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Rüdiger Sünner

»Auf eine ganz seltsame Weise offen für alles«


Zur Tagung ›Das Problem Beuys‹ am 15./16. Oktober in Düsseldorf

Am 15. und 16. Oktober 2021 fand in Düssel- takten zu Männern mit NS-Vergangenheit und
dorf im Haus der Universität am Schadowplatz nach seinem Verhältnis zur Anthroposophie.
die Tagung ›Das Problem Beuys‹ statt, in der Eine unmissverständliche Eingangsfanfare
Experten über strittige Fragen zu Werk und ertönte von dem aus den USA zugeschalteten
Wirken dieses Künstlers debattierten. Gela- Kunsthistoriker Benjamin Buchloh, der sich
den waren u.a. der Filmemacher Andres Veiel, schon nach Beuys’ Ausstellung im New Yorker
der Anthroposoph Walter Kugler, die Kunst- Guggenheim-Museum (1980) kritisch geäußert
historiker Benjamin Buchloh, Beat Wyss und hatte3 und dies nun noch einmal zuspitzte:
Philip Ursprung, der Religionshistoriker Hel- Er sprach von »schlimmen Stellen« in Beuys’
mut Zander, der Theologe Alf Christophersen, Äußerungen, von dessen »hypertrophem Sen-
der Künstler Albert Markert sowie der Autor dungsbewusstsein«, seiner reaktionären Sicht
Hans-Peter Riegel, der eine vierbändige Beuys- auf die Rolle des Künstlers als »Seher« und
Biografie veröffentlicht hat. Über Live-Stream »Heiler« sowie von seiner »Neutralisierung des
konnte ich die 12 Stunden des Symposiums Holocaust«. Buchloh bezeichnete Beuys als
mitverfolgen, was zu einer der spannendsten »historisches und ästhetisches Monstrum von
Online-Erfahrungen meines Lebens wurde.1 fatalen Ausmaßen«, das die »Strukturen der
Ich kann hier nur Zusammenfassungen von künstlerischen Aufklärung« umgekehrt und die
Schwerpunkten geben sowie ein paar kritische »Rückkehr zu mythischen Denkformen« beför-
Bemerkungen vor dem Hintergrund meiner ei- dert habe, die gerade heute wieder unsere Welt
genen langen Beschäftigung mit Joseph Beuys.2 negativ beeinflussen würden.
Es ging auch um die Medienrezeption dieses Der Künstler Albert Markert, Co-Autor des
Künstlers und um aktuelle Urheberrechtsfra- Buches ›Flieger, Filz und Vaterland‹4, setzte die-
gen – aber am interessantesten waren die The- sen Tonfall fort und warf Beuys – etwa in Bezug
menfelder ›Der Hang zum Esoterischen‹ und auf dessen Absturz-Legende im Zweiten Welt-
›Zum Rechtsideologischen‹. Die Kuratoren Eu- krieg – vor, sich als Opfer stilisiert zu haben,
gen Blume und Catherine Nichols hatten, wohl statt sich mit seinen Untaten als Wehrmachts-
getrieben von vielen kritischen Stimmen zum soldat auseinanderzusetzen. Einen ersten Tief-
Beuys-Jubiläumsjahr 2021, diese Tagung orga- punkt erreichte die Tagung, als Markert Beuys’
nisiert, um sich solchen Vorwürfen zu stellen. »Braunkreuze« einfach pauschal in Verbindung
So fragte man nach Beuys’ Aktivitäten im Na- mit »brauner Kunst« brachte, worauf Walter
tionalsozialismus, seinen umstrittenen Äuße- Kugler ironisch antwortete, Beuys habe auch
rungen zu dieser Zeit, seinen häufigen Kon- Kreuze mit Schokolade auf Bäume gemalt.

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Eine gewisse Verteidigung erfuhr der Künst-


ler durch Andres Veiel, der Beuys gegen Buch-
loh und Markert in Schutz nahm und darauf
hinwies, dass dieser keine »Lügen« erzählt
habe, sondern verschiedene »Geschichten«, um
das Trauma des Nationalsozialismus zu verar-
beiten. Dabei sparte Veiel auch nicht mit Kri-
tik, indem er Beuys »hanebüchene Analogien«,
»Empathielosigkeit« gegenüber NS-Opfern
und »Verdrängung« vorwarf – alles Dinge, die
übrigens in seinem Film ›Beuys‹ (2017) nicht
vorkommen, der auch die heik­ len Themen
»Auschwitz« und »Rudolf Steiner« vollständig
ausgespart hat. Wahrscheinlich sah sich Veiel
auf diesem Podium in der Pflicht, auf solche
Schwachstellen zu reagieren und stimmte da-
her den Kritikern in einzelnen Punkten zu. Ent-
rüstet reagierte er jedoch auf die Bemerkung
der Kunsthistorikerin Christiane Hofmanns, Andres Veiel auf einer Podiumsdiskussion
dass Angela Merkel eine Beuys-Zeichnung in am 15. Oktober in Düsseldorf
ihrem Arbeitszimmer habe abhängen müssen,
so wie sie es mit einem Bild des antisemitischen
Malers Emil Nolde getan hatte. Überzeugend mit Helmut Zander der kühle Wind der Dekon-
lehnte Veiel einen solchen Akt politischer Über- struktion aufs Podium. Zander bezeichnete sich
korrektheit ab und deutete ihn als Verlust von als »Beuys-Dilettant«, was seine Ausführungen
»Ambiguitätstoleranz« in einer auf Cancel Cul- auch bestätigten; er war wohl nur eingeladen
ture geschrumpften Gesellschaft. worden, um über das Verhältnis von Beuys zur
Anthroposophie zu referieren. Viel kam dabei
nicht heraus, nur einige Vermutungen, etwa
In Toleranz dahingeschmolzen
über die Beeinflussung des Künstlers durch
Diese Schlaglichter mögen einen ersten Blick Rudolf Steiners Idee der Dreigliederung.5 Ob
auf die auch von heftigen Kontroversen und Beuys von Steiner auch völkische oder gar ras-
Emotionen bestimmte Tagung werfen, die im- sistische Ideen übernommen hatte, ließ Zan-
mer wieder zeigte, wie irritierend Beuys bis der offen und plädierte dafür, in ihm einen
heute wirkt. Das gilt auch für dessen Verhält- »hochkreativen Menschen« zu sehen, einen
nis zu Esoterik und Anthroposophie, das in »Schwamm, der alles aufsaugt«, ein »religiöses
verschiedenen Vorträgen und auf einem sehr Multiple«, das nicht »monokausal« zu erfassen
lebendigen Podium erörtert wurde. Dazu wa- sei. Während diese Äußerungen gegenüber ein-
ren der Theologe Alf Christiansen, der Anthro- seitigeren Zuschreibungen auf dieser Tagung
posoph Walter Kugler und der Religionshisto- wohltuend wirkten, zeigte Zander jedoch auch
riker Helmut Zander eingeladen worden, die arrogante Seiten, etwa wenn er emphatisch-
sich jedoch kaum in einem Punkt einig wer- emotionale Äußerungen von Walter Kugler zu
den konnten. Während Christophersen Beuys’ Beuys als bloße »Einfühlung« herabwürdigte,
»Hang zum Esoterischen« klug herunterbrach die nichts in einem wissenschaftlichen Diskurs
auf seine Fähigkeit, unser »Sensorium für das zu suchen hätte. »Wenn ich bei Ihnen«, so Zan-
Nichtsichtbare« zu öffnen, und bekannte, in der zu Kugler, »Begriffe wie ›erweiterte Schau‹
der Installation ›Palazzo Regale‹ einem »Sa- höre, dann denke ich: Sorry Zander, das ist
kralraum erster Güte« begegnet zu sein, zog nicht deine Preisklasse.« Gegenüber einer Hol-

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länderin im Publikum dagegen, die sehr per- vorschnell behaupten könne, Beuys habe sich
sönlich über Beuys als »ihren Lehrer« sprach, gerade wegen der politischen Vergangenheit
schlug Zander ganz andere Töne an, indem er dieser Protagonisten zu ihnen hingezogen ge-
betonte, dass die akademische Zunft solche Er- fühlt. Mehrere Optionen sind hier denkbar, von
fahrungen zu respektieren habe und dass man denen keine heute mehr eindeutig verifiziert
sich manchmal vor einer zu »übergriffigen« werden kann. Möglicherweise wusste ­ Beuys
Wissenschaft schützen müsse. Seltsame Ambi- tatsächlich nichts, sondern er nahm diese Men-
valenz in den Statements eines Forschers, der schen so, wie sie in der Gegenwart auf ihn
hochmütig und angriffslustig auf einen männ- wirkten. Ebenso denkbar ist es, dass er zwar et-
lichen Anthroposophen reagierte, während er was wusste, aber diesen Persönlichkeiten eine
bei einer weiblichen Äußerung aus dem Publi- geistig-weltanschauliche Weiterentwicklung
kum geradezu in Toleranz dahinschmolz. zugestand. Wie komplex die Sache ist, belegen
Ähnlich kontrovers und emotional ging Forschungen des Politologen Richard Stöss,
es in der nächsten Runde weiter, die Beuys’ wonach Haußleiters AUD nicht mehr »neofa-
Verhältnis zum »Rechtsideologischen« aus­ schistisch, nationalkonservativ oder rechts-
loten wollte. Altbekannte Vorwürfe wurden extremistisch einzustufen« sei, sondern eher
eindringlich wiederholt, etwa von Hans-Peter »neutralistische, entspannungsorientierte, rü-
Riegel, der ein enges Netz der Verdächtigung stungsfeindliche und ökologische Thesen« ver-
um den Künstler zu ziehen versuchte. Etwas trat. 6 – Beuys’ langjähriger Mitarbeiter Klaus
heuchlerisch betonte er am Anfang, dass er Staeck sagte einmal, dass Beuys zeitweise auf
Beuys sehr gut gekannt habe und in ihm im- »falsche Leute« gesetzt habe in seiner Erwar-
mer einen »feinen Menschen« und »hochinte- tung, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu än-
ressanten Künstler« gesehen habe. Doch der dern: »Er war jemand, der ohne diplomatisches
Unterton seiner »Beweise« zielte klar darauf ab, Geschick manchmal Dinge ausgesprochen hat,
Beuys als einen rechten Denker zu entlarven, wo der Bedächtige gesagt hätte, na also da hät-
der völkische Elemente aus Rudolf Steiners Eso- te ich mal lieber mal anders formuliert oder den
terik in sein Werk eingebaut habe. Mit kurzen Mund gehalten. Der Beuys war auf eine ganz
dilettantischen Werkbetrachtungen kam Riegel seltsame Weise offen für alles.«7
nicht recht weiter, und so projizierte er proble-
matische Äußerungen von ­Beuys zur Nazizeit
Hermeneutische Probleme
auf die Leinwand, dazu Fotos von Menschen
mit NS-Vergangenheit, die ihn belasten sollten. Hans-Peter Riegel zitierte dann Aussagen über
Jeder, der in seiner Nähe irgendetwas mit dem die NS-Zeit, die zunächst einmal befremdlich
Nationalsozialismus zu tun gehabt hatte, und wirken. Dazu gehört etwa Beuys’ Einschätzung
davon gab es in den 60er und 70er Jahren viele seiner Zeit als Hitler-Junge: »Es kann keine
in Deutschland, wurde als Beleg für den Hang Rede davon sein, dass wir manipuliert worden
des Künstlers zu rechtem Denken herangezo- sind; gut, man stand in Reih und Glied und trug
gen. Ob es Beuys’ Schwiegervater, der Zoologe die Uniform, aber ansonsten fühlten wir uns
Hermann Wurmbach war, mit dem er sich gut frei und unabhängig.« Ergänzend dazu fügte
über die Natur unterhalten konnte, sein Mitar- der Kunsthistoriker Ron Manheim8 dazu, Beu-
beiter Karl Fastabend, sein Kunstmäzen Karl ys habe auch einen Musiklehrer gelobt, der in
Ströher oder die kurzzeitigen politischen Weg- SA-Uniform unterrichtet habe: alles bekannte
gefährten Werner Georg Haverbeck und August Vorwürfe, bei denen jedoch nicht gefragt wur-
Haußleiter von der AUD (Aktionsgemeinschaft de, wie sie zu lesen sind. Riegel, der selbst
Unabhängiger Deutscher): Allen konnte Riegel keine wissenschaftliche Ausbildung besitzt, be-
eine NS-Vergangenheit nachweisen, ohne aber harrte darauf, nur strenge »Fakten« zu präsen-
zu belegen, ob Beuys etwas davon gewusst hat- tieren, ohne zu merken, dass er sie natürlich in
te. Hier tun sich eher Fragen auf, als dass man einem ganz bestimmten Sinn interpretiert: ein

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naives Verständnis von Wissenschaft und Fak-


tizität, das ihm auch von den Kunsthistorikern
Barbara Lange und Philip Ursprung vorgehal-
ten wurde. So warf Ursprung ein, dass Beuys’
Aussage über das Gefühl, in der HJ nicht mani-
puliert worden zu sein, doch stimmen könnte,
was der Journalist Boris Pofalla noch zuspitzte:
»Diese Zitate sind irgendwie erschütternd, aber
andererseits ja auch wahr: natürlich haben die
Leute gerne in der Hitlerjugend mitgemacht –
und dass sie 1972 davon nicht geheilt werden,
mit fünfzig, sondern dass in ihrer Erinnerung
immer noch toll finden, ist halt die Wahrheit.
[…] Bei B ­ euys ist es doch auch bemerkenswert,
dass er als öffentliche Person so spricht, weil
das war eigentlich ja eigentlich schon damals
nicht korrekt und der Stand der Zivilisation.
Trotzdem sagt er das, also da gibt es eine ge-
wisse Offenherzigkeit, die ans Schizophrene Helmut Zander bei seinem Vortrag
reicht oder ans Kindliche, als ob er keine Rück- am 16. Oktober in Düsseldorf
sicht nimmt aufs Publikum, […] und das ist
natürlich auch eine Qualität, die man heute in
Beuys erkennen kann, dass er Dinge sagte, die Argwohn und Kalkül darüber, was er erlebt
man eigentlich nicht hören will.«9 hatte. Wenn Beuys etwa seinen Eintritt in die
Wer Beuys heute vorwirft, einen Musikleh- Wehrmacht rechtfertigt, dann betont er, dass
rer gut gefunden zu haben, der in SA-Uniform er unter seinen Freunden keine »Extrawurst«
unterrichtete, könnte einmal die erstaunlichen haben wollte: »Ich wollte mitten in der Scheiße
Stellen in Marcel Reich-Ranickis Autobiografie drinstehen, in der auch die anderen standen.«
lesen, wo dieser über seine Erfahrungen als 11
Verherrlicht Beuys damit die menschenver-
Jude im Berliner Fichte-Gymnasium schreibt. achtenden Ziele des NS-Regimes? Er lehnt es
Wie Beuys berichtete er von Lehrern, die sehr vielmehr nur ab, seine Biografie zu beschöni-
guten Unterricht gemacht hätten, auch von gen, wie es viele nach 1945 taten, und redet
einem Musiklehrer, der Mitglied der NSDAP Klartext darüber, was er damals ganz konkret
und ein begeisterter Anhänger Hitlers war. Ra- empfand. Wer Beuys als Nazi-Sympathisant
nicki hebt hervor, dass dieser »ein glänzender bezeichnet, sollte nicht vergessen, dass sich
Pädagoge, ein liebenswerter Mensch«, gewe- in seinem Werk und in seinen Interviews kein
sen sei: »Ich verdanke ihm nicht wenig.«10 Ver- Rassismus oder Antisemitismus findet.12 Im Ge-
harmlost Reich-Ranicki, der nur knapp der De- genteil: Nicht nur war seine Klasse an der Düs-
portation in das Konzentrationslager Treblinka seldorfer Kunsthochschule offen für Menschen
entging, damit die NS-Zeit? Solche irritierenden aller Ethnien und Hautfarben, sondern Beuys
Ambivalenz-Erfahrungen scheinen wir heute, wollte gerade von ihnen lernen und beklagte
in einer politisch überkorrekten Gesellschaft, sich darüber, dass der Rassismus in Deutsch-
die für bestimmte Themen auch bestimmte land noch nicht verschwunden war: »Wenn
Sprach- und Denknormen vorschreibt, kaum schwarze Studenten beispielsweise Woh-
mehr auszuhalten. Beuys hielt sich nicht daran nungen suchen, meinen Sie, die kriegen leicht
und das verstört uns. Er überschritt Grenzen, ein Zimmer? […] Ausländer sind in Deutsch-
provozierte gerne oder, wie Pofalla vermutete, land gar nicht besonders gefragt. […] Das ist
sprach mit kindlicher »Offenherzigkeit« ohne durchaus nicht überwunden bei uns.«13

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Auch Beuys’ Äußerungen in der Vortragsreihe kehren.«16 Was meint Riegel hier mit »Deutsch-
›Reden über das eigene Land: Deutschland‹14, tum« und wie verbindet er das mit Beuys’ wirk-
mit der Riegel seinen Vortrag abschloss, sind lichen Absichten, die er z.B. in seiner ›Rede
nicht so verfänglich, wie seine Kritiker glau- über das eigene Land‹ – wenn auch in vielleicht
ben. Man muss nur genau lesen. Vieles ist hier, altmodischen Begriffen – recht verständlich be-
wie auch bei Beuys’ Kommentaren zur Nazi- nannt hat. Auch in der Aktion ›7000 Eichen –
zeit, ein hermeneutisches Problem. Zu selten Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung‹ ging es
wird die ganze Rede zur Kenntnis genommen, nicht um völkischen Eichenkult oder nationale
meist bleibt es bei kurzen Schlagworten, die ei- Überhöhung, wie Beuys selbst in einer Podi-
ner unkritisch vom anderen abschreibt. Wenn umsdiskussion betont hat. In den ›Gesprächen
Beuys 1985 in den Münchner Kammerspielen über Bäume‹ betonte er, dass nicht die Germa-
nach dem »deutschen Genius« fragt und da- nen die Eiche am meisten verehrt haben, son-
bei auf die Fähigkeit der deutschen Sprache dern die in Frankreich oder auf den britischen
kommt, »das Vorgegebene […] mit wesensge- Inseln lebenden Kelten, wo diese Bäume in
mäßen Begriffen so […] zu bearbeiten, dass dem vom Golfstrom angewärmten Klima bes-
eine Heilung möglich wäre«, so ist das kein ser wachsen: »Also das wollen wir! Wir wollen
völkisches Denken, sondern eine Rückbesin- ja die neuen Wärmezeitmaschine entwickeln,
nung auf deutsche Literatur und Philosophie: also etwas ganz anderes als die Betonung von
Hegel, Schelling, Goethe und Novalis, die Beu- irgendwelchen vergangenen Mystizismen eines
ys alle sehr schätzte, lassen grüßen. Der Künst- missverstandenen Deutschtums.« 17
ler grenzt sich in dieser Rede ausdrücklich von
allen »schrecklichen Sünden« des Rassismus
Verfehlte Chance
ab, indem er betont, dass ein Volk eben »kei-
ne Rasse« ist. Beuys sieht Deutschland nicht Aber die Tagung, so produktiv sie war, hatte
als eine überlegene Kultur an, sondern spürt in einfach nicht die Zeit, genau in Beuys’ Spra-
dessen Sprache ein »elementares, tiefes Fühlen che hineinzuleuchten und übersah dabei selt-
[…] für das, was auf dem Boden geschieht, auf samerweise wirklich berechtigte Kritikpunkte,
dem wir leben, für das, was auf dem Acker, die etwa Beuys’ undifferenziertes Reden über
was auch im Walde, auf der Wiese, was im Au­ sch­
witz betreffen. Riegel projizierte zwar
Gebirge gestorben ist.« Indem wir durch die- einmal kurz einen provozierenden Ausspruch
se Sprache »verlebendigt werden«, so Beuys, dazu, aber ohne darauf näher einzugehen: »Die-
»würden wir einen Heilungsprozess an diesem se Gesellschaft ist letztlich noch viel schlimmer
Boden vollziehen können, auf dem wir alle als das Dritte Reich. Hitler hat nur die Körper
geboren sind.«15 Obwohl Beuys den Begriff in die Öfen geschmissen.« Diese Sätze hat der
»Boden« gebraucht, meint er keinen national- Beuys-Meisterschüler Johannes Stüttgen (von
sozialistischen Blut- und Boden-Kult, sondern Riegel »Johannes Stützen« genannt) wohl aus
die tiefe Empathie, welche die deutsche Lite- dem Gedächtnis viele Jahre später in seinem
ratur, Musik und Philosophie für die lebendige Buch ›Der Ganze Riemen‹ aufgeschrieben, es
Natur hatte, was ja heute in Zeiten ökolo- ist also keine Originalquelle, sondern ein un-
gischer Katastrophen durchaus wieder aktuell gefähres Zitieren aus der Erinnerung.18 Nicht
ist. Daher blieb der Schlussangriff von Riegel ganz so drastisch, aber ähnlich lautet eine
auf Beuys plakativ in der Luft hängen, wenn durch Tonbandprotokolle belegte Quelle. So
er – erregt mit beiden Händen gestikulierend sagte Beuys 1979 in Gespräch mit Caroline
– sagte: »Beuys’ Wirken und Werk […] war Tisdall, dass das »Prinzip Auschwitz […] in
glasklar determiniert davon, dem Deutschtum unserem Verständnis von Wissenschaft und in
zur Präferenz zu verhelfen; das quillt aus allen unseren politischen Systemen […] fortgeführt«
Ritzen dieses Werks und dieses Handelns und werde. Dieses Mal würden Körper nicht ver-
das kann man nicht einfach unter den Tisch nichtet, aber »dafür wird anderes ausgemerzt:

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Talent und Kreativität werden ausgebrannt.


Eine Art Hinrichtung im geistigen Bereich, eine
Atmosphäre der Furcht wird geschaffen, die
durch Subtilität eher noch gefährlicher ist.« Die-
se Sätze kann man tatsächlich kritisieren und
ich habe das in einem ganzen Kapitel meines
Buches ›Zeige deine Wunde‹ getan, was mir
viel Schelte von Beuys-Jüngern und Anthropo-
sophen eingebracht hat. 19
Beuys vergleicht hier in verharmlosender
Weise den Massenmord an 6 Millionen Juden
und anderen Verfolgten mit vage formulierten
Missständen heutiger kapitalistischer Gesell-
schaften. »Auschwitz« wird zur beliebigen Me-
tapher und damit seiner Singularität beraubt.
Beuys hatte in seinem Werk ›Auschwitz De-
monstration‹ eine erschütternde Anklage gegen
die Verbrechen des Nationalsozialismus formu-
liert und bereits 1958 an einem Wettbewerb für Hans Peter Riegel auf einer Podiumsdiskussion
ein Auschwitz-Mahnmal teilgenommen. Das am 16. Oktober in Düsseldorf
zeigt seine Betroffenheit und seinen Versuch
der Aufarbeitung, lange bevor andere deutsche
Künstler sich damit beschäftigt hatten – aber ignorierte die Einzigartigkeit der Shoa, sondern
in seinen verbalen Äußerungen blieb er weit verwendete »Auschwitz« als beliebige Meta-
dahinter zurück. Warum ist das so? Haftete sei- pher zur Kennzeichnung von Zerstörungen
nem Sprechen nicht doch manchmal etwas Un- innerhalb der kapitalistischen Welt. Er sprach
genaues oder sogar Verfälschendes an? Redete über eine angeblich »freie« Zeit in der Hitler-
er zu viel, zu unbedacht oder manchmal nur Jugend, ohne dies nachträglich als einen Irrtum
getrieben vom Wunsch nach Selbstdarstellung zu bezeichnen. Woher kommt diese seltsame
oder Provokationslust? Aus unerfindlichen »Offenheit«, dieses Fehlen von moralischer Ka-
Gründen wurde über das Thema »Beuys und tegorisierung und Distanzierung?
Auschwitz« auf der Tagung kaum gesprochen Hat es etwas mit Beuys’ genereller Weltsicht
und man verfehlte damit die Chance, eine wirk- zu tun, die ja auch »offen« für alles Mögliche
lich zutreffende Kritik zu formulieren. war: für Technik, Naturwissenschaften, Politik,
»Beuys war auf eine ganz seltsame Weise aber auch für Schamanismus, Anthroposophie,
offen für alles« – Während dieses Symposi- Alchemie, indigene Mythen, keltisches Chri-
ums musste ich immer wieder an diesen Satz stentum und die katholische Mystik eines Igna-
von Klaus Staeck denken. Was bedeutet diese tius von Loyola? Dieser Künstler diskutierte
Feststellung in ihrer Tiefe eigentlich? Verwun- mit jedem, egal ob mit Hochschulprofessoren,
dert stellt der ehemalige Weggefährte Staeck Studenten oder dem einfachen »Mann auf der
bei dem Künstler ein scheinbares Fehlen von Straße«, oft sogar nächtelang bis zum frühen
scharfen Grenzziehungen und moralisch ein- Morgen. Er debattierte mit Rudi Dutschke, Pe-
deutigen Bewertungen fest. Beuys schien sich tra Kelly, August Haußleiter, Werner Georg Ha-
nicht an normierte Sprachregelungen und Ta- verbeck, dem Dalai Lama und dem Jesuitenpa-
bus zu halten, die in unserer Kultur als selbst- ter Friedhelm Mennekes, ohne diese Menschen
verständlich gelten. Er war »seltsam offen« zu klassifizieren in »links« oder »rechts«, »pro-
gegenüber Menschen mit einer NS-Vergangen- gressiv« oder »reaktionär«. Dieser Künstler ver-
heit, statt sich von ihnen zu distanzieren. Er langte keine Aufnahmeprüfung für seine Klasse

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an der Düsseldorfer Kunstakademie und nahm War das auch eine Charaktereigenschaft des
erstmal jeden auf, was ihm enorme Schwie- »Schamanen« Beuys, die Staeck verwundert zur
rigkeiten und schließlich die Kündigung ein- Kenntnis nahm – eine extreme Durchlässigkeit,
brachte. Beuys öffnete sich auch für Biografien Offenheit, Grenzenlosigkeit, das Fehlen von
von Kriminellen, etwa für den amerikanischen scharfen Unterscheidungen zwischen Mensch
Raubmörder John Dillinger und den Gangster und Natur, Realität und Geisterwelt, »Schwarz«
Jimmy Boyle, der einige Zeit lang als der »ge- und »Weiß«, »edlen« und »niedri­gen« Materi-
walttätigste Mann Schottlands« galt. Bei sei- alien, wie Gold und Filz, moderner Zivilisation
nem Chicago-Aufenthalt 1974 verwandelte sich und archaischer Vergangenheit? Eine Welt-
Beuys in einem Rollenspiel in Dillinger und trat sicht jenseits von allem Dualismus, ein Mit-
für Boyle in einen Hungerstreik, als dieser in Schwingen und Sich-Einfühlen mit allem und
ein Gefängnis mit unmenschlichen Haftbedin- jedem, was auch zu pro­blematischen Sichtwei-
gungen verlegt werden sollte.20 Ebenso wenig, sen führen konnte und zu einer merkwürdig
wie er starre Grenzen zwischen »links« und wertfreien Distanzlosig­keit, die uns bis heute
»rechts«, »gut« und »böse« akzeptierte, sah verstört? Diese Fragen sind – wie viele andere
­Beuys keine grundsätzliche Trennung zwischen – bisher unbeantwortet geblieben: B ­ euys’ ex-
menschlicher und nichtmenschlicher Welt. Er treme »Offenheit« bleibt »seltsam«, wie es sein
war auch grenzenlos »offen« gegenüber Tieren, Freund Staeck intuitiv richtig erkannt hat und
Pflanzen und Mineralien, schlüpfte in die Haut wird uns noch weiter beschäftigen.
von Hasen und Kojoten, sprach von der »Intel-
ligenz der Bäume« und malte sich als »Selbst
Bestürzende Aktualität
im Gestein«, als könne er sich ins Innere eines
Kristalls einfühlen. Galt für ihn Ähnliches wie Das Schlusspodium der Tagung versuchte eine
für den Tiefenpsychologen Carl Gustav Jung, Öffnung, indem die Kunsthistorikerin Barbara
der einmal sagte, dass bei ihm die »Zwischen- Lange das »Problem Beuys« in einen gesamt-
wände« besonders »durchsichtig« seien?21 europäischen Kontext stellte, was Riegel gar

1 Die Aufzeichnungen der Tagung sind auf ›You- 2015 S. 175.


tube‹ zu sehen, Tag 1 unter: www.youtube.com/ 7 Klaus Staeck im Interview mit dem Deutschland-
watch?v=E7TP41YIZHw und Tag 2 unter: www. funk am 14. Mai 2013 – www.deutschlandfunk.de/
youtube.com/watch?v=Q0Gkw-sQQok staeck-joseph-beuys-war-kein-ewiggestriger.691.
2 Vgl. meinen Film ›Zeige deine Wunde – Kunst de.html?dram:article_id=246707, vgl Rüdiger Sün-
und Spiritualität bei Joseph Beuys‹, D 2015, 85 Min., ner, a.a.O., S. 177.
DVD, absolut MEDIEN und das gleichnamige Buch, 8 Ron Manheim: ›Beim Wort genommen. Joseph
erschienen im Europa-Verlag. Beuys und der Nationalsozialismus‹, Berlin 2021.
3 Benjamin Buchloh: ›The Twilight of the Idol‹, 9 Boris Pofalla am Ende des 1. Tages der Tagung,
in: ›Artforum‹ 1/1980 – www.artforum.com/print/ vgl. die Aufzeichnung auf ›Youtube‹ ab Min. 4:12:10.
198001/beuys-the-twilight-of-the-idol-35846 10 Marcel Reich-Ranicki: ›Mein Leben‹, Stuttgart
4 Frank Gieseke & Albert Markert: ›Flieger, Filz und 1999, S. 71f.
Vaterland. Eine erweiterte Beuys Biographie‹, Berlin 11 Vgl. das Interview von André Müller mit Joseph
1996. Beuys in ›Penthouse‹ 5/1980 – http://elfriedejelinek.
5 Zum Verhältnis von Beuys und Steiner vgl. Rü- com/andremuller/interview%20mit%20joseph%20
diger Sünner: ›Rudolf Steiners »Auftrag« an Joseph beuys.html
Beuys. Die Kunst und das Übersinnliche‹, in die Drei 12 ›»Man findet von Beuys keine rassistische Äuße-
3/2021, S. 27-38 rung«‹, in: ›Die Welt‹ vom 23. Januar 2016 – www.
6 Vgl. Richard Stöss: ›Vom Nationalsozialismus zum welt.de/regionales/nrw/article151358657/Man-fin-
Umweltschutz‹, Opladen 1980, S. 287 und S. 319, det-von-Beuys-keine-rassistische-Aeusserung.html
zitiert nach Rüdiger Sünner: ›Zeige deine Wunde – 13 Zitiert nach Rüdiger Sünner: ›Zeige deine
Kunst und Spiritualität bei Joseph Beuys‹, München Wunde‹, S. 178.

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nicht gefiel, weshalb er ihre klugen Ausfüh- des Künstlers ganz verzichten wollten, favo­
rungen unhöflich als »Geschwafel« abqualifi- ri­
si­
erte der Kunsthistoriker Ron Manheim,
zierte. Doch Lange hatte durchaus Recht, als der jahrelang in der ›Stiftung Museum Schloss
sie darauf hinwies, dass viele Millionen Men- Moyland‹ gearbeitet hat, eine Ausstellung
schen in ganz Europa dem Faschismus verfal- ohne Beuys-Texte. Man solle mit seinen Wer-
len waren. Auch die Bevölkerung in den von ken wieder direkt, gefühlsmäßig und assozi-
den Nazis besetzten Gebieten Skandinaviens, ativ umgehen, ohne Einmischung von ande-
so gab sie zu Bedenken, habe leidenschaftlich ren, auch nicht von Beuys selbst: »Ich habe
völkisch-nationalen Ideologien gehuldigt.22 bei Führungen in Moyland gemerkt, dass das
Der Kunsthistoriker Beat Wyss fügte hinzu, sehr gut geht, wenn man Menschen an den
wie viele andere Künstler z.B. begeistert vom Werken entlangführt und nur ganz vorsichtige
Ers­ten Weltkrieg gewesen waren, und nannte Gespräche führt: ›Was siehst du? Was findet
als Beispiel den deutschen Maler Franz Marc da statt? Was ist da zu beobachten? Was ruft
– der aber in der Öffentlichkeit nicht dafür kri- das in dir hervor?‹ Und das halte ich für die
tisiert, sondern als Poet der »blauen Pferde« wichtigste Herangehensweise.«25 Dies waren
geliebt wird.23 Künstler, so Wyss, müssten wohltuende und produktive Schlusssätze einer
nicht per se moralisch leuchtende Vorbilder turbulenten Tagung. Sie fand zwar auf viele
sein, sondern könnten auch irren und politisch Fragen der Beuys-Forschung keine Antworten,
die borniertesten Sachen sagen. »Vielleicht«, so aber versammelte endlich einmal die ganzen
gab der Wissenschaftler aus der Schweiz zu, kontroversen Ansichten und Protagonisten und
»wäre ja auch ich ein guter Hitler-Junge gewor- stellte damit erneut die bestürzende Aktualität
den, der falsche Reisepass und die Gnade der dieses Jahrhundertkünstlers unter Beweis.
späten Geburt haben mich davor bewahrt.«24
Die abschließende Frage nach zukünftigen Rüdiger Sünner ist Filmemacher und Buchau-
Ausstellungs-Konzepten wurde verschieden tor, u.a. Filme über Rudolf Steiner, Joseph Beuys
be­­
antwortet. Während einige auf die Wer­ ke und Paul Celan. – www.ruedigersuenner.de

14 Vgl. Joseph Beuys: ›Reden über das eigene Land: iela Jaffe‹, Zürich & Düsseldorf 1999, S. 357
Deutschland‹, gehalten am 20. November 1985 in 22 Auch die Ideologie der Eugenik war in ganz
den Münchner Kammerspielen, Ausschnitte unter Skandinavien weit verbreitet. So praktizierte man
www.youtube.com/watch?v=gKdY397NcE8 etwa in Schweden von 1935-1976 Zwangssterilisa-
15 Joseph Beuys: ›Reden über das eigene Land: tionen an »Alkoholikern«, »Mischlingen«, »Schwach-
Deutschland‹, Text in ders.: ›Das Geheimnis der sinnigen« und indigenen Minderheiten. Vgl. Ernst-
Knospe zarter Hülle. Texte 1941-1986‹, hrsg. von walter Clees: ›Zwangssterilisationen in Skandina-
Eva Beuys, mit einem Vorwort von Heiner Bastian, vien: Weit verbreitete Ideologie der Eugenik‹, in:
München 2000, S. 25ff. ›Deutsches Ärzteblatt‹ 40/1997 – www.aerzteblatt.
16 Hans-Peter Riegel am 2. Tag der Tagung, vgl. die de/archiv/7893/Zwangssterilisationen-in-Skandina-
Aufzeichnung auf ›Youtube‹ ab Min. 9:03:00. vien-Weitverbreitete-Ideologie-der-Eugenik
17 Joseph Beuys, Bernhard Blume & Rainer Rapp- 23 Hier wären noch viele andere Künstler zu nen-
mann: ›Gespräche über Bäume‹, Wangen im Allgäu nen, etwa Otto Dix, Rainer Maria Rilke, Thomas
2006, S. 22f. Mann, Gerhart Hauptmann, Max Reinhardt, Max
18 ­Johannes Stüttgen: ›Der Ganze Riemen. Joseph Klinger, Franz von Stuck, Georg Trakl und Max Lie-
Beuys – der Auftritt als Lehrer an der Kunstakademie bermann. Vgl. Rüdiger Sünner: Engel über Europa.
Düsseldorf 1966-1972‹, Köln 2008, S. 68. Rilke als Gottsucher, München 2018, S. 162ff.
19 Vgl. Rüdiger Sünner: ›Zeige deine Wunde‹, S. 24 Beat Wyss am 2. Tag der Tagung in der Sektion
102-110. ›Zum Rechtsideologischen‹, vgl. die Aufzeichnung
20 A.a.O., S. 183ff. auf ›Youtube‹ ab Min. 7:27:30.
21 Carl Gustav Jung: ›Erinnerungen, Träume, Ge- 25 Ron Manheim am 2. Tag der Tagung, vgl. die
danken. Aufgezeichnet und herausgegeben von An- Aufzeichnung auf ›Youtube‹ ab Min. 10:21:18.

die Drei 6/2021

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