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Der transzendentalen Methodenlehre erstes Hauptstück

Die Disziplin der reinen Vernunft

[610] Die negativen Urteile, die es nicht bloß der logischen Form, sondern auch dem Inhalte
nach sind, stehen bei der Wißbegierde der Menschen in keiner sonderlichen Achtung; man
sieht sie wohl gar als neidische Feinde unseres unablässig zur Erweiterung strebenden
Erkenntnistriebes an, und es bedarf beinahe einer Apologie, um ihnen nur Duldung, und noch
mehr, um ihnen Gunst und Hochschätzung zu verschaffen.

Man kann zwar logisch alle Sätze, die man will, negativ ausdrücken, in Ansehung des Inhalts
aber unserer Erkenntnis überhaupt, ob sie durch ein Urteil erweitert, oder beschränkt wird,
haben die verneinenden das eigentümliche Geschäfte, lediglich den Irrtum abzuhalten. Daher
auch negative Sätze, welche eine falsche Erkenntnis abhalten sollen, wo doch niemals ein
Irrtum möglich ist, zwar sehr wahr, aber doch leer, d.i. ihrem Zwecke gar nicht angemessen,
und eben darum oft lächerlich sind. Wie der Satz jenes Schulredners: daß Alexander ohne
Kriegsheer keine Länder hätte erobern können.

Wo aber die Schranken unserer möglichen Erkenntnis sehr enge, der Anreiz zum Urteilen
groß, der Schein, der sich darbietet, sehr betrüglich, und der Nachteil aus dem Irrtum
erheblich ist, da hat das Negative der Unterweisung, welches bloß dazu dient, um uns vor
Irrtümer zu verwahren, noch mehr Wichtigkeit, als manche positive Belehrung, dadurch unser
Erkenntnis Zuwachs bekommen könnte. Man nennet den Zwang, wodurch der beständige
Hang, von gewissen Regeln abzuweichen, eingeschränkt, und endlich vertilget wird, die
Disziplin. Sie ist von der Kultur unterschieden,[610] welche bloß eine Fertigkeit verschaffen
soll, ohne eine andere, schon vorhandene, dagegen aufzuheben. Zu der Bildung eines Talents,
welches schon vor sich selbst einen Antrieb zur Äußerung hat, wird also die Disziplin einen
negativen68, die Kultur aber und Doktrin einen positiven Beitrag leisten.

Daß das Temperament, imgleichen daß Talente, die sich gern eine freie und uneingeschränkte
Bewegung erlauben (als Einbildungskraft und Witz), in mancher Absicht einer Disziplin
bedürfen, wird jedermann leicht zugeben. Daß aber die Vernunft, der es eigentlich obliegt,
allen anderen Bestrebungen ihre Disziplin vorzuschreiben, selbst noch eine solche nötig habe,
das mag allerdings befremdlich scheinen, und in der Tat ist sie auch einer solchen
Demütigung eben darum bisher entgangen, weil, bei der Feierlichkeit und dem gründlichen
Anstande, womit sie auftritt, niemand auf den Verdacht eines leichtsinnigen Spiels, mit
Einbildungen statt Begriffen, und Worten statt Sachen, leichtlich geraten konnte.

Es bedarf keiner Kritik der Vernunft im empirischen Gebrauche, weil ihre Grundsätze am
Probierstein der Erfahrung einer kontinuierlichen Prüfung unterworfen werden; imgleichen
auch nicht in der Mathematik, wo ihre Begriffe an der reinen Anschauung sofort in concreto
dargestellet werden müssen, und jedes Ungegründete und Willkürliche dadurch alsbald
offenbar wird. Wo aber weder empirische noch reine Anschauung die Vernunft in einem
sichtbaren Geleise halten, nämlich in ihrem transzendentalen Gebrauche, nach bloßen
Begriffen, da bedarf sie so sehr einer Disziplin, die ihren Hang zur Erweiterung, über die
engen Grenzen möglicher Erfahrung, bändige, und sie von[611] Ausschweifung und Irrtum
abhalte, daß auch die ganze Philosophie der reinen Vernunft bloß mit diesem negativen
Nutzen zu tun hat. Einzelnen Verirrungen kann durch Zensur und den Ursachen derselben
durch Kritik abgeholfen werden. Wo aber, wie in der reinen Vernunft, ein ganzes System von
Täuschungen und Blendwerken angetroffen wird, die unter sich wohl verbunden und unter
gemeinschaftlichen Prinzipien vereinigt sind, da scheint eine ganz eigene und zwar negative
Gesetzgebung erforderlich zu sein, welche unter dem Namen einer Disziplin aus der Natur der
Vernunft und der Gegenstände ihres reinen Gebrauchs gleichsam ein System der Vorsicht und
Selbstprüfung errichte, vor welchem kein falscher vernünftelnder Schein bestehen kann,
sondern sich sofort, unerachtet aller Gründe seiner Beschönigung, verraten muß.

Es ist aber wohl zu merken: daß ich in diesem zweiten Hauptteile der transzendentalen Kritik
die Disziplin der reinen Vernunft nicht auf den Inhalt, sondern bloß auf die Methode der
Erkenntnis aus reiner Vernunft richte. Das erstere ist schon in der Elementarlehre geschehen.
Es hat aber der Vernunftgebrauch so viel Ähnliches, auf welchen Gegenstand er auch
angewandt werden mag, und ist doch, so fern er transzendental sein soll, zugleich von allem
anderen so wesentlich unterschieden, daß, ohne die warnende Negativlehre einer besonders
darauf gestellten Disziplin, die Irrtümer nicht zu verhüten sind, die aus einer unschicklichen
Befolgung solcher Methoden, die zwar sonst der Vernunft, aber nur nicht hier anpassen,
notwendig entspringen müssen.

Ich weiß wohl, daß man in der Schulsprache den Namen der Disziplin mit dem der
Unterweisung gleichgeltend zu brauchen pflegt. Allein, es gibt dagegen so viele andere
Fälle, da der erstere Ausdruck, als Zucht, von dem zweiten, als Belehrung, sorgfältig
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unterschieden wird, und die Natur der Dinge erheischt es auch selbst, für diesen
Unterschied die einzigen schicklichen Ausdrücke aufzubewahren, daß ich wünsche, man
möge niemals erlauben, jenes Wort in anderer als negativer Bedeutung zu brauchen.

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