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Der vergiftete Pfeil.

Göttlichkeit und Menschlichkeit als poetische


Nahtstelle in Hölderlins Ode Chiron

von Hannes Mittermaier (LMU München)


Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung und Fragestellung .............................................................................................. 3

2. Prolegomenon: Der unheilbare Heiler Chiron ..................................................................... 5


2.1. Mythologisches Vorverständnis ....................................................................................... 5
2.2. Peter Szondis Anthropologisierung des Leidens ............................................................... 7

3. Chirons Wunde als Ausgangspunkt dichterischer Genese ................................................... 9


3.1. Vergleich der Vorfassung Der blinde Sänger .................................................................. 10
3.2. Aspekte des Dazwischenseins ........................................................................................ 12
3.2.1. Zeitlichkeit.............................................................................................................. 12
3.2.2. Räumlichkeit .......................................................................................................... 15

4. Zusammenschau der Ergebnisse ....................................................................................... 18

5. Literaturverzeichnis .......................................................................................................... 20
5.1. Primärliteratur ................................................................................................................ 20
5.2. Sekundärliteratur............................................................................................................ 20
5.3. Hilfsmittel ....................................................................................................................... 21

2
1. Einleitung und Fragestellung
Den Arzt, der jede Pflanze nennt,
Die Wurzeln bis ins tiefste kennt,
Dem Kranken Heil, dem Wunden Lindrung schafft,
Umarm‘ ich hier in Geist- und Körperkraft.1

Diese Worte Faustens‘, den Kentauren Chiron in der Walpurgisnacht begegnend, bilden
den Ausgangspunkt meiner Betrachtung, die sich mit Friedrich Hölderlins Ode Chiron und
deren mythologischer Semantik auseinandersetzt. Chiron soll unter dem Aspekt seiner all-
umfassenden Heiltätigkeit interpretiert werden. Was bei Goethe als reimende Prädikationen
Chiron attestiert wird – für Faust ist Chiron durch sein tiefgreifendes Wissen der Inbegriff
des guten Medicus –, ist bei Hölderlin wesentlich verkompliziert: Hölderlin fasst den Zusam-
menhang zwischen der Benennbarmachung der Natur, der daraus abstrahierten Kenntnisse
und der medizinischen Instrumentalisierung derselben als ein geschichtsphilosophisch wie
anthropologisch relevantes Problem auf. Das Problembewusstsein über Chirons Metapo-
sition, die sich bereits generisch in seiner Doppelgestalt zeigt, soll den tentativen Zugang
zu Hölderlins Text ermöglichen.
Die alkäische Ode Chiron steht am Beginn der insgesamt neun Texte umfassenden
Nachtgesänge, die Hölderlin im Taschenbuch für das Jahr 1805. Der Liebe und Freund-
schaft gewidmet bei Friedrich Wilmans veröffentlicht. Dem veröffentlichen Text liegt die frü-
here Fassung Der blinde Sänger zugrunde. Beide Versionen unterschieden sich beträcht-
lich voneinander, was bereits durch die Veränderung der Sprechkonfiguration evident wird:
Der sich selbst apostrophierende blinde Sänger, der den Verlust eines göttlichen Zusam-
menseins beklagt und in der gegenwärtigen Nacht auf Erlösung hofft, ist durch die my-
thologische Figur Chiron ersetzt. Aus dieser Beobachtung heraus stellt Emil Staiger zu-
nächst die Frage, „warum der Sänger durch den Kentauren ersetzt ist“2. Die Ersetzung der
personal unbestimmten Sprechinstanz durch eine andere, mythologisch bekannte Figur
kommt einer inhaltlichen Neuausrichtung des Textes gleich. Chiron ist der neue, nun na-
mentlich manifest gewordene Fluchtpunkt der Ode. Das darin literarisch artikulierte Motiv
der Benennung der Natur ist Hölderlins gestalterische Methode in der Umarbeitung des
Blinden Sängers, der nun in seinem Titel die bestimmte Figur Chiron expressis verbis nennt.
Wie Chiron den Dingen einen Namen gibt, gibt Hölderlin seinem Βlinden Sänger einen
Namen. Der Prozess der Benennbarmachung, der in Chiron explizit thematisiert wird, mani-
festiert sich also bereits in der Neubenennung der Ode.

1
Goethe: Faust II. V. 7345 ff. Bd. 3. S. 224.
2
Staiger: Meisterwerke deutscher Sprache. S. 44. Staigers lapidare Bemerkung, Der blinde Sänger
sei „im großen und ganzen ein leicht zugängliches Stück“ (S. 44), wird von mir nicht diskutiert, ver-
weist aber auf die Steigerung der Komplexität jeglicher Parameter im Chiron.
3
Ferner ist es die Dimension des πάθος, das beide Fassungen klar voneinander dif-
ferenziert: Chirons Leiden ist ein anderes als das Leiden seines Vorgängers: „Weil Gift ist
zwischen uns.“ (VI, 2)3
Chiron ist – im Unterschied zum blinden Sänger – vergiftet worden. Um diesem
enorm kontextreichen und mythisch aufgeladenem Narrativ Hölderlins interpretatorisch ge-
recht zu werden, bemühe ich mich um eine hermeneutisch wortgetreue Untersuchung die-
ses Halbverses. Primär steht dabei die textimmanente Frage, welche inhaltliche Bedeutung
die mythologischen Bezugspunkte der Chiron-Figur in Hölderlins gleichnamiger Ode ein-
nehmen. In einem zweiten Schritt soll daraus ein eigenständiges, textexternes und auf Höl-
derlins Poetik zugespitztes Denkmodell abstrahiert werden, welches das mögliche Tor zur
dichterischen Spätphase Hölderlins sein könnte.
Meinem Unternehmen heuristische Beihilfe leistend, rekurriere ich zunächst auf Peter
Szondis Überlegungen zu Hölderlins Verwendung des Pfeilmotivs, das Szondi in seiner
Göttinger Antrittsvorlesung Der andere Pfeil (1962) erstaunlicherweise nicht mit Chiron ex-
plizit in Zusammenhang bringt. Szondis Beitrag konzentriert sich auf Hölderlins hymnisches
Werk, seine Pindar-Fragmente und seine nur 24 Verse umfassende Übersetzung der euri-
pideischen Bakchen. Im hölderlinschen Œuvre nehmen die Pindar-Fragmente den zwei-
felsohne größten theoretischen Bezugspunkt zu Hölderlins Verständnis der Chiron-Figur
ein. Eine bestehende Kontinuität zwischen Nachtgesängen und Pindar-Fragmenten ist
möglich, aber nicht unproblematisch, weshalb ich eine auf Chiron zugespitzte Neulektüre
anstrebe, die den oben zitierten Halbvers in das Zentrum meiner Analyse rückt.
Ein einführender Abschnitt greift ausnahmsweise über das Textmaterial hinaus, um
das in der griechischen Antike tradierte Vorverständnis Chirons, an das Hölderlin anknüpft,
zu abstrahieren. Der daraus gewonnene mythologische Status Chirons soll sodann die Be-
züge zu Szondis Studie plausibilisieren. Der Hauptteil der Arbeit ist gegliedert durch die
gesonderte Betrachtung des in seine Einzelteile zerstückelten Halbverses und dessen elo-
cutio mitsamt der damit verbundenen syntaktischen Veränderungen zu seinem Vorgänger-
text Der blinde Sänger. Vordergründig gilt die Hypothese, dass Hölderlins Deutung der
Wunde Chirons im Deckmantel der Poesie eine vom Mythos säkularisierte Dimension ein-
nimmt, die Hölderlin als ein grundlegendes anthropologisches Konfliktpotenzial gegenwär-
tigen – zumindest das, was er als „gegenwärtig“ verstanden hat – Menschseins begreift.
Ein abschließendes Fazit, das die Ergebnisse pointiert zusammenträgt, beendet den
argumentativen Teil der Arbeit, die grundsätzlich sowohl philologisch als auch kulturwis-
senschaftlich-philosophisch verfährt.

3
Hölderlin: Chiron. Zitiert nach Friedrich Hölderlin: Sämtliche Gedichte. Hg. von Jochen Schmidt.
Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 32014. Die in runden Klammern versehenen Zahlen
beziehen sich zuerst auf die jeweilige Strophe, dann auf den darin verwiesenen Vers.
4
2. Prolegomenon: Der unheilbare Heiler Chiron

2.1. Mythologisches Vorverständnis

Benjamin Hederichs Gründliches historisches Lexikon (1724 erstpubliziert) schreibt:

Einige wollen zwar zweifeln, daß jemals ein Chiron gewesen, [...] welches in so weit
wohl seine Richtigkeit hat, wenn er halb ein Mensch und halb ein Pferd gewesen seyn
soll, weil es dergleichen Geschöpfe freylich niemals gegeben hat.4

Das wesentlich umfangreichere und nahezu zeitgleich zu Hederich entstandene Grosse


vollständige Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, zuerst von Johann Hein-
rich Zedler ab 1732 herausgebracht, übernimmt diese Skepsis an der Existenz Chirons fast
wortwörtlich.5 Beide Lexikographen des 18. Jahrhunderts unterziehen Mythologie im Allge-
meinen einer im Duktus der Aufklärung stehenden Kritik, die alle Mutmaßungen über Fa-
belwesen und Phantasiegestalten beseitigen sollte. Trotz der zum Teil abwertenden Äuße-
rungen zum Wahrheitsgehalt mythologischer Vorstellungen ist Hederichs Lexikon „Hölder-
lins bevorzugte Quelle für Geschichten über antike Götter und Heroen“6.
Was wir von der eben zitierten Referenzstelle bei Hederich und Zedler übernehmen,
ist die irritierende Doppelnatur des Chiron. Das seltsam anmutende Mischwesen, das als
„Kentaur“ bezeichnet wird, besitzt den Oberkörper eines Menschen und den Unterleib eines
Pferdes. Hederich erklärt diese beispiellose Physiognomie durch das schamhafte Verhalten
seines Vaters Kronos, der sich aus Furcht vor seiner Gemahlin Rhea in ein Pferd verwan-
delt habe, als er in einem heimlichen Verhältnis mit Philyra Chiron gezeugt habe.7 Chirons
Eltern Kronos und Philyra sind Titanen und vererben Chiron deshalb ihre Unsterblichkeit.
In der Gestalt des Kentauren kulminieren die griechischen Vorstellungen der Wild-
heit der Natur. Ganzer betont, die Griechen hätten sich in den Kentauren das mythische
Bild für plötzliche Regenfälle mit verheerender Gewalt und niederstürzenden Wildbächen
geschaffen. Kentauren seien mit Dämonen der Wildbäche und mit Stromgöttern überhaupt
gleichzusetzen, wovon viele Kentaurennamen zeugten, die zugleich auch Flussnamen sei-
en. Ihr charakteristischer Zug, der das spezifisch Kentaurische ausmache, sei ihre ursprüng-
liche Wildheit und Rohheit, ihre unbändige Stärke und durchbrechende Gewalt.8 Zwar
erwähnt Hölderlin diese Konnotation der Kentauren-Figur nicht explizit in Chiron, ein Blick
in seine Pindar-Fragmente bestätigt aber Hölderlins Kenntnisse des Strommotivs:

4
Chiron. In: Gründliches mythologisches Lexikon. Sp. 710.
5
Vgl. Chiron. In: Grosses vollständiges Universal-Lexicon. Bd. 5. Sp. 2154.
6
Burdorf: „... ein Schmerz, / Wenn einer zweigestalt ist“. S. 141.
7
Vgl. Chiron. In: Gründliches mythologisches Lexikon. Sp. 707.
8
Vgl. Ganzer: Hölderlins Ode ‚Chiron‘. S. 36 f.
5
Der Begriff von den Centauren ist wohl der vom Geiste eines Stromes, so fern der
Bahn und Gränze macht, mit Gewalt, auf der ursprünglich pfadlosen aufwärtswach-
senden Erde.9

Hölderlins Kentaur ist nicht nur Wildheit und Natur. Chiron ist trotz seiner Allgewalt
der Schöpfer von Kultur. „Das wilde Feld entzaubernd“ (V, 1), wird die übermächtige Natur
in Chiron zum Erzeuger der senkrechten Bahn und des „gerad[en] Mann[es]“ (V, 2). Auch
raumsemantisch ist Chiron bereits im Mythos der Sphäre des Gebirges zugeordnet, das er
zum locus der kultivierten Geselligkeit macht: Unweit seiner Höhle im Gebirge veranstaltet
Chiron die Hochzeit des Peleus und der Thetis, bei der fast alle olympischen Götter geladen
sind. Peleus erhält von den Göttern drei Gegenstände, die er später seinem Sohn Achill
weitergeben wird: Speer, Rüstung und Ross. Die Ähnlichkeiten zur letzten Strophe im
Chiron sind frappant, weswegen Frye den unbenannten Knaben an dieser Stelle klar als
Achill identifiziert.10
Vom Gebirge aus kommt Chiron zu den Menschen ins Tal und wird dort deren geisti-
ger Mäzen. In der mythologischen Überlieferung gilt er als großer Erzieher und Arzt. Durch
sein umfassendes Wissen, das er in allen Bereichen des menschlichen Geschlechts, der
Gerechtigkeit, der Astronomie, der Jagd- und Kriegskunst und der Musik anwende, habe
man Chiron früh mit Weisheit11 assoziiert. Besonders aber zeichne er sich auf dem Gebiet
der Medizin aus, was Hederich etymologisch begründet: Der Name „Chiron“ nämlich stam-
me von griech. „χεὶρ“ (dt. „Hand“) und betone den außerordentlichen Gebrauch seiner Hän-
de, die ihn als guten Chirurgus und Wundarzt ausweisen.12
Auch der in Hölderlins Ode zitierte „Herakles“ (XIII, 4) sei neben vielen anderen Kul-
turheroen ein Schüler Chirons gewesen. Auffallend erscheint zunächst, dass „Herakles“ der
einzige Namen ist, der neben „Chiron“ explizit genannt wird. In der Stofftradition stehen sich
Chiron und Herakles sehr nahe, wie Hederich wiederum berichtet: Dem bei Chiron einge-
kehrten Herakles fällt unwillentlich ein Pfeil auf Chirons Fuß. Der Pfeil trägt an seiner
Spitze das Gift der Hydra, das sofort zum Tod führt. Doch durch seine titanenhafte Abstam-
mung kann Chiron nicht sterben. Die Folge sind unsägliche Qualen. Chiron sieht seine
Rettung nur in der Hoffnung auf Sterblichkeit, um die er Göttervater Zeus inständig bittet.
Chirons Verzicht auf Unsterblichkeit schenkt dem gefesselten Prometheus dann die Freiheit.13
Damit ist die mythologische Ausgangsposition paradox: Chiron gilt als Inbegriff des
Heilers, kann seine eigene Wunde aber nicht heilen und ist für seine Erlösung auf eine

9
Hölderlin: Das Belebende. In: Sämtliche Werke und Briefe. S. 384.
10
Vgl. Frye: Hölderlins ‚Chiron‘. S. 598. Pindar berichtet in seiner 3. Nemeischen Ode ausführlich
von der hier zitierten Hochzeit.
11
Um 1800 wird Chiron als Sinnbild des guten Erziehers rezipiert, was sich in diversen Illustrationen
widerspiegelt: Bezeichnenderweise zeigt eine zeitgenössische Ausgabe von Rousseaus Èmile Achill
auf dem Rücken seines Lehrmeisters Chiron.
12
Vgl. Chiron. In: Gründliches mythologisches Lexikon. Sp. 707.
13
Vgl. Ebd. Sp. 709.
6
Fremdinstanz angewiesen. Zedler liefert eine eigentümliche Erklärung für den sonderbaren
Tod Chirons: „Er starb aber endlich selbst noch, weil die Wissenschaften, wenn sie aufs
höchste gekommen, auch [...] wieder in Abnahme kommen, und gleichsam ersterben.“14
Dieser geradezu aufklärungsskeptische Ton Zedlers passt eigentlich nicht zum Pro-
gramm der Lexikographen im 18. Jahrhundert, denn Zedler vollzieht eine Einschränkung
des wissenschaftlichen Betriebs durch die Annahme einer notwendigen Agonie der Wis-
senschaftlichkeit. Nimmt man Zedler ernst, so sieht er gerade in Chiron die Notwendigkeit
im Scheitern des nach Wissen dürstenden – und damit sich selbst aufklärenden – Men-
schen.
Hölderlins Chiron mag von diesen Überlegungen nicht gänzlich unberührt bleiben, so
wird Chiron im Pindar-Fragment Das Belebende doch als „ursprünglich[r] Lehrer der Na-
turwissenschaft“15 bestimmt. Dennoch scheint mir Hölderlins Auffassung des Chiron in sei-
ner gleichnamigen Ode über die rein aufklärungskritische Ebene Zedlers hinauszureichen:
Kann göttliche Vollkommenheit mangelhaft werden? Chirons Leiden ist kein Re-
sultat einer vorher begangenen ὓβρις. Gerade das Ausbleiben eines moralischen Fehlver-
haltens betont Chirons Gutheit und Wohlgeratenheit. Seine Göttlichkeit wird mit der Ver-
giftung durch Herakles aber pervertiert: Sie wird zum großen Hindernis und zum Katalysator
seiner Qualen. Mit Herakles‘ Pfeil beginnt Chirons Natur, sich an ihrer eigenen göttlichen
Integrität abzumühen.

2.2. Peter Szondis Anthropologisierung des Leidens

„Pfeil“ ist, wie Peter Szondi gezeigt hat, ein Schlüsselwort Hölderlins der entscheidenden
Jahre von 1800 bis zu seinem Zusammenbruch. In der zu dieser Zeit entstandenen Dich-
tung finde sich das Wort „Pfeil“ viermal. Dreimal bezeichne es metonymisch die Strahlen
der Sonne oder den Blitz. In einer Lesart zu seiner Ode Lebenslauf ersetze es das zunächst
geschriebene Wort „Blitz“.16 Szondis Argumentation beleuchtet dann die vierte Referenz-
stelle, in der vom anderen Pfeil die Rede ist.
Im Prosaentwurf zur späteren Hymne Wie wenn am Feiertage... heißt es: „Aber wenn
von selbstgeschlagener Wunde das Herz mir blutet“. In einer früheren Fassung war der
Halbsatz abgewandelt in „Aber wenn von anderem Pfeile das Herz mir blutet“17. Szondi
sieht in dieser Veränderung vom anderen Pfeile zur selbstgeschlagenen Wunde eine
grundsätzliche Abwandlung im Dichten des späten Hölderlin:

Der ‚andere Pfeil‘ kommt nicht vom Gott, sondern vom Menschen selbst: die Wunde
hat sich der Mensch selber geschlagen. An die Stelle des Mitleidens der Leiden des

14
Vgl. Chiron. In: Grosses vollständiges Universal-Lexicon. Bd. 5. Sp. 2154.
15
Hölderlin: Das Belebende. In: Sämtliche Werke und Briefe. S. 384.
16
Vgl. Szondi: Der andere Pfeil. S. 19.
17
Beide Verse hier nach Szondi zitiert. Ebd. S. 18.
7
stärkeren Gottes, der dennoch der Menschen bedarf, tritt das Leiden an sich selber,
an der eigenen Schwäche.18

Anders ist dieser Pfeil in zweifacher Hinsicht: Er stammt aus einem zweiten Köcher.
Nicht der Gott ist der Schütze, sondern der Mensch selbst. Diese Betonung der anthropo-
logischen Ebene stellt die erste Verbindung zu Chiron her. Chiron ist der große Lehrmeister
der Menschen. Ähnlich wie Prometheus stiftet er Kultur. Allerdings ist die Quelle seiner
Taten – und dadurch unterscheidet er sich von ähnlichen mythologischen Wesen – sein
eigenes Wesen. Prometheus raubt das Feuer der Olympischen, um es den Irdischen zu
bringen, was der Genese von Kultur eine genuin extrinsische Bewegrichtung verleiht.
Göttlichkeit wird dabei nicht destruiert, sondern als notwendig konstitutiv zum Prozess
der Kulturwerdung vorausgesetzt. Das gerade unterscheidet Prometheus von Chiron:
Seine kulturschöpferische Potenz ist in ihm intrinsisch verankert. Die Hand ist nicht nur
namensgebend, sondern zugleich äußere Manifestation seines ungeheuren, schöpferisch
angelegten Potentials.
Ferner unterscheidet sich Chiron in einem zweiten Aspekt von anderen Kulturstiftern:
Die Inklusion von Peter Szondis Überlegungen zu Hölderlins „Pfeil“ gelingt nur, wenn jener
Pfeil, der Chiron unbeabsichtigt trifft, als von ihm selbst ausgehend gedeutet wird. Faktisch
ist Chiron im Mythos passivisch und wird von Herakles getroffen. Doch vielleicht wird die
Wunde deshalb derart toxisch, weil Herakles‘ Pfeil eine bereits latente Verwundbarkeit Chi-
rons offenlegt? Herakles‘ Pfeil kann Chiron nur verwunden, weil dieser sich an seinem ei-
genen Wesen verletzt. Der andere Pfeil wird – wie Peter Szondi festgestellt hat – in Hölder-
lins Vorfassungen zu Wie wenn am Feiertage... terminologisch zur selbstgeschlagenen
Wunde und in Chiron ideologisch zum sich selbst verletzenden Chiron umgewandelt.
Das eigentlich höchste Attribut göttlicher Eigenschaftszuschreibungen, seine Unster-
blichkeit, mutiert in Chiron zur entscheidenden Schwäche: Chiron hat an seinem Eigenen
nicht mehr genüge, denn er beginnt, an seiner unsterblichen Abstammung zu freveln. Damit
versündigt er sich nicht mehr extern – wie Prometheus –, sondern intern an sich selbst,
was die Grundkonfiguration eines tragischen 19 Konflikts supponiert und die Flugbahn des
Pfeiles gegen sich selbst lenkt.

18
Ebd. S. 19.
19
Der Begriff des „Tragischen“ mag für eine Gesamtdeutung der späten Dichtung Hölderlins von
Bedeutung sein, weil Hölderlins Beenden der Arbeit am Empedokles in seine lyrische Beschäftigung
mündet. Ganzer geht der Spur nach und versucht, Hölderlins Chiron als ein „tragisches Gedicht“ zu
lesen, das allein in seiner Struktur das Schema der Tragödie analogisiere. Vgl. Ganzer: Hölderlins
Ode ‚Chiron‘. Insb. S. 71 ff.
8
3. Chirons Wunde als Ausgangspunkt dichterischer Genese
Das nun geschaffene mythologische Vorverständnis zeigt, dass Hölderlin an die Tradition
des vergifteten Chiron anknüpft, was wiederum die Wichtigkeit des hier zur Diskussion ste-
henden Halbverses „Weil Gift ist zwischen uns“ (VI, 2) bestätigt. Der Halbvers ist als Neben-
satz in einen übergeordneten Hauptsatz integriert, der durch die Inklusion des Nebensatzes
gesperrt ist: „Aus frischer Erd‘ und Wolken der Liebe schafft, | Weil Gift ist zwischen uns,
mein Gedanke nun;“ (VI, 1–2). Die ungewöhnliche syntaktische Anordnung der Phrasen ist
durch ein erstes inhaltliches Motiv Chirons zu erklären: Die Stilfigur der Inversion – also die
bewusste Abweichung vom gewöhnlichen syntaktischen Ordnungsprinzip – repräsentiert
auf literarischer Ebene Chirons wesenhafte Disharmonie. Chiron ist als Kentaur ein
Mischwesen aus zwei Halbwesen, dessen Gestalt höchst befremdlich erscheint, denn

wozu sollte ein reitfähiger Vierbeiner statt mit dem ihm zugehörigen Kopf mit einem
menschlichen Oberkörper ausgestattet werden und so zusätzlich zu den vier Beinen
zwei Arme bekommen?20

Abgesehen von diesem etwas ins Lächerliche abzielenden Duktus, verweist Burdorf in die-
sem Kommentar auf die unklar zu imaginierende Bildlichkeit der chironschen Gestalt. Höl-
derlins textliche Gestaltung seiner Ode ist geprägt von der Amorphie seiner mythischen
Referenzfigur. Die vom Mythos herrührende Aufgabe, einen Kentauren zu imaginieren, wird
durch die Sperrung des Verses poetisch getriggert und zu einem „Denkbild der Zerrissen-
heit“21.
Der Leser steht vor der Herausforderung, die in sich gesperrten Einzelsegmente des
Kentauren zu einem Ganzen zusammenzufügen. „Mein Gedanke“ (VI, 2) ist zunächst un-
problematisch als Subjekt zu identifizieren. Als Prädikat zum Subjekt fungiert das flektierte
Verb „schafft“ (VI, 1) der vorherigen Verszeile. „Aus frischer Erd‘ und Wolken der Liebe“
dient dem schaffenden Gedanken als Dativobjekt auf die Frage, woraus der Gedanke
schaffe. Das an letzter Stelle des Hauptsatzes platzierte Adverb „nun“ (VI, 2) festigt die
schöpferische Tätigkeit des Gedankens im Modus der präsentischen Rede. Verstärkt wird
die zeitliche Situierung durch die im Nebensatz vollzogene Inversion des Prädikats: „Weil
Gift ist zwischen uns“ (VI, 2, Hervorhebung H.M.). Diese durch die syntaktische Verdrehung
vollzogene totale Zentrierung des flektierten Verbums „Sein“ evoziert eine Emphase der
Dimensionierung des Präsentischen.
Außerdem muss dieser in die Mitte der zwei Verszeilen gesetzte Nebensatz durch
sein einleitendes Adverb „Weil“ (VI, 2) als Kausalsatz verstanden werden. Diese syntakti-
sche Anordnung des Nebensatzes als Einsprengsel in den Hauptsatz zielt auf den Kern

20
Burdorf: „... ein Schmerz, / Wenn einer zweigestalt ist“. S. 140.
21
Die Bezeichnung stammt von Walter Benjamin. Hier zitiert nach Burdorf: „... ein Schmerz, / Wenn
einer zweigestalt ist“. S. 140.
9
der dichterischen inventio ab: Der Grund für die schöpferische Tätigkeit des Gedankens
liegt in seinem Zwischensein – in seinem „Dazwischensein“ zwischen Prädikat und
Subjekt und in seiner anatomischen Nahtstelle zwischen Menschen- und Pferdeleib.
Alle aufgelösten Inversionen ergeben folgende Paraphrase der zwei Verse: Mein Ge-
danke schafft nun aus frischer Erde und Wolken der Liebe, weil Gift zwischen uns ist.

3.1. Vergleich der Vorfassung Der blinde Sänger

Bevor die Untersuchung auf semantischer Ebene fortfahren kann, liegt es auf der Hand, die
eben analysierten Verse mit ihrer Vorfassung zu vergleichen:

Der blinde Sänger Chiron

Aus Lieb und Leid der helleren Tage Aus frischer Erd‘ und Wolken der Liebe
schafft | schafft, |
Zur eignen Freude nun mein Gedanke Weil Gift ist zwischen uns, mein Gedanke
sich, nun;
(VI, 1–2)22 (VI, 1–2)

Beide Texte verfahren im Modus eines Rollengedichts, dessen Sprechinstanz das


lyrische Ich ist. Der blinde Sänger beklagt den Verlust einer ursprünglichen Verbundenheit
mit der All-Einheit der Natur, was durch das Attribut der Blindheit zum Ausdruck gebracht
wird. Der geblendete Dichter ist aus einer inzwischen zurückliegenden Harmonie abge-
trennt und damit ganz auf sich selbst zurückgeworfen. Sein Blick ist nicht nach vorne ge-
richtet, sondern schwelgt in sehnlichster Erinnerung an die verlorene Einheit mit der
Göttlichkeit. Demzufolge ist es nicht das nachdenkliche Du (vgl. Vers I im Chiron), son-
dern das jugendliche Du (vgl. Vers I im Blinden Sänger), das vom Klagen des lyrischen
Ichs apostrophiert wird.
Die Himmlischen zu empfangen heißt für den blinden Sänger noch, zu ihnen zurück-
zukehren. In Chiron ist die zeitliche Konfiguration eine andere: Chiron leidet nicht unter
Augenproblemen, kann demnach sehr wohl seinen Blick in die Zukunft richten. Gerade
die Beibehaltung seiner Sehkraft ermöglicht Chiron die Reflexion über sein eigenes Sein.
Diese Reflexion, die im Modus der Literatur bereits durch den Einleitungsvers „Wo bist du,
Nachdenkliches!“ (I, 1) programmatisch vorweggenommen wird, findet im Akt des präsen-
tischen Sich-Selbst-Betrachtens statt, weswegen die Version von Chiron die zeitliche Situ-
ierung emphatisch an die männlich betonte Kadenz der Verszeile stellt.

22
Hölderlin: Der blinde Sänger. Die Referenzstellen aus dem Blinden Sänger werden auch nach der
von Schmidt besorgten Ausgabe zitiert. S. 309–311.
10
Ferner hat die Positionsveränderung dieses Zeitadverbs „nun“ auch metrische Folgen
für den gesamten Bau des Verses, was durch einen Blick auf das Schema der alkäischen
Ode manifest wird:
◡ — ◡ — ◡ ǁ — ◡ ◡ — ◡ —
◡ — ◡ — ◡ ǁ — ◡ ◡ — ◡ —23
Die verstärkte Tendenz zur Inversion im Chiron äußert sich auch auf metrischer Ebene,
denn die Zäsur der alkäischen Odenform zwingt den Leser, den erst in Chiron eingefügten
Nebensatz nochmals zu zerstückeln: „Weil Gift ist zwischen || uns, mein Gedanke nun“ (VI,
2). Das damit zur Erlahmung kommende Sprechtempo in der Mitte des Nebensatzes wird
durch den über die Satzgrenze hinausreichenden Daktylus wieder beschleunigt, was Frank
als das Grundcharakteristikum dieser Odenform ausweist:

Das Wesen dieser kunstvoll gebauten Strophe liegt in dem Widerspiel ihrer Bewegung.
Diese ist zunächst und zumeist jambisch: ein gleichmäßiges Schreiten. So beginnt der
erste Vers mit einem Auftakt und regelmäßig alternierend. Die Zäsur in der Versmitte
läßt diese Bewegung stocken, doch der folgende Daktylus beschleunigt sie wieder.24

In seinen Anmerkungen zur Antigonä bezeichnet Hölderlin die Zäsur als „kühnstes Mo-
ment“, weil sie „die Art [sei], wie in der Mitte sich die Zeit wendet“25. Hölderlin hat gewiss
die Peripetie der Tragödie im Sinn, in welcher der Konflikt des Protagonisten nun unaus-
weichlich der Katastrophe zusteuert. Dabei fällt auf, dass es gerade die Leerstelle der
Zäsur ist, die Hölderlin als Umschlagepunkt des zeitlichen Geschehens versteht. Die Zäsur
ist achronisch, und ihr bewusster Einsatz löst den stets chronisch situierten Ablaufs der
Handlung von seiner Zeitlichkeit los. Gerade diese gekappte Partizipation am Fortlaufen
von Zeit – man könnte die Zäsur durchaus ontologisch als zeitliches Nicht-Sein verstehen26
– ermöglicht Hölderlin, Sprünge in der Zeit zu denken, was zur Grundkonzeption des
Chiron gehört: Es geht um den salto mortalis des Gottes Chiron zum Menschen Chiron.
Chirons Zerrissenheit ist also in dreifacher Weise poetisch markiert: Durch seine
mythologische Tradition inhaltlich (1), durch den bewussten Bruch der Syntax im Stilmittel
der Inversion (2) und gleichsam durch die rhythmische Brechung der Verse am metrischen
Ordnungsprinzip der alkäischen Odenform (3), die von sich aus schon durch einen Wider-
streit zwischen Statik und Dynamik ausgezeichnet ist.

23
Hier nur die ersten zwei der insgesamt vier Verszeilen der sog. „alkäischen Strophe“ zitiert nach:
Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen. S. 259 ff.
24
Ebd. S. 260.
25
Hier zitiert nach Bertaux: Hölderlin. S. 397.
26
Worauf Bertaux nicht eingeht, ist die superlativisch ausgewiesene Kühnheit der Zäsur. Wenn Höl-
derlin von Superlativen spricht, dann hat das seine Gründe. Am „kühnsten“ ist die Zäsur deshalb,
weil sie die Handlung von ihrer notwendigen Koppelung an Zeitlichkeit loslöst. Der Gang der
Handlung wird für eine unbestimmte Zeit – eben eine Leerstelle, ein Nicht-Sein – gebrochen und
markiert gerade durch dieses gewaltsam eingedrungene Ende die Möglichkeit eines Neubeginns
von Zeit.
11
In beiden Versionen sind nur zwei Wörter identisch: Der Auftakt mit der Präposition
„Auf“ am Anfang der ersten Verszeile und das am Versende stehende „Schafft“, das in
beiden Texten als Prädikat der zwei Verse fungiert. Ebenso wird der „Gedanke“ sowohl im
Blinden Sänger wie auch im Chiron als Subjekt gebraucht. Abstrahiert man von den inhalt-
lich anders besetzten Dativobjekten, bleibt das Reflexivpronomen „Sich“ übrig, das der
Prädikation des Satzes im Blinden Sänger eine entscheidende, andere 27 Richtung verleiht:
Der blinde Sänger hat sich und sein Leiden selbst im Blick. Der Bruch mit der für Einheit
stehenden Göttlichkeit wird unter der Perspektive der eigenen kosmischen Disparatheit be-
trachtet, was die reflexive Verwendung des Sich-Schaffens im zweiten Teil des Halbverses
erklärt: Der Gedanke schafft sich – in absoluter Individualität begriffen – „zur eigenen Freu-
de“ (VI, 2) selbst. Im Chiron behält Hölderlin die Subjektstellung des Gedankens, formuliert
die Prädikation des Verses aber neu: Ausgerechnet das auf sich selbst rückbezogene „sich“
verschwindet in der Umarbeitung der Ode zu Chiron. Das proleptisch vorweggenommene
Schaffen ist nun nicht mehr reflexiv gebraucht, was eine transitive Lesart erst ermög-
licht. Bindeglied der beiden Verse ist das jetzt syntaktisch am Ende des Verses stehende
„Nun“ (VI, 2). Durch die Streichung des reflexiven Verbgebrauchs könnte dieses „Nun“ das
Akkusativobjekt des dann transitiv verstandenen Schaffens sein: Der Gedanke schafft nicht
mehr sich selbst – und damit ein mögliches adverbiales Nun, das nur Teil seiner Selbst-
schaffung ist –, sondern ein Nun, das verstanden ist als eine neue Form von objektiver
Gegenwärtigkeit.

3.2. Aspekte des Dazwischenseins

3.2.1. Zeitlichkeit
Die Emphase der Gegenwart im Chiron ist die essentielle Veränderung zur Vorfassung. Mit
Chiron denkt Hölderlin eine neue Seinskonfiguration, παρουσία, die aus ihrer Gegenwart
heraus auf eine neue Form von Zukunft hinweist. Es mag zunächst befremdlich erscheinen,
dass Werner Hamacher – im Miteinbezug zutreffender biblischer Kontexte – παρουσία του
κυρίου ausgerechnet mit „Zukunft des Herrn“28 übersetzt. „Παρουσία“ ist ein griechisches
Kompositum, das sich aus dem Präfix „παρά“ (dt. „dabei“ oder „da“) und dem Partizip
„ουσία“ (dt. „Sein“, „Wesen“ oder „Wesenheit“) zusammensetzt. Wortwörtlich müsste man
eigentlich von einem „Da-Sein“ sprechen. Zeitlichkeit und Wesenhaftigkeit werden also in
„παρουσία“ wortkompositorisch zusammengeführt. Die christliche Theologie bedient sich

27
Um mit Szondi zu sprechen, könnte man pointiert sagen: Der Pfeil, den Chiron abschießt, ist dem
Pfeil des blinden Sängers kehrt gewendet.
28
Hamacher: Parusie, Mauern. S. 94. Hamacher rekurriert u.a. auf Briefäußerungen Hölderlins. Ha-
machers Argumentation versucht, aus dem Begriff der „Παρουσία“ auf Räumlichkeit und Zeitlichkeit
in der Poetik Hölderlins zu schließen. Hamacher übernimmt an dieser zitierten Stelle die von Luther
vorgeschlagene Übersetzung eines Paulus-Zitats. Die Möglichkeit, die Genitivkonstruktion sowohl
als genitivus subiectivus wie als genitivus obiectivus aufzufassen, diskutiert Hamacher nicht.
12
dieser Wortneuschöpfung in der „Ankunft Christi“ und installiert „παρουσία“ als einen
zentralen Fluchtpunkt ihres heilsgeschichtlichen Denkens. Etwas bereits Dagewesenes –
Jesus als Menschensohn – kehrt als etwas Neues, aber in seiner wahren Gestalt – Jesus
als Gottessohn – zurück. Damit ist der semantische Fokus von „παρουσία“ neben seiner
gegenwärtigen Bedeutung um das Begriffsspektrum des Zukünftigen, das aus dem bereits
Vergangenen schöpft, erweitert.
Ferner verwundert es, warum Hamacher die platonische Bedeutung des Wortes als
zweite wichtige Referenzstelle ausspart, wiewohl Hölderlin diese bestimmt ebenso gekannt
haben muss: Innerhalb seines ontologischen Konzeptes bedeutet παρουσία bei Platon die
Gegenwart oder Anwesenheit der Ideen in den Dingen, welche an ihr – an der παρουσία –
teilhaben.29 Dahinter verbirgt sich die Annahme eines Immer-schon-Seins, das Platon den
Phänomenen der vergänglichen Dinge auferlegt und sie damit an eine Prä- und Postexis-
tenz nach ihrem sinnlichen Vergehen koppelt. Die Schwierigkeit im Verständnis des Begriffs
liegt in der Polyvalenz seiner Semantik, da diese in Abhängigkeit ihres jeweiligen ontologi-
schen Gesichtspunktes changiert. Grundsätzlich unterscheidet Platon zwischen dem „stets
Seiende[n] [ὂν ἀεί], das Entstehen nicht an sich hat“ und dem „niemals Seiende[n]“, das
stets im Werden begriffen ist [„γιγνόμενον μὲν ἀεί“]. Innerhalb dieser Dualität ist das Unent-
standene mit dem Göttlichen, das Entstandene mit dem Vergänglichen gleichzusetzen. Der
menschliche Intellekt kann durch spezifische Formen seiner Denktätigkeit beide Bereiche
erfahren. Das immer Seiende erreiche er durch Vernunft („μετὰ λόγου“)30, das immer Wer-
dende durch Meinung (δόξα). Durch die Loslösung des immer Seienden von jedweder Zeit-
lichkeit entzieht sich das immer Seiende vom Zyklus des Werdens und Vergehens, was ihm
eine Sonderstellung einräumt: Weil das immer Seiende seinem Wesen nach nicht vergehen
kann – also keine Aussicht auf Rück- oder Fortschritt besitzt –, erreicht es den Status von
unumstößlicher Wahrheit und damit Göttlichkeit.
Das heißt für unsere Überlegung: Παρουσία kann aus der Perspektive einer göttlich
angenommenen Idee gar nicht Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft bedeuten, weil es
diese Auffächerungen von Zeitlichkeit innerhalb eines ewigen, nie vergehenden und des-
halb ruhenden Reichs der Ideen nicht gibt. Ewig zu sein, heißt im platonischen Sinn, nicht
entstanden zu sein. Unsterblichkeit ist deshalb nur eine weitere Umschreibung ex nega-
tivo für Inexistenz.

29
Ich habe den Terminus „Ontologie“ bewusst vermieden, weil es eine solche bei Platon als systema-
tisch ausgearbeitete Lehre nicht gibt. Die entscheidende Referenzstelle, auf die ich mich hier be-
ziehe, ist Platons Phaidon, 100c ff. Darin weist Platon eine Beziehung der Seinsebene mit der zu ihr
korrespondierenden Ebene des Seienden nach. Epistemisch wahrgenommene Dinge sind durch ihre
Teilhabe (παρουσία) an ihrer Idee mit derselben verbunden. Dies zeige sich besonders an der Idee
der Schönheit.
30
Die vier Nachweise aus Platon: Timaios, 27d ff.
13
Der mit Unsterblichkeit ausgestattete Chiron ist gerade wegen seiner Unsterblichkeit
nicht entstanden. In der Sehnsucht nach dem eigenen Vergehen drückt Chiron
seinen innigsten Wunsch nach Entstehung aus. Das Begehren, sterben zu können,
ist in Wahrheit der sehnlichste Schrei danach, leben zu können. Die Wunde, die Herakles
Chiron zufügt, ist der Ausgang aus seiner eigentlichen Strafe, nicht sterben zu können.
Mit dieser radikalen Umwertung der Sphäre des Göttlichen mit jener des Vergänglichen
geht das Bestreben nach eigener Destruktion einher, weil erst diese neue schöpferische
Potenz bedeutet – denn nur das, was vergehen kann, das kann auch werden.
In der Kunst des Sterbens ermöglicht sich Chiron erst ein individuell gestaltbares Le-
ben. Das Rätsel des Lebens liegt in einer scheinbaren Paradoxie begraben: Es bedarf der
eigenen Sterblichkeit, um überhaupt zur Möglichkeit einer vitalen Lebensweise zu gelang-
en. Der „Stachel des Gottes“ (10, I) hemmt Chiron, weil er das Tor zum eigenen Leben
verschließt. Deshalb wertet Chiron seine göttliche Natur radikal ab, um sie durch die
menschliche Komponente zu supplementieren.
Die Gedankenfigur übernimmt Hölderlin wiederum aus dem Blinden Sänger, der mit
dem warnenden Ruf endet: „O nimmt, daß ichs ertrage, mir das | Leben, das Göttliche mir
vom Herzen.“ (XIII, 3–4) Der Lebensüberfluss, der hier geteilt wird, ist schrecklich, weil die
göttliche Fülle das Endlichsein des blinden Sängers übermannt. Im emphatisch ausge-
rufenen „O“31 manifestiert sich zugleich die Teilhabe am Göttlichen (παρουσία), aber auch
die Furcht vor demselben.
Die Gegenwart des blinden Sängers ist eine immer schon historisierte, weil sie sich
aus einem bereits vergangenen harmonischen Zusammenleben mit dem Göttlichen kon-
stituiert. Das gegenwärtige Leben wird als schmerzliche Trennung begriffen und dadurch
abgewertet, weil es von seiner eigentlichen Ureinheit mit dem Göttlichen losgelöst ist. Die
Erlösung des Todes ist kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt in ein bereits Vergangenes.
Die παρουσία des Chiron ist eine gänzlich andere, weil sie eine neue Form von Ge-
genwärtigkeit meint: Chirons Blick richtet sich nach vorne. Seine göttliche Vergangenheit
ist sein Stachel, um in eine neue Beschaffenheit von Zukunft zu schauen. Das Göttliche
muss Chiron abtöten, um selbst sein zu können. Nur über die Nobilitierung des Mensch-
lichen kann Chiron überhaupt den Übergang vom Sein zum Werden schaffen:

Das menschliche Los, sterben zu müssen, führt wiederum zum Aufheben der mensch-
lichen Schranken, zum Erlebnis des göttlich Alleinenden. Paradoxerweise bedarf also
der göttliche Chiron des sterblichen menschlichen Teils, um zur vollen Potenz des
göttlichen zu gelangen.32

31
Es sei erwähnt, dass im Blinden Sänger insgesamt sechs solcher Ausrufe auftauchen. Hölderlin
reduziert die Anzahl in seiner Umarbeitung zum Chiron und beschränkt das „O“ auf die Erde („o
Erde“, XII, 2) und auf den neu apostrophierten Knaben der Schlussstrophe („o Knabe“, XII, 2).
32
Frye: Hölderlins ‚Chiron‘. S. 603.
14
Das Göttliche bleibt also das Telos im Bestreben Chirons. Es ist zugleich Ausgangs- und
Endpunkt seiner Entwicklung. Das Menschliche wird als Stadium zwischengeschaltet, ist
aber nicht mehr – wie etwa noch im Blinden Sänger – abgewertet, sondern in Chiron um-
besetzt als Möglichkeit einer neuen Hinwendung zur Göttlichkeit.
Im ungewollten Treffen des vergifteten Pfeils auf Chiron sieht Theo Pehl die „Ent-
zweiung von Welt und Mensch“33. Ich sehe die Tendenz zur Entharmonisierung bereits in
Chirons Wesen angelegt: Der Bruch mit der Göttlichkeit vollzieht sich, „[w]enn einer zwei-
gestalt ist“ (IX, 3). Chirons seltsames Wesen inhäriert seine Abspaltung vom Göttlichen,
was die kausale Verwendung des Nebensatzes „Weil Gift ist zwischen uns“ (VI, 2, Hervor-
hebung H.M.) nun erklärt: Chirons „Dazwischensein“ liefert die Begründung für seine Ver-
giftung, die eben nicht vom Pfeil ausgeht, sondern lediglich von ihm getriggert wird. Der
Pfeil, der Chiron eine neue Bahn zu sich selbst ebnet, ist die einzige Gerade in seinem
sonst gänzlich amorphen Wesen.

3.2.2. Räumlichkeit
Die Gerade findet sich in Chirons Schülern, seinen Erzeugnissen, wieder: Die Prolepse der
fünften Strophe nimmt Herakles, den „gerade[n] Mann“ (V, 2), vorweg. Eine Gerade wird
nur in ihrer Begrenzung durch zwei Punkte existent. Die Gerade ist deshalb das Sinnbild
des säkular gewordenen Chiron, weil er in seiner Begrenzung der eigenen Endlichkeit zum
Leben findet. Ebenso steht die Gerade für die Betonung des Gegenwärtigen, denn der „ge-
rade Mann“ (V, 2) ist gleichsam der „gerade gewordene“ wie der „aufrecht gehende“ Mann.
Die Natur kennt keine Gerade. Geraden sind Idealisierungen bestimmter möglicher,
aber nicht existenter Erscheinungsformen der Natur. Die Gerade ist etwas sekundär Ge-
formtes, dessen Erzeuger der mit großen Geschick ausgestattete Chiron ist. Sein Werk-
zeug bestimmt zugleich sein Wesen: die Hand. Im bewussten Einsatz seiner Hände be-
stimmt sich Chiron selbst und schafft die neue Dimension des geraden Raumes. Da-
durch hebt Chiron

das Monstrum aus der Natursphäre heraus, da nur der Mensch ein Wesen ist, das
Hände hat. Oder genauer gesagt, nicht er hat sie, sondern wie Heidegger formuliert,
‚die Hand hat das Wesen des Menschen inne.‘ ‚Nur ein Wesen das spricht, d. h. denkt,
kann die Hand heben, und in der Handhabung Werke der Hand vollbringen.‘34

Heidegger sieht einen direkten Zusammenhang zwischen der Denkfähigkeit Chirons und
seiner bewussten Verwendung seiner Hände. Durch Chirons Hände manifestiert sich sein
Denken. Das Ergebnis dieser ersten gemeinsamen Tätigkeit ist Chirons gerade Linie – ein
völliges Novum in der Natur, das zugleich den Prozess der Loslösung von der Natur ein-
leitet.

33
Pehl: Hölderlins ‚Chiron‘. S. 505.
34
Kocziszky: Mythenfiguren in Hölderlins Spätwerk. S. 19.
15
Chiron steht am Beginn einer Entwicklung, die sich – räumlich wie zeitlich – um die
Konstruktion und Auffindung eines neuen Lebensortes bemüht. Die Gerade ist die neue
Bahn, die mir Chiron begangen werden muss und unentwegt in den Winkel von Hahrdt, den
letzten Text35 der Nachtgesänge, mündet. Der Winkel ist das Schlupfloch, das durch die
Begegnung zweier zueinander in Beziehung stehender Geraden entsteht. Im Winkel von
Hahrdt hat Hölderlins Dichtung das gefunden, was sie im Chiron zu suchen beginnt.
Chirons Bruch mit göttlicher Ewigkeit ist zugleich eine Abwendung seiner selbst auf
räumlicher Ebene. Die Verbindung zwischen Sein, Zeit und Raum steht ebenfalls in der
Denktradition des Timaios, worin Platon den Raum als die „Amme des Werdens“ [τῆν δε δὴ
γενέσεως τιθήνην, 52d] bestimmt. Vergänglichkeit und Entstehen sind an ein räumliches
Kontinuum gekoppelt, das den Status einer apriorischen Gültigkeit vor der sinnlich erfass-
baren Wirklichkeit einnimmt. Im Anschluss im Timaios heißt es, dass „das Sein“ [όν], der
Raum [χώραν] und das Werden [γένεσιν] [...] drei gesonderte Gattungen [bilden,] die schon
bestanden, ehe denn noch die Welt ward“ (52a). Die Gattung des Raumes aber sei „dem
Untergange nicht unterworfen, welche Allem, was ein Werden hat, eine Stätte gewährt,
selbst aber den Sinnen unzugänglich“ (52 a–b) bleibt.
Zugänglich wird die Apriorizität des Raumes innerhalb einer nur imaginierten Wirklich-
keit: der Dichtung selbst. Hölderlins Dichtung greift über die Schranken der Sinnlichkeit
hinaus, indem sie uns den Weg zu einer neuen Form von dichterischer Existenz ebnet.
Chirons Wunde, die durch den geraden Pfeil gegen sich selbst gerichtet wird, ist die einlei-
tende Denkfigur dorthin: Die Loslösung von göttlicher Abstammung erfordert die Bereit-
schaft zur Selbstdestruktion.
Chiron – jetzt absolut polyvalent als Gestalt und als Text begriffen – demonstriert
diesen Prozess auf mythischer wie auf textlicher Ebene. In Chiron wird das Monstrum
zeigend, indem es seine eigene Tendenz zum Zeichenhaften de-monstriert. Dieser
Gedanke stammt von Derrida, der die französische Übersetzung36 des Anfangsverses von
Hölderlins Mnemosyne mit dem folgenden Hinweis legimitiert: „De/Monstrieren, das ist
Zeigen, beweisen, und ein Monstrum ist eine Zeige, eine Schau, eine Uhr.“37
Deiktisch erfasst werden kann nur, was zugleich benannt wird. Durch Chirons De-
monstrieren wird die Möglichkeit der Benennbarmachung der Natur erst evident. „Aber das
Nennbare nur“ (IV, 4) ist der resultative Prozess, der mit Chirons Wunsch nach Endlichkeit

35
Die Anordnung der neun Nachtgesänge ist problematisch, weil keine Handschrift erhalten ist, wel-
che die Intention Hölderlins bestätigen könnte. D. E. Sattler bestreitet, dass Der Winkel von Hahrdt
der finale Text der Nachtgesänge sei. Wiederum andere Philologen zweifeln nicht daran. Immerhin
spricht die Publikation Wilmans von 1805 dafür. Die von mir hier nachgewiesene Korrespondenz
zwischen Chiron und dem Winkel von Hahrdt könnte ein textimmanentes Indiz für die Anordnung
der Nachtgesänge – zumindest für diese zwei Texte – sein.
36
„Nous sommes un monstre prive de sense [...].“ Zitiert nach: Mythenfiguren in Hölderlins Spätwerk.
S. 20.
37
Derrida: Heideggers Hand. S. 173.
16
eingeleitet wird und zugleich in einem zirkulären Verhältnis zur Benennung der Natur steht:
Seine eigene Zeitlichkeit – und damit Endlichkeit – demonstriert Chiron erst durch das
Loslösen seiner Monster-Natur. Dies gelingt ihm durch die Möglichkeit des Zeichenge-
bens. Die Natur wird von ihrer Göttlichkeit entzaubert, indem Chiron ihr einen Namen
verleiht.
Damit ist Chiron der ποιητής par excellence – der „Herstellende“ und „Tuende“ dem
eigentlichen Wortlaut zufolge. Der Dichter schöpft aus der Notwendigkeit seines eigenen
Zugrundegehens. Die hölderlinsche Dichtung wird mit Chiron zum Ausgangspunkt einer
neuen Sehnsucht nach Existenz, die sich von ihrer Göttlichkeit loslösen muss, um ihre ei-
gene Räumlichkeit und Zeitlichkeit im Kosmos erzeugen zu können. Das ist die Wunde Chi-
rons: Der durch seine Zweigestalt freigelegte Wunsch nach Geradlinigkeit, Eigenständigkeit
und Individualität, denn sterben zu können, heißt für Chiron lediglich, sein zu können:

Nun sitz‘ ich still allein, von einer Stunde zur anderen [...] (V, 3–4).

17
4. Zusammenschau der Ergebnisse
Am Anfang einer jeden Zeit steht die heroische Tat. Das Zeitalter des Menschen beginnt
mit der Loslösung von seiner göttlichen Abstammung. Oft als Frevel bezeichnet, setzt sich
der Mensch durch sein Tun und Wirken selbst. Er muss dabei Quelle der eigenen Tat sein.
Hölderlins Sinnbild für den Übergang zwischen Göttlichkeit und Menschlichkeit ist die Am-
bivalenz Chirons. Durch seine titanenhafte Abstammung ist Chiron mit dem höchsten Attri-
but der Unsterblichkeit ausgezeichnet. Als großer Erzieher bringt er Wissen, Kultur und
Qualifikation der Natur zu den Menschen. Ausgerechnet sein Zögling Herakles, der Kultur-
heros schlechthin, vergiftet Chiron tödlich.
Tödlich vergiftet und zugleich unsterblich zu sein schließen sich einander aus. Diese
beiden kontradiktorisch angeordneten Dimensionen bilden die interpretatorische Heraus-
forderung von Hölderlins Ode Chiron. Die vorliegende Untersuchung hat sich um keine Ge-
samtinterpretation bemüht, sondern lediglich Chirons Wunde unter dem Aspekt seines
hybriden Wesens betrachtet. Die beiden Gegenpole Göttlichkeit und Menschlichkeit lassen
sich in Chiron nicht mehr harmonisieren und kollidieren zum unlösbaren – tragischen –
Konflikt. Tragisch deshalb, weil es für Chiron kein Zurück mehr gibt in einen mit der Göttlich-
keit vereinten Zustand unendlichen Beisammenseins. Für Chiron bleiben nur zwei Wege:
Entweder bleibt er unsterblicher Gott, muss dann aber durch seine Verwundung ewig
leiden, oder er verzichtet auf seine Göttlichkeit, um als Mensch sterben zu können.
Ich habe mit der Berücksichtigung Peter Szondis Überlegungen eine Neuinterpre-
tation des anderen Pfeils unternommen. Der andere Pfeil ist der vergiftete Pfeil. Chiron
wird getroffen, seine Wunde ist aber in seinem Wesen bereits latent vorhanden.
Hölderlin entscheidet den Konflikt Chirons durch die Aufwertung seiner menschlichen
Ebene über jene des Gottes, denn Chirons Wunde ist seine Göttlichkeit. Meine Analy-
se hat Hölderlins Unternehmen als ein gleichsam literarisches wie philosophisches Ver-
fahren betont. Die Gespaltenheit und Zerrissenheit Chirons ist stilistisches, metrisches und
ideologisches Formungsprinzip der gleichnamigen Ode. Besonders der Vergleich mit ihrer
Vorfassung hat die zugespitzten Wendungen der Neufassung hervorgehoben. Die ent-
scheidende Veränderung im Vergleich beider Fassungen ist Chirons Emphase des Gegen-
wärtigen.
Im Verlangen nach Gegenwart drückt sich Chirons Wunsch aus, endlich zu sein.
Durch die Referenz auf Platon wurde Göttlichkeit als per se zeitlos ausgewiesen. Endlich
zu sein, heißt für Chiron, überhaupt am Prozess von Zeitlichkeit teilnehmen zu können.
Chiron will endlich sein, um jetzt sein zu können, was die Exposition des neu hinzugekom-
menen Wortes „Nun“ eindrucksvoll erklärt. Zweites will Chiron aber auch endlich im Sinne
von vergänglich sein. Beides kann er nicht, solange er noch Gott ist.

18
Der Mensch ist selbst kein Wesen der Ordnung, wenngleich er immer nach Ordnung
strebt. Sein Suchen im Kosmos ist zuerst ein Suchen nach Orientierung, nach Halt, nach
einer Stütze im endlosen Fall des Alls – ein Zurechtkommen im Chaos. Der ganze „Kosmos“
ist eine Erfindung des Menschen, dem Undurchdringbaren, dem Unzugänglichen, dem
Unendlichen, dem Unbegrenzten, dem Unerfahrbaren (ἄπειρον) – die Reihe an solchen
Negationen könnte beliebig fortgesetzt werden – einen Namen zu geben. Die Tätigkeit des
Benennens ist eine zutiefst menschliche Tätigkeit; sie ist dem Menschen eigen. Oft wurde
sie mit seiner Vernunftfähigkeit in Beziehung gesetzt. Das Benennen von Dingen ist viel-
leicht der erste Akt der Vernunft überhaupt, denn durch ihn macht sich die Vernunft zur
scheinbaren Herrin über die res extensa.
Dieses Aufbegehren an der natürlichen Ordnung des Kosmos ist die heroische Tat,
die Chiron vollbringen muss, um Mensch sein zu können. Dass er dabei sein eigenes
göttliches Wesen vernichten muss, gehört zum tragischen Konflikt des Menschseins, das
sich als zugehörig zu einer Metaebene zwischen blindem Chaos und allmächtiger Göttlich-
keit bestimmt. Meine Überlegungen bilden den Auftakt einer größeren Hölderlin-Betrach-
tung, welche die ontologische Kategorie des Seins immerzu durch ihre Selbstdestruktion
als ein Nicht-Sein begreift. Dichtung ist für Hölderlin der spielerische locus der Benennbar-
machung einer neuen, zweiten Natur, denn Hölderlins Dichter ist als Mensch noch nicht
dort, wo er in seiner Dichtung bereits zuvor gewesen ist.

19
5. Literaturverzeichnis

5.1. Primärliteratur

GOETHE, Johann Wolfgang von: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. von Erich
Trunz. München: C.H. Beck 161996.
HÖLDERLIN, Friedrich: Sämtliche Gedichte. Hg. von Jochen Schmidt. Frankfurt am Main:
Deutscher Klassiker Verlag 32014.
HÖLDERLIN, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Michael Knaupp. 3 Bde.
München: Carl Hanser 1993.
Platon: Sämtliche Werke. Übersetzt von Friedrich Schleiermacher. Herausgegeben von
Burghard König. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 342013.

5.2. Sekundärliteratur

BERTAUX, Pierre: Friedrich Hölderlin. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981.


BURDORF, Dieter: „... ein Schmerz, / Wenn einer zweigestalt ist“. Zu Hölderlins Ode
‚Chiron‘. In: M. Franz/U. Gaier/M. Vöhler (Hg.): Hölderlin-Jahrbuch. Bd. 36. Eggingen:
Edition Isele 2008–2009. S. 139–150.
DERRIDA, Jacques: Heideggers Hand. (Geschlecht II). In: Peter Engelmann (Hg.): Postmo-
derne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Stutt-
gart: Reclam 1990. S. 165–223.
FRANK, Horst J.: Handbuch der deutschen Strophenformen. Tübingen/Basel: Francke
2
1993.
FRYE, Lawrence O.: Hölderlins ‚Chiron‘. Zur Bedeutung des Mythischen in „Nimm nun ein
Roß ... o Knabe!“. In: H. Moser/B. v. Wiese (Hg.): Zeitschrift für deutsche Philologie.
88. Band. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1969. S. 597–609.
GANZER, Holle: Hölderlins Ode ‚Chiron‘. Phil. Diss. Berlin 1976.
HAMACHER, Werner: Parusie, Mauern. Mittelbarkeit und Zeitlichkeit, später Hölderlin. In: M.
Franz/U. Gaier/M. Vöhler (Hg.): Hölderlin-Jahrbuch. Bd. 34. Eggingen: Edition Isele
2004–2005. S. 93–142.
KOCZISZKY, Eva: Mythenfiguren in Hölderlins Spätwerk. Würzburg: Königshausen & Neu-
mann 1997.
PEHL, Theo: Hölderlins ‚Chiron‘. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft
und Geistesgeschichte. 15. Band. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung
1937. S. 488–510.
STAIGER, Emil: Meisterwerke deutscher Sprache aus dem neunzehnten Jahrhundert. Zü-
rich: Atlantis 41961.

20
SZONDI, Peter: Der andere Pfeil. Zur Entstehungsgeschichte von Hölderlins hymnischem
Spätstil. Frankfurt am Main: Insel 1963.

5.3. Hilfsmittel

Der kleine Pauly. Lexikon der Antike. Auf der Grundlage von Pauly’s Realencyclopädie
der classischen Altertumswissenschaft unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter.
Bearbeitet und herausgegen von Konrat Ziegler und Walther Sontheimer. Stuttgart:
Alfred Druckenmüller Verlag 1969.
Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. Von Jo-
hann Heinrich Zedler. Nachdruck der Original-Ausgabe von 1731–1754. Graz Akade-
mische Druck- u. Verlagsanstalt 1961–1964.
Gründliches mythologisches Lexikon. Von Benjamin Hederich. Nachdruck der Original-
Ausgabe von 1724. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1967.

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