhaupt,
also nicht als Erscheinung« (B 423, B 430). - Es ist für Kant ausgemacht
(vgl. B 277, A 367, B 418, B 420 und passim), daß in der reinen Ap-
perception deren Existenz impliziert ist; diese folgenreiche Statuierung
könnte man mit Schelling den >ontologischen Beweis« des Selbstbe-
wußtseins nennen (zur Funktion der >Erfahrung< für den höchsten
Actus vide II, 1, 315,3 f.; I, 10, 87; weitere Belege im Schlußkapitel
unseres Schlegel-Teils).
* Dieser Wortgebrauch ist nicht im geringsten bedeutungsgleich mit je-
ner »inneren Wahrnehmung« qua Synonym für »inneren Sinn« (vgl.
z. B. A 107, B 277, B 156, B 68, B XL/XLI).
5
Die »Selbstaffektion« oder »Selbstberührung« interpretiert Novalis als
Zeit.
9
Dies Faktum ist freilich gerade unser stärkster Beleg: Das Sein des
Bewußtseins von sich läßt sich in der Tat nicht aufs percipi reduzieren,
darum Kant auf die Konsequenz der Selbst-Empfindung gedrängt
wird (nur als ichlos Empfundenes ist das Bewußtsein). Anders gesagt
(mit Bezug auf das obige Zitat B 68/9): Das Wesen des transzenden-
talen Selbstbewußtseins qua einer präreflexiven und präempirischen

443
(daher »erkenntnislosen« (B 157-9)) Selbstversicherung ist das »Sein«
(»wie es ist«) im Unterschied zu seiner reflexiven Selbstgegebenheit
(»wie es sich erscheint«); mit einem Wort: es geht um die Differenz von
Selbstbewußtsein (nicht-thetisch: Sein) und Selbsterkenntnis (thetisch:
Erscheinung). - Zum Parallelismus des Kantischen und existentialonto-
logischen (?) Ansatzes vgl. G. Seel, a.a.O., S. 95, Anm. 35 (dort Lite-
ratur zu dieser Frage).
7
Kant stellt sich den Verstand als ein endliches Vermögen vor, dem die
Anschauung durch ihre Unendlichkeit zwar überlegen, durch ihre
Blindheit aber doch nicht ebenbürtig ist (vgl. dagegen Schelling, Schrö-
ter, I, 279).
8
Am Ende des §en 23 wird eben dies über das Unbedingte ausgesagt:
»Aber das Vornehmste ist hier, daß auf ein solches Etwas auch nicht
einmal eine einzige Kategorie angewandt werden könnte; z. B. der Be-
griff einer Substanz, d. i. von etwas, das als Subjekt, niemals als Prädi-
kat existieren könnte, wovon ich gar nicht weiß, ob es irgendein Ding
geben könne, das dieser Gedankenbestimmung korrespondierte, wenn
nicht empirische Anschauung mir den Fall der Anwendung gäbe«. Das
absolute Subjekt darf so freilich gar nicht angeschaut werden. Es wäre
dann nicht mehr unbedingt, sondern etwas-für-mich, nicht absolut,
sondern relativ.
9
Explizit I, 528; vgl. zum ganzen Problemgebiet Dieter Henrich, Fichtes
ursprüngliche Einsicht ( = Wissenschaft und Gegenwart Heft 34), Frank-
furt am Main 1967.
10
Zur Realität dieser Gleichung vide I, 3, 390 und die ganze blendend
klare Deduktion a.a.O., 376 ff.!
11
Eine auch von Schelling 1795 bedachte Konsequenz (I, 1, 163 ff. und
passim).
12
Das freilich hatte Fichte durch den Satz: »Mithin ist das Ich, insofern
ihm ein Nicht-Ich entgegengesetzt wird, selbst entgegengesetzt dem
absoluten Ich« (Fichte I, 110) zugestanden, ohne in der Folge die fa-
tale semantische Personalunion von absolutem und beziehungsweisem
Ich zu beseitigen.
Der junge Schelling gibt schon 1794 eine einleuchtendere Erklärung:
. . . »ursprünglich ist nichts als das Ich, und zwar als oberste Bedingung
gegeben. Durch dasselbe ist also nichts gegeben, als insofern es Bedin-
gung ist, d. h. insofern etwas durch dasselbe bedingt ist, das, weil es
durchs Ich bedingt ist, und bloß deswegen, ein Nichtich seyn muß. Auch
das Ich, das in der Vorstellung durchs absolute Ich bedingt ist, wird
deßwegen und auch nur deßwegen, ein Nichtich« (I, 1, 100). D . h .
wegen des Ichs Unbedingtheit ist seine einzige Form des Bedingtseins
die, nicht Ich zu sein, oder, anders gesagt, ist seine einzige Form des
A\s-ld\-Existierens die, nicht-als-/cfc-zu-existieren.
13
Schleiermacher, Dialektik (Odebrecht), 270 ff., bes. 286 ff. (Anm. LI).
14
Der von Mahl gegebene Hinweis auf Fichte führt nicht eigentlich
weiter, da Hardenberg Fichtes Termini ihrem ursprünglichen Sinn für
seine eigenen Zwecke vollständig entfremdet hat. Die Lektüre ausge-
wählter Kapitel des praktischen Teils der Wissenschaftslehre erbringt
kaum mehr als einen nützlichen Fundus zu einem gerechten Urteil über
Hardenbergs Eigenständigkeit. Das Studium von Hardenbergs philo-
sophischen Manuskripten ist für einen Fichteaner eben darum so
schwierig, weil er hier im gewohnten Gewände Gedanken entwickelt
findet, die Fichtes Position überbieten und ihn unausdrücklich mehr
und mehr zu kritisieren beginnen. (Die Wendung »Setzen durch ein
Nichtsetzen« findet sich z. B. auch bei Fichte, aber in anderem Sinne.)
Nützlicher wäre ein Hinweis auf die Tradition des Wortes »Gefühl«
und Hardenbergs Ausweitung des Fichtesdien Begriffs der »Sphäre«
(Fichte I, 191 ff.). - Um sich von Hardenbergs Umfunktionalisierung
des Fichteschen Begriffs »Gefühl« zu überzeugen, wäre die Kenntnis
folgender Passus der Wissenschaftslehre erhellend (bei Fichte ist Ge-
fühl nicht Ich-Bewußtsein schlechthin, sondern Bewußtsein der Hem-
mung, die das Ich sich selbst auferlegt, um sich fassen zu können. Daß
Novalis diesen Aspekt als Fichtes authentische Intention kannte
und von der seinen unterschied, beweisen seine Fichte-Exzerpte III,
S. 354, Z. 15): I, 266/7 »Mithin sind . . . Gefühl zeigen«; 289/90 »Die
Äußerung des Nicht-Könnens im Ich heißt ein Gefühl... - nicht
eingeschränkt«; 290 »Es ist in ihm ein Gefühl vorhanden . . . als das
angezeigte«; § 8, 293-307, 319 ff. - Charakterisieren diese Passa-
gen die Differenz von Fichte zu Novalis, so drängt sich eine erregende
Parallele zu Fichtes berühmtem Brief an Schelling (31. Mai - 7. August
1801, Berlin) auf, mit jenem Brief also, der einen sehr hermetischen
Vorblick auf Fichtes »neue Darstellung der Wissenschaftslehre« eröffnet.
Fichte behauptet dort sowohl eine »Hin-und-Her-Direction« (»Wende-
Punkt sich entgegenlaufender Richtungen. (Hier liegt der Grund
der Synthesis.)« (Schulz, 128)), wie auch die Konversität der jeweils
verkehrt gespiegelten Tendenzen zwischen Ich als bestimmtem (C) und
bestimmbarem (B) (individuellem Ich und Geisterwelt), ein »ideales
uebergehen« vom ersteren zum letzteren »und ein reales« umgekehrtes
Übergehen innerhalb A als synthetischer Sphäre oder dem »absoluten
Bewußtseyn« selbst (a.a.O., 127). Dies kann hier nur als Beleg dafür
gelten, daß Novalis typische Tendenzen des späten Fichte antizipierte.
15
Vgl. damit Schellings Rede vom höchsten »Daseyenden« als »dem
nur im Nichtsetzen zu Setzenden, nichtwissend (d. h. indem sie [die
Substanz] nie zum Gegenstand des Wissens, zum wirklichen Seyn er-
hoben wird) Gewußten« (II, 2, 68; vgl. »Selbstbewußtseyn« a.a.O.,
119 ff.).
18
Das Zitat fährt so fort:
»oder
Setzen bedingt durch Nichtsetzen
Nichtsetzen bedingt durch Setzen -
Das ist die reinste Darstellung des Gefühls und der Reflexion.«
Es gibt also kein nicht-thetisches Bewußtsein ohne Thesis, keine Thesis,
die nicht nicht-thetisches Bewußtsein von sich wäre und voraussetzte.
So übrigens auch Fichte ab 1801. Er spricht von einem allerhöchsten
»Punkt«, der »eben auch ein Wissen« sei, »nur nicht von etwas, son-
dern das absolute* (Schulz, S. 152). Vgl. a.a.O., S. 129: Es ist »reine
Durchsichtigkeit, Licht, nicht das Licht zurückwerfender Körper. Das
leztere ist es nur für die endliche Vernunft«. - Das gleiche Bild hat

445
Novalis schon Jahre früher verwendet, wie wir zeigen werden. Von
hier fällt übrigens ein Licht auf den berühmten »romantischen« Satz:
»Begreifen werden wir uns also nie Ganz - aber wir werden und können
uns weit mehr, als begreifen« (III, 363), nämlich fühlen. Fühlen ist
freilich nur ein Abstraktum in der synthetischen Bewegung der Selbst-
vermittlung, welche die präreflexive Ungeschiedenheit von sich mit der
Reflexion verbindet und so Ichheit zustandebringt: »Ich ist blos der
höchstmögliche Ausdruck für die Entstehung der Analyse und Syn-
these im Unbekannten.«
17
Als unmittelbares Objekt für die Reflexion ist das Sich zugleich »sinn-
liche Anschauung« (II, 167), d. h. ein Gefühl, das sich seiner Selbstheit
nicht ausdrücklich versichert, sondern selbstlos anschaut. Von hier ver-
steht sich die substantielle Identifizierung von Gefühl und Natur bei
Novalis. Die Realität geht der Idealität voraus und gibt sich ihr nicht
anders als der Offenbarende dem Gefühl. - An die merkwürdige Ent-
sprechung bei Kant sei wenigstens erinnert (s. Anm. 4).
18
Daß Novalis sein Theorem eines ungegenständlichen, selbstlosen Ur-
bewußtseins als Korrektur an Fichtes Philosophie verstand (der immer
vorzuwerfen war, daß sie uneingestanden das gleiche Theorem vor-
aussetzen mußte, um zu ihren Ergebnissen gelangen zu können), be-
weisen, soweit erhalten, die Fichte-Exzerpte: »Grund alles Erkennens:
Das Ich ist und muß Intelligenz seyn, weil es einen in ihm selbst befind-
lichen Widerspruch zwischen seiner Thätigkeit und seinem Leiden ur-
sprünglich/ ohne Bewußtseyn und zum Behuf der Möglichkeit alles
Bewußtseyns [/] vereinigen muß - hierzu muß man aber über alles
Bewußtseyn hinausgehen« (III, 345, Nr. 1) - welche die Sphäre der
Einbildungskraft allererst erschließende Entdeckung Hardenberg erst in
IV, 420/2 bzw. 421/3, Nr. 23, 24 thematisiert (vgl. Mahls Vorwort,
S. 303). Aber schon in den Kant-Studien wird das »mit Bewußtseyn
. . . außer sich seyn« postuliert. Noch später wiederholt Novalis: »In
allem Wissen ist Glauben« (VI, 599, Nr. 344). Wäre nicht »der Anfang
der Philosophie« Gefühl, so würde nie eine Selbstreflexion das Ich als
Ich erkennen und erklären können (vgl. meine ausführliche Interpreta-
tion der Deduktion in: Euphorion 63/1969, S. 90ff.). Die Anlehnung an
die der Sartre'schen Phänomenologie entnommenen Termini des prä-
reflexiven, niditthetischen und des thetischen (reflexiven) Selbstbe-
wußtseins ist beabsichtigt, da sie, ohne Hardenbergs philosophischem
Ansatz Gewalt anzutun, ja fast ganz unter wörtlicher Verwendung
seiner eigenen Bestimmungen, eine noch wenig bedachte Parallele auf-
fällig macht und die Ubersetzbarkeit zweier Positionen demonstriert.
Ich frage mich, ob der von Hardenberg skizzierte Entwurf hinter dem
phänomenalen Minimalbestand für eine Theorie des Selbstbewußtseins
wirklich wesentlich zurückbleibt, wie sie Dieter Heinrich (Selbstbe-
wußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie; in: Hermeneutik und
Dialektik I, Festschrift für H.-G. Gadamer 1970, S. 257 ff.) aufstellt:
»Die wissende Selbstbeziehung, die in der Reflexion vorliegt, ist kein
Grundsachverhalt, sondern ein isolierendes Explizieren, aber nicht un-
ter der Voraussetzung eines wie immer gearteten implizierten Selbst-
bewußtseins, sondern eines (impliziten) selbstlosen Bewußtseins vom

446
Selbst« (a.a.O., 280). Ob auch Sartre dieser Theorie nicht näher kommt,
als Henrich ihm einräumt?
19
In der intellektualen Anschauung wird die »absolute Urhandlung« an-
geschaut; die Anschauung dieser Anschauung wird also zur reflektierten
intellektualen Anschauung oder, wie Novalis bald modifiziert, zur
»relativen Urhandlung«.
80
Der Wortgebrauch (»intellektuale« statt »intellektuelle« Anschauung)
läßt Schelling-Lektüre vermuten.
21
Urhandlung erscheint selbst nur durch Reflexion der Reflexion (119,
Nr. 22), d. h. durch eine reflexive Korrektur an der Verkehrung in der
Urreflexion. »Ursprünglich« ist die intellektuale Anschauung »vor der
Urhandlung. Sie begründet dieselbe - secundario ist es umgekehrt.«
Was aber »secundario« als Folge erscheinen muß, erscheint uns als das
»in der That« (118, Z. 28) erste, wiewohl es Folge der 2. Reflexion ist.
Natürlich ist von dieser »Urhandlung« qua Einheit »in der Reflexion«
die sich dem Gefühl mitteilende Einheit »außer der Reflexion« zu un-
terscheiden, die ja aber selbst durch einen komplizierten Spiegelungs-
prozeß, selbst reflexiv, vermittelt wird. Novalis hat die Kategorien
ständig gewechselt (129, Nr. 39; 121, Nr. 23).
22
Erst eine Reflexion der Reflexion spiegelt das Verhältnis wieder ins
Wahre und belehrt uns nachträglich, daß wir unser durch Trennung
von unserem Sein charakterisiertes Dasein als nachträgliche Folge einer
vorauszuschickenden Urhandlung begreifen müssen. So ist erklärt,
warum unsere gegenwärtige Existenz in jeder Reflexion uns näher ist
als unsere eigene Vergangenheit, die wir doch eigentlich früher sind
als unsere gegenwärtige Existenz.
83
Novalis hat den Vorrang des Praktischen über die Theorie nie ver-
leugnet, aber strenger als der Fichte der 9^er-Wissenschaftslehre gefor-
dert, daß die Begriffsjenseitigkeit des Willens der Reflexion vermittelt
werde. Die »Praxis« ist das in der Synthesis »eigentlich Absolute«.
Eindeutig läßt sich das belegen aus II, 147, Nr. 85, 86, 87, 88, 89; 148,
Nr. 91; 149, Nr. 92, 96; 294, Nr. 659; 153, Nr. i n ; 208, Nr. 293
(»Caussalitaet des Fühlens«, zeigt die Korrelation von Praxis und Ge-
fühl, vgl. XII, 669, Nr. 608); IX, 364, Nr. 568; 354, Nr. 512, Z. 22.
2311
Mit einem anderen Akzent ebenso Fichte 1801 (Fichte II, 19 ff.,
cf. im Zusammenhang!).
84
II, 127, Z. 31.
85
Mit dieser ganzen Analyse aller Verhältnisse im Selbstbeziehungspro-
zeß vgl. wieder Fichtes Brief (Schulz 127/8 ff.; über »für«, »von«,
»sich«, »in« usw.).
29
Das Durchstreichen weist auf die Integration eines Gedankens, der
nun nicht mehr bloß als Projekt fungiert.
27
Vgl. A. Carlsson (Die Fragmente des Novalis, Basel 1939): »Das Ich
wäre somit das Prinzip der Individuation. Gerade dies ist dem Stre-
ben Fichtes entgegengesetzt (a.a.O., 38, vgl. auch 171).
88
Vgl. oben S. 198-202. Wir sollten erwähnen, daß sich die Struktur des
reflektierenden Reflexes« mit Schellings Modell der Zeitlichkeit im
Selbstbewußtsein deckt: Zeitlich ist nämlich das »mit Differenz der
Wirklichkeit von der Möglichkeit« Gesetzte, das also »die vollkommene

447
Möglichkeit seines Seyns nicht in sich selbst, sondern in einem andern
hat« (I, 6, 45). Derart in sich selbst des mangellosen und sie als »Konti-
nuität« durchwaltenden (I, 7, 170) Seins unfähig, ist die Zeit eine rela-
tive Synthese von abstrakter Realität unter Verlust der Möglichkeit ( =
Vergangenheit) mit abstrakter Potentialität unter Verlust der Wirklich-
keit ( = Zukunft). Die Gegenwart ist die erscheinende Unvermittelbar-
keit beider - ein Reflexespiel (vgl. 1,7, 23 8 ff. und 1,6, 270 ff.; I, 8, 302;
WA I, 81). - Ähnlich Fichte 1804: Das, was sein Sein in sich selbst hat
(»Licht«), ist toto genere verschieden von dem, was sein Sein als Reflex
(nicht in sich selbst, sondern) im Reflektierenden hat und umgekehrt
(dies der »Grund-Reflex*, Brief an Schelling vom 15. 1. 1802 (Schulz,
S. 152)). Das mit dem »Begriff« gleiche »Durch« wird durch den Prozeß
einer unverfügbaren Durchwaltung gestiftet, im Verlauf dessen das ab-
solut innerliche Licht den empirischen Wechsel vermittelt (Janke, 68/9;
vgl.: »Nun ist Unbegreifliches = Unwandelbares, Begriff = Wandel«,
a.a.O., 41). - Sartres Bestimmung des »conscience (de) soi« als reflet
refl^tant« hat die in Hegels »Logik des Wesens« als zu überschreitende
Abstraktion verdrängte Temporalität von »Schein und Widerschein« im
»Für-sich« wiederentdeckt - erstaunlicherweise, ohne Fichte und
Schelling zu benutzen. Dieser Zusammenhang verdient eine gesonderte
Untersuchung, auf die ein Satz von Jürgen Habermas vordeutet: »In
Schellings Logik, hätte er eine geschrieben, bliebe das dritte Buch dem
zweiten, der Begriff dem Wesen untergeordnet« (J. H., Theorie und
Praxis, vgl. a.a.O., S. 132); weiterhin Klaus Hartmann,'Sartres Sozial-
philosophie. Eine Untersuchung zur »Critique de la raison dialectiquc.
Berlin 1966, S. i9 >2 .
Das »ihm« in Zeile 32 (S. 131) steht wohl nur deplaciert und nimmt
als Dativpronomen das »für den Beobachter« vorweg. Dann wäre der
Satz so zu lesen: Das Subjekt, unfähig, das Reine als das Reine vorzu-
stellen, hat das Reine im Objekt (Sich) - unerachtet es für den außen-
stehenden Beobachter deutlich ist, daß es das Ich, nur nicht als Ich, hat.
Das Ich vermittelt sich qua SICH (Objekt) dem Subjekt (sich selbst
als Reflexion).
Für das empirische Subjekt wird die >große Zeit« das 6-OXE(U£VOV,
die Basis der eigenen Existenz, die Novalis später als »Ek-sistenz«,
Verlust des identischen Seins, interpretiert (S. 199). Es fühlt sich, un-
erachtet es von der großen Zeit her mit der Einheit verbunden ist, »ab-
hängig«, denn das Absolute »ist [zwar] in uns«, aber »wir sehn es au-
ßer uns in Einem und demselben Momente« (134, Nr. 45). Durch die
Unvermögenheit, über die Differenz hinaus das Bewußtsein der Iden-
tität auszustehen, erfaßt das Ich seinen Grund als ihm entzogen (vgl.
das Bild von der Pyramide, Nr. 46!) und hat von sich gegenüber dem
Absoluten das Gefühl des Teils zum Ganzen (a.a.O.). In der intellek-
tualen Anschauung ist das Absolute »angeschautes Ganzes und inso-
fern Theil, nicht angeschautes Ganzes und insofern wieder Theil in
Einem und/ demselben Momente« (134/5), denn nun zieht es sich
ganz ins präreflexive Sich zurück und ist zwar Teil des Gesamtver-
bandes, aber in ihm abstrakte Einheitskraft, nicht absolute Einheit,
sondern Einheit, relativ auf Differenz. »Diese Selbsttäuschung ver-
knüpft das Wesen des Ich - oder ist absolut.« Das Täuschende ist das
»Mittel« (oder »Bild«, Nr. 46), vermöge welches die Synthesis sich
(als Gefühl oder Raum) mit sich selbst (als Bewußtsein oder Zeit) zu-
sammenbringt. Es ist das absolute »Durch« (wieder wäre an Fichtes
späte Wissenschaftslehre zu denken!). Wir sind »Im« Ich »Absolutes
Ich« »mittelst« »reines Ich« »Durch« »Getheiltes Ich« (135, Z. 23 fr.).
Das Ich ist für sich, bevor es sich als sich setzt. Und eben dieses Über-
antwortungsverhältnis führt das Subjekt durch eine unvermeidliche
Täuschung aufs Absolute zurück und läßt es den »Grund« seines Exi-
stierens als außer ihm gesetzt »fühlen«. Es ist zwar das Absolute selbst,
aber in der Weise, daß es das Absolute zugleich nicht sein kann. Es ist
definiert als die Negation der absoluten Identität, also des eignen
Seins, damit aber als synthetische Zeitlichkeit. Also steht das Subjekt
zu seiner eignen Identität in Widerspruch.
Anders: Das absolute Ich offenbart sich in sich und vor sich durchs ge-
teilte Ich (hindurch) »mittelst« des (gefühlten) »reinen Ichs«. Aber das
geteilte Ich vermeint inmitten dieses Prozesses (»ordine inverso«) die
Richtung anders: Ihm erscheint die Offenbarung als Geschehen »Im«
»Getheilten Ich« »Durchs« »Subject« »Mittelst« »Object« (135, Nr.
45>-
81
Daß das Subjekt gerade dadurch empirisch werden soll, daß es »zu-
gleich denkt, fühlt und anschaut«, erscheint zuerst widersinnig. Novalis
charakterisiert die Endlichkeit aber dadurch, daß in ihr nur »Vermö-
gen«, keine ursprüngliche »Kraft« sei. Die Vermögen aber erzielen volle
Anschauung nur dann, wenn sie »zusammenwirken«; denn sie sind
mangels einer aus sich selbst erregbaren Kraft interdependent: »Der
Mensch hat nicht volles Bewußtseyn, wenn Ein Stück fehlt«. Dies Zu-
sammenwirken aller Vermögen »macht das empirische Bewußtseyn
aus« (II, 167, Nr. 214).
38
»Raum und Zeit« sind in Hardenbergs ersten Aufzeichnungen, noch
sehr Kantianisch, gleichgeordnet - wir beobachteten dies auch bei
Schlegel. Novalis aber denkt diese »Formen der Anschauung«, was
Kant nie zugelassen hätte, als Formen der »intellectualen Anschau-
ung«, in der die Urdifferenz latitiert. Die Differenten sind »ihr Acci-
dens . . . Sie muß in Wechselwirkung mit sich selbst treten.« Aber da
die intellektuelle Anschauung »nicht absolutes Ich« ist, sondern schon
Derivat, müssen ihre Formen Bestimmungen »eines überhaupt schon
Bestimmten seyn — das wäre Form« der Anschauung. Und weiter:
»Die Anschauung ist aber Wechselbestimmung zwischen reinem und
getheiltem Ich - folglich muß sie 2 Formen haben - Eine in Bezie-
hung aufs reine, Eine in Beziehung aufs getheilte Ich« - Raum und
Zeit (S. 137). Hardenbergs Begriff der Anschauung ist fundamental
verändert gegenüber Kant - sie ist selbst eine ursprüngliche Synthesis,
die zwar dem synthetischen Begriff als dessen Objekt auch zuvor-
kommt, aber qualitativ mit ihm eines ist.
33
Auch für Hardenbergs Zeit-Philosophie ist die bekannte Unterschei-
dung von empirischer und aktualer Allheit ausschlaggebend (vgl. II,
140, Nr. 53; 154, Nr. 123; 153, Nr. 110; II, 240/1, Nr. 441; 267, Nr.
556; 148, Nr. 90; 184, Nr. 240; 200/1, Nr. 284; 198, Z. 15 ff.; 202, Z.
17 ff.; 269, Nr. 565).
449
34
Die Kenntnis dieser Differenz charakterisiert die Selbstbewußtseins-
problematik der gesamten frühromantischen Dichtung; vgl. exempla-
risch Ledebrinnas Krisis in Tiecks ironischer Novelle Vogelscheuche:
»Doppelt, doppelt ist jeder Mensch! Ich sehe den Feind wohl, der in
mir hauset, einen schönen Anschein giebt er sich, aber er ist nicht mein
Ich, und will sich doch für meine Seele ausgeben. . . . Sein Ich ist in
mir, und doch fühle ich es außer mir: er erfüllt mein Inneres und den-
noch ist es leer. Mein Schauen ist oft nur ein Schauen seines Schauens,
aber es strömt, es spiegelt nicht in mein wahres Ich zurück, in der höch-
sten Aufregung der Aktivität fühle ich doch nur meine Passivität, und
das Gefühl dieser Passivität ist dann einzig und allein die Aktivität
meines Ich« (Tieck, 27, S. 321).
35
Jean-Paul Sartre, »Das Sein und das Nichts*, S. 125 ff. (presence ä soi).
38
Vgl.: »Schon das Gewissen beweißt unser Verhältniß - Verknüpfung
- (Die Übergangsmöglichkeit) mit einer andern Welt« und » i s t . . .
ekstatisch« (insofern es »Vernunft« ist; IX, 448, Nr. 934).
37
Darum ist das Gefühl mit Recht »Erinnerung« aus der »irrdischen
Zeit« heraus in die »2te Welt« genannt (IX, 259, Nr. 100). Vgl. »Aller
wircklicher Anfang ist ein 2ter Moment. Alles was da ist, erscheint nur
unter einer Voraussetzung — Sein individueller Grund, sein absolutes
Selbst geht ihm voraus - muß wenigstens vor ihm gedacht werden.
Ich muß allem etwas absolutes Vorausdenken - voraussetzen - Nicht
auch Nachdenken, Nachsetzen?« (VI, 591, Nr. 284).
38
Von hier fällt ein Licht auf Hardenbergs Dichtungstheorie. »Die hö-
heren Mächte in uns«, sagt er (VI, 564, Nr. 196), offenbaren sich im
»Märchen« als »Träume jener heymathlichen Welt, die überall und nir-
gends ist«. Diese »höheren Mächte in uns, die einst als Genien unsern
Willen vollbringen werden, sind jetzt Musen, die uns auf dieser müh-
seligen Laufbahn mit süßen Erinnerungen erquicken«, nämlich mit
Erinnerungen der als Vergangenheit verlorenen absoluten Sphäre.
(Dieser Gedanke ist erstaunlich ähnlich mit Schlegels später Theorie:
»In dieser Hinsicht könnte man . . . die Poesie überhaupt die tran-
scendentale Erinnerung des Ewigen im menschlichen Geiste nennen«
(KA X, 399).)
89
Daß Novalis Fichtes Ich der Individualität überführt und nicht ohne
implizite Polemik »Person« nennt, hat schon Anni Carlsson (Die Frag-
mente des Novalis) ins Licht gerückt: »Das Ich wäre somit das Prin-
zip der Individuation. Gerade dies ist dem Streben Fichtes entgegen-
gesetzt« (a.a.O., 38; 171).
40
»Synthese« ist bei Novalis in dieser Phase der Fichte-Studien als ab-
solut gedacht. Sie »ist stets I d e e . . . Idee kann nie Etwas - ein Wirck-
liches seyn« (II, 160, Nr. 161). Natürlich begriff Novalis gleich, daß
Synthese etwas Prinzipiiertes (nie Prinzip) sein muß.
41
Novalis gebraucht den Begriff »Transzendenz« häufig im Sinne von
»Ekstasis«: die eigne Partikularität überschreitende Tendenz.
48
Vgl. dazu XII, 687, Nr. 679; II, 157, Nr. 153; 192, Nr. 272; 274,
Nr. 568; 275, Z. 9 ff. (über die Medialität des »Sinns« qua Einbil-
dungskraft 272—4).
43
Vgl. E. Heftrichs Deutung der »blauen Blume« (Novalis, S. 71).

450
44
An ein Kausalverhältnis ist hier noch nicht gedacht. Selbstverständlich
bildet sich die Relation Grund-Folge empirisch auch und vordring-
lich in der Kausalität ab.
45
Vgl.: »Mit Instinkt [Gefühl] ist das Genie im Paradiese - vor der
Periode der Selbstabsonderung* (Reflexion) (IX, 301, Nr.
340; 441, Z. 23-25; 456, Nr. 993). - »Mit Instinct hat der Mensch an-
gefangen - mit Instinct soll der Mensch endigen.« - »Die Erkenntniß
ist ein Mittel, um wieder zur Nicbterkenntniß zu gelangen, (vid. In-
stinkt.)« . . . »Soll der Mensch sich Seibzweyen, und nicht allein das,
sondern auch selbdreyen« - in die Zeit-Dimensionen?
49
Auch Hegel (Phänomenologie des Geistes, ed. Hoffmeister, S. 136)
redet »vom einfachen Wesen der Zeit, das in dieser Sichselbstgleichheit
die gediegene Gestalt des Raumes hat«.
47
»Gesetz des Beharrlichen«, notiert Novalis, »was sie [die Natur] ein-
mal gemacht hat, behält sie.« Er nennt dieses Behalten - indem er den
semantischen Doppelsinn von »Behalten« ausnützt - »Naturgedächt-
niß* (IX, 419, Nr. 776). Das Gegenteil einer die fixierte Natur thema-
tisierenden Wissenschaft ist die »Facten«-Wissenschaft, die nicht »Da-
ten« erinnert, sondern »Projekte« (statt Objekten) vorstellt. Die Wissen-
schaft schlechthin (d.h. im damaligen Sprachgebrauch: alles Wissen)
ist eine Synthesis von Vergangenheits- und Antizipationsbewußtsein
(IX, 275, Nr. 198). Die behauptete Übereinstimmung zu Friedrich
Schlegels Heften (Brief 14. Juni 1797) wird gerade an diesem Theo-
rem sehr glaubwürdig.
48
Ähnlich hat Novalis die drei Dimensionen der Modalität abgeleitet
und der Zeitkonstitution analogisiert: II, 174, Nr. 644; 253, Nr. 470;
III, 369, Nr. 29; II, 258, Nr. 502; zur Analogie von Zeit und Modali-
tät vgl. grundsätzlich IX, 381, Nr. 633; 258, Nr. 93; 254, Z. 20/2;
445. Nr. 924.
49
Diese Identitätsverweigerung ist die empirische Darstellung der Frei-
heit, von der noch Hegel (Phänomenologie des Geistes, ed. Hoffmei-
ster, S. 476) reden wird als von »der Form der reinen Freiheit gegen
anderes, die sich als Zeit ausdrückt«. Vgl. Enzyklopädie, § 258: »Die
Z e i t . . . ist das Sein, das, indem es ist, nicht ist, und indem es nicht
ist, ist.* Indem bei Hegel - anders als bei den Romantikern - die
Zeit im Begriff des Geistes ihrer Eigenwirklichkeit entmachtet wird,
wird die von ihr negierte Identität wieder restituiert.
50
Hardenbergs negative Dialektik von Sein und Nichts (Schein) ist der
Solgerschen vollkommen analog. Wir verweisen darum auf die aus-
führliche Interpretation im Solger-Kapitel. Die Negation der Nega-
tion muß natürlich als Partikularannihilation einer Synthesis aus Sein
und Nichts verstanden werden, die sich hinsichtlich ihres An-sich-
Seins vernichtet, gerade um sich als relatives Nichts von der Art, wie es
die Freiheit ist, begründen zu können (die nicht schlechthin Nichts
ist!).
51
Es ist hier an ein »transitives Sein« zu denken, wie es Schelling be-
stimmt (I, 7, 205; II, 3, 227 ff.; I, 10, 303 unten).
58
Daß in Th. Haerings Behandlung die ganze Zeit-Raum-Theorie Har-
denbergs dem Systemzwang des vom Autor projizierten Vorurteils

451
verfällt (ders., Novalis als Philosoph, Stuttgart 1954, besonders 533-
41, 536 »Auch für Novalis sind Raum und Zeit« . . . usw.) und daß
Haering mit schlafwandlerischer Sicherheit an den bewegenden Kon-
sequenzen von Hardenbergs Theorie vorübergeht, schmälert nicht sein
Verdienst, als bisher einziger Hardenbergs Philosophie - auch die
Zeit-Philosophie - einer - der Absicht nach - erschöpfenden Inter-
pretation unterzogen zu haben.
Noch offensichtlicher ist die Parallelisierung von Gemütszuständen
und Zeitdimensionen aus Notizen wie IX, 349, Nr. 496 oder 355, Nr.
516. Über die Analogien von »Hoffnung und Sehnsucht« zu »Zukunft
und Vergangenheit« vgl. IX, 283, Nr. 245, Z. 33/4 - IX, 287 oben,
Nr. 261; 298/9; 460, Nr. 1023; XII, 641, Z. 30/2 u. passim.
Hans-Joachim Mahl (Die Idee des goldenen Zeitalters, Studien zur
Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideen-
geschichtlichen Voraussetzungen. Heidelberg 1965) hat auf die Inter-
aktion von »Erinnerung« und »Ahnung«, »Vergangenheit« und »Zu-
kunft« (S. 305 fr., 314 fr.) als erster im Zusammenhang aufmerksam
gemacht. Aber seine Interpretation verkennt die metaphysische Totali-
sierung als eine »mystische Grundintention« (314) und bleibt Harden-
bergs Theorie der zeitlichen Konstitution des Selbstbewußtseins, die
er nirgends behandelt, wie von außen aufgetragen. Charakteristisch
ist Mahls Kritik an W. Emrichs Aufsatz >Begriff und Symbolik in der
romantischen Dichtung« (in: DVjs. 20, 1942, S. 279). Gegen Emrich
behauptet er (a.a.O., 303) den eben nicht transzendental, d. h. nicht aus
der Analyse der Selbstseins-Struktur erworbenen, sondern »utopischen
Charakter« der Urzeitvorstellung (Mahl, a.a.O., 313, Anm. 12). Mahl
verwischt damit die Grenzen von Hardenbergs Philosophie und Dich-
tung und begibt sich dadurch eines außer-ästhetischen Kriteriums zur
angemessenen, die Wahrheitsfrage nicht ausklammernden Beurteilung
des Hardenbergschen Denkens. - Unserer Ansicht nach lebt in solcher
Novalis-Literatur das Paradigma von Fichtes Hardenberg-Kritik fort,
wie wir es eingangs vorstellten.
Auf eine tiefsinnige Weise verkannt ist die einleuchtende Zuordnung
dieses Passus in die Zeit-Raum-Polarität in Mahls Interpretation (Die
Idee des goldenen Zeitalters, S. 317).
Auch Kant, Schelling, später Husserl haben gezeigt, daß der reine,
zeitkonstituierende Bewußtseinsfluß nicht selbst zeitlich ist.
Die ideelle Darstellung dieser Gerinnung und ihrer Wiederauflösung
in der Poesie ist das Drama: »Der Inhalt des Dramas ist ein Werden
oder ein Vergehen. Es enthält die Darstellung der Entstehung einer
organischen Gestalt aus dem Flüssigen. Es enthält die Darstellung der
Auflösung - der Vergehung einer organischen Gestalt im Zufall. . . . «
(VI, 535, Nr. 44).
Raum und Zeit sind die ideellen Sphären, darin erst Körper und Be-
wegung (sichtbare Zeitkraft) möglich werden. Durch »Consonation«
entstehen Körper. »Ein Körper ist ein cosonirter Raum.« Umgekehrt
»lößt sich . . . der feste Körper . . . wieder in Raum auf - verschwindet
im Raum«. »Alles soll wieder Raum werden.« (IX, 304, Nr. 356) -
»Dem Körper entgegengesezt - Bewegung. Die consonirte Bewe-

452
gung der Zeit ist die wirokliche Bewegung.« Als konsonierte Zeit ist
die reine Zeit im Schema versinnlicht so wie im Körper der Raum.
Aber beide »sind nicht«, wie ihre Darstellung ist: die Darstellung ist
nur ihre entfremdete Gestalt (vgl. zur Begriffserklärung auch IX, 317,
Z. 6; 310, Nr. 383).
58
So erklärt sich, was Schelling »die allgemeine Subjektivität der Zeit«
nennt, nämlich jenes Phänomen, daß, wenn »alles nur Werk der Zeit«
ist, »schlechthin jedes seine Zeit in sich selbst hat« (WA I, 78, 12 und I,
7, 431). »Jeder Mikrokosmos, (jedes Individuum)«, sagt Schlegel, »hat
seine eigne Zeit« (KA XIX, 68, Nr. 265; ebenso Novalis: »Jeder Kör-
per hat seine Zeit - jede Zeit hat ihren Körper«, IX, 455, Nr. 991).
59
»Ein Körper verhält sich zum Räume — wie ein Sichtbares zum
Lichte« (IX, 453, Nr. 973). Nur auf der Folie des Raumes zeichnet
sich Besonderes ab (vgl. 455, Z. 23/5 und XII, 663, Nr. 602).
*° Durch Hardenbergs gesamte naturwissenschaftliche Aufzeichnungen
hält sich dieser Gedanke durch, daß Naturprodukte mit Bezug auf
Zeitdimensionen eingeteilt werden können (vgl. VIII, 135 ff.; IX, 336,
Z. 19/21 bis 337, Z. 1 und VIII, 146/7). Insbesondere die Kristalli-
sation interpretiert Novalis als Paradigma der Erstarrung von ur-
sprünglich Flüssigem, also als » Z e i t e n -Construction« (vid. VIII,
161, 163, 164). Zur Metaphorik der Kristallisation vgl. IX, 459, Nr.
1014; XII, 564, Nr. 65; IX, 332, Z. 13/4).
91
Vgl. I, 6, 270 ff.; I, 7, 238 ff.; WA I, 81 f.
88
Vgl. Schelling, WA I, 81: »Jede Zeit[dimension] . . . unterscheidet sich
von der vorhergehenden nur dadurch, daß sie zum Theil als vergangen
setzt, was diese als gegenwärtig, und zum Theil als gegenwärtig, was
jene noch als zukünftig setzte; und ebenso nur auf die umgekehrte
Art unterscheidet sie sich von der ihr folgenden Zeit« (vgl. a.a.O., S.
82).
88
Die Folge dieser Unverträglichkeit im Begriff einer jeden der drei
Dimensionen ist deren Dreidimensionalität selber. Indem die Gegen-
wart nicht ist, was sie ist, würde sie sich schlechthin aufheben, wenn sie
nicht zugleich partielles Nichtsein der Negation und Sein ihres partiel-
len Nichtseins wäre. Nichtsein hält sie von sich ab, indem sie sich als
Sein verhält und zugleich dieses Sein von dem unterscheidet, was sie
(noch) nicht ist. Die Vergangenheit wird ihre Basis, vermöge derer sie
nicht nichts(ouxßv)ist: »Man kann nur werden insofern man schon ist«
(VIII, 61, Z. 16; XII, 586, Nr. 214; 648, Nr. 541). Das ist die rela-
tive »Bindung« aneinander, deren alle Zeitekstasen zu ihrem Sein be-
dürfen, so daß wir Zeit als eine organisierte Struktur bezeichnen konn-
ten.
84
Novalis hat Fichtes Ich in den »Bemerkungen zur Wissenschaftslehre«,
gegen Ende der Fichte-Studien, geradezu als »Gemeinsfäre« der, wie
er sagt, »schon im Ich vorhandenen« (II, 265, Nr. 553) Momente ge-
deutet. Damit wird der Fichte'sche Vorrang des Praktischen über
das Theoretische zur bloß relativen Differenz.
95
Vgl. dazu Martin Dyck, Novalis and Mathematics. A Study of Fried-
rich von Hardenberg^ Fragments on Mathematics and its Relation
to Magic, Music, Religion, Language, and Literature. Chapel Hill
i960. S. 70-72.
453
98
Außer auf S. 343 ff. äußert sich Novalis über die Wechselbedürftig-
keit der induktiven und der deduktiven 3-stufig-synthetischen Me-
thode auch IX, 364, Nr. 567.
87
Hans-Joachim Mahl hat Hardenbergs »Idee des goldenen Zeit-
alters . . . « ein ganzes Buch gewidmet, das die neuere Forschung fast
durchaus bestimmt hat.
»Die Allsynthese«, schreibt Mahl, »besteht nicht, sondern sie ist un-
endliches, durch die Poesie zu vollziehendes Ziel, ein Imperativ, der
auf die Weltmission des Geistes zurückweist« (a.a.O., 281; noch deut-
licher S. 385), und formuliert damit in nuce eines der wesentlichen
Ergebnisse von Johannes Mahrs »Gesamtanalyse« des Ofterdingen-
Romans (Übergang zum Endlichen. Der Weg des Dichters in Novalis'
»Heinrich von Ofterdingen«. München 1970). Nach Mahls Interpre-
tation kennzeichnet dieses Modell aber nur ein transitorisches Stadium
in Hardenbergs Gedankenentwicklung. Da er Hardenbergs Konzept
der goldenen Zeit in die Tradition einer abendländischen »Utopie«
(vgl. seinen Untertitel) stellt, konstatiert er zwischen dem im Zusam-
menhange der Fichtelektüre notierten Satz: »Das Ziel des Menschen
ist nicht die goldene Zeit« und dem späteren: »Die Menschheit wäre
nicht Menschheit - wenn nicht ein tausendjähriges Reich kommen
müßte«, ein »verändertes Blickfeld« (S. 289; 325) Hardenbergs. Um
diesen Bruch zu motivieren, bietet Mahl das »Sophien-Erlebnis« (297
ff.) auf und entrückt dadurch - paradigmatisch für die gesamte No-
valis-Forschung - eine philosophische und nicht personalisierende Er-
klärung von vornherein dem Bereich des Möglichen. (Mahls Zuflucht
zu Gedichten Hardenbergs ist vollends eine (xerdcßaaic e(t aXXo ftivo;).
Daß die beiden Zitate nicht im geringsten widersprüchlich sein müssen,
wird wahrscheinlich erst dadurch verständlich zu machen sein, daß man
die wichtigste und bei Mahl so gut wie gänzlich ausgesparte (vgl. die
Erwähnung S. 385 oben) Tradition der Rousseau-Kant-Fichte'schen
Moraltheologie zum Fundament von Hardenbergs Spekulationen
macht. Postulat wird das »goldene Zeitalter« ja nur dadurch, daß der
Gedanke an seine Realisierung als ein »Unsinn« erkannt wird, der un-
sere Zeitlichkeit zugleich beunruhigt und erklärt. - Den kritischen
Immanentismus Hardenbergs betont mit guter Begründung Hannelore
Link, Abstraktion und Poesie im Werk des Novalis, Stuttgart 1971;
z. B. S. 65 ff., S. 163«.
98
Das Zitat ist von Schelling (WA II, 124): »Ja, wenn wahrhaft alles
Leben nur eine Bewegung ist, sich aus dem Widerspruch herauszusetzen,
so ist die Zeit selbst nichts als eine beständige Sucht nach der Ewigkeit.«
99
Ein Terminus, den auch Schelling so verwendet (z. B. I, 6, 323 f.).
70
Die transzendente Sehnsucht nach Komplettion scheint Fr. Schlegels
Konzept der Ironie abzubilden. Es gibt eine Reihe ganz ähnlicher Be-
stimmungen bei Novalis wie bei Fr. Schlegel, aber charakteristisch für
Hardenbergs offensichtliche Anspielungen auf Schlegels Ironiebegriff
ist ein stark distanzierter Unterton: »In heiteren Seelen giebts keinen
Witz. Witz zeigt ein gestörtes Gleichgewicht an - Er ist Folge der
Störung, und zugleich das Mittel der Herstellung« (IV, 424, Nr. 30);
noch deutlicher reserviert: »Der Zustand der Auflösung aller Verhält-

454
nisse - die Verzweiflung, oder das geistige Sterben - ist am fürch-
terlichsten witzig« (a.a.O., 426). Das erinnert an Hölderlins Epi-
gramm: »Immer spielt ihr und scherzt? Ihr müßt! o Freunde! mir geht
dies/ In die Seele, denn dies müssen Verzweifelte nur.« Ob er an den
Schlegelkrcis dachte? - Die selbstzerstörerische Ironie hat Novalis
eine »logische Kranckheit« genannt (ein Wort, das auch Schlegel ge-
braucht): »Ein absoluter Trieb nach Vollendung und Vollständigkeit«,
notiert er, »ist Kranckheit, sobald er sich zerstörend und abgeneigt
gegen das Unvollendete, unvollständige zeigt« (IX, 384, Nr. 638).
Übrigens hat auch Schelling Krankheit aus dem Mangel erklärt. »Das
Wort >gesund<«, schreibt er, »ist höchstwahrscheinlich soviel als
ganz* (I, 9, 212). Vgl. Hardenbergs Wort vom Dichter als »transscen-
dentalem Arzt« (IX, 532, Z. 21; zur Erklärung vid. VI, 535, Nr.
42; 556, Nr. 134; 524, Z. 30/1; 525, Z. 18 ff.; »IX, 193, Nr. 676;
IX, 415, Nr. 757; VI, 585, Nr. 252; II, 168, Nr. 219).
71
Sehr aufschlußreich ist ein Brief Hardenbergs (• Bd. IV, 175): »Früh-
zeitig hab ich meine prekäre Existenz fühlen gelernt, und vielleicht ist
dieses Gefühl das erste Lebensgefühl in der zukünftigen Welt«. -
Außerordentlich erhellend für den Zusammenhang von »prekärer Exi-
stenz« und »repraesentativem Glaube« bei Hardenberg ist G. Schulz*
Hinweis auf die Vorliebe der Brüder Hardenberg für Jean Pauls »Un-
sichtbare Loge« und den Begriff des »hohen Menschen« (in: Novalis,
rororo-Monographie 154, Reinbek 1969, S. 64; Schulz erinnert an
R. Unger: >Jean Paul und Novalis«, in: Gesammelte Studien, Berlin
1929, Bd. 2). Das, was Jean Paul die »Unförmlichkeit zwischen unse-
rem Herzen und unserem Orte« nennt, ist ein poetisierter Ausdruck
jener von Schelling und den Romantikern beschworenen »Unangemes-
senheit« zwischen Begriff (Wesen) und Wirklichkeit unserer Existenz,
welche uns zwingt, unser Selbstverständnis außerhalb unseres abstrak-
ten Selbstseins zu suchen. Hier tritt eine erstaunliche Parallele zu Rous-
seau-Kant'schen Moraltheologie zutage.
78
Die Möglichkeit einer »Ekstase« über das reflexive Bewußtsein hin-
aus hat Novalis nie geleugnet - im Gegenteil, er hält Selbstbewußt-
sein ohne eine ekstatische Selbstgewahrung für unmöglich (IX, 440,
Nr. 896). Schließlich nimmt er an, daß jedes Vermögen, also auch
Gott, nur durch seinesgleichen erkannt wird (IX, 458, Nr. 1007). Nun
ist Gott aber absolut synthetischer Geist, und »die Synthesis erscheint
nie in konkreter Gestalt« (IX, 347, Z. 24/5). Das bedeutet durchaus
nicht, daß wir uns zu Gott selbst erheben können (selbst im ekstatischen
Gefühl erfahren wir nur unsere »Abhängigkeit«). Für die spekulativ
mißdeutete Idee der »Erhebung« hat Novalis nur Spott übrig, den
seine posthumen Ausdeuter leider nicht vernommen haben: »Die Erhe-
bung«, schreibt er, »ist das vortrefflichste Mittel, was ich kenne, um
auf einmal aus fatalen Collisionen zu kommen. So z. B. die allgemeine
Erhebung in Adelstand« — natürlich ein Hieb gegen Goethe - »- die
Erhebung aller Menschen zu Genies - die Erhebung aller Phaenomene
in Wunderstand - der Materie in Geist-des Menschen zu Gott [-] aller
Zeit zur goldenen Zeit etc.« (IX, 440, Nr. 894; vgl. 401, Nr. 696; 376,
Nr. 612).

455
73
Genau genommen, zeigt sich die im »Mangel« manifeste Entfremdung
des Reflexiven vom SICH nirgends deutlicher als darin, daß die »Sucht
Ich zu seyn« in das Bedürfnis nach Objektivität (in den >Hunger nach
Sein«) verwandelt wird und gerade so den Mangel - durch Umschlag
des Inneren in Exterioität - zeitlich perenniert. Anders gesagt, erst
durch die Verstellung des Ziels unserer Sehnsucht wird die Sehnsucht
an die Objektwelt verwiesen (Qualität in Quantität verwandelt).
74
Vgl.: »Ist die Geschichte nur Vehikel? Nicht auch Evangelium der
Zukunft}« (XII, 557, Nr. 9; vgl. IX, 469, Nr. 1095). - Durch den
»ordo inversus« ist »für Gott« unsere Richtung des Schreitens aus der
Vergangenheit in die Zukunft »umgekehrt« (II, 154, Nr. 122) - ebenso
für die »von Grund aus antihistorische« »Philosophie«, die »vom
Zukünftigen, und Nothwendigen nach dem Wirdklichen . . . geht. . . .
Sie erklärt die Vergangenheit aus der Zukunft, welches bei der Ge-
schichte umgekehrt der Fall ist. (Sie betrachtet alles isolirt, im Natur-
stande - unverbunden.)« (IX, 464, Nr. 1061).
75
Der Grund ist dasselbe wie Substanz, sagt Novalis, »doch wird Sub-
stanz gewöhnlich für das Bestehende überhaupt gebraucht/, welche
im Zustand und Gegenstand und Grunde seyn kann« (II, 229, Nr.
363). Novalis sagt darum statt >Streben nach Substantialität« um der
Eindeutigkeit willen >Streben nach dem Grunde« oder Streben nach
der Gattung« (weil auch >Grund< ein Abstraktum ist).
79
Novalis erwägt die etymologische »Derivation Gottes von Gattung«
(II, 236, Nr. 430).
77
Gattung als Relationsbegriff (in bezug auf Arten und Eigenschaften)
muß von der relationslosen, im wörtlichen Sinne >ab-soluten< Gattung
streng geschieden werden (vgl. 251, Z. 14-17; 250, Z. 27 ff.). - Natür-
lich steht Novalis* Studie in der Aristotelischen Tradition der Suche
nach dem obersten »genus« (De anima, 6, III, 430a 25; 430b 26 ff.).
78
»Die Vernunft« - so wird vorübergehend die »Einbildungskraft« ge-
nannt - »ist die allgemeine Sfäre. In ihr geht alles vor« (II, 255, Nr.
476; denn die »Vernunft entspricht der Zeit«, II, Nr. 649). Die Einbil-
dungskraft affiziert sich selbst als »Kraft« durch sich selbst als Negation
und bleibt im Akt der »Selbstberührung« sich selbst zugleich in sich
selbst entzogen.
79
Novalis nennt die Infixibilität des Ichs »Leben«; auf den interessan-
ten Zusammenhang von Zeit und Leben können wir hier nur hindeu-
ten; vgl: VI, 556, Nr. 134, Nr. 135, Nr. 136; 561, Nr. 171; 592, Nr.
187; 644, Nr. 461; 645, Nr. 463; 556, Nr. 134; 562, Nr. 187; 563, Nr.
*-85; 575. Nr. 230, Nr. 231. Das Leben als die wirkliche, konkrete Zeit
hebt die Charakteristika der Zeit in sich auf, bestätigt also deren Be-
stimmungen, ohne sie zu bereichern.
80
Ein Beispiel für die Unangemessenheit des Wesens zu seiner Wirklich-
keit ist die temporelle Bedingtheit durch Geburt, Zeitalter und Lokali-
tät im Vergleich zur »Fülle unsers Wesens«, die »unendlich« ist. In
unserer Bedingtheit können wir freilich nie »Gänze«, nie »Substanz«
werden. Mit anderen Worten, wir können uns in dem, was wir an
sich sind, nicht fixieren und können überhaupt nichts ohne Gefahr
fixieren, es sei denn, wir erkennen im Fixierten das Siegel der Fülle
unseres Wesens wieder und »machen« daraus wie »aus einer Nußschale,
was sich aus Gott machen läßt. Jede Fixirung eines Objects etc. ist so
richtig, aber auch so ungerecht, wie eine alleinseligmachende Religion -
der Mensch nimmt sich mehr damit heraus, als ihm seine Menschheit
erlaubt - ohnerachtet er damit alles machen kann, was er will« (II,
287/8, Nr. 647). D.h. die Fixation der ursprünglichen Freiheit ist nur
dann eine aufrichtige Entäußerung des menschlichen »Wesens«, wenn
sie nicht als Versuch mißbraucht wird, seine Unendlichkeit zu substan-
tialisieren; wenn sie also transparent bleibt für dies Wesen. Unserer
Substantialität können wir uns - umgekehrt - nur durch freies Han-
deln entledigen: »Je mehr wir bestimmen, aus uns herausgehen - desto
freyer... werden wir — wir legen gleichsam das Beywesen immer
mehr ab und nähern uns dem durchaus reinen, einfachen Wesen unsers
Ichs« (a.a.O., vgl. VI, 617, Z. 6 ff.). Unsere Freiheit verwirklicht sich
als Negation unserer Natur, die, belastet mit allem durch Lokalität,
Tradition, Geschichte, Nationalität usw. Bedingten, zur Basis unserer
Freiheitsäußerung wird: »Unsre Kraft hat um soviel Spielraum ge-
kriegt, als sie Welt unter sich hat.« Nur müssen wir beachten, daß wir
»nicht in der Zeit dieses Ziel erreichen«; darum gilt uns die Idee »eines
tausendjährigen Reiches« als unter die »Träume der Zukunft« (II, 281,
Nr. 623; fast ebenso 288, Nr. 648) gehörig. Wir müssen dies Ziel auch
gar nicht in der Zeit erreichen, da » w i r . . . auch in einer Sfäre außer
der Zeit sind«, nur nicht realiter, denn diese Sphäre ist ja bloß die un-
wegdenkbare, deswegen aber noch nicht wirkliche Voraussetzung unse-
rer Zeitlichkeit. Anders gesagt: »Das außer der Zeit Befindliche kann
nur in der Zeit thätig, oder sichtbar seyn« (II, 290, Nr. 650; VI, 693,
Nr. 704). Die als zeitlose »Substanz« gedachte »Idee« einer innerzeit-
lichen Zeitaufhebung ist also nicht minder regulativ und gar nichts
anderes als die Idee von der Darstellbarkeit des Undarstellbaren. Sie
erweist sich in der Zeit als »Ein Faden« (II, 289/90, Nr. 649), als
Kontinuität oder »System der mannidifachsten Einheit«, »der unend-
lichen Erweiterung« - damit zugleich - im obigen Sinne - als der
»Compass der Freyheit«.
Vom Besitz des totalisierten Ganzen im »System« unterscheidet No-
valis das »ewig unbefriedigte Streben« (IX, 334, Z. 12 ff.) über alle
partiellen Totalitäten hinaus (sehr ähnlich a.a.O., 370/1; vgl. VI, 282,
Nr. 631). Sehr ähnlich wie Schelling erklärt Novalis die Bemühung um
systematische Totalisierung des »Bestehenden« aus der »Asystasie«
bzw. dem Mangel an systematischer Einsicht. Dem System liegt, wie
er sagt, ein »absolutes Bedürfniß überhaupt zu Grunde« (IX, 332,
Nr. 454, Z. 21 ff.; dagegen vid. IX, 333, Z. 3/4; IX, 413, Z. 9/10).
Die Uneinlösbarkeit dieses Verlangens führt konsequent auf »das
eigentliche/ Philosophische System«, welches »Freyheit und Unend-
lichkeit, oder, um es auffallend auszudrücken, Systemlosigkeit, in ein
System gebracht, seyn« muß (II, 288/9, Nr. 648; vgl. VIII, 98, Z.
17 ff.; XII, 601, Nr. 291, Z. 22 ff.).
Dasjenige, was Novalis unter dem Terminus »Thatsache« so streng
von der zeitlosen, weil Zeit konstituierenden »Ur-Kraft« unterscheidet.

457
83
Natürlich ist dies ein mit dem oben entwickelten Schlegelschen Konzept
identisches Programm (vgl. Briefe an Friedrich, 14. Juni 1797, 5. 9. 97).
84
Die gleiche Konsequenz ist in Schellings »Weltaltern« gezogen: »Alles
ist nur Werk der Zeit« (WA I, 12).
85
Hat sich als das Sein des Bewußtseins die Zeit herausgestellt, so wird
sich das präreflexive Selbstbewußtsein im nicht-thetischen Gewahren
des reinen, zeitlosen (weil Zeit konstituierenden) Zeitstromes bekun-
den. Denn das Bewußtsein hat von seinem Grund - wie wir sahen -
kein reflexives Wissen. Es erkennt folglich die Zeit nur in ihrer syn-
thetischen »Äußerung«. Wollte man das Zeitbewußtsein zu einem the-
tischen Bewußtsein von Zeit erklären, so müßte man den Grund die-
ses expliziten Zeitbewußtseins unterschlagen und käme nie zu einer
Erklärung, welches Kriterium uns die Zeitäußerung als Äußerung der
(schon bekannten) Zeit auswiese. Anders gesagt, das zeitliche Bewe-
gung konstituierende Bewußtsein ist selbst zeitlich. Nur darf diese
gründende Zeitlichkeit nicht als objektive Zeitäußerung verkannt wer-
den. Das Innerste des Bewußtseins (das präreflexive SICH) ist Be-
wußtsein vom »Unwandelbaren«, welches Novalis - wie wir zeigten
- keineswegs als abstrakte Negation alles Wandelbaren bestimmt, son-
dern als »Wechsel - ohne Vergangenheit und Zukunft - und doch
veränderlich«. Im Sich wird das reine, zeitstiftende und darum nur
potentiell zeitliche »Fließen« gewahrt, ohne, als dieses Gewahren ge-
setzt zu werden.
Das Tieck'sche Werk zeigt eine Reihe von Konflikten auf, die daraus
entstehen, daß Akteure in .unaufrichtiger Reflexion« ihre präreflexive
Zeitlichkeit auf das setzende - die Zeit phasisch segmentierende -
Bewußtsein von Zeitäußerung zu reduzieren trachten. Unaufrichtig
ist diese Reflexion, weil sie glaubt, das Unreflektierte durch Reflexion
seiner begründenden Apriorität entmachten zu können.
89
In diesen Zusammenhang ist das folgende Fragment zu stellen: »Ent-
stehung der Zeiten aus relativer, und daher sich allmälich vermindern-
der Elasticität unsrer GedankenAction. Räume und Zeiten sind Sym-
ptome der Schwäche« (IX, 403, Nr. 703).
87
Das reale Machen muß ein »relatives Machen und Zerstören«, d. h.
ein »Modificiren« des schon Vorhandenen, werden (IX, 457, Nr. 1000).
Denn die »Idee« des »absoluten Machens« »gehört in die Kategorie
der imaginairen Gedanken« (vgl. zum Begriff der vermittelten Urtätig-
keit IX, 412, Nr. 742).
88
»Körper ist ein ausgefüllter Trieb« (IX, 417, Nr. 766), Raum darum
= Substanz (a.a.O., Nr. 771). »Bezug des Raums auf den Begriff
Substanz - und der Zeit auf den Begriff Caussa«; vgl. 455 - eine Aus-
weitung der Lektüre von Ch. Wolff.
89
Vgl. zu diesem Punkt die Randbemerkung zu Fr. Schlegels »Ideen«, X,
491, Z. 1 ff.
90
Die folgende Notiz ist nach Hardenbergs Gewohnheit, Materialien,
die später in ein Werk integriert werden, zu streichen, getilgt. Sie
formuliert auch eigentlich keine neue Idee, sondern ist eine Reflexion
auf das, was ihm im Verlauf seines Philosophierens »unbeschreiblich
einleuchtend« geworden ist. Unser Zitat ist im Original noch fortge-
setzt und nennt rhapsodisch solche Gedanken, die durch die neue
Konzeption erst angemessen verstehbar werden.
Natürlich steckt H. J. Mahl den Rahmen zu eng, wenn er dies auf-
fällige Fragment auf eine Reihe anderer bezieht, die S. 995 - in der
zugehörigen Anmerkung - aufgeführt sind. Nach meiner Auffassung
bekommt es erst Sinn, wenn man es auf Hardenbergs philosophische
Entwicklung und deren totalisierende Praxis selbst bezieht, wie ich es
versucht habe zu tun. - Diese Interpretation setzt aber einen Blick-
wechsel voraus, der Hardenbergs philosophische Bemühung ernster
nimmt als bisher fast durchgehend geschah und seine Berechtigung aus
der Stringenz seines Ergebnisses erhält.
Es ist gar kein Zweifel, daß gerade dieses Fragment die Forschung bis-
her ratlos machte, weil sie das durchgehaltene Thema »Zeit« bei Har-
denberg noch nie untersucht hat. Fast heiter nimmt sich E. Heftrichs ge-
flissentliches Ignorieren der eigentlichen Provokation dieses Fragmentes
aus, wenn er es nur als Beleg für das chimärische Projekt einer »szien-
tifischen Bibel« zitiert (vgl. a.a.O., 40/1). Was hat dies Projekt mit der
als Zeit gedeuteten »Schöpfungskraft« zu tun?
11
Die Freiheit ist so überschwenglich frei, daß sie nicht mit ihrem »Be-
wegungsgrund« eines ist, sondern ihn selbst erst setzt: »In jeder ächten
Wahl rührt der Grund der Wahl vom Wählenden her - nicht vom Ge-
wählten« (IX, 404, Nr. 713 und passim).
Vgl. zum obigen Passus: »Was handelt für mich - woher entlehn ich
meine Begriffe? - nothwendig ich - nothwendig von mir. Ich bin für
mich der Grund alles Denkens, der absolute Grund, dessen ich mir
nur durch Handlungen bewußt werde - Grund aller Gründe für mich,
Princip meiner Filosofie ist mein Ich. Dieses Ich kann ich nur negativer-
weise zum Grund alles meines Filosofirens machen - indem ich so viel
zu erkennen/ zu handeln/ und dies so genau zu verknüpfen suche,
als möglich;/ Lezteres durch Reflexion/. Je unmittelbarer, directer
ich etwas vom Ich ableiten kann, je erkannter, begründeter ist es mir«
(II, 271, Nr. 567).
92
Die Ermöglichungsbedingung der seienden Differenz ist der transzen-
dentale Grund derselben, der sich unversehens in den transzendeten
Grund verwandelt, obwohl er - als unser wirkliches Wesen - das
uns Nächste ist. Unser Sein wird sich im Reflex selbst transzendent,
zum Grund, »woran wir glauben, ohne ihn seiner und unsrer Natur
nach je zu erkennen vermögen«. Er ist dasjenige, was angenommen sein
muß, wo denken und objektivieren statt findet und gelingt. Es ist -
um eine Novalis'sdie Metapher zu verwenden - wie das unsichtbare
Licht, das unserem Auge nur durch reflektierte Realität bewußt und
doch Bedingung alles Sichtbaren ist.
93
Dieter Henrich, Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart (Überle-
gungen mit Rücksicht auf Hegel), in: 'Immanente Ästhetik, ästhetische
Reflexion<, Kölner Kolloquium 1964, München 1966, S. 18.
94
a.a.O., S. 20.
95
a.a.O., S. 21.
99
Noch Adorno (zuletzt: Ästhetische Theorie, in: Gesammelte Schriften,
Bd. 7, Frankfurt a. M. 1970) befindet sich mittelbar in der Tradition

459
romantischer Fundierung von Kunst in »Wahrheit« (a.a.O., 419 oben,
515-517, 519-533), wie die Struktur seiner Begründung beweist.
Auch Adorno macht die »Reflexion des Rätselcharakters der Kunst« zu
einer »Weise von Erkenntnis«, welche die »Unverständlichkeit« von
Welt als »Charakter der Sache selbst« künstlerisch enthüllt und damit
allererst »versteht« (a.a.O., 516/7) - in genauer »Übersetzung...
des Stands metaphysischer Sinnlosigkeit in eine des Sinns sich entschla-
gende Kunstsprache«. Wir kennen diese Argumentation von Friedrich
Schlegel und werden sie in Tiecks Poetologie wiederfinden.

DIE POETISCHE GESTALTUNG DES ROMANTISCHEN


ZEITBEWUSSTSEINS IN TIECKS DICHTUNG

1
Jean-Paul Sartre, Marxismus und Existentialismus. Versuch einer Me-
thodik. Reinbek 19684. S. i n .
8
a.a.O., 121.
3
a.a.O., 120.
4
Vgl. a.a.O., uz.
5
a.a.O., 135/6.
8
Vgl. a.a.O., 123.
7
a.a.O., 124; vgl. 120.
8
a.a.O., 136.
9
ebd.
10
ebd. Zur »progressiv-regressiven« Methode vgl. bereits Das Sein und
das Nichts, 580 fr. und Entwurf einer Theorie der Emotionen in: Die
Transzendenz des Ego, Drei Essays. Reinbek 1964. S. 194/5).
1
a.a.O., 113. »Aufgabe des Kritikers ist es, sich zuerst über die Meta-
physik Klarheit zu verschaffen, ehe er die Technik beurteilt.« (J.-P.
Sartre, Die Zeitlichkeit bei William Faulkner, in: Situationen, Essays.
Reinbek 1965. S. 98). Vgl. Adorno: Philosophie der neuen Musik, Ffm.
1958, 32, Z. 27-30.
18
»Man muß es erlebt haben!« ist die häufigste Beteuerung, das »Lo-
sungswort« des alten Tieck (Köpke II, 150).
18
Mit diesem Urteil zahlt freilich der Zwanzigjährige noch seinen Tribut
an den Kunstgeschmack des 18. Jhds. (Lessing, Schiller!).
14
Jede Kunstregel ist nachträgliche Reflexion auf einen bestimmten
Schöpfungsakt; mit dem Resultat, daß eine Struktur sich abheben läßt,
wie die Hülle von einer Frucht. Sie bleibt abstrakt, insofern sie für
sich und nicht in Relation auf den Akt betrachtet wird, von dem sie
abspringt. Auch Kunstschulen entstehen so: »So wie eine Literatur«,
sagt Tieck, »zum Bewußtsein ihres Strebens gelangt, so wie jene Zeit
der unschuldigen Unbefangenheit vorüber ist, in der es dem Empfan-
genden so wie dem Gebenden daran genügt, zu produciren und zu ge-
nießen, müssen Schulen entstehen« ( n , LX). Eine geniale Bewußt-
seinsaktivität wird ihrer selbst durch Reflexion zugleich bewußt und sich
entfremdet. Verhängnisvoll wird diese Reflexion erst, wenn durch Ab-
lösung »Faktionen« entstehen. In nuce antizipiert dies bereits J.-P. Sar-

460
tres Argument gegen den Strukturalismus (vide ders. in: L'Arc. Cahiers
mediterraneens. Nr. 30, S. 87 ff.).
14a
Wie sehr dies Innewerden poetischer Kreativität mit dem Gefühl revo-
lutionärer Freiheit zusammenfällt, lehrt Tiecks größtenteils inediertes
Frühwerk (vide Erwin H. Zeydel: Ludwig Tieck. The German Roman-
ticist. A critical study, Repr. Neudruck: Hildesheim-New York 1971,
S. 11 f., 20 ff.).
15
im Urteil über Fouque (Brief an Friedrich Schlegel, Prag, »den 26ten
August 1813«): Fouquet hat sich noch nicht erlebt, was will er dann
dichten?« Im Selbsterleben gründet die »Wahrheit« qua »Authenti-
zität« des Kunstwerkes (vgl. Köpke I, 332, 334, 380; II, 10, 204, 300
- Kritik an Arnim und Brentano; III, 745).
19
Vgl. Walter Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen
Romantik; in: W. B., Schriften, Frankfurt a. M. 1955, Bd. 2, S. 420 ff.
17
Vgl. Briefe 7. 5. 16, »Zib., i6ten Decbr. 16«, 31. März 1815 (166/7),
»Zib., 24. März 1817« (361), bes.: »Zieb., i8ten 12. 17« (402).
18
Vgl. die komische Eröffnung: »Mit Schelling habe ich mich . . über die
Wahlverwandtschaft unserer Richtungen eigentlich nicht zu verständi-
gen vermocht.« (Köpke II, 175, ähnlich Brief an Solger, 18. 12. 17).
19
Robert Minder, Un Poete Romantique Allemand, Ludwig Tieck, Pa-
ris 1936, 434 ff., schließt sich dieser Kritik nicht einfach an. Er sieht in
jenem Phänomen der »gräce Tieckienne... la nuance originale du
romantisme tieckien, mais aussi ses limites.«
20
Vgl. Raheis Wort, zit. a.a.O., 434/5.
21
Friedrich Gundolf, Ludwig Tieck, in: Jahrbuch des Freien Deutschen
Hochstifts, Frankfurt a. M., 1929, 99.
22
So lautete die Tiecksche Kritik an Fouque1 (Brief 26. August 1813
an Friedrich Schlegel).
23
Gundolf, a.a.O., 99, 168, 187, 101. Hinter der befremdlichen Leiden-
schaftlichkeit dieser Attacke, die vor der Verleumdung nicht zurück-
schreckt und ihre Ergebnisse durch einen unangenehmen Blutdetermi-
nismus sichert, verbirgt sich natürlich eine vornehme Nähe zu der be-
kannten, mit den »Grundstoffen des Lebens« (a.a.O., 101) wohlver-
trauten Ideologie. Es ist eine Ideologie, die für die Bodenlosigkeit des
Charakters und das Prinzip »Freiheit« keine Verwendung hat - und
wohl nicht ganz von ungefähr Tieck am gehässigsten ablehnt.
24
Wörtlich reden vom »Mangel an Substanz« Emil Staiger in seinem
Aufsatz: Ludwig Tieck und der Ursprung der deutschen Romantik,
in: Stilwandel, Freiburg/Zürich 1963; von »Substanzlosigkeit* H.
A. Korff in: Geist der Goethezeit, Leipzig 1949, III, 50 ff.; vgl. schon
Goethe an Schiller, Weimar 5. Sept. 1798 (Kasack II, 119) und Schil-
ler an Chr. G. Körner (Weimar, 27. April 1801, Kasack II, 123); in
seiner Einseitigkeit das Phänomen scharf fixierend Hegel (Ästhetik, ed.
Bassenge, Berlin 1955, S. 105,3). Weder Schiller, der Tiecks Bildung und
Beweglichkeit nicht weniger als seine Anmut rühmt (er nennt Tiecks
»Ausdruck... verständig und bedeutend«, an Goethe, Jena, 23. Juli
1799; vgl. F. Jonas, Schillers Briefe, VI, 60, 88, 235, 270), noch Kierke-
gaard, der Tieck mit unterdrückter Neigung auch in der Verurtei-
lung über Fr. Schlegel stellt (vgl. ders., Über den Begriff Ironie.

461
Unter ständiger Rücksicht auf Sokrates. 1841. Deutsch 1929) (ebenso
wie Heine in der Romantischen Schule, vide Sämmtliche Werke, Ham-
burg 1868, Bd. 6, S. 133 ff.), noch Hegel, der, in der seltenen Begeiste-
rung eines Augenblicks, seinen »unendlichen Geist« (Kasack II, 251,
aus: Holteis Lebenserinnerungen) preist, noch Laube und Kühne, die,
trotz ihrem Haß, einmal zu Hochrufen auf Tieck hingerissen werden,
noch Schopenhauer, der Tiecks Religiosität nicht duldet, noch Goethe,
der über dem Vortrag der Genoveva durch Tieck das mitternächtliche
Schlagen der »Turmglocke« (Goethe an Tieck, Weimar, 9. Sept. 1829,
Kasack II, 183) überhörte (»Das will aber schon etwas sagen, mir so
drei Stunden aus meinem Leben weggelesen zu haben« - Goethe im
Gespräch zu Holtei, Kasack II, 123) - sie alle haben sich auf Stunden
dem Zauber seiner Persönlichkeit, die nach Goethes Tod unbestrit-
ten die größte geistige Attraktion in Deutschland ausübte, nicht entzie-
hen können; auch Gundolf nicht, der einen »unbeschreiblichen Schimmer
von geistiger Helle, Weite und Anmut, einen Duft von Bildung und
Poesie« (Gundolf, Ludwig Tieck, 194) über Tiecks Werk verbreitet
sieht, und nicht Staiger, der bei Tieck einen »Stilwandel« statuiert und
damit in diesem »gewichtlosen Dasein« (a.a.O., S. 194) doch den Stifter
einer Epoche anerkennen muß. Alle diese Namen scheinen in der Hef-
tigkeit ihrer Kritik die Auseinandersetzung mit den geheimen meta-
physischen Implikationen dieser Dichtung, denen tatsächlich nur Hegel
und Kierkegaard sich gestellt haben, zu scheuen. Loebell, der schon
zitierte, hat zu bedenken gegeben: »Man kann sagen, daß diese uner-
müdlichen, immer wieder von neuem gemachten Angriffe und einge-
legten Lanzen auf einen ziemlich starken Unglauben an die Vollstän-
digkeit des errungenen Sieges schließen lassen; aber wie viele Leser
achten auf den Zusammenhang der kritischen Bestrebungen genugsam,
um einen solchen Schluß zu machen?« (Köpke II, 260).
23
Vgl. Ernst Behler, Friedrich Schlegel und Hegel (mit Lit.) u. d. ent-
spr. Kapitel in Ingrid Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie.
25a
»Substanzlosigkeit« - ein Begriff übrigens, der noch Georg Lukäcs
in seinem geschichtsphilosophischen Entwurf einer Theorie des Romans
als ausreichendes Kriterium für eine »transzendentale Psychologie«
(a.a.O., 25) der »modernen Seele« erschienen ist (G. L., Theorie des
Romans, bei Luchterhand o. J., S. 90). Wie sehr Lukäcs' Fortschreiten
von Kant zu Hegel (Vorwort; vgl. auch das Vorwort von 1967 zu
Geschichte und Klassenbewußtsein, Neuwied u. Berlin 1970) zugleich
des romantischen Wegs einer philosophischen Alternative zu Hegel sich
bedient, kann erst nach den neuesten Forschungen zu Fr. Schlegel und
Solger ins Licht gestellt werden. L. selbst hat diesen Einfluß, den man
bestimmend nennen muß, nicht geleugnet (a.a.O., S. 10).
29
Sartre, Das Sein und das Nichts, 58.
87
Gundolf, L. Tieck, 102.
28
Brief an Solger, »Zib., i6ten Decbr. 16«, 312. In dem »hauptsächlich«
liegt zugleich die notwendige Einschränkung. »Wenn man die Sachen
so geschichtlich betrachtet«, so gibt Tieck in einem Dialog zu bedenken,
»so geht freilich die eigentliche Kritik unter.« - »Doch nicht; sie muß
nur nicht zu früh anfangen wollen. Ein wahres Buch bezieht sich dop-

462
pelt, zunächst einmal auf sich selbst, dann aber auch auf seine Zeit,
und beides muß sich innigst durchdringen. Ist aber unser Urtheil selbst
nur aus der Zeit erwachsen, so verstehen wir das Werk des Genius
niemals, welches eine neue Zeit, und natürlich auch eine andere Mode,
durch seine Großartigkeit erschafft.« (K.S. II, 146/7). Tieck postuliert,
wie man sieht, selbst die >differentielle Methode«, die wir auf ihn an-
wenden und zu der sich auch Solger bekennt (V 120,3).
29
Vgl. H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 56 ff. Ein von Ga-
damer nicht erwähntes früheres Beispiel für den Wortgebrauch findet
sich in Kants Vorlesungen über Metaphysik (hg. von Schmidt), S. 129:
»Erlebnis« als tierisches Bewußtsein, im Gegensatz zu »Erfahrung«
(siehe H. J. Paton, Kant's Metaphysic of Experience, London-New
York 19654, Band II, 383, 413, 421). - Noch W. Cramers Geisttheorie
läßt dem expliziten Denken >das Erlebnis« - die tierische Psyche - vor-
ausgehen (vgl. D. Henrich, Selbstbewußtsein, a.a.O., 283).
30
»Einen Geistesverwandten« nennt ihn A. W. Schlegel neidlos (an Rei-
mer, Bonn, 29.-31. 12. 1838).
31
Vgl. Jean-Paul Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, 1. Bd. Theo-
rie der gesellschaftlichen Praxis, Reinbek 1967, 40/1, 59 ff.
31
" Vgl. dazu Klaus Laermann, Eigenschaflslosigkeit, Reflexionen zu Mu-
sils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften*, Stuttgart 1970.
32
Die romantische Schule, Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Gei-
stes. Berlin 1870. S. 48.
33
»In der That, wer steht uns dafür?« fügt Haym verärgert an (ebd.).
34
»Vergangenheit und Zukunft waren auf wunderbare Weise dargestellt,
ich ahndete eine Menge von trüben und fröhlichen Empfindungen
gleichsam im voraus« (I, 477).
35
Richard Wagners Brief Zukunftsmusik (An einen französischen
Freund [Fr. Villot]. Leipzig o. J. [Inselbücherei Nr. 110]) scheint auf
einigen Seiten Tiecks Studie in Schopenhauerscher Terminologie zu
paraphrasiercn (S. 33 ff., 49/50). Er hat sogar eine deutliche Unter-
scheidung von »subjektivem Gefühl« und »reflektierendem Bewußt-
sein«, das durch die Frage »Warum« die zaubrische Kohäsion zer-
stört.
54
Jean-Paul Sartre hat am Beispiel der Deskription hypnagogisdier Zu-
stände die Unmöglichkeit für dieses hinschwindende Bewußtsein ge-
zeigt, sich selbst in bestimmten Konturen zu erscheinen (L'imaginaire,
Psychologie phenomenologique de l'Imagination, Paris 1940, S. 78 ff.,
bes. S. 91 ff. u. 99 ff.).
37
Vgl. H. Petrich, Drei Kapitel vom romantischen Stil. Ein Beitrag zur
Charakteristik der romantischen Schule, ihrer Sprache und Dichtung,
mit vorwiegender Rücksicht auf Ludwig Tieck, Leipzig 1878 (Neu-
druck 1964); sowie H. Lindig, Der Prosastil Ludwig Tiecks, Diss. Leip-
zig 1937-
38
Man denkt an die »mois successifs« bei Proust (die tatsächlich als ein
unbegreiflicher Wechsel der personalen »substance« erlebt werden)
oder Hume's skeptische Einstellung zur Lösbarkeit des Aporems der
Selbstidentität (>Of personal identity«, in: A Treatise of Human Na-
ture, Part iv, diapt. vi und .Appendix« a.a.O.). [Tieck kannte Hurae.]

463
89
Auf A. Gottraus Kritik an Tieck: »Er weiß Wesentliches und Unwe-
sentliches nicht zu unterscheiden« (Die Zeit im Werk des jungen Tieck,
Diss. Zürich 1947, S. 106), kommen wir noch zu sprechen.
*° Vgl. die Struktur dieser Entwicklung mit Sartres glänzender phäno-
menologischer Deskription in L'imaginaire (271 ff., bes. 279), die sich
wie eine Analyse von Lovells Psychologie liest.
41
Daß wir tatsächlich immer und vor allem anderen in Zukunftshorizon-
ten leben, demonstriert - in der auffälligsten Form, nämlich durch
die Enttäuschung der Erwartung - die Posse Ein Prolog (vgl. 13,
239 ff.). Das Stück, auf das die versammelten Zuschauer warten und
über das sie bereits eifrig disputieren, findet nie statt.
42
»Immer nur trifft man auf Grund einer geistigen Verfassung, die
nicht von Dauer sein wird, die wichtigsten Entscheidungen« (Marcel
Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Werkausgabe edition
suhrkamp Bd. 3, S. 2oi, 2 ).
43
Tieck hat die Konsequenzen einer Poesie, deren Sujet die Totalität des
Wirklichen selbst geworden ist, in einer Parabel veranschaulicht, die
trotz ihres parodistischen Charakters und der selbstzerstörerischen Iro-
nie für die Hauptabsicht durchsichtig bleibt.
In den Sieben Weibern des Blaubart führt die Fee vor Peters Augen
ein phantastisches Turnier vor, in welchem ein »rothgefleckter Papa-
gei« (9, 137) über allerlei Vögel als unbezwinglicher Sieger hervorgeht
und von einem Hahn, »der ein guter Barde war«, wie folgt gepriesen
wird:
»Wessen Lob ist es, das die Sterne singen,
Von wem sprechen die künftigen Jahre und alle Zeiten?
(...)
Erden, Sonnen und tausend mal tausend Völker
Sprechen nur von dir, du bist der Rede einziger Inhalt« (...) (9,138)
Wie das Geheimnis von Kafkas Jäger Gracchus, von dem alle
Bücher v o l l . . . sind, (das) in allen Schulen . . . die Lehrer an die Tafel
malen, (das) in der Zeitung . . . gedruckt (ist), (welches) das Volk . . .
sich von Hand zu Hand (reicht)«, wovon die Sterne, Seen und Bäche
reden, das im Geflüster der Liebenden bebt - eben so ist der Gegen-
stand dieser panegyrischen Verse das im Bewußtsein aller Kreatur
vordringlich Präsente. Sie beziehen sich auf ein Schauspiel, das, wie es
heißt, »die Sinne . . . bezaubert«. Denn »die Figuren bewegten sich un-
aufhörlich, schienen zu reden und alle einen vernünftigen Sinn auszu-
drücken, und wenn er sich nur ein wenig besann, so schien ihm wieder
alles so unmöglich und erlogen, so kindisch und furchtbar zugleich, daß
er in seinem ganzen Leben noch nie eine ähnliche Empfindung gespürt
hatte« (a.a.O.). - Die Unbestimmbarkeit der Szene, ihre Unzurück-
führbarkeit sowohl auf ein das ganze Leben durchstehendes Bewußt-
sein wie auf einen gewissen Sinn - d. h. ihre Weigerung, als Zeichen-
für-etwas zu stehen - macht das Allgemeine, die leere Unendlichkeit
oder, wie es Peter vorkommt, »die ganze Welt« (a.a.O.) zu ihrem Be-
deuteten. Ein Gegenstand, der alles Einzelne auf die Totalität des
Seienden hin und jeden Bewußtseinsinhalt auf das Bewußtsein über-
haupt hin überschreitet, die Eindeutigkeit von »albern« und »ernst«

464
aufhebt und das allgemeine Rätsel des »Lebens«, der »lebendigen wirk-
lichen Welt, und . . . nichts anders« (9, 139) hinter jedes Gleichnis
hält, verläßt die gewohnten Sinnrelationen und vernichtet alle »Rech-
nungen«, die unser Denken mit dem Unendlichen anstellt (»Die Zu-
kunft streift . . . mit . . . unbarmherziger Hand über Alles hinweg, und
wischt es aus, wie eine unbedeutende Rechnung von einer Tafel, dann
ist das verschwunden, was im Grunde nie war« (a.a.O., i39, 2 )).
Darum wird das alberne und verwirrende poetische Schauspiel zu-
gleich »sehr wahr, aber auch eben so unverständlich. Indessen«, fährt
Peter fort, »schadet das Unverständliche den Wahrheiten niemals, je
dunkler sie sind, je besser kommen sie fort; sie wohnen gleich den
Nachtigallen am liebsten in der Finsterniß« a.a.O., 139,3). Man muß
nur das Spielerische dieser Parabel mit dem Ernst Kafka'scher Gleich-
nisse vertauschen, um bei der Wahrheit über »Prometheus« anzulan-
gen: »Die Sage versucht das Unerklärbare zu erklären. Da sie aus
einem Wahrheitsgrund kommt, muß sie wieder im Unerklärlichen
enden.« (Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen, hg. von Paul Raabe,
Frankfurt a. M. 1970, S. 306).
44
Daß unser Urteil über die Gegenwart aus der Zukunft lebt und von
ihr verunsichert wird, wird eine Proust'sche Erfahrung werden: »Ma-
len wir uns doch einmal aus, welchen unbegreiflichen Zustandswandel
- wenn wir die vor uns liegende Zeit und die dadurch bedingten
Veränderungen nicht bedächten - ein Horoskop unseres reifen Alters
in unseren Jugendtagen für uns dargestellt hätte« (M. P., a.a.O., 141).
44a
R. Minder hat den Begriff Ironie wohl richtig mit Tiecks Erfahrung
von Zeit zusammengebracht. Er nennt Ironie »une tentative pour
creer une art qui se soumette aux fluetuations des sentiments et les
domine en meme temps* usw. (Un poete allemand . . ., 322).
45
Wieder eine Proust'sche Erfahrung: »Das Ich, das sie geliebt hatte
und das schon fast ganz von einem andern ersetzt worden war, tauchte
wieder auf« (M. P., a.a.O. 285).
48
Vgl. III, 835.
47
Auch Lovell »erblickt sich in veränderter Gestalt« (I, 479) und schreibt:
»Ich kenne mich kaum wieder« (I, 438) usw. Dergleichen Beteuerungen
häufen sich. Balder sieht seinen eigenen Leib in fremder Gestalt ihm
entgegenkommen.
48
Dieses Gesetz findet ja seine Anwendung nur, weil das Bewußtsein,
durch vorschnelle Reflexion verdinglicht, zu einem Receptaculum ge-
worden ist, das nicht zugleich zwei Eindrücke speichern kann. »In
mir«, behauptet Lovell, ist die »Veränderung« vorgegangen. Auch
Balder versteht sich so: »Unsre Seele ist zu eng, um zwei Wesen mit
demselben starken Gefühl zu umfangen« (I, 291).
49
Am 25. März 1813 teilt Tieck dem Freunde Friedrich Schlegel mit, was
in vielen Jahren seines Lebens zur festen Erfahrung geworden ist:
»Was die Zeit vergeht, was wir alt werden; noch ist mir das Leben
immer mehr wie ein Mährchen geworden, den rechten wahren Punkt,
festzuhalten, zu beharren, habe ich immer noch nicht gefunden, wie ich
es wohl in einzelnen begeisterten und entzückten Stunden wähnte.
Glücklich, wenn es Dir so geworden ist. Nur Gott, Liebe, Freundschaft

465
und Tugend sind ewig, alle andern Gedanken, Gefühle, Ansichten
Weisheiten schwimmen auf und nieder, oft als bunte Iris, die bei Was-
serfällen wohl dicht vor unsern Füßen im Grase zu liegen scheint.«
50
Später hat J.-P. Sartre die Nähe des präreflexiven Zeit- bzw. Selbst-
bewußtseins zum ästhetisch-imaginativen Bewußtsein phänomenolo-
gisch begründet. Tieck war diese Nähe des basalen Selbstbewußtseins,
das die präreflexiv erlebte Fragilität der menschlichen Wirklichkeit
enthüllt, zur Kunstanschauung vertraut: »Ach du schwaches, leicht zer-
brechliches Menschenleben! Ich will dich immer als ein Kunstwerk be-
trachten, . . .« (5, 308; vgl. den vorangegangenen Kontext).
51
Um den mit vielerlei Bedeutungen besetzten Terminus zu vermeiden,
müßte man einen Ersatz namhaft machen können. In der deutschen
Sprache gibt es keinen, der allen notwendigen Implikationen dessen,
was »Transzendenz« im bestimmten Sinne meint, gerecht wird.
52
Innerhalb dieser Formalstruktur gibt es vielerlei Möglichkeiten inhalt-
licher Erfüllung, und Janis Linie Gellineks Vorwurf: »This is too
simple a scheme to do justice to so complex a tale« (Festschrift für
Heinrich E. K. Henel, München 1970, S. 150, darin: Der blonde Eck-
bert: A Tieckian Fall from Paradise, i^j-166) trifft ins Leere. Die
Formalstruktur, ihrerseits Ausdruck einer temporalen Welterfahrung,
ist die Bedingung der Möglichkeit jeder stofflichen Erfüllung. Auch
der Mythos vom »Fall aus dem Paradies« wird sich nur hieraus er-
klären lassen und kann, da er auf einer ganz anderen Ebene erscheint,
keine Alternative zu M. Thalmanns Interpretation darstellen. Das Ent-
sprechende gilt für R. Minders psychoanalytische Deutung, deren Be-
rechtigung als Möglichkeit dadurch nicht bestritten wird. - Was hat
aber Gcllinek für eine »komplexere« Deutung anzubieten? »One might
say that Tieck has given us here an example of the proverb »Unrecht
Gut gedeiht nicht gut.« (a.a.O., 162). Was konnte der alte Nicolai nur
gegen eine solch moralische Geschichte einzuwenden haben?
J3
Das Märchen und die Moderne. Zum Begriff der Surrealität im Mär-
chen der Romantik. Stuttgart 1961. S. 30/1.
54
a.a.O., 51; vgl. 44, 47/8.
55
»Formal liegt der Nachdruck auf dem Musikalischen der Darstellung,
nicht auf dem Gegenstand.« (M. Thalmann; II, 874).
55a
M. T., Romantiker als Poetologen, Heidelberg 1970.
50
Eine aus der Moderne eines Henry James vertraute Problematik (The
Beast in the Jungle; in: American Short Stories, selected . . . by D.
Grant, London 1965): »It's dreadful to bring a person back, at any
time, to what he was ten years before« (a.a.O., S. 162).
57
»Zeit; ganz relativer Begriff. Jedes Kunstwerk hat seine eigene Uhr«
(BüSh. 369); ebd. 180: »Der Begriff der Zeit gehört zu den allerrela-
tivsten« - »es kömmt. . . bloß auf die Kunst des Dichters an, uns in
Ansehung der Zeit zu täuschen.« Zum Problem .Zeitbewußtsein im
Phantasiebild« vgl. Sartre, L'imaginaire, 245 ff. - Die Subjektivität
unseres Bewußtseins von Einheit der Zeit hatte Herders berühmter
Shakespeare-Aufsatz entdeckt.
58
Aber gewiß nicht so naiv, wie Friedrich Carl Scheibe (Aspekte des
Zeitproblems in Tiecks frühromantischer Dichtung, GRM, LXVI,

466
1965 (N. F. 15), 50-63) sich das vorstellt: als bloßen Progreß des Al-
terns mit dem Erfolg, daß »die unschuldige Harmonie der Kindhaf-
tigkeit« eines Tages verloren sein wird (S. 57). Scheibes Aufsatz zeigt,
daß man ohne eine zuvor geleistete Phänomenologie der Zeitlichkeit
mit diesem Begriff nicht operieren sollte. Das triviale »Wie doch die
Zeit vergeht!«, jene Redensart, die jedermann so leicht von den Lippen
geht, ist in ihrer Trivialität gerade erst aus einer Verdrängung der ur-
sprünglichen Zeitlichkeit zu verstehen. Scheibes Aufsatz macht durch
den anspruchsvollen Titel, der nicht hält, was er verspricht, das Ver-
säumnis bewußt.
Raymond Immerwahr, »Der blonde Eckbert< as a Poetic Confession,
GQ XXXIV (1961), S. 103-117, deutet die beiden Hauptfiguren des
Eckbert als einen »symbolic expression of a single consciousness split
into two personalities«, nämlich die wunderbare und die gesellschaft-
lich-alltägliche.
Vgl. Paul Gerhard Klussmann, Die Zweideutigkeit des Wirklichen
in Tiecks Märchennovellen, ZfdPh., LXXXIII (1964), S. 426-452.
J.-P. Sartre hat gezeigt, daß diese Zweiheit der Standpunkte ein all-
gemeines Charakteristikum jedes Traumes ist (L'Imaginaire, vgl.
334 f.). Tatsächlich beruft sich ja Tieck auf die Erfahrung des Traumes,
und seine Märchen liefern einer Phänomenologie des Traumbewußt-
seins reiches Anschauungsmaterial.
»Von den Grundbedingungen unserer Existenz«, schreibt Tieck an J.
Kerner, können wir uns »niemals losmachen« (L. H. Fischer, Aus Berli-
ner Vergangenheit, 1891, S. 185; vgl. Kasack II, 514/5). »Trotz aller
Veränderungen bleibt der Mensch sich gleich zu allen Zeiten« (K.S. II,
388).
Vgl. Abdallah (8, 46/7): »Ich höre das Pochen meines ungeduldigen
Geistes: was ist/ diese unnennbare unausfüllbare Leere, die mich stets
im Genüsse so kalt und todt ergreift?« usw. Wir können den Abdal-
lah, trotz seiner vielen Verweise auf unser Thema, hier übergehen. Die
besten Züge sind in den Lovell übernommen und dort kunstvoller aus-
geführt. Der Abdallah ist, trotz vieler eindrucksvoller Szenen und Ge-
danken, durch die stilistische Tendenz, »alles und jedes mit gleicher
Umständlichkeit, jeden Gedanken mit gleicher Kraft vortragen (zu)
wollen«, »endlich« unerträglich, die gequälte Phantasie »übersättigt«
(6, VIII/IX), wie Tieck später selbstkritisch zugesteht.
Von hier fällt ein Licht auf Boehme-Schellings »rotatorischen Um-
trieb«; das Bild für eine Zeit, die sich nicht in die Sukzession
befreien konnte.
Von hier erklärt sich der Sinn der Kreisstruktur in den Gedichten
Zeit (Ged. 2, 28) Abend (Ged. 1, 141: »Wie ist es denn, daß
trüb und schwer/ So alles kömmt, vorüberzieht,/ Und wechselnd,
quälend, immer leer,/ Das arme Herz in sich verglüht« usw.) und pas-
sim, z.B. Ged. 1, 133: »Was gewesen, kommt auch wieder,/ Zukunft
ist dereinst vergangen« usw. Vgl. Wackenroders Nackten Heiligen.
s
Die Frage scheint richtiger gestellt als in Oscar Wilde's Bonmot,
ob nicht Reue ein Verkennen der Vergangenheit sei.
' Lovell erfährt jenes Schicksal, das Franz Sternbald ein »an der Zeit

467
Hinsterben« nennt (I, 748). »Da das Leben nur darin besteht, immer
wieder zu hoffen, immer zu suchen« (ebd.) und »der Augenblick, wenn
wir dies aufgeben, . . . der Augenblick unsers Todes sein . . . sollte«
(ebd.), so sind diejenigen »die Unglücklichsten«, die am Ziel ihrer
Sehnsucht durch immerwährende Enttäuschung endlich verzweifeln,
die Zeit nicht mehr als unendlichen Weg zur Ewigkeit begreifen und
schließlich die sinnlose Zeitlichkeit der bloßen gegenstandslosen Suche
als Fluch erfahren.
87
Andre Gottrau nimmt sich durch die Überbetonung des Lähmenden
in der Langeweile (er spricht wie ein Therapeut vom »kranken Zeit-
gefühl«) die Möglichkeit, Tieck noch glaubwürdig als Beispiel für die
.reißende Zeit« zu verwenden (a.a.O., S. 29 ff.). Gottrau hat unrecht,
wenn er die Langeweile ausgerechnet zu Tiecks Urerlebnis werden
läßt. Im Gegenteil unterscheidet Tieck seine eigene Dichtung in satiri-
scher Absicht von den Grundsätzen jener »Ledernen« (Die Vogel-
scheuche, 27, 169 ff.). Deren Dichtungslehre strebt einen solchen Effekt
von Rezitation an, daß aus dem Anhören von 3 realen Stunden das
Gefühl entsteht, 10 mit nichts hingebracht zu haben; »Spannung«,
Überraschung, Zeitfluß sollen in gestauter Zeit und Einerleiheit ver-
sickern. Es soll mit der Zeit »gespart« werden (27, 129 ff.). - Vgl. Karl
Immcrmann, Münchhatisen. (. . .) Berlin 1858, 1. Buch, S. 21 ff.
98
Nicht, daß die Zeit buchstäblich stagnierte; sie wird vielmehr so
reißend, daß der Geist die vorüberschnellenden Phasen einzeln zu be-
trachten ermüdet: »Wie die Fäden eines Weberstuhls flimmert und zit-
tert das menschliche Leben vor meinen Augen, ein einziges Wechseln und
Durcheinander, und dabei doch das langweilige, ewige Einerlei« (L451).
Von hier fällt ein Licht auf Tiecks Vorstellung von der Zwecklosigkeit
der Geschichte mit ihrem Setzen und Vernichten in infinitum ( n , LX).
Es ereignet sich »nichts« in ihr. Solche Betrachtungen entstehen, wenn
man in der Geschichte nur auf die Struktur der vergegenständlichten
inneren Zeit reflektiert, nie auf die neuen, lohnenderen Inhalte, um
deretwillen der Überstieg über das Alte (etwa bei Revolutionen) sich
zeitigt. Die Zukunft kommt nicht dazu, sich als solche zu behaupten,
sie ist immer schon gewesen (nichtig).
co
Kant scheint aber, schon durch Reichardts Vermittlung, Tiecks einzige
Quelle gewesen zu sein, wie R. Minder (Un poete allemand..., 270)
überzeugend belegt.
70
Vgl. schon 8, 4/5 ff. (Omar und Abdallah).
71
Vgl. Minkowski. Le probleme du temps vecu. In: Recherches philoso-
phiques V, 1935/6.
72
Schon Lovell hat die menschlichen Temperamente des Phlegmas und
des Sanguinischen als Resultate unterschiedlicher Entwürfe gedeutet,
durch die sich ein je verschiedenes Erleben von Zeit manifestiert: »Je-
der Mensch hat seine eigene Philosophie, und die langsamere oder
schnellere Zirkulation des Blutes macht im Grunde die Verschiedenheit
in den Gesinnungen der Menschen aus. . . . Das ist eben das Hohe in
der menschlichen Seele, daß sich ihr einfacher Strahl in so unendlich
mannigfaltige Farben brechen kann« (I, 419).
73
Man denkt an den Schreck über die Nichtübereinstimmung seiner eige-
nen mit der Zeit der Turmuhr und die Desorientierung des anonymen
Erzählers in Kafkas Parabel Gibs auf! - (vgl. Heinz Politzer,
Franz Kafka, der Künstler, 1965; S. 19 ff.).
74
Vgl. das Gedicht Einsamkeif, Ged. 1, 105 ff.
75
Rudolf Haym, Die romantisdoe Sdiule, 96.
76
Unter diesem Namen ist das gleiche Phänomen, das auch in Tiecks
Dichtung so häufig begegnet, von Jean-Paul Sartre glänzend analysiert
worden (Die Transzendenz des Ego, 40; ausführlicher in Das Sein und
das Nichts, 72 ff.). Da Sartre zugleich eine gute Antwort auf die Frage
gibt, warum die Freiheit sich selbst gern hypostasiert und ihre Spon-
taneität an eine unverfügliche Macht abgibt, die uns magisch durch-
waltet und unsere Willkür uns enteignet, sei nachdrücklich auf den
angegebenen Passus verwiesen.
Immer wieder ist ja den Tieckschen Helden zumute, »als drängte sie
eine unsichtbare Gewalt.. . zu . . .« (I, 931), als sei »unterirdischen Ge-
walten« unser »freier Entschluß verpfändet« (III, 341, Z. 3 ff.), als risse
sie »eine unbekannte Kraft« (»ein Dämon«) an eines Mädchens Brust
(I, 427), als verfolge sie »ein böser Dämon«, als gingen unter ihrem
Geiste »die wilden Pferde« des Lebens durch (I, 368), als müsse es in
einer Vorsehung begründet liegen, »warum ich gerade so und nicht
anders empfinde, und warum ich vorzüglich auf diese Frage geführt
bin« (I, 477) usw. - Oder die Freiheit versteckt sich hinter dem Ver-
bot des Vaters: »Er hat es gewollt, es sei!« (I, 368) - oder »die Zeit«
selbst wird zum »unbarmherzigen Henkersknecht, schleppt dich hin-
ein« ins Jüngste Gericht (!), mit einem Wort, bekommt eine magische
Kausalität verliehen, die auch das eigene Bewußtsein durchherrscht.
Das alles sind verschiedene Weisen von Versuchen, die Freiheit an
objektive, anonyme Mächte oder an die Tiefe der Ichheit (vgl. Sartre,
Das Sein und das Nichts, 86) abzugeben. Die eigenartigen Verfüh-
rungsgestalten, Omar, Andrea, Walther usw., gehören auch in diese
Kategorie, deren Psychologie durch den Hinweis auf die Bun-
des-Roman-Tradition noch nicht hinreichend aufgeklärt ist und die in
Tiecks späterem Werk, wie wir zeigten, fortgeführt sind als .Enteigner
der eigenen Freiheit«, .Entfremder der Transzendenz«, wie wir sie
pauschal nennen wollen. Es gehört zu den Alpträumen von Tiecks Ge-
stalten (die mit dem Zweifel an der eigenen Existenz (I, 613 oben)
Hand in Hand gehen), daß sie ihr Leben womöglich nicht selbst le-
ben, sondern von einem fremden, übermächtigen Bewußtsein aufge-
saugt werden - ein Gespenst, das seine Macht über Tiecks Phantasie
in den Gestalten des Andrea oder des Omar besonders unheimlich be-
weist.
Rosa gewinnt nach der Enttäuschung über den idolisierten Andrea
schlagartig seine Freiheit wieder: »Damals war ich gezwungen zu
schreiben«, jenen grausamen Brief nämlich an den verarmten Lovell in
Paris, »weil Andrea noch lebte, jetzt aber kann ich nach meinem eig-
nen, bessern Willen handeln« (I, 695). Tieck selbst hat, z. B. im
Schutzgeist, diese Hypostasierung als, je nachdem, »süße« oder grau-
sige »Täuschung« erklärt (III, 341, Z. 3 ff., 886,2, 367). Nicht zufällig
beginnen die meisten solcher Hypostasierungen mit einem »Es war ihm,

469
als ob . . . « ; z. B.: »Es ist uns oft, als wenn verschiedene Geister in un-
serm Innern herrschten, und die verschiedensten Kräfte die Maschine
unsers Geistes regierten« usw. (III, 450/1). Es geht ganz einfach um
die Frage: »Was ist unsre selbsteigne Kraft?« (III, 8862) - »Spielen
wir selbst mit uns, oder mischt eine höhere Hand die Karten?« (III,
233)-
Wir sagten es, Sartre hat eine vorzügliche Antwort darauf (Die Trans-
zendenz des Ego, 39/40): »Das transzendentale Bewußtsein ist unper-
sönliche Spontaneität. Es bestimmt sich in jedem Augenblick zur Exi-
stenz; etwas ihm zeitlich vorangehendes läßt sich gar nicht denken.
Daher offenbart uns jeder Augenblick unseres Lebens eine creatio ex
nihilo. Keine neue Konstellation, sondern ein neues Sein. Es hat für
jeden von uns etwas Beängstigendes, diese rastlose Seinsschöpfung, de-
ren Urheber wir nicht sind, sozusagen auf frischer Tat zu ertappen.
Auf dieser Ebene hat der Mensch den Eindruck, unaufhörlich sich selbst
zu entweichen, über sich hinauszugehen, von einer stets unerwarteten
Fülle überrascht zu werden. Und daher macht er wiederum das Unbe-
wußte für diese Überschreitung des ICH durchs Bewußtsein verantwort-
lich. In Wahrheit besitzt das ICH keinerlei Macht über diese Sponta-
neität, denn der Wille ist ein für die Spontaneität und von dieser Spon-
taneität konstituiertes Objekt. .../... Diese ungeheuerlidie Spontanei-
tät scheint uns der Ursprung zahlreicher Psychasthenien. Das Bewußtsein
erschrickt vor seiner eigenen Spontaneität, weil es sie als jenseits der
Freiheit [d. h. der willkürlichen Verfügbarkeit] liegendes empfindet.
Das zeigt klar ein Beispiel von Janet. Eine junge Frau hatte, jedes-
mal wenn ihr Mann sie allein ließ, panische Angst davor, daß sie sich
ans Fenster setzen und wie eine Prostituierte die Vorübergehenden an-
sprechen könnte. Es gab nichts in ihrer Erziehung, in ihrer Vergangen-
heit noch in ihrem Charakter, was zur Erklärung einer derartigen Be-
fürchtung als kausal determinierend hätte dienen können. Uns scheint
ganz einfach, daß ein unbedeutender Nebenumstand (Lektüre, Ge-
spräch usw.) bei ihr das hervorgerufen hat, was man einen Möglich-
keitstaumel nennen könnte. Sie fand sich grenzenlos frei, und diese
schwindelerregende Freiheit erschien ihr bei Gelegenheit der Geste, de-
ren Ausführung sie ängstigte. Dieser Taumel ist nur verständlich, wenn
das Bewußtsein sich selbst plötzlich als etwas erscheint, das mit sei-
nen Möglichkeiten das Ich, das ihm gewöhnlich als Einheit dient, un-
endlich übersteigt.«
Kant hatte freilich schon die von aller Restriktion an das Sittengesetz
suspendierte Freiheit für etwas Schreckliches erklärt; und Schelling
hat den Möglichkeitstaumel ganz ähnlich wie Sartre beschrieben
(WA I, 94; I, 9, 39). Der Arzt im Dialog Clara weiß, daß
die »unumschränkte, gänzliche . . . Freiheit« (I, 9, 39) »den Menschen
unerträglich seyn müßte. . . . Die meisten Menschen scheuen sich vor
der Freiheit. . . . Wie wenige wissen mit diesem Geheimniß umzugehen,
darum sehen wir, daß die, die in den Fall kommen, dieses Götterrechts
zu gebrauchen, wie Rasende werden, und von dem Wahnsinn der Will-
kür ergriffen, in denjenigen Handlungen die Freiheit zu bewähren
suchen, denen alles Gepräge innerer Nothwendigkeit fehlt, und die

470
darum die zufälligsten sind. Nothwendigkeit ist das Innere der Frei-
heit; darum läßt sich von der wahrhaft freien Handlung kein Grund
angeben; sie ist so, weil sie so ist, sie ist schlechthin, ist unbedingt und
darum nothwendig. Aber als solche ist die Freiheit nicht von dieser
Welt« (ebd.). Sie äußert sich darum auch als Überstieg über das Feste,
Gründende, was Schelling gelegentlich auch »Charakter« nennt. Zu
diesem Überstieg zwingt den Menschen die Freiheit, die in der Unent-
schiedenheit keinesfalls verharren kann (I, 7, 374; vgl. Wolf gang Wie-
lands Hinweis auf Sartres »zur Freiheit verurteilt«, in: Ders., Schel-
lings Lehre von der Zeit, Grundlagen und Voraussetzungen der Welt-
alter-Philosophie (= Heidelberger Forschungen 4), Heidelberg 1956,
51). »Wir fordern von dem Menschen allerdings auch, daß er seinen
Charakter überwinde, nicht aber daß er ohne Charakter sey« (WA I,
94; Charakter als »eine ewige [nie aufhörende] beständige That« [WA
II, 177]). Durch den Charakter ist der Mensch »allein er selbst«, durch
die Freiheit in jedem Augenblick zugleich mehr als er selbst (vgl. wie-
der Wolfgang Wieland, a.a.O., 83; »Die Grundstiftung der Ekstasis ist
ihrem Wesen nach ein Hinter-sich-bringen«). -
Diese Rückwendung auf eine zu Tiecks Dichtung zeitgenössische und
nach eigenem Anspruch wesensverwandte (Köpke II, 175) Position ist
als ein Nachtrag zu verstehen, der oben, bei einer Darstellung der
philosophischen Theorie, ortlos gewesen wäre und einmal mehr die
Simultaneität von Poesie und Philosophie erhellt. - Das Phänomen
selbst gehört zu den modernen Erfahrungen schlechthin - man muß
nur exemplarisch das Werk Dostojewskijs daraufhin durchsehen, um
die ausführliche Behandlung desselben bei Tieck als nicht unangemessen
zu empfinden.
Vgl. K.S. I, 66, die Erklärung des Grauens als »Schwindel der Seele«.
Noch der ganz alte Tieck wiederholt diese Erfahrung, nun aus einem
Solgerschen Standpunkt: »Könnte man sich die Gottbegeisterung, die
man doch einmal erlebt hat, nur immer gegenwärtig erhalten; da aber
nichts in uns feststeht, und nicht kann, entschwindet uns auch das
Göttlichste immer wieder, - und wird auch Täuschung« (Brief an Ida
von Lüttichau, Potsdam, 16. Juli 1848; 30); »Die Vergänglichkeit ist
das Gesetz der Natur, soweit wir sie verstehen können« (an dieselbe,
Berlin 1853 (im Todesjahr); 41).
Ob Novalis dies Bild aus dem Lovell kennt? Wir sahen, daß auch er
sich seiner bedient (IX, 449, Nr. 942).
»Von sich selbst«, berichtet Köpke über Tieck (II, 126/7), »der i m
Leben der Humanste und Gutmüthigste war, behauptete er, in Träu-
men sei er schadenfroh, ja diabolisch und blutrünstig, so daß ihn/ in
der Erinnerung daran ein Grauen erfaßte.«
Vgl. BüSh. 50 und Tagebuch 15, 299.
1
»In der Jugend schon überkam mich oft eine große Angst über die
Doppelnatur unserer Zustände, die Zweideutigkeit aller gegenwärtigen
Verhältnisse«, schrieb Tieck am 13. 4. 36 (ein von Holtei herausgegebe-
ner Brief).
' Durchaus in jenem Sinne, wie W. Emrich den Käfer in Kafkas Ver-
wandlung als »interpretierbar nur als das Uninterpretierbare« be-

471
zeichnet (Wilhelm Emrich, Franz Kafka, Frankfurt/M./Bonn 19654;
124) - oder wie Schelling das absolute Subjekt als das »Indefinible,
das Unfaßliche, das Unendliche« (I, 9, 219) »definiert.«
84
Wahrscheinlich ist es gerade dieser Satz, auf den Hegels Polemik zielt
(Ästhetik, ed. Bassenge, S. 105 ff.).
Sehr ähnlich wie seine Freunde Schlegel und Hardenberg hat Tieck die
Geschichte eines Lebens als ein ständiges Sich-Überholen ohne Zweck
beschrieben, das in keinem realen Ziel zu sich selbst kommt. Die Sub-
stanz des Daseins ist eben die unausschöpfbare Allheit und kann sich
darum nur in der unendlichen Sukzession erschöpfen. »Der Mensch«,
schreibt Tieck, ist uns »nur als ein fortschreitendes, sich veränderndes
Wesen nach einem unendlich entfernten, nie wahrhaft nahrückenden
Ziele, zum Studium und zur wiederholten Betrachtung merkwürdig
genug«. Die Beobachtung des »wechselnden Stroms seiner Gedanken,
Empfindungen und Leidenschaften« hat Wert, da »er uns um so inter-
essanter und reicher erscheint, um so mehr er scheinbare Widersprüche
vereinigen kann« (BüSh. 414) - »Ohne Freiheit gibt es keine wahr-
hafte Geschichte eines Menschen wie eines Staats« (ebd., 415).
Der frühe Schelling hat eine »Theorie a priori« der Geschichte aus die-
sem Grunde für widersinnig erklärt. »Der Mensch hat nur deswegen
Geschichte, weil, was er tun wird, sich nach keiner Theorie zum voraus
berechnen läßt« (I, 3, 589 ff.). »Das absolut Gesetzlose . . . ohne Zweck
und Absicht« gehört ins Reich der »Willkür«, die »insofern die Göttin
der Gesdiichte« ist (ebd. 590). Die menschliche Freiheit überholt ihr
empirisches Sein, d. h. ihr Sein, »insoweit auf ihn [sie] die Vergangen-
heit gewirkt hat« (in der sie als empirisches Wesen vollständig wur-
zelt), durch jede frei sich auf ihre Möglichkeiten hin entwerfende Tat,
die erst a post in »mechanische« Objektivation gerinnt und nur als
Gewesenheit theoriefähig wird. (Vgl. Schlegels Wort über den Histori-
ker.) Die Freiheit selbst ist zwecklos und unverrechenbar. (Vgl. den
Aufsatz: Ist eine Philosophie der Geschichte möglich? I, 1, 466 ff.)
85
Die romantische Schule, m . Man wird der Erzählung zugutehalten
müssen, daß Tieck sie in der ersten Fassung nicht durch die Zensur
brachte und die jetzige Version von einem dummen Redaktor verstüm-
melt ist.
88
Vgl. III, 5353,. Ein wenig dick aufgetragen ist die Polemik gegen
»das Konsequente« im Tagebuch (vgl. 15, 289; 295/6; 301; 337; 351);
aber gerade das Hyperbolische bestätigt unsere These.
87
An J. Kerner, in L. H. Fischer, Aus Berlins Vergangenheit, 1891; 185;
vgl. Kasack II, 514/5.
87a
Selbst »einen Charakterlosen« nannte Fr. Schlegel Tieck (Watzel (?),
a.a.O., 303).
88
Robert Minder glaubt darum ganz mit Recht, daß »nur flagrantes
Unverständnis von Tiecks Werk« Emil Staiger zu seinen »Aussprü-
chen« (Stilwandel, 177) führen konnte (R. M., Das gewandelte Tieck-
Bild, in: Klaus-Ziegler-Festschrift, Tübingen 1968; S. 196).
89
Im Nachlaß Tiecks hat sich ein Novellenfragment gefunden, Hütten-
meister, mit dem Untertitel: Charakter Darstellung oder . . . oder . . .
oder. . . Darin wird der Held auf die folgende Weise, ganz in

472
Übereinstimmung zu Shakespeare's Forderung beschrieben (Tieck
N.S. II, 20): »Denn kein Mensch auf Erden war in seinen Launen, so-
wie in seiner Entscheidung so ungleich. Lachte er heut und erzählte
fröhliche Dinge, so war er morgen stumm, melancholisch und hatte das
Aussehen einer Leiche. Bald war er sanguinisch und heiter, bald hä-
misch und bitter« usw. (»bald« -»bald« . . .). Vorzüglich diskutieren
diese wahre Dialektik der Person einige Phantasus-Gesprädie, z. B. 4,
64 ff.
90
Vgl. den Kommentar von Marianne Thalmann, III, 1071/2.
31
Aber gerade gegen diese Charakterologie ist Hegels Polemik gerichtet:
»Am schlimmsten aber ist es, wenn solch ein Schwanken und Um-
schlagen des Charakters und ganzen Menschen gleichsam als eine schiefe
Kunstdialektik zum Prinzipe der ganzen Darstellung gemacht wird
und die Wahrheit gerade darin bestehn soll, zu zeigen: Kein Charakter
sei in sich fest und seiner selbst sicher.« (Ästhetik, hg. von Friedrich
Bassenge, Berlin 1955; S. 1098. Vgl. den ganzen Kontext!) Dagegen
Sartre, Was ist Literatur, Ein Essay, Reinbek 19646, 172/3: »Keine Cha-
raktere mehr: die Helden sind eingefangene Freiheiten wie wir alle.«
(Vgl. Kontext)
92
Der Vergleich mit Lessings Hamburgischer Dramaturgie (vgl. 28.
Stück. Den 4. August 1767) zeigt deutlich, wie dem Wortlaut nach
ähnliche Definitionen über einer Neubestimmung des Charakters ihren
Sinn vollständig alterieren.
93
Vgl. noch Jean Paul in der Vorschule der Ästhetik.
04
Man sieht, Tieck behandelt die »Situationskomik« hier - und das
ganze Shakespeare-Buch bestätigt das - eher mit der linken Hand
(a.a.O., 276/7). Sie wird als eine abkünftige Folge der Charakter-
komik verstanden und ist ein im wörtlichen Sinn undramatisches Ele-
ment. Tiecks Dichtung bedient sich ihrer gelegentlich zum Kontrast: so
im Zerbino in der Person des Nestor, der in die wunderlichsten
Situationen gerät und sie mit der geistlosesten Verständigkeit kom-
mentiert, ohne im geringsten an sich irre zu werden; ebenso im Abra-
ham Tonelli, der als der phlegmatischste aller aufgeklärt-liebenswerten
Erzspießer wie eine Blindekuh durch ein von Wundern und Märchen
umgaukeltes Leben reist, schließlich Kaiser von Aromata wird und par-
tout über nichts staunen kann, weil auch zum Staunen Verstand ge-
hört (einer der geistvollsten Einwände gegen die Aufklärung).
Der »Rebell Engelbrecht« (Tieck, N . S. L, 122) in der Posse Hanswurst
als Emigrant ist auch durch Situation komisch. Von allen für ein
Pferd gehalten (vgl. N.S. I, 95 - Ubaldo bemerkt zwar später (117):
»Mit dem Pferde kömmt's mir närrisch vor! Je nun, das kümmert
mich am Ende nicht weiter.«), hat er schon fast alle Hoffnung aufge-
geben, »die Gleichheit der Stände« (123) herzustellen: »Er empört sich!
Er hat die Gleichheit der Stände im Kopf, das kann man dem Kerl
schon ansehen.«
Mit dem Wirt Ubaldo unterhält sich dieser »arme verkümmerte Be-
diente, Engelbrecht mit Namen, im Dienste des Prinzen von Artois, ein
ci-devant Mensch, jetzt Reit- und Zugpferd bei Sr. Exzellenz« (Tiedt,
N.S. I, 109), bescheiden wie folgt:

473
»Engelbrecht: Haben Sie nicht noch eine kleine Stube übrig, lieber
Herr Wirth?
Ubaldo: Wie? Was?
Engelbrecht: Wenn's auch nur eine kleine Dachstube ist.
Ubaldo: Ein Pferd in einer Dachstube? Wie wäre mir denn das?
Engelbrecht: Oder ein Kämmerdien —
Ubaldo: Ach, rede nicht viel; du gehörst in den Stall hinein!
Engelbrecht: Ich bin ja aber kein ordentliches Pferd./
Ubaldo: Brauchst's uns nicht zu sagen! Sehn, daß du jämmerlich
abgeritten bist. Komm in den Stall! (Geht ab.)
Engelbrecht: (eilt nach und stößt sich den Kopf) Nun ja, das kömmt
davon, wenn man solchen Leuten über den Kopf gewachsen ist!
(Geht ab.)«
(Tieck, N.S. I, 102/3)
Tieck hatte seine Gründe, warum er diese Satire der Öffentlichkeit vor-
enthielt. Im Zerbino tritt dann wieder ein gewisser »»Stallmeister« auf,
der sich, durch das hartnäckige Urteil der aristokratischen Gesellschaft
über ihn mürbe gemacht, selbst als Hund hinnimmt, schließlich als
Großinquisitor der Aufklärung endet - erst Objekt der Herrschenden,
schließlich Funkitonär und - unwissentlich - immer noch ein Hund
(ein zum Mechanismus Herabgedrückter) - eine der absurdesten Kon-
stellationen in Tiecks Komödien (Cervantes!). Hier liegt allerdings
doch fast so etwas vor wie die Darstellung der unvollkommenen
Transzendenz eines Menschen, der mit Gewalt verhindert wird, er
selbst zu sein. Engelbrecht, wie Stallmeister nie frei geworden, sondern
nur in angenehmere Abhängigkeit (als »Schildwacht«) avanciert - fin-
det: »Kein großer Schritt vom Pferde zum Soldaten!« (Tieck, N.S. I,
121). Insofern sind auch die Engelbrecht- und Stallmeister-Einlagen
nicht rein situations- (oder gar charakter-)komisch, sondern verfolgen
über den grotesken Einfall hinaus die Absicht der politischen Satire
(wie fast alle Komödienfiguren Tiecks; schon der Kater Hinze ist ja
Träger einer satirischen (politischen) Absicht, ebenso die zahlreichen
schwachköpfigen Könige; die Verheiratung der Tochter an den Zar
und die Aufreibung Polens - das wurde von jedermann damals
verstanden; vgl. J. Wolf, Les allusions politiques dans le »Chat Botte«
de Tieck (Revue germanique, 1909, V, 158-201)).
Rudolf Haym nahm Tieck diese Aufstockung einer satirischen Schicht
übel, durch welche die Eindeutigkeit der Rollen, die immer von Poten-
tialitäten umwittert sind, noch mehr gefährdet wird (er nimmt Anstoß
an der Fichtekritik Simons im Blaubart). Er, aber noch deutlicher Gun-
dolf (Ludwig Tieck, 167), wollen um jeden Preis, wie die Zuschauer im
Gestiefelten Kater, »illudiert« werden.
Tieck wußte wohl, was ihm die gelegentlichen Verdächtigungen und kö-
niglich angeordneten Hausdurchsuchungen einbrachte - so naiv er
sich stellen mußte. Heine, in der Romantischen Schule (a.a.O.), hat die
unterdrückte politische Absicht jener Komödien, über die man gesagt
hat: »Nichts als Literatur und wieder Literatur« - gleich durchschaut
und aus dem politisch unfreien Zustand der Zeit erklärt.
a
Unter den idealistischen Philosophen hat nur Schelling eine mit

474
Tiecks vergleichbare Theorie des Komischen entwickelt. Er setzt das
Wesen des Komischen in »einen allgemeinen Gegensatz der Freiheit
und der Nothwendigkeit, aber so, daß [im Unterschied zur Tragödie]
diese in das Subjekt, jene ins Objekt fällt« (Ph. der Kunst, 356). Na-
türlich kann diese »Nothwendigkeit im Subjekt nur eine prätendirte,
angenommene seyn« und muß sich als »eine affektirte Absolutheit«
entlarven, »die nun durch die Nothwendigkeit in der Gestalt der äu-
ßeren Differenz zu Schanden gemacht wird« (a.a.O., 357). Anders ge-
sagt, unser Gelächter entlarvt die »Prätention« (»Lüge«) eines als
»absolut« ausgegebenen »Charakters«, hinter dessen Äußerlichkeit die
verdrängte »Freiheit« des »Subjektes« sich retiriert (a.a.O.). Ein Dra-
ma der Freiheit, lautet Tiecks Konsequenz, muß mit jener »unnatür-
lichen . . . Prätention auf Absolutheit... des Charakters« (a.a.O.) prin-
zipiell brechen, d. h. die klassische »Tragödie« durch das »Schauspiel«
ersetzen (BüSh. 14/5).
95
Eine weitere strukturelle Parallele besteht übrigens in der Exposition
dieses Stücks, die einfach erzählt, was vorgefallen ist und was sich dar-
aus für Folgen ergeben (5, 175), mit der Vorstellung Lovells durch
Karl Wilmont, der den Helden auf eine Weise einführt, die der Hand-
lung allen Inhalt aussaugt.
96
Vgl. Tiecks lustige Kritik an Kleists Mißgriff der Erfindung einer
»eingemachte Ananas naschenden« Katze (Familie Schroffenstein, II, 3)
(Heinrich von Kleists Lebensspuren, Dokumente und Berichte der Zeit-
genossen, hrsg. von Helmut Sembdner, München 1969, S. 204, 27s b).
97
Dergleichen Interpretationen und ihre Sprache verderben leider immer
die Komik, weil die Analyse in ihrer Umständlichkeit so gar keine
Ähnlichkeit mit dem Spritzigen des Witzes selbst erkennen läßt. In der
Realität eines kreativen Bewußtseinsaktes ist das fast gleichzeitig ge-
schehen, was in der Analyse so komisch auseinandertritt. Fr. Schlegel
allerdings gibt zu bedenken: »Man redet immer von der Störung,
welche die Zergliederung des Kunstschönen dem Genuß des Liebhabers
verursachen soll. So der rechte Liebhaber läßt sich wohl nicht stören!«
(KA II, 175, Nr. 71).
98
Durch dieses individuelle komische Talent muß sich Tieck, neben ande-
ren Zeitgenossen, für immer den Philosophen Hegel zum Feind ge-
macht haben.
Holtei erzählt, daß bei einem von Tiecks hochberühmten Vor-
lesungsabenden, an welchem er den Othello vortrug und darin ein-
drucksvoll den Jago als rabenschwarzen Schurken gestaltete, Hegel in
Begeisterung Tiecks »unendlichen Geist« gepriesen habe, indem er »ge-
rade die entgegengesetzte Ansicht des Jagoschen Charakters« in seine
Peroration »hineindozierte«.
»Ich stand wie versteinert«, bekennt Holtei. »Denn ohne von dem
hochberühmten Manne etwas anderes zu kennen als seinen Namen,
kannte ich doch eben diesen und seinen Ruhm. Tiecks Gegenrede war -
ich will nicht sagen tückisch - doch tieckisch, verbindlich ironisch./
Ich müßte sehr irren, wenn es nicht dieser Abend gewesen wäre, von
dem der Groll herrührte, den der Philosoph so lange gegen den Dichter
bewahrte« (Kasack II, 251).

475
99
Sehr komische Szenen vom Typus der vorschnellen Reflexion gibt es
einigemal im Tonelli, z. B. 9, 248/9.
100 p e t e r Szondi, Friedrich Schlegel und die romantische Ironie, mit einer
Beilage über Tiecks Komödien, in: Satz und Gegensatz (a.a.O.).
101
Tieck hat seine Vorbilder oft genug genannt, ja z. T. durch Bearbeitun-
gen und Vorlesungen allererst ins literarische Bewußtsein gehoben.
192
Szondi, a.a.O., S. 21.
103
Man wird uns auf die in Tiecks Komödiendichtung lebendige Tradi-
tion der »Commedia dell'arte« hinweisen wollen. Gewiß hat Tieck
ihr die Beherrschung der Theatermechanik, das Spielen auf zwei Ebe-
nen, die improvisierte Rede, das Klettern, Laufen, Köpfe-auf-den-
Tisch-Schlagen, Zitieren aus den Klassikern, die Tanz- und Singspiel-
einlagen usw., ja selbst die Typen ohne psychologische Entwicklung
abgesehen. Die spezifische Differenz der Tieckschen Komödie besteht
aber in der totalen Freiheit ihrer Personen. »Lazzi« sind an stereo-
type Situationen gebunden, diese an fixierte »Typen«. Der Dottore
bleibt schlechthin der Dottore, die Willkür seiner Improvisationen
verwirklicht sich in dem schmalen Spielraum der durch die typische
Determination seiner Rolle ausgesparten Beweglichkeit. Von den Tieck-
schen Figuren bemühen wir uns hingegen zu zeigen, daß ihre Substanz
reine Willkür ist, daß sie ihre Rolle wählen und wechseln.
Wir betrachten Tieck als den Exponenten des romantischen Zeiterleb-
nisses in poetischer Verwirklichung. Es geht um die Abbildbarkeit sei-
ner Zeitgestaltung auf die philosophische Theorie seiner Freunde und
Schellings. Diese hermeneutische Situation berechtigt uns zu einer ge-
wissen Gleichgültigkeit gegenüber möglichen Traditionen. Die An-
verwandlung einer Tradition ist aus der anvcrwandelnden Zeit, nicht
aus der Tradition allein verständlich zu machen.
104
Auch Helikanus muß im Übergang von einer zur nächsten Gefühls-
bestimmung, wie Lovell, »alles . . . vergessen« (a.a.O.).
105
Emil Staiger, Stilwandel, 196.
108
Ernst Kretschmer, Medizinische Psychologie, Leipzig 19395, 97 ff.
107
Den beschriebenen Typ von Komik repräsentiert in der Marlowe-
Greene-Novelle vortrefflich die hastige Konversion des religiös fana-
tisierten Vetter Arthington, der sich zu seiner neuen Existenz »die be-
stimmtesten Anlagen« zuschreibt (III, 401, 404). Und am kleinsten
Widerstand bricht das Lebenskonzept des Barons Wolfsberg (Die Rei-
senden) zusammen. Des Lesers Erwartung irgendeiner psychologisch-
konsequenten, wenn auch tollen Handlung Wolfsbergs wird jäh ent-
täuscht; und die Spannung löst sich im Lachen über die Durchsichtig-
keit eines Inneren, das in einem Augenblick »ganz zu erkennen« ist
(III. 191).
108
Ganz unbekümmert um vorweisbare Ergebnisse der Forschung (so
Szondis Aufsatz) wiederholt Beda Allemann das Fehlurteil seines Bu-
ches (Ironie und Dichtung, Pfullingen 1956, S. 119-136), von dessen
vielversprechender Thematik man sich eine differenziertere Auseinan-
dersetzung mit Tiecks Ironie erhoffen durfte; - wenigstens war man
nicht darauf gefaßt, von seinem Autor noch neuerdings die alte Scha-
blone weitergereicht zu bekommen, deren unkritische Rezeption
schwerwiegende Zweifel an einer apprehensiven Bekanntschaft mit
Tiecks Werk erregt. Allemann schreibt: »Frühromantische Ironie galt
und gilt noch heute oft ohne weiteres als Synonym für literarische Iro-
nie überhaupt. Man muß froh sein, wenn darunter nicht lediglich die
relativ simple Technik der Illusionszerstörung verstanden wird, wie
Tieck sie in seinen Märchenkomödien und Heine mit der Schlußpointe
mancher seiner Gedichte demonstriert haben.« (Ironie und Dichtung,
Sechs Essays, hg. von Albert Schaefer, München 1970. Darin: Beda Al-
lemann, Ironie als literarisches Prinzip, 11—33; S. 14).
109
Hierin beruht die substantielle Nähe Tiecks zu einem so eigenwilligen
modernen Lyriker wie Gerald Manley Hopkins.
110
Sartres Phänomenologie des »Imaginären« hat die Richtigkeit dieser
Beschreibung bestätigt.
111
Novalis, IX, 308, Nr. 377: »Man kann nur dann die Welt verstehn,
i. e. vergleichen, wenn ich selbst eine ausgebildete Welt im Kopf
habe.«
112
Wirklichkeit nicht im positivistischen Sinne, sondern als .gesehene,
erlebte Wirklichkeit«, die durch die Kreativität des menschlichen Ge-
mütes »verwandelt« ist (»Wie alles Schaffen doch nur ein Verwandeln
ist« usw. III, 345). Poiesis als dialektischer Prozeß, der gerade durch
das »Umstellen« die Wirklichkeit »richtigstellt« (aus der Abstraktheit
in die Vermittlung der Synthesis holt).
113
».. . fühlen die himmlische Freiheit, die uns eigentlich angeboren
ist« (I, 715).
114
Jean-Paul Sartre, Situationen, 157.
115
L'imaginaire, 20ff., 145 ff.
116
Vgl. J.-P. Sartre, Was ist Literatur, a.a.O., 172/3. Etwas Vergleichbares,
ja selbst den Verlust der Charakter-Substanz und die Suspendierung
streng kausalistischer Motivation hat die Forschung in Handlungsab-
läufen Kleists angedeutet gefunden (vgl. exemplarisch: Max Kommereil,
Die Sprache und das Unaussprechliche, in: M. K., Geist und Buchstabe
der Dichtung, 19422. Hans Peter Herrmann, Zufall und Ich . . ., in:
Wege der Forschung, Bd. CXLVII, vgl. 380«., 397,^.
117
Daß Tieck seine Gestalten wie von außen erlebt, hat Gundolf subtil
genug beobachtet, aber er kann sich der stereotypen Abwertung nicht
enthalten (Gundolf, Ludwig Tieck, 179/80 ff., bes. 182).
118
Sartre, Situationen, 96; vgl. M. Thalmann, Zeichensprache der Ro-
mantik, Heidelberg 1967 (Poesie und Wissenschaft, Bd. 4), S. 25.
119
Darin liegt die Wahrheit, die in der Sprache seiner Dichtungen alle-
gorisch zur Anwesenheit gebracht wird. Ein gegenüber dem Klassizis-
mus verändertes poetisches Verständnis kann daher geradeheraus be-
haupten, daß die festgefügte, starre Form eines Corneille, ebenso wie
etwa die Statuen Maillols, die in »die Ewigkeit des Steins . . . soviel
Trägheit« bringen, lügen, da sie den Menschen als »eine für immer
erstarrte Gegenwart« darbieten (Sartre, Situationen, 91). Was Sartre
für Giacometti in Anspruch nimmt, ist aus einer Analyse von Tiecks
Dramatik ebenso leicht zu gewinnen. Auch sie, mehr noch als Tiecks
Lyrik und Prosa, hat jene »unaussprechliche Anmut des Vergänglich-
Scheinens. Nie war die Materie [bzw. die Sprache] weniger ewig, zer-

477
bredilicher, menschenähnlicher« (a.a.O., 92). Auch für seine Sprache
gilt, was Sartre über die mitgestaltete Distanz sagt: »Er bringt die Di-
stanz in unsere Reichweite . . . diese Körper haben nur soviel Materie,
wie es zu einer Verheißung bedarf« (a.a.O., 92).
Sartre beurteilt die Wahrheit von Kunst tatsächlich nach dem Maße,
wie das Selbstverständnis lebender Menschen sich in ihr wiedererkennt:
»In ihnen [Giacomettis Gestalten] erkenne ich - besser als in einem
Athleten des Praxiteles - den Menschen, den Urbeginn, die absolute
Quelle aller Bewegung. Giacometti vermag es, seinem Material die ein-
zige wirklich menschliche Einheit zu geben: die Einheit des Handelns«
(a.a.O., 95, vgl. übrigens J.-P. Sartre, Die Gemälde Giacomettis, in:
Porträts und Perspektiven, (= Situations IV), Reinbek 1968, ijjH.).
Anderswo »eine Art wesenhafter Leichtigkeit sollte überall in Erschei-
nung treten und daran erinnern, daß das Werk nie etwas natürlich Ge-
gebenes ist, sondern eine Forderung und ein Geschenk« (Was ist Lite-
ratur, a.a.O., S. 40).
120
a.a.O., 95.
121
Robert Minder spricht vom »herrlichen, so maßlos unterschätzten For-
tunat« (in: Klaus Ziegler-Festschrift, Tübingen 1968, S. 191).
128
»Das gewagteste, was ich bisher gemacht habe, das grellste Bild«,
schreibt Tieck an Solger, »Zib. 16. Dec. 1816«, S. 311.
las» Tieck erklärte die »scheinbare Nachlässigkeit« der Fortunat-Kom-
position für seine ausdrückliche Absicht (Brief an den Bruder vom
9. April 1818).
123
A. W. Schlegel lobte sie in seiner Rezension von Ludwig Tiecks Volks-
märchen ...
1230
Im Gegensatz zur »falschen, scheinbaren, gemeinen Ironie« (V. 245;
Erwin, Ausgabe Berlin 1907, S. 388; Tieck ebenso: Köpke II, S. 238 f.)
Ernst Nef (Das Aus-der-Rolle-Fallen als Mittel der Illusionszerstö-
rung bei Tieck und Brecht, ZfdPh., Bd. 83, Heft 2 (1964), S. 200)
kennt diese Unterscheidung gar nicht und hält den Blaubart für eine
illusionistische Alternative zum Kater.
184
In der Genoveva hingegen scheint Solger »die Weihe der I r o n i e . . .
nicht ganz vollendet« (ebd.). Tieck hatte aber ganz mit Recht auf das
Ironische in Golos Charakter und Entwicklung aufmerksam gemacht
(Köpke II, 173/4); und Marianne Thalmann hat in ihrer hervorra-
genden Formanalyse (in: Romantik und Manierismus, Stuttgart 1963,
128-206) alles Nötige zu einer Rehabilitierung dieses Dramas gelei-
stet, von dem Tieck selbst versichert, es sei »gar nicht gemacht, sondern
geworden. . . . Es ist eine Epoche in meinem Leben« (Ziebingen,
13. Okt. 16, an Solger).
185
Noch der pessimistische Brief an Frau von Lüttichau aus Tiecks letz-
ten Lebensmonaten (Berlin, 3. Febr. 1853; 39/40) ist bis in den Wort-
laut dieser Rede ähnlich.
128
Dreimal überkreuz folgt je zwei Komparativen eine Entsprechung
mit zwei Nomina oder Nomen + Adjektiv. Aber diese Regelmäßig-
keit läßt gerade die inhaltliche Bedeutung vergessen, die sich nur er-
schließt, wenn man die formale Symmetrie von 3mal 2 : 2 unterbricht
und in 2 3 : 3 gegliederte Einheiten, die ein Doppelpunkt trennt, um-
ordnet.
478
Eine Lebensfrage Tiecks: »Warum sind wir Menschen, wie wir einmal
sind« (an I. v. Lüttichau, 14. 3. 47, 20).
»Alle Leute« - so in komischer Unfreiwilligkeit auch der Arzt, der
die bedeutsamen Worte spricht: »Jede Tollheit ist nichts, als ein Rost-
fleck im Eisen, er muß wieder herunter geschliffen werden.«
»Es ist ein meisterhafter Zug«, würdigt A. W. Schlegel, »wie Agnes
in ihrem zerrütteten Zustande zu sehen glaubt, daß sich das Gesicht
der Alten während der Gespenstergeschichte verzerre; und ebenso er-
greifend offenbart sich überhaupt ihre Angst, ohne in ein widerwärti-
ges Grauen überzugehen.« (Ludwig Tiecks Volksmärchen von Peter
Leberecht, in: Jenaer Allg. Literaturzeitung 1798).
Übrigens spielt Peter schon in der Gefangennahmeszene mit seiner
Freiheit. Es hängt nur von ihm ab, ob er sich rühren lassen will oder
nicht (29). Es ist gewiß nicht ausschließlich die Beschränktheit dieser
Ritter, die er haßt, sondern Conrads läppische Prophetie: »Ihr könnt
auch einmal übel wegkommen, denn es steht keinem an der Stirn ge-
schrieben, weß Todes er sterben soll« usw. Nichts muß den Blaubart
mehr erschrecken als ein direktes Aussprechen seiner eignen Unge-
schütztheit vor dem Tode (30). Derselbe, der von sich behauptet »ich
habe noch nie etwas gefürchtet« (90), sucht sich selbst als undurchdring-
lich für seine Mitmenschen darzustellen; darum muß ihm das physio-
gnomische Merkmal, der blaue Bart, der dämonische Vorurteile gegen
ihn erregt, am meisten zuwider sein (vgl. die Szene mit dem Arzt).
Tatsächlich fällt ja das Todesurteil gegen die einfältigen Wallenrods
erst, als auf den »Blaubart« angespielt wird; da verändert Peter schlag-
artig Stimme und Tonfall und wird auf unheimliche Weise grausam.
Simon und Peter sind im Stück die einzigen, von denen gesagt wird,
sie seien ein »merkwürdiger« bzw. »seltsamer Charakter« (22, 64). In
einer Anweisung für den Sdiauspieler Devrient schreibt Tieck über
die Darstellung des Blaubart (Letters of L. Tieck, 539/40): »Man muß
sich vor/ diesem Kerl immerdar fürchten müssen, geheimnißvoll, räth-
selhaft, oft scheinbar gut, muthig, bis die dämonische Bosheit plötzlich
herausbricht, oft mit einem Schein von Humor.« »Das Komische im
Blaubart selbst mit dem Gespenstigen und Grausamen zu vereinigen, ist
auch nicht leicht« (a.a.O., 415). Und über den Simon: »Er ist gewis-
sermaßen die schwierigste Aufgabe. Komisch, träumerisch, rührend, al-
bern, kränklich, tiefsinnig und am Ende fast heroisch« (a.a.O., 415).
Mit einer Eigenschaft, sieht man, ist weder Simon noch Peter Berner
zu fassen.
:
Robert Minders psychoanalytische Deutung hat zweifellos ihre Evi-
denz: »Les racines affectives de ces etats de l'äme sont evidentes: la
curiosite erotique est 6troitement liee ä un complexe d'epouvante et
de diätiment« (Un poete romantique allemand. . ., 57). Minder
bringt das mit dem Motiv der Einschließung vieler Tieckscher Helden
in eine imaginäre Welt zusammen, in der sie dem Verführer hilflos aus-
geliefert sind. Diese Deutung kommt nur gleichsam zu spät. Aus dem
erotischen Verlangen können wir nicht die Zukünftigkeit des Daseins
ableiten. Umgekehrt setzt die sexuelle Neugier die wesenhafte Zu-
künftigkeit der menschlichen Wirklichkeit voraus; ohne die sie nicht
möglich wäre.

479
133
»Alles könnte sein, auch nicht...«, sagt der Kaiser in Hofmannsthals
Der Kaiser und die Hexe von 1897 (in: H. v. H., Gedichte und
kleine Dramen, Ffm. 1966, 136).
134 Ygj pjcntes Etymologie des Wortes! Fichtes Werke, I, 233, 242.
135
Die Resignation »sagt: Eben w e i l . . . der enge menschliche Verstand
hier auf keine Frage Antwort zu geben vermag, darum stelle ich der
höchsten waltenden Allmacht Alles anheim, und ergebe midi ihrem
Willen vollständig.« (Köpke, II, 254). »Mein Leben war immer eine
verzweifelnde Resignation.« (Berlin, 12. Mai 1852, an I. von Lüt-
tichau).
138
Das »Wunder« ist am Ende das Sein der Wirklichkeit selbst, nämlich
»das Gesetz, von dessen scheinbaren Ausnahmen wir als von einem
Wunder reden. . . . In ihm liegt das Geheimniß, in ihm leben wir, aber
wir nehmen es nicht wahr« usw. (Köpke II, 50).
Armand Nivelles bescheidene »Formel« dessen, was romantisch ist, ist
gewiß ganz richtig (Frühromantische Dichtungstheorie, Berlin 1970,
137
Marianne Thalmann hat in ihrer Novelleninterpretation bereits auf
dieser Basis argumentiert, und wir verweisen auf ihr Buch (Ludwig
Tieck, Der Heilige von Dresden. Aus der Frühzeit der deutschen No-
velle. Berlin i960 ( = Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kul-
turgeschichte der germanischen Völker, N . F. 3 (127)).
138
Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, 81 ff.
139 Vgl. 15, 199/200.
i<«) Vgl. die Szene der Parolenausgabc, 10, 24 ff., die die wahre Nichtig-
keit einer empirisch realen Heeresführung satirisch beleuchtet.
141
In: Spectaculum VI, Frankfurt/M. 1963, 107 und [01.
142
»Sie glauben nicht«, schreibt Tieck an Ida von Lüttichau, »wie nahe
ich in meiner Jugend oft dem Wahnsinn war. . . . Was sind wir Sterb-
lichen? Wozu sind wir da? Was wird aus uns werden? »Wir sind
solcher Zeug, woraus die Träume gemacht sind.« Wie aber, wenn im
Traum das wahrste, ächteste Leben wäre? Das Sein in dem, was wir
Nichtsein nennen?« (14. März 1847, Friedrichstr. 208, 23); vgl. 14
(Berlin, 14. März 1844).
143
Vgl. die Komik der Unangemessenheit einer .verständigen« Rede
über Zeit:
»Gottlieb: Tröste dich, geliebte Gattin, ich weiß aus meinen bisherigen
Beobachtungen, daß es die Zeit in der Art hat, daß sie vergeht.
Königin: Wir werden unsern Sohn nicht wiedersehn.
Gottlieb: Das müssen wir erst abwarten, eh wir das sagen können.
Königin: Nachher ist es zu spät.« usw. (10, 342).
144
Andre Gottrau, a.a.O., S. 34: »Das tolle Spiel zeigt die völlige Sinn-
losigkeit dieser Welt«. Gottrau meint: nicht der Welt, wie sie ist,
sondern Tiecks Welt. Vgl. a.a.O., 69 zur Verkehrten Welt, die, mit
dem Epilog beginnend, mit dem Prolog endet.
145
Eine phänomenologische Deskription der noematischen Zeit des Phan-
tasiebildes enthüllt die Absolution von allen Gesetzen der realen Zeit,
selbst der Irreversibilität (Sartre, L'imaginaire, S. 248-254).
149
»Es ist alles nur, um die Zeit auszufüllen«, sagt schon Balder (I, 383).

480
Goethe bat Tieck übrigens vergeblich, die Idylle um Lila und Heli-
kanus aus dem Zerbino herauszulösen und ihm für eine Weimarer Auf-
führung zu überlassen. Man ahnt, warum er sich mit der Satire nicht
recht befreunden wollte.
»Wozu Worte? Wer versteht die Rede des andern?« (I, 981).
Die Narren sind immer noch die Weisesten, denn sie wissen um die
Nichtigkeit des Wortemachens und sind darum bei Tieck immer zu-
gleidi Entlarver unechter, prätendierter Inhalte:
»Lysippus: Sie sind so in Gedanken, Herr Hofrath? Warum sind sie
nicht munter?
Hanswurst: Warum sind Sie nicht traurig? - Es ist alles freilich nur,
daß wir etwas sprechen; indessen befördert/ das doch immer die ge-
lehrte Gesellschaft, und diese Gesellschaft trägt wieder zur allgemeinen
Bildung bei.« (63/4)
So dicht sitzt die Einsicht der Resignation auf den Fersen, daß sie selbst
in denjenigen höfischen Phrasen versiert, die sie parodiert.
Das geht natürlich gegen Schillers und Goethes jüngste Wendung zur
Humanität.
Man sieht, der Minister redet ganz so wie noch heutige Minister eines
demokratischen Staates, die Zweifel sehr demokratisch finden, wenn
sie nur nicht an das »allerausgemachteste«, die Demokratie der eigenen
Demokratie zweifelnd rühren. - Daß nicht Vernunft, sondern der ego-
istische Selbsterhaltungstrieb diesen Herren das Wort führt, hat Tieck
sehr witzig verhöhnt.
Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 196711, 166 ff. (167 bis
J
7°)-
Tieck hat die Unmöglichkeit, geradewegs über eine Sache zu sprechen,
ohne der eigenmächtigen Metaphorik der Sprache zu erliegen, mit ko-
mischer Resignation bespottet (III, 65: »O dürft' ich nur einmal über
die Sprache h e r . . . « usw.; ebenso 5, 416, wo über eine Seite hinweg
keiner den anderen versteht vor lauter »sprichwörtlichen Redensar-
ten«; ähnlich III, 140 und 15, 296; 10, 194 »Was helfen Deine
Worte?« und 4, 24,^ »Was läßt sich denn überall in Worten sagen?«
usw.). Jede Sprache ist die Sprache der Welt, von der sie redet,
das wußte Tieck von Solger (Brief 4. August 1816) - und die
Welt des Menschen ist so mannigfaltig und symbolträchtig, als er
selbst mannigfaltig und symbolisch ist (Novalis): »Wahrlich, die Per-
spektive ist im wahren Menschen Alles« (Zib., 24. 3. 1817).
Vgl. Franz Kafka: »Das, was man ist, kann man nicht ausdrücken,
denn dieses ist man eben; mitteilen kann man nur das, was man nicht
ist, also die Lüge.« (in: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und
andere Prosa aus dem Nachlaß, Frankfurt a. M. 1953, S. 343.) - Ro-
bert Minder über Tieck: »Den Moder der Welt im Zerfall der Worte
hat Tieck mit demselben Schauder empfunden wie der junge Hof-
mannsthal und ist wie dieser an der Erfahrung gereift« (Klaus-Ziegler-
Festschrift, Tübingen 1968, 189).
Solger, im Erwin, hatte schon die Sphäre des Denkens und die des
Sprechens für gleich ausgedehnt erkannt (Erwin, II (III), 75/6).
Tieck wird sich daran erinnern.

481
155
Schon Balder sprach so (I, 500,3).
15« Vgl. Marianne Thalmann, IV, 822.
157
Clemens Brentano an Bettina, Marburg, Sept. 1803, Kasack II, 247.
158
An ihren Schwager Savigny, Frankfurt, Oktober 1806; Kasack I,
277. »Und dies beweist eben«, fährt Bettina fort, »daß das, was man
in sich würdiget, nicht so leicht sich preisgeben läßt«.
Viel über den Verlust von Tiecks Nachruhm erklärt Köpkes Bericht
(II, 121): »Der Dichter that mehr als der Vorleser, den oft verblaß-
ten Gestalten hauchte er Leben ein, und indem er las, schaffte er dich-
terisch von neuem; wie die einzelnen Charaktere ward das Ganze ihm
lebendig. Es gab eine einfache Probe. Wer später im Buche nachlas, was
er zuerst aus seinem Munde gehört hatte, erkannte es nicht wieder,
und fand nur todte und langweilige Buchstaben, wo er vorher Leben
und Bewegung gesehen und gehört hatte.«
159 Vgl. das berühmte Phantasus-Gespr'adi über Freundschaft, 4, 21 ff.
190
Vgl. Heinrich Brockhaus' Tagebücher, Eintragungen vom 22. und
23. November 1840, Aus Tiecks Novellenzeit 147; Köpke II, 121/2.
181
Friedrich Hebbels Nachruf von 1853, Kasack II, 517.
182
Tieck an Ida von Lüttichau, Potsdam, 16. Juli 48, 27; ebd. (Brief an
Frau von Lüttichau). 44/5.
183
Über diese im Zusammenhang mit der Vertiefung in Jacob Böhme
erfahrene Krise berichtet Tieck an Solger, Ziebingen, 24ten März 1817.
Die Ähnlichkeit von Hofmannsthals Brief des Lord Chands ist übri-
gens auffällig.
194
Dieselbe, Briefwechsel S. 32.
195
Schelling, Philosophie der Kunst, 639—41.
198
Zwischen 1801 und 1803 entstanden.
187
Nach dem chronologischen Verzeichnis 1803 entstanden.
198
Es kommt also auf die Doppelheit der Aspekte an. Die dichterische
Ansicht der Poesie und die der Liebe sind eines und dasselbe.
189
Vgl. Schelling an Eschenmayer, 10. 7. 1804, Fuhrmans 320. Die Syn-
thesis ist das aktuelle Gesamt (1) einer Einheit (2) von Einheit (3) und
Differenz (4).
169a
Kaum anders als seine Braut spricht Florens vom Gefühl seiner
Liebe:
»Siehe, wie die Sterne spiegeln
Und der Mond, der lichte, klare,
In dem Strome, Ufer, Bäume,
Wolken buntgefärbt im Glänze,
Alles wogt im Widerscheine
Wunderlich mit den Gestalten:
Dies ist Bildniß meines Herzens,
Voll von Lichtern, Ton und Farben,
Lieblichen Gesängen, Wünschen
Und von Liebe Widerhallen,
Die Erinn'rung, und vom Abschied
Still dazwischen große Schatten.«
170
(1. 337/8).
Wir sparen zum Thema .Liebe und Wechsel« (»Welle und Spiegelung«)

482
weitere Zitate und weisen auf die wichtigsten Belegstellen hin, die ihrer
lyrischen Qualität halber eine Spezialuntersuchung verdienen möchten
(4,305 f., 311, 314 f., 318 f., 325/6, 334, 339 f., 345 f., 347; 1, 336;
1, 337/ 8 . ii 339; Ged. 1, 123; Ged. 1, 146/7 ( = I, 855); I, 870/1;
4, 263 ff.; 10, 8 2 / 8 3 ; 10, 39 ff.; 10, 114/5; 10, 2 2 3 ; 10, 230; 10, 2 3 3 ;
10,253/4).
71
Tieck sprach im BüSh. von »Empfindungsreihen« sich steigernder
und absinkender Gefühlsintensität. Von »Empfindungsskalen« - nicht
im gleichen Sinne wie Tieck - hatten übrigens schon M. Mendelssohns
vielgelesene Briefe über die Empfindungen gehandelt (vgl. auch
Lessing, Hamb. Dramaturgie, j6. Stück).
7ia
Kein Wunder, daß Tiecks Liebende die »Sehnsucht« als Verwei-
gerung der »Ruhe« (10, 114), als »Sorge«, die das Herz aus jeder
Sicherheit »treibt«, endlich als »eine Quaal« erfahren; es gibt Augen-
blicke, in welchen die Auflösung der Differenz der Strebensrichtungen,
das Nichtsein der Sehnsucht selbst zum Ziel der Sehnsucht wird:
»Wie mich die Sehnsucht oft ergreift,
Und mit mir durch das Land der dunkelsten Träume streift,
Wie ich mir wünsche fern von den Leiden und Lebensfreuden,
Zu schlafen, vom grünenden Hügel befangen,
Unbesucht von Wunsch und Verlangen,
Über mir wechselnd Gestirne und Mond,
Die Sonne aufsteigend und nieder,
Ich von ihren Strahlen verschont,
Taub für alle Frühlingslieder.«
fio. 228).
172
Vgl. Fr. Schlegel, KA XIX, 170, Nr. 137: »Das Wesen des Bewußt-
seins] überh.[aupt] ist die Liebe.« - Diese Einsicht verdanke ich Dieter
Henrichs Heidelberger Vorlesung »Hegel und Hölderlin* aus dem
Sommersemester 1970, zusammengefaßt in: D. H., Hegel im Kontext,
Ffm. 1971, 9 ff., 41 ff.).
173
Im gleichen Jahr, in dem vermutlich »Liebe und Treue« entstand.
174 Vgl. das Motto zum Hyperion: .Non coerceri maximo, contineri mi-
nimo, divinum est.«
175
Ein Vergleich mit der Erstfassung der Magelonenlieder (Volksmär-
chen II, 195; 1797) zeigt, daß Tieck das füllende »-e-« erst später ein-
gefügt hat.
179
In: Die Kunstlehre, Kritische Schriften und Briefe, II, hg. von Edgar
Lohner, Stuttgart 1963, 207 ff.
177
Vgl. A. Nivelle (Frühromantische Dichtungstheorie, 131 f.): Durch
den »Rhythmus . . . schafft. . . sich das Gedicht seine eigne Bewegung
. . . und unterwirft sich damit der Zeit«. Vgl. hierzu Schelling, Philoso-
phie der Kunst (Schröter, Erg. Bd. 3, 278 ff.), die Bestimmung der
Sprache als Chaos, d. h. Einbildung- der Identität in die Diffe-
renz, sowie die Anmerkungen zur Zeitlichkeit von Rhythmus und
Melodie: »Gedicht überhaupt ist ein Ganzes, das seine Zeit und
Schwungkraft in sich selbst hat, und dadurch vom Ganzen der Sprache
abgesondert, vollkommen in sich beschlossen ist« (a.a.O., 281).
178
A. W. Schlegel hat das Wesen des modernen romantischen Gedichts

483
aus einer »Emanzipation« der »Harmonie« vom »Rhythmus«, der bei
den Alten dominierte, erklärt.
Wir kommen im folgenden ohne Heuslers terminologisch heikle
Kadenzendifferenzierung aus, da wir aus methodischen Gründen in der
Tieckschen Lyrik nicht die ganze Verszeile als apriorische Einheit zu-
grundelegen dürfen. Ebensowenig decken sich A. W. Schlegels der musi-
kalischen Kompositionslehre der Zeit entnommene Distinktionen mit
deren heutigem Wortgebrauch.
Nirgends läßt sich das so gut zeigen wie an den »Magelonen-Lie-
dern«. Ein Beispiel für viele andere:
»Schlage, sehnsüchtige Gewalt,
In tiefer treuer Brust!
Wie Lautenton vorüber hallt,
Entflieht des Lebens schönste Lust.
Ach, wie bald
Bin ich der Wonne mir kaum noch bewußt.«
(4.3i8)
»Sehnsüchtige Gewalt« - »vorüber hallt« - »wie bald«: Der Reim
wird zum Nachweis der essentiellen Ähnlichkeit des Kräftigsten und
des Zärtlichsten: ein »bald« nimmt der »Gewalt« ihre Macht - wahrer
als die Tiefe der Treue ist das Hallen wie Lautenton, welches der »tie-
fen treuen Brust« ihr sehnsüchtig mächtiges Gefühl »bald« »kaum
noch bewußt« sein läßt. Dieser inhaltlichen Komponente fügt sich
das Metrum. Nur zwei Zeilen haben den gleichen Takt und die gleichen
Hebungen. Im übrigen beginnen die Zeilen bald mit einem Daktylus,
bald mit einem Trochäus, bald jambisch. Die erste wird man, nach eini-
ger Unschlüssigkeit, so betonen:
xx|xxxxxx
(In der ersten Fassung lautete die Zeile bezeichnenderweise: »Schlage,
sehnsücht'ge Gewalt«; -Jj-^-) Nicht alle Längen (z.B. »sehn«-)
tragen einen Akzent, dafür will es die Melodie der Sequenz, daß auf
die kurze Schlußsilbe von »sehnsüchtige« eine unentbehrliche Neben-
hebung fällt. Man wird sich überzeugen, daß dieser Rhythmus dem
emotionalen Gestus dessen, was die Zeile bedeutet (dem gespannten
Wechsel von gepreßtem Anhalten des Atems und eilig fortstürzendem
Sichbefreien), entspricht. Eine Empfindung ist nicht durch ein sie be-
deutendes Wort allein, sondern durch einen von den Klangqualitäten
diktierten Rhythmus darzustellen (»ihre Empfindungsreihe«, sagt
Tieck). Die regelmäßige Skandierung bleibt stationär. Jede Zeile, jede
Empfindung sucht sich ihren eigenen Rhythmus, nach Maßgabe der in
ihr ausgesprochenen ursprünglichen Reihe der Empfindungen (vgl.
Schiller, Kallias-Briefe (23. Februar 1793); dtv-Gesamtausgabe, Bd. 17,
S. i 8 8 , 2 ; vgl. Bd. 20, 220/1).
Ein weiteres Beispiel dafür sind die in der Gedichtsammlung (Ged. 2,
60/61; 4,347) »Neuer Sinn« überschriebenen Strophen, welche den Fluß
der Gefühle rhythmisch zu seismographieren scheinen. Jede Zeile ist in-
dividuell organisiert, die Silben gruppieren sich um je neue Empfin-

484
dungsintentionen - wie eine Menge von Metallspänen auf einer Folie
sich nach den Impulsen verschieden strukturierter elektro-magnetischer
Felder anordnen müßte (vgl. mit Chladnis »Klangfiguren«). Man
könnte von einem geheimen Nominalismus dieser Lyrik sprechen.
30
Daß Tieck nicht zuerst an den lyrischen Dichter denkt, widerspricht
seiner eigenen lyrischen Praxis. Von hier gewinnt seine Ausnehmung
»der höheren Ode« (118) einiges Interesse.
91
Rudolf Haym, Die romantische Schule, 81. Diese Kritik ist wichtig,
weil sie sich bis in die jüngste Literatur über Tiecks Lyrik fortgeerbt
hat. Gerhard Kluge sieht Tieck »damit der Notwendigkeit einer künst-
lerischen Formgebung des Gedichtes aus(weichen), die Form«, sagt er,
»ist selbst nur Stimmung, Musik, Funktion der Hauptempfindung.
Jede individuelle Empfindung erhält, weil sie sich den Menschen in den
»wunderbaren Beziehungen« [K. S. I, 82] zur Natur schon als Poesie
kundgibt, damit ihre künstlerische Legitimation im Gedicht« (Nach-
wort Gedichte Bd. 3, S. 16).
82
Sicher ein Druckfehler, da die Erstfassung »Wimpern« liest (vgl. M.
Thalmann, II, 923).
83
Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 196711, 24.
84
Robert Minder (Un poete romantique ...) erkennt den Zusammen-
hang wohl sehr richtig, wenn er dies Zitat aus der Novelle Ahnen-
probe in die Diskussion um Tiecks »Concept de 1' .Ironie«« einrückt
(319). Vgl. Mao: »Das Ungleichgewicht ist dauernd und absolut, das
Gleichgewicht ist zeitlich begrenzt und relativ« (zit. nach Andreas
Kohlschütter, .Maos neuer Volkskrieg - die zweite Kulturrevolution«,
in DIE ZEIT, Nr. 8, 15. Februar 1974, 29. Jg., S. 3).
185
»So hat jeder Dichter sein Silbenmaß, welchem er am liebsten folgt,
ja er sucht fast in jedem Liede eine Veränderung, welche den Gegen-
stand deutlicher heraushebt. Darüber haben die meisten dieser [mittel-
hochdeutschen] Gedichte eine so liebliche Art gewonnen, daß man das
Notwendige und Zufällige daran nicht mehr unterscheiden kann, son-
dern daß die Form und der Gegenstand gerade so und nicht anders un-
zertrennlich zusammengehören« (Kasack I, 352). So jedenfalls deutete
Tieck die »Freiheit« und »Mannigfaltigkeit« von Wort-, Reim- und
Metrenwahl in der »altdeutschen« Lyrik des endenden 12. und des 13.
Jahrhunderts.
188
Robert Minder (Un poete romantique..., 37): »Sans doute son in-
tention initiale est tres juste, tres spontane^: il voyait dans le lyrisme
un moyen de traduire une mobilite interieure qui jusque-la n'avait
pas trouv^ d'interprete assez souple, assez subtil.« Dem lyrischen
Reichtum entspreche allerdings nicht ein gleicher der Wortphantasie -
vielmehr falle Tieck auf banalste Bilder der alten Rhetorik. Die Auf-
merksamkeit auf den musikalischen Gestus, die Qualität der »Emp-
findungsreihe« selbst führt zu einer Vernachlässigung der materialen
• Erfüllung.
187
Die Aktivität der poetischen Schöpfung in romantischer Theorie hat
neuerdings A. Nivelle (a.a.O.) sehr deutlich herausgestellt (Frühroman-
tische Dichtungstheorie, 28 ff.).
188
Martin Heidegger (Der Ursprung des Kunstwerkes. In: Holzwege,

485
Frankfurt a. M. 19634, 50): »Die Wahrheit richtet sich ins Werk«
(ebd., 51); vgl. das Kapitel »Die Wahrheit und die Kunst«, a.a.O.,
46 ff.
189
Zusatz 2 zu § 24 der Enzyklopädie; vgl. Zusatz zu §231 a.a.O.
190
A. W. Schlegel an Tieck, Jena, 30. November 1798.
191
Kein Zweifel, daß Eidiendorff sein Bild »Wohl irrt das Waldhorn
her und hin« von Tieck gelernt hat.
198
Gundolf, Ludwig Tieck, 141. Er wählt die aparte Wendung: »Tiecks
Gedichte sind Abfälle seiner Prosa« (186). Schon Jean Paul urteilte:
»Ihre Prose scheint mir poetischer als Ihre andere Poesie, und jene
hat statt jedes fehlenden pes einen Flügel.« (Brief an Tieck vom
19. März 1800; in: Jean Pauls sämtliche Werke, hg. von der Deut-
schen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, bearbeitet von E. Be-
rend, Berlin 1952 ff., III, 308). - Wirklich waren ja die frei-rhythmi-
schen Reisegedichte eines Kranken Tiecks letzte Konsequenz (vgl. Ge-
dichte von Ludwig Tieck. Neue Ausgabe. Berlin 1841, S. 215 ff.).
19» Vgl. das Kapitel: »Kritik der Abstraktion des ästhetischen Bewußt-
seins« in: H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 84 ff., 111.
194 Vgl. Genoveva: »Die Felsen sind stumm und taub« . . . (2, 198).
195 Vgl. Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik, Zürich und Freiburg
i. Br. 19638, 36 ff.
198
»Funkeln die wandernden Quellen« - die »brennenden Tränen« sind
solche Beispiele weiter unten. Zeilen wie »Und ziehn mit schwerem,
unbeholfnem Lauf« usw. sind fast schon Beispiele von Programm-
Lyrik.
197
Theodor W.Adorno, Philosophie der neuen Musik, Ffm. 19582, 57.
198
a.a.O., 59.
199
a.a.O., 57.
200
Diesen sehr ernstzunehmenden Einwand gegen die klassische Musik
und ihren verborgenen Kantianismus, welcher meint, ein außerzeit-
liches Ich denke oder Ding an sich im Medium der Zeit selbst unter-
bringen zu können, hat schon Schelling in philosophischer Rücksicht
gegen Kant erhoben, bevor ihn in neuerer Zeit Heidegger in seinem
Kantbuch und, deutlicher noch, Sartre in seinem Hauptwerk wieder-
holt haben. Denken, sagt Schelling, bewegt sich immer in der wenig-
stens »noetischen« Abfolge des »Vor und Nach« (II, 1, 311 f.; 3, 251).
Wir können die absolute Identität als reines In-sich-Sein also nicht
denken. Wir stehen vor der Frage: ob wir die Zeit als ein Seiendes ver-
stehen - dann freilich wäre jede transzendentale Erörterung dessen,
»was vor dem Seyn ist«, selbst unzeitlich und könnte auf keine Weise
gedacht noch imaginiert werden. Man hätte also bisher transzendent
spekuliert, das Identisch-Zeitlose bliebe ungedacht. Oder wir gestehen
zu, daß auch der absolute Prozeß des Zusichkommens der Identität
als des Nicht-weg-zu-denkenden in irgend einer Weise als zeitlich ge-
dacht werden muß. Insofern - denn das letztere ist offensichtlich der
Fall - konnte Schelling in einem Nachlaßentwurf zu den Weltalter-
fragmenten die Ewigkeit selbst »ein Kind der Zeit« nennen (WA III,
229/30). Wir sind an die Reflexion restringiert, auch dort, wo sie

486
sich selbst zur Negation treibt; und da wir »nur in der Zeit begreifen«
(Fr. Schlegel, KA XVIII, 410, Nr. 1075: Schelling II, 1, 311), haben
wir keinen anderen als einen zeitlichen Begriff von der ewigen Einheit.
Daß ein außerzeitliches Ich-denke alle zeitlichen Vorstellungen beglei-
tet, ohne sich selbst mit der Zeitlichkeit zu infizieren, ist Kants proton
pseudos; im besten Sinne der Metapher ein hölzernes Eisen.
Die Einheit ist, kritisch aufgefaßt, immer Negation der Mannigfal-
tigkeit. Das muß natürlich poetologische Konsequenzen haben.
201
Adorno, Philosophie der neuen Musik, 57.
802
a.a.O., 58.
203
a.a.O., 59.
804
a.a.O., 119.
205
a.a.O., 110.
208
Adorno, a.a.O., 60 (Vgl. zum Thema: Klassik, Romantik, neue Mu-
sik. In: Klangfiguren, Musikalische Schriften I, Berlin u. Ffm. 1959;
sowie: Versuch über Wagner, Berlin u. Ffm. 1952).
307
Mit Andre Gottraus Vorwurf gegen Tieck: »Er weiß Wesentliches
und Unwesentliches nicht zu unterscheiden« (306/7) und sei »völlig
undramatisch« (beide Vorwürfe wiederholt E. Staiger im Stilwandel),
läßt sich auf dieser Ebene nichts anfangen. Mit der der Staigerschulc
eigenen Sensibilität kritisiert Gottrau all das, was an Tiecks Dich-
tung wirklich in die Zukunft vorausweist.
208
Es gibt in Tiecks Lyrik frappantere Beispiele für eine syntaktische
»Nichtunterscheidung« von Prosa- und Lyrikstil (etwa I, 791, 5. u.
6. Strophe; I, 947 ff.); als deutliches Bekenntnis zur Kontingenz ist die
Vorliebe für die Metapher der Äolsharfe aufschlußreich (vgl. Wacken-
roder, S. 223; Tiecks Vorwort zu Lieder von Dilta Helena, Berlin
i852 2 ,S. III/IV).
209
Aus Fin de partie in: Samuel Bcckett, Dramatische Dichtungen, Bd. 1,
Frankfurt a. M., S. 298.
210
Goethe (Cotta'sche Jubiläumsausgabe, Bd. 38), über Manzonis
Adelchi, 65.
211
a.a.O., 64. Vgl. Walther Killy, Wandlungen des lyrischen Bildes, Göt-
tingen 1956, 10 ff.
212
Goethe, a.a.O., Bd. 15, 146.
213 w/ Preisendanz, Auflösung und Verdinglichung bei Trakl, in: Imma-
nente Ästhetik, Ästhetische Reflexion, Lyrik als Paradigma der Mo-
derne; Kolloquium Köln 1964; hg. von W. Iser; München 1966, S. 251.
214
E. Lämmert, Vorlesung Berlin, WS 1966/7.
215
G. Kluge im Nachwort zum Nachdruck der Tieck-Gedidite, Bd. 3,
S. 15. Wenn Kluges Kriterium an sich schon argumentative Berechti-
gung hätte, ein Verdikt gegen Dichtung zu formulieren, was müßte
dann über eine Dichtung »jenseits von Allegorie und Symbol« gesagt
werden (vgl. W. Emrich, Kafka, 74 ff.).
219
Die Kritik der Forschung kommt überhaupt gelegentlich in eine ver-
mutlich unerwünschte Nähe zur Lyrikkritik von Peter Lebrechts
Schwiegervater Martin, der da jammert: »Es ist 'ne Leere darin, es
fehlt hinten und vorne« (I, 151).
217
G. Kluge, Nachwort zu Ged. 3, 16.

487
218 Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm. Hg. von
Oskar Walzel, Berlin 1890, S. 435 f.
219
Jena, 5. 11. 1801.
220
»Wenn es möglich ist«, schreibt er weiter (Jena, 7. 12. 1798), »in un-
serer Sprache in Reimen zu improvisieren, so erfinden Sie es, das ist
gewiß.« Diese Urteile sind ohne Zweifel, aus Wilhelms Mund, gewich-
tig. Rudolf Haym hingegen schreibt sie A. W. Schlegels schlechtem Ge-
schmack in Lyrik zu und definiert dadurch seinen eigenen.
221 Vgl. über Tiecks Arbeitsweise neben dem Briefwechsel mit dem Ver-
leger Brockhaus die sehr aufschlußreichen Erklärungen Köpkes, I I ,
154 f-
222
Wie sehr Tieck an seinen Liedern feilte, lehrt ein Vergleich der beiden
Mageionen-Fassungen; exemplarisch die Umarbeitung des schönen Ge-
dichts von der ursprünglichen Form (Sternbalds Wanderungen, hg.
von Alfred Anger, Stuttgart 1966; S. 146) in die spätere (I, 795).
223
Unter diesem Titel hat Ludwig Pesch (Die romantische Rebellion in
der modernen Literatur und Kunst, München 1962, 42 ff.) den »Wi-
derspruch« von Formlosigkeit und höchstem künstlerischen Formbe-
wußtsein als ein »Problem« der modernen Dichtung thematisiert. In
Joyce's Ulysses ist es ganz manifest.

488
!
NACHWORT

Nicht ohne Skrupel gebe ich ein Buch wieder an die Öffentlich-
keit, das - mein allererstes - zuerst 1972 in der Reihe Winkler/Stu-
dien erschienen war. Seit dem Herbst 1983 war es vergriffen; oder,
weniger vornehm (und ehrlicher) gesagt: der Verlag hatte sich ent-
schlossen, die unverkauften Exemplare zu verramschen. Ein Bestsel-
ler war offenbar nicht, was da in die modernen Antiquariate wan-
derte. Warum habe ich mich entschlossen, es wieder zugänglich zu
machen?
Die Frage ist gar nicht rhetorisch. Im Abstand von zwanzig Jah-
ren zur Fertigstellung des Manuskripts sieht niemand die Mängel
des Gesellenstücks (es war meine Doktorarbeit) unbarmherziger und
klarer als ich selbst. Die »unchristliche Hand«, mit der A. W. Schle-
gel es geschrieben befunden hätte; die akademische Weitschweifig-
keit; die überquellenden Zitaten-Steinbrüche, die manchmal ohne
Gelände-Karte (die ich aber nicht liefere) kaum zu durchklettern
sind; die Tendenz der Anmerkung zu verselbständigten, von der Sa-
che wegdrängenden Essays; eine nicht immer transparente Gliede-
rung und zuweilen mühsam kreisende, von den kommentierten Ori-
ginaltexten mitgerissene Argumentations-Führung; manche sprachli-
chen und darstellerischen Zugeständnisse an den Comment des Pro-
motions-Rituals und viele Ungeschicklichkeiten und Dunkelheiten
eines Anfängers, über die Zeitabstand und Mode-Wandel noch eine
unattraktive Patina zusätzlich gelegt haben - das macht das Wieder-
lesen des Buchs nicht zu einer reinen Freude. Auch ist jedem deut-
lich, daß der Anfänger, der ich war, mit einigen der spekulativen
Probleme, die er in Angriff nimmt, reichlich ausgelastet, zuweilen
überfordert ist. Kommt hinzu der Umfang, den Hans-Georg Gada-
mer (dessen damalige Sekretärin, Frau Plenkers, das Manuskript in
seinem Büro tippte) mit den Worten verurteilte: »Dafür werden sie
keinen Verleger finden!« Ich entgegnete gekränkt und stolz, der sei
schon gefunden (was den bedeutenden alten Herrn beeindruckte).
Das wäre freilich nicht möglich gewesen ohne die lebhafte Unter-
stützung der großen Romantik-Forscherin Marianne Thalmann, die
mir die Wege ebnete und der ich hier ein verspätetes Wort unab-
tragbaren Dankes sagen möchte. Ihre leidenschaftliche Parteinahme
für den großen, von der Nachwelt verkannten, durch sie zuerst mit
Kraft und fühlbarer Wirkung (wenn auch nicht immer der größten
hermeneutisch-philologischen Subtilität) rehabilitierten Tieck hat
mich zwar nicht auf meinen Weg gebracht; aber ich wäre auf ihm
bald verzagt - so schlecht stand's damals um die Reputation von
Ludwig Tieck, dem »deutschen romantischen Dichter« (Robert

489
Minder) und seiner ins Blaue spekulierenden Freunde Friedrich
Schlegel, Novalis und Solger. Jedenfalls sieht jede(r) Leser(in), der/
die sich der Publikationen Marianne Thalmanns noch besinnt, wie
viel ich aus dieser reichen Quelle geschöpft habe. Auch Ernst Behler
und Robert Minder - zwei Gelehrte, deren Urteil, weil in der Sache
der Frühromantik bewährt, wiegt und denen ich hier einmal öffent-
lich sagen will, wie sehr ich den Lebenden schätze und des Verstor-
benen Andenken ehre - haben mich viele Wege gewiesen und später
das abgeschlossene Buch freudig begrüßt und gelobt.
Die revolutionäre Stimmung der 68er Jahre war insgesamt roman-
tikfeindlich. Entweder galt die Romantik (mit Lukäcs, der ihr doch
so viel verdankt wie wenige) als Renegation der Aufklärung und als
ein wüster irrationalistischer Sumpf, aus dessen Dunst sich einmal
die üblen Schwaden der Nazi-Barbarei kondensieren sollten; oder
sie galt als unseriös, spielerisch, intellektualistisch, politisch zumin-
dest anrüchig und unzuverlässig, ästhetizistisch-unmoralisch, als
»bürgerlich-subjektivistisch« und »antikapitalistisch« höchstens im
vormodernen, noch nicht durch Marx geläuterten (freilich von den
Grünen wiederentdeckten) Sinne. Man hat dabei übersehen, daß die
Nazi-Germanistik (sofern ihr Organ, die Zeitschrift für Deutsch-
kunde, für insgesamt charakteristisch gelten darf) wenigstens die
Frühromantik des Jenaer Kreises gar nicht liebte. Josef Veltrup
hetzte gegen den zersetzenden, nest- und vaterlandsbeschmutzen-
den, ironischen, universalistischen, weltbürgerlichen, geisthell-skep-
tischen Zug der Jenaer (auch Tiecks) in einem Friedrich Schlegel und
die jüdische Geistigkeit überschriebenen Beitrag (Nr. 52, 1938, H. 7,
vor allem S. 407: natürlich waren da lauter »typisch jüdische« Züge
identifiziert, und die Frühromantik wird als eine Frucht ihrer An-
hänglichkeit an jüdische Milieus verunglimpft). In die gleiche Rich-
tung hatte schon fünf Jahre zuvor Walther Lindens Umwertung der
Romantik (ebd. 47, 1933, H. 22, 65-91) gezielt. Den elitär Kultur-
Konservativen um Stefan George und Friedrich Gundolf war Tieck
ein Dichter ohne »Mark und Blut«. »Substanzlos« sei sein Werk, so
befand schon Rudolf Haym (in Hegels und Kierkegaards Fußstap-
fen) und gab damit die Rezeptions-Devise ans späte 19. und Teile
des 20. Jahrhunderts aus. Auf sie konnten sich die literarische Öf-
fentlichkeit und die von jeher konformistische Germanistik einigen
- bis hin zu Emil Staiger, der in Tieck, seltsam einig mit seinem
Kollegen Walter Muschg, den Haupt-Charlatan und Gott-sei-bei-
uns der deutschen Literatur und den eigentlichen Begründer der be-
sonders fatalen, da ironisch-auflösenden, das Gute, Edle, Schöne mit
Lachen bis zum Untern-Tisch-Fallen quittierenden, mit dem Klassi-
zisten-Gips aus Weimar überhaupt so schwer kompatiblen Frühro-
mantik witterte. Sein Gespür hat ihn nicht betrogen; aber die Um-

490
wertung der früheren Bewertung dieser Zersetzungsarbeit lag damals
in der Luft. Meine Arbeit muß ganz aus der Absicht verstanden
werden, in diese einseitige Rezeptionslage hineinzuwirken. Das hat
sie getan, hier hat sie sogar vereinzelt Wirkung gezeitigt und zur
General-Revision des Frühromantik-Bildes beigetragen; das bleibt
vielleicht ihr Hauptverdienst, welches mich am Ende dazu verführt,
meine Skrupel gegen die Wiederveröffentlichung zu überwinden.
So war einer der Flügel meiner Arbeit das Interesse an einer Re-
habilitierung Tiecks (i.); einen anderen öffnete die Rekonstruktion
der frühromantischen Philosophie (die in der Forschungs-Literatur
nicht minder unterbelichtet oder - wie etwa bei Theodor Haering
oder Erich Friedeil - karikatural entstellt oder in ein groteskes Sy-
stem hineinvergewaltigt war [2.]); einen dritten der Versuch, die
philosophisch-literarische (Früh-)Romantik aus einem Keimgedan-
ken als das Gesamtphänomen zu erschließen, das sie ist und das
abwechselnd den Nur-Philosophen und den Nur-Germanisten ent-
glitten war. Das »Zeit«-Thema sollte mir da als roter Faden dienen
- in ihm sah und sehe ich alle Tendenzen konzentriert, die das phi-
losophisch-literarische Syndrom der Frühromantik konstituieren
und seine Modernität beweisen (3.).
Ich will im Rückblick zu allen drei Punkten etwas sagen und so
zugleich fühlbar machen, in welche Richtung sich meine Gedanken
zur Sache der Frühromantik seither bewegt und wo sie sich stabili-
siert haben.
1. Die deutsche Literaturgeschichte ist zwar reich an Exempeln für
maßlose Verkennungen und ebenso maßlose Überschätzungen von
Werken und Autoren. Das Urteil von Zeitgenossen und Nachwelt über
Person und Werk des Romantikers Ludwig Tieck ist dagegen ganz
ohnegleichen und der Sonderfall überhaupt der Literaturkritik. In
meiner Doktorarbeit ist dieser Aspekt nur angedeutet. Ich will ihn hier,
für Tieck und sein Werk werbend, etwas breiter ausführen.
Tieck ist ein Autor, dessen Ruhm zu seiner Zeit fast sämtliche
Zeitgenossen überschattete und, wie man schließen muß, wesentlich auf
dem Zauber seiner Persönlichkeit beruhte. Diejenigen, die ihn auf den
Schild hoben, waren nicht kleine Geister mit philiströser Anhänger-
schaft (die Philister und Leihbibliotheksleser verstanden sich im Gegen-
teil gar nicht gut auf Tieck), sondern recht große: die führenden Köpfe
der sogenannten idealistischen Philosophie, der frühromantischen
Dichtung, die großen Musiker von Beethoven über Schumann zu
Wagner sowie die Maler Ph. O. Runge und C. D. Friedrich; oberfläch-
licher, aber emphatisch, fügen sich die Stimmen Brentanos und Arnims,
Mörikes und Grabbes, Hebbels und selbst noch einiger sogenannter
Realisten wie Freytag, Keller und Fontane hinzu, in deren Erzählungen
und Romanen der Bildungskanon zuweilen aus Goethe, Tieck und

491
Schiller besteht; der letzte ist manchmal ersetzt durch Jean Paul -
keine Erwähnung von Novalis, den Schlegels, Brentano, Kleist
oder gar Hölderlin, zu schweigen von Wieland. Man könnte ver-
muten, das Verblassen der außerordentlichen Hochschätzung des
Dichters Tieck sei das Ergebnis einer allmählich sich durchsetzen-
den Ernüchterung, an deren Ende die definitiven und begründeten
Urteile Hayms, Gundolfs oder Emils Staigers stehen. Gundolf hat
den Lebenslauf Tiecks auf folgende witzige Formel gebracht: »Er
fing als Unterhaltungsschriftsteller niedrigen Niveaus an (. . .); er
hörte als Literaturgreis und Unterhaltungsschriftsteller hohen Ni-
veaus auf. Um die Mitte seines Lebens gehörte er zur eigentlichen
Romantik durch lyrische Gedichte, lyrische Romane, Märchen und
Spiele.« Staiger, wie gesagt, sieht in Tieck den eigentlichen Zerset-
zer des Guten, Edlen und Schönen, der Ideale des klassischen Hu-
manismus, einen fragwürdigen Experimentator und Bahnbrecher ei-
ner fragwürdigen Avantgarde, die in der »Kloakenpoesie« der Dür-
renmatt und Beckett ihre Klauen gezeigt habe. Tieck habe das We-
sen- und Substanzlose emanzipiert, seine Dichtung sei ohne Kraft
und Nachdruck, des Gedankens Blässe sei ihr unretuschierbar an-
gekränkelt. »Blutlos« hieß er schon bei Gundolf, »blutlos« nennen
ihn die Nazis, die diesen Romantiker so wenig mochten, daß der
französische Germanist Robert Minder es der Mühe wert fand,
mitten im Dritten Reich, in französischer Sprache, eine gewaltige
These d'Etat mit dem demonstrativ gemeinten Titel Ludwig Tieck:
Un poete romantique allemand (Paris 1936) zu veröffentlichen: sie
ist eine Lanze, mit Verve gebrochen für einen in seiner Heimat
verkannten deutschen Dichter, dem Minder - wie schon Tiecks
Zeitgenossen - die Gabe der Anmut nachrühmt, die im Werteka-
non der Deutschen (und anderer Bärenhäuter - sie sind nicht die
einzigen) als eine eher romanische, also fragliche Tugend firmiert.
Die Zeitschrift für Deutschkunde unseligen Angedenkens ist einver-
standen mit dem Verdikt gegen die welsche Anmut des Dichters.
Sie geht noch weiter:

»Erkannten wir Einflüsse jüdischer Art in der Schlegelschen Tendenz zur


Entgrenzung, zur weichlichen Verwischung der Schranken, die wesensnot-
wendig zwischen den einzelnen Bezirken der Poesie und des Lebens sich
erheben, so dürfte auch in jenem Kernbegriff seiner Lehre die Frage nach
jüdischem Einfluß nicht von der Hand zu weisen sein, den Schlegel immer
wieder theoretisch umschrieben und als conditio sine qua non der Dich-
tung bezeichnet hat, die romantische Ironie. Wenn M. Joachimi betont,
daß für die auflösende Natur der Ironie sich kein Beleg finde, so liegt das
wohl nur daran, daß Schlegel sich über den Begriff der Ironie immer nur
theoretisch geäußert hat, daß er nie in die Verlegenheit gekommen ist, an
einem eigenen dichterischen Werk zu veranschaulichen, was Ironie ist und

492
wie sie sich in der Dichtung auswirkt. Tatsache ist jedenfalls, daß bei
Brentano und Tieck, die sie in der Dichtung praktisch angewandt haben,
ihre Wirkung auflösend gewesen ist. Nicht umsonst ist sie später von
H. Heine als ein ihm gemäßes Prinzip aufgenommen und kultiviert wor-
den.« (Josef Veltrup, I.e.).

Tieck hatte aber Gegner, und besonders heftige, nicht erst unter
den Nachlebenden. Das macht ihn zu einem Fall von besonderem
Kaliber. Zu seinen Erzfeinden gehören besonders die ernsthaften
unter den Dichtern und Denkern seiner Zeit: Friedrich Schiller zu-
erst, der das Jenaer Wespennest und seinen Spott mit Recht fürch-
tete. Karoline Schlegel-Schelling, von Schiller »Madame Lucifer« ge-
tauft, schreibt am 21. Oktober 1799 an ihre Tochter Auguste:
»Über ein Gedicht von Schiller, das »Lied von der Glocke«, sind wir
gestern mittag fast von den Stühlen gefallen vor Lachen, es ist ä Li
Voß, ä la Tieck, ä la Teufel, wenigstens um des Teufels zu werden.«
Und August Wilhelm Schlegel parodiert die Schwarzweißmalerei
und stupide Geschlechter-Rollen-Zuteilung der Ehre der Frauen un-
ter allgemeiner Ausgelassenheit des Kreises wie folgt:

»Ehret die Frauen! Sie stricken die Strümpfe,


Wohlig und warm, zu durchwaten die Sümpfe,
Flicken zerrissene Pantalons aus;
Kochen dem Manne die kräftigen Suppen,
Putzen den Kindern die niedlichen Puppen,
Halten mit mäßigem Wochengeld haus.

Doch der Mann, der tölpelhafte,


Find't am Zarten nicht Geschmack.
Zum gegornen Gerstensafte
Raucht er immerfort Tabak;
Brummt wie Bären an der Kette,
Knufft die Kinder spat und früh;
Und dem Weibchen, nachts im Bette,
Kehrt er gleich den Rücken zu.«

Friedrich Schlegel notiert in einer sarkastischen Laune folgendes


Epigramm:
»Geschritten in die Welt kam Schiller,
Und da ward's still und immer stiller.
Erstaunt frug die Natur: .Was will er?«
Und dreimal tönte laut der höchste Triller.«

Kein Wunder, daß August Wilhelm schreiben konnte:


»Wir machen uns keine Feinde; wir haben sie schon - die Feinde des Fort-
schritts hassen uns, weil wir eine beträchtliche Strecke voraus sind und

493
weil das, was sie getan haben, durch das unsrige vernichtet wird. Wenn
man uns unterdrücken könnte, so würde man es von Herzen gern tun.
Stellen Sie sich vor, daß die ganze deutsche Literatur in einem revolutionä-
ren Zustand ist und daß wir, mein Bruder, Tieck, Schelling und einige
andere, zusammen die Bergpartei machen.«

Eine Lagebeschreibung in gelassenerem Ton findet sich in einer


Äußerung Goethes im Gespräch mit Falk (vom Ostermontag 1808):
»Übrigens geht es in der deutschen Gelehrtenrepublik jetzt völlig so bunt
zu wie beim Verfall des Römischen Reiches, wo zuletzt jeder herrschen
wollte und keiner mehr wußte, wer eigentlich Kaiser war (. . .). Tieck war
auch eine Zeitlang Imperator; aber es währte nicht lange, so verlor er Zep-
ter und Krone. Man sagt, es sei etwas Titusartiges in seiner Natur, er sei
zu gütig, zu milde gewesen; das Reich aber fordre in seinem jetzigen Zu-
stande Strenge, ja man möchte wohl sagen, eine fast barbarische Größe.«

Grimmig auf Tieck zu sprechen war Hegel, dem es ebenso wie


seinem schwäbischen Landsmann Schiller an echter Heiterkeit ge-
brach und der - wie später Haym, Staiger, Muschg und Gundolf -
auf Wesenhaftigkeit, Mark und Nachdruck Wert legte. Nichts da-
von fand er in Tiecks Schriften. In der Ästhetik sowie in der Rezen-
sion der von Tieck und Raumer edierten Nachgelassenen Schriften
von Solger polemisiert Hegel gegen den ironisch-unernsten Charak-
ter der Tieckschen Poesie, die für ihn »zum Verneinen der Leben-
digkeit der Vernunft und Wahrheit, und zur Herabsetzung dersel-
ben zum Schein im Subjekt und zum Schein für andre« führte. Karl
von Holtei gibt in seinen Lebenserinnerungen einen handgreiflichen
Nachweis für den Ursprung der Hegeischen Aversion gegen Tiecks
Ironie. Es ist der Widerwille gegen den Menschen selbst, weniger
gegen den Dichter oder Ironie-Theoretiker. Hegel, heißt es da, habe
nach einer Vorlesung des Othello durch Tieck in der anschließenden
Diskussion »in der Rede, die er hielt, gerade die entgegengesetzte
Ansicht des Jagoschen Charakters« in den Tieckschen Vortrag hin-
eindoziert. Er kleidet seinen Tadel in Lob,

»Tieck preisend, mit wie unendlichem Geist er die Freiheit des vom ersten
Auftritt gesponnenen Gewebe enthüllt und so weiter. Ich stand wie ver-
steinert. Denn ohne von dem hochberühmten Manne etwas anderes zu
kennen als den Namen, kannte ich doch diesen und seinen Ruhm. [Tieck
blieb dem Tadelnden in seiner Entgegnung nichts schuldig, sie] war - ich
will nicht sagen tückisch - doch tieckisch, verbindlich ironisch. - Ich
müßte sehr irren, wenn es nicht dieser Abend gewesen ist, von dem der
Groll herrührte, den der Philosoph so lange gegen den Dichter bewahrte.«

Ein anderer »Seriöser«, der Tiecks Ironie (in seiner Doktorarbeit)


einer eingehenden Behandlung und Verurteilung würdigte, war

494
Kierkegaard, und im Verein mit Hegel prägte das von ihm entwor-
fene Bild die nachfolgende ungünstige Rezeption Tiecks als des gro-
ßen Spielers, Asthetizisten, Ironikers und Zersetzers der wahren und
großen Literatur. Heinrich Heine dagegen nennt in der sonst so po-
lemischen Romantischen Schule Ludwig Tieck

»den wirklichen Sohn des Phöbus Apollo, und wie sein jugendlicher Vater
führte er nicht bloß die Leier, sondern auch den Bogen mit dem Köcher
voll klingender Pfeile. Er war trunken von lyrischer Lust und kritischer
Grausamkeit, wie der delphische Gott. Hatte er, gleich diesem, irgendei-
nen literarischen Marsyas erbärmlichst geschunden, dann griff er, mit den
blutigen Fingern, wieder lustig in die goldenen Saiten seiner Leier und
sang ein freudiges Minnelied.«

Heine nennt Tieck eine der »außerordentlichsten Erscheinungen


unserer Literatur«, nimmt davon freilich das späte Novellenwerk
aus (dem ehemals wackeren Hunde Tieck, dichtet er im Tannhäuser,
fallen »jetzt die Zähne aus,/ Er kann nur noch bellen und wässern«).
Dennoch gesteht er Tieck zu, daß er »Deutschlands erster Novel-
list« sei. Goethe selbst, dessen Klassiker-Ruhm zu wesentlichen Tei-
len auf Tiecks unentwegtes Werben zurückgeht, urteilt maßvoll im
Rückblick eines Gesprächs mit Eckermann über sein lebenslanges
Verhältnis zu Tieck, er sei ihm herzlich gut und wisse seine Ver-
dienste besser als irgendwer sonst zu erkennen; »allein wenn man
ihn über ihn selbst erheben und mir gleichstellen will, so ist man im
Irrtum.«
So wäre im Wechsel-Zitat von Eloge und Verriß Tiecks aus be-
deutendsten Mündern endlos fortzufahren; zu berichten wäre über
das »größte mimische Talent, das jemals die Bühne nicht betreten
hat (. . .) ein[en] Dichter, der als darstellender Künstler die Bühne
zu einer Ehre gebracht haben würde, deren sich wenige diesseits
oder jenseits der Lampen träumen«, »ein Talent zur Bühne, wie es
sich alle Jahrhunderte einmal hinaufverirrt« und das zur innigen Be-
schämung Thalias und Melpomenes kein Schauspieler geworden ist
(Clemens Brentano; aber Goethe, Heinrich Brockhaus, Henrik Stef-
fens und andere urteilten ebenso enthusiastisch); über den Überset-
zer aus dem Spanischen, Mittelhochdeutschen, Englischen und Fran-
zösischen, den Literaturpapst, Editor und universellen Anreger,
ohne den Lenz und Kleist vergessen, Grabbe und Hebbel nicht auf
die Sprünge gekommen wären - kurz über die schillerndste und
vielseitigste Persönlichkeit der sogenannten Goethe-Zeit, die viel-
leicht - wie Franz Schultz vorgeschlagen hat - besser Tieck-Zeit
hieße.
Wie kann man, sehr kurz, Tiecks Werk charakterisieren? Thema-
tisch und wirkungsgeschichtlich am eindrucksvollsten dadurch, daß

495
man Gundolfs (diesmal positives) Urteil unterschreibt, wonach ohne
Tieck eine romantische, ja eine Literatur deutscher Sprache des 19.
und 20. Jahrhunderts so nicht existiert hätte, wie sie existiert (hat).
Von der Wiederbelebung des Volksbuchs und der mittelalterlichen
Dichtung über die Schöpfung des Kunstmärchens, einer extrem arti-
fiziellen und geschmeidigen Lyrik, den Künstlerroman und die
selbstreflexive Märchenkomödie (Büchner, Brecht, Pirandello, Gi-
raudoux, lonesco haben hier geschöpft) bis hin zur Schauer-, ja zur
Kurzgeschichte (was wären Hoffmann oder Poe oder Kafka ohne
Tieck gewesen?), endlich zur Schaffung der Novelle, die ganz orga-
nisch in die Periode des sogenannten bürgerlichen Realismus über-
leitet, ist thematisch und formal der Blütenstaub versammelt, der in
den Dichtungen der Zeitgenossen, erst recht der Nachlebenden auf-
gegangen ist - auch da, wo über die Wirkungsgeschichte der Name
des Autors vergessen wurde.
Und Tiecks eigenes Werk? Es schwebt über ihm, das souverän
vom Gruseligen, ja Grauenhaften ins Heitere und Witzige spielt und
von dort ins Dialogische, Kritische und Narrative zurückkehrt, - es
schwebt über ihm eine eigene Anmut, die August Wilhelm Schlegel,
der zuerst in einer AthenäumfsJ-Kezension auf Tieck aufmerksam
machte, im Rückblick des Jahres 1827 meisterlich wie folgt charak-
terisiert:

»Ich freue mich noch jetzt, ich bin gewissermaßen stolz darauf, zuerst in
Deutschland den seltenen dichterischen Genius begrüßt zu haben, der
nachher mein den Zeitgenossen verpfändetes Wort, aus seiner schöpferi-
schen Fülle sei Neues und Außerordentliches zu erwarten, so glänzend
gelöst hat. Bald suchte ich ihn auf, er wählte seinen Aufenthalt in meiner
Nähe, und wie gemeinschaftliche Begeisterung für Poesie und Kunst, mei-
stens auch in den Gegenständen der Bewundrung übereinstimmend, uns
zueinander geführt hatte, so beseelte sie auch unsern Umgang. Der heitre
gesellige Kreis gewann durch den Zutritt andrer schon berühmter oder seit-
dem berühmt gewordener Freunde eine große Vielseitigkeit. Die immer
erneuerte Betrachtung vollendeter Geisteswerke war unsre Lieblingsbe-
schäftigung; unsre größte Freude, die verkannten oder in Vergessenheit ge-
ratenen Urkunden des Genius zu entdecken; selbst der offen ausgespro-
chene Widerstreit der Meinungen wirkte anregend auf den Geist. Das mei-
ste, was wir später ausgeführt oder nicht ausgeführt haben, wurde in diesem
Zeiträume entworfen. Ich habe seitdem in den geistreichsten und gebildet-
sten Kreisen gelebt, viele der merkwürdigsten Zeitgenossen in Deutschland
und im Auslande kennengelernt: aber jener freien und fruchtbaren Ge-
meinschaft der Geister in dem hoffnungstrunknen Lebensalter wendet sich
meine Erinnerung noch oft mit Sehnsucht zu, wie denn auch mein Freund
dieses Gefühl in seiner Zueignung des Phantasus ausgedrückt hat.
Tiecks reifere Werke kann man nicht nach ihrem wahren Wert und Ge-
halt würdigen, ohne in die innersten Geheimnisse der Poesie einzugehn;

496
und man würde sich dabei nur ungern entschließen, die vernachlässigten
Ansprüche der dramatischen und der metrischen Technik geltend zu ma-
chen, wo die Fülle und Leichtigkeit des ersten Wurfs zu sehr in die Breite
geht, weil der reich begabte Künstler sich niemals entschließen konnte,
anders als alla prima zu malen. Eine zauberische Phantasie, die bald, mit
den Farben des Regenbogens bekleidet, in ätherischen Regionen gaukelt,
bald in das Zwielicht unheimlicher Ahndungen und in das schauerliche
Dunkel der Geisterwelt untertaucht; ein hoher Schwung der Betrachtung
neben den leisen Anklängen sehnsuchtsvoller Schwermut; Unerschöpflich-
keit an sinnreichen Erfindungen; heitrer Witz, der meistens nur zwecklos
umherzuschwärmen scheint, aber, sooft er will, seinen Gegenstand sieg-
reich trifft, jedoch immer ohne Bitterkeit und ernsthafte Kriegsrüstungen;
Meisterschaft in allen Schattierungen der komischen Mimik, sofern sie
schriftlich aufzufassen sind; feine, nur allzu schlaue Beobachtung der
Wirklichkeit und der gesellschaftlichen Verhältnisse: dies sind die Vor-
züge, die, bald die einen, bald die andern mehr, in Tiecks Dichtungen
glänzen. Ich vergaß noch die Grazie, eine ihm so angeborene Eigenschaft,
daß sie sich wie von selbst einstellt und daß er ihr nicht entsagen könnte,
wenn er auch wollte.«

Diese Anmut ist von den Schlegels über Schelling bis hin zu Ro-
bert Minder immer wieder gerühmt worden, und sie hat ihren Nie-
derschlag in einer ganz eigenen Federleichtigkeit der Tieckschen
Sprache gefunden, die im klobigen Deutschen kaum ihresgleichen
findet und wie ein Angebot an unsere Muttersprache wirkt, es der
Tieckschen an Anmut und Schwerelosigkeit gleichzutun. Das mag
zugleich der Grund gewesen sein, warum Tiecks Werk die beson-
dere Wut der Anhänger des »Geistes der Schwere« auf sich gezogen
hat, vom Bierernst der Realisten bis hin zur Aggressivität der Nazis
- auch die real existierenden Marxisten mochten Tieck nie, und sie
wußten warum. Tatsächlich meinte Tieck - und meine Doktorarbeit
sucht dies immer aufs neue zu belegen - eine Wahrheit, und nicht
eine Schwäche ins Werk zu setzen, wenn er durch seine Sprachbe-
handlung die Einsicht zu vermitteln behauptet, daß unsere Seele
schwerelos ist wie der Äther und transparent wie das Nichts. Der
Abstand, den Sartre allen Statuen Giacomettis eingearbeitet fand
und der sie zu prinzipiellen »Wesen der Ferne« macht, wie nah auch
das Betrachter-Auge ihnen auf den Leib rückt: er ist auch allen
Tieckschen Gedichten eingewebt. Tiecks Figuren bleiben ihrem
Charakter immer nicht treu; aber von einem Aus-der-Rolle-Fallen
(so hatte ich, anschließend an Szondi, argumentiert) kann nicht
eigentlich die Rede sein; das würde voraussetzen, daß irgendeine
Tiecksche Person eine fixe Rolle - einen Charakter im wuchtig
Schillerschen Sinne - hat. Helden, die, jetzt unzuverlässig bis zum
Lächerlichen, im nächsten Augenblick die treuesten und edelsten
Liebhaber sind, haben nur die Infixibilität ihres Charakters als blei-

497
bende Eigenschaft. Wenn man die Verarbeitung der historischen
Gegenwart der Französischen Revolution bei Tieck vergeblich sucht
(und ihn, was er nicht war, für unpolitisch erklärt hat): wieviel dra-
stischer und gefährlicher als etwa bei Klopstock, Schiller oder Höl-
derlin ist in seinem Werk Freiheits-Erfahrung Ereignis geworden,
über die die »Engagierten« zwar Worte machen, die bei ihnen aber
nicht bis ins Filigran der Sprache einsickert. Eine ganz neue - in der
dramatischen Motivation durchschlagende - Auffassung von Freiheit
und Unfestgelegtheit, eben von Zeitlichkeit, drängt bei Tieck ins
Wort; und wo frühere Generationen die weihevolle Re-Inszenierung
des katholischen Mittelalters gesehen haben (in Tiecks Genoveva),
da erkennen wir das Piktogramm eines Charakters (Golo), dessen
Spannweite von der liebenswürdigsten Anmut bis zur brutalsten
und fast nicht bühnenfähigen Scheußlichkeit reicht - aber der Über-
gang vom einen zum anderen ist keine durch charakterielle Notwen-
digkeit forcierte Entwicklung - so wenig wie Lovells Weg vom
Schwärmer zum Lump und Selbstmörder -, sondern eine schwin-
delerregende Indeterminiertheit, eine aus dem Sicherheitsgürtel des
kategorischen Imperativs gerutschte Freiheit, wie Dostojewski und
Sartre sie zeichnen werden. Tiecks Figuren sind von einem inneren
Nichts umgetrieben, sie wollen »das Ferne und das Nahe, das Mög-
liche, was doch unmöglich ist« (2, 112) und halten die Stabilität der
klassi(zisti)schen Charaktere für Lüge. Tiecks Freund Novalis ver-
langt leidenschaftlich nach »Mannichfaltigkeit in der Darstellung
von Menschen - nur keine Puppen, keine sogenannten Charaktere -
lebendige, bizarre, inkonsequente, bunte Welt. Je bunteres Leben, je
besser« (XII, 558, Nr. 16). Tieck sagt es ironischer: In einem seiner
wirrsten und von der Kritik am meisten zerzausten Romane läßt er
den Helden mit seinem Förderer (gewissermaßen seinem Autor)
streiten und ihn sagen, wenn man es recht überlege, »daß im ganzen
Menschenleben kein Zweck und kein Zusammenhang zu finden ist«,
so werde es der Biographie-Macher auch gerne aufgeben, solche
Dinge in seinen Lebenslauf hineinzubringen.

»So wäre also, sagte Bernard tiefsinnig, das ganze große Menschendasein
nichts in sich Festes und Begründetes? Es führte zu nichts, und hätte
nichts zu bedeuten, Thorheit wäre es, hier historischen Zusammenhang
und eine große poetische Komposition zu suchen; eine Bambocchiade oder
ein Wouvermans drückten es vielleicht am richtigsten aus (9, 193).*

Richtig ausgedrückt wäre das Menschendasein im möglichst


schwerelosen und flüchtigen Stil, den Novalis an seinem Freund be-
neidete und dem Heine, im Vergleich mit der Schwerelosigkeit der
Mendelssohnschen Musik, ein heiter-ironisches Denkmal gesetzt hat
(1. Bericht des Musikalischen Salon, Paris, den 25. April 1844).

498
Beide, Tieck und Mendelssohn, bieten uns immer Gelegenheit, über
die große Frage nachzudenken:
»Was ist der Unterschied zwischen Kunst und Lüge? Wir bewundern bei
dem Meister [Mendelssohn] zumeist sein großes Talent für Form, für Stili-
stik, seine Begabnis, sich das Außerordentliche anzueignen, seine reizend
schöne Faktur, sein feines Eidechsenohr, seine zarten Fühlhörner und
seine ernsthafte ich möchte fast sagen passionierte Indifferenz. Sehen wir
in einer Schwesterkunst nach einer analogen Erscheinung, so finden wir sie
diesmal in der Dichtung, und sie heißt Ludwig Tieck. Auch dieser Meister
wußte immer das Vorzüglichste zu produzieren, sei es schreibend oder
vorlesend, er verstand sogar das Naive zu machen, und er hat doch nie
etwas geschaffen, was die Menge bezwang und lebendig blieb in ihrem
Herzen.«

Aber auch dafür gibt es eine »tieckische« Erklärung:

»Ein gutes Buch findet selten einen Verleger, aber ein schlechtes gewiß;
denn dort ist ein Risiko, hier nicht. Entschließt sich der Buchhändler ein
gutes Buch zu verlegen, so muß die schlechte Literatur den Ausfall decken.
So wird sie zur Düngmasse für die gute, die ohne sie am Ende überhaupt
nicht zum Vorschein kommen würde« (Köpke II, 209 f.)

2. Die Idealismus-Forschung, in Heidelberg während meiner Stu-


dien- und Promotionszeit durch Dieter Henrich in großartiger Be-
setzung präsent, hat jene anregenden, aber doch nicht ganz seriösen
und insbesondere - wegen ihrer fragmentarischen Produktion -
schwer systematisch einschätzbaren, auch sprunghaft sich äußernden
Zeitgenossen wie Novalis und Friedrich Schlegel eher umgangen. So
war der Beitrag zur Entwicklung der großen deutschen Philosophie
jener Epoche im engeren (fachphilosophischen) Sinne weitgehend
unerschlossen. Nur Germanisten mit einigem Selbstvertrauen (aber
nicht immer mit Scharfsinn) hatten gelegentlich Blicke über den lite-
rarisch-philosophischen Zaun geworfen, der die Frühromantik zu
einem so eigenartigen Janusgesicht bestimmt; aber ihr Interesse war
eher eines des kulturellen Kontextes, und der ist ja bei Novalis und
Friedrich Schlegel durch die Doppel-Produktion in Philosophie und
Dichtung auch wirklich unumgänglich. Ich glaube, einer der ersten
gewesen zu sein, die eine Trasse gelegt haben durch das philosophi-
sche Werk Friedrich Schlegels und des Novalis - mit einem zwar
auf Tiecks literarische Praxis als Anschlußglied hinblickenden, aber
doch immanent fachphilosophischen Interesse am »fragmentarischen
System« der Frühromantik. Nachträglich mache ich mir klar, daß
hier die (wie immer unentwickelten und manchmal auch nicht keim-
fähigen) Samenkörner aller meiner späteren Publikationen ausgewor-
fen waren und daß ich auf den scheinbar entlegensten thematischen

499
Wegen stets in einem inneren Zwiegespräch mit der Frühromantik
(samt Solger und Schleiermacher) mich befunden habe und noch
befinde. (Der Arbeit hätte übrigens ein Kapitel über Schellings Zeit-
Philosophie vorangehen sollen, das wirklich vorlag und dessen Er-
gebnisse ich - um den Umfang der ohnehin zu sehr ins Kraut ge-
schossenen Dissertation nicht zu überdehnen - in zwei kleinere
Texte zusammengezogen habe: in die Seiten 236-245 meiner näch-
sten Arbeit, Der unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegelkritik
und die Anfänge der Marxschen Dialektik, Frankfurt/M. 1975, und
in das Büchlein Zeitbewußtsein, Pfullingen 1990, bes. S. 95-109.
Auch so freilich ist Schellings Zeit-Theorie im vorliegenden Buch
omnipräsent.)
Ich bin seither noch einmal auf den (philosophischen) Gegenstand
meiner Doktor-Arbeit zurückgekommen: in dem edition-suhrkamp-
Band Einführung in die frühromantische Ästhetik (Frankfurt/M.
1989). Sie ist gewissermaßen eine weiter ausgreifende, manches still-
schweigend korrigierende »refonte« der alten Dissertation. Darin
habe ich mich jedenfalls bemüht, das Eigentümliche und Spezifische
des frühromantischen Beitrags zur sogenannten idealistischen Phi-
losophie, unter die er nicht einfach subsumiert werden kann, die er
vielmehr von innen zersetzt, als solches zur Sprache zu bringen. Ich
möchte diesen Beitrag rückblickend wie folgt kontextuieren und
charakterisieren:
Zu den Grundcharakteristika der philosophischen Moderne zählt
die allgemeine Überzeugung, daß sie ein Denken aus der Gewißheit
des Selbstbewußtseins gewesen sei. Dieses Denken, von Descartes
bahnbrechend eingeleitet, habe nach Leibniz und einem empiristi-
schen Intermezzo in Kants und zumal in Fichtes Philosophie seinen
Höhepunkt erreicht - denn dort wird Subjektivität zum Prinzip ei-
nes deduktiv entwickelten Systems von Kenntnissen, die kraft ihrer
Ableitbarkeit aus dem Selbst die ihnen eigene Form objektiver Be-
gründetheit gewinnen.
Heidegger - und ihm folgend mehrere Denker aus dem Spektrum
des sogenannten Neostrukturalismus - haben in der »Machtergrei-
fung« von Subjektivität den Gipfel abendländischer Seins- oder dif-
ferance-Vergessenheit erblicken wollen. Da das gängige Vorurteil
Fichte zum Hauptsündenbock der Entwicklung macht und man die
Jenenser Frühromantik ganz aus der Abhängigkeit von Fichte re-
konstruiert hat, ist es üblich geworden, zumal Friedrich Schlegel,
den führenden Kopf der Bewegung neben Novalis, ganz unter dem
Stichwort der Subjektphilosophie zu erfassen.
Das ist aus vielerlei Gründen unstatthaft. Denn wenn Subjektivi-
tät in der Tat ein eminentes Thema der Frühromantik war, so
darum, weil sich unter den Schülern Fichtes der allerersten Genera-

500
tion (zu der auch Hölderlin gehörte) Überzeugungen ausgebildet
hatten, die der Subjektivität den Rang eines Absolutum absprachen.
Subjektivität müsse vielmehr begriffen werden als ein abkünftiges
Phänomen, das nur unter einer Voraussetzung sich zugänglich wird,
über die es nicht wiederum verfügt. Sie müsse ihrerseits aus der
Struktur des Selbstbewußtseins aufgeklärt werden. Mit anderen
Worten: eine Analyse des Selbstbewußtseins muß unter anderem
den Befund erbringen, daß unser Selbst die relative Identität, in der
es sein bewußtes Leben durchmißt, als das Werk einer Instanz be-
greift, die seiner eigenen Struktur vorgeordnet ist. Das kann man
sich leicht klar machen, wenn man daran denkt, daß, was wir ge-
wöhnlich unter »Selbstbewußtsein« verstehen, das Werk einer Rück-
wendung des Bewußtseins auf sich selbst ist. Diese Rückwendung
nennt die philosophische Kunstsprache »Reflexion«. In der Refle-
xion ist eines Subjekt und eines Objekt der Selbstbespiegelung. Wie
aber sollte ich die Tatsache, in einem elementaren Sinne einer zu
sein, aus der Dualität von Schein und Widerschein lernen können?
Und wie sollte ich andererseits daran zweifeln, daß diese Einheit ein
Wesenszug meines bewußten Lebens ist? Ist beides der Fall, so die
frühromantische (und Hölderlinsche) Konsequenz, muß Selbstbe-
wußtsein abkünftig sein aus einer fugenlosen (irreflexiven) Identität,
die in Denkverhältnisse nicht mehr auflösbar ist und die diese Gene-
ration mit Friedrich Heinrich Jacobi »Seyn« nannte.
Damit nimmt die Reflexion des sogenannten Jenaer Zirkels jäh
Abschied von einem Spekulations-Typ, den die Ideengeschichte mit
den Namen Fichte, Schelling und Hegel assoziiert und den man ge-
wöhnlich unter dem Titel des Deutschen Idealismus erfaßt.
Ich schlage im Gegenzug zur communis opinio vor, zwischen dem
Idealismus und der Frühromantik scharf zu unterscheiden. Als idea-
listisch bezeichne ich die - zumal durch Hegel verbindlich gemachte
- Überzeugung, Bewußtsein sei ein selbstgenügsames Phänomen,
das auch noch die Voraussetzungen seines Bestandes aus eigenen
Mitteln sich verständlich zu machen vermöge. Dagegen ist die Früh-
romantik überzeugt, daß Selbstsein einem transzendenten Grunde
sich verdankt, der sich nicht in die Immanenz des Bewußtseins auf-
lösen lasse. So wird der Grund von Selbstsein zu einem unausdeut-
baren Rätsel. Dies Rätsel kann nicht mehr (allein) von der Reflexion
bearbeitet werden. Darum vollendet sich die Philosophie in der und
als Kunst. Denn in der Kunst ist uns ein Gebilde gegeben, dessen
Sinnfülle von keinem möglichen Gedanken erschöpft wird. Darum
kann der unausschöpfbare Gedankenreichtum, mit dem uns die Er-
fahrung des Kunstschönen konfrontiert, zum Symbol werden jenes
in Reflexion uneinholbaren Einheitsgrundes, der der Fassungskraft
des dualen Selbstbewußtseins aus strukturellen Gründen entgehen

501
muß. Diesen Typ von symbolischer Repräsentation nennt die Früh-
romantik in polemischer Absetzung vom klassizistischen Wortge-
brauch Allegorie. Hegel hat sie verurteilt; die Moderne ist souverän
über Hegels Verdikt hinausgestiegen und hat es faktisch desavouiert.
Um die eigentümliche Differenz des frühromantisch-ästhetischen
vom klassizistischen Denken des sogenannten Idealismus zu verste-
hen, ist es nützlich, einen Streifblick auf Jacobis Gedanken der
Transreflexität des Seins zu werfen. Man hat seine Schlüsselfunktion
für die Ausbildung des Frühidealismus und insbesondere der Früh-
romantik erst in den letzten Jahren wirklich zu ermessen begonnen;
und erst langsam ahnt man, wie unmittelbar initial-zündend zumal
die erweiterte Zweitauflage seines Spinoza-Büchleins (aus dem Re-
volutionsjahr 1789) für Novalis und Friedrich Schlegel wirklich ge-
wesen ist (davon und auch von der Vermittler-Rolle Niethammers,
der die Philosophie nicht »aus einem Grundsatz begründen«, son-
dern »in der Mitte beginnen« lassen wollte, wußte meine Disserta-
tion noch kaum etwas). Jacobi glaubte, einen vollkommenen Dualis-
mus zwischen der unmittelbaren Gewißheit des Seins und der end-
losen Relativität des rationalen Begründens ausmachen zu können.
Dadurch hat er den Tübingern, aber auch den Jenensem zu der ihr
ganzes Denken nachhaltig bestimmenden Einsicht verholfen, daß
Unbedingtes nicht von der Kette der Bedingungen her erreicht wer-
den kann. Das Denken von Friedrich Schlegel und Novalis nimmt
aber eine andere Wendung als dasjenige Jacobis einerseits, des abso-
luten Idealismus der Schelling und Hegel andererseits. Die beiden
letzten glauben, das Wissen des Absoluten sei einerlei mit der
Selbstaufhebung der Relativität; Jacobi umgekehrt sucht die Relati-
vität durch ein höheres Erkenntnisorgan, das er »Gefühl« nennt, zu
überwinden. Friedrich Schlegel ist mit Jacobi davon überzeugt, daß
die Unerkennbarkeit des Absoluten »eine identische Trivialität« sei
(KA XVIII, 511, Nr. 64). Mit Hegel und Schelling teilt er dagegen
die Einsicht, daß der Begriff der Endlichkeit dialektisch an den der
Unendlichkeit gebunden ist und nicht von jenem isoliert werden
kann. Daraus folgert er aber nicht, daß wir mithin das Absolute
positiv in Wissen darstellen können. Es hat den Status einer regula-
tiven Idee (wie bei Kant), ohne welche sich endliches Denken nicht
als Bruchstück und Stückwerk begreifen, durch die es sich aber
nicht einfach über diese seine Bedingtheit hinwegsetzen kann. »Das
[ist] das eigentlich Widersprechende in unserm Ich«, notiert Schle-
gel, »daß wir uns zugleich endlich und unendlich fühlen« (KA XII,
335). Die Einheit dieser beiden Zustände ist nun zwar das Leben
der Ichheit selbst. Aber diese Einheit ist nicht für das Ich; es ist ihm
wenigstens unmöglich, sich in einem und demselben Bewußtsein zu-
gleich seiner Unendlichkeit und seiner Endlichkeit zu versichern;

502
und beide Bewußtseinsweisen sind nicht nur in zeitlicher, sondern
auch in qualitativer Opposition zueinander (KA XVIII, 298, Nr.
1243). Das Sein des Ich wird nie Gegenstand der Reflexion; und
doch ist es, indem es des Seins entbehrt. »Der Mensch [ist] in dem
Einzelnen nicht ganz sondern nur Stückweise da. Der Mensch kann
nie da seyn« (1. c , 506, Nr. 9). Das An-sich-Sein, welches anzu-
schauen dem reflexiven Ich versagt ist, äußert sich ex negativo als
»Freiheit«; darin, daß es sich in seiner Endlichkeit nicht etablieren
kann, sondern, ständig über seine Grenzen hinausgetrieben, nie in
der Identität mit seinem jeweiligen Zustand aufgehen kann. Losge-
löst von einer grundlegenden Vergangenheit, mit deren »Erinne-
rung« ihm das Licht des Selbstbewußtseins aufgeht, fühlt sich das
Selbst ständig neuen Möglichkeiten entgegengeschickt, die ihm wie-
der keine definitive Selbstidentität gewähren werden. Den drei Di-
mensionen der Zeit entsprechen (in den Kölner Vorlesungen und
den entsprechenden Fragmenten aus dieser Zeit) die Bewußtseins-
modi der Erinnerung, Anschauung und Ahnung. Deren Trias ist nur
dreifach nuancierter Ausdruck einer wesenhaften »Unangemessen-
heit« des Wesens an seine Wirklichkeit. »Die Zeit«, sagt Schlegel, ist
die »in Unordnung gerathene (aus den Fugen gebrachte) Ewigkeit«
(KA X, 550). Als Zeit also offenbart sich der Verlust des Seins (des
Ewigen) im endlichen Ich und perpetuiert sich im reflexiven Zugriff.
So begegnet Schlegel tatsächlich Schellings Diagnose über Fichtes
Philosophie. Sie hatte besagt, wer das Absolute nicht im Nu und
vollständig ergreife, sehe sich auf einen »unendlichen Progressus«
verwiesen (SW I/4, 358), der in der Zeit vergeblich, nämlich unend-
lich, die Ewigkeit antizipiert. Da er das Absolute für unerkennbar
erklärt, muß er die von Schelling spöttisch skizzierte Konsequenz
zunächst bejahen. Sie wird ihm aber Ausgangspunkt seiner Theorie
des Fragmentes. Das von Fichte verteidigte Paradox (einerseits sei
das Ich nur unter Voraussetzung des Absoluten, andererseits bestehe
das Absolute nur als und im Ich) wird sogar zum Motor seiner
Entdeckung der Ironie und wohl überhaupt zur Triebfeder seines
ganzen Denkens. Schon 1796 notiert er lakonisch: »Erkennen be-
zeichnet schon ein bedingtes Wissen. Die Nichterkennbarkeit des
Absoluten ist also eine identische Trivialität« (KA XVIII, 511, Nr.
64). In beiden Sätzen wird dem absoluten Idealismus radikal wider-
sprochen. Schlegels eigener Lösungs-Vorschlag - vielleicht nicht
ohne den Einfluß Niethammers - behauptet ein Zugleich-diesseits-
und-jenseits-der-Grenze-Sein:

»Die Behauptung (gegen Schelling und Fichte), daß alles Setzen jenseits
der Gränzen der Erkennbarkeit transcendent sey, widerspricht sich selbst
und macht aller Philosophie ein Ende. Überdem sind die Gränzen der Er-
kennbarkeit noch gar nicht bekannt, wenn das theoretisch Absolute gesetzt

5°3
wird. - Man kann keine Gränze bestimmen, wenn man nicht diesseits und
jenseits ist. Also ist unmöglich die Gränze der Erkenntniß zu bestimmen,
wenn wir nicht auf irgend eine Weise (wenn gleich nicht erkennend) jen-
seits derselben hingelangen können« (KA XVIII, 521, Nr. 23; ähnlich XIX,
120, Nr. 348).
Wir sind immer in irgendeinem Zustand relativer Selbstidentität,
und diesen Zustand haben wir (als unsere Vergangenheit) immer
schon in Richtung auf eine Zukunft überschritten. Dem Bewußtsein
der Relativität jeder Bindung und Fixierung - wie sie z. B. in den
punktuellen Vereinigungen des »Witzes« gelingt - antwortet die
»Ironie«, die das mit sich Einige »allegorisch« an das Unendliche
verweist, seine Vorläufigkeit und Unvollständigkeit entlarvend.
Das wird Schlegels Lösung sein. In Das Problem »Zeit* in der
deutschen Romantik war sie erstmals skizziert (und zugleich eine
Intuition des Schlegel-Freundes Walter Benjamin philologisch ins
Recht gesetzt): Daraus, daß wir die Einheit von Einheit und Fülle
nicht zumal, nicht im Nu darstellen können, folgt nicht, daß wir
uns dauerhaft in einem der beiden Momente einrichten könnten.
Der Lebensfluß treibt uns aus relativer Einheit beständig in Rich-
tung auf relative Fülle; kein Bewußtsein begreift beide Glieder zu-
gleich in sich. Welche philosophische Methode kann diesem un-
gleichzeitigen Sowohl-als-auch gerecht werden? Die ironische, die
etwas Bestimmtes, Positives so setzt, daß sie in die Geste der Set-
zung physiognomisch das heitere Bewußtsein seines prinzipiellen
Auch-anders-sein-Könnens miteinarbeitet, das Endliche so verwei-
send an das undarstellbare Unendliche. Die Fragmenten-Produktion
der Frühromantiker leistet gerade dies: sie weist dem endlichen
Ausdruck einen Ort an im unendlich offenen Raum des Auch-Sag-
baren, das zu seinen Gunsten ungesagt bleiben mußte, und vereint
so, wie Novalis sagt, Systemlosigkeit und System. Genau diese para-
doxe Vereinigung wird auch von der Zeit geleistet, die ein Werk
beständiger Zerstückelung und Vernichtung im Rahmen einer konti-
nuitäts-verbürgenden Einheit vollbringt - und uns darin erinnert,
daß die »immer ins Ungebundene gehende Sehnsucht«, von der
Hölderlin spricht, nur eine Wesenstendenz des Menschen ist; die
andere ist das »treue Behalten« des Endlichen in seiner Endlichkeit.
Davon, daß dies die Struktur endlich-unendlicher Wesen ist, kann
die Philosophie wohl reden. Die über allem Endlichen schwebende,
alles vernichtende und alles aufs (undarstellbare) Eine beziehende
Heiterkeit aber kann nur in dichterischer Darstellung Ereignis wer-
den. Dafür steht die Anmut von Tiecks Werk, in dem die Zeitlich-
keit und Einheitssehnsucht unmerklich-spannungsreich zusammen-
bestehen wie in keinem anderen der Epoche.
3. So schien sich das Problem »Zeit« - und nur es - für eine

504
Gesamtperspektive auf die Frühromantik als literarisch-philosophi-
sche Doppelgestalt zu empfehlen. Zeitlich, sagt Schelling (in Jacobis
Tradition), ist, was sein Sein nicht in sich, sondern in einem anderen
hat, das wiederum sein Sein nicht in sich, sondern in einem anderen
hat - woraus der unendliche Regreß der ins Zukünftige strebenden
und immer wieder ins Vergangene zurücksinkenden Strebungen ent-
steht, die wir die Zeit nennen. Diese Struktur ergibt sich unmittel-
bar aus einer bestimmten Deutung der Tatsache, daß endliches
Selbstbewußtsein, weit entfernt, oberstes Prinzip der Philosophie zu
sein, sich erst zu fassen bekommt auf der Grundlage (und unter
Voraussetzung) eines »Seyns«, das ihm entgleitet. So legt sich das
Selbst den Ursprung seiner Zeitlichkeit aus: Die absolute Identität,
unfähig, sich unter ihren beiden Aspekten (als Realität und als Idea-
lität) gleichzeitig dem Bewußtsein zu offenbaren, muß sich in sukze-
dierende Phasen zerlegen. Die Erfahrung, wonach das Subjekt vom
»Seyn« immer schon »präveniert« worden ist, wird vom Bewußsein
erlebt (oder schematisiert) als Ablösung von seiner Vergangenheit.
Auf diese Trennung wird es - da es ja wesenhaft Einheit ist - rea-
gieren mit dem Streben nach Wiederaneignung des Verlorenen, und
dieses kann sich nur auf die Zukunft richten. Diese Hoffnung muß
enttäuscht werden. Denn es ist eine leicht einsehbare »Täuschung«,
zu erwarten, »es werde ein Zeitpunkt kommen, wo dieses eintreten
würde«. Denn, sagt Novalis, »erstlich ist es an und für sich ein Wi-
derspruch, daß in der Zeit etwas geschehen solle, was alle Zeit auf-
hebt. (. . .) Die Zeit kann nicht aufhören ( . . . ) - denn die Zeit ist
Bedingung des denkenden Wesens (. . .) Denken außer der Zeit ist
ein Unding« (II, 269, Nr. 564). Durch Höherverlegung der Identität
- außer allem Zugriff des Bewußtseins - hat Novalis das Geschehen
reflexiver Selbstvermittlung ganz in die Sphäre der Zeit herunterge-
holt. Das im Zugriff der Reflexion immer schon verfehlte Gefühl
wird »Gedächtnis« oder »Erinnerung«; das vom »Ergänzungstrieb«
anvisierte Komplement des Verfehlten wird im Bewußtseinsmodus
der »Hoffnung« oder »Ahndung« erschlossen. Als Gefühl oder Ge-
dächtnis »setzt sich das Ich seinen Grund voraus«: es »ek-sistiert«
(Novalis bemerkt die »bedeutungsvolle Etymologie dieses Worts«)
als ein »Außer-sich-Sein-beim-Sein« (1. c , 199, Nr. 282; 106, Nr. 2).
»Das Ich existiert« meint: »es findet sich, außer sich« (150, Nr. 98),
nämlich als von seinem Vergangensein unvordenklich überholt. Das
ist aber nur die eine Weise, in welcher das Subjekt seinen Mangel an
(Ganz-)Sein spürt - die andere kündigt sich ihm an im Ausstand
seiner Zukünftigkeit. So wie im Gedächtnis der Grund ihm »voraus-
gesetzt« ist, so ist er im Zukunftsentwurf ihm »nachgesetzt« und
heißt alsdann »Zweck« (VI, 591, Nr. 284; IX, 401, Nr. 701).
Im Namen der Zeitlichkeit des Menschenwesens haben radikale

S°5
' M , • J* i«!r. .•» .
Denker (Bergson, Heidegger und Sartre) und Literaten (Proust,
Joyce, Hans-Henny Jahnn) vom Idealismus/Symbolismus sich abge-
kehrt und ein neues Stadium desillusionierter Modernität einzuläu-
ten behauptet. Auch die Romantik wurde zum alten Eisen geworfen
und im Namen der Zeitlichkeit als ein ins Absolute verliebtes, vor-
modernes Denken abgewiesen. Nun zeigt sich, daß den ersten, und
zwar den entscheidenden, Schritt zur Einleitung einer nach-theono-
men und post-traditionellen Moderne die Romantik selbst getan hat;
die anderen Protagonisten der Moderne sind ihr unbewußt nur ge-
folgt. Dies zu zeigen, war meine Hauptabsicht beim Niederschrei-
ben der Dissertation; wenn ihre radikale These inzwischen allmäh-
lich akzeptiert wird, so darf ich mir dies als eigentliches Verdienst
anrechnen.
Ich habe das diskursiv-reflexive Reden über die Zeit von der An-
mut des zeitdurchwirkten Stils unterschieden, in dem - in Tiecks
Werk - Zeit selbst Ereignis wird. Tieck, der »eigentlich dichtende
Dichter« der Frühromantik, tut im Bereich des Symbolischen, wo-
von seine mehr spekulativ aufgelegten Freunde nur reden; sie alle -
Novalis, Schlegel, Solger, Schleiermacher und Tieck - aber bringen
eine und dieselbe elementare Erfahrung zum Ausdruck, daß das Ab-
solute uneinholbare Vorausetzung (und insofern nach wie vor
Thema), aber kein Bestand ist unseres endlichen Daseins. Dem ent-
spricht eine Hermeneutik, die den literarischen und den spekulati-
ven Diskurs auf eine Quelle hin verfolgt und aus ihr in verschiedene
Täler leitet. Nur so glaubte ich, die Klammer um die theoretische
wie die literarische Produktion der Frühromantik schlagen zu kön-
nen, die früher nie aus einer Keimidee begriffen und aus ihr in allen
ihren Schichten entfaltet worden war. Dies freilich ist kein letztes
Wort zur unendlich vielschichtigen Sache der Frühromantik; nur ein
Anfang wollte gemacht sein; und mit ihm konnte, glaube ich, viel
Eis tradierter Erstarrung aufgebrochen und eine neue Rezeptions-
rinne gebahnt werden. Ich wünsche mir, daß noch viele andere zu
ihr hinzutreten und daß die Frühromantik - mit ihrem literarisch-
philosophischen Doppelgesicht - nicht aufhört, interdisziplinäre
Forschung an- und aufzuregen.

Manfred Frank

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Bayerische )
Staatsbibliothek ]
Mönchen J

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