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Romy Schneider

VOL. 1 - NR. 7 12.1999 Journal Oriental ISSN 0941 -7028


DM 10,- Ös 125 FF 30 FB 200 L. 11.000 CUBA LIBRE

Jeanne Moreau in La Strada


VOL. 2 - NR. 1
13. 11. 1972
In einer dieser Mietwohnungen in Paris, aus der die Bewohner
im Sommer an den Atlantik flüchten, sah ich sie wieder. An den
Türen in den dunklen Korridoren waren keine Namenschilder.
Alles anonym. Ich wußte, es würde nah am Eiffelturm sein und
hatte notiert: Place Grenelle und die Hausnummer. Das war alles.
Heute morgen schon auf den zu Hängematten durchgelegenen
Matratzen hatten wir unendlich bleich ausgesehen. Jetzt stiegen
wir stumm Stockwerk um Stockwerk in das düstere Treppen-
haus hinein. Keinerlei Orientierung, bis auf die großen Ziffern
der Nummern der Stockwerke. Im 4. kamen Leute auf den Flur.
>On cherche Bergniard.< Welch ein Glück. Man kannte sich. Hier
waren wir richtig und standen schon vor der Tür. Ich klingelte.
Bis auf einen bellenden Hund rührte sich nichts. Die Tür ging
auf, sie stand vor mir und alles war anders als auf der Ile mit den
glühenden Sommernachmittagen und verbrannter Haut und in
den Träumen.

Ich war fest davon überzeugt, die Tage auf der Ile und in Paris
wären ein Erlebnis gewesen, das ich mir, wenn ich wollte, jeder-
zeit plastisch mit allen Empfindungen und Eindrücken würde
wachrufen können. Diese Prophezeiung blieb so beständig wie
gespenstisch. Sie ist vermessen und abgründig und doch weckt
allein der Blick auf das Gekritzel des zerfledderten Reisetagebuchs
Bilder, Residua, Erinnerungen an Ereignisse, die mich verfolgen
sollten. Kunstwurzeln. Bildpunkte. Phantome, Textfragmente;
Traumschrecken, Gespinste, Räusche.
Wieder erklingt Pop Corn. Das Rutschen der Schuhe auf dem
grobkörnigen Sand des Platzes, der die Tanzfläche war. Der Rauch
vom Kamin zog durch den lauen Abendwind. Gekaute Erdnüsse
und saurer Wein ... Aufpassen! Keinen Verrat üben an dieser Stelle
und die nächste Runde Autoskooter !
Die neuen großen Nebellampen warfen zwei von Marskanälen
durchzogene Lichtglocken auf den Asphalt, den das Auto schluck-
te. Immer den roten Lichtpunkten vor uns hinterher. Überspannt
aufgerissene Augen blickten in die von roten Punktpaaren gelö-
cherte Bahn. Ein lichter Schleier warf sich darauf und verwischte
die Konturen. Der Motor des 126ers brummte nervös. Runter-
schalten am Berg. Die Scheibe war auch innen kalt und ließ mich
jedesmal frösteln, wenn ich mit dem Kopf dagegen nickte. Ich
löste mich von der Gruppe. Blickte mich um und sah sie im Nebel
verschwinden. Stimmen gehen durcheinander. Halbe Zeilen und
unvollständige Strophen. Ich pinkele in das geriffelte Anthrazit
an der Kante des lauen Meeres bei Ebbe. Helle Funken spritzen
auf. Unter meinen Füßen ein Feuerwerk. Ich laufe ins Meer,
dann zurück. Berichte. >Der spinnt!< >Il est fou!< >Bien sur!<
>Mais non! < >Viennent! Regarent!< Ihre Füße tappen vorsichtig,
treten ungläubig und stapfen schließlich taumelnd und trunken
und entfachen Lichtgarben. Wellenkämme schäumen in lichter
Phosphoreszenz.

6.1.1973
Ich schlafe und träume schlecht. Es ist alles so unsicher. Ich weiß
nicht, ob ich mir noch lange diese Anspannung leisten kann, jetzt
die paar Monate vor dem Abitur. Diese nervöse Anspannung
macht mich taub. Ich kann nicht mehr fühlen, obwohl ich so viel
spüre, so viel auf mich einprasselt.

7.1.1973
Heute nacht habe ich sehr intensiv von Dir geträumt. In einem
riesigen Haus habe ich mich von den Mädchen verabschiedet,
die ich einmal gekannt habe. Ich wachte in einem Zimmer auf,
in dem Du mir gegenüber in einem Bett lagest. Sofort bin ich
aus meinem Bett gestiegen und habe nach Dir getastet. Habe
Kommode und Schrank berührt. Im halbwachen Zustand konnte
ich mir nicht vorstellen, dich jetzt nicht zu erreichen. Ich habe
flüsternd nach Dir gerufen.

2.11.1973
Die Ausmaße der Zerstörung ahnte ich erst.
Zunächst war ich erschrocken und im Überblickswahn glaubte
ich auch, das Geschehen durch Vernunftgründe nutzbar machen
zu können. Es wäre meinen Vorstellungen von Entwicklung ent-
gegengelaufen, mir einen Rückschlag zuzubilligen. Es hätte mich
gekränkt, es einzugestehen.

Meine Hände sind angenehm hart und rubbelig. Feiner Holz-


staub vom Sägen und Leimreste hängen an den Fingern. Mir ist
jetzt bewußt geworden, wie gründlich die Substanz der Welt, in
der ich meine kindlichen Erfahrungen machte, abgetragen und
hinweggeschoben ist. Mein Studio gibt mir jetzt Halt. Es ist eine
Insel, angefüllt mit Bedeutung. Keines der Dinge von hier kann
ich außerhalb dieses Raumes dulden. Kaum könnte es dort vor
dem Zugriff der vernichtenden Hände geschützt werden. Ich
scheue mich, Abfälle wegzuwerfen. Residua meines Seins sind
auch sie, in zugeschraubte Gläser gefüllt. Was verrottet und was
bleibt? Beerdigung oder Triumphzug.

8.3.1974
Im Traum wandelte ich auf einem weiten Platz, auf dem eine
lautlose Zeitlupenkirmes spielte. Sie bog vor mir in einem Auto in
die Allee ein. Auf der langen Geraden konnte ich mit Siebenmei-
lenstiefeln mit ihrem Fahrzeug Schritt halten. Die Schnelligkeit
der Bewegungen machte die Häuser, die vor einigen Tagen noch
im hellen Glanz erstrahlten, alt und rissig. Mein erstaunter Blick
blieb an den Fassaden hängen, während ich sie aus den Augen
verlor. In der Patina gewahrte ich den Glanz und die Würde des
Verfalls. Aus dem Rohr einer alten Brauerei quoll Bier. Als ich es
auffangen wollte, um mich zu laben, gerann es zähflüssig. Soldaten
und Panzer spiegelten sich darin. Ich konnte sehen, wie ihnen
Flugzeuge folgten, die lautlos mit mir im Dunst verschwanden.

6.10.1973
Gestern hatte ich Telefonposten und ging vor der großen gläsernen
Eingangstür hin und her. Auf der Außenseite war dunkle Nacht,
so daß ich meine Haltung in dem blanken Glas überprüfen
konnte. Eine gewisse soldatische Haltung spiegelte sich darin.
Mein Habitus mit dieser Architektur vereint machte mir die Rolle
schmackhaft, die ich mir zu spielen aufgegeben hatte.

13.10.
Reh umgefahren.
Rätselhafte Wesen, die von vorn zwei grelle Lichter zeigen,
gleichmäßig brummen und gelegentlich quietschen, wenn sie uns
nahe kommen. Dann hinterlassen sie schwarze Streifen. Anders
als unsere Feinde im Wald jagen sie nur auf den harten Straßen.
Haben sie eines von uns getroffen, flüchten sie gewöhnlich und
lassen ihre Beute verenden. Sie verschmähen unser Fleisch, unser
Herz und unsere Leber. Unsere Hörner und das Fell lassen sie
liegen. Mein Freund, der Philosophiestudent, würde sagen: Sie
sind sich selbst genug.

20.11.74
Als ich dieses Wesen aus dem Haus treten sah und scheu entflie-
hen, erstarrte ich. Aus der Trance erwachend war ich so schwach,
daß ich nur daran denken konnte, mein Selbstmitleid zu pflegen.
Ich gefiel mir dabei, es als Melancholie der Dichter zu deuten.
Dieses Mißverständnis hinderte mich nicht, eine unverschämte
liebebedürftig, hin und her gerissen, weil sie sich von ihren Emo-
tionen leiten läßt. Wenn sie sich nicht, sprunghaft wie sie ist, für
etwas anderes entscheidet und mir die zu erwartende Einberufung
zur Wehrübung erspart bleibt, werde ich bald für drei Monate mit
ihr und Simone nach Griechenland verschwinden. Es reizt mich,
mit diesen beiden Emotionsextemistinnen auf Fahrt zu gehen.
Im Fernsehen zeigten sie einen Film über die Verrohung des Franz
Blum im Knast. Vieles erinnerte mich an meine Militärzeit, die sich
immer wieder zwischen die Gegenwart und meine Zukunftspläne
schiebt und mich zu einem Mann auf Abruf macht.
Spät klingelte Frederike und wollte mit einem von uns auf ein Bier
ausgehen. Als wir in die Gööle kamen, fühlte ich mich in Gemälde
von Grosz und Lautrec versetzt. Als sich das Gesumm zu diffe-
renzieren begann, hörte ich einen jungen Typen, der volltrunken
neben mir über dem Tresen hing und davon faselte, mit einer
Winchester mit 38 Schuß Neger abzuknallen. Hans spielte Shan-
ties und eine Auswahl seiner 150 Melodien aus Musicals, die er
bekanntermaßen beherrschte. Regine lag schwer und genüßlich in
meinem Schoß und sang mit. Die Frau mit dem präraffaelitischen
Gesicht kam mit dem Morgengrauen und hatte den Tresenmann
vom Kanister im Schlepp. Ich wurde müde und hatte mich zum
Gehen aufzuraffen.

13.8.
Nachdem der Bus laut hupend vorbeigerauscht war, hatte ich
mich darauf eingestellt, nicht so schnell von hier wegzukommen
und bestellte mir ein Omlett und Kaffee. Ich hatte das Besteck
noch nicht angerührt, als ein Auto in Richtung Irapetra anhielt.
Es fuhr sogar weiter, wie uns der Fahrer schon nach einer kurzen
Wegstrecke gestand, und wäre es nur, weil er Katharinas Anwe-
senheit auf dem Beifahrersitz genoß. Noch bevor sie wünschte, in
Agios Nikolaos auszusteigen, hatte er uns überdies sein heutiges
Passage in einen Brief an sie einzufügen. Auf einem Zettel ließen
sich einige Zeilen seines Entwurfs entziffern:
Der an Hochmut grenzende Stolz, mit dem Du in Deiner Einsie-
delei zurückgezogen lebst, belustigt mich. Wenn ich es für lohnens-
wert hielte, würde ich Dir rechts und links eine knallen, damit Du
aus Deinen durch Grübeln aufgepeitschten Gedanken erwachen
magst. Was ist bloß aus Deiner so hoffnungsvoll begonnen Suche
nach Vernunftgründen geworden? In Deiner Einsamkeit haben
sie sich in Ihr Gegenteil verdreht. Dein von mir geliebter Körper
hat sich zu einer linkischen Figur geschraubt.

11.6. 76
Gegen fünf Uhr wurde ich von einem extremen Jucken an den
Genitalien geweckt, von wo es sich auf meinen ganzen Körper
ausbreitete. Jedes Reiben, das eine kleine Linderung brachte,
wurde mit gesteigertem Juckreiz bestraft, was mich schier in den
Wahnsinn trieb. Mir blieb keine Wahl, als es Jucken zu lassen
und anzuerkennen, daß es stärker war als ich und meine Mittel.
Später versuchte ich einen Arzt zu finden, der mich behandeln
würde, doch hatte ich ohne Krankenschein keine Behandlung zu
erwarten. Kaufte mir in der Apotheke eine antibiotische Salbe.
Ich fühle mich kastriert. Mein entzündeter Sack zwingt mich in
die Defensive, denn ich konnte nur noch Zärtlichkeiten verteilen
und mir jede weitergehende Absicht an den Hut stecken.
Heute Nachmittag verfaßte ich ein Papier über die kulturpoli-
tischen Perspektiven unserer Fachschaft, das auf der Kritik der
Amerikanisierung unserer Kultur basierte. Als Regine später kam,
unterhielten wir uns gut über Gefühle und Verletzlichkeit. Sie hielt
gar nichts davon, wenn man sie penetrant bedrängte und sie sich
gezwungen fühlte, ein bestimmtes Verhalten an den Tag zu legen
oder Ansichten zu teilen. Sie erinnert mich an den Bruder eines
früheren Mitschülers, den wir Lucky nannten. Sie ist warm und
Fahrtziel Heraklion anvertraut. Hoch über der Bucht tranken
wir einen Nescafé und Katharina verabschiedete sich mit einem
Kräuterbund von mir. Der kräftige Minzegeruch darin begleitete
mich bei der Einfahrt nach Heraklion, das sich heute anders als
vor drei Wochen in klarer Luft zeigte. Duftender Jasmin lockte
mich in den Innenhof eines Schlafsackhotels.

14.8.
Der Strauß mußte mich auch noch heute Morgen als Liebling
der Götter ausgewiesen haben, denn er verhalf mir zu einem
günstigen Kilo goldener süßer Weintrauben. Ich mischte mich
im Park unter die auf Bänken und Mauern im Schatten der
Parkvegetation dösenden Menschen und erfrischte mich mit den
Trauben und ihrer Minze. Auf dem Kiesweg machte ein Fotograf,
mit einer alten hölzernen Photomaschine Aufnahmenvon einem
dicken Touristen. Das mit Messingteilen beschlagene Stativ war
mit Rahmen, Pappen, Passepartous, Fotopapieren und allerlei
Krempel behängt. Er machte sich unter einem schwarzen Tuch
zu schaffen, das sein tragbares Chemielabor bedeckt hielt, und
zauberte in wenigen Minuten fertige Fotografien hervor.
Ich denke an die wahnsinnige letzte Nacht. Mit den acht Fran-
zosen, die aus Matala zurückgekommen waren, lagerten wir zu
zwölft auf den Matratzen. Der Neuseeländer und ein Kanadier
waren mir schon bei der Suche nach Pierre und Sheri begegnet.
Dazu hatte sich Mark, ein Engländer gesellt, der sich nach mei-
nem Spritkocher erkundigte, als ich vor der Nacht noch einmal
reinschaute, um Brot und Honig fürs Frühstück abzuladen. Man
kam überein, Drachmen zusammenzuwerfen und ein kleines
Gelage zu improvisieren. So nahm denn eine Nacht mit lustigen
Gesellen ihren Lauf. Einer der Franzosen hatte sich in Matala eine
Staphylokokkeninfektion eingefangen, über die er berichtete, als
er den Wein wegen einer Antibiotikabehandlung ablehnte. Sein
Matratzennachbar hatte derweilen ungeniert seinen Dödel aus
seinen Shorts hervorgezogen und suchte seine Vorhaut nach Sym-
ptomen ab. Ich hatte mich inzwischen in Brigitte, die neben mir
lag verguckt. Ihre Freundin Chantalle war erst 19 und zeigte Fotos
von ihrem einjährigen Sohn umher, den sie im Winter mit nach
Indien nehmen will, damit sie ihn nicht in eine französische Schu-
le schicken muß. Als sich das laute Hin und Her etwas beruhigt
hatte, konnten wir es nicht länger lassen und unter Androhung
von 3 Jahren Gefängnis machte ein Joint die Runde. Nach dem
Kiffen kam ich mit den Sprachen vollkommen durcheinander und
stammelte in einem mit griechischen und französischen Brocken
durchmischten Englisch.

18.8.
Über Nacht blieb ich am Park am Hafen. Entspannt hatte ich
dort im Dorian Gray gelesen. Reine Muße, ohne Verpflichtung,
im Schoß der Zeit. Ich vertraue mich ihr an und lerne zu warten.
Warten, Abwarten und Gelassenheit habe ich entdeckt. Tugenden,
denen ich mich in den letzten Wochen langsam genähert habe.
Der Schlafentzug der letzten Nacht hat mich heute in eine Tag-
Trance versetzt. Schlaf bedeutet nichts, wo ich die Zeit als meine
Begleiterin bei mir weiß. Der Streit, das Geschrei bedröhnter Frau-
en, das Gezeter veranlaßte Gary zu dem Statement: >It´s like in a
theatre. The first who arrive sit down in front. The next ones on
the seats which are left. And the very last people are those, who are
going to make the performance.< Nach dem Tag völliger Lethargie
nahm ich Gary zum Besuch bei Sheri und Pierre mit. Wir gingen
in die Bars mit dem besten Raki und exquisiten Beilagen. Es gab
Langusten, Schnecken, Kalamaris, Bohnen mit Sardellen, rote
Beete in Knoblauchsauce, Gurken und Oliven, Käse, Frischkäse
mit Rogen, Pommes-frittes, frisch gegrillte Sprotten. Das Schiff
nach Santorin ging um 23 Uhr.
22.11.
Seit Tagen nichts getrunken und ruhelos.
Ich bin überzeugt, daß ich viel drauf habe. Wohin damit, mit
dem Gelernten. Sicher, zwischendurch habe ich immer praktisch
was gemacht. Ich war Handlanger, Bote, Schultafelbauer, Soldat,
LKW-Fahrer. Aber abgesehen davon, was soll das heißen: Praxis?
Das ist ein Fiktion, sie von der Theorie zu unterscheiden. Es gibt
ja wohl auch eine Praxis der Theorie.
Nur so ab und zu habe ich das komische Gefühl, wie mit einer
geladenen und entsicherten Pistole in der Hand. Du lernst was
und wartest immer ungeduldiger darauf, es mal auszuprobieren.
Ich meine wirklich. Nur die Vernunft würde sagen: Laß das! Aber
wozu sonst das Ganze? Oder etwa nur lernen und es potentiell
bereithalten? Für was? Das Erworbene das ganze Leben bereithal-
ten und am besten gar nicht es anwenden, weil es zu gefährlich
ist? Gar niemals?! Diese Haltung überträgt sich zu leicht auf das
Denken.

12.12.
Fete bei Philine. Ingrid kennen gelernt. Sie ist so, wie ich mir
kaum noch Frauen vorzustellen gewagt habe.

20.12.
Freitag bis Sonntag mit Margot allen Lastern gefrönt.
Ich rief sie Freitagabend an, und sie lud mich ein. Der Ekzeß be-
gann. Am Samstagabend stärkten wir uns bei ihrer Freundin mit
einem Spaghettiessen, von dem wir so viel Durst mit in die Gööle
nahmen, daß wir uns dort vollaufen ließen. Als wir am Sonntag-
morgen zu mir nach Hause kamen, hatte sie auf einmal die Idee
mit Parisern zu vögeln, und ich taumelte noch mal raus auf die
Straße. Ich wußte nicht mehr, ob ich Akteur oder Zuschauer war,
als ich mich im Blauen Peter IV an der Theke vorbeitorkeln sah.
In der Toilette war kein Präserautomat. Wer von diesen Gestalten
am Tresen, die kaum ihre besoffenen Köpfe so schnell wenden
konnten, wie meine nicht minder besoffene Gestalt hinter ihnen
vorbei ging, würde welche ziehen. Weiter gings in die Baumwolle.
Ich war voll wie der Laden und fiel der Lilo um den Hals, trank
einen Gin Tonic und begrüßte Felix auf dem Weg zum Klo. Kein
Gummiautomat. Ermattet ging ich nach Hause und fiel in den
Schlaf. Als ich gegen morgen erwachte und mich streckte, stieß
ich unverhofft unter eine warme Decke neben mir. Jetzt war es
gut, daß ich auf meiner nächtlichen Einkaufstour genug Sauerstoff
eingeatmet hatte.

8.-9. 1. 77
Beide Tage gingen ohne Grenzen mit vollem Unbewußtsein
ineinander über. Dunkelheit. Helligkeit. Orte hatten keine
Wirklichkeit für die Bestimmung von Zeit. Blinzelnd ließ ich die
Landschaft mit Kinderbilderbuchmotiven an mir vorbeiziehen.
Die Deichkrone bildete den Horizont, der sich in der Ferne in
die Wiesen schmiegte. Sobald wir uns seinem Verlauf näherten,
wuchs er wieder auf die Höhe, die er zuvor schon erreicht hatte,
als ich begonnen hatte, seinen Verlauf zu beobachten.
Auf dem Kamm des Deichs sah ich entweder erwartungsgemäß
Wasser oder war erstaunt darüber, daß Land dahinter war oder
Schlick, und zweifelte am Sinn des Deichs an dieser Stelle. Im
Fahren blieb ich weiter in der Ungewißheit, ob der Deich nun
hier seinen Zweck erfüllen oder sich nur durch das flache Land
ziehen würde, um den Blick zu versperren.

Wegen Treibeis ruhte der Fährverkehr und auf der zum Fluß
abfallenden gepflasterten Zufahrt lagen noch durcheinanderge-
schobene Eisblöcke. Schiffe tauchten schemenhaft am Horizont
auf. Sie schwammen auf uns zu und wurden immer länger. Dann
wendeten sie uns ihr Heck zu und wurden wieder kürzer. Auf
dem roten Band um den Schornstein eines Dampfers des Union
der Sozialistischen Räterepubliken sitzen Hammer und Sichel,
in Gelb gehalten.

21.1.
Astrid kam, um uns abzuholen, als wir in der Küche saßen und
heftig über Faschismus und Marx Frühschriften diskutierten. Zu-
letzt ging es darum, wie Marx in den Frühschriften den Menschen
sieht. Ist er als Individualist angelegt, der sich schließlich unter
dem Druck der äußeren Umstände, die ihn zur Arbeitsteilung
und zum gemeinsamen Handeln zwangen, zu einem kollektiven
Wesen entwickeln mußte, oder wiederholt sich der Ausgleich
zwischen den menschlichen Anlagen und Bedürfnissen mit den
gesellschaftlichen Notwendigkeiten für jeden und immer wieder
aufs Neue?

An Karneval blieben politisches Handeln und Feiern für uns un-


vereinbar. Schon heute trafen wir die Entscheidung am 19.2. nicht
an die Elbe nach Brockdorf sondern an den Rhein zu fahren.

24.5.99
Mit der Hauptdarstellerin war er alt geworden und mit ihr an
den Anfang ihrer großen Liebe zurückgekehrt. Wiedersehen
nennt man das banalerweise. Mit den Fragen: gesehen oder nicht
gesehen, gefühlt oder nicht gefühlt, gelebt oder nicht gelebt, ge-
rochen oder nicht gerochen, gehört oder nicht gehört? Hatte er
damals begonnen, sich täglich Rechenschaft über die Ereignisse
zu geben, konnten sie erst jetzt in der Rückschau voneinander
unterschieden werden. Große Fragen hatte das aufgeworfen, auf
die auch die inzwischen zurate gezogenen Ästhetiken ihm keine
befriedigenden Antworten geben konnten.
Undatiert:
Sie war immer mit dicken Männern umgeben wie mit einer
Bastei. Einem Peeperkornvater hatte sich ein Peeperkornmann
zugesellt.Ein eifersüchtiger Fettsack, der gefeiert werden wollte
wie ein Feudaler. Nicht einmal das reichte ihr und ihm. Besser ein
König.Oft stand er vor der Glasvitrine mit den vorgeschichtlichen
Idolen. Steingewordene Körperfülle, je nach Epoche verleugnet,
begehrt oder verachtet.
Sie sammelte Diamanten. Er dagegen hatte nur auf seine Sinne
und seinen Geist gesetzt. Hatte er nicht seinerzeit die Festigkeit
der Steine in Frage gestellt? Ein den Geist erhebender Triumph
der bloßen Kraft seiner Gedanken war es, ihre anscheinende ewige
Beständigkeit durch Denken und mit den Mitteln der Sprache in
Frage zu stellen. Diamanten? Pah! Nichts als potentielles Treibh-
ausgas. Und der Rausch und die Schönheit der Sinnlichkeit...
Die Autoren in der Reihenfolge Ihres Erscheinens :

Die KÜRSCHNERZEICHNUNGEN wurden auf einem Schweriner Dachboden gefunden. Sieht nach
Berufs- oder Meisterschule aus.
ALI ACEROL schrieb seine Telefonnummer auf eine Wäscheverpackung. Wir nehmen an, sie ist aus Los
Angeles, wo er lebt.
ANNET STOLARSKI Jg. 1972 schickte uns das Installationsfoto eines bleichen Zimmers mit zarten
Artefakten aus Wien. Sieht man ihre Zeichnung dazu, glaubt man, daß mit forensischer Akribie ein Tatort
vermessen worden ist.
Die belustigenden Redewendungen des ÜBERSETZUNGSPROGRAMMS, das Kenneth Starrs Bericht
ins Deutsche übersetzt hat, ließ uns über die Frage nachdenken, ob die Linguistik prüder ist als die Be-
diensteten der Weichwarenmanufakturen.
Von YVONNE WAHL zeigen wir eines ihrer Aservate von 1997. Ein Lippenstift-Gehäuse verbirgt eine
herausdrehbare rasiermesserscharfe Klinge.
JENNIFER NELSON Jg. 1966 aus Chicago, heute in Athen. Teilnehmer der Performance Passive Wrest-
ling in L.A mußten nach Anweisungen von Christopher Trembley und ihr in den Positionen verharren,
in die sie geworfen wurden.
PETER LAND hat eine schweinische Phantasie. Wir mögen seine Zeichnung May be I’m just a Sizzy, für
die zwei Merci an ihn und an Nikolai Wallner in Kopenhagen gehen.
GEORG WINTER gab uns zwei Urlaubsfotos, die seine Mutter in den 1950ern in Venedig aufgenommen
hat. Es befremdet, daß die beiden Ladies im Vaporetto von einem kaiserlichen Offizier aus Österreich-
Ungarn begleitet werden.
JAN MOHR ist der geilste Bluesgitarist in unserer Nähe. Im Hamburger JayMo’s Bluesclub reproduzierte
er den Konstruktionsplan für einen Joint, den ihm ein Amerikaner gezeigt hat, der vorgab, er hätte ihn
von einem Kiffer bekommen, der nie inhalierte.
Der in England geborene CHRIS NEWMAN lebt als Komponist, Maler und Performer in Berlin und hat
einen gnadenlos bitteren Humor. Wir zeigen sein Polaroid mit der Autographie eines Gedichts.
LEONID TISHKOV aus dem Ural lernte das Zeichnen als Medizinstudent. Bekannt wurde er jedoch als
Künstler mit Darstellungen von Kopffüßlern. Für diese Ausgabe hat er sich in einem besonders arrangierten
Set vor einem Bildschirm selbst fotografiert.
Per E-Mail gab Dr. E.A Scheer den „Tod eines Vollstreckers“ bekannt. RICHARD CROW, der das unstete
Leben eines „Grenzgängers“ pflegte, hat sich durch die Institution of Rot in London einen Namen gemacht.
Mehr: HYPERLINK http://www.glu-sg.si/veryprivate/richardcrow.htm
Das Foto von LORENA WOLFFER zeigt sie als Miss Mexico im Spanischen Oviedo. Auf dem Laufsteg
begleitete sie ein Rap der Stimmen von US-Senatoren beim Debattierten von Vorschlägen zur Einschrän-
kung der Souveränität Mexikos.
Der TEXT-FRIES wurde uns aus einer unbekannten Quelle zugespielt. Er stammt möglicherweise von
einem Romy-Fan.
Contributors in order of appearance:

The STUDIES OF ACCESSORIES OF FUR have been found in the attic of a house in Schwerin. They
probably stem from a journeyman-furrier.
ALI ACEROL wrote his phone number on laundry packing. We guess it’s from Los Angeles where he
lives.
Vienna based ANNET STOLARSKI contributed a photograph showing an installation of a soft white
maiden-room with fragile artefacts. We would like to suggest to see the accuracy of her drawing as being
guided by an almost forensic interest.
Besides its funny to reed what the COMPUTER PROGRAM translated from Kenneth Starrs report
into German, it made us reflecting, whether linguistics are more sheepish than the personnel of the
software-industry.
YVONNE WAHL provided a picture of a court exhibit. This item of her collection of multiples of 1997
has a spine inserted which is extremely incisive.
JENNIFER NELSON from Chicago lives in Athens. The pictures show participants of „Passive Wrestling“
a performance directed by her and Christopher Trembley in L.A.
May be I’m just a Sizzy by PETER LAND was chosen from a convolute of his skits. Merci to Nikolai
Wallner in Copenhagen.
GEORG WINTER forwarded two photographs which were shot by his mother in the 50s when she spend
holidays in Venice. Strangely enough we see two feudal ladies landing in a vaporetto, being protected by
an officer of the Austro-Hungarian Empire.
JAN MOHR is an awesome guitarist running JayMo’s Bluesclub. Reproducing the design of a joint for us
he mentioned that an American guy had drawn it for him, who got the original by a smoker who newer
inhaled.
CHRIS NEWMAN English born composer; painter and performer living in Berlin has a merciless bitter
humour. We publish his Polaroid as well as his lyric: I woke up.
LEONID TISHKOV learned how to draw when studying medicine. However his depictions of a particular
breed of cephalopods became his identifying mark as an artist. For this issue he watched a Romy-Schnei-
der-movie on a TV-set in a very peculiar setting.
Recently Dr. E.A Scheer announced the „Death of an Executor“. RICHARD CROW, who lead the unsteady
life of a „Grenzgänger”, gained some reputation as founder of the Institution of Rot. More: HYPERLINK
http://www.glu-sg.si/veryprivate/richardcrow.htm

The picture of LORENA WOLFFER was taken in Spanish Oviedo during her performance Miss Mexico,
which was accompanied by hammering statements from debating US-Senators demanding to circumvent
the sovereignty of Mexico.
This time the FRIEZE OF THE TEXT has been played into our hands. Possibly it has been written by
a fan of Romy.
KIEL, NONNOMPRESS 1999
Herausgegeben von
Klaus Baumgartner, Kiel
Carsten Höller, Köln
Johannes Lothar Schröder, Hamburg

ISSN 0941-7028

NONNOMPRESS, Feldstraße 118, D-24105 Kiel


Tel. 0431-83564
jo@amokkoma.eu

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