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Titel

Die Lotterie des Lebens


Bildung Das Abitur werde durch den gemeinsamen
Aufgabenpool endlich vergleichbarer, versprechen die Kultusminister.
Und verschweigen, wie unfair es noch immer zugeht.

W
enn Philipp über die anstehen- Die deutschen Schulen werden in den 48 Plätze im Fach Forstwissenschaft, alle
den Abiturprüfungen spricht, be- kommenden Monaten rund 340 000 jungen mit einem Notendurchschnitt schlechter als
teuert er erst einmal seine Un- Menschen attestieren, die allgemeine 2,3 mussten draußen bleiben.
schuld. Nein, er werde seine Eltern nicht Hochschulreife zu besitzen. Das Abitur- Daher wird das Zeugnis im ganzen Land
um Hilfe bitten, so verführerisch das auch zeugnis soll zeigen, was war. Das Problem nach gerechten und gleichen Kriterien ver-
sei. Nein, er werde keinen Nachhilfelehrer aber ist: Es entscheidet auch darüber, was geben, so könnte man denken. Und so
damit beauftragen, ihm bei der Prüfung wird – und was nicht. Das Zeugnis ist die würde man es gern auch verstehen, wenn
zur Hand zu gehen. Philipp, 18 Jahre alt, Eintrittskarte in die akademische Welt. die Kultusminister eine „Vereinbarung
sagt: „Das muss ich schon selbst schaffen.“ Wer es besitzt, darf eine Universität be- über Einheitliche Prüfungsanforderungen
Ja, wer denn sonst? Die Frage mag ab- suchen und hat gute Aussichten auf einen in der Abiturprüfung“ treffen und sich
wegig klingen, aber sie ist es nicht. Denn Ausbildungsplatz. Und je besser die Note, eines „gemeinsamen Aufgabenpools“ rüh-
Philipp wird sein Abitur in Hamburg ab- desto größer die Chancen, auch in den men. Doch die Realität in dieser Republik
legen, und da geht’s anders zu als in weiten beliebten Fächern zugelassen und an den ist eine andere.
Teilen der Republik. Wer will, darf einen begehrten Hochschulen eingelassen zu Wie lässt sich erklären, dass Thüringer
Teil der Abiturprüfung zwei Wochen lang werden. Knapp die Hälfte der Studiengän- Abiturienten 2015 im Durchschnitt mit der
zu Hause vorbereiten. Er muss nur die ge in Deutschland unterliegt Zulassungs- Note 2,16 abschlossen, die im benachbar-
Mündliche durch eine „Präsentationsprü- beschränkungen. Heute strömen fast an- ten Niedersachsen aber mit 2,59? Wie
fung“ ersetzen: eine Viertelstunde Vortrag, derthalbmal so viele junge Menschen an kann es passieren, dass in Mecklenburg-
dann eine Viertelstunde Gespräch über die Hochschulen wie noch vor zehn Jah- Vorpommern knapp sieben Prozent durchs
diesen Vortrag, fertig. ren. Wichtigstes und oft einziges Auswahl- Abitur fallen, anteilig dreimal so viele wie
„Referate halten ist sonst nicht so mein kriterium: der Abi-Schnitt. im Saarland?
Ding“, sagt Philipp. Am Ende hat er sich Die Hürden sind nicht nur an den re- Über alldem steht die Frage, was das
doch dafür entschieden, in Biologie. „Bei nommierten oder traditionsreichen Uni- Abitur überhaupt sein soll: ein Schulab-
einer normalen Mündlichen können die versitäten hoch. Und nicht nur angehende schluss für die Elite, für die Leistungsspitze
dich kalt erwischen“, meint er. „Wenn du Mediziner und Psychologen plagen sich mit eines Jahrgangs? Oder ein Abschluss für
mit der Aufgabe nichts anfangen kannst, der Sorge, trotz guter Noten keinen Stu- die Masse, um vielen Schulabgängern den
hast du echt ein Problem.“ Das Thema der dienplatz zu ergattern, und haben Angst, Weg an die Universität zu ebnen? Auch in
Präsentation erfahre er hingegen schon dass der Traumberuf ein Traum bleibt. An dieser so grundlegenden Frage sind, so
früher. „Dann kann ich in Ruhe alles nach- der Fachhochschule Eberswalde drängelten scheint es, die Bundesländer uneins. In
schauen, was ich nicht weiß.“ sich im Wintersemester 433 Bewerber um Hamburg machen fast 58 Prozent eines
Seinen Nachnamen und auch seine Jahrgangs Abitur, in Sachsen-Anhalt und
Schule möchte der schlaksige Junge nicht Bayern sind es weniger als 35 Prozent.
nennen. Von sich und seiner Situation an Föderalismus beruht auch auf Wett-
einem Gymnasium im Hamburger Norden bewerb, doch ein ungerechter Wettbewerb
zu erzählen, das finde er „okay“. Aber er kennt keine Gewinner. Den einen schadet
möchte niemanden reinreiten. „Ich kenne er, weil ihnen mehr abverlangt wird, ihnen
einige, die sich von Nachhilfelehrern hel- schlimmstenfalls das Abitur verwehrt
fen lassen. Die bauen manchmal sogar die bleibt, obwohl die Leistungen andernorts
Präsentation.“ Verwerflich findet er das ausgereicht hätten. So denken manche
nicht. „Was spricht denn dagegen, solche Schüler in Bayern oder Baden-Württem-
Möglichkeiten zu nutzen?“ berg, Sachsen oder Sachsen-Anhalt: Die
Das Dumme ist nur, dass diese Möglich- da oben, die im Norden, in Hamburg oder
keiten zwar den Schülern in Hamburg und Bremen oder Schleswig-Holstein, die ha-
Schleswig-Holstein offenstehen, den meis- ben es doch eh viel leichter.
ten anderen aber nicht. Denn im Norden Doch selbst dort erzeugte ein Wettbe-
lässt sich die klassische mündliche Prü- werb, der unter ungerechten Bedingungen
fung – eine (bis dahin unbekannte) Auf- abliefe, keine echten Gewinner. Wer in
gabe, 30 Minuten Bearbeitungszeit, dann diesen Ländern sein Abitur macht, wo-
HARALD KRIEG / DER SPIEGEL

offener Fragenteil – komplett umgehen. möglich ein sehr gutes, steht immer unter
Schüler aus Ländern, in denen es solche dem Verdacht: Liegt doch gar nicht an dir,
Regeln nicht gibt, sind mal wieder die sondern nur am System, anderswo hättest
Dummen. Sie erhalten auch ein Abitur- du es so nicht geschafft. Wie soll man sich
zeugnis, das allgemein anerkannt und da über die eigene Leistung freuen, gar
selbstverständlich überall in Deutschland stolz darauf sein?
gültig ist – nur leider unter ganz anderen Gymnasiastin Rebekka „Zum Inbegriff bürgerlicher Bildungs-
Bedingungen zustande gekommen. „Man muss knallhart filtern“ und Leistungsvorstellungen schlechthin“
12 DER SPIEGEL 18 / 2017
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sei das Abitur im 19. Jahrhundert gewor- wie bisher auch meist noch unter mehre- denn die Voraussetzungen dafür fehlen.
den, schreibt der Abiturforscher Rainer ren Aufgaben wählen, von denen längst „Da die Lehrpläne bundesweit nicht auf-
Bölling (siehe Interview Seite 18). Welche nicht alle aus dem Pool stammen müssen. einander abgestimmt sind, können einzel-
Bedeutung dem Abitur auch heute beige- So geht es mit den Einschränkungen ne Länder überhaupt nur einen kleinen
messen wird, zeigt sich immer dann, wenn weiter und weiter. Gemeinsame Prüfungen Teil der Aufgaben verwenden“, erklärt
sein Wert mal wieder infrage gestellt wird. erfordern entweder einen gemeinsamen Dieter Brückner von der Bundesdirekto-
Dann ist die Aufregung groß, wie zuletzt Prüfungstermin oder eine große Auswahl renkonferenz der Gymnasien.
Mitte März, als 130 Professoren und Ma- von Aufgaben. Denn ist eine Pool-Aufgabe Eine Aufgabe aus Thüringen kommt für
thematiklehrer einen Brandbrief veröffent- verbraucht, kann ein anderes Land sie eine Abiturprüfung in Sachsen möglicher-
lichten. Da der Schulstoff ausgedünnt wor- schlecht noch mal verwenden. Da hilft es weise gar nicht infrage, weil sächsische
den sei, reiche „das mathematische Vor- nicht gerade, dass Rheinland-Pfalz als ein- Schüler im Unterricht andere Themen be-
wissen von vielen Studienanfängern nicht ziges Land die meisten seiner Gymnasias- handelt, andere Bücher gelesen, andere
mehr für ein WiMINT-Studium aus“, ten in 12,5 Schuljahren zum Abitur führt. Schwerpunkte gesetzt haben. Es liegt
schrieben sie. Die Abkürzung WiMINT Die schriftlichen Prüfungen finden hier be- nahe, dass einige Länder wohl diejenigen
steht für Wirtschaft, Mathematik, Infor- reits im Januar und nicht wie anderswo Aufgaben auswählen, die sie selbst in den
matik, Naturwissenschaft und Technik. im April und Mai statt. Pool gegeben haben.
„Den Studienanfängern fehlen Mathe- Manchmal fällt es schwer, hinter alldem Josef Kraus, Präsident des Deutschen
matikkenntnisse aus dem Mittelstufenstoff, noch die Idee zu erkennen: mit dem ge- Lehrerverbands, fällt ein vernichtendes
sogar schon Bruchrechnung (!), Potenz- meinsamen Pool für mehr Vergleichbarkeit Urteil: „Der Aufgabenpool ist reine Schau-
und Wurzelrechnung, binomische For- der Abiturprüfungen zu sorgen. Viel mehr fensterpolitik.“ Kraus, der als Rektor eines
meln, Logarithmen, Termumformungen, wäre derzeit allerdings kaum möglich, bayerischen Gymnasiums 22 Abiturjahr-
Elementargeometrie und Trigonometrie“,
schrieben sie. Und: „Die unzureichende
fachliche Tiefe zeigt sich auch an den neu-
artigen Abituraufgaben.“
Dabei sollte doch nun endlich alles bes-
ser, gerechter, fairer werden. Vor fünf Jah-
ren einigten sich die Kultusminister der
Länder auf den gemeinsamen Aufgaben-
pool. Die Idee: Alle Bundesländer können
Aufgaben in den Pool geben. Das Berliner
Institut zur Qualitätsentwicklung im Bil-
dungswesen überprüft unter anderem, ob
das Niveau stimmt. Dann angeln sich die
Länder einige Aufgaben aus diesem Pool.
Schon seit 2014 experimentieren sechs
Bundesländer mit abgestimmten Aufga-
ben, in diesem Jahr würden dann alle mit-
machen, heißt es von der Kultusminister-
konferenz (KMK). Der Pool sei „ein wich-
tiger Schritt in Richtung Vergleichbarkeit“,
lobte KMK-Präsidentin Susanne Eisen-
mann (CDU). Der Hamburger Bildungs-
senator Ties Rabe (SPD) nannte ihn „einen
Meilenstein“. Die Kultusminister feierten
sich selbst, und so viel Euphorie ist an-
scheinend ansteckend: Medien berichteten
von einem „bundesweiten Zentralabitur“.
Doch davon ist die Lösung weit entfernt.
Das beginnt bereits damit, dass nicht ein-
heitlich geregelt ist, wie viele Abi-Prüfun-
gen Schüler überhaupt ablegen müssen:
vier oder fünf?
Es folgt eine Reihe von Einschränkun-
gen. Erstens: Es sind gar nicht alle Fächer
erfasst. Der Pool enthält nur Aufgaben für
SVEN DOERING / AGENTUR FOCUS / DER SPIEGEL

Deutsch, Mathe, Englisch und Französisch.


Und es geht – Einschränkung zwei – damit
weiter, dass die Länder gar nicht verpflich-
tet sind, sich aus diesem Pool zu bedienen.
Zwar haben alle Bundesländer für dieses
Schuljahr guten Willen bekundet, aber ob
alle mitziehen, bleibt abzuwarten. Ein-
schränkung drei: Jedes Land kann die Auf-
gabe, die es dem Pool entnimmt, noch
nach seinen Wünschen verändern. Und je-
der Schüler kann dann, Einschränkung vier, Schülervertreter Leonard: Ordentlich Wirbel gemacht

14 DER SPIEGEL 18 / 2017


gänge entlassen hat, verfolgt die Diskus- Abiturs ersetzen. Das Land Berlin muss genheit, weil wir Hamburgs Abiturienten
sionen um Vergleichbarkeit und Fairness sogar 10 000 bereits gedruckte Aufgaben- frühzeitig auf die künftigen bundeseinheit-
seit Jahrzehnten. „Die Kultusminister lü- hefte einstampfen. lichen Mathe-Abituraufgaben vorbereiten
gen sich in die Tasche“, sagt er. Ein bun- Ein Test in Hamburg könnte die Zöger- müssen“, sagte Rabe.
desweit vergleichbares Abitur sei gar nicht lichen bestärken. Das Abitur werde dies- Auch Philipp, der redliche Abiturient
von allen gewollt. „Dann würden nicht mal nicht leicht, hatte Schulsenator Rabe aus dem Hamburger Norden, versuchte
nur die Leistungen der Schüler, sondern zu Beginn des Schuljahrs gewarnt und die sich kurz vor Weihnachten an dieser Klau-
auch die der Bildungsminister sichtbar“, Hamburger Vorabi-Klausuren Mitte De- sur. Seitdem sei er froh, dass es in Deutsch-
sagt Kraus. „Und das möchten manche Mi- zember als Probelauf angesetzt. Die Ham- land kein Zentralabitur gibt – und wohl
nister tunlichst vermeiden.“ burger Schüler bearbeiteten Aufgaben, die auch in absehbarer Zeit nicht geben wird.
Zugleich erweist sich das neue System – denen aus dem Pool nachempfunden wa- Obwohl er es nicht ganz gerecht findet:
auch wenn noch so wenige Schüler am ren, vier Stunden auf Grundniveau, fünf „Ist doch unfair, wenn manche es leichter
Ende tatsächlich Pool-Aufgaben bearbei- Stunden auf erhöhtem. haben, auch wenn ich hier vielleicht selbst
ten – als anfällig für Pannen. Wie anfällig, Bei der Auswertung dann der Schock: davon profitiere.“
das zeigte sich in der vorvergangenen Wo- Von 3201 Schülern erreichten mehr als Zu einer ähnlichen Erkenntnis gelangte
che, als unbekannte Täter in eine Schule zwei Fünftel, genau 1363 Schüler, nicht ein- der Aktionsrat Bildung, ein Zusammen-
im Stuttgarter Stadtteil Weilimdorf ein- mal ein Ausreichend. Notenschnitt ins- schluss renommierter deutscher Schulfor-
drangen und einen versiegelten Umschlag gesamt: 4,1. Die Schulbehörde sah sich ge- scher, in einem Gutachten im Jahr 2011:
mit Prüfungsaufgaben öffneten. Neben nötigt, alle Ergebnisse um eine ganze Note „Die fehlende nationale Vergleichbarkeit
Baden-Württemberg mussten mindestens heraufzusetzen. „Die Mathematikklausur der Anforderungen und Bewertungs-
sechs weitere Länder Teile des schriftlichen war diesmal schwerer als in der Vergan- maßstäbe der Abiturleistungen und des
tatsächlichen Könnens von Schülerinnen
und Schülern am Ende der Oberstufe er-
zeugt erhebliche Gerechtigkeitsprobleme
beim Hochschulzugang und bei der Be-
werbung insgesamt“, schrieben die Wis-
senschaftler. Ihre Schlussfolgerung: Zen-
trale Prüfungen müssten her, zumindest
in einigen Fächern, in einem Teil der Auf-
gaben, ein „gemeinsames Kernabitur“.
Das alles wäre leichter auszuhalten,
wenn es wenigstens in den anderthalb Jah-
ren davor gerecht zuginge: wenn die Schul-
zeit vor der Abiturprüfung unter halbwegs
ähnlichen Bedingungen abliefe. Denn die
gefürchteten Abi-Prüfungen sind am Ende
nicht so wichtig, wie es erscheinen mag.
Die Ergebnisse machen nur ein Drittel der
Abschlussnote aus. Wichtiger sind die
Punkte aus den vier Halbjahren zuvor, der
sogenannten Qualifikationsphase.
Da aber geht es, man ahnt es, ebenfalls
durcheinander. Die Ungerechtigkeit be-
ginnt schon damit, wer sich der Ungerech-
tigkeit der Oberstufe überhaupt aussetzen
darf. Während in einigen Bundesländern
Schüler nicht nur an Gymnasien, sondern
auch an Gesamtschulen Abitur machen
können, bleibt ihnen dieser Weg in Län-
dern wie Bayern oder Sachsen verwehrt.
Der SPIEGEL hat die Oberstufen- und
Prüfungsverordnungen sämtlicher Bundes-
länder ausgewertet. Im Kleinen ging es bei
dem Vergleich um Notengewichtung und
Stundentafeln, um Pflichtkurse, Minder-
leistungen und Fremdsprachenprofile. Im
Großen aber ging es auch hier um die Fra-
ge, wie fair es eigentlich zugeht im deut-
schen Schulsystem mit seinen 16 Lösungen
in 16 Ländern.
Der Wirrwarr fängt schon bei den Be-
zeichnungen an. Hier belegen die Schüler
„Profilfächer“, dort „Vertiefungsfächer“,
und je nachdem, wohin man in der Bil-
dungsrepublik Deutschland schaut, sieht
man „Kernfächer“ oder „Hauptfächer“
oder „Grundlagenfächer“. Die alte Zwei-
DER SPIEGEL 18 / 2017 15
Titel

teilung – Grundkurse plus zwei Leistungs- der einheitlicher geworden. Innerhalb der ein Fach aus dem Bereich Sozialwissen-
kurse – gibt es auch noch. Aber nur noch Bundesländer mag dies stimmen, in 15 schaften. Einen Numerus clausus muss sie
in einer Handvoll Bundesländer, andere Bundesländern gibt es inzwischen zentrale nicht fürchten, in den letzten Jahren wur-
haben sich davon verabschiedet. Abiturprüfungen in manchen Fächern. den alle Bewerber zugelassen, da hat sich
Henrik Appel wünscht sich daher, er Doch die Unterschiede zwischen den Rebekka schon informiert. „Sauber durch-
wäre ein paar Jahre früher geboren. Der Ländern sind immer noch groß, weit über kommen“ beim Abi, das reicht ihr. Es ist
18-Jährige macht im Sommer sein Abitur die Bezeichnungen der Kurse hinaus. Was eine Entscheidung für ihr außerschulisches
an einem Gymnasium in Aschaffenburg. sich auch daran ablesen lässt, dass der Engagement und gegen den Kampf um ei-
Als Bayern vom Abi-Jahrgang 2011 an die Sport-Leistungskurs nicht ganz totzukrie- nen erstklassigen Abiturschnitt. Denn sie
Zeit am Gymnasium auf acht Jahre ver- gen war, in Bremen und Nordrhein-West- als Sachsen-Anhalterin habe da „doch eh
kürzte, schaffte es die Leistungskurse ab. falen etwa lebt er weiter. keine Chance“.
Vorher konnten die Schüler zwei solcher Rebekka Grotjohann, 18, wird in weni- Würde Rebekka die Reifeprüfung nicht
Kurse wählen, nach Interesse und Talent. gen Wochen am Professor-Friedrich-Förs- in Sachsen-Anhalt, sondern in Hessen
Nun sind drei der fünf Prüfungsfächer vor- ter-Gymnasium in Haldensleben bei Mag- ablegen, müsste sie sich möglicherweise
gegeben: Mathe, Deutsch, eine Fremdspra- deburg zur Abiturprüfung antreten. In weniger anstrengen. Denn jenseits der Lan-
che, die sogenannten Grundlagenfächer. Sachsen-Anhalt gibt es keine klassischen desgrenze ist die Freiheit größer.
Henrik mag lieber Geschichte, Wirt- Grund- und Leistungskurse mehr. Statt- In Sachsen-Anhalt muss Rebekka sechs
schaft, Ethik. Ginge er in Bremen oder dessen werden gleich sechs Fächer „auf Fächer auf erhöhtem Niveau belegen, das
Nordrhein-Westfalen zur Schule, hätte er erhöhtem Niveau“, wie es heißt, unter- ergibt 24 Wochenstunden Intensivunter-
eines dieser Fächer als Leistungskurs wäh- richtet, mit mehr Stunden pro Woche. richt. Mathe, Deutsch und Geschichte sind
len können – was auch bedeutet, dass die Nirgendwo müssen Schüler mehr dieser Pflicht, dazu entweder eine Fremdsprache
Zensuren aus den Kurshalbjahren doppelt anspruchsvollen Kurse in die Abiturwer- plus zwei Naturwissenschaften oder zwei
fürs Abitur gezählt und seinen Noten- tung einbringen als in Sachsen-Anhalt. Fremdsprachen plus eine Naturwissen-
schnitt verbessert hätten. „Man muss knallhart filtern und nur das schaft.
Naturwissenschaften hingegen lägen lernen, was in der Klausur drankommen In Hessen wählen die Schüler zwei fünf-
ihm weniger, sagt Henrik, Mathe nerve könnte“, sagt Rebekka. Sie engagiert sich stündige „Leistungsfächer“, das entspricht
ihn. „Manche Leute interessieren sich trotzdem, im Landesschülerrat, in der zehn Wochenstunden, nicht einmal halb so
nicht für Binomialkoeffizienten und Rie- Evangelischen Jugend, in der Linkspartei. viele wie in Sachsen-Anhalt. Auch Pflicht-
mann-Integrale“, sagt er, „wer nicht gerade „Ich finde es wichtig, mich einzubringen“, kurse gibt es hier nicht: Fest steht nur, dass
etwas in dem Bereich studieren will, wird sagt Rebekka. So viel Einsatz frisst Zeit. eines dieser Fächer eine Fremdsprache
das nie wieder brauchen.“ Grundsätzlich Diese Zeit sollte die junge Frau eigentlich oder Mathe oder eine Naturwissenschaft
sei es ja gut, dass Mathe, Englisch und ins Lernen investieren – findet ihre Mut- sein muss. Hinzu kommt: Die Leistungs-
Deutsch durchgängig bis zum Ende gelehrt ter. „Sie hat sich gewünscht, dass ich kurse gehen in doppelter Wertung ins Abi-
würden. Aber so ein großes Gewicht, fin- kürzertrete, aber das möchte ich nicht“, tur ein. Die Schüler können also stärker
det Henrik, sollten sie nicht haben. „Müs- sagt Rebekka. Obwohl sie sich reinkniet, auswählen, welche Fächer ihnen liegen,
sen denn alle Schüler halbe Mathe-Studen- die Prüfungen ernst nimmt, hatte sie das und dann davon profitieren, dass die No-
ten werden?“ Gefühl, sich zwischen einem passablen ten aus diesen Fächern doppelt zählen.
Henrik erinnert sich an ehemalige Mit- Notendurchschnitt und einem Leben ne- In der Summe können sich all diese klei-
schüler, die vor der Oberstufe aus Aschaf- ben der Schule entscheiden zu müssen: nen Regelungen zu einem großen Unter-
fenburg über die Landesgrenze auf eine „Es gibt andere, die haben fast nur noch schied addieren, wie der pensionierte Ma-
hessische Schule wechselten. „Auf einmal gelernt.“ thematiklehrer Günter Germann aus Halle
gehörten sie zu den Klassenbesten, davon Wenn sie im Sommer ihren Abschluss an der Saale seit Jahren beklagt. Er hat
waren die vorher meilenweit entfernt.“ Er hat, möchte sie studieren, in Magdeburg, Hunderte Schüler durchs Abitur begleitet
habe zwar nie über so einen Wechsel nach- und wunderte sich, warum ausgerechnet
gedacht. „Trotzdem finde ich es doof, in seinem Bundesland Sachsen-Anhalt nur
wenn ich sehe, dass andere mit weniger so wenige Schüler zum Abitur zugelassen
Einsatz ein besseres Ergebnis bekommen.“ wurden und ihre Abschlussnoten eher im
Dabei sollte es eigentlich ganz anders Durchschnitt lagen – obwohl die Ergebnis-
kommen. Die Kultusminister beschlossen se in Leistungstests wie Pisa ordentlich
schon vor Jahren, die Oberstufe umzubau- ausfielen. Germann hegte einen Verdacht:
en und drei Kernfächer – eben Deutsch, „Es ist die Notenberechnung.“
Mathe, eine Fremdsprache – zu stärken. 2013 ersann Germann deshalb einen
Sie verabschiedeten sich schrittweise von fiktiven Schüler. Die Leistungen von Paul,
vielen Neuerungen aus den Siebzigerjah- so nannte er den angehenden Abiturien-
ren, als die sogenannte reformierte Ober- ten, schwanken stark. In Mathematik und
stufe geschaffen wurde, die größte Verän- Deutsch schreibt Paul fast nur Einsen. In
derung auf dem Weg zur Hochschulreife Kunst, Geschichte und Sport dagegen sind
seit fast einem Dreivierteljahrhundert. seine Leistungen oft mangelhaft.
Forscher sprechen von „Rekanonisie- Germann berechnete Pauls Notenschnitt
rung“ oder „Restandardisierung“. Mehr nach den Regeln der jeweiligen Bundes-
TIM WEGNER / DER SPIEGEL

Pflichtfächer, mehr Vorgaben, mehr Ver- länder. Das Ergebnis: In Bayern, Schles-
bindlichkeit und mehr Vergleichbarkeit – wig-Holstein und Sachsen erreichte Paul
so lässt sich dieser neue Kurs der Kultus- einen Durchschnitt von 2,3, in Hessen aber
minister zusammenfassen. Oder einfacher: 2,0. In Nordrhein-Westfalen und Bremen
Weg mit dem Sport-Leistungskurs. erhielt Paul sogar ein Einserabitur, die No-
Das klingt erst einmal so, als wäre die Abiturient Henrik ten 1,8 und 1,7 – beide Länder haben nach
Oberstufe in Deutschland tatsächlich wie- „Müssen wir halbe Mathe-Studenten sein?“ wie vor Leistungskurse und gewichten die
16 DER SPIEGEL 18 / 2017

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