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310 Maria Cristina Fornari

MARIA CRISTINA FORNARI

DIE SPUR SPENCERS IN NIETZSCHES


„MORALISCHEM BERGWERKE“

1. „Ein Anfang aller Anfänge“

„Mit diesem Buche“ – sagt Nietzsche von der Morgenröthe – „beginnt mein Feldzug
gegen die Moral“ (EH, M 1), eine Behauptung, die Mazzino Montinari nicht ganz zutref-
fend fand, angesichts der Tatsache, dass dieser „Feldzug“ bereits in Menschliches, Allzu-
menschliches „vorbereitet, angekündigt und zum Teil geführt worden ist“.1
Wir sollten Nietzsches Behauptung jedoch ernst nehmen. Morgenröthe und Die Fröh-
liche Wissenschaft, letztere in gewisser Weise eine Fortsetzung und Ergänzung der ersteren,2
beinhalten tatsächlich etwas Neues („ein Anfang aller Anfänge“3). Nietzsche gewinnt hier
einen neuen Blick auf Ursprung und Natur der Moral, ein Blick, der bereits in Richtung
Genealogie der Moral weist und ihn, wie er selber behauptet, vollkommen von seinen ersten,
noch ungeschickten und vorläufigen Hypothesen loslöst.4
Das, was diesen Neuanfang zumindest teilweise rechtfertigt, der Grund für diesen
Wandel, liegt, wie ich zu zeigen versuche, in Nietzsches Auseinandersetzung mit der eng-
lischen Philosophie, insbesondere mit der Evolutionstheorie Spencers und, wenngleich
in geringerem Maße, dem Utilitarismus John Stuart Mills, mit dem sich Nietzsche Ende
1879 / Anfang 1880 bewusst auseinandersetzt. Die Auseinandersetzung mit den Englän-
dern in den Jahren 1879 bis 1882 ist in der Tat alles andere als zufällig und entscheidend
für Nietzsches Gedanken zu Geschichte und Natur der Moral und ihrer weiteren Ent-
wicklung.
Nietzsches Beziehung zur englischen Philosophie des Utilitarismus und der Evolu-
tionstheorie sowie deren herausragenden Vertretern wird von den Nietzsche-Inter-
preten bis heute unterschätzt. Zu sehr verlassen sie sich auf Nietzsches eigene Aussa-
gen, der seine Quellen jedoch nicht immer preisgibt und manchmal sogar dazu neigt,
sie unter der Maske einer offenen Gegnerschaft zu verbergen, sodass sie zwar Nietz-
sches polemischen Absichten erkennen und hervorheben, nicht jedoch seine konstruk-
tiven.

1 Vgl. Montinari, Mazzino: Aurora nell’opera di Nietzsche. In: Colli, Giorgio/Montinari, Mazzino
(Ed.): Opere di Friedrich Nietzsche. Milano 1964ff. Bd. V. S. 1.
2 Wie wir wissen, gehen in Die fröhliche Wissenschaft Aufzeichnungen ein, die Nietzsche ursprüng-
lich als Fortsetzung der Morgenröthe geplant hatte (Buch 6 – 9).
3 Nietzsche an Heinrich Köselitz, 18. Juli 1880, KSB 6, Nr. 40.
4 Vgl. GM, Vorrede, 4.
Die Spur Spencers in Nietzsches „moralischem Bergwerke“ 311

Ähnlich wie bei Paul Rée, in dem die meisten Interpreten eine eher beiläufige und mar-
ginale Gestalt in der geistigen Entwicklung Nietzsches erblickt haben,5 wurden auch bei
Spencer nur die Angriffe, die sich in Nietzsches Werk und Nachlass finden, hervorgeho-
ben.6 Wenngleich schon früh klar war, dass Spencer eine gewisse Rolle in Nietzsches Den-
ken spielte,7 so doch nur als achtbarer, aber mittelmässiger Verteter der modernen Ideen,

5 Mit der tatsächlichen Bedeutung Paul Rées hat sich vor allem Hubert Treiber auseinanderge-
setzt, u.a. in seinen Abhandlungen: Treiber, Hubert: Wahlverwandtschaften zwischen Nietz-
sches Idee eines „Klosters für freiere Geister“ und Webers Idealtypus der puritanischen Sekte.
In: Nietzsche-Studien 21 (1992). S. 326 – 362; ders.: Zur Genealogie einer „Science positive de la
morale en Allemagne“. Die Geburt der „r(é)ealistischen Moralwissenschaft“ aus der Idee einer
monistischen Naturkonzeption. In: Nietzsche Studien 22 (1993). S. 165 – 221, vor allem aber mit
seiner Edition der Schriften Rées: Rée, Paul: Gesammelte Werke 1875– 1885. Hg. von Hubert
Treiber. Berlin, New York 2004.
6 Nietzsches Kritik richtet sich in erster Linie gegen das Zweckdenken Spencers, welcher zu wis-
sen glaubt, welches die für die Entwicklung eines organischen Wesens „ b e g ü n s t i g s t e n U m -
stände“ seien. Diese Bedingungen sind für Nietzsche jedoch unerkennbar und keinesfalls
einheitlich, sondern Ergebnis eines Zusammenspiels der verschiedensten Triebe, einschließlich
der bösen und ungünstigen (vgl. Nachlass 1880– 1882, KSA 9, 6[456], 11[43] u. [73]). Gewisse
Nachteile, die aus der Nichtanpassung des Menschen an seine Umgebung resultieren, könnten
sich ebenso gut als Vorzeichen neuer Möglichkeiten und unerwarteter Entwicklungen entpup-
pen. Im Gegensatz zu Spencers Behauptung, dass der Mensch sich in eine einzige, vorgegebene
Richtung entwickle, behauptet Nietzsche: „In jedem Falle giebt es nicht E in e Handlung, die zu
thun ist, sondern so viele als es I deale des vollkommenen Menschen giebt“ (Nachlass 1880–
1882, KSA 9, 11[37]), es existiert kein absolutes Ziel der Menschheit. Gerade weil das Glück auf
entgegengesetzten Wegen erreicht wird, „läßt sich keine Ethik bestimmen (gegen Spencer)“
(Nachlass 1880– 1882, KSA 9, 8[12]), ja mehr noch: Spencers Vorstellung von der Zukunft des
Menschen ist „nicht das E r g e b niss der Wissenschaft“, sondern vielmehr ein Wunsch, der
aus seinen gegenwärtigen Trieben abgeleitet ist (vgl. Nachlass 1880– 1882, KSA 9, 8[35]), und
gerade nicht die Verkörperung eines „innewendigen psychologischen Hangs“ (vgl. Nachlass
1884 – 1885, KSA 11, 35[31]; Nachlass 1880– 1882, KSA 9, 7[247]). Die modernen Ideale fürch-
ten aber das starke Individuum und bevorzugen eine einheitliche d. h. leicht vorhersehbare
Menschheit. „Herr Herbert Spencer ist ein décadent“: mit dieser soziologisch gefassten Wendung
bezeichnet Nietzsche „das niedergehende, alle organisatorische Kraft ermangelnde Leben“
(GD, Streifzüge 37). Die „Krämer-Philosophie des Herrn Spencer“ (Nachlass 1885– 1887,
KSA 12, 10[118]) idealisiere eine Welt völliger Gleichheit und spontaner Kooperation. „Spencer
setzt immer ‚Gleichheit der Menschen‘ voraus“ (vgl. Nachlass 1880– 1882, KSA 9, 1[98]) und
deren Transformation in nützliche Instrumente im Dienste des Ganzen. „Aber dann werden
die Einzelnen immer schwächer – es ist die Geschichte vom Untergang der Menschheit, wo das
Princip der Uninteressirtheit des vivre pour autrui und die Socialität herrschen!“ (Nachlass
1880 – 1882, KSA 9, 10[D60]). Es ist die Geschichte einer entkräfteten Menschheit; „eine
Menschheit mit solchen Spencer’schen Perspektiven als letzten Perspektiven schiene uns der
Verachtung, der Vernichtung werth“ (FW 373; vgl. auch EH, Warum ich ein Schicksal, 4).
7 Vgl. u.a. Selle, Carl, Friedrich: Herbert Spencer und Friedrich Nietzsche. Vereinigung der
Gegensätze auf Grund einer neuen These. Diss. Leipzig 1902. Selle ist einer der ersten, der eine
Parallele zwischen den beiden Autoren sah, wenngleich er sie als Antipoden betrachtete. Schar-
renbroich hingegen sieht Spencer im Umfeld einer angeblich utilitaristischen Auffassung Nietz-
sches, die er zur Zeit von Menschliches, Allzumenschliches von Paul Rée übernommen habe. Was
Nietzsche Spencer vorwerfe, sei seine Kargheit, sein trockener Rationalismus, „der ihm aus
Mangel an lebendigen und reichen Trieben hervorzugehen schien“; „Spencer will intensiveres
Fungieren der vorhandenen Lebensfunktionen, Nietzsche ein physiologisch höheres Dasein der
zukünftigen Menschheit“ (Scharrenbroich, Heinrich: Nietzsches Stellung zum Eudämonismus.
Bonn 1913. S. 44 f.). “Aber welcher Unterschied zwischen Nietzsche und Spencer!“ bemerkte be-
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welcher „vollkommen unschuldig die eigenen Verfalls-Instinkte als No r m des sociologi-


schen Werthurteils nimmt“.8 Zusammen mit Mill, in gewisser Weise auch mit Darwin, und
den modernen Sozialisten kann er als bloßes Kapitel in der Geschichte der altruistischen
Missverständnisse in der europäischen Moral abgehakt werden.9 Erst in jüngster Zeit hat
Gregory Moore die Aufmerksamkeit auf den englischen Philosophen gelenkt und die Rolle,
die er in Nietzsches Überlegungen zu einer strikt biologistischen Moralauffassung spielte,
beleuchtet.10 Überlegungen, die in der Tat erst mit Nietzsches eingehender Auseinanderset-
zung mit diesem hervorragenden Vertreter der zeitgenössischen Philosophie einsetzen und
einen Dialog in Gang bringen, der zu teilweise überraschenden Ergebnissen führt, die nur
ein genaues Studium des Nachlasses und des Extratexts ans Licht bringen kann.
Im begrenzten Rahmen dieser Abhandlung möchte ich zeigen, wie die Resultate die-
ses Dialogs gerade in die Morgenröthe (und in die Aufzeichnungen aus dem entsprechenden
Zeitraum, denen wir hier nicht in vollem Umfang gerecht werden können) einfließen, die
gewissermaßen als ‚Auffangbecken‘ für die durch Spencer angeregten Überlegungen fun-
giert. Ich will hier nicht in erster Linie auf die exakten Bezüge zwischen den einzelnen
Aphorismen und ihren Quellen, die großenteils bekannt sind, eingehen, sondern zusam-
menfassend den roten Faden dieser Überlegungen, oder besser die ‚Hauptader‘ dieses
moralischen Bergwerks freilegen, von der die einzelnen ‚Brocken‘ (die Aphorismen) le-
diglich die sichtbaren Spuren darstellen. Vielleicht liegt hier, um in Nietzsches Bild zu
bleiben,11 der „leitende Gang und Ausweg“: Wenn das stimmt, ist tatsächlich Spencer der
Katalysator, oder zumindest einer der Katalysatoren, für die entschiedene Hinwendung
zu einer verstärkt biologistischen Auffassung der Entstehungsgeschichte der Moral.12
Während Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches eine deskriptive, ja beinahe er-
zählte Geschichte der moralischen Empfindungen im Laufe ihrer kulturellen und sozia-
len Entwicklung skizzierte, setzen tatsächlich erst mit Beginn der 80er Jahre Überlegun-
gen zu einer möglichen „Physiologie der Moral“ ein. Erst mit der Lektüre Spencers und

reits Tille, Alexander: Von Darwin bis Nietzsche. Leipzig 1895. S. 213 – 14, während Richter
Selle vorwarf, Nietzsche unterstellt zu haben, er lasse Spencer nur als Soziologen und Moralisten
gelten: „Wissen wir denn nicht, dass das ganze Werk Spencers durch und durch biologistisch ist?
Ihn als Soziologen kennen heißt, ihn als Biologen kennnen“. Trotz der geringen Sympathie, die
Nietzsche dem englischen Philosophen entgegenbringt, ist dessen Einfluss auf die Soziologie
und biologistische Moral Nietzsches für Richter unbestreitbar (Richter, Charles: Nietzsche et les
théories biologiques contemporaines. Paris 1911. S. 29).
8 GD, Streifzüge 37.
9 Vgl. Marti, Urs: „Der große Pöbel- und Sklavenaufstand“. Nietzsches Auseinandersetzung mit
Revolution und Demokratie. Stuttgart 1993. S. 162. Marti verzichtet in seiner exakten Aufarbei-
tung von Nietzsches Verhältnis zur Moderne auf eine Auseinandersetzung mit Spencer und kon-
zentriert sich auf John Stuart Mill. Ähnlich verfährt Brose (Brose, Karl: Sklavenmoral. Nietz-
sches Sozialphilosophie. Bonn 1990. S. 132–162), der von einer angeblichen Einheit ausgeht und
beide Denker zusammen abhandelt, wobei Spencer nur implizit auftaucht. Vgl. auch Ottmann,
Henning: Philosophie und Politik bei Nietzsche. 2. Aufl. Berlin, New York 1999. S. 131–137.
10 Moore, Gregory: Nietzsche, Biology and Methaphor. Cambridge 2002; ders.: Nietzsche, Spen-
cer and the Ethics of Evolution. In: The Journal of Nietzsche Studies 23 (2002). S. 1 – 20. Unter
den italienischen Abhandlungen vgl. Bucchi, Stefano: Ereditarietà e sentimenti morali. In: Ri-
vista di Filosofia 81/2 (1990). S. 237 – 261.
11 Vgl. Nietzsche an Heinrich Köselitz, 18. Juli 1880, KSB 6, Nr. 40: „Dabei grabe ich mit Eifer in
meinem moralischen Bergwerke und komme mir dabei mitunter ganz unterirdisch vor – es
s ch e in t mir jetzt so als ob ich inzwischen den leitenden Gang und Ausweg gefunden hätte, in-
dessen will so etwas hundertmal geglaubt und verworfen sein“.
12 Vgl. Moore: Nietzsche, Spencer and the Ethics of Evolution, a.a. O., S. 3.
Die Spur Spencers in Nietzsches „moralischem Bergwerke“ 313

verwandter Autoren (wie Fouillée und Espinas, mit denen er sich zur gleichen Zeit aus-
einandersetzt) konkretisiert sich in Nietzsche der Gedanke einer physiologischen Herlei-
tung der Moral aus der Vorherrschaft der Triebe.
Wenn schließlich die Bedeutung der von Foucault so deutlich hervorgehobenen,13
methodologischen Unterscheidung zwischen „Ursprung“ und „Herkunft“ auf die Distan-
zierung von den englischen Moralisten zurückgeht, die angeblich nicht in der Lage waren,
von den „moralischen Thatsachen“, die sie selbst verkörperten, zu abstrahieren (vgl. JGB
211), so kommt Nietzsche meiner Meinung nach doch erst, nachdem er sich eingehend
mit der Geschichte der altruistischen Moral auseinandergesetzt hat, zu einer klaren Un-
terscheidung zwischen moralischem Urteil und Vorurteil, dem entscheidenden „Gedan-
ken“ dieser Schrift von 1881, wie aus dem Untertitel hervorgeht.

2. Erste Auseinandersetzungen mit dem Thema Moral

Schon seit seiner Jugend hat sich Nietzsche, wie wir wissen, mit der neueren eng-
lischen Philosophie auseinandergesetzt. Vor allem durch Albert Lange, aber auch Eduard
von Hartmann kommt er mit dem Positivismus und natürlich auch Darwins Evolutions-
theorie in Kontakt, deren wissenschaftliche Annahmen er teilt, jedoch nicht ohne die dra-
matischen psychologischen Konsequenzen vorherzusehen. Das Thema des Darwinismus
und des „schrecklichen Kampfes der Individuen und der Gattungen“ wurden von Nietz-
sche bereits 1868 gegen den Optimismus der Kantischen Teleologie ins Feld geführt,14
sowie gegen den philiströsen Optimismus eines Darwinianers sui generis, David Strauss,
gegen den sich die erste Unzeitgemäße Betrachtung richtet.
Erst in der Mitte der 1870er Jahre jedoch bekommen „die Engländer“ für Nietzsche
paradigmatischen Stellenwert, als Chiffre der Moderne. Zu Beginn der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts verkörperten die englische und die kontinentale, allen voran die deut-
sche Philosophie, die beiden entgegengesetzten Strömungen spekulativen Denkens: wis-
senschaftlich, tatsachenbewusst, vor allem „modern“ die erste, idealistisch, romantisch,
traditionell metaphysisch die letztere. Wer in den Wissenschaften nicht die Sprache des
Empirismus spricht und vom Nutzen in der Moral, ist nicht auf der Höhe der Zeit, wie
der Schopenhauerianer Du Mont 1876 bekennt,15 und nur der „eifrige und feine Geist der
englischen Skeptiker“ konnte Deutschland aus seinem dogmatischen Schlaf erwecken, in
den es durch den Missbrauch Hegelscher Kategorien und ein Festhalten an transzenden-
talen metaphysischen Systemen versunken war – so zumindest hat es damals ein feiner
italienischer Beobachter der europäischen Lage gesehen.16
Es ist leicht nachvollziehbar, wie Nietzsche, der allem Neuen gegenüber offen war
und bereit, jeden Hauch zeitgenössischer Kultur einzuatmen, sich ganz von selbst dem

13 Vgl. Foucault, Michel: Nietzsche, La généalogie, l’histoire. In: ders.: Hommage à Jean Hyppolite.
Paris 1971. S. 145 – 172.
14 Vgl. BAW 3, S. 371 – 394.
15 Du Mont, Emerich: Der Fortschritt im Lichte der Lehren Schopenhauer’s und Darwin’s. Leipzig
1876 (BN). Vorwort.
16 Vgl. Barzellotti, Giacomo: Le condizioni presenti della filosofia e il problema della morale. In:
Rivista di filosofia scientifica 1/5 (1882). S. 1 – 36; ders.: Il pessimismo filosofico in Germania e
il problema morale dei nostri tempi. In: Nuova Antologia 19 (1889). S. 246 – 270. 20 (1889).
S. 254 – 277. 21 (1889). S. 274 – 290.
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ersten dieser beiden Pole als dem modernsten und methodisch angemessensten zu-
wandte, nachdem er, von den metaphysischen Versuchungen befreit, in sich den Wunsch
verspürt hatte, Licht auf Ursprung und Bedeutung unserer erkenntnistheoretischen und
moralischen Konstruktionen zu werfen – vielleicht noch ohne genaue Kenntnis der Au-
toren, Themen und Probleme, aber in dem sicheren Gefühl, dass nur hier die Möglichkeit
zu einer Überwindung der Metaphysik und einem konkreten Studium der Moral gegeben
sein würde, das bislang einem transzendent Bereich angehörte.17
Der radikale Empirismus und Naturalismus der englischen Philosophen ist dazu an-
getan, jeglichen metaphysischen Trost und jegliche anthropozentrische Illusion zunichte
zu machen. Der Darwinsche Mensch, jenes absolut natürliche Wesen, das im Lauf der
Zeit auf die Herausforderungen einer feindlichen Umgebung reagiert und sowohl Vertei-
digungs- wie Erhaltungsstrategien entwickelt, verkörpert den Schlussstein zum Verständ-
nis der wirklichen Natur all dessen, was absolut, dauerhaft, überhistorisch erscheint. Vor
diesem Hintergrund ist Moral nichts anderes als das Ergebnis einer psycho-physischen
Organisation und einer kulturellen Fixierung, von deren Entstehung und ursprünglicher
Motivation nur noch Spuren erkennbar sind. Der „moralische Mensch“ steht, wie wir aus
einem wichtigen Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches wissen, „der intelligiblen
(metaphysischen) Welt nicht näher, als der physische Mensch“ (MA 37). Dies ist die pro-
grammatische Behauptung, die über dem Buch für freie Geister steht, und die Nietzsche
zusammen mit Paul Rée aus einer radikalen Übernahme des Darwinschen Paradigmas
herleitet.18
Zur Zeit von Menschliches, Allzumenschliches prüft Nietzsche zusammen mit Paul Rée,
den er aufgrund seiner wissenschaftlichen Vorlieben und offenen Anhängerschaft an
Darwin als „Engländer“ bezeichnet, die Möglichkeit eines utilitaristischen Ursprungs der
Moral. Es scheint ihm nicht unmöglich, die moralische Wertetafel aus einem Kanon uti-
litaristischer Bedürfnisse, allen voran der Selbsterhaltung, abzuleiten, unter notwendiger
Einbeziehung uralter Determinanten wie Lust und Schmerz. Nietzsche teilt größtenteils
Rées anthropologisches Urteil über die ursprüngliche Einheit von ‚gut‘ und ‚nützlich‘ und
schließt, gestützt auf Darwins Überlegungen zum sozialen Instinkt und zum Eltern-
instinkt in Die Abstammung des Menschen, in dieser Phase nicht aus, dass die Moral zu den
erhaltenden Strategien gehöre, die dem Gemeinwohl dienen, und sich durch Gewöhnung
im Lauf der Zeit in einen Automatismus verwandelt haben.
Es überrascht also nicht, wenn Nietzsche Ende 1879, als er diese Studien intensiviert,
das Bedürfnis hat, sich mit Spencer und dessen Entwurf einer moralischen Grundlegung

17 Im übrigen bezeugt ein Band von Kelly, wie sehr damals „Wissenschaft“ mit „Darwinismus“
einherging und wie sehr letzterer – der in Deutschland hauptsächlich durch Zeitschriften- und
Zeitungsartikel weite Verbreitung fand und Mitte der siebziger Jahre den Höhepunkt des Inte-
resses erreichte – sehr bald dazu diente, als Waffe im Kampf gegen die Festungen des konserva-
tiven Establishment eingesetzt zu werden. „Der Darwinismus eroberte die wissenschaftliche
Gemeinde Deutschlands sehr schnell und gründlich. Von Anfang an galt er als progressive An-
sicht. Die ersten Anhänger waren junge Forscher, die außerhalb der gängigen universitären Strö-
mungen standen – entweder an kleinen Universitäten oder ohne akademische Stellung […]. Im
Gegensatz dazu waren die ersten Gegner Darwins die ältesten und arriviertesten Mitglieder der
akademischen Gemeinde und die konservativsten von einem religiösen Gesichtspunkt aus.“
(Kelly, Alfred: The Descent of Darwin. The Popularization of Darwinism in Germany,
1860 – 1914. Chapel Hill 1981. S. 21).
18 Vgl. Rée, Paul: Der Ursprung der moralischen Empfindungen. Chemnitz 1877. S. VIII.
Die Spur Spencers in Nietzsches „moralischem Bergwerke“ 315

auseinander zu setzen, die in der Evolutionsgeschichte nachgewiesen werden kann.19 Ein


Entwurf, der unter anderem in England, auf neuer Basis, zu einer heftigen Debatte über
den Ursprung des Bewusstseins geführte hat, die Nietzsche mit großem Interesse ver-
folgte. In seiner Bibliothek stehen unter anderem Werke von Bain, Lubbock und Tyndall,
die sich mit dieser Frage auseinandersetzen, vor allem aber Lecky, dessen ausführliches,
an Bezügen und Zitaten reiches erstes Kapitel der Sittengeschichte Europas Nietzsche zu
Beginn der achtziger Jahre als regelrechtes Handbuch und Kompendium gedient hat.20
Wenn Nietzsche also 1880 anfängt, mit großem Interesse Die Thatsachen der Ethik 21 zu le-
sen, tut er dies vermutlich eher auf der Suche nach Bestätigung als nach Ablehnung.

3. Die Absurdität des guten Zwecks

Nietzsche setzt sich mit dem Utilitarismus Spencers auseinander, um eine Hypothese
zu überprüfen, ist aber gleich zu Beginn mit einer offensichtlichen Unregelmäßigkeit
konfrontiert: Wo Spencer überall, im gesamten Universum einen Fortschritt von Einfa-
chen zum Komplexen, vom Homogenen zum Heterogenen sieht, mit einer von der Na-
tur selbst als Zweck diktierten und durch die Evolutionsgesetzte geregelten fortschreiten-
den Perfektionierung aller Organismen – das, was man im moralischen Bereich „gut“22

19 Von Spencer hat Nietzsche bereits im Sommer 1875 die Einleitung in das Studium der Sociologie
(Leipzig 1875) gelesen. Ausgehend von einer einzigen Erwähnung dieses Buches in Nietzsches
Aufzeichnungen datiert Thomas Brobjer (Nietzsche’s Ethics of Character. A Study of Nietz-
sche’s Ethics and its Place in the History of Moral Thinking. Uppsala 1995. S. 146) die Lektüre
auf Herbst 1883. In Wirklichkeit bildet ein Abschnitt aus der Einleitung die Quelle zu FW 43:
Vgl. Fornari, Maria Cristina: Beiträge zur Quellenforschung. In: Nietzsche-Studien 27 (1998).
S. 558.
20 Lecky, William Edward H.: Sittengeschichte Europas von Augustus bis auf Karl den Grossen.
Leipzig, Heidelberg 1879 (BN).
21 Spencer, Herbert: Die Thatsachen der Ethik. Autorisirte deutsche Ausgabe. Nach der zweiten
englischen Auflage übersetzt von Prof. Dr. B. Vetter. Stuttgart 1879 (BN). Nietzsches Interesse
an Spencer ist ernst und drängend. Im November 1879 fragt er seinen Verleger nach etwas
von diesem „hochberühmt!en"“ Philosophen, „höchst lehrreich für uns, weil er inmitten unge-
heurer englischer Material-Sammlungen sitzt“ und schlägt sogar eine deutsche Übersetzung von
dessen soeben in London erschienenem Buch The Date of Ethics vor (Nietzsche an Ernst
Schmeitzner, 22. November 1879, KSB 5, Nr. 907; 28. Dezember 1879, KSB 5, Nr. 921). In
Wirklichkeit war Spencers Buch bereits auf deutsch erschienen: Nietzsche erwarb diese Überset-
zung am 5. Februar 1880 durch die Buchhandlung Domrich in Naumburg und ließ sie sich von
der Mutter nach Venedig schicken (Nietzsche an Franziska Nietzsche, 27. März 1880, KSB 6,
Nr. 18).
22 „Der Satz, dass derjenige ein ideal sittlicher Mensch ist, dessen bewegliches Gleichgewicht vollkommen ist
oder sich der Vollkommenheit ausserordentlich nähert, erhält, wenn wir ihn in physiologische
Sprechweise übersetzen, die Form, dass in jenem die Functionen jeder Art in gehöriger Weise erfüllt
werden. Jede Function hat irgend eine directe oder indirecte Beziehung zu den Bedürfnissen des
Lebens: schon die Thatsache ihrer Existenz als eines Ergebnisses der Entwicklung ist an sich ein
Beweis, dass sie unmittelbar oder auf Umwegen durch die Anpassung innerer an äussere Thätig-
keiten hervorgebracht worden ist. Demzufolge ist also Nicht-Ausführung derselben in normalem
Maassstabe nichts anderes als Nicht-Befriedigung eines Erfordernisses zu vollkommenem Leben. […] Der
sittliche Mensch kennzeichnet sich also dadurch, dass seine Functionen – und zwar sind es, wie wir
sahen, deren viele und von verschiedenster Art – sämmtlich gerade in dem Grade ausgeführt
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nennen würde – ist Nietzsche von Anfang an skeptisch, was die Möglichkeit angeht, die-
sen Zweck eindeutig zu bestimmen, obwohl er bereit ist, das „Gute“ als dasjenige zu
definieren „was einem Ziele dient“.23 Vielmehr beginnt Heft NV1 genau mit der Lektüre
von Spencers Thatsachen der Ethik, und einer Reihe von drängenden Fragen darüber, was
aus moralischer Sicht die beste Handlung sein könnte:
Wie soll man handeln? So daß der Einzelne möglichst erhalten bleibt? Oder so daß die
Rasse möglichst erhalten bleibt? Oder so daß eine andere Rasse möglichst erhalten
bleibt? (Moralität der Thiere) Oder so daß das Leben überhaupt erhalten bleibt? Oder
so daß die höchsten Gattungen des Lebens erhalten bleiben? Die Interessen dieser
verschiedenen Sphären gehen auseinander.24
Spencer, dieser „Verherrlicher der Selektions-Zweckmäßigkeit“ (Nachlass 1880–
1882, KSA 9, 11[43]), glaubt zu wissen, was begünstigende Umstände einer organischen
Entwicklung sind, und in welche Richtung sich die Menschheit bewegt. Er behauptet,
dass es in der Natur um eine progressive Anpassung von Organen und Funktionen geht,
mit dem offensichtlichen Ziel, das Leben zu kräftigen und zu erhalten, worin er das nahe
und ferne Ziel des Evolutionsprozesses sieht. Diese Behauptung enthält eine implizite
Wertannahme, die Nietzsche nicht gelten lassen will. Dem Gedanken, dass dasjenige gut
ist, was „auf Verlängerung des Lebens bis zu seiner äussersten Grenze hin“25 wirkt, hält Nietzsche
entgegen: „Zu wissen, „dies ist gesund, dies erhält am Leben, dies schädigt die Nachkom-
men“ – ist durchaus noch kein Regulativ der Moral! Warum leben? Warum durchaus froh
leben? Warum Nachkommen?“ (Nachlass 1880– 1882, KSA 9, 6[123]). Diese Annahme
impliziert nicht nur das Vorurteil, dass es eine Richtung gebe, auf die hin sich die Mensch-
heit zu entwickeln habe, sondern vor allem auch eine Annahme über den Sinn dieses
ganz und gar nicht „„selbstverständlichen Werthes der Werthe, das Leben““ (Nachlass
1880 – 1882, KSA 9, 6[105]), dessen Genealogie erst noch zu erforschen ist (M 106 u.
M 108).26
Im vierten Kapitel der Thatsachen der Ethik, über das sich Nietzsche ausführlich aus-
lässt, besteht Spencer darauf, dass die Übereinstimmung der Handlungen mit ihrem Ziel
das Kriterium für deren moralische Bewertung sei. Die moralischen Gesetze müssen also
von den „natürlichen Folgen der Handlungen“ abgeleitet werden, oder, was dasselbe ist, von

werden, dass sie den Existenzbedingungen gehörig angepasst sind.“ (Spencer: Die Thatsachen der Ethik,
a. a. O., S. 82 – 83, mit deutlichen Lesespuren und einem Ausrufezeichen am Rand. Diese und die
folgenden Unterstreichungen entsprechen den Unterstreichungen in Nietzsches Exemplar der
Thatsachen der Ethik).
23 „Alle Moralisten haben gemeinsame Censuren über gut und böse, je nach sympathischen und
egoistischen Trieben. Ich finde gut, was einem Ziele dient: aber das „gute Ziel“ ist Unsinn. Denn
überall heißt es „gut wozu?, Gut ist immer nur ein Ausdruck für ein Mittel. Der „gute Zweck“ ist
ein gutes Mittel zu einem Zweck“ (Nachlass 1880– 1882, KSA 9, 6[75]).
24 Nachlass 1880– 1882, KSA 9, 1[4]. Vgl. auch 3[171] u. 4[12].
25 „Wir dürfen in jedem Fall die Frage stellen: ist die Handlung geeignet, das vollkommene Leben in der
Gegenwart aufrecht zu erhalten, und wirkt sie auf Verlängerung des Lebens bis zu seiner äussersten Grenze hin?
Je nachdem die Antwort auf jede dieser Fragen bejahend oder verneinend ausfällt, wird die
betreffende Handlung damit von selbst als gut oder böse bezeichnet, wenigstens was ihre unmit-
telbaren Folgen betrifft, gleichgültig welche Tragweite sie für die Zukunft haben mag.“ (Spencer: Die That-
sachen der Ethik, a.a. O., S. 84).
26 M 106 in Anlehnung an J. Baumann (vgl. Orsucci, Andrea: Orient-Okzident. Nietzsches Versuch
einer Loslösung vom europäischen Weltbild. Berlin, New York 1996. S. 199).
Die Spur Spencers in Nietzsches „moralischem Bergwerke“ 317

der Betrachtung der „natürlichen Beziehung zwischen Handlungen und deren Folgen“,27
die im sozialen, psychischen und moralischen Bereich genauso wirken wie im physischen.
Die evolutive Methode enthüllt so ihren heuristischen Wert: Aufgabe der Ethik ist es
demnach, Normen herauszuarbeiten, die den „allgemeinen Existenzbedingungen“ ent-
sprechen, jene „natürliche Causalität“,28 an deren „Gutheit“ nicht gezweifelt werden
darf.29 „Den angeblichen Causalitäten in Gebieten, wo in Wahrheit es nur ein Hinterei-
nander giebt, danken viele Illusionen über die Moral ihre Entstehung“ (Nachlass
1880 – 1882, KSA 9, 1[76]), gibt Nietzsche mit Baumann zu bedenken, und bestreitet,
dass die Einschätzung der Folgen, für die Bestimmung moralischer Normen ausschlag-
gebend sein könne.
Spencer meint, das eigentlich Moralische sei, die wirklichen natürlichen Folgen einer
Handlung in Betracht zu ziehen – nicht Lob Tadel Strafe. Aber dies „in B e tr a ch t
ziehen“ war unmoralisch! Die That wird gethan, wa s d a b e i a u ch h e r a u s -
kommt! (Nachlass 1880– 1882, KSA 9, 12[185])
Spencer mache sich als schlechter Psychologe nicht klar, wie das Bewusstsein der
„Causalitäten“ auf moralischem Gebiet zur Auflösung der normierenden Kraft der Sitt-
lichkeit führe,30 und wie gerade die Verachtung der „wirklichen Ursachen und Folgen
einer Handlung“ und ihre Ersetzung durch eine Welt „p h a n ta s ti s ch e r C a u s a l i tä te n“
die Errichtung einer eingebildeten moralischen Welt begünstige (vgl. M 10 u. M 33):
Es ist nicht wahr, daß gut und schlecht die Ansammlung von Erfahrung über zweck-
mäßig und unzweckmäßig ist […] [schreibt Nietzsche]. Das wichtigste: b l i n d e s G e -
horchen, wo befohlen wird, und Übergang der Furcht in Verehrung. Heiligung
des Verehrten! (Nachlass 1880– 1882, KSA 9, 6[456], vgl. auch 6[455])
Auf diese erbliche Verkehrtheit des menschlichen Intellekts werden wir noch zurück-
kommen.

27 Spencer: Die Thatsachen der Ethik, a.a. O., S. 60.


28 Ebd.
29 „Ein hinlänglich fest eingewurzeltes Bewusstsein von der Causalität erzeugt den unerschütter-
lichen Glauben, dass von den wichtigsten bis herab zu den gleichgültigsten Handlungen der
Menschen in der Gesellschaft Folgen ausgehen müssen, welche, ganz abgesehen von jeder gesetz-
lichen Einwirkung, in höherem oder geringerem Grade zum Wohl oder zum Übel der Menschen aus-
schlagen müssen. […]. Ist es nicht klar, dass, wenn die Gesetzgebung auf der Ausübung gewisser
Handlungen besteht, welche naturgemäss wohlthätige Wirkungen haben, und andere verbietet,
welche natürgemäss verderblich wirken, dass dann diese Handlungen nicht etwa durch die Gesetz-
gebung zu guten oder bösen gemacht werden, sondern vielmehr die Gesetzgebung ihre eigene Auto-
rität von den natürlichen Folgen der Handlung ableitet? Nichtanerkennung dieser Wahrheit aber ist
nichts anderes als Nichtanerkennung der natürlichen Causalität.“ (Spencer: Die Thatsachen der
Ethik, a.a. O., S. 59 – 60).
30 „Spencer verwechselt die Systeme der Moral ‚wie soll gehandelt werden?‘ mit der Entstehung der
Moral. Der Mangel der Einsicht in die Causalität ist für letztere wichtig“ (Nachlass 1880– 1882,
KSA 9, 1[106]).
318 Maria Cristina Fornari

4. Die vielfältige Welt der Triebe

Gerade aus dem Respekt vor den Folgen leitet Spencer seine Begründung einer ratio-
nalen Ethik ab: seine „Wissenschaft von guten Handeln“, welche diejenigen Handlungen
herausstellt und bestimmt, die die Entwicklung als „gut“ im Sinne des Evolutionsprozes-
ses selektioniert hat.31 An erster Stelle steht die Selbsterhaltung und Pflege der Nach-
kommen und vor allem die gegenseitige Unterstützung beim Erreichen der Zwecke, eine
natürliche Folge des von Nietzsche heftig kritisierten physiologischen Primats der altruis-
tischen Instinkte. „Der arterhaltende Trieb, von allen Vererbungen am sichersten ver-
erbt – welches ist der Ausgangspunkt?“, fragt sich Nietzsche zu Beginn von Heft NV1,
das die frischen Eindrücke seiner Lektüre der Thatsachen der Ethik enthält.32
Spencers Überlegungen zum Instinkt im Hinblick auf Selbsterhaltung und Ernährung
(Spencers Lieblingsthema, aber auch dasjenige von Schneider und Espinas33), überzeugen
Nietzsche von der Unmöglichkeit, den Trieben einen Zweck und eine Richtung zuzu-
schreiben. „Unser Instinkt der Triebe greift in jedem Falle nach dem nächsten ihm Ange-
nehmen: aber nicht nach dem Nützlichen“ (Nachlass 1880– 1882, KSA 9, 11[5]), und
wenn es einen positiven Ausgang gibt, wie im Fall der ausgebrüteten Eier,34 so handelt es
sich um das zufällige Ergebnis eines günstigen Zufalls und gewiss nicht um das Resultat
einer a priori stabilierten Ausrichtung der Natur auf die beste aller Entwicklungen hin.
Das physiologische Primat des Altruismus ist unhaltbar. Spencers Behauptung, dass jede
bewusste oder unbewusste Handlung, die das Opfer des Einzelnen zum Zwecke der Le-
benssteigerung eines Anderen fordere, zweifellos altruistisch sei35, entgegnet Nietzsche:
„Die Erzeugung einer Nachkommenschaft ist nicht altruistisch. Das einzelne Thier folgt
dabei einer Lust, an der es oft zu Grunde geht“ (Nachlass 1880– 1882, KSA 9, 1[110]).
Und weiter:
NB NB. Es giebt keinen Selbsterhaltungstrieb – sondern das Angenehme suchen,
dem Unangenehmen entgehen erklärt alles, was man jenem Trieb zuschreibt. Es giebt
auch keinen Trieb als Gattung fortexistiren zu wollen. Das ist alles Mythologie (noch
bei Spencer und Littré). (Nachlass 1880– 1882, KSA 9, 6[145]).

31 „Die von mir vertretene Ansicht ist die, dass die Ethik im eigentlichen Sinne – die Wissenschaft vom
guten Handeln – die Entscheidung, wie und wa r u m gewisse Handlungsweisen verderblich und gewisse an-
dere wohlthätig sind, zu ihrem Gegenstande hat. Diese guten und schlechten Resultate können
nicht zufällige, sondern müssen nothwendige Folgen der Ordnung der Dinge sein, und meiner
Ansicht nach ist es nun die Hauptaufgabe der Moralwissenschaft, aus den Gesetzen des Lebens
und den Existenzbedingungen abzuleiten, welche Arten des Handelns nothwendigerweise Glück und wel-
che Unglück zu erzeugen streben. Hat sie dies gethan, so müssen ihre Deductionen als die Gesetze
des Handelns anerkannt und ohne Rücksicht auf eine directe Beurtheilung von Glück oder
Elend verfolgt werden.“ (Spencer: Die Thatsachen der Ethik, a.a. O., S. 62).
32 Vorst. 3[85] (N V 1,156: KGW V 3, S. 363).
33 Schneider, Georg Heinrich: Der Thierische Wille. Leipzig [1880]; ders.: Der menschliche Wille
vom Standpunkte der neueren Entwickelungstheorien (Des „Darwinismus“). Berlin 1882 (beide
BN); Espinas, Alfred: Die thierischen Gesellschaften. Eine vergleichend-psychologische Unter-
suchung. Braunschweig 1879 (BN).
34 Vgl. Nachlass 1880– 1882, KSA 9, 1[54], 1[56], 3[85].
35 Vgl. Spencer: Die Thatsachen der Ethik, a.a. O., Cap. XII: Altruismus versus Egoismus,
S. 219 – 237.
Die Spur Spencers in Nietzsches „moralischem Bergwerke“ 319

Die Welt der Triebe kennt folglich kein vorherbestimmtes Ziel. Im Gegenteil, das Ziel
des Individuums ändert und erneuert sich mit seinen Trieben und Stimmungen. Die
„letzten Ziele“, schreibt Nietzsche, „sind gar nicht auf einmal durch Begriffe zu errei-
chen: wir können immer nur Ziele so weit sehen, als wir Triebe vorher haben. Wie
weit unsre Triebe wachsen können, weiß niemand“ (Nachlass 1880– 1882, KSA 9, 6[18]) –
und niemand weiß, mit welcher Stärke sie sich bemerkbar machen. Was weiß der Mensch
über sich selbst? Nichts kann doch unvollständiger sein, als das Bild der gesamten Triebe,
die sein Wesen konstituieren. Kaum dass er die gröberen beim Namen nennen kann: ihre
Zahl und Stärke, ihre Ebbe und Flut, ihr Spiel und Widerspiel unter einander, und vor Al-
lem die Gesetze ihrer Ernährung bleiben ihm ganz unbekannt (vgl. M 119).
Dieses polypenartige Wesen, das wir sind, macht seine Erfahrungen blind, wobei viel-
leicht die besten Ergebnisse herauskommen (gerade diejenigen, die Spencer als unzweck-
mäßig verurteilt hätte). Infolgedessen „wird der ganze ausgewachsene Polyp etwas
ebenso Zufälliges sein, wie es sein Werden ist“, schreibt Nietzsche in Aphorismus 119 der
Morgenröthe, indem er das, was für Spencer und Espinas das herausragende Beispiel einer
funktionalen Organisation war, in eine Metapher verwandelt.36 Unsere Handlungen sind
Versuche, Spiele mit den Trieben und ihrem Appetit, spielende Äußerungen des Dran-
ges nach Tätigkeit, welche wir durch die Theorie der Zwecke missdeuten und falsch ver-
stehen.
eine angenehme Handlung thue ich nicht, weil ihr Zweck, ihr Ende eine angenehme
Empfindung mit sich bringt: sie ist nicht Mittel zu diesem Ende. Sondern das Ange-
nehme ist so in sie gedrungen, daß sie sofort, nich t e r s t a m En d e, angenehme
ist. Mit den Zwecken machen wir Menschen uns vernünftiger als wir sind! „Warum
schmeckt uns diese Speise? Quem im finem?“ Keine Antwort! – Überall wo unsere
Triebe reden, ist der „Zweck“ eine Großthuerei! (Nachlass 1880– 1882, KSA 9,
7[218]).

5. Im Dienste der Triebe

Die Dynamik der Triebe, über die Nietzsche nicht zuletzt dank Spencer nachdenkt,
zwingt ihn, die zur Zeit von Menschliches, Allzumenschliches aufgestellte Hypothese zu kor-
rigieren, derzufolge ‚gute‘ Handlungen diejenigen sind, die ursprünglich auf der Basis ih-
rer Nützlichkeit selektioniert worden sind. Nietzsche gesteht seinen Irrtum in einer Auf-
zeichnung aus dem Jahr 1880 ein:
Nicht die verg essenen Motive und die Gewöhnung an bestimmte Bewegungen ist
das Wesentliche – wie ich früher annahm. Sondern die zwecklosen Triebe von Lust
und Unlust. (Nachlass 1880– 1882, KSA 9, 6[366]).
Damit einher geht die Hypothese, dass es gerade der Trieb sei, der unweigerlich das
moralische Modell bestimme, wenngleich in einer alles andere als eindeutigen Richtung.
„Die Werthtafel stimmt g a r nicht mit den Gra den d e s N u tze n s (gegen Spencer)“

36 „Den Begriff der Ernährung erweitern; sein Leben nicht falsch anlegen, wie es die thun, welche
bloß ihre Erhaltung im Auge haben. Wir müssen unser Leben nicht uns durch die Hand schlüp-
fen lassen, durch ein „Ziel“ – sondern die Früchte aller Jahreszeiten von uns einernten“ (Nach-
lass 1880– 1882, KSA 9, 11[2]).
320 Maria Cristina Fornari

(Nachlass 1880– 1882, KSA 9, 11[20]). Vielmehr scheint es der stärkste Trieb zu sein, der-
jenige, der gerade das Übergewicht hat, der den Verlauf einer möglichen Entwicklung be-
stimmt. Dies klingt für Nietzsche wie eine Umkehr des Bisherigen.
Ich schlage das Bild vor: reizt es euch, so werdet ihr es nachahmen müssen. Nicht die
Ziele, sondern die Befriedigung des bereits vorhandenen Triebes zwingt zu dieser
oder jener Moral. Nicht die Vernunft! wenn nicht im Dienste eines Triebes! (Nach-
lass 1880– 1882, KSA 9, 6[108]).
In diesem wie in zahlreichen anderen Fragmenten aus dem Herbst 1880 schlägt
Nietzsche eine Lesart der Entstehung der Moral vor, die von den leitenden Trieben aus-
geht. Mächtige Triebe, die a posteriori die Annahme eines ethischen Systems erfordern,
das sie rechtfertigt („immer neue Versuche, diese Triebe nachträglich mit der Wahrheit im
Einklang zu finden“, Nachlass 1880– 1882, KSA 9, 6[144]). „Was bestimmt denn das
Wertherscheinen? Ein Trieb“, der seinerseits nur innerhalb eines moralischen Systems
seine Sanktionierung erfährt (M 38). Die Moral „ko mmt, we n n der Trieb und die
Werthschätzung bestimmter Art schon da ist. Dies gilt von allen Ethiken“ (Nachlass
1880 – 1882, KSA 9, 6[123]).
Welches also ist der Trieb, der die moderne Moral bestimmt, die christliche Moral,
deren weltliche Gestalt nichts anderes ist als die utilitaristische Ethik, und die nicht nur
den Altruismus, die Güte und die Nächstenliebe als absolute Werte annimmt, sondern
diese unter umgekehrten Vorzeichen auch noch historisch zu rechtfertigen vorgibt (M 60,
M 132, M 146)?
Nietzsche ist, wie wir wissen, davon überzeugt, dass der Herdeninstinkt die physiolo-
gische Formierung sei, aus der sich die gesamte Kasuistik unserer heutigen Imperative
entwickle.37 Spencer verkörpert demnach mit seiner Auffassung einer Moral, die sich
ganz natürlich an den Bedürfnissen der Gattung orientiert, die konkrete Umsetzung die-
ses ethischen Modells. Die Charakterisierung des Menschen als „Herdentier“, die von der
Fröhlichen Wissenschaft an zentrale Bedeutung erlangt, spielt, abgesehen von einem einma-
ligen Auftauchen in einem Fragment von 1873,38 bis zum Frühjahr 1881 keine Rolle mehr.
Es ist meiner Meinung nach erneut Spencer, der Nietzsche zu dieser Metapher ermutigt,
und ihm die Natur und die Rolle dieses äußerst mächtigen primum mobile der Moral klar
macht.

37 Es ist nicht verwunderlich dass Nietzsche, der bislang mit einer Untersuchung der Triebe be-
schäftigt war, zu einer Definition des ‚Heerdeninstincts‘ gelangt (Nietzsche verwendet den Aus-
druck ‚Heerdentrieb‘ nur drei Mal, in Nachlass 1881– 1882, KSA 9, 11 [185] und 11 [193], sowie
Nachlass 1885– 1887, KSA 12, 8[1]). Die beiden Termini – Instinkt und Trieb – die von den
Interpreten häufig austauschbar verwendet werden, sind dies keinesfalls, und Nietzsche ist sich
ihres semantischen Unterschiedes durchaus bewusst, auch wenn er sich nicht immer daran hält.
Die Instinkte erscheinen als das Ergebnis einer Selektion, Strukturierung und Verkörperung der
Triebe, eine Art Kristallisation dessen, was von den Trieben wahrgenommen wird. Nur so kann
Nietzsche den Herdenistinkt als das Ergebnis einer Fixierung gewaltiger uranfänglicher Deter-
minanten, wie die Furcht, auf der Ebene des organischen Gedächtnisses auffassen. Die Bedeu-
tung Spencers hierbei kann meiner Meinung nach nicht überschätzt werden.
38 Nachlass 1869– 1874, KSA 7, 29[149].
Die Spur Spencers in Nietzsches „moralischem Bergwerke“ 321

6. Genius der Gattung

Ich mag nun mit gutem oder bösem Blicke auf die Menschen sehen, ich finde sie
immer bei Einer Aufgabe, Alle und jeden Einzelnen in Sonderheit: Das zu thun, was
der Erhaltung der menschlichen Gattung frommt. Und zwar wahrlich nicht aus einem
Gefühl der Liebe für diese Gattung, sondern einfach, weil Nichts in ihnen älter, stär-
ker, unerbittlicher, unüberwindlicher ist, als jener Instinct, – weil dieser Instinct eben
das Wesen unserer Art und Heerde ist (FW 1).
Im ersten Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft betont Nietzsche die Priorität eines
gegebenen moralischen Modells. Daher rührt die Hartnäckigkeit eines Instinkts, der quasi
wie ein physiologisches Substrat in unserer Natur weiterlebt. Er ist das Echo von Neigun-
gen und Abneigungen über ungeheure Zeiträume hinweg. Wie ist es möglich, dass sie sich
noch so deutlich bemerkbar machen?
In diesem Punkt war Spencer eindeutig: Nützlichkeitserfahrungen, die sich im Verlauf
der Evolution herausgebildet und gefestigt haben, wurden in Form von Veränderungen
des Nervensystems organisch auf die nachfolgenden Generationen vererbt. Sie entwi-
ckelten sich in und zu „gewissen Fähigkeiten moralischer Intuition – zu einem gewissen
Gefühl richtigen und falschen Handelns“, zu einer Art „apriori“, dem jedes Individuum
zwangsläufig unterliegt. Das Bewusstsein wäre demnach nichts weiter als eine Artikula-
tion und Organisation der Instinkte, die im Gedächtnis ihren wertvollsten Verbündeten
fände („Gedächtniß hat Ursachen der Moralität – und wir haben es nicht in der Hand!
NB“, schreibt Nietzsche in einer Aufzeichnung aus dem entsprechenden Zeitraum,
Nachlass 1880– 1882, KSA 9, 6[344]).
Nietzsche erwägt diese Hypothese und findet sie sogar “viel vernünftiger“ und psy-
chologisch haltbarer als jene, welche den Ursprung der Moral im Vergessen der primiti-
ven nützlichen Motive des Handelns erblickte.39 Nicht das Vergessen, sondern das Ein-
schreiben in die Akten des organischen Gedächtnisses der Gattung – der Begriff wurde
1867 von Maudsley eingeführt40 –, das was diese für nützlich oder schädlich erachtet,
könnte das Bewußtsein ausmachen und das Grundthema der Sittlichkeit.41 In dem Apho-
rismus „Genius der Gattung“ aus der Fröhlichen Wissenschaft scheint Nietzsche sogar die
historische und substantielle Apriorität eines kollektiven Bewusstseins als zwangsläufige
Konsequenz der Herdenbildung des Individuums zu teilen (insbesondere mit dem Spen-
cer-Anhänger Espinas).
Das moralische Gefühl ist demnach erblich? „Zunächst möchte man sich gegen die
Theorie der Vererbung so lange wehren als es geht“, schreibt Nietzsche in einer Vorstufe zu
Aphorismus 34 der Morgenröthe, wo er sich genau diese Frage stellt. Der Aphorismus (wie
auch der nächste, Aphorismus 35) kommt zu dem Ergebnis, dass moralische Gefühle zwar
übertragen werden, jedoch in Form von starken Neigungen und Abneigungen. Urteile und
Wertschätzungen vererben sich in Form von Gefühlen, auf denen dann später sich unser
moralisches Urteil aufbaut. Der Vorschlag Spencers, demzufolge „Zu- und Abneigungen

39 Vgl. GM I 3.
40 Von einem „organischen Gedächtnis“, als einem in jeder Körperzelle vorhandenen Gedächtnis,
hat zum ersten mal der Physiologe Henry Maudsley gesprochen in Physiology and Pathology of the
Mind (London 1867). Darin stellte auch er die Hypothese einer durch organische Prozesse er-
folgten Fixierung von Gedanken und Gefühlen auf, Kategorien, die von der Struktur und Or-
ganisation der Nervenzentren der Spezies aufgenommen werden.
41 Vgl. GM I 3.
322 Maria Cristina Fornari

organisch gemacht werden durch Vererbung der Einwirkung angenehmer und schmerz-
licher Erfahrungen auf die Vorältern“,42 ist fast identisch. Nietzsche markiert diesen Ab-
schnitt in seinem Exemplar der Thatsachen der Ethik mit einem Randstrich und schreibt:
Die Gutmüthigen haben ihr Wesen durch die beständige Furcht erlangt, welche ihre
Voreltern vor fremden Übergriffen gehabt haben, – sie milderten, beschwichtigten,
baten ab, beugten vor, u.s.w. – und zuletzt vererbten sie diesen ganzen zarten und
wohlgespielten Mechanismus auf ihre Kinder und Enkel. Diesen gab ein günstigeres
Geschick keinen Anlass zu jener beständigen Furcht: nichtsdestoweniger spielen sie
beständig auf ihrem Instrumente. (M 310)43
Wo es Moral gibt, gibt es folglich immer auch Wertschätzungen und Hierarchien, das
Resultat uralter Neigungen und Abneigungen, die sich noch immer bemerkbar machen.
Eine Hierarchie, die nicht wir festgeschrieben haben, sondern der Herdeninstinkt in uns,
der für die ganze Herde oder Gattung spricht.44 Ist es tatsächlich das Echo eines natürlichen
sympathetischen Affekts, wie Darwin, Spencer oder Espinas glauben wollten? Für Nietz-
sche ist es hauptsächlich die Furcht, ein uraltes Gefühl in jenem schrecklichen prähistori-
schen Moment, in dem der Mensch den Schwankungen einer feindlichen Umgebung aus-
gesetzt war, und in dem das Alleinsein ein schreckliches Urteil darstellte.45 Nur in der
Gemeinschaft kann man sich erhalten, sprach damals die Furcht: „Furcht ist die Macht, von
welcher das Gemeinwesen erhalten wird“ (Nachlass 1880–1882, KSA 9, 3[119]). Das mo-
ralische Bewusstsein, das Sammelbecken uralter Erfahrungen, ist ein Abkömmling der
Furcht und der Not. Auch dieses zentrale Thema der Morgenröthe war Spencer nicht fremd.46

7. Die Angewohnheit, zu gehorchen

Die Handlungsweise, die man heute als moralische bezeichnet, ist Spencer zufolge
alles andere als natürlich. Zumindest in einer Anfangsphase, in der der Mensch noch nicht
in der Lage war, die wirklichen Konsequenzen einer Handlung abzuschätzen, und sie folg-
lich, in Spencers Perspektive richtig zu beurteilen, musste sie auferlegt worden sein. Sie ist
eine Art von Dressur, in der das soziale Zusammenleben künstlich ermöglicht wird durch
ein „prä-altruistisches Gefühl“, als dessen Grund Spencer die Furcht ausmacht, die Furcht
vor Rache, vor Strafe, vor dem Zorn Gottes. Das Gefühl der Pflicht wächst im Wilden,
„dessen einzige Einschränkung, neben der Furcht vor seines Gleichen, der Furcht von
dem Geist seiner Vorfahren ist“. Diese anfängliche Haltung gegenüber der Unterordnung
lebt mächtig bis in unsere Tage weiter und ist charakteristisch für jegliche Art von Moral.
Wie die Verhaltensformen der Unterordnung den Anfang jeglicher Moral ausmachen
und ihr historisch vorausgehen, illustriert Spencer in einem ausführlichen Artikel in der
Revue Philosophique 47 im Hinblick auf den besonderen Aspekt der Zeremonien. Laut Spen-

42 Spencer: Die Thatsachen der Ethik, a.a. O., S. 37.


43 Vgl. auch M 30, M 104, M 111, M 312.
44 Vgl. FW 116.
45 Vgl. FW 117.
46 Vgl. auch Orsucci: Orient-Okzident, a.a. O., insbesondere Kapitel IV: „Kannibalische Götter,
Teufelsverehrung, Askese: Nietzsches Auseinandersetzung mit Spencer“.
47 Spencer, Herbert: Études de sociologie. In: Revue Philosophique III (1878), tome 5. S. 1 – 28;
113 – 126; 281– 307; 489– 533; 642– 654; tome 6. S. 113 – 129.
Die Spur Spencers in Nietzsches „moralischem Bergwerke“ 323

cer leitet sich der größte Teil unserer ethischen und sozialen Regeln von der Disziplin ab,
welche die zeremoniellen Gebräuche bestimmt.
Avant qu’il y ait des lois, il faut qu’il y ait un potentat auquel des hommes soient sou-
mis, qui promulgue des lois, et en impose l’autorité. Avant de reconnaître des obliga-
tions religieuses, il a fallu que les hommes reconnussent une ou plusieurs puissances
surnaturelles. Il est évident que la conduite qui exprime l’obéissance à un chef, visible
ou invisibile, doit précéder dans le temps le frein civil ou religieux qu’il impose.48
Anhand von zahlreichen anthropologischen Beispielen vertritt Spencer die These,
dass die Weigerung, sich den zeremoniellen Vorschriften zu unterwerfen, einer Rebellion
und einer Missachtung der Autorität gleichkam. „In Perù, war die Todestrafe die häufigste
Strafe, weil der Schuldige nicht für die verübte Tat bestraft wurde, sondern weil er die
Tabu des Inkas gebrochen hat“.49 Verbote und körperliche Verstümmelungen bis hin zu
unseren Opfern und Gebeten dienen dazu, die Gunst der Mächtigen zu erwerben, damit
ihr Zorn nicht die Gemeinschaft treffe.50
Nietzsche unterschreibt diese Anmerkungen voll und ganz. Die Ausführungen über
die Zeremonie, d. h. die Anwendung einer Praktik, die an sich keinerlei Vernunft und un-
mittelbare Zweckdienlichkeit aufweist, liefert ihm sogar den Schlüssel zum Verständnis
der ultima ratio sittlichen Handelns:
Bei rohen Völkern giebt es eine Gattung von Sitten, deren Absicht die Sitte überhaupt
zu sein scheint; die aber die fortwährende Nähe der Sitte, den unausgesetzten Zwang,
Sitte zu üben, fortwährend im Bewusstsein erhalten: zur Bekräftigung des grossen
Satzes, mit dem die Civilisation beginnt: jede Sitte ist besser, als keine Sitte. (M 16)51

48 Ebd., t. 5, S. 4. Nietzsche notiert u.a. in seinen Notizheften: „Überall wo es eine furchteinflö-


ßende Macht giebt, die befiehlt und gebietet, entsteht Moralität d.h. die Gewohnheit zu thun und
zu lassen, wie jene Macht will, der das Wohlgefühl auf dem Fuße folgt, der Gefahr entronnen zu
sein: während im umgekehrten Falle das Gewissen sich regt, die Stimme der Furcht vor dem
Kommenden, des Verdrusses über das Gethane usw. Es giebt persönliche Mächte, wie Fürsten,
Generale, Vorgesetzte, dann Abstrakte wie Staat Gesellschaft, endlich imaginirte Wesen, wie
Gott, die Tugend, der kategorische Imperativ usw.“ (Nachlass 1880–1882, KSA 9, 1[107]).
49 „Les Péruviens n’étaient pas encore arrivés à l’époque où l’on voit dans les transgressions de
l’homme contre l’homme des torts à redresser, et où l’on comprend qu’il y a lieu de proportion-
ner la pénalité au dommage; le crime réel était l’insubordination: ce qui donne à penser que l’in-
sistance sur les signes de subordination constituait la partie essentielle du gouvernement“.
(Spencer: Études de sociologie, loc. cit., tome 5, S. 5).
50 Der Akt, einen Teil des eigenen Körpers zu opfern, zum Zeichen der völligen Unterwerfung, hat
für Spencer auch den mnemotechnischen Wert „de remettre en mémoire à perpétuité la puis-
sance du maître, en tenant en éveil la crainte qui mène à l’obéissance“ (Spencer: Études de so-
ciologie, loc. cit., tome V, S. 283). Eines der zahlreichen diesbezüglichen Beispiele ist die Ver-
stümmelung der Finger: „les naturels des îles Tonga se font couper une partie de leur petit doigt,
en sacrifice aux dieux pour obtenir la guérison d’un parent malade“ (S. 284). Nietzsche kennt die-
sen Brauch offenbar, wie aus einer Aufzeichnung von 1883 hervorgeht: „Die Tonga-Insulaner
schneiden die kleinen Finger ab, als Opfer“ (Nachlass 1882– 1884, KSA 10, 8[1]). Vgl. auch
M 221: Moralität des Opfers.
51 Die Aussage, „jede Sitte ist besser, als keine Sitte“, wird von Orsucci dem Theologen und Reli-
gionsphilosphen Gustav Roskoff zugeschrieben, den Nietzsche zusammen mit Spencer in
1[105] von Sommer 1880 zitiert. Orsucci betont ausdrücklich die Bedeutung von Roskoffs Werk
Das Religionswesen der rohesten Naturvölker (Leipzig 1880), für die ethnologischen Überlegungen
Nietzsches in dieser Zeit (vgl. Orsucci: Orient-Okzident, a.a. O., S. 190 ff.).
324 Maria Cristina Fornari

Nietzsche gelangt in der Morgenröthe zu einer wichtigen Schlussfolgerung: „Sittlichkeit


ist nichts Anderes (also namentlich nich t m e h r!), als Gehorsam gegen Sitten, welcher
Art diese auch sein mögen“ (M 9). Wenngleich Nietzsche hier lediglich seine bereits in
Menschliches, Allzumenschliches zum Ausdruck gebrachte Position zu bekräftigen scheint,
d. h. die Reduktion der Sittlichkeit auf Gehorsam gegenüber der Tradition, so misst er hier
dieser Hypothese doch endgültige Bedeutung bei, indem er sie als Grundeinsicht in die
Entstehung der Moral charakterisiert.
Die verschiedenen, von Spencer beschriebenen Haltungen der Unterwerfung lassen
sich für Nietzsche zusammenfassen in der Unterwerfung unter die Tradition, verstanden
als „eine höhere Autorität, welcher man gehorcht, nicht weil sie das uns Nützliche be-
fiehlt, sondern weil sie befiehlt“ (M 9; vgl. auch M 19). Als Grund dieser Verbindung
zur Sittlichkeit erblickt Nietzsche die abergläubische Furcht vor einer überlegenen Auto-
rität. Die Furcht beschreibt er jetzt bezeichnenderweise und mit Nachdruck als natürliche
Grundlage einer primitiven Moral.
Nicht nur das Erbe unseres ursprünglichen Verhältnisses zur Natur, die anthropo-
morphisch als schrecklich und fremd aufgefasst wurde, erklärt unsere Neigung zur Furcht
(M 23), auch unsere physiologische Ausstattung ist dafür verantwortlich, dass das als be-
ruhigend empfundene Element der Gemeinschaft in uns viel stärker ausgeprägt ist als alle
individuelle Velleität. Nietzsche schließt daraus, dass erst in relativ fortgeschrittenen Zei-
ten der Einzelne in der Lage ist, sich vom Joch der Tradition zu befreien. In Wirklichkeit
existiert jener „furchtbare Druck der „Sittlichkeit der Sitte“, unter dem alle Gemeinwesen
der Menschheit lebten, viele Jahrtausende lang vor unserer Zeitrechnung“ (M 14), immer
noch und bestimmt alle sozialen Beziehungen. Die Präsenz des Anderen, des feindlichen
Tieres ist also die Voraussetzung für das Verständnis des Herdeninstinkts, der das sittliche
Gefühl zum Gesetz werden lässt. Im Lichte dieser Überlegungen prüft Nietzsche noch
einmal seine genealogische Hypothese: „Nicht das unegoistische Handeln ist (durch Ver-
gessen) aus Vererbung entstanden, sondern das fortwährende D e n ke n a n A n d e r e als
Maaß unserer Handlungen“ (Nachlass 1880– 1882, KSA 9, 4[50]). Auf diese Weise wird
aus jeder menschlichen Beziehung, selbst aus der reinsten und interesselosesten, ein blo-
ßes Spiel von Verstellung und Heuchelei.

8. Chamäleons und Schafe

Damit haben wir ein letztes Element hinzugefügt: Die Moralität ist zwar „tierisch“ in
ihrem Ursprung, aber wer in den tierischen Gesellschaften eine Antizipation der fleißigen
und liebenden menschlichen Gesellschaft zu sehen glaubte, hat sich getäuscht, sie ist viel-
mehr ein Schlachtfeld zwischen Wesen, sie gezwungen sind, sich gegenseitig aneinander
zu messen, um nicht unterzugehen.
Jene Moralität, welche am allerstrengsten von Jedermann gefordert, geehrt und heilig
gesprochen wird, die Grundlage des socialen Lebens: was ist sie denn als jene Verstel-
lung, welche die Menschen nöthig haben, um mit einander ohne Furcht leben zu
können? Der allergrößte Theil dieser Verstellung ist schon in Fleisch Blut und Muskel
übergegangen, wir fühlen es nicht mehr als Verstellung, so wenig wir bei Begrüßungs-
worten und höflichen Mienen an Verstellung denken: was sie trotzdem sind. (Nach-
lass 1880– 1882, KSA 9, 3[23])
Die Spur Spencers in Nietzsches „moralischem Bergwerke“ 325

Auch Spencer leugnet nicht die Rolle der Heuchelei in sozialen Beziehungen:
Bewegungen des Körpers und Veränderungen im Gesicht sind sichtbare Wirkungen
von Gefühlen, und sind diese sehr lebhaft, so entziehen sich jene der Controle des
Willens. Ist jedoch ein Gefühl, sei es sensationeller, sei es emotioneller Art, minder
heftig, so können jene ganz oder theilweise unterdrückt werden, und wir haben ja
auch die mehr oder weniger tief eingewurzelte Gewohnheit, welche die Folgeerschei-
nung unserer Natur ist, der es oft sehr unerwünscht wäre, wenn Andere sehen könn-
ten, was in ihr vorgeht. Für unsere gegenwärtigen Charaktereigenschaften und Ver-
hältnisse sind aber solche, aus den genannten Ursachen entspringende Verstellungen
so unerlässlich, dass sie ja sogar zu einem Bestandtheil unserer moralischen Pflichten
geworden sind; wird doch Verstellung um ihrer selbst willen oft als ein Element des
gesitteten Betragens hingestellt. All das hat aber nur seinen Grund in dem Vorwalten
von Gefühlen, welche mit dem social Guthen in Widerspruch stehen – von Gefühlen,
die nicht an den Tag gelegt werden können, ohne Zerwürfnisse oder Entfremdung
hervorzurufen.52
Das gesellschaftliche Leben ist eine einzige Schule des Verdachts: Das Bedürfnis nach
Sicherheit und Vorhersehbarkeit schafft eine Reihe von Verhaltensweisen, die darauf ab-
zielen, die Absichten und Gefühle des Nächsten zu verstehen und ihm zu entlocken. Da-
her die Beachtung der Mimik und Gestik: wir lernen die Meinungen und Erwartungen des
Anderen zu reproduzieren und sie vorherzusehen, um uns nicht von ihnen überraschen
zu lassen. Sie werden in einem langsamen, stetig wachsenden Prozess der Konvergenz
und physiologischen Anpassung53 imitiert und assimiliert. Selbst die sublimsten Gefühle
wie Liebe und Mitleid haben den gleichen Ursprung: ihr letztes Ziel ist es, den Anderen
zu erraten, um ihn zu neutralisieren und angstfrei über ihn verfügen zu können (M 309,
M 248, M 532).54 Verstellung, aber auch Verstecken: der moralische Mensch passt sich,
wie das Chamäleon, das sich an die Umgebung anpasst, um den Häschern zu entkommen,
mit wahrhaft tierischer Schläue den Existenzbedingungen an, versteckt sich im Kollektiv,
unterdrückt seine Einzigartigkeit, um ein Stück Sicherheit zu erlangen (vgl. M 26).

52 Spencer: Die Thatsachen der Ethik, a.a. O., S. 225 – 226. Nachlass 1880– 1882, KSA 9, 3[84]
scheint eine Antwort auf Spencer zu sein: „Was jetzt die Bildung fordert, unsere Gemüthsbewe-
gungen nicht auszudrücken, ist die lange Folge der Furcht: die Menschen sollen nicht sehen, was
in uns vorgeht, wobei vorausgesetzt wird, daß es immer etwas Schlimmes ist oder daß wir damit
unseren Feinden gute Gelegenheiten geben. Die höfische Verstellung, der Stoicismus in einem
festgehaltenen artigen Gebärdenspiel geht von bösen Voraussetzungen über die Mitmenschen
aus: sie sollen uns nicht kennen lernen, es wäre unser Schade“. Vgl. auch Nachlass 1880– 1882,
KSA 9, 1[96] u. 3[83].
53 Vgl. Nachlass 1880– 1882, KSA 9, 3[24] u. [33].
54 Vgl. auch Nachlass 1880– 1882, KSA 9, 4[280]: „Sich vorstellen, was ein Anderer empfindet,
wenn wir dies oder jenes thun – also den Nutzen oder Nachtheil von uns zu berechnen aus dem
erschlossenen Nutzen oder Nachtheil eines Anderen, zu welchem ihn unsere Handlung führt –
das ist eing eübt im Thierreich in den Mitteln des Schutzes und des Angriffs. Sich die Wirkung
auf einen Anderen vorstellen und um des Anderen willen etwas thun – die größte Schule! der
Erkenntniß! Dazu hat am wenigsten das instinktive Mitleid geführt, sondern die Angst und
d e re n Phantasie: und ihr Resultat ist vom Hunger (als Ausgang des Angriffs auf ein anderes We-
sen) acceptirt worden. Zu errathen, wie es einem zu Muthe ist, aus seinen Gebärden, ob er flie-
hen oder angreifen will usw. – ohne die h ö ch s te A n s pannung des Intellekts durch die Noth
hätte man das nicht gelernt“.
326 Maria Cristina Fornari

Nietzsche fand ein herausragendes Beispiel dieser Art von Anpassung gerade in den
zeitgenössischen Lehren, mit denen er sich auseinandersetzte: Was sind die Anpassung
Spencers, der gesellschaftliche Organismus Fouillées, das Bewusstsein von Espinas ande-
res, als Formen von Mimikry, bei denen das Individuum im kollektiven System ver-
schwindet? Das Vermischen und Sichanpassen im moralischen Sinn ist gleichbedeutend
mit dem Einnehmen eines allgemeinen, und gerade deshalb untauglichen und unfrucht-
baren Standpunkts, der das Individuum von der Verantwortlichkeit für einen eigenen
Wertmaßstab befreit.
Dies ist das Charakteristikum der modernen Gesellschaft, in welcher „G l e i ch h e i t
gilt als verbindend und erstrebenswerth! Es spukt [darin] ein falscher Begriff von Eintracht
und Frieden, als dem nützlichsten Zustande“ (Nachlass 1880–1882, KSA 9, 11[303]);
in der das Aufgehen des Individuums in der Funktion des Ganzen als wünschenswert
erscheint, um die Zentrifugalkraft kontrollieren und eliminieren zu können (M 132). Dies
ist der „Grundgedanken einer Cultur der Handeltreibenden“, in welcher der Markt auf das
Sicherheitsbedürfnis reagiert, indem er den Wert einer jeden Sache im Verhältnis zu seinem
Tauschwert bestimmt und so ganz unwahrscheinliche Äquivalenzen schafft (M 175).
Aber was für ein Menschentypus geht aus der Übernahme solcher Wertetafeln her-
vor? Ein schwacher Typus, einer der unfähig ist zu Schaffen, gutmütig und klein an Geist:
er ist nur Sand und Schleim, unfähig zur Errichtung einer Gesellschaft, die dem Nihilis-
mus die Stirn bietet und eine Umwertung aller Werte in eine bejahende und aristokrati-
sche Richtung vorbereiten kann.
Sind wir denn bei einer solchen ungeheuren Absichtlichkeit, dem Leben alle Schärfen
und Kanten abzureiben, nicht auf dem besten Wege, die Menschheit zu Sand zu ma-
chen? Sand! Kleiner, weicher, runder, unendlicher Sand! Ist das euer Ideal, ihr He-
rolde der sympathischen Affectionen? (M 174)55
So fragt Nietzsche mit Alexis de Tocqueville, welcher in Die Demokratie in Amerika
schreibt: „Die Mitglieder eines demokratischen Gemeinwesens gleichen den Sandkör-
nern am Meeresufer, deren jedes sehr klein ist und an keinem andern haftet“. Er warnte
vor den Gefahren der Demokratie und befürchtete „nicht ein Uebermaß von Freiheit,
sondern von allzu bereitwilliger Fügsamkeit, nicht die Anarchie, sondern die Servilität, nicht
den allzu jähen Wechsel, sondern eine chinesische Erstarrung“.56

55 Vgl. auch Nachlass 1880– 1882, KSA 9, 6[163].


56 Nietzsches Quelle ist J. S. Mills Rezension von Tocquevilles Die Demokratie in Amerika, erschie-
nen in der Edinburgh Review von 1840 und auf deutsch erschienen in Bd. 11 von Mills Werken
(Mill, John Stuart: Gesammelte Werke. Autorisierte Uebersetzung unter Redaktion von Theodor
Gomperz. Leipzig 1869– 75 [BN]. Bd. 11. S. 1 – 67, 37 u. 46, mit zahlreichen deutlichen Zeichen
und Unterstreichungen Nietzsches). Vgl. Nachlass 1880– 1882, KSA 9, 3[98]: „Je mehr das
Gefühl der Einheit mit den Mitmenschen überhand nimmt, um so mehr werden die Menschen
uniformirt, um so strenger werden sie alle Verschiedenheit als unmoralisch empfinden [laut
Tocqueville: „Je besser Jeder weiß, daß er auf gleicher Stufe mit jedem einzelnen Individuum
steht, desto hilfloser und unbedeutender fühlt er sich der gesammten Masse gegenüber und
desto unglaublicher erscheint es ihm, daß die ganze Welt fehl gehen könne“ – Mill: Gesammelte
Werke, a. a. O., S. 34, mit Zeichen am Rand]. So entsteht nothwendig der Sand der Menschheit:
Alle sehr gleich, sehr klein, sehr rund, sehr verträglich, sehr langweilig. Das Christenthum und
die Demokratie haben bis jetzt die Menschheit auf dem Wege zum Sande am weitesten gefahren.
Ein kleines, schwaches, dämmerndes Wohlgefühlchen über Alle gleichmäßig verbreitet, ein ver-
bessertes und auf die Spitze getriebenes Chinesenthum, das wäre das letzte Bild, welches die
Menschheit bieten könnte?“.
Die Spur Spencers in Nietzsches „moralischem Bergwerke“ 327

Zu fordern, dass „Alles „guter Mensch“, Heerdenthier, blauäugig, wohlwollend,


„schöne Seele“ – oder, wie Herr Herbert Spencer es wünscht, altruistisch werden solle,
hiesse dem Dasein seinen g rossen Charakter nehmen, hiesse die Menschheit castriren
und auf eine armselige Chineserei herunterbringen“ (EH, Warum ich ein Schicksal bin 4).
Für Spencer gilt genau das Gegenteil:
dass ohne genügende Sicherheit des Lebens, welche den Menschen möglich macht,
ohne Furcht ihren Geschäften nachzugehen, weder Glück noch Wohlstand der Ein-
zelnen wie der Allgemeinheit bestehen könne […]57.
„Heerde“ ist Nietzsches schlichter Kommentar zu dieser Seite der Thatsachen der
Ethik.58 Er will damit zeigen, wie sehr diese Werte von einem Instinkt vorgegeben sind
und nicht von einer vernünftigen Logik, oder gar einer angeblichen natürlichen Notwen-
digkeit. Ein Instinkt, der nach Unangreifbarkeit strebt und nach dem kleinen Glück und
dessen Ideale, indem sie sich an die modernen Lebensbedingungen angepasst haben, in-
zwischen den durchschnittlichen europäischen Geschmack erobert haben.
Nietzsches Kritik an dieser Art von Genealogie, der er vor allem mangelnden Ge-
schichtssinn vorwirft, brandmarkt gerade die Annahme eines moralischen Standpunkts,
der „historisch“ gerechtfertigt zu sein beansprucht, aber in Wirklichkeit genau das ethi-
sche Modell verabsolutiert, das den Trieben und Bedürfnissen seiner jeweiligen Träger
entspricht.
Nietzsche hat sich mit den Engländern auseinandergesetzt, um Anregungen für seine
Geschichte der Moral zu gewinnen, konnte aber keine Hilfe finden. Sie sind weder Phi-
losophen noch Psychologen, sondern „philosophische Arbeiter“ ( JGB 211), lediglich da-
rauf bedacht, die Bestimmung der herrschenden Werte in Formeln zu fassen. Sie können
(und wollen) sich so deren Bann nicht entziehen, wodurch sie als Moralhistoriker völlig
inakzeptabel werden. Aber in dem emotionalen Modell ihrer Wertpräferenzen hat Nietz-
sche doch einen wichtigen Schlüssel zur Interpretation gefunden. Ihr symptomatisches
Festhalten an einem alten und subtilen, aus Selbsterhaltung einverleibten Moralsystem59
verleitet ihn zu dem entgegengesetzten Versuch, zum Experiment mit den Trieben, zur
spielerischen Umgestaltung, deren Ergebnis nie in einer bestimmten Konstellation fixiert
wird, sondern immer für die verschiedensten Perspektiven offen bleibt. Erst nachdem
er die Geschichte der altruistischen Philosophie durchlaufen hat, kommt Nietzsche zu
einem Schluss, der ihm schließlich gestatten wird, den Vorhang zu heben für die „unge-

57 Spencer: Die Thatsachen der Ethik, a.a. O., S. 58, von Nietzsche unterstrichen und am Rand mit
Ausrufezeichen versehen.
58 Nietzsche notiert die Randnotizen „Hornvieh“ und „Heerde“ auf S. 57 und 58 von Spencers
Thatsachen der Ethik, wo dieser gegen Hobbes polemisiert und dessen Doktrin einer von der Au-
torität des Gesetzes hergeleiteten Moral. Spencer zufolge macht sich Hobbes nicht klar, wie das
Gesetz ganz im Gegenteil eine natürliche Harmonie sanktioniert, die sich gemäß den spontanen
Regeln der Evolution entwickelt und stabilisiert. Nietzsches Einwand (der mit Hobbes überein-
stimmt, indem er am Rand „ego“ notiert) bezieht sich auf den angeblich natürlichen Ursprung
des Rechts: „Spencer setzt immer „Gleichheit der Menschen“ voraus“ (Nachlass 1880– 1882,
KSA 9, 1[98]): Nietzsche ist sehr kritisch gegenüber einem Konzept von natürlicher Gleichheit,
anstelle eines Gleichgewichts von Macht, welches für ihn die wahre Quelle der Gerechtigkeit
ausmacht. In welchem Sinn allein Recht zwischen Individuen möglich ist, als anerkannter und
aufrecht erhaltener „Zustand und Grad von Macht“, erläutert Nietzsche in M 112.
59 „Und daß man eine Moral will, setzt schon einen moralischen Kanon voraus! Man sollte doch
Ehrfurcht haben vor dieser einverleibten Moral der Selbsterhaltung! Sie ist bei weitem das
feinste System der Moral!“ (Nachlass 1884– 1885, KSA 11, 25[437]).
328 Maria Cristina Fornari

heure Fälschung der Psychologie der bisherigen Moralen“ (Nachlass 1885– 1887,
KSA 12, 10[57]). Psychologie wird auf diese Weise zu einer „Morphologie und Ent-
wicklungslehre des Willens zur Macht“ ( JGB 23), in welcher sich der Utilitarismus und
Eudämonismus sowie die Herdenmoral als entscheidende Stufen auf dem Weg der Ent-
wicklung eines moralischen Modells erweisen werden.60 „Haupt-Gesichtspunkt der his-
torischen Methodik“ (GM II 12) wird der Wille zur Macht, ein bewegtes Feld miteinander
streitender Kräfte, das weder Furcht noch kleine Finalitäten kennt: Die Ableitung aller
Affekte von einem Willen zur Macht, ist die reifste Lösung in Bezug auf den Ursprung der
Moral. Die Genealogie der Moral markiert in diesem Sinn den Endpunkt Nietzsches. Nicht
umsonst trennt er sich in diesem Werk endgültig von den „Engländern“ (allen voran Paul
Rée), aber mit der Kraft und beinahe Bitterkeit dessen, der zu seinem Bedauern gezwun-
gen ist, seine Schulden anzuerkennen.

60 Zur Psychologie als „Morphologie des Willens zur Macht“ vgl. Wotling, Patrick: „Der Weg zu
den Grundproblemen“. Statut et structure de la psychologie dans la pensée de Nietzsche. In:
Nietzsche-Studien 26 (1997). S. 1 – 33, und Wotling, Patrick: La Pensée du sous-sol. Paris 1999.

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