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Gullivers Reisen

in unbekannte Länder
von
Jonathan Swift

MIT
HOLZSCHNITTEN VON
GRANDVILLE

n
ngiyaw eBooks
Nach der Buchausgabe »Gullivers Reisen in unbekannte Länder«,
Union Deutsche Verlagsgesellschaft, 4. Auflage, 922
Textbearbeitung von Dr. Karl Seifart, 870
Textnachbearbeitung von Manfred Kyber, 922
Illustrationen und Vignetten von Grandville, 838

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Jonathan Swift
Gullivers Reisen
in unbekannte Länder

n
ngiyaw eBooks
Erster Teil

Reise nach Liliput


Erstes Kapitel
Der Verfasser macht uns mit seinen Familienverhältnissen und mit der
nächsten Veranlassung zu seiner Reise bekannt. Er leidet Schiffbruch
und rettet sich durch Schwimmen an den Strand von Liliput; hier wird
er gefangen genommen und in das Innere des Landes geführt.

Mein Vater, der ein kleines Landgut in Nottinghamshire, einer


englischen Grafschaft, besaß, hatte fünf Söhne, von denen ich
der dritte war. Ich war ein munterer, aufgeweckter Knabe, auch
dem Lernen nicht abgeneigt, darum schickte mich mein Vater, als
ich kaum das vierzehnte Jahr erreicht hatte, auf die Universität
Cambridge, wo ich drei Jahre lang fleißig und zur Zufriedenheit
meiner Professoren studierte. Jedoch die kleinen Einkünfte mei-
nes Vaters, die auch für den Unterhalt und die Erziehung meiner
Brüder verwandt werden mußten, erlaubten es nicht, mein Stu-
dium in Cambridge weiter fortzusetzen, und darum wurde ich
bei Herrn James Bates, einem der tüchtigsten Wundärzte Lon-
dons, in die Lehre gegeben, wo ich ebenfalls drei Jahre blieb und
neben meinen Berufsgeschäften der Mathematik und anderen
für die Schiffahrtkunde nötigen Wissenschaften mit Eifer oblag,
weil mir eine innere Ahnung sagte, daß mich mein Schicksal
einst für große Reisen bestimmen würde. Eine große Reiselust,
die mich von jeher beseelte, die Begierde, fremde Länder, Völker
und Sitten kennenzulernen, machte mich mit der Bestimmung
dieses meines Schicksals vertraut.
Aus dem Grunde studierte ich auch, nachdem ich bei Herrn
Bates meine Lehrzeit beendet und von meinem Onkel und
meinem Vater bereitwillig mit einer kleinen, aber genügenden
Geldsumme unterstützt war, in Leyden beinahe drei Jahre Me-
dizin und bildete mich in dieser Wissenschaft tüchtig aus, weil

ich sehr wohl aus Reisebeschreibungen und aus Mitteilungen


welterfahrener Leute wußte, daß mir die Arzneikunde auf gro-
ßen Reisen sehr nützlich werden könnte. – Schon manchem hat
die genaue Kenntnis des menschlichen Körpers und seiner Lei-
den unter wilden Völkern nicht allein das bedrohte Leben ge-
rettet, sondern ihm auch zu Reichtümern, Macht und Ansehen
verholfen.
Mein Schicksal sollte sich bald erfüllen, denn kaum war ich
von Leyden zurückgekehrt, als ich durch Vermittlung meines
ehemaligen braven Lehrers Bates die Stelle eines Wundarztes auf
der »Schwalbe« erhielt, deren Kapitän Abraham Pannel war. Mit
diesem Schiffe machte ich Reisen nach Kleinasien und anderen
vom Mittelländischen Meere berührten Ländern, ohne daß ich
bemerkenswerte Abenteuer erlebt hätte.
Fast schien es, als ob mein Leben ruhiger verlaufen sollte, als
ich geahnt, denn nach meiner Rückkehr ließ ich mich auf den Rat
meines guten Bates, der mir einen Teil seiner ärztlichen Praxis
überließ, in London nieder und verheiratete mich mit einem wak-
keren Mädchen namens Marie Burton, der Tochter eines nicht
unbemittelten Strumpfhändlers.
Zwei Jahre hatte ich in meinem häuslichen Glück, und pflicht-
getreu meinen Berufsgeschäften obliegend, ruhig dahingelebt,
als mich der Tod meines guten Lehrers und Freundes Bates wie-
der über Land und Meer treiben sollte. Mit seinem Tode verlor
ich nämlich den größten Teil meiner Praxis und wurde von neidi-
schen Kollegen verdrängt, die es nicht verschmähten, mir durch
Prahlereien und Scharlatanerien bei dem leichtgläubigen Volke
überall den Rang abzulaufen. So kam ich denn in meinen Ver-
mögensverhältnissen merklich zurück, und dies veranlaßte mich,
mit Zustimmung meiner Frau und meiner wenigen Freunde, wie-
der in Seedienste zu treten. Ich fand bald wieder eine Anstellung
als Schiffswundarzt und machte sechs Jahre lang Reisen nach
verschiedenen Gegenden Ostindiens und Amerikas, wodurch
ich nicht nur mein und der Meinigen Einkommen vermehrte,
sondern mir auch nützliche Kenntnisse in fremden Sprachen und
in der Länder- und Völkerkunde erwarb.
Endlich aber wurde ich, zumal die letzten Reisen nicht glück-
lich ausgefallen waren, des Seefahrens müde und beschloß, bei
meiner Frau und meiner Familie zu bleiben. Doch der Mensch
denkt und Gott lenkt! Meine Hoffnungen auf eine gute Praxis
und ein gutes Einkommen erwiesen sich abermals als trügerisch,
und ich fand keinen anderen Rat, um unsere Lage zu verbessern,
als trotz der Tränen meiner Frau wiederum in See zu gehen. Der
Eigentümer und Befehlshaber der »Antilope«, Kapitän William
Prichard, machte mir ein vorteilhaftes Anerbieten, und am
4. Mai des Jahres 1699 ging ich mit ihm als sein Schiffsarzt in
See.
Unsere Reise war anfangs glücklich und bot nichts Bemer-
kenswertes, dann aber, als wir uns etwa in der zweiten Minute
des dreißigsten Grades südlicher Breite befanden, stieg – es war
am 5. November, ein mir ewig unvergeßlicher Tag – ein schreck-
liches Unwetter auf und entlud sich mit einem so heftigen Sturme
über die Wasserwüste, daß unser Schiff bald ein rettungsloses

Spiel berghoher Wogen wurde. Alle Anstrengungen des Kapitäns


und der Matrosen waren vergeblich, der Sturm trieb uns unauf-
haltsam einem Felsenriff zu, ein donnerähnliches Krachen, ein
verzweifelter Angstschrei der ganzen Mannschaft und – wir wa-
ren gescheitert. Bald tanzten auf den schäumenden Spitzen der
wilden Wogen die Masten, Planken und Rippen unseres gebor-
stenen und zertrümmerten Schiffes. Kapitän und Mannschaft
wurden von den Wogen verschlungen.
Mir allein hatte die Vorsehung noch andere Dinge vorbehalten.
Ich hatte mich in meiner Jugend, als ein Freund nützlicher Lei-
besübungen, auch zu einem tüchtigen Schwimmer ausgebildet,
und so schwamm ich denn, vom Selbsterhaltungstrieb beseelt
und gekräftigt, auf gut Glück darauf los, oder ließ mich vielmehr
von Sturm und Wogen treiben; denn mit meiner Kunst konnte
ich mir in diesem entsetzlichen Wogendrange keine Richtung
nach meinem Willen geben, sondern sie reichte eben nur aus, um
mich über Wasser zu erhalten. Nach und nach fühlte ich aber
meine Kräfte schwinden, und schon glaubte ich mich verloren,
als ich Grund unter meinen Füßen fühlte und der Sturm zugleich
nachließ.
Ich war gerettet, aber durch die bestandenen Schrecken und
die übermenschlichen Anstrengungen so ermattet, daß ich mich
kaum auf den Beinen erhalten konnte. Dennoch watete ich, alle
meine Kräfte zusammennehmend, durch das flache Wasser mit
möglichster Eile der Küste zu, die sich etwa in der Entfernung
einer halben Stunde sanft aufsteigend aus dem Meere erhob. Ich
hoffte Menschen, Hilfe und Erquickung zu finden. Als ich aber
das Land erreichte, erblickte ich weder Menschen noch mensch-
liche Wohnungen. Ich wanderte mit der letzten Anstrengung
meiner Kräfte wohl noch eine halbe Stunde durch Gestrüpp und
Buschwerk in das öde Land hinein und sank endlich ganz er-
schöpft und todmüde auf einem freundlichen Wiesenplan nieder,
der auffallend weiches und kurzes Gras trug; bald versank ich
hier in einen tiefen Schlaf und schlief fester denn je in meinem
Leben.
Als ich erwachte, war es heller Tag und die Sonnenstrahlen
schienen mir brennend ins Gesicht. Ich versuchte aufzustehen,
konnte mich aber nicht bewegen und meinte anfangs, daß mei-
ne Glieder durch die gemachten Anstrengungen steif und un-
brauchbar geworden seien. Indes bald merkte ich, auf dem Rük-
ken liegend, zu meiner größten Verwunderung, daß mir Arme
und Beine an den Boden gefesselt waren; selbst mein ziemlich
langes und dichtes Haar war am Boden befestigt. Auch fühlte ich
mehrere kleine Schnüre am ganzen Leibe von den Achselhöhlen
bis zu meinen Schenkeln. Zugleich vernahm ich in meiner Nähe
ein merkwürdiges Geräusch gleich dem Summen eines Bienen-
schwarms und fühlte, daß etwas auf meinem linken Schenkel
umherkrabbelte. Himmel! wer malt mein Erstaunen, als sich über
Schenkel und Brust meinem Gesicht ein Geschöpfchen von etwa
sechs Zoll Höhe nähert, das eine zierliche, mit Bogen und Pfeil
bewaffnete Menschengestalt nicht verkennen läßt! Zugleich be-
lehrte mich das Gekrabbel auf meinen Beinen und meiner Brust,
daß wenigstens noch vierzig bis fünfzig ähnliche Menschlein
dem Vorausgegangenen folgen müßten.
Ich stieß einen so lauten Ausruf der Überraschung und des
Erstaunens aus, daß die kleinen Geschöpfe erschrocken und
sich überpurzelnd davonliefen; einige beschädigten sich, wie ich

nachher hörte, durch den Fall, als sie von meiner Seite herab-
sprangen. Bald aber kamen die Kleinen wieder, und einer von
ihnen wagte sich so weit, daß er mir ins Gesicht blicken konnte,
schlug dann voll Verwunderung seine kleinen, den Pfoten eines
Maulwurfs ähnlichen Händchen zusammen und rief mit feiner,
aber deutlicher und klarer Stimme: Hekina Degul! Ermutigt nä-
herten sich nun auch die übrigen Menschlein wieder, und aus
dem Stimmengewirr, das unter ihnen laut wurde, konnte ich
deutlich vernehmen, daß sie das Wort: Hekina Degul, dessen Sinn
ich damals nicht verstand, wiederholten.
Wie leicht zu erachten, befand ich mich in keiner bequemen
Lage und suchte daher die Bindfäden zu zerreißen, mit denen
man meine Glieder an eingerammte Stecken befestigt hatte. Es
gelang mir auch, meinen rechten Arm zu befreien, und durch
einen heftigen Ruck, der mir viel Schmerz verursachte, befreite
ich mich auch von den Banden, die mein Haar auf der rechten
Seite des Kopfes fesselten, so daß ich meinen Kopf etwa zwei
Zoll hoch erheben konnte. Mit der freigewordenen rechten Hand
suchte ich nun eines der Männlein zu erhaschen, aber es wich ge-
schickt aus und lief Hals über Kopf mit den übrigen davon. Eine
Zeitlang blieb’s rings um mich her ruhig, dann aber hörte ich
deutlich, wie einer im Kommandotone rief: Tolgo Phonac! Und
in demselben Augenblick fühlte ich ein so heftiges Beißen und
Prickeln auf meiner linken Hand, als ob ich sie in einen Ameisen-
haufen gesteckt hätte. Es war eine Salve von den kleinen Leuten
abgeschossener Pfeile, die mir diesen Schmerz verursachten; die
Spitzen dieser Pfeilchen wirkten wie Nadelstiche, drangen aber
nicht völlig durch die Haut. Gleich darauf traf mich ein anderer
Pfeilhagel, der aber, nach Art wie man die Bomben wirft, im
Bogen geschossen und darauf berechnet war, mein Gesicht zu
verwunden. Da die prickelnden Dinger mir doch höchst unan-
genehm waren, so ward ich unwillig und zornig und versuchte
mit drohender Gebärde, wiederum mich mit Gewalt aus meinen
Umstrickungen loszureißen. Meinen Bewegungen folgte aber
sogleich wieder eine noch stärkere Salve von Pfeilen, und einige
der verwegensten der kleinen Knirpse traten an mich heran und
versuchten, mir ihre acht Zoll langen Lanzen in die Seite zu boh-
ren, was ihnen aber nicht gelang, da das Wams von Büffelleder,
das ich trug, viel zu stark für ihre schwachen Klingen und Kräfte
war. Unsereins würde leichter eine Rhinozeroshaut mit einem
Dolchstich durchbohren, als diese Krieger mein Büffelwams mit
ihren Zahnstochern. Gleichwohl hielt ich es, des unangenehmen,
prickelnden Pfeilregens wegen, für geraten, mich ruhig zu ver-
halten und die Nacht zu meiner Befreiung abzuwarten, indem
ich mir sagte, daß ich, einmal frei, sämtliche Heere der kleinen
Leutchen nicht zu fürchten haben würde.
Als indes das Völkchen sah, daß ich mich ruhig und friedlich
verhielt, belästigte es mich nicht weiter mit Pfeilschüssen, doch
konnte ich aus dem zunehmenden Summen und Lärmen schlie-
ßen, daß meine kleinen Feinde fort und fort durch Hilfstruppen
und anderes herzulaufende Volk verstärkt wurden. Auch hörte
ich in der Nähe meines rechten Ohrs wohl eine Stunde hindurch
ein Klappern wie von kleinen Hämmern und ein leises Knirschen
von Sägen, wie sie zum Diebsgebrauch etwa aus Uhrfedern ver-
fertigt werden. Das Geräusch mochte etwa acht Fuß weit von
meinem Ohre laut werden. Ich drehte meinen Kopf, so gut es ge-
hen wollte, nach dem Geräusch um und sah, daß man an einem
etwa anderthalb Fuß hohen Gerüste arbeitete, das mit Leitern
zum Hinaufsteigen versehen war und oben eine umschränkte
Fläche bot, auf der wohl vier oder fünf der kleinen Männlein
Platz nehmen konnten.
Bald sollte es mir klar werden, daß das Gerüst als Redner-
bühne dienen sollte, denn als es fertig war, bestieg ein seiner
Kleidung und seinem würdevollen Benehmen nach vornehmer
Mann in Gesellschaft einiger Begleiter, von denen einer, anschei-
nend ein Page, ihm die Schleppe seines langen, kostbaren Man-
tels trug, die Plattform des Gerüsts und hielt eine lange Rede an
mich, von der ich jedoch begreiflicherweise kein Wort verstand.
Doch darf ich nicht unerwähnt lassen, daß, bevor der vorneh-
me Mann seine Rede begann, er dreimal ausrief: Langro dehul san!
(Worte, die mir später wiederholt und erklärt wurden), worauf
etwa fünfzig der Leutchen diensteifrig dicht an mich heranlie-
fen und die Bindfäden, die noch die linke Seite meines Kopfes
festhielten, rasch durchschnitten, so daß ich nun Gestalt und
Gebärden des Redners bequem beobachten konnte. Der Mann
war von schlanker, schöner Gestalt und ragte wenigstens um
zwei Haare breit über seine Begleiter hervor, von denen zwei
an seiner Seite standen, um ihn zu halten, damit er nicht etwa

im Eifer seiner Rede vom Gerüst falle. Obgleich ich nichts von
den Worten des Redners verstand, so konnte ich doch aus seinen
Gebärden wahrnehmen, daß er sich in Drohungen und Verspre-
chungen, in Teilnahme und in Artigkeiten erging.
Ich antwortete in wenigen Worten und in untertänigster Wei-
se, erhob die linke Hand und die Augen zur Sonne, als wollte
ich sie zum Zeugen meiner friedfertigen Gesinnung anrufen,
führte dann aber, da ich sehr hungrig war, die Hand wiederholt
zum Mund. Der Hurgo (so nannte man den vornehmen Redner,
wie ich nachher erfuhr) verstand meine Bewegung vollkommen
und nickte zustimmend. Darauf stieg er von seiner Bühne her-
ab und gab Befehl, mehrere hohe Feuerleitern an meine Seite zu
stellen. Als dies geschehen war, kletterten etwa hundert Mann
mit Körben voll Fleisch und Brot bepackt an mir herauf und nä-
herten sich meinem Munde. Die Speisen hatte, wie ich später
erfuhr, der Kaiser des Landes, gleich nach der ersten Nachricht
von meiner Ankunft, meine Bedürfnisse in seiner Weisheit vor-
aussehend, hierhergesandt. Ich erkannte in dem Fleische Keulen
und Rippenstücke verschiedener Tiere; sie waren sehr schmack-
haft zubereitet, aber der größte Hammelbraten war nicht grö-
ßer als bei uns in England ein Lerchenschenkel. Zwei oder drei
solcher Braten steckte ich auf einmal mit einer hohlen Handvoll
runder Brötchen, welche die Größe von Flintenkugeln hatten, in
den Mund und aß bei meinem ausgehungerten Magen und unge-
wöhnlichen Appetit so rasch, daß die Leutchen vollauf mit dem
Heranschleppen der Speisen zu tun hatten. Unbeschreiblich war
ihr Erstaunen über meinen Appetit.
Nachdem ich meinen Hunger gestillt, gab ich ein deutlich zu
erkennendes Zeichen, daß ich zu trinken wünschte. Man ver-
stand mich sogleich, hatte sich auch darauf vorgesehen, und
etwa zweihundert Arbeiter zogen mit viel Geschicklichkeit ei-
nes ihrer größten Fässer zu mir hinauf, rollten es auf meine Hand
und schlugen den Boden ein. Durstig, wie ich war, trank ich das
Faß in einem Zuge leer, und das war nicht groß zu verwundern,
da es kaum einen Schoppen hielt. Übrigens war das Getränk sehr
gut und erfrischend und schmeckte fast wie Burgunderwein, nur

war seine duftende Blume noch viel feiner. Unter Lachen und
Jubeln rollte man ein zweites Faß von derselben Größe auf meine
Hand, das ich ebenso rasch leerte wie das erste. Da mein Durst
noch immer nicht völlig gelöscht war, so gab ich durch weitere
Zeichen zu verstehen, daß man mir noch mehr Fässer bringen
möchte, allein auf einen solchen Riesendurst hatte man sich doch
nicht vorgesehen, es war kein Getränk mehr vorhanden und ich
mußte mich wohl oder übel mit dem Genossenen begnügen.
Mein gewaltiges Essen und Trinken ließ die Leutchen nicht
aus einem fortwährenden Geschrei des Staunens und der Ver-
wunderung kommen, sie tanzten, die Hände zusammenschla-
gend, auf meinem Bauche und meiner Brust herum und riefen
wiederholt wie früher: Hekina Degul! Dann bedeuteten sie mich,
die leeren Fässer von mir zu werfen, vergaßen aber vorher nicht,
die Umstehenden zu warnen, vor den herabfallenden Fässern auf

ihrer Hut zu sein. Ich machte ihnen nun den Spaß und ließ die
Fässer hoch durch die Luft sausen, wodurch ich ein abermaliges
Geschrei der Verwunderung hervorrief.
Eine Zeitlang hatte ich nicht übel Lust, dreißig oder vierzig
der kleinen Gesellen, die allzukeck auf mir herumkrabbelten, zu
packen und gegen den Boden zu schmettern, allein der Gedan-
ke, daß sie mir bei ihrer großen Zahl und anerkennenswerten
Tapferkeit doch unangenehme Plagen und Schaden zufügen
könnten, hielt mich davon zurück, auch sagte ich mir, daß es
ja meinerseits der schwärzeste Undank für die genossene Gast-
freundschaft sein würde, wenn ich so grausam und unbarmher-
zig zwischen die guten Leutchen griffe. Ich verhielt mich also
nach wie vor ruhig und friedlich.
Als meine kleinen Gastfreunde bemerkten, daß ich nicht mehr
zu essen wünschte, machten sie einem hohen Staatsbeamten
Platz, den Seine Majestät der Kaiser hergeschickt hatte. Die mit
Orden geschmückte Exzellenz stieg auf einer Leiter, wie man sie
bei uns wohl den Laubfröschen ins Glas stellt, zu meinem Knie
hinauf und marschierte, von zwölf Trabanten gefolgt, gravitä-
tisch meinem Gesichte zu. Hier angekommen, hielt er mir ein
besiegeltes Beglaubigungsschreiben seines Souveräns vor die Au-
gen und richtete dann eine lange Rede an mich, aus der ich, sei-
nen Mienen und Gebärden aufmerksam folgend, vernahm, daß
er zwar nicht im Zorn, aber doch mit Ernst und Entschlossenheit
sprach; wiederholt wies der Herr Geheimrat oder Minister nach
einer bestimmten Richtung hin, wo, wie ich bald bemerkte, in
der Entfernung einer guten Wegstunde die Haupt- und Residenz-
stadt des Landes lag. Es ward mir klar, daß man mich dorthin
abführen wollte, und ich gab mit de- und wehmütigen Gebärden
zu verstehen, daß man mich meiner Fesseln entledigen möch-
te. Die Exzellenz verstand meinen Wunsch, nahm ihn aber mit
unwilligem Kopfschütteln auf und machte mir deutlich, daß ich
als Gefangener abgeführt werden müsse; übrigens gab sie mir zu
verstehen, daß ich an Speise und Trank keinen Mangel leiden und
gut behandelt werden würde. Ärgerlich suchte ich jedoch noch
einmal meine Fesseln zu brechen, empfand aber sogleich wieder
einen prickelnden Pfeilregen auf den Händen und im Gesicht. Da
hielt ich es denn für das Klügste, mich den Wünschen des klei-
nen Volks zu fügen und gab Zeichen, daß sie ganz nach ihrem
Belieben mit mir verfahren möchten. Dies nahm der vornehme
Mann mit seinem Gefolge sehr gut auf und entfernte sich mit
vergnügtem Gesicht und befriedigter Amtsmiene.
Bald darauf fühlte ich, daß, wahrscheinlich auf hinterlasse-
nen Befehl des hohen Herrn, eine Menge der Leutchen die Strik-
ke an meiner linken Seite in der Art lösten, daß ich mich auf die
rechte umdrehen konnte, und diese Veränderung meiner Lage
war mir sehr wohltuend. Die veränderte Lage und das genossene
Getränk machten mich zum Schlaf geneigt. Ich schlief sanft ein
und, wie man mir nachher sagte, schlief ich acht Stunden hinter-
einander, was nicht zu verwundern war, da die Ärzte auf Befehl
des Kaisers einen Schlaftrunk in den von mir genossenen Wein
gemischt hatten.
Wie es scheint, hatte man gleich nach meiner Entdeckung Eil-
boten an den Kaiser geschickt, um hinsichtlich meiner Befehle
einzuholen, und diese waren dann nach erfolgtem Ministerrat
dahin gegangen, daß ich in der beschriebenen Weise gefesselt,
gespeist, getränkt und eingeschläfert werden sollte, um dann auf
einer Transportmaschine nach der Residenz zur allerhöchsten
Besichtigung geführt zu werden.
Dieser Entschluß könnte vielleicht allzu kühn und gefährlich
erscheinen, und ein europäischer Fürst würde bei ähnlicher Ge-
legenheit schwerlich eine solche Maßregel ergreifen. Allein bei
reiflicher Überlegung fand ich, daß die Verfügung des Kaisers
ebenso weise wie edelmütig war; denn welches Unglück hätte
daraus entstehen können, wenn man etwa versucht hätte, mich
während meines Schlafes zu ermorden! Die Mordversuche wür-
den mir Schmerz verursacht und mich geweckt haben, und dann
hätte ich im Aufwallen des Zornes und der Wut leicht ein fürch-
terliches Blutbad unter den Untertanen Seiner Majestät anrich-
ten können.
Wie ich später oft in Erfahrung zu bringen Gelegenheit hatte,
besitzt das kleine Völkchen eine außerordentliche Geschicklich-
keit in mechanischen Arbeiten; der Kaiser beschützt und fördert
sowohl diese als andere nützliche Tätigkeiten und Wissenschaf-
ten, und daher kommt es, daß ihm auch eine Menge sehr sinn-
reich konstruierter Maschinen zur Beförderung großer Lasten zu
Gebote stehen. Er läßt auf solchen durch Räder bewegten Ma-
schinen oft sogar seine größten Kriegschiffe, die gegen sechs Fuß
lang sind, von der Stelle ihres Bauplatzes auf eine Entfernung
von vierhundert Ellen zur See und bis an die Stelle fahren, wo
sie flottgemacht werden können. Die größte Maschine dieser
Art war nun zu meiner Beförderung bestimmt, und der König
befahl fünfhundert Zimmerleuten und Ingenieuren, sich rasch
ans Werk zu machen und die Maschine in den nötigen Stand zu
setzen. Sie bestand aus einem von derbem Holz gefügten und
drei Zoll über dem Boden erhabenen Bau, sieben Fuß lang, vier
Fuß breit und mit zweiundzwanzig Rädern versehen. Als diese
Maschine, die, wie es schien, bereits einige Stunden nach mei-
ner Entdeckung schon in Bewegung gesetzt war, ankam, erscholl
ein vieltausendstimmiges Freudengeschrei, denn das kleine Volk
fühlte sein Selbstgefühl gehoben durch die Weisheit seines Mon-
archen und die Geschicklichkeit seiner Gelehrten und Künstler.
Man stellte nun zunächst die Maschine meiner Lage parallel,
aber nun war die große Schwierigkeit zu überwinden, mich hin-
aufzuheben. Achtzig Stöcke von der Länge eines Fußes wurden
eingerammt, und die stärksten ihrer Seile, von der Dicke eines
Bindfadens, wurden mit Haken an eine gleiche Zahl von Ban-
den geheftet, welche die Arbeiter mir um Hände, Hals, Leib und
Arme wanden. An den eingerammten Pfählen nun hingen die-
se Seile auf Rollen, und neunhundert der stärksten Männer be-
gannen, sie aufzuwinden. Auf diese Weise wurde ich etwa drei
Stunden lang emporgehoben, endlich in die Maschine geworfen
und dort festgeschnürt. Man hat mir das alles nachher, nachdem
ich die Landessprache erlernt hatte, erzählt, denn während des
ganzen Vorgangs lag ich noch infolge des genossenen Weines in
tiefem Schlafe, nur das überlaute Freudengeschrei bei Ankunft
der Maschine hatte mich, jedoch nur auf wenige Augenblicke,
geweckt. Fünfzehnhundert der stärksten Pferde, die der Kaiser
besaß und die nach den Begriffen des Landes die ansehnliche

Länge von acht Zoll und eine Höhe von vier und einem halben
Zoll hatten, wurden vorgespannt; die mutigen Tiere zogen kräf-
tig an und die Reise ging ohne allen Unfall von statten.
Nur, als wir etwa vier Stunden unterwegs gewesen waren,
wäre beinahe durch die Neugier eines vorwitzigen Gardeoffiziers
ein Unglück herbeigeführt worden. Der Leutnant nämlich war,
um mein Gesicht in der Nähe zu betrachten, mit einigen ebenso
vorwitzigen Kameraden zu meinem Kopf heraufgeklettert, um
möglichst genau meine Züge zu sehen. Da hatte er es denn nicht
lassen können, mich mit der Spitze seines Degens im Nasenloch
zu kitzeln, so daß ich mehrmals laut niesen mußte und erwachte.
Durch mein Niesen und Blasen aber war der Gardeleutnant nebst
seinen Kameraden über und über gepurzelt, und alle würden sich
schwer durch einen Sturz beschädigt haben, wenn sie sich nicht
glücklicherweise in den Falten meines Wamses gefangen hätten.
Wir erreichten an demselben Tage die Stadt noch nicht, son-
dern mußten auf freiem Felde übernachten. Es wurde also halt
gemacht und fünfhundert mit Bogen und Spießen bewaffne-
te Leibgardisten wurden kommandiert, mich bei dem Schein
angezündeter Fackeln zu bewachen; sie hatten den Befehl, sofort
auf mich zu schießen, wenn ich mich rühren sollte. Bei Sonnen-
aufgang setzten wir am nächsten Morgen unsere Reise fort und
waren gegen Mittag nur noch etwa zweihundert Ellen von den
Stadttoren der Residenz entfernt. Der Kaiser kam uns mit seinem
ganzen Hofe entgegen; die ihn begleitenden Generale wollten
aber durchaus nicht dulden, daß Seine Majestät durch das Bestei-
gen meines Körpers sein kostbares Leben in Gefahr brächte.
Der Wagen fuhr bei einem uralten Tempel vor, der nicht mehr
zum Gottesdienst benutzt wurde und, wie man sagte, das größ-
te Gebäude im ganzen Lande sei. Dieser ehrwürdige Bau nun
wurde mir zur Wohnung angewiesen. Das große, gegen Norden
gelegene Tor hatte die ansehnliche Höhe von vier Fuß und war
beinahe zwei Fuß breit, so daß ich bequem hindurchkriechen
konnte. Auf jeder Seite des Tores befand sich ein kleines Fenster;
an den eisernen Fensterkreuzen des links gelegenen befestigte
nun der Hofschmied an starken eisernen Ringen einundneunzig
Ketten, von der Dicke unserer goldenen Damenuhrketten, und
schloß sie mit wohlverwahrten Schlössern an meinem linken
Fuß. Nachdem dies geschehen war, bestieg der Kaiser mit seinem
Gefolge einen etwa fünf Fuß hohen, in unmittelbarer Nähe des
Tempels stehenden Turm, um eine gute Übersicht über meinen
ganzen Körper zu haben. Unzählbar war das Volk, das zu dem-
selben Zweck aus der Stadt zusammengelaufen war und mich
mit staunender Bewunderung betrachtete. Viele wagten, auf Lei-
tern zu mir heraufkletternd, ihr Leben, so daß sich Seine Ma-
jestät veranlaßt sah, bei Todesstrafe diese allzuweit getriebene
Neugier zu verbieten.
Als man sich überzeugt hatte, daß meine Ketten fest genug
waren, durchschnitt man alle Stricke, womit ich gefesselt war.
Ich stand nun eben nicht in rosenfarbener Laune auf und schritt,
soweit es die Ketten erlaubten, ein paarmal hin und her, um
meine von dem langen Liegen steif gewordenen Glieder wieder
geschmeidig zu machen. Meine Feder ist zu schwach, um das
Staunen und den jubelnden Lärm des Volkes zu schildern, als
es mich nun in meiner ganzen Länge aufgerichtet umhergehen
sah. Die Ketten an meinem linken Fuß gaben mir ungefähr vier
Fuß Spielraum und gestatteten, daß ich in den Tempel kriechen
konnte. Dies tat ich, um mich dem unaufhörlichen Lärm zu ent-
ziehen, und streckte mich der Länge nach in dem geräumigen
Tempel aus.
Zweites Kapitel
Der Verfasser sieht sich die schöne Gegend an und wird vom Kaiser
mit Gefolge besucht. Beschreibung des Kaisers und der Großen seiner
Krone. Gelehrte erhalten Befehl, den Verfasser in der Landessprache
zu unterrichten. Seine Sanftmut und Freundlichkeit gewinnen ihm die
Gunst des Kaisers und des Volkes. Seine Taschen werden untersucht,
Degen und Pistolen werden ihm abgenommen.

A ls ich mich ein Weilchen im Tempel ausgeruht hatte, kroch ich


wieder hervor und sah mich im Freien in der Gegend um, die
überall eine entzückende Aussicht bot. Die ganze Umgebung
erschien wie ein wohlgepflegter Garten, und die eingehegten
Felder, die in der Regel vierzig Quadratfuß hielten, glichen Blu-
menbeeten. Diese Felder waren von kleinen Wäldern oder Baum-
gruppen unterbrochen, deren höchste Stämme sich bis zu sieben
Fuß erheben mochten. Mit bunten Schiffchen bedeckte, silber-
klare Flüsse, welche die Größe unserer Bäche hatten, wanden
sich durch Wiesen von einem herrlichen, sanften Smaragdgrün
und nahmen ihren Lauf der von meinem Tempel links gelegenen
Hauptstadt zu. Diese Hauptstadt mit ihren schlanken Türmchen,
sauberen Häuschen und regelmäßigen Gäßchen, die ich bequem
aus der Vogelperspektive überschauen konnte, bot einen ganz
reizenden Anblick und erinnerte lebhaft an die Buden des Weih-
nachtsmarkts, wo man schön und glänzend lackierte Städte und
Festungen aus Holz und Blech zum Verkauf ausstellt.
Als ich noch ganz im Anschauen des freundlichen Städt-
chens und der lieblichen Landschaft versunken war, stieg Seine
Majestät mit seinem Gefolge vom Turm herab, schwang sich auf
ein ihm vorgeführtes Pferd von edelster Rasse und ritt kühn auf
mich zu. Dies hätte ihm beinahe gefährlich werden können, denn

sein Pferd, obgleich trefflich zugeritten, bäumte sich entsetzt vor


meinem Anblick, da ich ihm wie ein wandelnder Berg erschei-
nen mochte. Der Fürst, ein vorzüglicher Reiter, blieb jedoch sat-
telfest, bis die Reitknechte herbeikamen, das Pferd beruhigten
und ihm absteigen halfen. Als der Kaiser nun abgestiegen war,
trat er nahe an mich heran und betrachtete mich mit dem un-
verkennbarsten Erstaunen, doch hielt er sich auf den besorgten
Rat seiner Großen außerhalb des Bereichs meiner Ketten, denn
immer noch traute man mir Tücke zu, und das war ohne Zweifel
sehr weise gedacht, denn wie leicht konnte ich in einem Anfall
von Wut oder Zorn über meine Lage nach Seiner Majestät aus-
langen und seinen Leib zwischen meinem Daumen und Zeige-
finger zerdrücken! – Solch grausame Gedanken waren mir indes
fern. – Ich merkte aus des Kaisers Mienen und Bewegungen, daß

es ihm Vergnügen machen würde, mich speisen zu sehen, und


da ich bereits wieder einen guten Appetit fühlte, so beeilte ich
mich dadurch, daß ich wiederholt die Hand an den Mund führ-
te, meine Kinnladen in kauende Bewegung setzte und aus der
hohlen Hand anscheinend schlürfte, anzudeuten, daß man mich
mit Essen und Trinken versehen möge. Der Kaiser war in seiner
Weisheit längst auf diesen meinen Wunsch vorbereitet, und ehe
ich’s mir versah, beeilte man sich, mir eine Menge Fuhrwerke
mit Speisen und Getränk zuzuschieben. Zwanzig dieser Fuhr-
werke waren mit gebratenem Fleisch und, wenn ich nicht irre,
zehn mit irdenen Geschirren beladen, die Getränke enthielten.
Ich verspeiste jedesmal den Inhalt von dreien solcher Wagen auf
einen Bissen, goß das in zehn irdenen Gefäßen enthaltene Ge-
tränk in das dichtgefügte und festverpichte Fuhrwerk und trank
es auf einen Zug leer.
Mit sichtlichem Vergnügen verfolgten der Kaiser, die Kaise-
rin und die kaiserlichen Kinder die Art und Weise, wie ich unter
den Speisen und Getränken aufräumte, und ich hatte bei dieser
Gelegenheit Muße, mir den Kaiser und die Herren und Damen
seines Gefolges genau zu betrachten. Der Kaiser ist um die Brei-
te eines ganzen Fingernagels größer als seine Hofleute und mag
überhaupt über seinem ganzen Volke so hoch hervorragen, wie
weiland König Saul über die ihm untertänigen Juden. Diese auf-
fallende Größe schon ist ganz geeignet, um sein Volk gegen ihn
mit Ehrfurcht zu erfüllen, eine Ehrfurcht, die auch durch die
Männlichkeit seiner Gesichtszüge und durch die Majestät sei-
ner Haltung und Bewegung wach erhalten wird. Jeder Zoll an
ihm war ein Kaiser! Die Majestät mochte damals wohl in ihrem
neunundzwanzigsten Jahre stehen und hatte die Regierung seit
sieben Jahren zur Zufriedenheit seiner Untertanen geführt; meh-
rere Kriege, die er siegreich durchgeführt, hatten die Achtung
seines Volkes vor ihm noch bedeutend gesteigert. – Um den Kai-
ser besser betrachten zu können, legte ich mich auf die Seite, so
daß sein Gesicht dem meinen gerade gegenüberstand, während

er sich auf eine Strecke von sechs Fuß von mir entfernt hielt;
auch vergaß er nicht, sein gewaltiges Schlachtschwert, das fast
die Größe einer Federmesserklinge hatte, immer kampfbereit in
der Hand zu halten, damit er sich, wenn ich den Versuch machen
sollte, mich loszureißen, verteidigen könnte. Seine Kleidung war
zwar reich und geschmackvoll, aber doch von einer edlen Ein-
fachheit. Er trug einen goldenen, mit Juwelen sinnreich verzier-
ten Helm, einen grünseidenen, mit Silber verzierten Rock, der
sich sehr eng anschloß und die Kraft und das Ebenmaß seiner
Glieder vorteilhaft hervorhob. In malerische Falten gelegt, um-
floß ein langer, weiter Purpurmantel die ganze Gestalt.
Die Damen und Herren des Hofes waren noch reicher wie der
die Einfachheit liebende Kaiser und mit ausgesuchter Pracht geklei-
det. Wie sie so auf kostbaren Sesseln dasaßen zu meinen Füßen,
schien es mir, als blickte ich auf einen buntfarbigen persischen
Teppich, der mit Edelsteinen in allen Farben durchwirkt sei.
Seine Majestät war so herablassend, mich zu wiederholten
Malen anzureden, und ich erwiderte stets respektvoll, doch
konnten wir uns begreiflicherweise nicht verstehen. Auch ließ
mir der Kaiser mehrere Theologen und Juristen (ich schloß auf
ihren Stand aus ihren langen Perücken und ihrer Kleidung) vor-
führen, die mich in verschiedenen, mir unverständlichen Spra-
chen anredeten. Ich nahm meine nicht unbedeutenden Sprach-
kenntnisse zusammen und versuchte, mich ihnen im Deutschen,
Holländischen, Lateinischen, Französischen und Spanischen ver-
ständlich zu machen. Allein vergebens, es wurde mir klar, daß
die Sprache dieses Volkes mit den genannten in keinerlei Stamm-
verwandtschaft stehen müsse.
Nach etwa zweistündigem Aufenthalt entfernte sich der Hof,
nachdem der Kaiser befohlen hatte, eine starke Wache bei mir
aufzustellen, die mich gegen die Belästigungen des zudringli-
chen, neugierigen Volkes schützen sollte. Es waren recht mut-
willige, tückische Racker unter diesen Knirpsen, die sich nicht
begnügten, bloß auf mir herumzukrabbeln, sondern auch aus der
Ferne ihre Pfeile auf mich abschossen, wovon mir einer beinahe
das Auge verletzt hätte. Dieses wurde dem Obersten der bei mir
aufgestellten Wache doch zu bunt, und streng und energisch wie
er war, befahl er seinen Soldaten, fünf oder sechs der Mutwil-
ligen zu ergreifen und sie mir zu beliebiger Bestrafung gebun-
den zu überliefern. Das aber gab ein Jammergeschrei! Sechs der
Übeltäter wurden mir überliefert, von denen ich fünfen zunächst
ein wohlverdientes Gefängnis in meiner Rocktasche gab und den

sechsten mir vor den Mund hob, als wollte ich ihn lebendig ver-
speisen. Die arme Kreatur stieß ein furchtbares Angstgeschrei
aus, und der Oberst und seine Offiziere wurden doch um ein
Menschenleben besorgt, als sie sahen, daß ich mein Taschen-
messer hervorzog. Allein mein Herz dachte nicht daran, mit dem
armen Geschöpf grausam zu verfahren, ich beruhigte das Männ-
lein durch freundliche Mienen und durch ein sanftes Gebrumm,
womit Ammen wohl schreiende Kinder beschwichtigen, nahm
mein Messer und schnitt statt seines Halses die Fesseln durch,
womit ihn die Soldaten gebunden hatten. Dann setzte ich das
hochaufatmende und mich dankbar aus seinen kleinen Mäuse-
augen anblickende Menschlein sanft und unversehrt auf den Bo-
den. Die übrigen kleinen Sünder in meiner Rocktasche zog ich
hervor und behandelte sie mit derselben Milde und Sanftmut.
Dies verfehlte nicht, auf den Obersten sowohl wie auf die Solda-
ten und das umstehende Volk einen sehr günstigen Eindruck zu
machen, und die Nachricht von dieser meiner Milde und Men-
schenfreundlichkeit hat mir hinterher die Huld und Gnade Seiner
Majestät des Kaisers im hohen Grade erworben.
Gegen Abend kroch ich, der Ruhe sehr bedürftig, wieder in
meinen Tempel und legte mich zum Schlafen nieder. Das Lager
auf dem Steinpflaster war indes keineswegs angenehm, aber vier-
zehn Tage hindurch mußte ich mich damit begnügen, weil die
Anfertigung des mir auf kaiserlichen Befehl bestellten Betts eine
so lange Zeit in Anspruch nahm. Sechshundert landesübliche
Betten wurden in meinen Tempel getragen und dort zu meinem
Bedarf verarbeitet. Es entstand nun aus den zusammengenähten
Betten zwar eine meiner Körperlänge entsprechende Matratze,
aber das Lager war doch hart, weil die zusammengenähten Bett-
chen nicht dicht und hoch genug waren, um mich die harten, po-
lierten Pflastersteine des Tempels, auf denen das Riesenbett end-
lich ausgebreitet wurde, gar nicht fühlen zu lassen. Indes, es war
doch immerhin etwas und tat mir nach meinem langen Lagern
auf harter, bloßer Erde ganz wohl, auch vergaßen die guten Leut-
chen nicht, mich mit Bettdecken und Kissen reichlich zu verse-
hen, die ebenfalls aus Hunderten von landesüblichen Bettchen
zusammengenäht waren. Ich schlief die erste Nacht auf diesem
Lager ganz herrlich, gewöhnte mich nach und nach an meine
seltsame Lage und war, da man mich an den nötigsten Lebensbe-
dürfnissen durchaus keinen Mangel leiden ließ, so ziemlich mit
meinem Schicksal zufrieden.
Bevor ich in meiner Erzählung fortfahre, muß ich hier eines
Umstandes erwähnen, der wiederum ein helles Licht auf die
Weisheit des Fürsten wirft, von dem dies kleine Volk regiert zu
sein das Glück hatte. Auf die schnell verbreitete Nachricht von
meinem Erscheinen im Königreiche nämlich war von allen Sei-
ten eine ungeheure Menge neugieriger Menschen nach der Resi-
denz und meinem Tempel zusammengeströmt. Das dauerte nun
tage- und wochenlang fort, Geschäfte und Arbeiten gerieten in
gefährliche Stockungen und die notwendigen Feldbestellungen
wurden vernachlässigt. Da beeilte sich der Kaiser, die Gefahr, die
für Land und Leute aus solcher Wirtschaft entspringen müsse,
erkennend, durch Aufrufe und gemessene Staatsbefehle anzu-
ordnen: daß alle, die mich bereits gesehen, sofort nach Hause
und an ihre Geschäfte zurückkehren sollten, außerdem soll-
te es ohne besonderen Erlaubnisschein niemand gestattet sein,
mir bis auf fünfzig Ellen nahezukommen. Dieser Befehl gab so-
wohl Zeugnis von dem Scharfblick des Kaisers, wie von seiner
gastfreundschaftlichen Rücksicht gegen mich, und hatte zudem
für die Staatssekretäre und Polizeibeamten den Vorteil, daß sie
durch Ausstellung von Erlaubnisscheinen ihr Einkommen ver-
größern konnten.
Während ich nun so ganz gemächlich dahinlebte, hatte ich
keine Ahnung davon, daß meinetwegen unter dem Vorsitz des
Kaisers der Reichsrat häufig zusammentrat und über mein Wohl
oder Wehe die ernstesten und eingehendsten Beratungen hielt.
Später erfuhr ich von einem mir wohlgesinnten Geheimrat, daß
von verschiedenen Seiten Vorschläge gemacht worden waren,
mich aus dem Wege zu räumen, denn man glaubte aus ver-
schiedenen Gründen das Wohl des Landes ernstlich durch mich
bedroht. Einige meinten, ich möchte doch über kurz oder lang
meine Ketten zerreißen und feindlich auftreten, andere gaben zu
bedenken, daß meine kostspielige Unterhaltung eine Hungers-
not über das Reich verhängen müsse. Man beschloß daher in der
überwiegenden Mehrheit, mich zu töten, und nur über die Art
und Weise, wie ich am bequemsten aus der Welt zu schaffen sei,
war man uneins. Einige schlugen vor, mich mit vergifteten Pfei-
len zu erschießen, andere rieten, mir alle Nahrung zu entziehen
und mich Hungers sterben zu lassen, noch andere machten sogar
den grausamen Vorschlag, mich nächtlicherweise meuchlings
mit meinem Tempel zu verbrennen. Allein allen diesen Blutdür-
stigen gegenüber stand mir wiederum die Weisheit und die Güte
des Kaisers schützend zur Seite, er wollte meinen Tod nicht und
machte die Kurzsichtigen darauf aufmerksam, daß im Fall ich
getötet würde, der von einer so großen, verwesenden Leiche aus-
gehende Gestank Pest und Seuchen in der Hauptstadt und im
ganzen Reiche verbreiten könnte.
Während dieser Beratungen brachten Offiziere die Nachricht
über mein mildes Verfahren gegen die mir überlieferten sechs
Verbrecher; dies gab den Ausschlag und wandte mir das Herz des
Kaisers in dem Grade zu, daß von nun an nicht allein von mei-
nem Tode überall keine Rede mehr war, sondern daß auch aufs
ausreichendste für meinen Lebensunterhalt gesetzlich gesorgt
wurde. Auf des Kaisers Befehl nämlich wurden alle Dörfer bis

auf neunhundert Ellen Entfernung angewiesen, mir jeden Mor-


gen sechs Ochsen und vierzig Schafe nebst einer entsprechenden
Menge Brot und Wein zu meinem Unterhalt zu liefern. Dafür gab
der milde und gerechte Kaiser den Lieferanten Anweisungen auf
seine Schatzkammer, die durch den Ertrag seiner reichen und
musterhaft bewirtschafteten Güter immer wohl gefüllt war. Die
Steuern in diesem glücklich regierten Ländchen sind nicht hoch,
dagegen aber ist, und das finde ich gerecht und billig, die Last
des Kriegsdienstes eine allgemeine, so daß, wenn es sich um
die Wohlfahrt des Vaterlandes handelt, der Sohn des höchsten
Staatsbeamten neben dem Sohne des ärmsten und geringsten
Mannes zu Felde ziehen muß. Ferner ordnete der Kaiser zu mei-
nem Besten an, daß sechshundert Mann zu meiner beständigen
Bedienung angewiesen werden sollten; diese errichteten ein La-
ger bei meinem Tempel und waren stets meines Winkes gewärtig.
Ferner wurden dreihundert Schneider beordert, mir so rasch wie
möglich einen Anzug nach der Mode des Landes zu verfertigen,
da der meine während der vielen Strapazen, die ich ausgestan-
den, stark gelitten hatte und sehr fadenscheinig geworden war;
auch wurden sechs ausgezeichnete Gelehrte angewiesen, mich
fleißig in der Landessprache zu unterrichten, in der ich auch bald
gute Fortschritte machte. Endlich verfügte der Kaiser auch noch,
daß seine und die Pferde des Adels und der Gardereiter häufig vor
mir zugeritten und getummelt würden, damit sie sich an meine
Person gewöhnten.
Während alle diese Befehle pünktlich ausgeführt wurden und
ich mich eifrig mit dem Studium der Landessprache beschäftigte,
beehrte mich der Kaiser häufig mit seinen Besuchen und hatte
sogar die Gnade, meinen Unterricht zu überwachen und meinen
Lehrern manch nützlichen und praktischen Wink zu geben. So
kam es denn, daß ich bald einige meiner Gedanken in die Worte
der Landessprache kleiden konnte, und der erste Satz, den ich
erlernte, bestand in folgender Anrede: »Allerdurchlauchtigster,
großmächtigster und gnädigster Kaiser, Herr der Könige und
Völker, habt die Gnade, mir meine Freiheit zu schenken.« Diese
Bitte wiederholte ich kniend, so oft mich der Kaiser mit seinem
Besuche beehrte, allein er ging nicht darauf ein, sondern gab
die ausweichende Antwort, ich müßte zuerst Lumos kelim pesso
desmar lon emposo, das heißt ihm und seinem Königreiche Frieden
schwören. Übrigens könne ich bei der milden und vorsorglichen
Behandlung, die mir zuteil würde, mich wohl geduldig in mein
Schicksal fügen. Auch solle ich fortfahren, durch kluges und ge-
sittetes Betragen mir seine und seiner Untertanen Achtung zu
bewahren.
Eines Tages erklärte mir der Kaiser bei seinem Besuche, ich
möge es nicht übelnehmen, daß er einigen Beamten vom Polizei-
dienst Befehl erteilt habe, mich genau zu durchsuchen, denn ich
werde wohl Waffen und andere gefährliche Dinge bei mir tragen,
deren man sich versichern müsse.
Ich erklärte Seiner Majestät, teils durch Worte, teils durch
Zeichen, daß ich mich ohne Widerspruch diesem Befehle fügen

würde, worauf der Kaiser befriedigt erwiderte, daß mir alle mei-
ne Sachen, welche die Beamten bei mir fänden, bei meiner einsti-
gen Abreise zurückerstattet, oder mir ein ihrem Werte entspre-
chender Preis dafür gezahlt werden sollte.
Nach dieser Verhandlung erschienen auf den Wink des Kaisers
sogleich zwei der betreffenden Beamten, um die Durchsuchung
vorzunehmen. Um ihnen das Geschäft zu erleichtern, setzte ich
sie zunächst behutsam auf meine Hand und steckte sie zuerst
in die weiten Taschen meines Oberrocks, sodann in die übrigen
Taschen der Kleider, nur eine versteckte Hosentasche, die einige
mir nötige und für sie gleichgültige Gegenstände enthielt, ließ
ich undurchsucht. Die Herren hatten Papier, Tinte und Feder bei
sich und nahmen ein genaues Verzeichnis von all den Gegen-
ständen auf, die sie bei mir fanden. Dies Aktenstück, das mir
später in die Hände fiel, übersetzte ich möglichst getreu in meine
Muttersprache. Es lautete wie folgt:
Wir Unterzeichnete, auf Befehl Seiner Majestät des Kaisers
zur Durchsuchung der Kleider des Quinbus Flestrin (diesen Be-
griff weiß ich nicht anders als durch den Ausdruck »Menschberg«
wiederzugeben) bestellte untertänigste Diener, fanden nach ge-
nauer und gewissenhafter Untersuchung folgende Dinge:
Erstens: In seiner rechten Tasche ein quadratisches Stück
rauhen Tuchs, groß genug, um einen Teppich für das größte
Staatszimmer Seiner Majestät daraus zu machen. Auf Befragen
nach dem Zweck dieses riesigen Tuches sagte der Menschberg,
daß es sein Taschentuch sei.
Zweitens: In der linken Rocktasche fanden wir eine große
silberne Kiste, deren Deckel wir zu heben suchten, um nach dem
Inhalt der Kiste zu forschen, allein der schwere Deckel wich un-
seren vereinten Anstrengungen nicht, und darum ersuchten wir
den Menschberg, sie uns zu öffnen. Er tat es bereitwillig und wir
erblickten die Kiste etwa in halber Höhe mit einem dunkelbrau-
nen Staub angefüllt. Der genaueren Untersuchung wegen traten
wir bis an die Knie in den Staub, mußten uns aber eiligst wieder
zurückziehen, weil uns der aufwirbelnde Staub ein solches Nie-
sen verursachte, daß es nicht zum Aushalten war. Auf Befragen
nach dem Zwecke der Kiste und des ätzenden Staubes nannte er
sie seine »Schnupftabaksdose«, ein barbarisches Wort, mit dem
wir keinen Begriff verbinden können.
Drittens: In der rechten Tasche seines Unterwamses fanden
wir ein ledernes, mit einem starken Tau umwundenes Bündel,
das, nachdem wir das Tau abgewunden hatten, sich öffnete und
eine Menge großer, aber ganz dünner und biegsamer Bretter ent-
hielt. Diese Bretter waren mit Figuren bemalt, die wir, unserer
untertänigsten Meinung nach, für Buchstaben halten. Jede dieser
Figuren hat die Größe einer halben, manche auch die einer gan-
zen Hand. Der Menschberg erklärte, es sei sein Tagebuch.
Viertens: In der anderen Tasche desselben Kleidungsstückes
entdeckten wir einen horn- oder elfenbeinartigen Balken, aus
dem zwanzig etwa vier Fuß lange Pfähle hervorragten, von de-
nen einige schadhaft waren. Dies war augenscheinlich der Haar-
kamm des Menschberges; wir baten ihn deshalb um keine wei-
tere Erklärung.
Fünftens: In der rechten Tasche seiner Panfu-to (mit diesem
Worte bezeichnet man in der Landessprache die Hosen. Der
Verfasser) stießen wir auf eine ungeheuer hohe Säule von sau-
ber poliertem Eisen, die auf einem großen Stücke harten und
gekrümmten Holzes ruhte, aus dem sich sonderbar gestaltete
eiserne Figuren hervorhoben, die mit der hohlen Säule in irgend
einem Zusammenhange zu stehen schienen. Der Menschberg
nannte den seltsamen Koloß, wenn wir das Wort richtig notiert
haben, »Pistole«.
Sechstens: Die Nachsuchung in der linken Tasche der Panfu-
to ergab zwei große horn- oder knochenartige Bohlen von mehr
als Manneslänge, aus denen starke Stahlplatten hervorragten.
Wir vermuten, daß diese unheimlichen Maschinen irgendwel-
che staats- oder landesgefährliche Dinge enthalten könnten, und
befahlen daher dem Menschberg aufs ernstlichste, uns die Kon-
struktion der Maschinen genau zu erklären und uns mit ihrem
Zweck bekannt zu machen. Er gehorchte auch sofort und bog aus
den Bohlen die Stahlplatten hervor, die sich nun als ungeheure
Messerklingen erwiesen. Wie er angab, diente ihm die eine Klin-
ge zum Rasieren seines Bartes und die andere zum Zerschneiden
der Speisen.
In einem anderen ziemlich engen Behälter desselben Klei-
dungsstückes machten wir einen höchst merkwürdigen Fund.
Eine gewaltige silberne Kette, etwa von der Größe unserer An-
kerketten, die aus jenem Behälter herabhing, führte uns auf die
Spur, indem wir entdeckten, daß die Kette an einer Maschine
befestigt war, die wir ihrer Schwere wegen nicht herauszuzie-
hen vermochten. Wir befahlen dem Menschberg deshalb, das
verdächtige Ding sogleich herauszuziehen, möge es sein, was es
wolle. Er gehorchte und brachte eine große abgeplattete Kugel
hervor, deren unterer Teil aus Silber bestand, während der obe-
re mit einer ungeheuren Glaskuppel bedeckt war, durch die wir,
nachdem wir mit einiger Mühe bis zum Rande hinaufgeklettert
waren, seltsame schwarze Figuren erblickten, die sich auf einer
weißen kreisrunden Fläche in regelmäßigen Zwischenräumen
ausbreiteten. Unser Erstaunen wuchs, als wir ein fortwährendes,
lautes Geräusch, gleich dem einer Wassermühle vernahmen, das
aus der Maschine hervordrang. Wir sind der Meinung, daß der
Gegenstand entweder gar kein lebloser, sondern ein eigentüm-
liches Tier seines Landes, oder aber der Gott ist, den der Mensch-
berg verehrt. Zu letzterer Meinung neigen wir umso mehr, als er
uns auf Befragen, soviel wir aus seiner noch immer mangelhaf-
ten Sprachkenntnis entnehmen konnten, erklärte, daß dies ein
Ding sei, das er bei allen seinen Handlungen um Rat frage und
das ihm die Zeit zu seinen Geschäften zumesse.
Auch fanden wir in einer seiner Taschen noch eine Art Fi-
schernetz, das er seinen Geldbeutel nannte, was auch durchaus
wahrscheinlich schien, da es mehrere große, runde Platten von
Gold und Silber enthielt, auf denen sich ausgeprägte Köpfe und
Schriftzeichen befanden. Nach dem kolossalen Gewicht müssen
diese Geldstücke, wenn sie wirklich, wie es allerdings den An-
schein hat, von Gold und Silber sein sollten, einen unermeßli-
chen Wert haben.
Die bisher aufgezählten Gegenstände ergab die Durchsu-
chung der Taschen. Außerdem aber fanden wir an seinem Gür-
tel hängend einen Degen von etwa fünfzehn Ellen Länge, und
am anderen Ende des Gürtels einen ledernen, durchnähten Sack,
dessen eine Seite sehr schwere Bälle oder Kugeln von der Dicke
unserer Köpfe enthielt, während die andere Hälfte einen Haufen
weit kleinerer und leichterer Kügelchen und Körnchen barg; von
letzteren nahmen wir einige zwanzig ohne Mühe auf die Hand,
doch konnte uns ihr Zweck nicht klar werden.
Dies ist das genaue Verzeichnis sämtlicher Gegenstände, die
wir in den Taschen und am Leibe des Menschbergs gefunden
haben. Er fügte sich willig und höflich in Seiner Majestät durch
uns vollzogenen Befehl und hat uns keinerlei Anlaß zur Klage
gegeben.
Unterschrieben und mit unserem Siegel versehen am vier-
ten Tage des neunundachtzigsten Monats der glücklichen und
gesegneten Regierung Seiner Majestät unseres allergnädigsten
Kaisers.

Als nun dies hier wörtlich mitgeteilte Verzeichnis dem Kaiser


vorgelesen war, befahl er mir, jedoch in sehr herablassender
und leutseliger Weise, sämtliche im Verzeichnis benannten
Gegenstände auszuliefern. Zuerst verlangte er meinen Degen,
den ich dann sogleich auch nebst Scheide und Degenkoppel zu
seinen Füßen niederlegte. Während dieses Vorgangs hatten mich,
ohne daß ich groß Arg daraus hatte, etwa dreitausend Mann der
auserlesensten und zuverlässigsten Truppen geschickt manöve-
rierend umringt. Sie hatten den Befehl, mit einem Pfeilregen ge-
gen mich vorzugehen, sobald ich nur eine verdächtige Bewegung
mache.
Nach dieser Vorsichtsmaßregel befahl mir der Kaiser, den De-
gen aus der Scheide zu ziehen, und als ich dem Befehl gehorchte
und die trotz einiger durch das Seewasser herbeigeführten Rost-
flecke noch immer blanke Klinge im hellen Sonnenschein spie-
geln ließ und nach Fechterart hin und her schwang, blendete der
Lichtreflex so sehr die Augen des versammelten Heeres, daß die
Mannschaft in laute Rufe des Schreckens und der Überraschung
ausbrach. Seine Majestät, wie schon früher bemerkt, ein sehr mu-
tiger Mann, bewahrte indes seine ganze Kaltblütigkeit, befahl
mir, den Degen wieder in die Scheide zu stecken und ihn sanft
auf den Boden niederzulegen. Zunächst verlangte man dann den
hohlen eisernen Pfeiler, wie man mein Terzerol benannte. Ich
zog es hervor, suchte seinen Gebrauch zu erklären und lud es
dann aus meiner wasserdichten Pulvertasche, die sich gegen das
Eindringen des Seewassers trefflich bewährt hatte und setzte,
um den Knall zu verstärken, einen starken Pfropf auf die Ladung.
Sodann machte ich den Kaiser darauf aufmerksam, daß er vor ei-
nem starken, plötzlichen Donnerschlage nicht erschrecken möge,
und schoß hoch über die Köpfe der Mannschaften hin in die Luft.
Unbeschreiblich war die Überraschung und der panische Schrek-
ken, der mit dem Knall das ganze Heer befiel, einige stürzten vor
Betäubung wie tot zusammen, und selbst der mannhafte Kaiser
konnte sein Entsetzen nicht verhehlen.
Ich lieferte nun meine Taschenpistole nebst Kugel- und Pul-
verbeutel in derselben Weise aus wie meinen Degen, bat aber
den Kaiser, daß er den Pulverbeutel vor Feuer bewahren möge,
indem ein kleiner Funke hinreichend sei, die in dem Beutel ent-
haltenen schwarzen Körner zu entzünden und ihn nebst seinem

ganzen Palast in die Luft zu sprengen. Der Kaiser schenkte mir


vollen Glauben und befahl, den gefährlichen Beutel mit der äu-
ßersten Vorsicht vor der Berührung aller brennenden und brenn-
baren Gegenstände zu bewahren. Ich übergab nun alle bei mir
gefundenen Sachen, zunächst meine Uhr, durch deren Ring zwei
Gardisten eine lange Stange steckten und sie dann unter saurem
Schweiß auf den Schultern zum Kaiser trugen, der großes Inter-
esse an ihrem Geräusch und an der Bewegung ihrer Zeiger nahm.
Er fragte die ihn begleitenden Gelehrten nach ihrer Meinung
über die seltsame Maschine, und diese ließen sogleich eine Men-
ge der verschiedensten und widersprechendsten Vermutungen
laut werden, die natürlich aber alle den Nagel nicht auf den Kopf
trafen. Meine Uhr, mein Degen nebst Terzerol, Kugeln und Pul-
vertasche wurden nun durch Flaschenzüge auf Wagen geladen
und nach der Residenz abgeführt, meine übrigen Habseligkeiten
aber, wie Kamm, Taschen- und Rasiermesser, Tabaksdose, Geld
und Schnupftuch, erhielt ich sogleich wieder zurück.
Wie schon oben bemerkt, hatte ich eine Tasche ganz von der
Durchsuchung zu bewahren gewußt, diese enthielt nämlich mei-
ne Brille und ein kleines Fernrohr, welche Gegenstände dem Kai-
ser von keinerlei Nutzen sein konnten und von denen ich mich
ungern getrennt hätte.
Drittes Kapitel
Der Verfasser unterhält den Kaiser und die Herren und Damen seines
Hofs auf eine sehr belustigende Weise. Vergnügungen des Hofs von
Liliput. Der Verfasser wird unter gewissen Bedingungen in Freiheit
gesetzt.

Mein friedliches und freundliches Betragen hatte Kaiser und


Volk nach und nach mir so gewogen gemacht, daß ich hoffen
durfte, binnen kurzem meine Freiheit zu erhalten, und ich war
wohlweislich bemüht, mir diese günstige Stimmung zu bewah-
ren. Ich ließ die Kinder auf meiner flachen Hand tanzen, und die-
se wurden bald so dreist, daß sie in meinen Haaren Verstecken
spielten. Auch um den Erwachsenen gefällig zu sein, legte ich
mich oft auf den Boden nieder und ließ sie ungestört auf meinem
Körper umherspazieren und klettern, dadurch verloren sie nach
und nach alle Furcht vor mir, und ich hatte außerdem den Vor-
teil, daß ich mich durch den vertrauten, freundlichen Umgang
mit den Leutchen immer mehr in der Landessprache ausbilden
konnte.
Da ich nun so allgemein beliebt war, beschloß der Kaiser ei-
nes Tages, mich durch ein außerordentliches Vergnügen, und
zwar durch ein Volksfest zu erfreuen, an dem auch die ersten
Staats- und Hofbeamten teilnahmen und dessen Höhepunkt in
einem Seiltanz besteht, worin sich dies Volk vor allen anderen
Erdbewohnern wahrhaft auszeichnet. Dieser Seiltanz wird auf
einem etwa vier Fuß langen, dünnen Faden ausgeführt, der in ei-
ner Höhe von zwölf bis vierzehn Zoll über der Erde ausgespannt
ist. Die Art und Weise dieses Seiltanzes, sowie Stand und Cha-
rakter der Künstler bieten so viel Eigentümliches, daß ich die
Geduld der Leser nicht zu ermüden hoffe, wenn ich mich etwas
ausführlich darüber auslasse.
Vor allem ist es höchst eigentümlich und bemerkenswert, daß
sich bei diesen Unterhaltungen nur solche Personen als Seiltän-
zer produzieren, die sich um bedeutende Staatsämter und um
die höchste Gunst bei Hofe bewerben. Von Jugend auf erlernt
man die Kunst des Seiltanzens, um sich dadurch einst für die
höchsten Staatsämter zu befähigen. Wenn nun irgend eine hohe
und einflußreiche Stelle durch Tod oder Ungnade des Kaisers an-
derweit zu besetzen ist, so melden sich fünf oder sechs mit dem
Seiltanz wohlvertraute Kandidaten und ersuchen den Kaiser in
einer untertänigsten Bittschrift, ihn mit ihrer Kunst unterhalten
zu dürfen. Der Kaiser bewilligt gern ein solches Gesuch, die Kan-
didaten produzieren sich auf dem Seile, und wer von ihnen am
höchsten springt oder die erstaunlichsten und halsbrecherisch-
sten Purzelbäume schlägt, erhält das freigewordene Amt.
Oft erhalten auch die bereits lange im Amte stehenden Mi-
nister Befehl, ihre Geschicklichkeit im Seiltanz zu zeigen, damit
sich der Kaiser vergewissert, daß sie in dieser Kunst keine Rück-
schritte gemacht haben. Eine ganz besondere Kunstfertigkeit hat
der Finanzminister Flimnap an den Tag zu legen; er springt in
der Regel einen ganzen Zoll höher als alle übrigen Beamten und
übertrifft alle durch die Sonderbarkeit und das Halsbrecherische
seiner Kapriolen. Ihm fast gleich tut es mein Freund Redresal,
erster Staatssekretär für die Hausangelegenheiten; die übrigen
Großen stehen beiden nach, leisten aber doch auch Vorzügliches
in ihrer Kunst.
Freilich gehen diese halsbrecherischen Unterhaltungen nicht
immer – die Annalen des Kaiserreichs wissen viel davon zu er-
zählen – ohne Unglücksfälle ab; mancher büßt seinen Ehrgeiz
oder seine Stellenjägerei mit einer gefährlichen Körperverletzung
oder gar mit dem Tode, und es wurde mir erzählt, daß selbst
Flimnap vor einigen Jahren beinahe den Hals gebrochen hätte,
wenn er nicht glücklicherweise auf ein gut gepolstertes kaiser-
liches Ruhekissen gefallen wäre, das auf dem Fußboden ausge-
breitet lag.
Ein anderer Liliputischer Zeitvertreib ist den Augen des Volkes
entzogen und findet nur in Gegenwart des Kaisers, der Kaiserin
und des Premierministers statt. Er besteht darin, daß der Kaiser
drei seidene Fäden auf den Tisch legt, und zwar einen grünen, ei-
nen roten und einen blauen. Diese Fäden werden denjenigen als
Belohnung bestimmt, die der Kaiser besonders auszeichnen will.
Die Bewerber müssen nun in des Kaisers großem Staatszimmer
eine Probe von Geschicklichkeit ablegen, die von der vorher be-
schriebenen ganz verschieden und so sonderbar und seltsam ist,
daß ich etwas auch nur annähernd Ähnliches weder in der Alten
noch in der Neuen Welt gesehen habe. Der Kaiser hält nämlich
einen Stock wagrecht in der Hand, und die Fadenbewerber stel-
len sich nun einer nach dem anderen vor den Stock hin, sprin-
gen mehrmals vor- und rückwärts darüber hinweg oder kriechen
darunter durch, je nachdem es Seiner Majestät beliebt, den Stock
zu heben oder zu senken. Zuweilen löst der Premierminister den
Kaiser im Halten des Stockes ab, oder hält ihn gemeinschaftlich
mit dem Kaiser. Wer nun im Springen und Kriechen die meiste
Geschicklichkeit zeigt, erhält als Auszeichnung das blaue Band,
der nächstfolgende das rote und der dritte das grüne. Diese bun-
ten Bänder tragen sie dann nach Gürtelart mehrmals um den Leib
geschlungen, und man sieht selten einen Hofbeamten, der nicht
mit der einen oder anderen dieser Dekorationen geziert wäre.
Wie die Menschen, so gewöhnten sich auch die Tiere immer
mehr an meine ungewöhnliche Erscheinung, und besonders wa-
ren es die Pferde, die nach und nach alle ihre anfängliche Scheu
vor mir verloren und sich mit ihren kühnen Reitern täglich um
mich herumtummelten. Die Reiter setzten manchmal in weitem
und gefährlichem Sprung über meine flach auf den Boden gelegte
Hand, und ein kaiserlicher Jäger, ein besonders kecker Reiter, der
allerdings ein Pferd edelster Rasse ritt, wagte es sogar einmal,

zum Erstaunen der umstehenden Menge, über meinen Fuß mit


Schuh und erhabener Schnalle hinwegzusetzen, welches Wag-
stück auch vollkommen gelang.
Da man nun so vertraut mit mir geworden war und mir so viel
Gutes und Liebes erwies, so sann ich darauf, die mir erzeigten
Aufmerksamkeiten in irgend einer außerordentlichen Weise zu
vergelten und bat den Kaiser, er möge einige seiner Forstbeam-
ten beauftragen, mir einige starke und dicke Baumstämme aus
den kaiserlichen Forsten herbeizuschaffen. Der Kaiser willigte
gnädig lächelnd ein, und schon am nächsten Morgen erschienen
neun Förster, die mir auf Lastwagen eine genügende Menge etwa
zwei Fuß hoher Stöcke von der Dicke eines spanischen Rohres
zufuhren. Ich nahm neun dieser Stöcke, stieß sie im Viereck von
zwei Fuß in den Boden und band vier andere wagrecht daran fest,
sodann befestigte ich mein Schnupftuch in strammer Spannung
an die aufrecht stehenden kleinen Pfähle, so daß die anderen vier
wagrecht liegenden Stöcke eine Schranke oder Brustwehr darum
bildeten. So hatte ich eine wohlumschränkte, festliegende Ebene
hergestellt.
Nun bat ich den Kaiser, er möge vierundzwanzig seiner be-
sten Reiter den Befehl erteilen, auf dieser Ebene zu exerzieren
und zu manövrieren, auf welchen Vorschlag Seine Majestät be-
reitwillig einging und alsbald die gewünschten Mannschaften
herbeorderte. Ich hob nun einen Reiter nach dem anderen mit
Pferd und Rüstung behutsam auf mein Schnupftuch, und so-
bald sie sich in Reih und Glied gestellt hatten, teilten sie sich in
zwei Parteien und führten mit großer Präzision die zierlichsten
Manöver aus; sie beschossen sich mit stumpfen Pfeilen, mach-
ten Angriffe mit gezogenen Schwertern, flohen und verfolgten.
Kurz, sie zeigten eine militärische Disziplin und Ausbildung, die
wahrhaft musterhaft zu nennen war. Die Schranken der wag-
recht liegenden Stäbe schützten sie bei den kühnsten Schwen-
kungen vor dem Herabfallen, und der Kaiser war so befriedigt
von dem ungewöhnlichen Schauspiel, daß er es mehrere Tage
zu wiederholen befahl und sogar selbst einmal die Gnade hatte,
sich auf mein Taschentuch heben zu lassen, um das Komman-
do zu übernehmen. Sogar die Kaiserin nahm Interesse an dem
Schauspiel und ließ sich von mir in ihrer Sänfte an die Schran-
ken heben, damit sie alles genau übersehen könne. – Alle Vor-
stellungen liefen ohne Unglück ab, nur einmal trat das Pferd
eines Hauptmanns beim Ansetzen ein Loch in mein Schnupf-
tuch, verwickelte sich mit dem Huf und warf seinen Reiter ab,
der indes keinen Schaden nahm. Ich war bedacht darauf, den
gestürzten und anfangs betäubten Hauptmann, sowie auch
alle übrigen Reiter sanft wieder auf die Erde zu setzen und
gab von dieser Zeit an, womit der Kaiser auch einverstanden
war, solche Schauspiele auf, weil sie doch nicht ganz gefahrlos
waren.
Einige Tage vor diesen eigenartigen Reiterspielen hatte man
mir infolge meines wiederholten Ansuchens und meiner be-
währten Friedfertigkeit die Freiheit geschenkt. Ehe ich jedoch
auf die Bedingungen zurückkomme, unter denen mir die Freiheit
gewährt wurde, muß ich noch eines Vorfalls erwähnen, der sich
zutrug, während ich den Hof mit den erwähnten Reiterspielen
unterhielt. Es langte nämlich in gestrecktem Galopp plötzlich
ein Kurier an, der Seine Majestät benachrichtigte, daß jemand an
dem Orte, wo ich zuerst gefunden wurde, abermals einen ganz
ungewöhnlichen Fund gemacht habe. Nach der Beschreibung be-
stand das aufgefundene Ding aus einer schwärzlichen Substanz,
streckte seinen Rand in der Größe eines mittelgroßen Zimmers
aus und hatte in der Mitte eine breite Erhöhung von Mannes-
länge; Extremitäten oder Arme und Beine waren bis jetzt nicht
daran bemerkt worden. Dieser Umstand, hieß es weiter in dem
Bericht, habe den anfänglichen Glauben beseitigt, daß man ein
lebendes Wesen vor sich habe, mutige Männer seien dann an der
mittleren Erhöhung bis zum Gipfel hinaufgestiegen und hätten
den Grund unter sich überall weich gefunden, auch durch Auf-
stampfen bemerkt, daß das Ding inwendig hohl sein müsse. Man
hege nun die untertänigste Meinung, daß dies wohl etwas sein
müsse, was dem Menschberge gehöre, und lasse anfragen, ob
Seine Majestät befehle, daß man Lastwagen ausrüste und das
Ding herschaffe.
Da ich gerade wegen der Bequemlichkeit des Verkehrs mit den
Leuten wieder flach an der Erde lag und mein Kopf sich in ziemli-
cher Nähe des Berichterstatters befand, so verstand ich vollkom-
men, was er aussagte, und begriff, daß von nichts anderem, als
von meinem verlorenen Hut die Rede war. Ich hatte ihn schon
empfindlich entbehrt und bat daher den Kaiser, nachdem ich Be-
schaffenheit und Nutzen meiner Kopfbedeckung genau auseinan-
dergesetzt hatte, zu befehlen, daß sie mir so schnell wie möglich
ausgeliefert würde. Am folgenden Tage schleppten denn auch
schon eine Anzahl Fuhrleute den Hut herbei, brachten ihn aber
nicht im saubersten Zustande, da sie ihn nicht auf einen Wagen
geladen, sondern, nachdem sie zwei Löcher in den Rand gebohrt
und Seile hindurchgezogen, diese einfach an das Geschirr der
Pferde befestigt und so meinen bewährten Hut durch dick und
dünn hergeschleift hatten. – Nun, ich freute mich doch, er war
auch so noch immer besser als gar keiner. Einige Tage, nachdem
ich wieder im Besitz meines Hutes war, hielt der Kaiser Heer-
schau und beschloß, daß ich ihm bei dieser Gelegenheit zu ei-
nem seltsamen Schauspiel dienen solle. Er eröffnete mir nämlich,
daß er wünsche, ich möchte mich mit möglichst weitgespreizten
Beinen gleich einem Koloß aufstellen. Und als ich diesem Wun-
sche nachgekommen war, befahl er seinem General, sämtliche
Truppen in geschlossener Ordnung und unter klingendem Spiel
zwischen meinen Beinen durchmarschieren zu lassen.
So geschah es; eine Abteilung leichter Kavallerie eröffnete un-
ter Trompetengeschmetter den Zug, dann folgten mehrere Regi-
menter Küraßreiter in glänzenden Rüstungen, die langen Lanzen
so hoch emporgerichtet, daß deren Spitzen beinahe in einer Li-
nie mit meinem Knie standen. Nach ihnen rückte in musterhaf-
tem Gleichschritt die Infanterie, die sich auf drei- bis viertausend
Mann belaufen mochte, unter rauschender Janitscharenmusik an,
und endlich schloß der Train und eine ungeheure Menge Gepäck
den imposanten Zug.
Dieses Schauspiel, das den Kaiser sehr ergötzte, fiel wie die
oben erzählten Reiterspiele schon in die Zeit meiner Freiheit; ich
bin es nun dem Leser schuldig, auf die Vorverhandlungen zu-
rückzukommen, die zur Beseitigung meiner Ketten führten, und
auf die wohlüberlegten Bedingungen, unter denen man es mir
gestattete, frei im Lande umherzuwandeln. – Meine wiederhol-
ten mündlichen und schriftlichen Gesuche (ich hatte mich bei
Erlernung der Landessprache durch fleißige Übung nämlich auch
sehr bald mit den Schriftzeichen des Landes vertraut gemacht)
um Wiedererlangung meiner Freiheit waren im Staatsrat ernst-
lich erwogen worden und hatten infolge meines friedlichen und
sanften Betragens geneigtes Gehör gefunden. Nur der Galbet
oder Reichsadmiral, Skyresh Bolgolam, ein mürrischer, sauertöp-
fischer Gesell, war hartnäckig gegen meine Freilassung gewesen,

wie er sich denn auch bei anderen Gelegenheiten immer feind-


lich gegen mich gesinnt zeigte, ohne daß ich wüßte, womit ich
ihn jemals beleidigt hätte. Endlich aber ward dieser verknöcher-
te, herzlose Hofmann, zumal mir die Gunst des Kaisers zur Seite
stand, doch zum Nachgeben überredet, setzte es aber durch, daß
er die Bedingungen entwarf, unter denen ich meine Freiheit er-
halten sollte. Skyresh Bolgolam brachte mir, von seinen Sekretä-
ren begleitet, mit seiner gewöhnlichen sauertöpfischen Miene die
Urkunde mit den betreffenden Artikeln, die ich, nachdem sie mir
vernehmlich vorgelesen, nach landesüblicher Sitte beschwören
mußte. Diese Zeremonie der Eidesabnahme war lästig; sie be-
stand darin, daß ich meinen rechten Fuß mit der linken Hand
erfassen und den Mittelfinger der rechten Hand über die Stirne
und den Daumen an das rechte Ohr legen mußte. Ich machte auf

diese Weise fast eine Figur wie jemand, der in den spanischen
Bock gespannt ist, und war froh, als ich mich aus dieser unbe-
quemen Lage wieder erheben konnte.
Gewiß ist es dem Leser von Interesse, den genauen Inhalt der
Urkunde mit den Bedingungen meiner Freiheit kennen zu lernen,
weil man mit Recht vermuten darf, daß sie von dem eigentüm-
lichen Stil und der Ausdrucksweise dieses Volkes einen klaren
Begriff geben und ein helles Schlaglicht auf die obwaltenden Ver-
hältnisse werfen könne. Ich lasse darum das merkwürdige Ak-
tenstück, von dem ich eine getreue Kopie genommen, hier Wort
für Wort folgen:
Golbasto Momaren Eulamé Gur-
dilo Shefin Mully Ully Gué, der
allergroßmächtigste Kaiser von
Liliput, Entzücken und Freu-
de der Welt, dessen Reich sich
fünftausend Blustrugs weithin
ausdehnt (im ganzen ungefähr
sechs Stunden), bis an den Rand
des Erdreichs; Monarch aller
Monarchen, größer an Wuchs
als die Söhne der Menschen;
dessen Füße den Mittelpunkt
der Erde drücken und dessen
Haupt sich bis zur Sonne erhebt;
auf dessen Wink die Fürsten der
Erde mit den Knien zittern; süß
wie der Frühling, voll Behaglich-
keit wie der Sommer, fruchtbar
wie der Herbst, furchtbar wie
der Winter. Seine hocherhabene
Majestät macht dem in unseren
himmlischen Provinzen kürzlich
angelangten Menschberge fol-
gende Vorschläge, deren Artikel
er mit feierlichem Eide beschwö-
ren muß.
I. Der Menschberg soll unser
Reich nicht ohne besondere, mit
unserem Reichssiegel versehene
Erlaubnis verlassen dürfen.
II. Er soll ohne besonderen
Befehl unsere Hauptstadt nicht
zu betreten wagen; alsdann soll
den Einwohnern zwei Stunden
vorher eine Warnung verkündet
werden, damit sie ihre Häuser
nicht verlassen.
III. Der besagte Menschberg
soll seine Spaziergänge auf un-
sere hauptsächlichsten Heerstra-
ßen beschränken und auf Wie-
sen oder Kornfeldern sich weder
niederlegen, noch auf ihnen
umherwandeln.
IV. Wenn er auf besagten
Heerstraßen spazieren geht, soll
er mit der äußersten Sorgfalt sich
in acht nehmen, nicht auf die
Leiber unserer geliebten Unter-
tanen, ihre Pferde oder Wagen zu
treten; er soll auch keinen unse-
rer Untertanen ohne besondere
Erlaubnis auf die Hand nehmen.
V. Wenn die außerordentliche
Abfertigung eines Kuriers erfor-
derlich ist, so soll der Mensch-
berg den Kurier, sowie dessen
Pferd sechs Tagereisen in seiner
Tasche tragen und zwar einmal
monatlich; ferner soll er den
besagten Kurier, im Fall dies
erforderlich ist, in unsere kaiser-
liche Gegenwart wohlbehalten
zurückbringen.
VI. Er soll unser Verbündeter
gegen unseren Feind auf der In-
sel Blefusku sein, und alles auf-
wenden, dessen Flotte zu zerstö-
ren, die einen Angriff auf unsere
Besitzungen vorbereitet.
VII. Besagter Menschberg soll
nach Zeit und Muße unsere Ar-
beiter unterstützen, gewisse gro-
ße Steine aufzuheben, die auf die
Mauer unseres Parkes und ande-
re königliche Gebäude verwen-
det werden sollen.
VIII. Besagter Menschberg soll
in der Zeit von zwei Monaten
eine genaue Übersicht des Um-
fangs unserer Königreiche einlie-
fern, indem er seine Schritte im
Umkreise der Küste berechnet.
IX. Letztens. Der besagte
Menschberg, nachdem er die
Beobachtung dieser Artikel fei-
erlichst beschworen hat, soll
eine tägliche Ration von Speise
und Trank, die zur Ernährung
von tausendachthundertvierund-
zwanzig unserer Untertanen ge-
nügend ist, sowie freien Zutritt
zu unserer Person und andere
Beweise unserer Gunst erhalten.
Gegeben in unserem Palast im
Belsuborac am zwölften Tage
des einundneunzigsten Monats
unserer Regierung.

Obgleich einige dieser Artikel recht demütigend für mich waren,


worauf der tückische Skyresh Bolgolam recht wohl bedacht ge-
wesen war, so beschwor ich sie, weil sie mir die ersehnte Freiheit
verschafften, doch gern und ohne alle Hintergedanken.
Nach getanem Schwur wurden mir angesichts Seiner Majestät
des Kaisers, der mir die Ehre erwiesen hatte, bei der feierlichen
Handlung gegenwärtig zu sein, die Ketten abgenommen, und ich
konnte unter dem Einhalten der Bedingungen gehen wohin ich
wollte, nur nicht außer Landes.
Der erste Akt des freien Gebrauchs meiner Glieder bestand
darin, daß ich dicht vor den Kaiser hintrat, die Knie beugte und
ihm in warmen, herzlichen Worten meinen Dank aussprach. Wie
immer gütig und wohlwollend gegen mich gesinnt, befahl er mir
aber, aufzustehen, und richtete so gnädige und schmeichelhafte
Worte an mich, daß ich sie hier nicht wiederholen mag, aus Be-
sorgnis, daß mich der geneigte Leser für einen eitlen Menschen
halten möchte. Schließlich sprach der Kaiser die Hoffnung aus,
daß ich seinem Reiche ein nützlicher Diener sein würde und er-
mahnte mich, stets durch mein Betragen darauf bedacht zu sein,
daß ich mich seiner bereits genossenen und künftigen Gunstbe-
zeigungen wert mache.
Bevor ich dieses Kapitel schließe, kann ich nicht umhin, den
Leser auf einen merkwürdigen Beweis vom Scharfblick und der
weisen Umsicht dieses Volkes aufmerksam zu machen. Man
wird sich erinnern, daß der letzte Paragraph der Urkunde meinen
Etat an Speise und Trank auf diejenige Quantität festgesetzt hat-
te, die tausendachthundertvierundzwanzig Landeseingeborene
zu ihrem Unterhalt brauchten. Da ich mir nicht erklären konn-
te, wie man gerade auf eine so scharf bestimmte Zahl gekom-
men war, so bat ich später einen meiner Freunde um Aufschluß.
»Nun,« meinte er lächelnd, »das ist ganz einfach. Als der Etat
für Euch berechnet werden sollte, mußten die Hofmathematiker
die Größe Eures Körpers genau mit einem Quadranten aufneh-
men, und da sich nun ergab, daß sich die Länge Eures Körpers
zu der hiesigen gewöhnlichen Menschenlänge wie zwölf zu eins
verhielt, so hatten sie einen Maßstab für die Berechnung Eures
ganzen Körperinhalts und fanden, daß er genau dem Maßinhalt
von tausendachthundertvierundzwanzig Landeseingeborenen
entsprechen müsse; da lag die Folgerung auf der Hand, daß Ihr
geradeso viel an Nahrung bedürftet wie die genannte Zahl von
Liliputern.«
Viertes Kapitel
Der Verfasser besucht die Hauptstadt Mildendo und den Palast des Kai-
sers. Der Geheimsekretär Redresal unterrichtet den Verfasser in einer
diplomatischen Mission über die politischen Zustände und Angelegen-
heiten des Reichs. Der Verfasser ist bereit, dem Kaiser mit allen Kräften
getreu gegen die Feinde des Reichs zu dienen.

Freigegeben, war es nun mein nächster Wunsch, mir die Haupt-


stadt Mildendo anzusehen und zu diesem Ende reichte ich eine
Bittschrift ein. Der Kaiser gewährte gern meine Bitte, ließ mir
aber noch einmal die betreffenden Artikel der Befreiungsurkun-
de einschärfen, damit ich auf meiner Hut sei, keine Menschen
zu verletzen und an den Gebäuden keinen Schaden anzurichten.
Vor meinem Besuche wurden auch die Bewohner von Mildendo
durch eine an allen Ecken angeschlagene Proklamation von mei-
nem Vorhaben unterrichtet und ebenfalls zur Vorsicht ermahnt;
auch ward ihnen darin untersagt, während meiner Anwesenheit
auszugehen. Als ich nun von meinem bisherigen Wohnort, dem
Tempel aus, nach etwa hundertdreiunddreißig Schritten die Stadt
erreicht hatte, fand ich, daß sie von einer Ringmauer von zwei-
einhalb Fuß Höhe und wenigstens elf Zoll Breite umgeben war,
so daß ein mit Pferden bespannter Wagen bequem darauf fahren
und sogar ausweichen konnte. Die ganze Ringmauer war von je
zehn zu zehn Fuß mit stark befestigten Türmen gekrönt.
Ich schritt nun über das mir zunächstliegende große Tor hin-
weg und ging durch zwei Hauptstraßen mit aller Vorsicht und
nur mit meinem enganliegenden Wams bekleidet – meinen Rock
hatte ich zurückgelassen, damit nicht etwa das Anstreifen seiner
Schöße an den Dächern und Gesimsen Schaden anrichtete.
Die Fenster, Bodenluken, ja die Dächer waren derartig mit Zu-
schauern angefüllt, daß ich mich nicht erinnern konnte, jemals
auf meinen weiten Reisen einen so bevölkerten Ort gefunden
zu haben. Die Stadt mußte mindestens an fünfmalhunderttau-
send Einwohner enthalten und war sehr regelmäßig gebaut, in-
dem von den breiten Hauptstraßen stets in regelmäßigen Zwi-
schenräumen kleinere Straßen ausliefen, die ich aber, da sie nur
zwölf bis achtzehn Zoll Breite hatten, nicht betreten konnte. Die
drei bis fünf Stockwerk hohen Häuser der Hauptstraßen hatten
meist im unteren Stock sehr elegante Kaufläden, die wie auch die
Märkte reichlich mit Waren versehen waren. – Genau im Mittel-
punkte von Mildendo, wo sich die beiden Hauptstraßen kreuzen,
lag der kaiserliche Palast, ein Prachtbau, der meine Achtung vor
den mathematischen und architektonischen Fertigkeiten dieses
Volkes noch um vieles erhöhte.
Den Zugang zu den inneren Gebäuden dieser großartigen
Hofburg konnte ich nur mit einiger Mühe bewerkstelligen. Ich
überschritt die zwei Fuß hohe Umfassungsmauer und stand nun
vor einem äußeren Hof, dessen Gebäude im Quadrat von vierzig
Fuß wiederum zwei Vierecke umschlossen, welche die eigentli-
chen Prachtbauten mit den kaiserlichen Prunksälen und Wohnge-
mächern enthielten. Mir lag am meisten daran, gerade diese zu
sehen, und auch der Kaiser wünschte angelegentlich, daß ich von
seinen Bauten und Prachträumen eine genügende Einsicht nähme.
Um aber zu dieser Ein- und Ansicht zu kommen, hätte ich beim
Übersteigen unfehlbar mehrere vor diesem inneren Bau liegende
Gebäude beschädigen müssen. Deshalb kam ich auf folgenden
Ausweg: Ich fällte mit meinem Taschenmesser einige der größ-
ten Bäume des kaiserlichen Parks und machte mir daraus zwei
Fußbänke, von diesen stellte ich nun die eine vor die mich behin-
dernden Gebäude, trat darauf und hob die andere über das Dach
hinweg auf den jenseitigen Hof, so daß mein Fuß sie beim Über-
steigen bequem erreichen konnte. Dieses Verfahren gelang voll-
kommen; durch das stützende Mittel der Fußbänke überschritt
ich hochbeinig genug die Häuser, ohne im geringsten eines zu
beschädigen und befand mich nun vor den kaiserlichen Hauptge-
bäuden, deren Inneres zu übersehen ich sehr gespannt war.

Zu diesem Zweck hockte ich nieder, so daß mein Gesicht die


offen gelassenen Fenster des ersten Stockes erreichte, und hier
überblickte ich eine kaum zu beschreibende Pracht an wohnli-
cher Ausstattung. Die Kaiserin näherte sich mit den kaiserlichen
Kindern und dem Hofstaat einem der Fenster und hatte die Gna-
de, mir mit huldvollem Lächeln ihre zarte Hand zum Kuß zu
reichen.
Ich breche jedoch hier meine Beobachtungen und Bemerkun-
gen bei weiterer Besichtigung des Palastes und seiner kostbaren
Ausschmückung ab, weil ich sie mir für ein größeres, fast schon
druckfertiges Werk vorbehalte, das eine eingehende Geschich-
te und Beschreibung des ganzen Reiches Liliput auf Grund der
besten Quellen enthalten soll. Die Hauptabsicht meiner vorlie-
genden Darstellung ist lediglich, die Vorfälle und Begebenheiten
mitzuteilen, die durch meinen neunmonatlichen Aufenthalt in
diesem Reiche eintraten und vorzugsweise mit meiner Person zu
tun hatten. Ich fahre daher in der Erzählung der mich persönlich
berührenden Angelegenheiten fort.

Einige Tage, nachdem ich die Residenz und den Palast in Au-
genschein genommen hatte, fuhr eine Staatskarosse bei mir vor,
der mein schon genannter Freund Redresal, erster Privatsekretär
des Kaisers, entstieg; er ließ mich durch den einzigen ihn be-
gleitenden Diener bitten, ihm in einer wichtigen Angelegenheit
ein Stündchen Audienz zu gewähren. Redresals liebenswürdi-
ge Persönlichkeit, sowie auch die vielen freundlichen Gefällig-
keiten, die er mir bei Hofe erwiesen hatte, ließen mich ihn mit
Freuden willkommen heißen, und ich machte ihm, nachdem wir
nicht ohne Herzlichkeit die landesüblichen Höflichkeiten ausge-
tauscht, den Vorschlag, ihn auf meine Hand zu setzen und ihn
meinem Ohr nahe zu bringen, damit wir uns desto bequemer
unterhalten könnten.
Herr Redresal war ganz damit einverstanden und holte nun,
als ich ihn in die rechte und bequeme Lage gebracht hatte, etwas
diplomatisch weit aus, sprach in zarter Weise von den Diensten,
die er mir bei Hofe geleistet und kam dann allgemach auf die
Zustände des Reiches, in die ich ja nun wohl schon einen kleinen
Einblick zu tun Gelegenheit gehabt habe. Sich räuspernd fuhr er
sodann fort: »Es wird Euch, großgeehrter und größestgeborener
Herr Menschberg, nicht entgangen sein, daß die Zustände un-
seres Landes blühend sind und im allgemeinen nichts zu wün-
schen übrig lassen. Allein wie nichts vollkommen ist auf diesem

mangelhaften Weltkörper, den wir Liliputer mit unserem Dasein


beehren, so will ich Euch als Freund und Gönner nicht verhehlen,
daß unser Reich an zwei großen Übeln leidet, nämlich an einer
heftigen, politischen Parteiung im Innern und an der stetigen
Gefahr eines äußeren Angriffs von seiten eines mächtigen und
eifersüchtigen Feindes. Was den leidigen Parteistreit im Innern
betrifft, so handelt es sich dabei um nichts Geringeres als um die
Trameksan und Slameksan, das heißt um die Parteien der hohen
und der niedrigen Stiefelabsätze.
Indem nun viele der Meinung sind, daß hohe Absätze sich am
besten für unsere Konstitution eignen und in der Presse, sowie in
öffentlichen Versammlungen mächtig dafür agitieren, neigt Sei-
ne Majestät mit uns den niederen Absätzen zu, was zu hunder-
terlei Verdrießlichkeiten Anlaß gibt, zumal die demokratisch ge-
sinnten Hohenabsätze ihre Ansichten und Gründe nicht immer
in der respekt- und taktvollsten Weise laut werden lassen. Dazu
kommt nun noch, daß es allen Anschein hat, als ob Seine Kaiser-
liche Hoheit, der präsumtive Thronerbe sogar einige Neigung für
die hohen Absätze zeige, wenigstens ist man in Hofkreisen über-
zeugt, daß er hochabsätzig demonstriere, weil er einen hohen
und einen niederen Absatz trägt, was ihm einen hinkenden Gang
verleiht. Bei den Familienzwisten, die dadurch höchsten Ortes
herbeigeführt werden, ist dieser leidige Parteistreit, der mit der
größten Erbitterung geführt wird, eine wahre Kalamität für das
Land, und eine um so fühlbarere und drohendere, als wir wäh-
rend dieser Unruhen durch einen feindlichen Angriff des Beherr-
schers der Insel Blefusku, des zweitgrößten Reiches der Welt, das
beinahe den Umfang von unserem erhabenen Liliput hat, stän-
dig bedroht sind. Wendet mir nicht ein, wie Ihr oft getan, lieber
Menschberg, daß es noch größere, von Menschen Eurer Art be-
wohnte Reiche in der Welt gebe als Liliput und Blefusku, ich muß
darüber trotz Eurer Versicherungen und Träumereien wenigstens
in Zweifel bleiben, denn unsere zuverlässigen Philosophen ha-
ben erklärt, daß dem nicht so sei, sondern daß Ihr aller Wahr-
scheinlichkeit nach vom Monde herabgefallen wäret. Außerdem
wissen unsere ältesten, beinahe bis zu sechstausend Monaten
hinaufreichenden Annalen von keinen anderen Weltgegenden zu
erzählen als von Liliput und Blefusku. –
Doch zur Sache! Die beiden Großmächte Liliput und Blefus-
ku führen, wie ich Euch berichten wollte, seit dem gewaltigen
Zeitraum von sechsunddreißig Monaten, mit wenigen Unter-
brechungen, den erbittertsten Krieg miteinander. Ursprüngliche
Ursache dieses beklagenswerten und verderblichen Streites war
folgende. Es ist allgemeiner Brauch, daß man, um ein gekochtes
Ei zu essen, das breitere Ende der Schale zerklopft oder abschnei-
det. So tat auch der höchstselige Großvater Seiner Majestät des
jetzt regierenden Kaisers, als er als Knabe einst ein Ei essen woll-
te, schnitt sich aber dabei unglücklicherweise in den Finger. Der
regierende, allerhöchste Vater nun, der von etwas raschem Tem-
perament war, ward so aufgebracht über das Mißgeschick seines
erlauchten Sohnes, daß er ein Edikt erließ, in dem allen Unterta-
nen aufs gemessenste bei schwerster Strafe befohlen wurde, nie-
mals ein Ei an seinem breiteren Ende zu öffnen. Das Volk aber
geriet über diese Verfügung, die es despotisch und tyrannisch zu
nennen sich erlaubte, in solche Aufregung, daß sechs Rebellio-
nen hintereinander ausbrachen, durch die ein Kaiser die Krone,
ein anderer sogar das Leben verlor. Da ein Teil der Untertanen,
besonders das Militär und die Beamten, mit jener unglückseligen
Verfügung einverstanden waren und ihre Eier am spitzen Ende
aufklopften, so gerieten sie mit den breitendigen Demokraten in
tödlichen Zwist, und die Folge war ein andauernder Bürgerkrieg
zwischen den Breitendigen und Spitzendigen.
Diese bürgerlichen Zwistigkeiten wußten nun die erobe-
rungslustigen Könige von Blefusku durch ihre geheimen Agenten
zu erhalten und zu fördern; diese flammten den Parteihaß bis
zum Fanatismus an, so daß Tausende von Menschen lieber den
Tod erlitten, als daß sie die Eier am spitzen Ende geöffnet hätten.
Eine ganze Bibliothek ist über diesen Streit geschrieben worden,
und die Menge der Flugschriften ist zahllos; allein nach dem ent-
schiedenen Überwiegen der Spitzendigen, die den größten Teil
des Militärs auf ihrer Seite hatten, wurden die Bücher der Brei-
tendigen verboten, und ein Gesetz erklärte die ganze Partei für
unfähig, fernerhin öffentliche Ämter zu verwalten. Noch nicht
zufrieden mit ihren Wühlereien, machten uns während der Un-
ruhen die Könige von Blefusku auch den Vorwurf, eine Spaltung
in der Religion hervorzurufen, indem wir uns gegen die Grund-
lehren unseres großen Propheten Lustrogg im fünfundvierzigsten
Kapitel des Blundekral (so heißt die Heilige Schrift der Liliputer)
vergingen. Dies war aber nur ein Versuch, uns durch Textverdre-
hung ketzerische Meinungen anzudichten, denn in dem bereg-
ten Kapitel lauten die Worte des dritten Absatzes: ›Alle wahren
Gläubigen öffnen die Eier an dem passenden Ende.‹ Nach meiner
demütigen Meinung nun, mit der ich übrigens als Laie nicht al-
lein dastehe, sondern welche die Zustimmung des größten Teils
unserer ausgezeichnetsten Theologen hat, müßte es doch wohl
dem Gewissen eines jeden überlassen bleiben, welches Eiende
ihm am besten zum Öffnen paßt. – Kurz, die Aufhetzereien und
Nörgeleien der Blefuskuer nehmen kein Ende, und die zu ihnen
geflüchteten, verbannten Breitendigen werden nicht müde, Öl
ins Feuer zu gießen und den Feind gegen ihr eigenes Vaterland in
Harnisch zu bringen. Um es mit einem Worte zu sagen, geehr-
tester Herr Menschberg, die Sachen stehen so, daß es jeden Au-
genblick wieder zum Losschlagen kommen kann, und daß man
in den Häfen von Blefusku bereits eine starke Flotte ausrüstet
und unsere Küste mit einer Landung bedroht. Unter diesen Um-
ständen hat mir nun Seine Kaiserliche Majestät befohlen, Euch
Bericht zu erstatten und, da Seine Majestät viel Vertrauen in Eure
Kraft und Tapferkeit setzt, bei Euch anzufragen, ob Ihr geneigt
wäret, uns in dem bevorstehenden Kriege als ein treuer Bundes-
genosse zu unterstützen?«
Ich erwiderte dem Diplomaten kurz und herzlich: »Hoch-
geehrtester Herr Geheimsekretär und verehrungswürdigster
Freund, ich bitte Euch, Seiner Majestät dem Kaiser meinen Ge-
horsam zu vermelden und ihn wissen zu lassen, daß, obgleich ich
mich meiner friedlichen Natur wegen nicht gern in Parteistreitig-
keiten mische, ich doch jeden Augenblick bereit bin, für Kaiser
und Reich Blut und Leben zu wagen und alle meine Kräfte gegen
einen feindlichen Angriff einzusetzen.«
Fünftes Kapitel
Der Verfasser erobert durch einen Handstreich die feindliche Flotte
und erhält den hohen Titel eines Nardak. Seine Gerechtigkeitsliebe
läßt ihn in Ungnade fallen. Eine Gesandtschaft von Blefusku hält ihren
prächtigen Einzug und erbittet den Frieden. In den Zimmern der Kai-
serin bricht eine Feuersbrunst aus, die der Verfasser auf eigentümliche
Weise löscht.

Liliput wird durch einen achthundert Ellen breiten Kanal von


dem feindlichen Reiche Blefusku, einer in nordöstlicher Richtung
liegenden Insel, getrennt. Da jede Verbindung zwischen beiden
Reichen bei nunmehr angekündigtem Kriege untersagt war, so
hatte ich mich an der Blefusku gegenüberliegenden Küste noch
gar nicht gezeigt und kein Blefuskude hatte eine Ahnung von
meinem gefährlichen Dasein in Liliput.
Nach meiner Ansicht, die ganz mit der des Staatsrats über-
einstimmte, kam es nun zunächst darauf an, die zum Auslaufen
bereite feindliche Flotte unschädlich zu machen, und in bezug
darauf teilte ich dem Kaiser einen Plan mit, der seine vollkom-
mene Billigung fand. Gelang die Ausführung des Planes, und an
ein Mißlingen war kaum zu denken, so mußte sich sehr bald die
ganze feindliche Flotte in der Gewalt des Kaisers befinden, der
strengen Befehl gab, allen meinen Anordnungen und Forderun-
gen unbedingt Folge zu leisten.
Ich erkundigte mich nun zunächst bei den erfahrensten Ma-
trosen nach der Tiefe des Kanals und erfuhr, daß er bei der Flut
in der Mitte siebzig Glumgluffs, das heißt höchstens sechs Fuß
betrug, während sie in der Nähe der Küsten nur vierzig bis fünf-
zig Glumgluffs maß. Als ich mich dessen vergewissert hatte, ver-
steckte ich mich an der Blefusku gegenüberliegenden Nordostkü-
ste hinter einem Hügel, in liliputischen Augen einem der größten
Berge des Landes, und beobachtete durch mein Taschenfernrohr
die im Hafen liegende feindliche Flotte. Nachdem ich mir über
die Zahl der Schiffe klargeworden war, ging ich wieder zu mei-
ner Behausung und ließ eine große Menge von starken Tauen
und eisernen Stangen herbeischaffen. Die Taue hatten reichlich
die Stärke eines Bindfadens, und die eisernen Stangen gaben un-
seren Stricknadeln nichts an Länge und Stärke nach. Um mit den
Tauen aber ganz sicher zu verfahren, drehte ich ihrer drei zu ei-
nem Tau zusammen und tat dasselbe mit den eisernen Stangen,
deren Spitzen ich zu einem Haken umkrümmte. Diese Haken
befestigte ich dann an die Taue, kehrte damit zur Nordküste zu-
rück, zog im Angesichte des Kaisers und des Hofes Rock, Schuhe
und Strümpfe aus und watete ungefähr eine Stunde vor der Flut
mit meinem Bündel Taue in die offene See hinein. Als mir in der
Mitte der Grund ausging und mir Wasser in die Nase stieg, ver-
legte ich mich aufs Schwimmen, und gewann, nachdem ich etwa
dreißig Ellen zurückgelegt, wieder Boden. Keine halbe Stunde
hatte ich gebraucht, um bei der Flotte anzulangen. Der Feind,
wohl etwa dreißigtausend Mann stark, wurde bei meinem An-
blick von einem panischen Schrecken befallen und stürzte sich,
Kapitäne und Offiziere an der Spitze, ins Meer, um schwimmend
das Ufer zu erreichen. Darauf machte ich mich mit meinen Tauen
an die menschenleer gewordene Flotte, befestigte an den Vor-
derteilen eines jeden Schiffes einen meiner Haken und band die
daran befestigten Stricke an ihren Enden mit einem Knoten zu-
sammen. Diese Arbeit wurde mir indes nicht unwesentlich er-
schwert, denn unterdessen schoß der Feind Salve auf Salve von
Pfeilen auf mich ab, die mich, wo sie Gesicht und Hände trafen,
empfindlich prickelten und teilweis gar blutrünstig machten. Da
viele der Pfeile mein Gesicht trafen, so hatte ich ernstlich Ursa-
che, um meine Augen besorgt zu sein, als mir gottlob meine Bril-
le einfiel, die ich, wie sich der Leser erinnern wird, nebst meinem

Fernrohr bei der Durchsuchung von seiten der kaiserlichen Kom-


missare verborgen und bei mir behalten hatte. Mit dieser Brille
schützte ich meine Augen und die Pfeile prallten unschädlich
und machtlos von den starken Gläsern ab.
Als ich so, um die ferneren Schüsse unbekümmert, sämtliche
Haken an den Schiffsvorderteilen befestigt hatte, nahm ich den
Knoten in die Hand und zog an. Allein kein Schiff wollte fol-
gen, weil sie sämtlich fest an den Ankern lagen. Nun blieb mir
nichts übrig, um dies letzte Hindernis zu überwinden, als die
Ankertaue eines nach dem anderen mit meinem Taschenmesser
zu durchschneiden, bei welcher Arbeit ich wiederum einige hun-
dert Schüsse ins Gesicht und auf die Hände bekam. Das hinderte
mich aber nicht an der Vollendung meiner Arbeit, und schließlich
ergriff ich wieder das Knotenende meiner Taue und zog nun die
losgelösten Kriegschiffe, es waren wohl fünfzig, mit Leichtigkeit
hinter mir her.
Den Blefuskuden, die anfangs keinen Begriff von meinem
Vorhaben hatten, wurde nun zu ihrem Schrecken und Schmerz
meine Absicht klar und sie ließen einen Wehe- und Klageruf er-
schallen, so jammervoll, wie ich ihn noch nicht gehört; es ging
mir durch Mark und Bein. Als mich ihre Pfeile, die sie mir nach-
sandten, nicht mehr erreichen konnten, hielt ich einen Augen-
blick an, verschnaufte und zog mir die Pfeilspitzen aus Gesicht
und Händen. Dann watete ich, nachdem ich meine Brille wieder
eingesteckt, wohlgemut weiter und erreichte bald den Hafen von
Liliput.
Der Kaiser, der gespannt mit seinen Großen am Hafendamm
den Ausgang meines Unternehmens erwartete, hatte mich an-
fangs, als ich noch bis an den Hals im Wasser watete, nicht be-
merkt und nur die feindlichen Schiffe sich im Halbkreise nähern
sehen. Erschrocken darüber, hatte er schon gemeint, ich sei dem
Feinde erlegen, da aber erschien ich bald mit halbem Körper über
Wasser, hielt das Knotenende der Taue, an denen ich die Schiffe
nachschleppte, in die Höhe und rief siegestrunken: »Lang lebe
der großmächtigste und unüberwindlichste Kaiser von Liliput!« –
Nicht endenwollender Jubel beantwortete diesen Zuruf, und als
ich nun ans Land stieg und dem Kaiser die ganze feindliche Flot-
te sozusagen zu Füßen legte, spendete er mir das größte Lob und
ernannte mich zum großen Ärger meines Feindes, des Admirals
Skyresh Bolgolam, zum Nardak, der höchsten Würde seines
Reiches.
Wie es aber schon manche erfahren haben, daß, wenn sie die
fürstliche Gnadensonne am hellsten und wärmsten bescheint,
finstere Wolkenschatten nicht fern sind, um das strahlende Licht
zu verdunkeln und die behagliche Wärme in bittere Kälte zu ver-
wandeln, so sollte auch mir diese trübe Erfahrung nicht erspart
bleiben. – Die nächste Veranlassung dazu war des Kaisers Ehr-
geiz und Herrschsucht. »Je mehr man hat, je mehr man will«, ist
ein Sprichwort, das sich allezeit weniger beim Volk, als bei den
Fürsten bewahrheitet. – Der ungeheure Erfolg, die ganze feind-
liche Flotte ohne Schwertschlag und ohne Verlust eines einzigen
Matrosen oder Soldaten in seiner Gewalt zu haben, machte den
sonst wohlwollenden und mit vielen guten Eigenschaften gezier-
ten Kaiser übermütig und grausam. So wurde er mit dem Plan
immer vertrauter, ganz Blefusku zu erobern und die Herrscher-
familie dieses Reiches zu vernichten, weil er damit, nach seiner
und seiner Gelehrten Meinung, Herr der Erde oder, nach wel-
chem Titel er noch mehr dürstete, Beherrscher der Welt wurde.
Er teilte mir als seinem ersten Staatsbeamten und vertrautesten
Diener diesen Plan unter der Voraussetzung mit, daß ich ihm
zu dem Unterjochungswerke meinen starken Arm leihen würde,
und ließ zugleich durchblicken, daß er darauf denke, alle breiten-
digen Verbannten in Blefusku zu töten und die Blefuskuden zu
zwingen, auch ihre Eier am spitzen Ende zu öffnen. – Ich, der ich
von jeher Recht und Billigkeit geliebt habe, hörte diesen Ausein-
andersetzungen mit Unwillen zu und suchte dem Kaiser seinen
Plan auszureden. Allein er wollte sich nicht davon abbringen las-
sen, ein Wort gab das andere, und ich erklärte schließlich ganz
entschieden, daß ich mich nie zum Werkzeug gebrauchen lassen
würde, um ein freies und tapferes Volk in das Joch der Sklaverei
zu zwängen. Diese offene und entschiedene Erklärung nahm der
Kaiser übel auf und trug sie mir nach.
Er wandte sich nun mit seinem Plan an den Staatsrat, aber
auch hier waren die rechtlichsten Räte auf meiner Seite, wäh-
rend die Kriecher und Speichellecker die Eroberungs- und Un-
terdrückungslust des Kaisers vollkommen billigten und meine
Weigerung, die der Kaiser erwähnt und nicht im besten Lichte
dargestellt hatte, als strafwürdigen Ungehorsam und als die
schwärzeste Undankbarkeit bezeichneten. Von dieser Zeit an
begann von seiten des Kaisers und der mir feindlichen Minister
eine Intrige gegen mich zu spielen, die mich beinahe nach etwa
zwei Monaten das Leben gekostet hätte. – So lohnen oft die Für-
sten die größten Dienste, wenn man sich nicht willig finden läßt,
all ihren Leidenschaften und Launen gehorsamst entgegenzu-
kommen.
Kurze Zeit nach meiner Eroberung der Flotte erschien eine
Gesandtschaft aus Blefusku, die unter demütigen Ausdrücken

um Frieden bat. Dieser wurde dann auch unter sehr vorteilhaften


Bedingungen für Liliput abgeschlossen. Die aus sechs Gesandten
mit einem Gefolge von fünfhundert Großen des Reiches und ih-
rer Dienerschaft bestehende Gesandtschaft hielt einen überaus
pomphaften Einzug, wie es der Würde ihres Auftrages und der
Größe ihres Reiches angemessen war. Auf den Turm des Stadt-
tores mich stützend, beobachtete ich den Einzug und bemerkte
an ihren Mienen und Bewegungen das maßlose Erstaunen, das
die vornehmen Sendlinge über meine Größe an den Tag legten. –
Als es während ihres mehrtägigen Aufenthaltes zur Sprache kam,
daß ich durch meine Vorstellungen und Weigerungen einen Ver-
nichtungskrieg gegen Blefusku verhindert habe, drückten sie mir
ihren Dank auf die verbindlichste Weise aus und luden mich im
Namen ihres Herrn und Königs ein, auch ihr Reich bald mit ei-
nem Besuche zu beehren. Auch ersuchten sie mich freundlichst,
ihnen die eine oder andere Probe meiner außerordentlichen Kraft
zu zeigen. Ich machte ihnen bereitwillig das Vergnügen und zer-
brach vor ihren staunenden Augen zunächst einen der größten
Schiffsanker (zwanzig Blefuskuden oder Liliputer hätten ihn
nicht ohne Winden und Flaschenzüge von der Stelle bewegt), der
gerade in der Nähe lag, zwischen Zeigefinger und Daumen wie
ein Schwefelhölzchen. Dann langte ich mit meiner Rechten nach
dem zunächstliegenden Gebirge, brach ihm einige der größten
Felsblöcke von zehn bis zwölf englischen Pfunden aus und warf
sie in das Meer, daß es so hoch aufspritzte, wie der höchste li-
liputische Turm aufragt, auch riß ich einige Eichbäume mit der
Wurzel aus und bediente mich ihrer als Wurfspeer. – Ich habe
wohl nicht nötig, meinen Lesern die Bewunderung auszumalen,
die diese Kraftproben hervorriefen! –
Nach solchen Unterhaltungen bat ich die Gesandten, ihrem
Herrn und König meinen tiefsten Respekt zu vermelden und ihm
mitzuteilen, daß es mir eine große Ehre sein würde, seiner huld-
vollen Einladung vor meiner Abreise in mein Vaterland zu fol-
gen. – Ich benutzte auch die nächste Audienz, um meinen Kaiser
um die Erlaubnis zu einem solchen Besuche zu bitten, und er gab
sie mir auch, aber in einer auffallend kalten und frostigen Weise;
ein Freund vertraute mir später, daß Flimnap und Skyresh Bolgo-
lam den mir schon abgeneigten Kaiser noch mehr dadurch gegen
mich eingenommen hätten, daß sie hinterlistig bemüht gewesen
wären, ihm meinen vertrauten Verkehr mit den blefuskudischen
Gesandten als eine Neigung zur Verräterei darzustellen, eine
Niedertracht, woran mein Herz nicht dachte.
Hier muß ich noch einen Umstand erwähnen, der für mich
einst von den glücklichsten Folgen sein und die tückische Bosheit
meiner Feinde nicht zu meinem gänzlichen Verderben ausschlagen
lassen sollte. Die Sprache beider Länder nämlich ist eine gänzlich
verschiedene. Der Blefuskude sowohl wie der Liliputer ist, wie
dies ja auch bei den europäischen Nationen der Fall, stolz auf seine
Sprache und hält sie für die vorzüglichste der Welt. Indes verste-
hen namentlich die Küstenbewohner beider Länder des häufigen
gegenseitigen Verkehrs wegen, sowie auch alle Gebildeten beide
Sprachen, und es war nur der Übermut des Siegers, der unseren
Kaiser darauf bestehen ließ, daß die blefuskudischen Gesandten
ihre Verhandlungen in liliputischer Sprache vorbringen sollten.
Doch dies beiläufig, ich wollte nur bemerken, daß die gegenseitige
Sprachkenntnis mir später von großem Nutzen war. –
Man wird sich erinnern, daß einige der Bedingungen, unter
denen ich meine Freiheit erhalten hatte, höchst demütigend für
mich waren. Anfangs hatte ich mir nicht viel daraus gemacht,
jetzt aber hätte es mir, als dem Nardak des Reiches, schlecht an-
gestanden, den Bauleuten Steine auf das Baugerüst zu heben oder
sonst sklavische Dienstleistungen zu verrichten. Der Kaiser (die-
se Gerechtigkeit muß ich ihm widerfahren lassen) war taktvoll
genug, solche Dienste auch nicht zu verlangen, und darum war
ich stets gutwillig bereit, meinem hohen Herrn und seinem Rei-
che, wenn es die Not erforderte, nützlich zu sein.
Dazu sollte mir bald wieder Gelegenheit gegeben werden. Ei-
nes Nachts nämlich wurde ich durch Hilferufe und klägliches
Geschrei aufgeweckt und hörte beim Hinauskriechen aus mei-
ner Tür, daß das Wort »Burglum« immer mit allen Zeichen
des Schreckens und der Aufregung wiederholt wurde. Endlich
wurde es mir aus den Worten der mich flehend umdrängenden
Hofleute klar, daß in den Zimmern Ihrer Majestät der Kaiserin
durch die Unvorsichtigkeit einer Hofdame (diese hatte nämlich
einen Roman im Bett gelesen und war darüber eingeschlafen,
ohne vorher das an einer leicht Feuer fangenden Stelle stehende
Licht auszulöschen) Feuer ausgebrochen sei, das rasch um sich
greife; ich möge kommen, um beim Löschen zu helfen. Sogleich
machte ich mich auf und konnte, da gerade heller Mondschein
war, bei aller Raschheit so vorsichtig meinen Weg zum Schlos-
se nehmen, daß ich niemand zertrat. Als ich bei der Brandstelle
angekommen war, beeilte man sich, mir eine Menge mit Was-
ser gefüllter Feuereimer zu geben; da sie indes nur die Größe
von Fingerhüten hatten, so sah ich bald ein, daß diese Art zu
löschen bei den immer verderblicher aufwirbelnden Flammen
nicht zum Ziele führen würde. Rasch sah ich mich nach grö-
ßeren Gefäßen um und stürzte das Wasser einiger Feuerbutten
von der Größe unserer Weingläser ins Feuer, allein auch das half
nicht viel, weil nicht eine hinlängliche Zahl in kurzer Zeit zu be-
schaffen war. Schon drohte der ganze herrliche Palast ein Raub
der Flammen zu werden, als mir ein glücklicher Gedanke kam,
den ich fast ebenso rasch ausführte, wie er in mir entstanden
war.
Ich erinnerte mich nämlich aus meinen Knabenjahren, daß
wir beim Baden oft den Mund voll Wasser genommen und uns
gegenseitig bespritzt hatten, worin ich mich, da meine Backen
ungewöhnlich viel Wasser aufnehmen konnten, immer als einen
Meister gezeigt und meinen Kameraden einen so langen und star-
ken Strahl nach dem Gesicht zu spritzen verstanden hatte, daß
sie, wenn ich Miene dazu machte, eiligst den Kopf unter Wasser
bargen. Die Erinnerung an das kindische und unsaubere Spiel
sollte den prächtigen Palast von Mildendo vor dem Verderben
retten.
Mit einer Löwenstimme brüllend, mir so rasch wie möglich
auszuweichen, überkletterte ich, unbekümmert darum, ob in
dieser Not etwas an den Dächern beschädigt würde, die Häuser,
schwang mich übers Tor und hatte in einigen Sätzen den Park
erreicht, in dessen Nähe ein fast handbreiter Mühlbach floß. Un-
mittelbar vor dem Getriebe, wo der Bach am höchsten gestaut
war, warf ich mich auf den Bauch und sog mit meinem Munde
so viel Wasser ein, als nur meine Mundhöhle fassen konnte. (Bei-
läufig bemerkt, es muß eine tüchtige Portion gewesen sein, denn
ich vernahm, daß während meines Saugens das Geklapper in der
Mühle aufhörte, weil es dem Wasserrade an Wasser mangelte.)
Dann kehrte ich auf dem gleichen Wege so rasch zur Brandstät-
te zurück, wie ich gekommen war, ließ einen mächtigen Strahl
aus meinem Munde zischend in die knatternden Flammen fah-
ren, sprang wieder zum Bach und machte die Räder stocken;
und als ich dies zum dritten Male wiederholt und meinen Strahl
ins Feuer geblasen hatte, war die Glut ausgespien und der Palast
gerettet.
Ich ging mit dem erhebenden Bewußtsein, eine gute und
nützliche Tat ausgeführt zu haben, nach meinem Haustempel
zurück und kroch mit gutem Gewissen in mein Lager, ohne zu
ahnen, daß meine nützliche Dienstleistung mir durch die Tücke
meiner neidischen Feinde übel ausgelegt werden könnte. Darum
vernahm ich am anderen Morgen zu meinem größten Erstaunen
von einem treuen Freunde, der sich zu mir hergeschlichen hatte,
daß der Kaiser höchst ungehalten über meine Feuerlöschmetho-
de sei, denn den kaiserlichen Palast anzuspeien, sei ein Verbre-
chen, für das die Landesgesetze den Tod bestimmten. Noch auf-
gebrachter sei die Kaiserin über die Art und Weise, wie ich den
Brand gelöscht und ihre Gemächer, wie sie sich ausdrücke, ver-
unreinigt und entheiligt hätte; es sei ihm kein Geheimnis, daß
mir die hohe Frau in Gegenwart ihrer vertrautesten Hofdamen
furchtbare Rache geschworen habe.
Sechstes Kapitel
Kurze Nachrichten über Land und Leute in Liliput, sowie über ihre
Gesetze, Sitten, Gewohnheiten und ihre Kindererziehung. Des Ver-
fassers Lebensweise in diesem Lande, seine Kleidung und seine Tafel.
Sein Appetit greift stark in die kaiserlichen Finanzen und dies gibt dem
Finanzminister Flimnap Gelegenheit zu neuen Tücken.

Obgleich ich, wie schon erwähnt, eine umständliche und einge-


hende Beschreibung des Reiches Liliput in einem größeren Wer-
ke zum Druck vorbereite, so darf ich es hier doch nicht unter-
lassen, den Lesern wenigstens einige allgemeine Bemerkungen
über Land und Leute dieses Staates zu machen. Vor allem möge
es der Leser fest im Auge behalten, daß das Größenverhältnis der
Tiere, Pflanzen und Bäume in Liliput durchaus der sechszölligen
Länge der Menschen entspricht. Pferde und Ochsen zum Beispiel
haben eine Höhe von vier bis fünf Zoll, Schafe und Schweine von
etwa anderthalb Zoll, die Gänse haben etwa die Größe unserer
Zaunkönige, und in dieser Art ging’s abwärts, bis ich die krab-
belnden Dingerchen nicht mehr in ihren Körperumrissen erken-
nen konnte. Stubenfliegen und Mücken zum Beispiel wären nur
mikroskopisch für mich dagewesen. – Indes hat die vorsorgliche
Natur die Liliputer mit einem so scharfen Gesicht ausgestattet,
daß sie auch die kleinsten Gegenstände erkennen können, und
ich habe mich zum Beispiel überzeugt, daß einst ein Koch einen
Vogel rupfte, der nicht größer war als eine Fliege, und daß eine
Näherin einen mir unsichtbaren Faden in eine mir ebenfalls un-
sichtbare Nadel einfädelte.
Die höchsten Bäume in Liliput erreichen eine Höhe von höch-
stens sieben Fuß, so daß ich, ohne mich viel zu strecken oder auf
die Zehen zu stellen, ihre Wipfel mit der Hand berühren konn-
te. Nach diesem Maßstab
mag der Leser sich leicht die
Größe der kleinen Pflanzen
vorstellen, unter denen ich
schöne Blumen von den Li-
liputern bewundern und be-
riechen sah, die ich kaum mit
dem bloßen Auge entdecken
konnte. Der Gelehrsamkeit
dieses Volkes, namentlich
seiner tiefen Kenntnis der
Mathematik und Mechanik,
habe ich schon wiederholt
gedacht und spare das Übri-
ge für mein größeres Werk,
doch will ich hier die Art
ihres Schreibens nicht uner-
wähnt lassen. Sie schreiben
nämlich nicht wie wir von
der Linken zur Rechten, oder
wie die Juden von der Rech-
ten zur Linken, sondern quer
und unregelmäßig über das Papier, etwa wie unsere Knaben, die
noch nicht gewohnt sind, ohne Linien zu schreiben.
Auch die Bestattung ihrer Toten hat das Eigentümliche, daß
sie diese mit dem Kopfe nach unten ins Grab senken, weil sie
der Meinung sind, daß bei der allgemeinen Auferstehung sich
die Erde, die sie sich als eine Scheibe vorstellen, auf die andere
Seite kehren würde, so daß dann jeder so Begrabene wieder auf
die Füße zu stehen komme. Die Naturforscher und Astronomen
der Liliputer haben schon längst die Albernheit dieser Vorstel-
lung mit klaren Gründen bewiesen, dennoch halten die meisten

Theologen und das Volk jene Meinung aufrecht, weil sie eine alt-
herkömmliche ist.
Auch andere Gewohnheiten und gesetzliche Bestimmungen
sind von den unserigen sehr verschieden, dabei jedoch so be-
schaffen, daß ich nicht wüßte wie sie zu tadeln wären. So fehlt
es zum Beispiel bei der Strenge, mit der in Liliput Verbrechen
gegen den Staat und die geheiligte Person des Kaisers bestraft
werden, nicht an Spionen und Angebern, wenn aber ein solcher
jemand falsch beschuldigt, so verfällt der Angeber der gleichen
Strafe, die den schuldigen Staatsverbrecher getroffen hätte, und
außerdem fällt sein ganzes Vermögen dem unschuldig Ange-
klagten zu. Hat der Angeber kein oder kein ausreichendes Ver-
mögen, so erhält der unschuldig Verklagte für die Gefahr, in der
er schwebte, für Zeitverlust und Untersuchungsgefängnis eine
angemessene Entschädigung aus der Staatskasse, und hinterher
wird seine Unschuld durch öffentlichen Ausruf im ganzen Reich
bekanntgemacht.
Betrug wird weit härter bestraft als Diebstahl, weil die Li-
liputer der Ansicht sind, daß man sich vor Dieben leicht durch
Vorsicht und durch Schloß und Riegel hüten könne, während
man gegen die tückische List eines Betrügers ganz schutzlos sei.
Als ich einst für einen Verbrecher, der seinem Prinzipal eine gro-
ße Summe Geldes unterschlagen und versucht hatte, sich damit
aus dem Staube zu machen, ein gutes Wort beim Kaiser einlegen
wollte, erhielt ich eine so derbe Zurechtweisung von ihm, daß
ich mich wirklich schämte.
Man fördert ferner in Liliput nicht nur Tugend und Sittlichkeit
durch Verfolgung und Strafe von Vergehen und Verbrechen, son-
dern auch durch nützliche und zweckmäßige Belohnung guten
Verhaltens und guter Handlungen. So wird jeder, der nachweisen
kann, daß er siebenunddreißig Monate lang die Landesgesetze
und die Vorschriften der Moral pünktlich befolgt hat, mit ge-
wissen Vorrechten und einer ansehnlichen Geldsumme aus dem
Staatsschatz bedacht. Auch darf er von der Zeit an seinem Na-
men den Titel Frillnall, oder der Gerechte, vorsetzen, welcher
Titel aber nicht auf seine Nachkommen übergeht, sondern den
sich auch diese durch ihr gutes Betragen wieder selbst erwerben
müssen. Mit Rücksicht auf diese Sitte hält das Bild der Gerech-
tigkeit in ihren Gerichtshöfen in der rechten Hand zwar auch ein
Schwert, in der linken aber einen Beutel mit Geld zur Belohnung
der Gerechten.
Zur Erlangung hoher Staatsämter befähigt in Liliput nicht
Reichtum und hohe Geburt, sondern Fähigkeit und gutes Betra-
gen. Außerdem werden die Tugenden der Wahrhaftigkeit, Ge-
rechtigkeit und Mäßigkeit bei Bewerbungen um ein Amt noch
höher angeschlagen als die glänzendsten Verstandesfähigkeiten,
weil man der Meinung ist, daß wenn jene Tugenden nur mit ei-
nem einfachen gesunden Menschenverstand vereinigt wären, das
vollkommen ausreiche, um dem Vaterlande treue und nützliche
Dienste zu leisten.
Bei Erwähnung dieser wirklich guten und lobenswerten
Sitten und Gesetze lasse ich indes nicht unbemerkt, daß sie in
früherer Zeit weit genauer beobachtet wurden, als zu der Zeit,
als ich in Liliput weilte, sonst wäre die Unsitte nicht möglich ge-
wesen, daß man durch Seiltanzen und durch das Springen über
den Stock Orden und Ehrenstellen zu erhaschen suchte. Diese
Unsitte hatte zuerst der Großvater des jetzt regierenden Kaisers,
der ein launenhafter, tyrannischer Mann war, sich einzuführen
unterstanden, weil er dergleichen einem Volke bieten konnte,
das durch Parteistreitigkeiten und höfische Liebedienerei schon
tief gesunken war.
Auch über die Erziehung der Kinder haben die Liliputer von
den unserigen abweichende Begriffe. Da nämlich die Eltern oft
nur zu geneigt sind, ihre Kinder zu verzärteln und ihnen alle
Unarten nachzusehen, so werden die Kinder schon im zwanzig-
sten Monat öffentlichen Erziehungsanstalten übergeben, wo sie
streng zu guten Sitten und anständigem Betragen erzogen und
in den für ihr Alter passenden nützlichen Wissenschaften unter-
richtet werden. Geschickte Lehrer sind bestellt, die sowohl in der

Schule als beim Spazierenführen der Kinder ein aufmerksames


Auge auf ihre Fähigkeiten und Neigungen haben; diese bilden
sie dann vorzugsweise aus und bestimmen danach den späteren
Beruf ihrer Zöglinge. Auf solche Weise werden in jedem Kinde
besonders die Kräfte und Fähigkeiten gefördert, die ihm im spä-
teren Leben nützlich sein können.
In allen Lehranstalten hält man ganz besonders darauf, den
Zöglingen die Grundsätze der Ehre und Gerechtigkeit, der Wahr-
heitsliebe und des Mutes, der Menschenfreundlichkeit und der
Dankbarkeit und Gefälligkeit einzuprägen. Da man in Liliput so-
gut weiß wie bei uns, daß Müßiggang aller Laster Anfang ist, so
erhält man die Schüler, die Essens- und Schlafenszeit ausgenom-
men, in beständiger Tätigkeit, indem man selbst ihre Erholun-
gen so einrichtet, daß sie durch Turnen und andere körperliche
Übungen der Ausbildung des Körpers dienen, weil man meint,
in einem gesunden, tüchtigen Körper müsse auch ein gesunder,
tüchtiger Geist wohnen. Die Eltern, und das würden wir freilich
sehr hart finden, dürfen ihre Kinder nur zweimal im Jahre sehen,
und dann darf dieser Besuch nur in Gegenwart eines Lehrers ge-
macht werden und nicht über eine Stunde dauern. Auch hat der
Lehrer darauf zu sehen, daß den Kindern kein Zuckerwerk oder
Spielzeug, das sie beim Unterricht stören könnte, von den Eltern
zugesteckt wird.
Die Mädchen werden in ähnlicher Weise wie die Knaben erzo-
gen, namentlich müssen sie, weil beim weiblichen Geschlecht mit
dem Ankleiden und Herausputzen viel Zeit unnütz verschwen-
det zu werden pflegt, frühzeitig und zwar schon mit dem fünften
Jahre lernen, sich selbst rasch und vollständig anzukleiden.
Streng wird darauf gehalten, daß die Mägde und Aufwärterin-
nen den kleinen Mädchen keine Gespenster- und Hexengeschich-
ten erzählen. Unterhält eine Magd die Kinder mit diesen oder
ähnlichen Albernheiten, so wird sie durch die Stadt gepeitscht
und in einen öden Winkel des Landes verbannt. Dadurch bringt
man es zuwege, daß später die jungen Damen nicht furchtsam
und albern erscheinen. Auch wird darauf gehalten, daß die Mäd-
chen schon frühzeitig allen unnützen Putz verschmähen, dafür
aber die äußerste Sauberkeit und Reinlichkeit an ihrem Körper
und ihren Anzügen bewahren. Bei den körperlichen Übungen
der Mädchen wird weniger auf die Entwicklung ihrer Kraft, als
auf die Ausbildung solcher Eigenschaften gesehen, die ihnen in
ihrem späteren häuslichen Leben nützlich sein können. Mit dem
zwölften Jahr werden die Mädchen als vollständig ausgebildet
entlassen und zu ihren Eltern zurückgeführt, was selten ohne
Tränen über die Trennung von den ihnen liebgewordenen Leh-
rern und Lehrerinnen geschieht.
Ärmere Bauern und Taglöhner, die ihre Kinder schon frühzei-
tig bei ihrem Geschäft nötig haben, behalten ihre Kinder zwar zu
Hause, doch haben die Behörden auch hier ein wachsames Auge
darauf, daß ihnen der nötige Unterricht zuteil wird und sie nicht
wild und ungezogen aufwachsen.
Nachdem ich nun so viel in Kürze von den Gesetzen und Sitten
der Liliputer berichtet habe, wird es dem Leser eine angenehme
Abwechslung sein, wenn ich meine eigene geringe Person einmal
wieder in den Vordergrund schiebe und ihm Mitteilungen über

meine häuslichen Angelegenheiten und meine Lebensart in Lili-


put mache. Da ich, wie der Leser weiß, nicht ungeschickt in me-
chanischen Arbeiten bin, so verfertigte ich mir aus den größten
Bäumen, die ich im Forst finden konnte, einen bequemen Stuhl
und einen Tisch. Inzwischen waren zweihundert Näherinnen
damit beschäftigt, mir Hemden sowie Bett- und Taschentücher
aus dem stärksten Segeltuch zu verfertigen, denn ein dünnerer
Stoff wäre für mich nicht brauchbar gewesen, da ich durch die
Liliputer feine Leinwand wie durch Spinngewebe griff. Die Se-
geltuchstücke waren nur einige Zoll breit und lang, und es ge-
hörte deshalb eine sehr große Menge dazu, um mir daraus ein
Hemd zusammenzuflicken. Wenn die Näherinnen mir das Maß
nehmen wollten, mußte ich mich der Länge nach auf den Boden
legen. Dann stellte sich die eine auf meinen Hals und eine andere
auf mein Knie, indem sie ein langes Seil über mich ausgespannt
hielten, von einer dritten wurde dann die Länge dieses Seils ge-
messen. Die Elle, womit sie dies Geschäft verrichtete, war unge-
fähr einen Zoll lang. Alsdann baten sie mich, meinen Daumen

auszustrecken und maßen dessen Dicke mit einer Schnur. Als


ich meine Verwunderung darüber aussprach, warum sie denn
bloß von meinem Daumen und nicht von meinem ganzen Lei-
besumfange das Maß nähmen, erklärten sie, das sei nicht nö-
tig, denn da das Handgelenk doppelt so stark zu sein pflege wie
die Daumenlänge und der Hals wieder doppelt so stark wie das
Handgelenk, welches Verhältnis auch in betreff des Halses und
der Taille gelte, so kämen sie bloß durch Messung des Daumens
ohne große Mühe zu dem richtigen Maß. – Später überzeug-
te ich mich von der Richtigkeit dieser Berechnung und konnte
wiederum den mathematischen Talenten dieses kleinen Volkes
meine volle Anerkennung nicht versagen. Zur Anfertigung ei-
nes neuen Rockes für mich waren ebenfalls, wie schon früher
erwähnt, Hunderte von Schneidern bestellt. Diese aber nahmen
die Messung meines Körpers in anderer Weise vor. Sie ersuchten
mich nämlich in sehr höflichen Ausdrücken, niederzuknien und
setzten eine aus mehreren zusammengebundenen Feuerleitern
bestehende Leiter an meinen Hals. Einer stieg hinauf und ließ an
langer Schnur von meinem Halse ein Bleilot, wie es die Maurer
und Matrosen gebrauchen, auf den Boden herab, wodurch genau
die Länge meines Rockes, der mir bis an die Knie reichen sollte,
bestimmt war. Die Dicke meines Armes und meines Leibes maß
ich auf Begehren desjenigen Schneidermeisters, der der angese-
henste unter ihnen zu sein schien, selbst. – Mit großem Fleiße
machten sich die Schneider ans Werk, und nach wenigen Tagen
war mein Rock fertig, auch saß er mir wie angegossen, hatte in-
des, aus Hunderten von Flicken und Flickchen zusammengesetzt,
ein seltsames Aussehen. – Meine tägliche Nahrung bereiteten
mir dreihundert Köche unmittelbar vor meiner Wohnung, wo
sie sich Kochherde erbaut und Zelte und Hütten aufgeschlagen
hatten. Jeder der dreihundert war verpflichtet, mir täglich zwei
Schüsseln mit Speisen zu liefern, die, wie ich gestehen muß, stets
sehr schmackhaft zubereitet waren. Um die Speisen auf meinen
Tisch zu schaffen, hatte ich zwanzig Bediente auf den Tisch ge-
stellt, welche die Gerichte und Weinfässer auf eine sinnreiche
Art hinaufwanden, gleich wie wir in Europa die Wassereimer aus
den sogenannten Ziehbrunnen hinaufwinden. Jedes Fleischge-
richt gab einen Mund voll und ein Weinfaß einen guten Schluck.
Ich fand, daß das Rindfleisch der Liliputer ganz besonders gut
ist, woraus ich schloß, daß sich dieses Volk sehr gut aufs Mästen
der Ochsen verstehen müsse. Einst wurde mir sogar eine Rinds-
keule hinaufgewunden, die so groß und feist war, daß ich sie nur
in drei Bissen verzehren konnte; ich verzehrte sie zum großen
Erstaunen der Bedienten mit Knochen und allem, was drum und
dran war. Auch das Geflügel der Liliputer ist von vorzüglichem
Wohlgeschmack, doch tat ich in der Regel nur Truthühnern und
Gänsen die Ehre an, sie zu verspeisen, denn das übrige Geflügel
war gar zu klein.
Seine Majestät der Kaiser erwies mir eines Tages die hohe
Gnade, daß er sich mit seiner hohen Gemahlin und den kaiser-
lichen Kindern zu meiner Tafel einlud. Als die höchsten Herr-
schaften erschienen waren, setzte ich sie in ihren Staatssesseln
nebst Gefolge vor mir auf meinen Tisch. Der Finanzminister
Flimnap war auch mit seinem weißen Stabe zugegen, und ich be-
merkte, daß er meine Eßlust, der ich heute, da ich bei gutem Ap-
petit war und der kaiserlichen Familie auch Vergnügen dadurch
zu bereiten glaubte, ganz ungewöhnlich die Zügel schießen ließ,
mit mürrischen Mienen beobachtete. Ich machte mir aber nichts
daraus und tat, als ob ich’s nicht merkte, da ich recht gut wuß-
te, daß Flimnap immer ein Heuchler gegen mich gewesen war
und mir ins Gesicht schön tat, während er mich hinter meinem
Rücken bei Seiner Majestät anschwärzte und verleumdete. Ich
erfuhr durch meine Freunde später, daß ihm meine Eßlust aber-
mals Gelegenheit gegeben hatte, dem Kaiser ins Ohr zu blasen,
daß ich seine Finanzen durch die großen Unterhaltungskosten,
die ich verursache, noch ganz und gar ruinieren würde. Schon sei
das Land tief verschuldet und alle sonst so guten Staatspapiere
tief gesunken. Ich habe nun Seiner Majestät bereits zwei Mil-
lionen Sprugs (die größte liliputische Goldmünze, die unseren
Guineen entspricht und etwa die Dicke eines Goldflitters von
ein Zehntel Zoll im Durchmesser hat) gekostet, und es sei das
Geratenste, mich sobald wie möglich außer Landes oder ins Jen-
seits zu befördern, sonst fräße ich noch Kaiser und Reich bettel-
arm. – So pöbelhaft hatte sich der Mensch in seinem feindlichen
Ingrimm ausgedrückt. Bei der Tafel, bei der es sich die höchsten
Herrschaften, die ihre Tische hatten mitbringen lassen, ebenfalls
sehr wohlschmecken ließen und guter Dinge waren, mochten
dergleichen Einflüsterungen noch nicht viel geneigtes Gehör ge-
funden haben, denn Seine Majestät verließ mich höchst gnädig
und war so herablassend, mir in verbindlichen Worten für meine
freundliche Bewirtung zu danken, obgleich er ja eigentlich der
Gastgeber war und ich alles, was aufgetafelt wurde, nur seiner
Freigebigkeit verdankte. Indes Flimnaps Einfluß auf ihn war zu
meinem Nachteil doch ein sehr großer, und der tückische Mi-
nister wurde nicht müde, den Kaiser bei jeder Gelegenheit unter
vier Augen vor meinem finanzenzerrüttenden Appetit zu war-
nen und ihn überhaupt gegen mich einzunehmen.
Siebentes Kapitel
Der Verfasser erfährt durch einen Freund, daß man ihn bei Hofe wegen
Hochverrats und Palastschändung in Anklage versetzen und grausam
hinrichten will. Um sich dieser Unannehmlichkeit zu entziehen, flieht
er nach Blefusku. Seine dortige Aufnahme und Lebensweise.

A nknüpfend an Flimnaps Ohrenbläsereien gehe ich hier dazu


über, einer schon seit zwei Monaten gegen mich spielenden Hof-
kabale zu erwähnen, die nichts weniger bezweckte, als mich
ums Leben zu bringen. Ich war gerade mit Anstalten zu meinem
auf den morgenden Tag bestimmten Besuche bei Seiner Maje-
stät dem König von Blefusku beschäftigt, schmierte meine Schu-
he mit einem Tönnchen Ochsentalg und putzte meine Schuh-
schnallen aufs sauberste, als ein vornehmer Herr in einer Sänfte
vor meine Wohnung kam und mich durch einen seiner Träger um
eine augenblickliche, kurze Unterredung bitten ließ. Die Sänften-
träger, zuverlässige treue Diener ihres Herrn, wurden entlassen,
und ich steckte die Sänfte mit Seiner Exzellenz sogleich in meine
Rocktasche, damit sie nicht von dem einen oder anderen der vor
den Zelten herumlungernden Köche bemerkt würde, kroch ins
Haus und verschloß sorgfältig die Tür. Nach meiner Gewohnheit
stellte ich sodann die Sänfte mit ihrem lebendigen Inhalt auf den
Tisch, setzte mich und brachte ihr mein aufmerksames Ohr so
nahe wie möglich.
Nach den gewöhnlichen ersten Begrüßungsformen und Höf-
lichkeitsaustauschen bemerkte ich auf dem Antlitz der Exzellenz
eine auffallende Unruhe und erkannte zugleich, daß ich einen
bewährten Freund vor mir sah, dem ich bei Hofe schon manche
Gefälligkeit erwiesen hatte; seinen Namen verschweige ich aus
leichtbegreiflichen Gründen, denn da Bücher bekanntlich ihre
sonderbaren Schicksale haben, so wäre es auch nicht unmöglich,
daß das eine oder andere Exemplar dieser meiner Reisen und
Erlebnisse über kurz oder lang einmal seinen Weg nach Liliput
finden könnte.

Der Herr begann: »Ich halte es sowohl für meine freundschaft-


liche wie menschliche Pflicht, verehrungswürdigster Nardak,
Euch damit bekannt zu machen, daß seit kurzem der Ausschuß
des Geheimen Rats wiederholt Euretwegen zur Beratung zu-
sammengetreten ist, und daß der Kaiser leider den schlimmsten
Vorschlägen nur zu geneigtes Gehör geliehen hat. Ihr wißt selbst,
daß Skyresh Bolgolam von Anfang an Euer tödlichster Feind
gewesen ist, und es wird Euch auch nicht entgangen sein, daß
sich sein Haß durch Euer Kriegsglück noch bedeutend gesteigert
hat, weil Ihr ihn durch Euren gelungenen Handstreich gegen die
Blefuskusche Flotte ganz und gar als Admiral ausgestochen habt.
Dieser einflußreiche Große sowohl, sowie auch der Finanzmi-
nister Flimnap, der General Limtock, der Kammerherr Lalcon
und der Großsiegelbewahrer Balmaff, haben gegen Euch die Ar-
tikel zu einer Anklage auf Hochverrat und andere Kriminalver-
brechen aufgesetzt.«
Ich war im Bewußtsein meines guten Gewissens so aufge-
bracht über diese Mitteilung, daß ich meinen Freund mit heftigen
Worten des Unwillens unterbrechen wollte, allein er bat mich,
zu schweigen und fuhr fort: »Aus pflichtschuldiger Dankbarkeit
für die vielen Gefälligkeiten, die Ihr mir erwiesen habt, hoch-
und großgeborener Nardak, habe ich nicht allein die genauesten
Nachrichten über die Umtriebe Eurer Feinde eingezogen, sondern
mir auch eine Abschrift ihrer Anklageartikel verschafft; hier ist
sie:

Artikel der Anklage


gegen Quinbus Flestrin den Menschberg.

ART
1

Obgleich es durch ein Reichsgesetz aus der


Regierung Seiner Kaiserlichen Majestät Calin
Deffar Plune bestimmt und beschlossen ist, daß
jeglicher, der den kaiserlichen Palast anspeit, den
Strafen und Folgen des Hochverrats anheimfällt,
so hat besagter Quinbus Flestrin nichtsdestoweni-
ger besagtes Gesetz gebrochen, und unter dem
Vorwand, eine Feuersbrunst in den Gemächern
der teuersten, geliebtesten Gemahlin Seiner
Majestät zu löschen, höchst boshaft, teuflisch
und verräterisch durch respektwidriges Anspei-
en besagte Feuersbrunst in besagten Gemächern
wirklich gelöscht.

ART
2

Als besagter Quinbus Flestrin die kaiserliche


Flotte von Blefusku in den kaiserlichen Hafen
von Liliput gebracht hatte, und ihm von Seiner
Kaiserlichen Majestät geboten ward, alle übrigen
Schiffe des besagten Kaisers von Blefusku, mit
Segeln, Mastbäumen und so weiter zu erobern,
genanntes Reich in eine unterworfene Provinz
zu verwandeln, die in Zukunft durch einen Vize-
könig unserer Nation regiert werden solle, ferner,
nicht allein die breitendigen Verbannten, sondern
gleicherweise alle Einwohner jenes Reiches, wel-
che die breitendige Ketzerei nicht sogleich aufge-
ben, zu vernichten, zu zerstören und zu töten,
hat er, besagter Quinbus Flestrin, wie ein falscher
Verräter gegen seine Allergnädigste, Durchlauch-
tigste, Kaiserliche Majestät eine Bittschrift ein-
gereicht, jenes Dienstes entbunden zu werden,
unter dem Vorwand, den Gewissenszwang zu
vermeiden, sowie die Freiheit und das Leben ei-
nes unschuldigen Volkes nicht zu vernichten.
ART
3

Als ferner gewisse Gesandte des Hofes von


Blefusku am Hofe Seiner Majestät, um Frieden
bittend, anlangten, hat er, besagter Quinbus
Flestrin, als Fälscher und Verräter ihnen Hilfe
angeboten und sie aufgereizt, obgleich er wuß-
te, der Fürst, ihr Herr, sei kürzlich offener Feind
Seiner Majestät gewesen und habe offenen Krieg
gegen Seine Majestät geführt.

ART
4

Besagter Quinbus Flestrin trifft ferner gegen-


wärtig Vorbereitungen zu einer Reise nach Ble-
fusku und dem Hofe dieses Reichs und verletzt
dadurch die Pflichten eines treuen Untertanen,
da er nur eine mündliche Erlaubnis von Seiner
Majestät dazu erhalten hat. Unter Vorwand be-
sagter Erlaubnis will er auf falsche und verräteri-
sche Weise jene Reise unternehmen und dadurch
den König von Blefusku, mit dem sich Seine Kai-
serliche Hoheit noch vor kurzem als Feind im
offenen Kriege befand, unterstützen, ermutigen
und aufreizen.

Nach Verlesung dieser von der frechsten und tückischsten Bos-


heit eingegebenen Schandschrift (der geneigte Leser, der mein
schlichtes Wesen, meine Offenheit und Geradheit kennt, wird
meiner gerechten Aufwallung solch starke, aber bezeichnende
Ausdrücke verzeihen), fuhr mein Gönner und Freund fort: »Ich
muß es Seiner Kaiserlichen Majestät lassen, daß dieselbe bei den
Verhandlungen sehr zur Milde neigte, für die Euch schuldgege-
benen Verbrechen Milderungsgründe vorbrachte und überhaupt
Euch das Leben zu erhalten geneigt schien. Dagegen schäumten
der Admiral und der Finanzminister förmlich vor Zorn und Wut
gegen Euch und beharrten bei ihrer Ansicht, daß Ihr zur Sühne
Eurer Verbrechen eines schmachvollen und schmerzlichen Todes
sterben müßtet. General Limtock trat diesem grausamen Vorha-
ben bei und erklärte, er würde mit zwanzigtausend Mann Euer
Tempelhaus umringen, das, wie Bolgolam und Flimnap vorge-
schlagen, angezündet werden sollte; bei einem Versuch, Euch
dem Feuertode zu entziehen, werde er Euch dann mit vergifteten
Pfeilen Hände und Gesicht beschießen lassen. Um hinsichtlich
Eurer Ermordung umso sicherer zu gehen, sollten auch Eure Die-
ner geheimen Befehl erhalten, Eure Bettücher und Hemden mit
einem verzehrenden Giftpulver zu bestreuen.
Der Kaiser aber, der zu all diesen Grausamkeiten nicht gern Ja
sagen wollte, forderte nun zunächst seinen Geheimsekretär, Eu-
ren Freund Redresal, zur Meinungsäußerung in dieser Angelegen-
heit auf, und ich muß gestehen, daß Ihr stolz darauf sein könnt,
solch einen Mann Euren Freund zu heißen. Der feingebildete,
edle Mann lieferte ein wahres Meisterstück von Beredsamkeit
zu Euren Gunsten. Er gab zwar zu, daß Euer Verbrechen groß sei,
allein man möge dagegen das Verdienst abwägen, das Ihr Euch
durch Eroberung der feindlichen Flotte erworben hättet. Deswe-
gen möge man diesmal von dem Buchstaben des Gesetzes abse-
hen, der allerdings auf das Verbrechen des Palastanspeiens den
Tod setze, allein das edle Herz seines allererlauchtesten Monar-
chen kennend, sei er überzeugt, daß Allerhöchstderselbe in die-
sem Falle von seinem göttlichen Vorrecht der Gnade Gebrauch
machen und die Todesstrafe in eine mildere verwandeln würde.
Er erlaube sich, den Vorschlag zu machen, dem Quinbus Flestrin
nur die Augen auszustechen, durch dies Verfahren vollzöge man
nicht allein eine zweckmäßige Strafe, sondern es gewähre auch
noch den Vorteil, daß Ihr in Kriegszeiten dem Staate mit umso
größerem Mute dienen würdet. Denn Blindheit, weil sie die Ge-
fahren verhehle, erhöhe den Mut, darum spreche man von blind-
wütig, blindem Draufschlagen und so weiter. Habe es sich doch
bei der Eroberung der Flotte gezeigt, daß Euch Eure Augen die
meisten Besorgnisse gemacht hätten; wäret Ihr aber blind gewe-
sen, so würdet Ihr keine Furcht gehabt haben, durch die Pfeile
des Feindes Eure Augen zu verlieren, schloß der scharfsinnige
Redresal mit ausgezeichneter Logik.
Trotzdem konnte der zorn- und wutentflammte Bolgolam das
Ende dieser glänzenden und überzeugenden Rede Redresals kaum
erwarten; er sprang vom Sitze auf und forderte ganz respektwid-
rig mit geballter Faust unbedingt Euren Tod. Das Verbrechen, den
kaiserlichen Palast und die Gemächer der erhabenen Kaiserin zu
bespeien (obgleich er ein gehärteter Kriegsmann, könne er nur
mit Entsetzen und Schauder daran denken), habe zehnfachen
Tod verdient. Zudem könne es Euch, wenn man Euch leben ließe,
einmal einfallen, Eure Stärke zugunsten der Blefuskuer zu ver-
wenden, mit deren Gesandten Ihr schon verräterisch verkehrtet.
Wenn ihn nicht alles trüge, so klopftet Ihr gar die Eier am breiten
Ende auf und wäret ein heimlicher Breitendiger.
Der Finanzminister beeilte sich, zu erklären, daß er ganz den
Ansichten und Gründen seines geehrten Vorredners beistimme
und nur noch hinzuzusetzen habe, daß, im Fall Ihr beim Leben
erhalten bliebet, die Kosten Eurer Ernährung den Staatsschatz
ganz und gar zerrütten würden. Das bloße Blenden könne letz-
terem Übel nicht abhelfen.
Der Kaiser aber zeigte sich noch immer nicht geneigt, Euer
Todesurteil zu unterschreiben und suchte nach einem anderen
Auswege. Da erbat sich Euer Freund Redresal noch einmal das
Wort und meinte, um die von Seiner Exzellenz dem Herrn Fi-
nanzminister erwähnte Gefahr für den Staatsschatz zu vermei-

den, könne man ja die Lieferungen an Nahrung für Euch abknap-


pen und Euch im Laufe des Monats immer geringere Portionen
geben. Dies Verfahren habe zugleich den Vorteil, daß Ihr nach
und nach schwach und hinfällig werden und schließlich sterben
würdet. In diesem Falle würde dann auch durch den Gestank
Eurer Leiche die Pestgefahr für das Land nicht mehr so groß sein,
weil Ihr durch das Abhungern bis zu Eurem Tode mindestens die
Hälfte Fleisch verloren haben würdet. Um ganz sicher zu gehen,
könnten dann unmittelbar nach Eurem Tode auch etwa sechs-
tausend Mann von Seiner Majestät Untertanen beordert werden,
das Fleisch von den Knochen Eurer Leiche zu lösen und es in den
fernen Wüsten des Landes zu begraben. An dem ausgeschälten
Gerippe habe man dann zugleich ein merkwürdiges Kabinett-
stück für das naturhistorische Museum Seiner Majestät.
Diese Auseinandersetzung Eures wohlmeinenden Freundes
fand Beifall, und der Kaiser neigte sich ihr entschieden zu. Es
wurde beschlossen, der Plan, Euch verhungern zu lassen, solle
geheimgehalten, dagegen aber das Urteil des Augenausstechens
schon nach drei Tagen an Euch vollzogen werden.
Wie ich nun weiter in Erfahrung gebracht habe, wird Euch
Euer Freund, der Geheimsekretär, nach drei Tagen zunächst das
Urteil hier in Eurer Wohnung vorlesen. Hierauf wird er Euch die
große Milde und Gnade Seiner Majestät und dero Räte zu Gemüt
führen, und sodann werden zwanzig geschickte Wundärzte Euch
ersuchen, Euch auf den Boden zu legen, damit man die Augäpfel
aus nächster Nähe mit scharfen Pfeilen durchbohren kann. Ich
habe nun, verehrtester Freund, meinen Kopf gewagt, Euch diese
Entdeckungen zu machen und muß es Euch überlassen, ob und
welche Maßregeln Ihr treffen wollt.«
Damit nahm Seine Exzellenz Abschied und ließ mich in sor-
genvoller Stimmung zurück. Augenausstechen und verhungern
lassen! Das war also der Dank, den ich von dem Kaiser und sei-
nen sauberen Räten haben sollte! Von diesem Volke, das in seinen
heiligen Schriften und seinen Gesetzbüchern gerade der Dank-
barkeit einen Platz unter den vorzüglichsten Tugenden anweist!
Dafür also hatte ich das Reich durch Eroberung der feindlichen
Flotte vor einem verderblichen Kriege bewahrt, dafür hatte ich
den kaiserlichen Palast vor dem Untergang durch die Flammen
behütet, dafür war ich mit der größten Milde und Sanftmut ge-
horsam allen billigen Forderungen und Anforderungen nachge-
kommen! Und nun wollte man noch den Akt der Undankbarkeit
und Grausamkeit, den man gegen mich auszuüben dachte, mit
einem Mäntelchen der Milde und Gnade bekleiden! Aber ich
wußte wohl aus ähnlichen Fällen, daß ein solch heuchlerisches
Verfahren beim hiesigen Hofe üblich war. Jedesmal, wenn der
Hof irgend eine grausame Hinrichtung beschlossen hatte, um
der Rache des Kaisers oder der Bosheit einiger Hofschranzen zu
frönen, so hielt der Kaiser eine lange, salbungsvolle Rede im Rat,
worin er bedauerte, daß er trotz seiner großen Güte und Milde
so hart strafen müsse. Die Rede ward dann sogleich im ganzen
Reiche dem Volke durch Zettelträger und Herolde bekanntge-
macht, aber das Volk schauderte jedesmal bei solchen Bekannt-
machungen, denn es wußte wohl, je überschwenglicher der Lob-
psalm war, den sich der Kaiser über seine Milde und Güte sang,
desto grausamer war die Strafe und desto geringer die Schuld des
Verurteilten. Wenn mir dies durch den sorgenvollen Kopf ging,
war ich manchmal nahe daran, Gewalt mit Gewalt zu vertreiben.
Was wollten denn diese Liliputer mit ihrer ganzen Armee? Ich
hätte mir nur einen Eichbaum auszureißen brauchen, und würde
damit jedesmal mit einem Streiche ganze Regimenter niederge-
schmettert haben. Oder ich brauchte mir nur vor dem Haupttor
Mildendos einen Haufen Steine zusammenzulesen und damit
ihre prächtige Residenz zu bombardieren; in wenigen Stunden
wäre alles ein Trümmerhaufen gewesen. Doch bald schämte ich
mich solch grausamer Gedanken, denn einmal sagte mir mein
besseres Selbst, daß ich auf diese Weise eine Menge Unschuldi-
ger, die mich nie beleidigt hatten, umbringen würde, und ander-
seits erinnerte ich mich, daß ich dem Kaiser für alle Zeiten Frie-
den geschworen hatte. Nur ein Schuft bricht seinen Eid oder sein
Wort! Aber was nun tun? Ich sann hin und her auf einen Aus-
weg und kam endlich zu dem Entschluß, unter dem Vorwande,
von der mir erteilten Erlaubnis, das Reich Blefusku zu besuchen,
mich für alle Zeit aus dem Staube zu machen. Der Leser, wenn
er den ersten Paragraphen der von mir unterzeichneten Urkunde
ansieht, der sagt, daß ich das Reich nicht ohne Erlaubnis des Kai-
sers auf immer verlassen soll, wird mich vielleicht tadeln, und ich
spreche mich auch nicht von allem Tadel frei. Allein was sollte
ich machen? Es war doch gewiß meinerseits ein billiger Wunsch,
mir meine beiden gesunden Augen zu bewahren und mich vor
dem entsetzlichen Hungertode zu schützen! In meiner verzwei-
felten Lage hätte es der geneigte tadelnde Leser gewiß selbst so
gemacht.
Kurz, ich blieb bei meinem Entschlusse und schrieb schon am
anderen Morgen meinem Freunde Redresal einen Brief, in dem
ich ihm mitteilte, daß ich gerade Lust bekommen habe, einmal
von der mir längst erteilten kaiserlichen Erlaubnis Gebrauch zu
machen, und dem König von Blefusku einen Besuch abzustatten.
Kaum war einer meiner Bedienten mit dem Brief unterwegs, so
war auch ich schon unterwegs und zwar nach dem Hafen, nahm
eines der größten Kriegschiffe, legte meine Kleider und meine
mitgenommene Bettdecke hinein und zog es, munter durch den
Kanal watend, an einem starken Bindfaden hinter mir her.
Als ich mich dem Hafen von Blefusku näherte, sah ich eine un-
geheure Volksmenge auf dem Hafendamm herumkrabbeln, die
mich mit Jubel empfing, denn im ganzen Reiche hatte sich schon
längst die Nachricht von meinem zugesagten Besuche verbreitet
und man hatte mich schon seit mehreren Tagen ungeduldig er-
wartet. Ich nahm zwei mir angebotene Führer, die mich nach der
Hauptstadt Blefusku geleiten sollten, in die Hand und setzte sie
etwa hundert Schritt vom Tore sanft mit dem Auftrage auf den
Boden, Seiner Majestät zu melden, daß ich vor dem Tore stehe
und seiner Befehle gewärtig wäre. Man ließ mich nicht lange
auf die Nachricht warten, daß Seine Majestät mit allerhöchstde-
ro Familie und den Großen des Reiches im Begriff sei, die Stadt
zu verlassen und mich vor dem Tore zu empfangen. Nun ging
ich dem herrschaftlichen Zuge wieder einige Ellen entgegen und
machte den in Staatskarossen anfahrenden hohen, höchsten und
allerhöchsten Herrschaften meine pflichtschuldigste Reverenz.
Als sich der König mit hoher Gemahlin und durchlauchtigsten
Kindern mir näherten, legte ich mich auf den Bauch, um dem
Herrscherpaare bequem die Hand küssen zu können. Ich will
den Leser nicht mit der Schilderung von den Beweisen der Gna-
de und Huld ermüden, die mir zuteil wurden, sondern mich mit
der kurzen Versicherung begnügen, daß in dieser Hinsicht alles
meine Wünsche übertraf. Von der Ungnade, in die ich beim Hofe
zu Liliput gefallen und von dem mir dort drohenden Geschick
erwähnte ich gegen den König nichts, das wäre auch durchaus
nicht passend gewesen, zumal da mir von seiten des Staatsrats
überhaupt noch nichts Amtliches darüber zugegangen war.
Man tat mir in Blefusku alle einem Nardak gebührenden Eh-
ren an und sorgte gewissenhaft für meine Bedürfnisse; nur eine
Unbequemlichkeit konnte man mir mit dem besten Willen nicht
beseitigen. Es gab im Reiche Blefusku nämlich keinen so großen
Tempel, wie ich ihn in Liliput bewohnt, und darum mußte ich
mein Nachtlager, nur in meine Decke gehüllt, unter freiem Him-
mel auf der harten Erde nehmen.
Achtes Kapitel
Ein glücklicher Zufall läßt den Verfasser an der Küste von Blefusku ein
Boot finden, das er ausrüstet, um damit sein Vaterland aufzusuchen. Es
gelingt ihm das auch nach einigen Schwierigkeiten.

Traurigen Herzens ging ich, obwohl mir in Blefusku viel Liebes


und Gutes widerfuhr, eines Tages an der Küste spazieren; ich
sehnte mich schmerzlich nach meinem Vaterlande und nach den
Meinigen. Auch hatte ich das Leben unter den kleinen Leuten,
das doch so manche Unbequemlichkeit für mich mit sich führ-
te, herzlich satt. Da sah ich plötzlich, als ich mit trüben Augen
über das Meer hinblickte, in der Ferne einen großen, dunklen
Gegenstand schwimmen. Anfangs hielt ich ihn für einen Wal-
fisch, nachdem ich mir aber über die Augen gewischt und mein
Taschenfernrohr hervorgenommen hatte, erkannte ich zu meiner
unaussprechlichen Freude, daß es ein umgeschlagenes Boot war,
das durch die Flut der Küste immer näher und näher zugetrieben
wurde.
Sofort eilte ich zur Stadt und bat Seine Majestät, mir zwanzig
wohlbemannte und befehligte Schiffe (so viel waren ihm trotz
meines Handstreichs doch noch übrig geblieben) zu leihen. Wie
immer huldvoll, willigte der König ein und befahl dem Vizead-
miral, die kleine Flotte zu bemannen, das Kommando zu über-
nehmen und sich allen meinen Wünschen willig zu zeigen. Die
kleine Flotte wurde alsbald mit dreitausend Matrosen bemannt,
denen ich eine große Menge vorher von mir bis zur genügenden
Stärke zusammengedrehten Tauwerks mitgab; sodann segelte
die Flotte über die Höhe des Hafens, während ich durch das
Meer watete und schwamm und bald das noch näher angetrie-
bene Boot erreicht hatte. Nun kam auch die Flotte heran und der
Admiral ließ mir das eine Ende des von mir zusammengedrehten
Strickes zuwerfen, was bei dessen Dicke und Schwere den Ma-
trosen unsägliche Mühe machte. Endlich hatte ich den Strick in
der Gewalt und zog das eine Ende durch ein Loch am Vorderteil
des Boots, während ich das andere an dem größten Kriegschiffe
befestigte. Darauf bat ich den Admiral, die übrigen Schiffe mit
der Fregatte zu verbinden und alle Segel aushissen zu lassen, da-
mit bei dem gerade günstig streichenden Winde die Schiffe mein
Boot ans Ufer schleppten. Dies geschah, doch vermochten die
Schiffe die ungeheure Last nur langsam fortzubewegen, aber ich
wußte zu helfen, schwamm hinter dem Boote her und gab ihm

von Zeit zu Zeit einen tüchtigen Stoß. Auf diese Weise hatten
wir es bald bis auf vierzig Schritt zum Ufer gebracht, hier aber
mußten wir es stehen lassen, weil das Wasser zu seicht wurde.
Ich wartete nun die Ebbe ab, die nach etwa zwei Stunden eintrat,
und machte mich mit zweitausend Arbeitern und einer großen
Zahl von Hebezeugen und Maschinen (im Maschinenfach ge-
ben die Blefuskuden den Liliputern nichts nach) daran, das Boot
umzukehren. Nach unsäglicher Mühe gelang dies, und ich fand
zu meiner Freude, daß das Fahrzeug nur wenig Schaden gelitten
hatte und keiner großen Ausbesserung bedurfte.
Nun aber war noch der schwierigste Teil der Arbeit zu tun,
denn es kam darauf an, das Boot von seiner seichten Stelle ins
Fahrwasser und in den Hafen zu bringen. Nach zehntägiger
Arbeit war mir dies durch Hebel und Walzen, zu deren Her-
stellung ich in der Regel sechs bis acht der stärksten Eichbäu-
me zusammenband, und mit Hilfe einiger tausend Menschen
gelungen. Unbeschreiblich war der Zusammenlauf und das Er-
staunen der Menge, als sich das Riesenschiff nun in ihrem Hafen
wiegte.
Der König, dem ich schon gleich nach dem Auffinden des
Boots erklärt hatte, daß mir augenscheinlich der Himmel dies
Schiff gesandt habe, um damit mein so lange entbehrtes teures
Vaterland wieder aufzusuchen, machte anfangs vielerlei höfliche
Einwände und meinte, ich möge doch in seinem Lande bleiben
und mir seine dauernde Gastfreundschaft gefallen lassen. Allein
ich dankte ihm verbindlichst für sein huldvolles Anerbieten und
machte ihm begreiflich, daß meine quälende Sehnsucht nach
meinem Vaterlande und nach Frau und Kindern mich doch in
dem sonst so unvergleichlichen Blefusku nicht zufrieden und
glücklich sein lassen könne. Das gab mir denn Seine Majestät,
und zwar vergnügten Gesichtes zu, denn ich hatte längst ge-
merkt, daß ich ihm und seinem Staatsschatz mit den Bedürfnis-
sen meines Magens doch sehr lästig zu werden anfing.
Übrigens benahm sich dieser Monarch durchaus edel gegen
mich, was recht in der Art und Weise zutage trat, wie er einen
meinetwegen von Liliput ausgeschickten Gesandten abfertigte.
Als nämlich wegen meines auffallend langen Aufenthaltes
in Blefusku mein früherer Herr, der Kaiser von Liliput, Verdacht
schöpfte, daß ich wohl gar nicht wieder in sein Reich zurückkeh-
ren und mich der Strafe entziehen wolle, hatte er nach vorheri-
ger Beratung mit den mir feindlichen Ministern einen Gesandten
mit einer Abschrift meiner Anklage an den Hof von Blefusku ge-
schickt und seinem »königlichen Bruder« eröffnen lassen, daß es
eine große Undankbarkeit von mir und eine schnöde Verkennung
der kaiserlichen Milde sei, wenn ich nicht binnen zwei Stunden
zurückkehrte und mir die Augen ausstechen ließe. Kehrte ich
nicht nach der angegebenen Zeit zurück, so würde mir der Ti-
tel Nardak aberkannt und ich öffentlich als Verräter ausgerufen
werden.
Dieses hatte der Gesandte öffentlich vor König und Staatsrat
vorgetragen, in geheimem, an den König gerichteten Auftrage
hatte er jedoch auf Befehl seines Souveräns zu bedenken gege-
ben: daß sein erhabener Herr, der Kaiser von Liliput, um den
kaum geschlossenen Frieden beider Reiche ungestört aufrecht
erhalten zu sehen, seinem königlichen Vetter und Bruder zu be-
denken gebe, daß es das Geratenste sein würde, wenn er den
Menschberg gebunden und gefesselt nach Liliput ausliefere, da-
mit er dort auf eine ausgesuchte und exemplarische Weise am
Leben gestraft werde. Alles dies hat mir nachher Seine Majestät
in gewohnter huldvoller Weise wiedererzählt und mir auch die
Antwort nicht verhehlt, mit der er den Gesandten abgetrumpft
und heimgeleuchtet hat.
Sie lautete etwa folgendermaßen: »Gehe heim, guter Freund,
und sage deinem Herrn, meinem mir so brüderlich gesinnten, kai-
serlichen Vetter, daß die Forderung, den Menschberg gebunden
auszuliefern, mir so unausführbar wie ihm selbst sei, denn der
Quinbus Flestrin würde, obwohl sonst sehr gutmütig, sich doch
mit Felsstücken und Eichbäumen dagegen wehren, wenn man
ihn fesseln wolle. Übrigens erkläre deinem Herrn ferner, daß mir
gar keine Veranlassung vorliege, gegen den Menschberg feind-
lich zu verfahren, da er sich in meinem Reiche stets anständig
und bescheiden betragen hat. Auch magst du nicht zu bemerken
vergessen, daß der Quinbus Flestrin bald weit genug aus deines
Herrn und aus meinem Strafbereich sein werde, denn er habe
kürzlich ein ungeheures Riesenschiff an der Küste gefunden, das
er jetzt ausrüste, um damit in sein Vaterland zurückzukehren.«
Mit diesem Bescheid mußte sich der Gesandte trollen, und der
König bot mir, nachdem er mir von allem Mitteilung gemacht,
nochmals an, in seinem Lande zu bleiben und bei ihm Dienste
zu nehmen. Mein Vertrauen zu Fürsten, Höfen und Ministern
war aber durch meine Erlebnisse in Liliput so erschüttert, daß ich
nicht im Traum daran dachte, jemals wieder eine hohe Stelle im
Staatsdienst anzunehmen, und ich wiederholte daher unter An-
gabe meiner früheren Gründe meine Weigerung aufs bestimmte-
ste, zumal ich wußte, daß meines kostspieligen Magens wegen
im Grunde König und Minister wünschten, daß zwischen mir
und Blefusku tausend Meilen lägen.
Übrigens beschleunigte dies immerhin drückende Gefühl,
durch meinen Magen dem Reiche Blefusku eine große Last zu
sein, meine Arbeiten zur Herrichtung des Boots und zur Be-
schleunigung meiner Abreise, wobei mich der König durch
Arbeiter und alles, was ich wünschte, aufs bereitwilligste und
freigebigste unterstützte. Fünfhundert Segeltuchfabrikanten
wurden beordert, nach meiner Anweisung zwei Segel für mein
Boot zu verfertigen. Dazu bedurften sie etwa fünfzehnhundert
Ellen ihrer stärksten Leinwandstücke und mußten diese in drei-
zehn Lagen übereinandernähen, damit sie stark genug würden.
Zur Anfertigung der nötigen Taue bedurfte ich zwanzig bis drei-
ßig landesübliche Taue, um mir einen tauglichen Strick daraus
zusammenzudrehen. In großer Verlegenheit war ich um einen
Anker, denn auch die Anker ihrer größten Schiffe, von denen
ich noch heute zum Andenken einen an der Uhrkette trage und
mich seiner zuweilen als Zahnstochers bediene, reichten bei wei-
tem für meine Bedürfnisse nicht aus. Ich suchte daher im Gebirge
nach einem tüchtigen Felsblock und fand auch einen solchen von
etwa fünfundzwanzig bis dreißig Pfund, der zu meinem Zweck
genügte und mir wiederholt auf der Reise gute Dienste als Anker
geleistet hat. Als man mich mit diesem Stein unterm Arm so

leicht und ruhig zum Strande schreiten sah, wie die blefuskudi-
schen Schüler mit ihrem Pulmoklisch (so nennt man die von den
blefuskudischen Theologen bearbeitete landesübliche Bibel, die
von den liliputischen, spitzendigen Theologen als ketzerisch ver-
worfen wird) unterm Arm zur Schule gehen, war das Erstaunen
ein ganz maßloses.
Das Fett von dreihundert Ochsen brauchte ich, um mein Boot
einzuschmieren, und zum gleichen Zwecke kochte ich noch das
Fett von dreihundert tranhaltigen Fischen aus, die an der Kü-
ste häufig gefangen werden und die eine für die Eingeborenen
erhebliche Länge von sechs Zoll haben. Um für mein Segel eine
tüchtige Segelstange herstellen zu können, mußte ich mit mei-
nem Taschenmesser eine ziemliche Verwüstung unter den stärk-
sten Bäumen des königlichen Forstes anrichten, brachte aber
durch Zusammenbinden der verschiedenen Stämme, die mir die
Schiffszimmerleute glattzimmerten, endlich eine brauchbare Se-
gelstange zustande.
Nach zweimonatiger angestrengter Arbeit war endlich mein
Boot segelfertig, und ich ließ dem König sagen, daß ich, seine
Befehle erwartend, zur Abreise bereit sei. Darauf bestellte mich
der König zu einer feierlichen Abschiedsaudienz und empfing
mich mit seiner hohen Gemahlin und den Prinzen von Geblüt
mit solchem Aufwand, als ob ich ein ihm ebenbürtiger, sechs
Zoll hoher Monarch gewesen wäre. Ich wußte diese Ehrenbe-
zeigung wohl zu würdigen, warf mich anmutig auf den Bauch
und führte sämtliche fürstlichen Hände zierlich an meine Lip-
pen. Darauf schenkte mir der König fünfzig Beutel, von denen
jeder zweihundert Sprugs enthielt, sowie sein Bild in Lebensgrö-
ße, das ich gleich in meinen Handschuh steckte, um es nicht zu
verlieren. Die Abschiedszeremonien waren so umständlich und
zahlreich, daß ich den Leser nicht mit ihrer Schilderung ermüden
will.
Durch die Freigebigkeit des Königs versah ich nun mein Boot
mit dem gebratenen und zubereiteten Fleisch von hundert Och-
sen, dreihundert Schafen und einer entsprechenden Menge von
Brot, Wasser und Wein. Ferner vergaß ich nicht, sechs Kühe, zwei
Stiere und ebensoviele Mutterschafe mit Böcken lebendig einzu-
schiffen, weil ich diese Rassen nach meinem Vaterlande zu ver-
pflanzen wünschte. Gern hätte ich auch einige Pärchen von den
Eingeborenen mitgenommen, allein das wollte der König nicht
gestatten und ließ noch kurz vor meiner Abreise durch geschick-
te Steuerbeamte meine Taschen genau nach etwa versteckten
Blefuskuden und Blefuskudinnen durchsuchen.
Nach Vollendung der ganzen Ausrüstung ging ich am 24. Sep-
tember 1701, morgens sechs Uhr, unter dem Zusammenlauf ei-
ner ungeheuren Menschenmenge, die mir mit Fahnen und Tü-
chern Abschiedsgrüße zuwinkte und ein Geschrei erhob, als ob
zwanzig Bienenschwärme auf einmal zu summen anfingen, un-
ter Segel.
Nach einer Fahrt von etwa vier Meilen, die ich bei sehr günsti-
gem Winde zurückgelegt, entdeckte ich in nordöstlicher Richtung
eine Insel, steuerte darauf zu und warf in einer mir zur Landung
recht passend scheinenden Bucht meinen Ankerstein aus. Ich
stieg ans Land und schaute mich, einen nahe an der Küste gele-
genen Hügel besteigend, etwas um; die Insel schien unbewohnt
zu sein, und ich streckte mich mit dem beruhigenden Gefühle,
nicht gestört zu werden, ins weiche Moos und schlief einen ge-
sunden, traumlosen Schlaf. Früh mit Sonnenaufgang erwachte
ich, aß zehn gebratene Ochsenkeulen und einige Hammelviertel
zum Frühstück, lichtete meinen Anker und steuerte dann nach
der gleichen Richtung wie gestern.
Mein Taschenkompaß, der wie meine Brille und mein Fern-
rohr glücklicherweise nicht in die Hände der Liliputer gefallen
war, tat mir jetzt vortreffliche Dienste. Da ich nun mit Hilfe des
Kompasses immer wußte, in welcher Himmelsgegend ich mich
befand, so mußte ich, wenn ich so fortsteuerte, nach meinen
geographischen und seemännischen Kenntnissen eine jener In-
seln erreichen, die nordöstlich von Van Diemens Land liegen.
An diesem Tage kam mir nichts zu Gesicht als Himmel und
Wasser, am folgenden Tage aber – es war nach dem Stande der
Sonne etwa nachmittags um drei Uhr – entdeckte ich zu meiner
größten Freude ein südöstlich fahrendes Segel.
Meine ersten Zeichen, die ich gab, schien man auf dem Schiffe
der großen Entfernung wegen nicht zu bemerken; ich suchte des-
halb den Wind so geschickt wie möglich zu benutzen und segelte
so schnell, daß ich wie ein Pfeil über das Meer dahinschoß und
dem Schiffe, das sich immer größer und größer aus den Wellen
emporhob, rasch näher kam. Man bemerkte mich endlich, hiß-
te eine Flagge auf und schoß, um meine Aufmerksamkeit noch
mehr zu erregen, eine Kanone ab; als Gegengruß warf ich ju-
belnd meinen Hut in die Luft, so hoch ich konnte. Nun zog das
Schiff die Segel ein und erwartete mich. Gegen fünf Uhr abends
legte ich an Bord an, und wer beschreibt meine Freude, als ich
in dem Schiff ein englisches erkannte und nun die begründete
Hoffnung hegen konnte, mein geliebtes Vaterland und meine
Familie bald wiederzusehen! Rasch steckte ich mein Rindvieh
und meine Schafe in die Rocktasche und stieg mit meiner ganzen
Ladung an Bord.

Das Schiff war erfreulicherweise gerade auf einer Rückreise


von Japan nach England begriffen und der Kapitän, Herr Biddel
von Deptforth, war ein ebenso artiger und menschenfreundlicher
Herr, als er ein tüchtiger Seemann war. Er nahm mich mit in sei-
ne Kajüte und trug Sorge, daß ich durch Speisen und guten Wein
erfrischt würde, dann erst fragte er mich, wie ich auf offener See
in das Boot gekommen sei und bat mich, ihm meine Erlebnisse
zu erzählen.
Als ich nun mit Eifer seinem Wunsche nachkam und ihm er-
zählte, daß ich aus einem den Seefahrern und Geographen bis
jetzt ganz unbekannten Reiche käme, wo die Menschen nur
sechs Zoll hoch wären, merkte ich an dem Kopfschütteln und
den bedenklichen Mienen des braven Mannes, daß er mich für
verrückt hielt, indem er, wie er mir später sagte, annahm, daß
mich Schiffbruch und andere schreckliche Erlebnisse um meinen
Verstand gebracht haben müßten. Sobald ich aber merkte, daß
Herr Biddel sich mit solchen Ansichten trug, war ich um den
Beweis für das, was ich erzählt hatte, nicht verlegen, zog mein
kleines schwarzes Rindvieh und meine Schafe aus der Tasche
und hielt dem Kapitän einen blefuskuschen Stier von wenigstens
eineinhalb Pfund vor Augen. Nun setzte er keinen Zweifel mehr
in die Wahrhaftigkeit meiner Aussagen, zumal als ich ihm auch
das Geld und das Bild zeigte, das mir Seine Majestät von Ble-
fusku geschenkt hatte. Ich verehrte dem erfreuten Kapitän zwei
Beutel, deren jeder zweihundert Sprugs enthielt, und versprach
ihm, nach glücklicher Ankunft in England auch eine blefuskudi-
sche Kuh und ein Schaf zu schenken.
Unsere Reise lief sehr glücklich ab und bot nichts Bemer-
kenswertes, nur hatte ich unterwegs das Unglück, daß mir die
Schiffsratten einen meiner schönsten Schafböcke auffraßen; die
gänzlich abgenagten Knochen des armen Viehs fand ich nachher
in einem Rattenloche.
Am 2. April 1702 betrat ich wieder den Boden meines lieben
Vaterlandes und trug sogleich Sorge für mein kostbares kleines
Vieh. Ich ließ es bei Greenwich auf einem Rasenplatz weiden
und hatte die Freude, daß ihm das Futter nicht zu hart war und
recht gut bekam. Die Freude meiner Frau und meiner Kinder, die
mich längst als einen Toten beweint hatten, war grenzenlos, als
sie mich wiedersahen, indes, da sie in ziemlich dürftigen Ver-
hältnissen lebten, so merkte ich wohl, daß ihre Freude dadurch
gemindert wurde, daß sie glaubten, ich hätte aus der ganzen Rei-
se gar nichts erworben, was ihre Lage aufbessern könnte. Darin
aber hatten sie sich doch getäuscht, ich hatte nicht nur meine
Beutel mit Goldflitterchen, sondern, was noch weit mehr war,
meine blefuskudischen Kühe und Schafe, die mir bald zu einer
ergiebigen Goldquelle wurden, indem ich sie für Geld sehen
ließ.
Wie ich nach der Rückkehr von meiner folgenden Reise hörte,
hatten sich inzwischen meine Schafe außerordentlich vermehrt
und waren viele Tiere in die Hände geschickter Schafzüchter
übergegangen, was zuversichtlich für die englische Wollmanu-
faktur wegen der Feinheit der Vliese des blefuskudischen Schaf-
viehs von großem Nutzen sein wird.
Der geneigte Leser wird sich gewundert haben, daß ich eben
schon wieder einer neuen Reise erwähnte, die ich gemacht, da er
zu der Annahme berechtigt ist, daß ich nach so vielen erlebten
Abenteuern und Unglücksfällen wohl froh gewesen sein müß-
te, endlich ruhig zu Hause zu sitzen und mit meiner Familie die
goldenen Früchte, die uns das kleine Vieh eintrug, gemächlich
zu verzehren. Allein meine Reiselust war eben eine ganz unbän-
dige, und ich war erst zwei Monate bei meiner Familie, als mich
die unersättliche Lust, fremde Länder und Menschen zu sehen,
wieder auf See trieb. Ich wußte meine Familie jetzt gut versorgt
und ließ ihr noch fünfzehnhundert Pfund an barem Gelde zu-
rück, dann nahm ich Abschied, bei dem freilich recht viel Tränen
flossen, und ging an Bord des »Abenteurers«, eines Kauffahrers
von dreihundert Tonnen, der nach Surate bestimmt war und un-
ter dem Befehl des Kapitäns John Nicholas stand. – Die Erzäh-
lung der fast unglaublichen Begegnisse und Abenteuer, die ich
auf dieser neuen Reise erlebte, muß ich jedoch, da sonst der erste
Teil zu lang würde, für den zweiten Teil meiner Reisebeschrei-
bung aufsparen.
Zweiter Teil

Reise nach
Brobdingnag
Erstes Kapitel
Der Verfasser wird durch einen heftigen Seesturm nach einem unbe-
kannten Lande verschlagen. Von seinen Gefährten zurückgelassen,
wird er von einem Eingeborenen ergriffen und einem Pächter ausge-
liefert. Seine Aufnahme und was sich sonst zunächst mit ihm begeben
und zugetragen hat.

A nfangs begegnete uns auf der Reise, die ich nach zweimonati-
gem Aufenthalt in meinem Vaterlande mit Kapitän John Nicholas
nach Surate angetreten hatte, durchaus nichts Bemerkenswertes.
Wir hatten sehr günstigen Wind bis zum Kap der Guten Hoffnung,
wo wir landeten, um Wasser einzunehmen. Der Aufenthalt am
Kap sollte sich aber sehr in die Länge ziehen, weil unbegreifli-
cherweise unser Schiff trotz seiner glücklichen Fahrt ein bedeu-
tendes Leck bekommen hatte, dessen Ausbesserung uns zwang,
den ganzen Winter über am Kap zu bleiben. Im April endlich
konnten wir wieder unter Segel gehen und erreichten sehr bald
die Meerenge von Madagaskar; am neunzehnten desselben Mo-
nats aber, als wir uns nördlich von Madagaskar im fünften Gra-
de südlicher Breite befanden, schlug der Wind um und trieb uns,
während einer Fahrt von zwanzig Tagen, etwas östlich über die
Molukken hinaus. Dann trat plötzlich eine solche Windstille ein,
daß die Segel schlaff an den Masten herabhingen und das Schiff
fast unbeweglich auf der spiegelglatten Meeresfläche lag. Ich freu-
te mich anfangs über diese uns durch die Windstille aufgezwun-
gene Ruhe, denn die letzten Tage hindurch war das Schiff durch
den sehr scharf streichenden Wind stets in einer schaukelnden,
mir sehr lästigen Bewegung gewesen, allein die höchst bedenk-
liche Miene, die der Kapitän zeigte, verdarb mir bald die Freude,
zumal als er erklärte, daß ihm die Windstille in diesen Meeren
ein sicheres Vorzeichen eines nahen Sturmes sei. Er traf auch zur
Sicherung der Mannschaft und des Schiffes sofort alle Vorberei-
tungen, welche die drohende Gefahr nötig machte, und schon
der folgende Tag zeigte, daß sich der erfahrene Seemann in sei-
nen Voraussetzungen nicht getäuscht hatte.
Der Sturm brach mit einer Heftigkeit los, die uns nötigte, die
Kanonen festzumachen und sämtliche Segel einzuziehen; das
Bugsprietsegel war schon vor Ausbruch des Sturmes durch die
Vorsorge des Kapitäns eingezogen und überhaupt nichts unter-
lassen worden, seinem Ungestüm einigen Widerstand entgegen-
zusetzen. Die Vorkehrungen bewährten sich auch, denn das gut
verwahrte Schiff hielt sich wacker in den brüllenden Wogen;
zwar konnten wir ihm keine bestimmte Richtung geben, son-
dern mußten machtlos der Gewalt der Wellen und der Wind-
stöße folgen, aber unser Leben war doch gesichert, da sich die
Wut der Wogen an den derben Rippen unseres Schiffes macht-
los brach und wir hier auf hoher See von Klippen und Riffen
nichts zu fürchten hatten. Mehr als vierzehn Tage lang blieb un-
ser Schiff ein Spielball der tobenden Wogen und wurde in uns
ganz unbekannte wildfremde Gewässer getrieben. Nach meiner
Berechnung waren wir, als der Sturm endlich nachließ und von
einer anhaltend heftig streichenden Brise abgelöst wurde, unge-
fähr dreihundert Stunden von unserer ursprünglichen Richtung
nach Osten verschlagen worden; der erfahrene Kapitän und auch
die ältesten Seeleute wußten nicht, in welchem Teile der Welt
wir uns befinden möchten. Das mit Vorräten gut versorgte Schiff
hatte uns vor Mangel geschützt und die gesamte Mannschaft
war vollkommen gesund; schließlich aber kamen wir doch in
Not um Trinkwasser und beschlossen daher, die Richtung, die
wir unfreiwillig verfolgt hatten, vorderhand noch beizubehalten,
weil sie uns endlich doch an eine Küste führen würde, wo wir
Trinkwasser einnehmen könnten.
Diese Vermutung bewährte sich auch bald, denn am 16. Juni
1703 rief plötzlich der Schiffsjunge im Mastkorbe: Land! Land!
und am 17. Juni warfen wir an einer sich unermeßlich weithin
ausdehnenden Küste Anker. Wir blieben in Ungewißheit darüber,
ob wir uns vor einer Insel oder einem Festlande befanden. Der
Kapitän beauftragte nun zwölf Matrosen, das lange Boot auszu-
setzen und sich bewaffnet und mit Wassergefäßen versehen ans
Land zu begeben, um Trinkwasser aufzusuchen. Weil ich mich
nun nach so langer, sturmbewegter Fahrt danach sehnte, einmal
wieder festes Land unter den Füßen zu haben und zudem ver-
mutete, daß ich bei einem kleinen Ausflug in dies fremde Land
wichtige Entdeckungen machen könnte, so bat ich den Kapitän,
mir zu erlauben, die Matrosen zu begleiten. Herr Nicholas erteil-
te mir diese Erlaubnis bereitwilligst; ich schiffte mich wohlge-
mut mit den Matrosen ein und war sehr gespannt auf die neuen
Dinge, die ich in dieser unbekannten Welt sehen würde.
Als wir jedoch das Land betraten, sah ich mich anfangs in
meinen Hoffnungen getäuscht, denn das felsige Land lag in öder
Einförmigkeit da und zeigte keine Spur von menschlichen Be-
wohnern oder Tieren. Auch fand sich keine Quelle und kein Fluß,
so daß unsere Leute die Küste entlang gingen, um weiter nach
Süßwasser zu suchen. Diesen Aufenthalt benutzte ich, um etwa
eine halbe Stunde weiter ins Land zu gehen und mich nach sei-
nen etwaigen Eigentümlichkeiten umzuschauen, allein ich fand
auch auf dieser Exkursion nichts Bemerkenswertes und kehr-
te bald nach dem Meeresufer zurück. Doch wer malt meinen
Schrecken, als ich hier das Boot nicht mehr vorfand, sondern es
schon wieder in See erblickte und die Matrosen mit der äußer-
sten Anstrengung, als gälte es Tod oder Leben, unserem Schiffe
zurudern sah. Ich schrie aus Leibeskräften, mich aufzunehmen,
allein sie hörten mich nicht oder konnten mich nicht mehr hören,
weil sie schon zu weit in See waren. In Verzweiflung erhob ich
doch wieder meinen Ruf so laut ich konnte, als mir plötzlich über
einer Entdeckung, die ich machte, von starrem Entsetzen der Ton
in der Kehle stecken blieb. Ich entdeckte nämlich, daß die Ma-
trosen sich vor einem ungeheuren, kirchturmhohen Geschöpfe,
das sie verfolgte, so gewaltig in die Riemen legten. Die See reich-
te dem verfolgenden Ungeheuer nur bis an die Knie, doch war
zu hoffen, daß es trotz seiner Siebenmeilenstiefelschritte unsere
Leute nicht erreichte, denn das Boot hatte mindestens eine Vier-
telstunde Vorsprung und das Meer war zwischen ihm und dem

Ungetüm voll scharfer Klippen und Korallenriffe, die das Vor-


wärtsschreiten hemmten. Das erfuhr ich alles später, denn kaum
hatte ich den Grund der Flucht der Matrosen begriffen, als ich
mich aufs Laufen legte, um mich weit von der Küste im Innern
des Landes zu verbergen. Ich fand einen steilen Hügel, den ich
erkletterte, um mich nach einem sicheren Versteck umzuschau-
en, und sah bei dieser Gelegenheit, daß das Land keineswegs öde,
sondern vollkommen bebaut und in guter Kultur gehalten war.
Auffallend war mir die Länge des Grases, das am Hügel wuchs,
denn die Höhe seiner Halme betrug mindestens zwanzig Fuß.
Der Gedanke, mich in diesem hohen Grase leicht verbergen
zu können, beruhigte mich etwas, und ich setzte meine Wande-
rung behutsam fort. Bald gelangte ich auf einen breiten, festen
Weg, den ich für eine im guten Stande erhaltene Landstraße hielt,
erfuhr aber später, daß es nur ein durch ein Kornfeld führender
Fußpfad für die Eingeborenen war. Auf dem Wege fortschreitend,
konnte ich zu beiden Seiten nichts sehen, denn die Halme des
Getreides, das bereits der Ernte entgegengereift war, überragten
mich um mehrere Manneslängen, ja, ich überschätze die Höhe
kaum, wenn ich sie auf mindestens vierzig Fuß bestimme. Über
eine Stunde bedurfte ich, um das Ende des Feldes zu erreichen,
das ich nun von einer etwa hundertundzwanzig Fuß hohen Hek-
ke eingehegt fand, aus der Bäume von solcher Höhe aufragten,
daß sich ihre Wipfel in den Wolken verloren. Am Ende des Feldes
war eine steinerne Treppe angebracht, die zum nächsten Felde
führte; diese Treppe versuchte ich zu ersteigen, stand aber bald
davon ab, weil ich die Unmöglichkeit einsah, denn jede der glatt-
behauenen Stufen hatte Manneshöhe. Ich suchte nun nach einem
Schlupfwege durch den Zaun, und hatte auch bald einen solchen
gefunden, als ich über mich blickend einen Eingeborenen die
Treppe betreten sah, der an Größe dem Verfolger des Boots nicht
nachstand. Ein kalter Schauder überlief mich, wenn ich daran
dachte, daß dies kirchturmhohe Ungetüm mich entdecken und
verfolgen könnte. Ihm zu entlaufen war ein Ding der Unmöglich-
keit, denn nach der Länge seiner Beine zu urteilen, konnte dieser
Riese mit jedem Schritt mindestens zehn Ellen abschreiten; ich
hielt es daher fürs geratenste, mich im Korn zu verstecken. Von
hier aus sah ich, wie er von der Treppe ins Feld hineinschaute, als
wenn er sich nach jemand umsähe, sodann erhob er seine Stim-
me, die dem Rollen des Donners gleichkam und mich erbeben
machte. Augenscheinlich hatte er seine Kameraden angerufen,
denn es dauerte nicht lange, so kamen sechs ähnliche Giganten,
die wie er Sicheln in der Größe von fünf oder sechs aneinander-
geschmiedeter Sensen in den Händen trugen. Die Hinzugekom-
menen waren schlechter und dürftiger gekleidet als der erste, und
da sie sich ihm demütig und unterwürfig näherten, so schloß ich
daraus, daß es wohl seine Knechte oder Diener sein müßten. Ich
hatte mich darin nicht getäuscht, denn der Herr befahl ihnen, an
die Arbeit zu gehen und das Korn abzuschneiden. Sie machten
sich auch sogleich rasch ans Werk und brachten mich dadurch
in die äußerste Gefahr, von ihren Sicheln zerschnitten oder von
ihren Füßen zermalmt zu werden. Nur die eiligste Flucht konnte
mich retten, aber dieser Flucht standen Schwierigkeiten entgegen,
denn hin und wieder standen die Getreidehalme nur einen Fuß
breit auseinander, so daß ich mich nur mit Mühe hindurchzwän-
gen konnte. Endlich gelang es meinen verzweifelten Anstren-
gungen, vorwärtszukommen, bis ich an einen Teil des Feldes
gelangte, wo sich das Korn durch Wind und Regen gelegt hatte.
Hier war es mir unmöglich, weiter vorzudringen, weil die Halme
so dicht übereinanderlagen, daß meine Kräfte viel zu schwach
waren, mich hindurchzuarbeiten, außerdem verwundeten mich
die harten, scharfen Spitzen der herabgefallenen Ähren, so daß
ich erschöpft von Anstrengung und Schmerz in einer Furche zu-
sammensank. Kaum hundert Ellen von mir hörte ich die immer
näherkommenden Schnitter arbeiten und verwünschte hundert-
mal meine unbändige, törichte Reiselust, die mich von Frau und
Kindern weg übers Meer getrieben und nun in so große Not und
Gefahr gebracht hatte. Während meiner Angst und meines Kum-
mers dachte ich an Liliput, wo die Einwohner mich als einen
wunderbaren Koloß anstaunten, wo ich es vermochte, eine gan-
ze Kriegsflotte mit meinen Händen fortzuführen und Taten zu
tun, die ewig in den Geschichtsbüchern dieses Reichs prangen
und die Bewunderung der Nachwelt rege erhalten werden. Mich
überkam ein äußerst demütigendes und drückendes Gefühl über
meine jetzige Unbedeutendheit diesen Riesen gegenüber, denen
ich ebenso winzig erscheinen mußte, wie mir die Liliputer er-
schienen waren. Unsere Philosophen haben vollkommen recht,
wenn sie behaupten, daß groß und klein nur Begriffe seien, die
sich durch Vergleichung ergeben. Vielleicht gibt es ein Land, wo
die Menschen so klein sind, daß ihnen gegenüber wiederum die
Liliputer als Riesen erscheinen würden, und unmöglich ist es
auch nicht, daß in irgend einem Teile der Welt diese wandelnden
Türme, die mich hier in Angst und Schrecken setzten, sich zu
den Eingeborenen wie Liliputer verhalten würden.
In solchem Nachsinnen über die Wunder der Natur und die
Mannigfaltigkeit ihrer Geschöpfe verloren, wurde ich plötzlich
durch in der Nähe erdröhnende Tritte und durch das laute Nie-
derprasseln von Halmen aufgeschreckt, denn es war mir einer
der Schnitter bereits so nahegekommen, daß mich sein nächster
Tritt zermalmen mußte. In größter Todesangst schrie ich so laut
auf, wie ich konnte und ward von dem Geschöpf vernommen,
das stillstand, einige Zeit am Boden umhersuchte und mich end-
lich erblickte. Es bückte sich, um nach mir zu haschen, tat dies
aber mit Vorsicht, wie wenn man bei uns nach einem Wiesel
oder sonst nach einem bissigen Tierchen hascht; ich suchte mich
wieder zwischen den Halmen zu verbergen, aber kaum hatte ich
einige verzweifelte Sprünge gemacht, als ich mich vom Daumen
und Zeigefinger des Riesen gepackt und emporgehoben fühlte. Er
brachte mich dicht vor seine Augen und betrachtete mich kopf-
schüttelnd mit der größten Verwunderung. Fast zerbrachen mir
die Rippen von dem Druck seiner Finger, und ich machte die de-
und wehmütigsten Gebärden, faltete die Hände wie zum Gebet
und sprach dann mit kläglicher Stimme, ich weiß nicht mehr,
welche bittenden Worte, denn ich fürchtete jeden Augenblick,
daß er mich wie ein giftiges Insekt von sich schleudern und aus
einer Höhe von mindestens sechzig Fuß auf den Boden schmet-
tern möchte. Allein der Riese schien an meinen Bewegungen und
an meiner Stimme Gefallen zu finden, er betrachtete mich immer
aufmerksamer und schien erstaunt, daß ich in artikulierten Tö-
nen sprach, obgleich er natürlich kein Wort von meiner Sprache
verstehen konnte. Als ich ihn so aufmerksam sah, beeilte ich
mich, durch Wimmern und Stöhnen den Schmerz auszudrücken,
den mir der Druck seiner Finger verursachte, und glücklicher-
weise schien er mich vollkommen zu verstehen, denn er steckte
mich sanft und behutsam in seine Rocktasche. Dann lief er mit
einer Hast, die in mir das Gefühl hervorrief, als ob ich mich in
der Tasche des Riesen auf einem im Sturme schwankenden und
auf den Wogen tanzenden Schiffe befände, zu seinem Herrn, der
ein wohlgenährter Pächter und dieselbe Person war, die ich zu-
erst auf der Treppe erblickt hatte.
Ich hörte, wie ihm der Schnitter in eiligen Worten Bericht
über seinen merkwürdigen Fund erstattete, worauf er mich aus
der Tasche nahm und mich seinem Herrn auf der Hand vorzeigte.
Dieser nahm einen abgerissenen Strohhalm von der Länge eines
spanischen Rohrs und hob mir zunächst damit die Rockschöße
auf, als ob er untersuchen wollte, ob dies ein Stück von meiner
Haut oder ein Kleidungsstück sei. Hierauf blies er mir – es war,
als ob der heftigste Windstoß mein Gesicht traf – das Haar seit-
wärts, um mein Gesicht besser beobachten zu können, betastete
meine Hände, meine Füße und meinen Rücken und stieß einen
Ausruf der Verwunderung nach dem anderen aus. Endlich rief er
seine übrigen Leute zusammen und zeigte mich den Erstaunten
mit einem Lächeln und mit Worten, die zu sagen schienen, daß
sie ein so kleines Menschlein wohl noch nie in ihrem Leben ge-
sehen haben mochten. Alsdann setzte er mich behutsam auf den
Boden, jedoch so, daß ich auf allen vieren zu liegen kam, indem
er zu glauben schien, ich würde mich wie ein Vierfüßler bewe-
gen. Diesen Glauben aber suchte ich ihm sogleich dadurch zu
benehmen, daß ich aufstand und langsam vor- und rückwärts
ging, womit ich den Riesen zugleich andeuten wollte, daß ich
nicht die Absicht hätte, zu entfliehen. Nun setzten sich alle im
Kreise um mich herum, um mich und meine Bewegungen bes-

ser beobachten zu können; ich nahm meinen Hut ab und mach-


te dem Pächter eine tiefe Verbeugung, dann sprach ich bittende
Worte und kam endlich auf den Einfall, ihm meine gefüllte Geld-
börse zu überreichen. Er nahm sie lächelnd und kopfschüttelnd
auf die Handfläche und drehte sie mit einer Nadel, die er aus sei-
nem Halstuch zog, mehrmals hin und her, schien aber durchaus
nicht zu begreifen, was er aus dem Dingelchen machen solle. Ich
bedeutete ihm nun durch Gebärden, er möge seine Hand flach
auf die Erde legen, und als er dies getan, schüttelte ich ihm den
Inhalt der Börse, der aus einigen zwanzig Gold- und Silbermün-
zen bestand, auf die Handfläche. Er feuchtete nun die Spitze sei-
nes Zeigefingers am Munde, tupfte eins der größten spanischen
Geldstücke auf und hielt es dicht vors Auge, ohne jedoch auch
jetzt zu begreifen, was er mit dem Goldstäubchen machen sollte.
Dann bedeutete er mich durch Zeichen, die Börse nebst Inhalt
nur wieder in die Tasche zu stecken, was ich auch gern tat, in-
dem ich es nämlich für das beste hielt, mein Geld zu behalten.
Inzwischen hatte sich der Pächter völlig überzeugt, daß ich
ein vernünftiges Geschöpf sei, mit dem ein Wort zu reden sein
müsse und richtete deshalb mit seiner Donnerstimme verschie-
dene Fragen an mich, die ich ihm freilich nicht beantworten
konnte, obschon ich in mehreren Sprachen den Versuch machte.
Darauf schickte er seine Knechte wieder an die Arbeit, zog sein
Schnupftuch aus der Tasche und breitete es über seine flach auf
den Boden gelegte Hand mit dem Bedeuten, daß ich hinauf- und
hineinsteigen möchte. Dies bewerkstelligte ich leicht, da die Dik-
ke seiner Hand nicht viel über einen Fuß betrug. Nachdem ich
mich nun auf seinem Schnupftuch in eine bequeme Lage gebracht
hatte, band er die Zipfel des Tuchs über mir zusammen und trug
mich nach seinem Hause. Hier rief er mit schelmischem Lachen
seine Frau und zeigte mich ihr, als er die Zipfel des Schnupftuchs
wieder gelöst hatte. Diese aber lief, nachdem sie einen flüchtigen
Blick auf mich geworfen, kreischend davon, gleichwie es bei uns
die Weiber zu tun pflegen, wenn man ihnen eine Maus, eine Spin-
ne oder einen Frosch nahebringt. Als sie mich jedoch, von ihrem
laut auflachenden Mann einigermaßen beruhigt, eine Zeitlang
näher betrachtet hatte und erkannte, daß ich mich ihrem Gatten
gegenüber durch meine Gebärdensprache so benahm, wie es ei-
nem vernünftigen Geschöpf zukommt, ward sie zutraulich und
endlich sogar recht freundlich gegen mich.
Es war gerade Mittagszeit und ein Dienstmädchen trug das
aus einem ungeheuren Stück Fleisch bestehende Essen in einer
Schüssel auf, die wenigstens zwanzig Fuß im Durchmesser hatte.
Nachdem sich nun der Pächter und seine Frau nebst drei Kindern
und einer alten Großmutter zum Essen niedergesetzt hatten, hob
mich der Pächter auf den etwa dreißig Fuß hohen Tisch, von des-
sen Rande ich mich vorsichtig fernhielt, damit ich nicht durch
Herabfallen mein Leben einbüßte oder alle Glieder zerbräche.
Sodann zerschnitt die Frau einen Bissen Fleisch in ganz kleine
Stücke, zerkrümelte ein Stückchen Brot darüber und setzte mir
beides in einem hölzernen Tellerchen vor, das vielleicht den Kin-
dern zum Spielzeug diente. Ich drückte der Frau durch eine höf-
liche Verbeugung sogleich meinen Dank aus, zog mein Besteck
mit Messer und Gabel hervor und fing an zu essen, worüber sich
alle sehr zu freuen schienen. Die Frau sorgte nun auch dafür, daß
ich nicht Durst litt, und füllte für mich ein kleines Gläschen, das
etwa sechs Schoppen halten mochte, mit Getränk. Ich faßte das
Glas mit beiden Händen, hob es mit einiger Schwierigkeit an den
Mund und trank auf die Gesundheit der guten Frau, indem ich,
mich höflich gegen sie verneigend, meine Stimme so laut erhob
wie ich konnte, worüber alle in ein solch schallendes, donnern-
des Gelächter ausbrachen, daß mir fast das Trommelfell platzte
und ich taub zu werden fürchtete. Das Getränk schmeckte wie
schwacher Most, war aber sehr angenehm und erfrischend. Mein
Herr (ich werde fortan den Pächter immer so nennen) winkte
mir nun, an seinen hölzernen Teller zu treten, und als ich, dem
Winke folgend, auf den Teller losmarschierte, stolperte ich über
eine Brotkruste und fiel der Länge nach auf den Tisch, ohne mich
jedoch im mindesten zu verletzen. Ich erhob mich sogleich wie-
der, und als ich bemerkte, daß die guten Leute besorgt um mich
waren, schwenkte ich meinen Hut und bewegte meine gesunden
Glieder, um ihnen zu zeigen, daß ich keinen Schaden genom-
men hätte. Indes, bei meinem weiteren Vorschreiten zum Teller
meines Herrn, sollte ich noch in eine drohende Gefahr geraten,
denn der jüngste Sohn, ein ausgelassener Knabe von zehn Jahren,
packte mich bei den Beinen und hob mich so hoch in die Luft,
daß ich an allen Gliedern zitterte. Sein Vater aber entriß mich
sofort seinen Fingern und gab ihm eine so derbe, flatschende
Ohrfeige, daß die hingereicht haben würde, bei uns zulande eine
Schwadron Dragoner niederzuschmettern. Außerdem befahl er

dem unartigen Buben, sogleich den Tisch zu verlassen. Dieser


Befehl aber flößte mir Besorgnis ein, weil ich wußte, daß Kna-
ben rachsüchtig sind und sich auch ohne Veranlassung oft sehr
grausam gegen kleine Geschöpfe, wie Sperlinge, junge Katzen,
Kaninchen und so weiter benehmen. Ich fiel deshalb vor meinem
Herrn auf die Knie und legte, auf den Knaben deutend, durch
Gebärden eine gute Fürsprache für ihn ein, so daß er ihm verzieh
und ihn wieder am Tische Platz nehmen ließ. Damit versicherte
ich mich der Gewogenheit des kleinen Schlingels, und um mich

seiner noch mehr zu vergewissern, ging ich auf ihn zu und küßte
ihm die Hand.
Im weiteren Verlauf des Essens hörte ich plötzlich in meiner
Nähe ein Brummen und Schnurren, als ob zwölf Strumpfwir-
ker in Tätigkeit wären, und bemerkte, daß das Geräusch von
der Hauskatze herrührte, die meiner Herrin auf den Schoß ge-
sprungen war und von ihr gefüttert und gestreichelt wurde. Das
Tier, von der Größe eines Rhinozerosses oder Nilpferdes, bot mit
seinen funkelnden Augen einen entsetzlichen Anblick und ließ
mich fürchten, daß es plötzlich die fünfzig Fuß, die zwischen
mir und ihm lagen, überspringen und mir seine fürchterlichen
Krallen, mit denen verglichen Löwentatzen wie unsere Katzen-
pfötchen erschienen, in den Leib schlagen würde. Allein, als ich
sah, daß die Herrin meine Besorgnisse teilte und das Ungeheuer
festhielt, ermutigte ich mich und ging dreist auf die Katze los,
indem ich fest meinen Blick auf ihre funkelnden Augen richtete,
weil ich immer gehört hatte, daß dies wilden Tieren Respekt ein-
flöße, während sie sogleich gefährlich werden, wenn man Furcht
zeigt oder sich zur Flucht wendet. Die Katze wich sogar etwas

vor mir zurück, als ich dicht vor ihren Kopf trat und machte kei-
ne Miene, auf mich loszuspringen. Weniger Besorgnis hatte ich
vor den beiden Haushunden, die ins Zimmer kamen, um sich die
Knochen unterm Tisch hervorzusuchen; der eine war eine Dog-
ge, so groß wie vier Elefanten, der andere, ein Windhund, war
noch etwas größer, aber nicht so plump gebaut.
Nach dem Mittagessen trat eine Amme mit einem einjährigen
Säugling ins Zimmer, der mich sogleich erblickte und, ein Spiel-
zeug in mir witternd, mit den Händen nach mir langte und so
fürchterlich zu schreien anfing, daß man das Geschrei von der
Londoner Brücke bis nach Chelsea, also über eine halbe Stun-
de weit hätte hören können. Die Mutter, um den Schreihals zu
befriedigen, war so unvorsichtig, daß sie mich ergriff und mich
den zappelnden Händen des Kindes übergab, das mich nach
kleiner Kinder Art sofort in den Mund steckte. Ich aber brüll-
te in entsetzlicher Todesangst so laut, daß mich das kleine Un-
getüm erschrocken fallen ließ, wodurch ich unfehlbar meinen
Tod gefunden haben würde, wenn mich die Mutter nicht in ihrer
Schürze aufgefangen hätte. Die Amme brummte und schnurrte
nun wie ein Dutzend Löwinnen, um das Kind zu beruhigen, was
ihr auch endlich gelang, nachdem sie noch die Kinderklapper zu
Hilfe genommen hatte, die in Gestalt eines halben, mit einem
Weberbaum versehenen und mit schweren Kieselsteinen gefüll-
ten Oxhoftfasses, an einem Tau dem Säugling am Gürtel hing.
Nach Beendigung der Mahlzeit ging mein Herr wieder mit
seinen Arbeitern aufs Feld, nachdem er, wie ich aus seinen Mie-
nen und Bewegungen schließen konnte, seiner Frau anbefohlen
hatte, sorgfältig auf mich zu achten und mich vor Schaden zu
bewahren. Kaum war er fort, so gab ich der Herrin dadurch, daß
ich die Augen schloß und den Kopf auf die Seite legte, zu verste-
hen, daß ich sehr ermüdet sei, was sie auch sogleich bemerkte;
sie trug mich auf ihr eigenes Bett und deckte mich sorgfältig mit
einem ihrer feinsten Batisttaschentücher zu. Das Tuch war aber
dennoch dicker und gröber als das gröbste Segeltuch, das man in
England für die Kriegschiffe verwendet.
Ich schlief einige Stunden ruhig und erwachte endlich über ei-
nem Traum, der mich in die ferne Heimat versetzt und in die Mit-
te meiner geliebten Familie geführt hatte. Als ich, infolge dieses
Traums recht wehmütig gestimmt, mich meiner verlassenen Lage
unter wildfremden Riesen erinnerte, betrachtete ich die Gegen-
stände um mich genauer und fand, daß mein etwa zwanzig Ellen
breites und vierundzwanzig Fuß über dem Boden erhabenes Bett
in einem Schlafgemach von mindestens zweihundert Fuß Breite
und dreihundert Fuß Länge stand. Meine Herrin, die ihren häus-
lichen Geschäften nachgegangen war, sah sich nicht weiter nach
mir um, weil sie mich im Bette hinlänglich vor allen Gefahren
sicher glaubte. Doch darin sollte sie sich geirrt haben. Ich mochte
nämlich wohl eine halbe Stunde wachend dagelegen und an mein
Schicksal gedacht haben, als ich plötzlich ein starkes, krabbelndes
und nagendes Geräusch an den Pfosten meines Bettes hörte, und
ehe ich mir’s versah, kletterten zwei Ratten von der Größe star-
ker Bullenbeißer zu mir herauf und machten sofort Miene, mich
anzugreifen, indem sie mich zähnefletschend bedrohten. Glück-
licherweise hatte ich meinen Degen zur Hand, zog ihn flugs zu
meiner Verteidigung und führte einen so glücklichen Stoß gegen
die eine der mich anspringenden Ratten, daß ihr mein Degen bis
ans Heft in den dicken, aufgeschwemmten Leib fuhr. Die Ratte
stürzte in Todeszuckungen auf dem Bett zusammen und die an-
dere, das Schicksal ihres Kameraden fürchtend, entfloh eiligst.
Bald nach meinem siegreichen Kampfe trat die Herrin ins
Schlafgemach und war sehr erschrocken, als sie mich und das
Bett mit Blut befleckt sah; ich beruhigte sie jedoch bald, indem ich,
ihr meine gesunden Glieder zeigend, munter auf dem Bette hin
und her spazierte und triumphierend auf die tote Ratte deutete.
Erfreut und mich wegen meiner Tapferkeit liebkosend, hob mich
die Frau vom Bett und befahl der eintretenden Magd, eine Zange
zu holen und das getötete Tier zum Fenster hinauszuwerfen.
Zweites Kapitel
Der Verfasser schildert Gestalt und Eigenschaften der jüngsten Toch-
ter des Pächters und wird von ihr in sorgsame Pflege genommen. Der
Verfasser wird auf einem Jahrmarkt für Geld gezeigt und später zu dem
gleichen Zweck nach der Hauptstadt geführt.

Meine Herrin hatte eine gutgeartete, neunjährige Tochter, die für


ihr Alter noch ziemlich klein war, indem sie kaum die Höhe von
vierzig Fuß erreicht hatte. Gleichwohl war das Kind aber schon
sehr geschickt im Nähen und Stricken und wußte seine Puppe mit
vielem Geschmack anzukleiden und herauszuputzen. Auf den
Rat ihrer Mutter gab mir das Töchterchen die Wiege seiner Pup-
pe zum Nachtlager und bereitete mir, da sie viel Gefallen an mir
fand, dies Lager außerordentlich weich und sorgsam. Überhaupt
sorgte die Kleine aufs aufmerksamste für meine Bequemlichkeit,
kleidete mich wie ihre Puppe aus und an, und verfertigte mir
Hemden und sonstige Wäsche von der feinsten Leinwand, die
sie auftreiben konnte. Freilich war auch diese immer noch gröber,
als mein aus grober Leinwand bestehendes Sacktuch. Zugleich
war sie meine Sprachlehrerin, und dem Verkehr mit ihr verdank-
te ich’s, daß ich bei meinem Sprachtalent bald die notwendigsten
Lebensbedürfnisse in der Sprache der Eingeborenen bezeichnen
konnte. Die liebenswürdige Kleine gab mir den Namen Grildrig,
den die Familie und später sogar das ganze Königreich für mich
beibehielt. Das Wort bezeichnet ungefähr das lateinische Homun-
culus oder das italienische Uomicciulo, wir können es, uns an un-
ser berühmtes Märchen erinnernd, am besten durch Däumling
übersetzen. Ich nannte meine Pflegerin Glumdalclitsch, was wir
in unserer Sprache etwa durch »mütterliche Freundin« wieder-
geben können. Ich würde mich des größten Undanks schuldig
machen, wenn ich die treue und liebevolle Pflege, die mir Glum-
dalclitsch zuteil werden ließ, nicht gebührend anerkennte; nie
trennten wir uns, solange ich in Brobdingnag, so hieß das Land
der Riesen, war, und vorzugsweise verdanke ich dieser mütter-
lichen Freundin die Erhaltung meines Lebens in einem Lande, in
dem mich meiner Kleinheit wegen alle Augenblicke die tödlich-
sten Gefahren bedrohten.
Nach und nach verbreitete sich in der ganzen Nachbarschaft
das Gerücht, mein Herr habe auf dem Felde ein Geschöpfchen
von der Größe eines Splacknuks (eines der kleinsten vierfüßi-
gen Tiere des Landes) gefunden, das jedoch vollkommene Men-
schengestalt besitze, eine eigene Sprache spreche und sich sehr
vernünftig und anständig betrage. Das Gerücht kam auch einem
anderen in der Nähe wohnenden Pächter, einem alten mürri-
schen Kauz, zu Ohren, den alsbald die Neugier trieb, meinem
Herrn einen Besuch zu machen, um mich in Augenschein zu
nehmen. Mein Herr stellte mich sogleich vor dem Gast auf den
Tisch, wo ich auf seinen Befehl hin und her ging, den Degen zog,
ihn wieder einsteckte, mich verbeugte und dann dem Fremden
das Kompliment machte: er sei vollkommen. Glumdalclitsch hat-
te es mich gelehrt. Aufs höchste verwundert, setzte nun der alte
Mann seine Brille auf, um mich genauer zu betrachten. Die Brille
aber, hinter deren Gläsern mir seine Augen wie der Vollmond
erschienen, wenn er durch zwei Fenster leuchtet, gab dem Alten
ein so komisches Ansehen, daß ich mich nicht enthalten konnte,
laut aufzulachen, und als die Umstehenden den Grund meiner
lustigen Stimmung merkten, fielen sie mit ihrem donnernden
Gelächter ebenfalls ein, was der Alte sehr übel aufnahm und mir
einen Blick voll Groll und Ärger zuwarf. Um sich an mir zu rä-
chen, gab er auch meinem Herrn den mir sehr widerwärtigen Rat,
mich auf dem Jahrmarkt der nächsten Stadt als Merkwürdigkeit
für Geld zu zeigen. Der böse Rat fiel leider bei meinem Herrn,
wie ich wohl merkte, nur auf allzu fruchtbaren Boden, und am
anderen Morgen erfuhr ich durch Glumdalclitsch, daß ich mich

in meiner Vermutung nicht geirrt habe und für eine Schaubude


des Jahrmarkts bestimmt sei. Das arme Mädchen, das nicht al-
lein fürchtete, daß mir während des Marktgewühls ein Unheil
widerfahren könnte, sondern auch meine Schamhaftigkeit und
mein Ehrgefühl zu würdigen wußte, legte mich an ihren Busen
und weinte bittere Tränen über mein Unglück. Sie erzählte, Vater
und Mutter hätten ihr versprochen, der Grildrig solle ihr gehö-
ren; wie sie jedoch sähe, werde sie wieder so behandelt wie im
vergangenen Jahr, wo ihr die Eltern ein Lämmchen geschenkt,
hinterher aber, als es feist geworden, es dennoch dem Metzger
verkauft hätten. Wie leicht, klagte sie weiter, könnte mir der rohe
Jahrmarktspöbel mit seinen plumpen Fäusten die Rippen in mei-
nem zarten Leibchen oder sonst etwas zerbrechen, und dann sei
ihr liebstes Spielzeug dahin. Was mich betrifft, so fürchtete ich
mich nicht sowohl vor den plumpen Fäusten neugieriger Riesen,
als vielmehr vor der Schmach, so öffentlich wie ein Wundertier
zur Schau gestellt zu werden. Allein mit der Zeit wußte ich mich
mit dem Gedanken zu trösten, daß mir dies Unglück nicht zum
Vorwurf gemacht werden könne, denn hier in Brobdingnag hät-
te sich schon jeder Engländer, und wäre es Seine Majestät von
Großbritannien selbst gewesen, diesen Unfug wohl oder übel
gefallen lassen müssen.
Wirklich brachte mich nun, nach dem Rat des alten mürri-
schen und geldgeizigen Kauzes, mein Herr in einer Schachtel
zum Jahrmarkt in die nächste Stadt. Zu meinem großen Trost
begleitete uns Glumdalclitsch, die der Vater hinter sich aufs Pferd
nahm. Die Schachtel, worin ich mich befand, hatte nur eine klei-
ne Tür und mehrere Löcher zum Luftschöpfen, aber meine kleine
Pflegerin hatte Sorge getragen, daß ich’s möglichst bequem darin
hätte. Sie hatte mir die Matratze ihres Puppenbetts und einige
weiche Puppenkissen hineingelegt, aber dennoch ward ich auf
dieser Reise, obgleich sie nur eine halbe Stunde währte, fürch-
terlich zusammengerüttelt, denn das Pferd, das bei jedem Schritt
etwa vierzig Fuß zurücklegte, trabte mehr als haushoch.
Nachdem mein Herr sehr wohlgemut, ich aber wie gerädert
in der Stadt angekommen war, stieg er in einem ihm bekannten
Wirtshause ab und beriet sich mit dem Wirt über das Verfahren
bei meiner Schaustellung. Auf den Rat des in solchen Dingen er-
fahrenen und gewandten Menschen mietete er sodann den Gul-
trud oder Ausrufer, damit dieser in der Stadt bekannt mache, es
sei im »Grünen Adler« ein höchst merkwürdiges Geschöpf von
der Größe eines Splacknuks zu sehen, das vollkommene Men-
schengestalt habe, einige brobdingnagsche Worte sprechen und
allerlei ergötzliche Possen treiben könne.
Die Bekanntmachung hatte alsbald großen Erfolg, und ich
ward in einem der größten Zimmer des Gasthofs vor dem zahl-
reich versammelten Publikum auf einen Tisch gestellt. Glumdal-
clitsch stand auf einer Fußbank dicht an meinem Tisch, um auf
mich achtzuhaben und mir zu befehlen, was ich tun sollte. Mein
Herr wußte es mit Hilfe der Polizei einzurichten, daß zu jeder
Versammlung nur dreißig Personen zugelassen wurden, damit
ich durch zu großes Gedränge nicht in Schaden und Gefahr käme.
War nun die gehörige Zahl versammelt und der Saal einstweilen
abgesperrt, so holte mich meine Pflegerin aus der Schachtel her-
vor und ließ mich auf dem Tisch herumspazieren, was ich dann
mit großer Würde und vielen Verneigungen tat. Sodann legte sie
mir verschiedene Fragen vor, von denen sie wußte, daß ich sie in
der Landessprache beantworten könnte, was die Zuschauer so
in Erstaunen setzte und belustigte, daß sie nicht müde wurden,
verwundert die Hände zusammenzuschlagen und mich durch
ihr fürchterliches Gelächter zu betäuben. Glumdalclitsch gab
mir auch einen Strohhalm, den ich wie eine Pike handhabte und
damit regelrecht exerzierte. Außerdem mußte ich noch hundert
ähnliche Possen treiben, die mich schließlich, nachdem ich zwölf
verschiedenen Gesellschaften gezeigt war, so ermüdeten, daß
ich halbtot zusammensank. Da die Personen, die mich bereits
gesehen, der draußen stehenden Menge versicherten, daß meine
Gestalt und meine Künste noch bei weitem die Anpreisungen des
Ausrufers überträfen und erstaunliche Berichte über den Unter-
schied zwischen meiner und ihrer Größe gaben, so fehlte nicht
viel, daß die Leute in unbändiger Schaulust die Tür erbrochen
hätten. Indes mein Herr hielt die Bestimmung, daß nur immer
dreißig Personen zugelassen werden sollten, energisch aufrecht
und litt aus eigenem Interesse auch nicht, daß mich jemand außer
Glumdalclitsch berühre; um jede zu große Annäherung und Be-
rührung zu vermeiden, wurde der Tisch mit Bänken umgeben, die

niemand besteigen oder betreten durfte. Ein tückischer Schulbu-


be aber konnte es trotz des Verbots und der Vorkehrungen doch
nicht unterlassen, mir eine Haselnuß nach dem Kopf zu werfen,
die etwa so groß wie vier Kokosnüsse zusammen war, und die
mit solcher Gewalt vor mir niederschlug, daß sie mir unfehlbar
den Schädel zerschmettert haben würde, wenn sie mich getrof-
fen hätte. Ich hatte jedoch die Genugtuung, daß der kleine Böse-
wicht tüchtig geprügelt und zur Tür hinausgeworfen wurde.
Nachdem mein Herr eine bedeutende Summe Geldes durch
meine Schaustellung gewonnen hatte, machte er bekannt, daß
er mich am nächsten Jahrmarkt wieder zeigen werde und reiste
mit mir ab, sorgte aber zuvor für ein bequemeres Transportmittel,
und das war sehr geraten, denn ich bedurfte nach den Anstren-
gungen, die ich durchgemacht, der größten Gemächlichkeit und
Ruhe, um wieder einigermaßen zu Kräften zu kommen. Kaum
aber war ich zu Hause und wieder etwas munter und erstarkt, als
meine Plage auch von neuem anging, denn nun kamen, oft auf
dreihundert Meilen Wegs her, eine Menge Herren von Stande mit
ihren Familien, um das Wundermännlein zu sehen, das ein so
großes Aufsehen auf dem letzten Jahrmarkt gemacht habe. Kei-
nen Tag, den Mittwoch ausgenommen, der in Brobdingnag als
Sonntag gefeiert wird, hatte ich Ruhe, und mein Herr, der sich
meine Vorstellungen gut bezahlen ließ, nahm wahre Schätze ein.
Je mehr Geld aber, sowohl in England wie in Brobdingnag,
der Mensch hat, desto mehr will er haben, und somit trieb die
Habsucht meinen Herrn zu dem Entschluß, mich in allen größe-
ren Städten des Königreichs für Geld zu zeigen. Er versah sich
also mit allem Nötigen zu einer weiten Reise, bestellte sein Haus,
nahm für lange Zeit von Weib und Gesinde Abschied und mach-
te sich am 17. August des Jahres 1703 auf den Weg nach der Resi-
denzstadt des Landes, die ungefähr in der Mitte des Landes und
etwa dreitausend Meilen von seinem Dorfe entfernt liegt. Glum-
dalclitsch saß wie gewöhnlich hinter dem Vater zu Pferde und
hielt sorgsam die von mir bewohnte Schachtel, die sie diesmal so
bedachtsam mit ihren Puppenbettchen ausgepolstert hatte, daß
mir die Reise wirklich nicht so beschwerlich wurde wie das vo-
rige Mal. Wir waren nur von einem jungen Knecht begleitet, der
mit dem Gepäck hinter uns herritt.
Meine mütterliche Freundin tat alles mögliche, um mir die
weite Reise erträglich und angenehm zu machen. Sie fütterte
mich mit den wohlschmeckendsten Speisen und nahm mich oft

liebkosend aus der Schachtel, um mir die schönen Gegenden zu


zeigen, die wir durchreisten. Da sah ich denn, mich zugleich der
frischen Luft erfreuend, allerdings Staunenswertes in Hülle und
Fülle. Wir setzten über Ströme, die bedeutend breiter als der Nil
und Ganges waren und passierten Bäche, die mindestens die Brei-
te und den Wassergehalt der Themse an der Londonbrücke hat-
ten. Auf der ganzen Reise, die zehn Wochen dauerte, versäumte
mein Herr nicht, mich nicht allein in den Städten, sondern auch
in Dörfern und auf großen Gütern zu zeigen, wodurch seine Kas-
se so anwuchs, daß die Pferde das Geld kaum tragen konnten.

Mit Erlaubnis
des Groß-Slarrald

Die große Darstellung


des menschlichen Splacknuks oder
des Zwerges der Zwerge
nebst wunderbaren Körperübungen
dieses merkwürdigen Geschöpfes
wird heute
am 27. Tage des Kometen
stattfinden

Kinder unter 35 Fuß bezahlen


die Hälfte / Mikroskope kann
man an der Kasse
erhalten

Am 26. Oktober endlich erreichten wir die Hauptstadt Lor-


brulgrud, welcher Name soviel wie »Stolz des Weltalls« bedeutet.
Hier bezogen wir in der Hauptstraße nahe beim königlichen Pa-
laste den ersten Gasthof, und nach Verständigung mit dem Hotel-
besitzer mietete mein Herr ein drei- bis vierhundert Fuß breites
Zimmer von entsprechender Länge und ließ Anschlagezettel an
die Straßenecken kleben und im Publikum verteilen, welche die
Ankündigung meiner Person und meiner Eigenschaften enthiel-
ten. Darauf beschaffte er einen Tisch von sechzig Fuß im Durch-
messer, auf dem ich mich mit meinen Künsten zeigen sollte, und
zog eine Schranke um ihn in der Höhe von drei Fuß und in glei-
cher Entfernung vom Rande, damit ich nicht herunterfiele. Nun
begannen die Vorstellungen, und ich wurde wohl zehnmal des
Tages den sich begierig hinzudrängenden und höchst erstaunten
Leuten gezeigt. Mein Herr mußte den Eintrittspreis bedeutend
erhöhen, um den enormen Zudrang zu mäßigen, der sich noch
vergrößerte, als es ruchbar wurde, daß ich das Brobdingnagsche
ganz gut verstände und auf alle vorgelegten Fragen eine richti-
ge und passende Antwort gebe. Ich hatte mich nämlich durch
Glumdalclitschs Hilfe in meinen Mußestunden zu Hause, sowie
auch auf der langen Reise in der Landessprache bedeutend aus-
gebildet. Sie hatte zu meinem Unterricht auch ein kleines Buch,
nicht viel größer als bei uns ein Atlas, mitgenommen, das Lehren
der Weisheit und Tugend für junge Mädchen enthielt, mir mit
dessen Hilfe die landesüblichen Buchstaben eingeübt und mich
leichtere Sätze ziemlich geläufig lesen gelehrt.
Drittes Kapitel
Die Königin kauft den Verfasser von seinem bisherigen Herrn und er
kommt an den Hof. Er disputiert über sein Wesen und seine Beschaf-
fenheit mit den größten Gelehrten des Landes. Eine passende Wohnung
wird für den Verfasser bei Hofe hergerichtet. Die Königin gibt ihm viele
Beweise ihrer Huld und Gnade. Er vertritt die Ehre seines Vaterlandes
gegen den König. Der Hofzwerg spielt ihm mehrere tückische Streiche.

Leiden und Mühseligkeiten, die ich täglich zu ertragen hatte,


wirkten schädlich auf meine Gesundheit ein, ohne daß mir mein
Herr genügende Ruhe und Erholung gestattet hätte, denn je mehr
Geld er durch mich gewann, desto größer wurde seine Habsucht.
Ich hatte durch die übermäßigen Anstrengungen schon allen
Appetit verloren und war nahe daran, zum Skelett abzumagern.
Mein Herr bemerkte das wohl, und da er befürchtete, daß ich
bald sterben würde, so beschloß er, bis zu meinem Tode noch
so viel Geld als möglich durch mich und aus der Leute Neugier
herauszuschlagen. Während er überlegte, wie dies wohl am be-
sten anzufangen sei, kam ein Sardral oder Kammerherr des Kö-
nigs, um meinem Herrn zu befehlen, mich augenblicklich an den
Hof zu bringen, damit ich Ihre Majestät die Königin nebst ihren
Hofdamen durch meine Figur und meine Mienen unterhielte. Ei-
nige der Damen hatten mich nämlich schon gesehen und sehr
merkwürdige Dinge von meiner kleinen Person, meinem anmu-
tigen Betragen und meinem aufgeweckten Kopfe erzählt. Ihre
Majestät war nebst ihren Damen auch ganz entzückt über mein
Benehmen. Ich fiel auf die Knie und wollte den königlichen Fuß
küssen, allein die hohe Frau war so huldreich, mir statt dessen ih-
ren kleinen Finger zu reichen, dessen Spitze ich nun zierlich mit
beiden Armen umfaßte und an meine Lippen führte. Sie richtete
einige Fragen an mich, die sich auf mein Vaterland und meine
Reisen bezogen, und ich gab mir Mühe, sie kurz und deutlich zu
beantworten. Darauf fragte sie sichtlich befriedigt, ob ich nicht
Lust hätte, bei Hofe zu leben, worauf ich nach einer tiefen Ver-
beugung erwiderte: ich sei nur der Sklave meines Herrn, stände
es jedoch in meiner Macht, so würde ich meinen höchsten Stolz
darein setzen, einer so erhabenen Fürstin mein Leben und mei-
ne Dienste zu weihen. Die Königin schien das nicht ungern zu
hören und fragte sogleich meinen Herrn, ob er nicht Lust habe,
mich zu einem guten Preise zu verkaufen. Da er nun, wie schon
bemerkt, befürchtete, daß ich nur noch kurze Zeit leben möch-
te, so willigte er ein und verlangte tausend Goldstücke, die ihm
auch sogleich ausgezahlt wurden; jedes dieser Goldstücke hatte
ungefähr die Dicke und Schwere von achthundert zusammen-
geschweißten holländischen Dukaten. Nachdem der Handel ab-
gemacht, wandte ich mich wieder mit einer tiefen Verneigung
zur Königin und fragte, ob ich mir nunmehr als ihr ergebenster
Sklave die Gnade ausbitten dürfe, daß meine Wärterin und Leh-
rerin Glumdalclitsch bei mir bleibe, da diese mich stets mit vieler
Sorgfalt und Güte gepflegt habe.
Ihre Majestät gewährte huldreichst meine Bitte und erlangte
ohne Mühe die Einwilligung des Vaters, den es nicht wenig er-
freute, seiner Tochter eine Stelle bei Hofe verschaffen zu können.
Meine liebe Glumdalclitsch aber konnte kaum ihr Entzücken
verbergen. Mein Herr entfernte sich darauf mit der Bemerkung,
er habe mir einen sehr guten Dienst verschafft, worauf ich nur
durch eine ziemlich kühle Verbeugung antwortete.
Die Königin, der diese Kälte nicht entgangen war, fragte, so-
bald der Pächter das Zimmer verlassen hatte, nach dem Grun-
de. Ich stand nicht an zu erwidern, daß ich nicht die geringste
Ursache habe, dankbare Gefühle für meinen ehemaligen Herrn
und Meister zu hegen, denn meinen Dank dafür, daß er mich
aufgenommen und leidlich ernährt habe, hätte ich ihm reichlich
durch den großen Geldgewinn abgetragen, den ich ihm einge-
bracht und wozu er mich rücksichtslos ausgebeutet. Das Leben,
das ich unter fortwährenden Anstrengungen vor einem schau-
lustigen Publikum geführt, sei ein höchst mühseliges gewesen
und habe endlich meine Gesundheit in ernstliche Gefahr gebracht.
Da ich aber nun gegenwärtig von der Gnadensonne einer so er-
habenen Königin beschienen würde, die ein Schmuck der Natur,
ein Liebling der Welt und der Phönix der ganzen Schöpfung sei,
so dürfe ich hoffen, daß meine Gesundheit wieder erstarken und
meine Lebenskraft unter dem Einfluß ihrer hocherhabenen Ge-
genwart einen neuen, gedeihlichen Aufschwung nehmen werde.
Das war der Hauptinhalt meiner Rede, die ich, allerdings
nicht ohne Stocken und Stottern, hervorgebracht hatte, aber
gleichwohl hatte ich sie, zumal was die Komplimente gegenüber
der Königin betraf, ganz im landesüblichen Stil gehalten, denn
ich war durch Glumdalclitsch, als sie mich an den Hof brachte,
ziemlich genau darin unterrichtet worden.
Die Königin aber sah mit gütiger Nachsicht die Mängel in mei-
ner Aussprache nach und war sichtlich erstaunt, so viel Geist und
Witz bei einem so winzigen Däumling zu finden. Sie fühlte sich
deshalb gedrungen, mich sofort ihrem hohen Gemahl vorzustel-
len, nahm mich auf ihre schöne Hand und begab sich mit mir in
das Arbeitskabinett des Königs. Dieser, ein Fürst von ernstem,
gemessenem Charakter und etwas kurzsichtig, konnte meine
Gestalt nicht sogleich erkennen und fragte verwundert, wie sie
dazu komme, so viel Interesse für einen Splacknuk an den Tag zu
legen. Nachdem mich aber die Königin neben das Tintenfaß auf
den Schreibtisch gestellt und mir befohlen hatte, selbst Bericht
über mich zu erstatten und ich das in wenigen, aber zusammen-
hängenden und klaren Worten tat, konnte er sein Erstaunen nicht
verhehlen und ließ, als er nun auch durch sein Augenglas meine
vollkommen menschliche Gestalt wahrnahm, meine vor der Tür
ungeduldig harrende Wärterin herbeikommen, die ihm auf seine
Fragen alle meine Mitteilungen als begründet bestätigte. Indes
war er als Philosoph und gründlicher Gelehrter noch keineswegs
mit der gegebenen Auskunft zufrieden und glaubte auch, daß die
Geschichte meiner Ankunft in seinem Königreich wohl nur von
Glumdalclitsch und ihrem Vater erfunden sein möchte, um mich
zu desto höherem Preise zu verkaufen, während ich in Wahr-
heit nicht von einem fremden Zwergenvolke stamme, sondern
nur eine in seinem Lande entsprossene kleine Mißgeburt sei. Er
legte mir, um genauer hinter den wahren Sachverhalt zu kom-
men, einige geschickte Kreuz- und Querfragen vor, die ich aber
alle so treffend und vernünftig beantwortete, daß er aus seiner
Verwunderung kein Hehl mehr machte; zwar war meine Aus-
drucksweise nicht ganz dem Hofton angemessen und viel mit
bäuerischen Ausdrücken untermischt, was ihm aber leicht aus
meinem langen Aufenthalte in dem Hause eines schlichten, fast
nur mit Landleuten verkehrenden Pächters begreiflich war.
Um nun mein Dasein und Wesen gründlich zu erklären, ließ
Seine Majestät drei der zuverlässigsten Hofgelehrten kommen
und stellte mich ihnen als lebendiges Problem vor. Diese Gelehr-
ten untersuchten eine geraume Zeit meine Gestalt mit der Lupe
und waren dann selbstverständlich über mich verschiedener Mei-
nung. Doch stimmten alle drei darin überein, daß ich nicht nach
den regelmäßigen Naturgesetzen geschaffen sein könne, weil ich
so gebildet sei, daß ich mein Leben nicht durch Erklettern der
Bäume oder durch Eingraben in die Erde erhalten könne.
Es würde zu weitläufig und langweilig sein die verschiedenen
närrischen Vermutungen, die diese gelehrten Herrn über mich
laut werden ließen, hier zu verzeichnen, darum will ich nur das
allgemeine Endergebnis, worin sie wieder übereinkamen, hier
mitteilen, daß ich nämlich nur ein Replum Scalcath, das heißt
ein Naturspiel sei. Nach dieser mit der Miene der unumstößlich-
sten Gewißheit vorgebrachten Meinung erbat ich mir das Wort

zur näheren Erklärung der Zweckmäßigkeit und Berechtigung


meines Daseins. Der König winkte mir huldreich zu, und nun
versicherte ich auf mein Ehren- und Manneswort, daß ich kei-
neswegs ein bloßes Naturspiel sei, sondern daß ich aus einem
weit entfernten Lande komme, das mit vielen Millionen Men-
schen meiner Größe bevölkert sei und woselbst Bäume, Häuser,
Tiere, kurz alles im Verhältnis zu meiner Größe stände, so daß
ich dort recht wohl meine Existenz behaupten, meinen Lebens-
unterhalt finden und mich gegen meine Feinde verteidigen kön-
ne. – Diese Erklärung, von welcher der geneigte europäische Le-
ser zugeben wird, daß sie die vollste Wahrheit enthielt, wollte
den drei großen Gelehrten dennoch nicht einleuchten; sie nah-
men sie mit verächtlichem Lächeln auf und machten die boshafte
Bemerkung: mein bisheriger Herr, der Pächter, müsse mir die Fa-
beln gut einstudiert haben, die ich vor den Majestäten aussagen
solle. – Der König aber, ein verständiger Mann und gewonnen
durch die Klarheit meiner Erklärung und durch den Ton der herz-
lichen Aufrichtigkeit, womit ich sie vorgebracht hatte, entließ die
Gelehrten und befahl, den Pächter herbeizurufen, der zum Glück
die Stadt noch nicht verlassen hatte. Als dieser gekommen war,
verhörte ihn der König zuerst unter vier Augen, alsdann in der
gleichen Weise Glumdalclitsch, und als er nun fand, daß beider
Aussagen ganz mit der meinigen übereinstimmten, schenkte Sei-
ne Majestät unserem Berichte vollen Glauben. Er empfahl mich
mit gütigen Worten der Sorgfalt seiner hohen Gemahlin und war
der Meinung, Glumdalclitsch solle ihr Amt, mich zu warten und
zu pflegen, beibehalten, da er bemerkt habe, daß wir beide große
Zuneigung zueinander hätten.
Nun ward sofort für Glumdalclitsch ein passendes Zimmer
bei Hofe eingerichtet und ihr eine Gouvernante, ein Kammer-
mädchen und zwei Mägde als Dienstboten überwiesen. Nach-
dem diese Angelegenheit geordnet war, befahl die Königin ihrem
Hoftischler, der ein sehr geschickter Mann war, eine passende
Wohnung für mich zu verfertigen, die mir zugleich als beque-
mes Schlafgemach dienen könne; über das passendste Modell
dazu und seine innere Einrichtung könne er sich am besten mit
Glumdalclitsch und mir ins Einvernehmen setzen. Unter unserer
beiderseitigen Anleitung, verfertigte der Tischler sehr bald ein
hölzernes Kästchen von sechzehn Fuß im Geviert und von zwölf
Fuß Höhe. Es ward mit einer Türe, durch die ich bequem ein- und
ausgehen konnte und mit zwei Fenstern versehen. Die Decke
des Zimmers, die aus einem einzigen Brett bestand, konnte mit
Leichtigkeit auf- und zugeklappt werden, damit ein bequemes,
von den Tapezierern Ihrer Majestät möglichst weich hergestell-
tes Bett hineingelassen werden konnte. Glumdalclitsch öffnete
an jedem Morgen, nachdem ich aufgestanden war, die Klappe,
holte das Bett heraus und klopfte und schüttelte es gewissenhaft
im Sonnenschein auf. Ein anderer geschickter Tischler, dessen
besondere Kunstfertigkeit in der Herstellung von Kinderspiel-
zeug bekannt war, verfertigte mir im Auftrag der Königin zwei
bequeme Lehnstühle aus einem elfenbeinartigen Stoff, ferner ein
Sofa, einen Kleiderschlank und einen mit eingelegter Arbeit ge-
zierten, zu meiner Größe passenden Tisch. Die Wände meines
Zimmers und sogar der Fußboden waren sorgfältig gepolstert,
damit ich, wenn ich bei einem Transport einen Fall täte, mich
nicht beschädigen könnte. Auch bat ich um ein Schloß, womit
ich die Türe gegen Ratten und Mäuse verschließen könnte. Zu
dessen Anfertigung wurde ein in feinen Metallarbeiten erfah-
rener Goldschmied aufgesucht, der auch nach mehreren fehlge-
schlagenen Versuchen endlich ein Schloß zustande brachte, so
klein, wie es in Brobdingnag noch nicht gesehen war und wie
ich es größer an keiner Haustür in England erblickt habe; den
Schlüssel dazu verwahrte ich in meiner eigenen Tasche, weil ich
fürchtete, Glumdalclitsch möchte ihn wegen seiner winzigen
Größe leicht verlieren.
Nachdem meine Wohnung nun so bequem wie möglich ein-
gerichtet war, befahl die Königin, in den besten Kaufläden der
Residenz nach dem feinsten Seidenzeug zu suchen, woraus mir
Kleider verfertigt werden sollten, weil die meinigen bereits sehr
abgetragen waren. Es wurde auch ein nach den Begriffen des
Landes außerordentlich feiner Stoff beschafft, allein als die Klei-
der, die nach der Mode des Landes zugeschnitten, teils der persi-
schen, teils der chinesischen Kleidertracht ähnlich, fertig waren,

fand ich sie so dick und schwer, als ob sie aus einer englischen
Bettdecke verfertigt wären, was mir anfangs sehr lästig war.
Je länger ich nun in meiner neuen Einrichtung und unter mei-
nen neuen Verhältnissen bei Hofe lebte, desto mehr Gefallen fand
die Königin an meiner Gesellschaft, so daß sie schließlich ohne
mich nicht einmal ihr Mittagsmahl halten konnte. Es wurde für
mich ein Tisch und ein Stuhl auf die Tafel gesetzt, an der Ihre
Majestät speiste, und ich mit einem Silberbesteck versehen, so
groß wie man es in Brobdingnag für die Puppenstübchen anfer-
tigt. Glumdalclitsch, die auf einem Schemel an der Tafel stehend
mich beim Essen bediente, säuberte nach Tisch immer sorgfältig
mein kostbares Geschirr und verwahrte es in einem silbernen
Döschen in ihrer Tasche. Es speisten in unserer Gesellschaft nur
noch die beiden königlichen Prinzessinnen, von denen die eine
sechzehn, die andere dreizehn Jahr und einen Monat alt war. Ihre
Majestät bediente mich beim Essen gern selbst, sie zerschnitt
mir das Fleisch in kleine Stücke, reichte es mir und hatte ein
inniges Vergnügen daran, wenn ich unter höflichen Verbeugun-
gen tapfer zulangte und es mir schmecken ließ. Mich setzte die
Eßlust der Königin, die doch nur einen schwachen Magen hatte
und nach den Begriffen des Landes wenig aß, anfangs in das
größte Erstaunen, denn sie nahm gewöhnlich auf einen Bissen so
viel in den Mund, daß sich zwölf englische, mit gutem Appetit
versehene Pächter daran hätten sattessen können. Die Knochen
eines kleinen Vogels, der wenigstens die neunfache Größe unse-
rer Gänse hatte, zermalmte sie mit Leichtigkeit, und ohne alle
Mühe steckte sie ein Stück Brot in den Mund, so groß wie bei
uns ein Viergroschenlaib. Aus einem feingearbeiteten, silbernen
Becherchen, das einen halben Oxhoft fassen mochte, trank sie
bei jedem Schluck eine Menge, die dem Umfang eines Schweins-
kopfs gleichkam, und doch nannte man die Art der hohen Dame
zu trinken, hierzulande nur am Glase nippen. – Ihr Messer war
um ein gut Teil länger als eine am Stiele gerade geschmiedete
Sense, und Gabel, Löffel und anderes Gerät waren der Größe
des Messers entsprechend. Einst war ich neugierig, einmal eine
offene Tafel bei Hofe zu sehen, und Glumdalclitsch trug mich zu
einer solchen hin, wo ein paar Dutzend solcher Messer und Ga-
beln in beständiger Bewegung waren. Die ungeheuren funkeln-
den und blinkenden Klingen und Zacken gewährten mir aber ei-
nen so grauenhaften Anblick, daß ich niemals wieder Lust zeigte,
bei einer Hoftafel gegenwärtig zu sein. – Wie gesagt, speiste ich
gewöhnlich nur mit der Königin und den beiden Prinzessinnen
allein, am Mittwoch aber, dem Sonntag des Volks, verlangte es
die Hofsitte, daß wir in Gesellschaft des Königs und der könig-
lichen Prinzen speisten, bei welcher Gelegenheit mir der König
sehr häufig Beweise seiner hohen Gunst gab. Mein Stuhl und
mein Tisch wurden ihm nahe zur Linken neben das Salzfaß hin-
gestellt, damit er meine Stimme bequem vernehmen konnte; er
erkundigte sich gern nach den Sitten, Gewohnheiten, nach dem
Stande der Gelehrsamkeit, nach der Regierungsform und nach
der Religion in meinem Vaterlande, worüber ich dann möglichst
vollständige Auskunft gab und nicht selten Gelegenheit hatte,
wahrzunehmen, daß die Bemerkungen, die mir der König machte
und die Urteile, die er über meine heimatlichen Zustände abgab,
von einer außerordentlichen Verstandesschärfe zeugten. Eines
Tags aber brachte er mich durch die Ansichten, die er über mein
geliebtes Vaterland darlegte, sehr auf. Ich hatte weitläufig von
unseren See- und Landkriegen, unseren Religionsspaltungen und
unseren sich heftig befeindenden politischen Parteien erzählt, als
er sich schließlich lächelnd und kopfschüttelnd an seinen mit ei-
nem weißen Stabe (der Stab war ungefähr so lang wie der Haupt-
mast des englischen Linienschiffs »Royal Sovereign«) hinter ihm
stehenden Premierminister wandte und sagte: »Wie erbärmlich
und verächtlich ist doch die menschliche Größe, auf die man so
viel pocht, da sie von solch kleinen miserablen Insekten, wie
der Däumling da, nachgeäfft werden kann. Es ist Tatsache, daß
dieses kleine Gewürm ebensogut wie wir seinen Rangstolz, sei-
ne Titel und Würden hat. Es baut sich Löcher und Ameisenhau-
fen, die es Städte nennt, stolziert in prächtigen Kleidern einher,
fährt in Staatskarossen und liebt, kämpft, betrügt, verrät und
intrigiert ganz wie wir. Ich brauchte keine halbe Kompanie Sol-
daten, um das Reich dieser Däumlinge in kurzer Zeit vom Erd-
boden zu verwischen, und doch dünken sie sich die Herren der
Welt!«
In dieser Weise sprach er längere Zeit, während ich voll Un-
willen die Farbe wechselte, als ich mein edles Vaterland, so aus-
gezeichnet durch Künste und Waffen, die Herrin der Meere, den
Ruhm des Weltalls und den Schiedsrichter Europas, mit solcher
Verachtung besprechen hörte. Beinahe hätte ich den Respekt vor
Seiner geheiligten Majestät hintenangesetzt und eine derbe Er-
widerung gegeben. Allein ich besann mich noch zu rechter Zeit
und überlegte, daß ich an die Größenverhältnisse in Brobdingnag
nun einmal gewöhnt, selbst gelacht haben würde, wenn ich hier
eine vornehme Gesellschaft von Europäern sich hätte brüsten
und großtun sehen. Konnte ich es doch manchmal nicht unter-
lassen, über mich selbst zu lächeln, wenn mich die Königin auf
die Hand nahm und mit mir vor einen Spiegel trat; nichts hätte
dann so albern sein können, als ein Vergleich zwischen uns, und
es schien mir dann wirklich, als ob meine Gestalt um mehrere
Grade zusammengeschrumpft wäre.
Ich wurde bei Hofe nicht allein von den allerhöchsten Herr-
schaften, sondern von jedermann gut und liebevoll behandelt,
nur der Zwerg der Königin nahm es sich heraus, mich oft emp-
findlich zu kränken und zu ärgern. Da er nämlich so klein von
Körper war (ich glaube, er maß kaum volle dreißig Fuß), wie
man ähnliches noch nicht im Lande gesehen, so blähte sich bei
meinem Anblick sein Stolz ungemein aus, weil er mit mir vergli-
chen, für einen Riesen gelten konnte. Keine Gelegenheit ließ er
vorübergehen, um mir seine Größe und meine Wenigkeit emp-
findlich fühlbar zu machen, und immer mußte ich spitzige Wor-
te über meine »Kleinheit« hören, wofür ich mich nur dadurch
rächte, daß ich ihn »Bruder« nannte, ihn spöttisch zum Ringen
aufforderte und Erwiderungen gab, wie sie wohl Hofpagen im
Munde führen. Eines Tags ward der boshafte Knirps über eine
meiner Erwiderungen so wütend, daß er mich, ehe ich Arges
dachte, um den Leib packte, mich in eine auf dem Tische stehen-
de silberne Schale voll Milch warf und dann eiligst davonlief. Ich
plumpste infolge des heftigen Wurfs fast bis auf den Grund der
Schüssel und wäre, da Glumdalclitsch gerade nicht gegenwär-
tig und die Königin vor Schrecken ganz außer Fassung gekom-
men war, unrettbar verloren gewesen, hätte ich als vortrefflicher
Schwimmer nicht sogleich die Oberfläche wieder gewonnen und
mich über »Milch« gehalten. Mittlerweile eilte Glumdalclitsch
herbei, schöpfte mich aus dem Milchsee heraus und brachte mich,
nachdem sie mich getrocknet und gesäubert, zu Bett, damit ich
mich von meinem Schrecken erhole und mir die Erkältung nicht

schade. Der Zwerg aber erhielt eine tüchtige Tracht Prügel und
mußte zur Strafe die Milch austrinken, in die er mich gewor-
fen; zu meiner größten Freude verschenkte Ihre Majestät auch
bald den Zwerg, der seit seinem tückischen Streich ihre Gunst
verloren hatte, an eine befreundete Dame von Stande; wäre der
Kobold bei Hof geblieben, so hätte er sich wegen der erhaltenen
Prügel gewiß empfindlich an mir gerächt.
Früher schon hatte mir der Schlingel einen Streich gespielt,
der freilich harmloser war und über den die Königin zu lachen
geruhte. Ihre Majestät nämlich hatte einen Markknochen auf
den Teller genommen und stellte ihn, als sie ihn vom Marke ge-
leert, wieder aufrecht in die Schlüssel. Da benutzte der Zwerg
eine augenblickliche Abwesenheit meiner lieben Glumdalclitsch,
packte mich und steckte mich bis über den halben Leib in den
hohlen Knochen, auf welche Weise ich, wie leicht zu erach-

ten, eine sehr lächerliche Figur spielte. Der Zwerg hatte seinen
Streich so rasch und geschickt ausgeführt, daß man mich nicht
gleich vermißte, und ich schämte mich, in meiner demütigenden
Stellung um Hilfe zu schreien. Erst nach etwa einer Minute ent-
deckte mich die Königin und befreite mich aus meiner ebenso
lächerlichen als hilflosen Lage. Meine Kleider aber waren durch
den fettigen Knochen völlig verdorben. Schon damals sollte der
Tückebold fortgejagt werden, blieb aber auf meine Fürbitte und
erhielt nur eine gehörige Anzahl Peitschenhiebe. Zuweilen neck-
te mich die Königin in ihrer huldvollen Weise auch, aber das ge-
schah stets in einer harmlosen, nicht verletzenden Art. So warf
sie mir wiederholt allzu große Furchtsamkeit vor, weil ich mich
vor den Stubenfliegen fürchte, allein ich fürchtete mich eigent-
lich nicht vor diesen ekelhaften Geschöpfen, sondern scheute
nur ihren widerlichen Anblick, ihr unerträgliches Gesumm und
ihren unausstehlichen Geruch. Diese brobdingnagschen Fliegen
sind nämlich so groß wie unsere Lerchen und konnten mich da-
her, wenn sie mich umsummten oder sich gar auf meine Nase
setzten, aufs Unangenehmste molestieren, so daß ich ihnen gern
auswich, zumal ich für alle ihre Ekelhaftigkeiten ein schärferes
Auge hatte als die Eingeborenen, für die das nur mikroskopisch
da war, was ich mit bloßem Auge sah. So sah ich die Fliegen in
ihrer ganzen widerwärtigen Gestalt, ihren borstigen Haaren und
runzlichen Leibern, ja ich erblickte sogar die übelriechende, kleb-
rige Feuchtigkeit an ihren Füßen, mit deren Hilfe diese Insekten
steil an den Wänden heraufgehen und sogar, ohne herabzufallen,
an den Zimmerdecken spazieren können. Der Zwerg, der meine
Scheu vor diesen Geschöpfen bemerkt hatte, fing oft eine gan-
ze Handvoll davon und warf sie mir ins Gesicht, um mich zu
erschrecken und die Königin zu amüsieren. Ich erwehrte mich
der abscheulichen Insekten, indem ich mein Messer zog und sie
mit einem gutgezielten Hiebe, während sie durch die Luft flogen,
zerschnitt, eine Kunst, in der ich es nach und nach zu großer
Fertigkeit brachte.
Diese Art von Kunstfertigkeit sollte mir eines Tags gegen ge-
fährlichere Feinde nützlich werden. Glumdalclitsch hatte mich
einst wieder, wie sie oft an schönen sonnigen Tagen zu tun pfleg-
te, mit meiner kleinen Wohnung ans offene Fenster gesetzt, da-
mit ich mich der frischen Luft erfreute. Da summten, während ich
gerade ein Stück Kuchen zum Frühstück aß, mehrere Wespen so
groß wie Rebhühner durch mein offenstehendes Fenster in mein
Zimmer, fielen über meinen Kuchen her und trugen ihn stück-
weise fort. Andere flogen mir, wie Dudelsäcke brummend, um
den Kopf und bedrohten mich mit ihren fürchterlichen Stacheln.
Aber auf meine gegen die Fliegen erworbene Fertigkeit vertrauend,
ergriff ich mutig mein Messer, hieb ein Dutzend der Plagegeister
zusammen und schlug die übrigen in die Flucht. Den Getöteten
zog ich die wenigstens anderthalb Zoll langen Stacheln aus und
bewahrte sie mit Sorgfalt auf. Nach meiner Rückkehr schenkte
ich drei Stacheln davon der Schule zu Gresham und machte mit
den anderen einigen Naturforschern eine Freude.
Viertes Kapitel
Beschreibung des Landes, der Hauptstadt und des königlichen Palastes.
Die Reiseschachtel des Verfassers, sowie auch etwas über die äußer-
liche Beschaffenheit der Landeseinwohner. Beschreibung des Haupt-
tempels. Großartiger Anblick des königlichen Militärs.

Jetzt wäre es wohl angemessen, daß ich dem Leser eine kurze
Beschreibung des merkwürdigen Landes lieferte, in dem ich alle
die bisher erzählten Abenteuer erlebte und noch andere erleben
sollte. Freilich kann ich nur über das berichten, was ich in Brob-
dingnag selbst gesehen habe, und das beschränkt sich nur auf ei-
nen Umkreis von zweitausend Meilen. Die Königin nämlich, die
ich stets auf ihren Reisen begleitete, schränkte ihre Reise immer
auf eine Strecke von nur zweitausend Meilen ein, während der
König sein großes Reich zweimal im Jahr bis zu den Grenzen be-
reiste. Die Größe des Reiches beträgt nach genauen Messungen
sechstausend Meilen (natürlich sind geographische, nicht engli-
sche Meilen zu verstehen) in der Länge und fünftausend in der
Breite.
Eine Bergkette, deren höchste Spitzen sich bis zu dreißig Mei-
len erheben, begrenzt dieses Reich im Nordosten und schließt es
nach dieser Seite vollständig von allem Verkehr mit der Welt ab,
denn das Gebirge ist stets in so starker vulkanischer Tätigkeit,
daß die von ihm ausgehenden Steinregen und Lavaströme das
Übersteigen ganz unmöglich machen. Daher hat man auch in
Brobdingnag nicht die geringste Kunde davon, ob und welche
Menschen jenseits dieses Gebirges wohnen. An den drei anderen
Seiten wird das eine Halbinsel bildende Land vom Ozean be-
grenzt, allein so sehr sonst das Meer gerade den Verkehr vermit-
telt, so ist er doch hier ebenso abgeschnitten, wie im Nordosten
durch das Gebirge, denn die in das Meer mündenden Flüsse und
das Meer selbst bis auf Hunderte von Meilen von der Küste, sind
so sehr durch scharfe und kantige Felsen versperrt, daß auch das
kleinste Boot nicht hindurchkann und sich also die Schiffahrt nur
aus das Innere des Landes beschränkt, wo allerdings die Flüsse
von solcher Breite und Tiefe sind, daß sie die größten Fahrzeuge
tragen können.
Unter diesen Umständen erklärt es sich leicht, daß die Ein-
wohner von Brobdingnag von allen übrigen Völkern abgeschlos-
sen bleiben, weshalb auch unsere besten Geographen von dem
Dasein dieses Landes nichts wissen, ebensowenig wie die Brob-
dingnagschen Gelehrten eine Ahnung von den Europäern und
anderen uns an Größe ähnlichen Völkern haben. Die Unzugäng-
lichkeit des Meeres verhindert selbst größere Seefische, sich der
Küste zu nähern, und nur bei heftigen Stürmen zerschellt zuwei-
len ein Walfisch an den scharfen Klippen, der dann in der Regel
den Leuten aus den ärmeren Klassen zur Beute wird. Ich habe
ab und zu dergleichen gestrandete Walfische gesehen, welche
so groß waren, daß sie ein Eingeborener nur mit Mühe auf den
Schultern nach Hause tragen konnte. Zuweilen kam ein solcher
Walfisch auch auf die königliche Tafel, jedoch mehr als bloßes
Schaugericht.
Das Land ist sehr bevölkert und enthält außer einundfünfzig
Hauptstädten eine große Menge von Landstädtchen und Dör-
fern. Die Bauart und Beschaffenheit der Städte entspricht ganz
der Residenz Lorbrulgrud, weshalb es genügen wird, wenn ich
von dieser eine kurze Beschreibung gebe. Die Stadt wird von ei-
nem mächtigen Strom in zwei ganz gleiche Hälften geschieden,
deren jede fünfzigtausend Einwohner zählt. Ihre Länge beträgt
drei Glomglungs, oder vierundfünfzig englische Meilen und ihre
Breite drei und einen halben Glomglung. Das Hauptgebäude der
Stadt, der Palast des Königs, hat mit allen dazu gehörigen Ge-
bäuden einen Umfang von sieben Meilen in der Runde und bildet
sozusagen eine Stadt für sich. Seine inneren Räume sind, wie
leicht zu erachten, von ungeheurem Umfange, so daß ich mich
oft nach Durchschreitung einiger Hauptsäle recht ermüdet fühl-
te. Damit ich die Stadt bequem besehen könne, hatte die Königin
befohlen, daß man stets für mich sowie für Glumdalclitsch und
deren Gouvernante eine Kutsche in Bereitschaft halten sollte, in
welcher wir nun häufig ausfuhren und uns die Merkwürdigkei-
ten der Stadt, ihre hervorragendsten Gebäude und prachtvollen
Kaufläden besahen. Unsere Kutsche war ungefähr so breit, wie
der Platz von Westminsterhall, jedoch nicht ganz so hoch wie
der Westminster Dom. Fuhren wir an einem sehenswerten Ge-
bäude oder Monument vorbei, so nahm mich Glumdalclitsch
sorgsam auf die Hand, damit ich einen bequemen Überblick hät-
te. Auf diese Weise überblickte ich wiederholt das lebendigste
Volksgewühl und hatte Gelegenheit, Menschen aller Stände und
Berufe in ihren verschiedenen Tätigkeiten genau zu beobachten.
Ich fand auch hier in der Residenz, daß der Brobdingnagsche
Menschenschlag, wie ich bei meinem bisherigen Verkehr unter
diesen Riesen schon bemerkt, ein sehr ebenmäßig gebauter und
wohlgebildeter sei, allein für unsere Augen sind diese Riesen-
menschen das, was man »fernschön« nennt, denn betrachtete ich
die Haut auch der zartesten Damen in der Nähe, so erschrak ich
anfangs über ihre abstoßende Grobheit und Häßlichkeit. Mei-
nem für das Kleine scharfen Auge entging keine Borste und kein
Wärzchen, womit die Haut bedeckt war und selbst die von den
einheimischen Dichtern oft besungene Hand Ihrer Majestät, die
zu den schönsten und zartesten Frauen des Reichs zählte, er-
schien mir in der Weise, als wenn wir einen unserer Finger durch
ein sehr starkes Vergrößerungsglas betrachten, das alle sonst un-
sichtbaren Fleckchen, Haare und Narben auf unserer Haut bloß
legt. Bei dieser Beschaffenheit der Haut ist es nicht zu verwun-
dern, daß mir häßliche, schmutzige Menschen, wie ich sie häufig
im Marktgewühl und vor den Kirchen unter den Bettlern fand,
einen ganz scheußlichen Anblick boten. Die Königin ließ außer
meiner größeren Wohnung noch eine andere »Schachtel«, wie
sie sich ausdrückte, für mich verfertigen, die kleiner war und
nur einen Umfang von zwölf Quadratfuß und eine Höhe von
zehn Fuß hatte. In dieser wurde ich, des bequemeren Transports
wegen, mit auf Reisen genommen. Sie bildete ein Viereck, das
an drei Wänden mit Fenstern versehen war. Jedes Fenster war
mit starken eisernen Stangen verwahrt, die mindestens die Dik-
ke Brobdingnagscher Stricknadeln hatten, um auf langen Reisen
ein Unglück zu verhüten. An der vierten, mit keinem Fenster ver-
sehenen Wand befanden sich zwei dicke Krampen, durch welche
die Person, die mich trug, einen ledernen Riemen zog, den sie
um den Leib schnallte. Dies war, wenn Glumdalclitsch sich nicht
wohl befand oder sonst behindert war, immer das Amt eines ge-
treuen, zuverlässigen Dieners. Die Reiseschachtel war wie meine
andere Wohnung mit allen Bequemlichkeiten versehen, enthielt
fest in den Boden geschraubte Stühle und Tische, Hängematte
und Bett und war so gut gepolstert, daß ich, wenn ein Bedien-
ter zu Pferde mit mir ausritt oder ich in der Kutsche fuhr, keine
großen Unannehmlichkeiten, sondern etwa nur die Bewegungen
fühlte, die ein ziemlich lebhaft vom Winde getriebenes Schiff
verursacht, und an solche Bewegungen war ich ja durch meine
vielen Seereisen hinlänglich gewöhnt.
In dieser Reiseschachtel, die Glumdalclitsch bequemer als
meine größere Wohnung auf dem Schoß halten konnte, besah
ich mir auch die Stadt und ließ mich auch eines Tages zu dem
Haupttempel führen, dessen Turm der höchste und schönste im
ganzen Reich sein sollte. Allein ich fand mich doch in meinen Er-
wartungen getäuscht, denn die Höhe dieses Turmes betrug nach
oberflächlicher Schätzung vom Fuß bis zur Spitze nur höchstens
dreitausend Fuß. Ein Verhältnis zu der Größe der Einwohner,
das dem des Straßburger Münsters zu uns Europäern noch bei
weitem nicht entspricht; was jedoch dem Turm an Höhe fehlte,
ward reichlich durch seine Schönheit und Stärke ersetzt. Seine
hundert Fuß dicken Mauern sind aus sauber behauenen Quadern
erbaut, von denen jeder vierzig Quadratfuß mißt, und dabei er-
heben sich diese Mauern nicht kahl und nüchtern, sondern sind
aufs reichste durchbrochen und verziert mit den Statuen der Göt-
ter und Könige, sowie mit anderen geschmackvoll und kunst-
reich ausgeführten Ornamenten. Die Statuen mochten meist die
Größe haben wie einst der Koloß von Rhodus, denn ich fand
unter einem Schutthaufen einen von einer Figur herabgefallenen
kleinen Finger, der genau vier Fuß und einen Zoll maß. Glum-
dalclitsch wickelte den schön in Marmor ausgearbeiteten Finger
in ihr Schnupftuch und nahm ihn als ein Spielzeug mit nach
Hause.
Auch der Tempel oder die Kirche erhebt sich in großartigen,
prächtigen Verhältnissen und ist im Inneren vortrefflich geziert,
die gewölbte Decke gipfelt bis zu einer Höhe von sechshundert
Fuß und die reich ornamentierten Altäre und Bänke haben einen
Masseninhalt von Holz und Stein, daß man aus jeder Bank oder
jedem Altar bei uns zu Lande einen stattlichen Palast herstellen
könnte. Überhaupt übertrifft die Größe der Gegenstände, wie sie
in Brobdingnag gebraucht werden, alle unsere Vorstellungen. Ich
sah Öfen, die dem Umfang der St. Paulskirche zu London wenig
nachgaben. Ich will es unterlassen, den Küchenherd, die unge-
heuren Töpfe und Kessel, sowie die Fleischstücke zu beschreiben,
die man an Spießen von der Höhe unserer größten Mastbäume
briet, weil ich fürchten muß, der Übertreibung beschuldigt zu
werden.
Einen prächtigen Anblick gewährt die Gardereiterei des Kö-
nigs auf ihren fünfzig bis sechzig Fuß hohen Pferden und mit
ihren Lanzen, deren Spitzen sich bei uns in niedrig streichenden
Wolken verlieren würden. Der König nimmt immer fünfhundert
dieser Gardereiter als Bedeckung und Ehrenwache mit auf Rei-
sen; ihr Achtung und Bewunderung gebietender Anblick wird
nur dann übertroffen, wenn man einen größeren Teil des Heeres
in Schlachtordnung aufgestellt sieht, wozu ich später auch ein-
mal Gelegenheit hatte.
Fünftes Kapitel
Der Verfasser erzählt eine Reihe von Abenteuern und Gefahren, die er
zu bestehen hatte. Der Verfasser zeigt dem Hofe seine Geschicklichkeit
im Lenken und Regieren eines Boots. Er kommt in große Gefahr durch
einen Hofaffen.

Ich würde mich unter der hohen Gunst und liebevollen Fürsorge
der allerhöchsten Herrschaften ganz behaglich und glücklich in
diesem Riesenlande gefühlt haben, wenn mein nach den dorti-
gen Landesverhältnissen leider zu winziger Körper mich nicht
allzuhäufig verdrießlichen und ärgerlichen Vorfällen ausgesetzt
hätte. Um dem Leser einen richtigen Begriff von dergleichen Un-
annehmlichkeiten zu geben, will ich noch einige dieser mir oft
gefährlichen Vorfälle erzählen. So pflegte mich Glumdalclitsch
mit meiner kleinen Behausung zuweilen in den Hofgarten zu
tragen und dann ins Freie zu setzen, damit ich mich der frischen
Luft erfreue. Eines Tages folgte uns der Zwerg, der damals noch
bei Hofe war, in den Garten, wo mich Glumdalclitsch eben un-
ter einen jungen Apfelbaum an den Boden gesetzt hatte. Kaum
hatte dies der Kobold bemerkt, so schlich er heran und schüttelte
den Baum so heftig, daß die Äpfel, fast so groß wie ein Faß, mir
um die Ohren regneten und als ich mich, um ihnen auszuwei-
chen, bückte, fiel mir gerade einer so heftig auf den Rücken, daß
ich alle Viere von mir streckte; doch wurde ich glücklicherweise
durch den Fall nicht beschädigt.
Ein andermal hatte mich Glumdalclitsch, um sich mit ihrer
Gouvernante ein wenig zu ergehen, auf einem freien Rasenplatz
zurückgelassen, als sich plötzlich der Himmel umzog und sich
unter fürchterlichen Blitzen und betäubendem Donner ein Ha-
gelwetter entlud. Schon die erste faustdicke Schloße, die mich
traf, hatte mich fast betäubt und die nachsausenden Körner
zerbläuten mich bald derart, daß ich schnell das Ende des hei-
ligen Stephan gefunden haben würde, wenn ich mich nicht mit
möglichster Raschheit unter eine dichte Taxushecke geflüchtet
hätte. Ich war hinterher ganz mit Beulen bedeckt, und wäre mei-
ne Kleidung nicht von diesem Brobdingnagschen Stoff gewesen,
der mich wie ein elastischer Panzer schützte, so hätte ich keinen
heilen Knochen am Leibe behalten.
Noch gefährlicher war ein Abenteuer, das ich ebenfalls in
diesem Hofgarten bestand. Glumdalclitsch glaubte mich unter

einem Wacholderbusch in größter Sicherheit und hatte sich mit


ihrer Begleiterin nur auf wenige Schritte entfernt, als zufällig des
Gärtners Wachtelhündchen nach Hundeart schnobernd und su-
chend des Weges kam und mich unter dem Busche liegend fand;
mich sehen und erschnappen war eins. Ich schrie und zappelte
vergebens; mich fest im Rachen haltend, lief der Hund zu seinem
im Garten arbeitenden Herrn, dem er mich mit dem Schwanze
wedelnd zu Füßen legte. Der Gärtner, der mich und meine Be-
liebtheit bei Hofe kannte, geriet in die größte Bestürzung, nahm
mich behutsam vom Boden auf und fragte mich, tausend Ent-
schuldigungen über seinen nichtsnutzigen Köter vorbringend,
aufs teilnehmendste nach meinem Befinden. Nachdem ich mich
erholt und bemerkt, daß ich keine Verletzung erlitten hatte (denn
der Hund hatte mich nicht gebissen, sondern seine Beute, wie
es die Dressur verlangte, nur lose im Rachen getragen), tröstete
ich den Gärtner und sprach ihm zu, unbesorgt zu sein. Darauf
brachte er mich zu Glumdalclitsch und beide vereinigten ihre
Bitten dahin, daß ich über diesen unangenehmen Vorfall bei
Hofe schweigen möchte, was ich gern versprach und was selbst-
verständlich auch geschah.
Ein anderes Mal hätte ich beinahe das Schicksal des Gany-
med, aber wahrscheinlich mit schlimmerem Ende, geteilt. Ich
lag nämlich, an nichts Arges denkend, unter einem blühenden
Rosenstrauch und freute mich seines Duftes und der reichen Fül-
le seiner schüsselgroßen Blüten, als mich plötzlich ein heftiger
Sturmwind anhauchte und meine Augen wie von einer nieder-
sinkenden schwarzen Wolke verdunkelt wurden. Bald erkannte
ich, daß es nur ein Habicht war, der sich mit heftigem Flügel-
schlag, vielleicht zehn Ellen klafternd, auf mich niedergestürzt
hatte, um mich in seinen Fängen fortzutragen. Kaum war mir
das klar, so flog auch mein Degen aus der Scheide und das Unge-
tüm stieß bei mir auf heftigen Widerstand und trug auch einige
Wunden davon. Allein auf die Dauer hätte ich den mir an Kräf-
ten bei weitem überlegenen Vogel doch nicht bekämpfen können,
darum zog ich mich rasch hinter ein dichtes Spalier zurück und
wurde durch herbeieilende Leute, vor denen das Untier davon-
flog, von meiner Angst befreit. Bald darauf fiel ich nicht weit vom
Schauplatz dieses Kampfes, als ich eben meinte, über einen im
Garten künstlich aufgeworfenen Erdhügel zu gehen, bis an den
Hals in einen Maulwurfshaufen, aus dem ich mich nur mit Mühe
selbst wieder hervorarbeitete. Um den Schmutz an meinen Klei-
dern zu erklären, erfand ich hinterher vor Glumdalclitsch und
anderen mich befragenden Leuten eine Notlüge, die hier nicht
weiter des Erwähnens wert ist. Ein anderes Mal verursachte ich
mir eine erhebliche Beschädigung am Knie, weil ich über ein
Schneckenhaus gestolpert war; kurz, solche und ähnliche Dinge
begegneten mir alle Augenblicke.
Vergnüglich und gleichzeitig ärgerlich war es mir, daß selbst
die kleinsten Vögel keinen Respekt vor mir hatten: die Sper-
linge, Meisen und Buchfinken (die alle natürlich eine den Lan-
desverhältnissen entsprechende Größe hatten) hüpften, In-
sekten und Würmer haschend, um mich herum, als ob ich gar
nicht auf der Welt wäre, kümmerten sich gar nicht um mein
Zurückscheuchen und holten mir oft Kuchen oder Brot aus der
Hand.
Die Königin, die jede Gelegenheit benützte, um mich aufzu-
heitern und mir das Leben in Brobdingnag angenehm zu machen,
kam dadurch, daß ich häufig von meinen Seereisen erzählte, auf
den Gedanken, mir zu meiner Unterhaltung ein Boot anfertigen
zu lassen, und als sie mir dies gütige Vorhaben mitteilte und mich
fragte, ob mir damit wohl eine Freude gemacht sei, umarmte
ich aufs dankbarste die Spitze ihres kleinen Fingers. Die Königin
war sichtlich erfreut darüber, daß mir ihr Plan gefiel und hieß
mich nun mit einem ihrer Hoftischler sprechen und ihm das Mo-
dell zu einem für mich passenden Boote angeben. Ihre Majestät
begriff in ihrer Weisheit wohl, daß ich keines der im Lande übli-
chen Boote würde handhaben können, denn in der Tat kam der
kleinste Nachen in Brobdingnag dem Rumpfe unserer englischen
Kriegschiffe ersten Ranges gleich. Ich gab dem Tischler nun An-
weisung zur Verfertigung eines Bootes, das ungefähr acht Mann
meiner Größe fassen konnte, und der geschickte Mann, dessen
Hände an feine Arbeiten gewöhnt waren, brachte das Fahrzeug
auch in verhältnismäßig kurzer Zeit mit Segel, Takelwerk und al-
lem Zubehör zustande. Als es fertig war, freute sich die Königin
so sehr darüber, daß sie es in ihre Schürze nahm und zum König
lief, der es mit mir zur Probe in ein Goldfischglas setzen ließ. Al-
lein der Raum war mir doch zu klein und zu wenig der streichen-
den Luft ausgesetzt, um Ruder und Segel anhaltend gebrauchen
zu können. Das hatte auch die Königin schon vorausgesehen,
und damit ich ein bequemes Feld zum Fahren hätte, bei ihrem
Tischler einen vierhundert Fuß langen und fünfzig Fuß breiten,
wohlverpichten Trog bestellt. Als dieser fertig war, wurde er in
ein Vorzimmer des Palastes gesetzt und von einer Anzahl Diener
mit Wasser gefüllt. Hier zeigte ich nun häufig zum Vergnügen der
Königin und ihrer Hofdamen meine Schifferkünste. Ich ruder-
te nach allen Richtungen hin, zeigte meine Geschicklichkeit im
Wenden und Drehen des Bootes und alle kunstgerechten Hand-
griffe geübter Schiffer. Wenn ich die Ruder einzog, das Segel
aufhißte und mich ans Steuer setzte, machte es den Damen viel
Vergnügen, mein Segel durch den Luftzug zu blähen, den sie mit
ihren Fächern erregten, und ermüdeten sie im Fächeln, so traten
einige Diener abwechselnd heran und bliesen das Segel auf; auf
diese Weise fehlte es mir nie an hinreichendem und günstigem
Winde. Wenn ich genügend gerudert und gesegelt hatte und ans
Land stieg, trug Glumdalclitsch mein Boot in ihr Zimmer und
hing es zum Austrocknen an einen Nagel auf.
Bei diesen Wasserfahrten bestand ich indes einst ein Aben-
teuer, das mir fast die ganze Lust am Spiel verleidet hätte. Das
Boot war nämlich eben von einem Pagen aufs Wasser gesetzt
worden, und die Gouvernante meiner Glumdalclitsch hob mich
freundlich vom Boden auf, um mich in das Fahrzeug zu setzen.
Unglücklicherweise faßte sie mich aber aus Vorsicht, mir keine
Rippe zu zerdrücken, nicht fest genug, ich glitt ihr durch die Fin-
ger, stürzte aus einer Höhe von sechzig Fuß herab, und würde
auf dem Fußboden in Stücke zerschmettert worden sein, wenn

ich nicht glücklicherweise an einer Busennadel der Gouvernante


hängen geblieben wäre. Die Nadel verfing sich nämlich, ohne
mich zu schädigen, in meinem Hosenträger, und ich schwebte
festgespießt und zappelnd in der Luft, bis Glumdalclitsch hinzu-
sprang und mich befreite.
Ein anderes Abenteuer, das ich bald darauf bei meinen Was-
serbelustigungen erlebte, hätte mir ebenfalls recht gefährlich
werden können. Einer der Diener nämlich hatte, als er mit an-
deren mein Boot wieder mit frischem Wasser füllte, ohne daß
er’s merkte, einen lebendigen Frosch mit hinein schlüpfen lassen,

und als ich nun meine Wasserfahrt begann, kam der Frosch her-
angeschwommen und erkletterte die eine Seite des Bootes, so
daß es durch seine Schwere aus dem Gleichgewicht kam und fast
umgestützt wäre. Der ekelhafte Gesell, bei dessen Größe seine
ganze Häßlichkeit in der widerwärtigsten Deutlichkeit erschien,
hüpfte dann einige Male über mein Gesicht hinweg, beschmutz-
te mich mit seinem ekelhaften Schlamm und machte Miene, sich
in meinem Boot häuslich niederzulassen. Glumdalclitsch eilte
herbei, um mich mit einem Stöckchen von dem häßlichen Unge-
tüm zu befreien, aber ich bat, mich nur allein gewähren zu lassen
und zählte dann dem Quackhans ein paar so tüchtige Hiebe auf
sein haarloses, schlüpfriges Fell, daß er erschrocken und grun-
zend zum Boot hinaussprang und sich eiligst in der Tiefe des
Wassers verbarg.
Weit schlimmer hätte folgendes Abenteuer für mich ausschla-
gen können. Glumdalclitsch hatte mich einst, als sie einen Besuch
zu machen hatte, in ihrem Zimmer verschlossen. Der Tag war
sehr heiß und es standen deshalb sowohl die Fenster des Zim-
mers, als auch die Tür und die Fenster meiner Wohnung, in der ich
eben, mit sehnsüchtigen Gedanken an meine Heimat beschäftigt,
an einem Tische saß, weit offen, als ich etwas in das Zimmer
plumpen hörte, und als ich von meinem Fenster mich nach dem
Geräusch umschaute, erblickte ich einen Affen, der zum offenen
Fenster hereingeklettert war und nun mit hundert Grimassen und
Kapriolen über Tische und Stühle hinwegsetzte. Ich zog mich in
den fernsten Winkel meiner Wohnung zurück, als der Affe her-
ankam und mein Häuschen von allen Seiten beschnupperte. Bald
machte mich jedoch das neugierige Tier, das die Hand durchs
Fenster gesteckt hatte, ausfindig und zog mich, indem sich mir
vor Angst und Schrecken die Haare sträubten, unterm Bett her-
vor. Nachdem mich der Affe trotz meines Widerstandes aus mei-
ner Wohnung herausgezerrt hatte, setzte er mich auf seine rech-
te Hand, schaute mir grinsend ins Gesicht und streichelte mich,
wie etwa Ammen ein Kind streicheln und beschwichtigen, ohne
mir indes ein Leid zu tun. Wollte ich mich aber loswinden und
zu entfliehen suchen, so drückte er mich so stark an sich, daß ich
Gefahr lief, alle Rippen zu brechen und ich es daher fürs klügste
hielt, mich geduldig in mein Schicksal zu ergeben. Aus seinen
fortgesetzten ekelhaften Liebkosungen ging hervor, daß er mich
für einen jungen Affen hielt. Plötzlich scheuchte ihn ein im Zim-
mer entstehendes Geräusch auf, und ich hoffte schon, er würde
mich loslassen und entfliehen, als die Sache erst recht gefährlich

für mich wurde. Der Affe sprang zwar zum Fenster hinaus, aber
nicht ohne mich mitzunehmen, er drückte mich mit seiner Pfote
fest an sich, erkletterte das Dach und spazierte nun zu meinem
Grausen mit mir auf den Ziegeln und in den Dachrinnen umher.
Ich hörte wie Glumdalclitsch, die ins Zimmer getreten war und
das den Affen verscheuchende Geräusch verursacht hatte, laut
aufschrie, als sie mich in der entsetzlichen Gefahr sah. Das arme
Mädchen verlor beinahe den Verstand; der ganze Palast geriet
in Aufruhr, Diener kamen mit Feuerleitern. Der Affe ward von
Hunderten vom Hofe betrachtet, wie er auf dem Dachfirst saß,
mich wie ein Kind mit der einen Pfote streichelte und mit der
anderen – Entsetzen und Ekel sträuben noch mein Haar, wenn
ich daran denke – fütterte; er nahm nämlich kurz vorher gekau-
ten Zwieback aus seinen Backentaschen und stopfte mir ihn mit
Gewalt in den Mund. Der unten versammelte Pöbel lachte über
meine Lage, aber mir war sie wahrlich schrecklich genug. Einige
warfen Steine auf das Dach, um den Affen zu vertreiben, allein
das ward sogleich streng untersagt, weil ich durch solch einen
Stein auch leicht getroffen werden konnte.
Endlich wurden Leitern angelegt, und von verschiedenen Sei-
ten kletterten Menschen zu meiner Rettung hinauf. Als der Affe
dies bemerkte und sich umringt sah, ließ er mich auf einen Dach-
ziegel fallen, um mit dem freien Gebrauch aller vier Hände so
schnell als möglich entwischen zu können. So saß ich denn auf
dem in der Sonnenglut brennenden Dachziegel wohl fünfhun-
dert Ellen über dem Erdboden und fürchtete jeden Augenblick,
vom Winde herabgeweht zu werden, als endlich ein mutiger Jun-
ge, kühn zu mit herkletternd, mich erreichte, in seine Hosenta-
sche steckte und glücklich herunterbrachte.
Ich war an den gekäuten Zwiebackskrumen, die mir der Affe
in den Mund gesteckt, beinahe erstickt, und Glumdalclitsch hat-
te Mühe, mir meinen Mund mit einer Nadel von den ekelhaften
Speiseresten zu leeren, dann erbrach ich heftig und wurde zu Bett
gebracht, das ich infolge des ausgestandenen Schreckens und der
durch die Zärtlichkeit des Affen mir beigebrachten Quetschun-
gen vierzehn Tage lang hüten mußte. Der König und die Königin,
sowie der ganze Hofstaat erzeigten mir viel Teilnahme und lie-
ßen sich täglich nach meinem Befinden erkundigen.
Als ich wieder genesen war und dem König einen Besuch
machte, um mich für seine Teilnahme und Güte zu bedanken,
fragte er mich mit leichtem Spott, welche Betrachtungen ich
wohl angestellt hätte, als mich das Tier in seinen Pfoten gehabt,
wie mir die so zärtlich gereichte Speise geschmeckt habe und
ob mein Appetit nicht durch die frische Luft auf dem Dache ge-
schärft worden sei. Er möchte wissen, was ich bei dieser Gele-
genheit in meinem Vaterlande getan haben würde. »Majestät,«
erwiderte ich etwas erregt, »in Europa haben wir nur Affen, die
als Merkwürdigkeit aus anderen Weltteilen hingebracht werden
und sie sind im Verhältnis zu uns so klein, daß ich wohl mit
einem ganzen Dutzend fertig werden würde, wenn sie Miene
machten, sich an mir zu vergreifen. Auch würde ich, wenn ich
nicht die Geistesgegenwart verloren und mich meines Degens
erinnert hätte, jenem elefantengroßen einheimischen Affen neu-
lich tüchtig eins über die Tatze gegeben und ihn in die Flucht
geschlagen haben.« Diesen in festem Ton gesprochenen Worten
suchte ich dadurch Nachdruck zu geben, daß ich mit drohender
Miene meine Hand an den Degen legte, allein meine mannhafte
Gebärde und meine kühne Rede riefen nur ein lautes Gelächter
hervor.
Solchem Gelächter und Spott setzte mich oft mein unter
Europäern nie bezweifelter Mut aus; so stiegen einst auf einer
Spazierfahrt Glumdalclitsch und ihre Gouvernante mit mir aus
dem Wagen, damit ich mich ein wenig auf einer schönen Wie-
se erginge, die im frischesten Smaragdgrün meilenweit vor uns
ausgebreitet lag. Auf dem Wiesenpfad, den wir betraten, lag ein
Haufen Kuhdünger, und ich konnte es, um den Damen meine
Keckheit und Behendigkeit zu zeigen, nicht unterlassen, den Ver-
such zu machen, mit einem kühnen Ansatz hinüberzuspringen.
Allein der Fladen war doch für meine Sprungkraft viel zu weit
ausgebreitet, ich sprang zu kurz und geriet gerade in der Mitte
bis über die Knie hinein. Die Damen ließen über meine komische
Situation ihrer Lachlust alle Zügel schießen, aber ich hätte vor
Wut und Scham vergehen mögen. Ein Bedienter zog mich endlich
aus der unsauberen Geschichte heraus, reinigte mich so gut es
gehen wollte und Glumdalclitsch verschloß mich, noch immer
lachend, in meine Reisewohnung, um mit mir zu vollständigerer
Reinigung nach Hause zurückzukehren. Wer den Schaden hat,
darf bekanntlich für den Spott nicht sorgen, und so hatte ich
denn von der Königin und den Hofdamen, denen Glumdalclitsch
die Sache ausgeschwatzt hatte, noch lange Neckereien über den
unangenehmen Vorfall zu ertragen.
Sechstes Kapitel
Der Verfasser erfreut den König und die Königin durch Anfertigung
von Nippsachen. Er gibt einen Beweis von seinem musikalischen Ta-
lent. Der Verfasser berichtet dem König eingehend über Zustände
und Einrichtungen Englands. Des Königs kritische Bemerkungen zu
diesem Bericht.

Ich hatte die Gewohnheit, mich wöchentlich ein- oder zweimal


des Morgens beim König einzufinden und hatte ihn bei dieser
Gelegenheit oft unter den Händen seines Leibkammerdieners
gesehen, wenn dieser ihn rasierte, ein Anblick, der mir anfangs
in hohem Grade furchtbar war, denn das Rasiermesser, dessen
sich der Kammerdiener bediente, war wenigstens zweimal so
lang als eine Sense. Ich erbat mir einst von dem Kammerdiener
etwas von dem abrasierten Seifenschaum, aus dem ich vierzig
bis fünfzig der stärksten königlichen Bartstoppeln hervorsuchte.
Alsdann schnitt ich ein Stückchen feinen Holzes wie den Rücken
eines Kammes zu, bohrte mir mit einer Nähnadel Löcher hinein
und fügte in diese die Bartstoppeln mit solcher Kunst, daß ich
dadurch einen für mich brauchbaren Kamm zustande brachte.
Die Hände des geschicktesten Künstlers im Lande wären nicht
fein und zierlich genug gewesen, um mir dies nützliche Gerät zu
verfertigen.
Da ich nun merkte, daß ich in der Herstellung von derglei-
chen Sächelchen nicht ohne Geschick war, so verkürzte ich mir
manche Stunde damit. Aus ausgekämmten Haaren der Königin,
die mir auf meine Bitte die Kammerfrau aufbewahrte, flocht ich
zwei Polstersitze für kleine Lehnstühle, deren Gestell in der Grö-
ße der meinigen ich vom Tischler anfertigen ließ. Als sie fertig
waren, schenkte ich sie Ihrer Majestät, die sie im Kabinett auf-
bewahrte und als Merkwürdigkeit gern vorzeigte; sie erregten

auch wirklich die Verwunderung aller, die sie erblickten. Sie Kö-
nigin wünschte einst, ich möchte mich auf einen dieser Stühle
setzen, allein ich erwiderte verbindlich, ich wolle lieber sterben,
als mich auf die allerhöchsten Haare Ihrer geheiligten Majestät
setzen; eine rücksichtsvolle Artigkeit, die von der Königin sehr
hoch aufgenommen wurde. Auch verfertigte ich aus diesen Haa-
ren eine niedliche kleine Börse, von nur fünf Fuß Länge, die ich
mit Einwilligung der Königin meiner Glumdalclitsch schenkte.
Die Börse war freilich nicht stark genug, um größere landesübli-
che Münzen zu tragen, und Glumdalclitsch bewahrte sie deshalb
unter ihrem Spielzeug auf.
Der König, der die Musik sehr liebte, ließ häufig Konzerte
bei Hofe aufführen, zu denen man mich bisweilen, um mir eine
Freude zu machen, in meiner Schachtel herbeiholte. Ich hatte
aber keine Freude an dem Lärm der riesigen Instrumente, der so
furchtbar war, daß ich kaum die Melodien unterschied und ge-
nötigt wurde, mir die Ohren zuzuhalten. Ich bin der festen Über-
zeugung, daß alle Trommeln und Trompeten der englischen Ar-
mee keinen Lärm hervorbringen können, der jenem gleichkäme.
Ich ließ deshalb bei späteren Konzertbesuchen meine Schachtel
gewöhnlich so weit als möglich von dem Ort entfernen, wo die
Musikanten saßen, schloß Tür und Fenster und zog die Fenster-
vorhänge zusammen. Alsdann fand ich, daß die Musik gar nicht
unangenehm war, zumal wenn ich sie noch dadurch dämpfte,
daß ich mir die Hände flach auf die Ohren drückte.
Glumdalclitsch erhielt wöchentlich zweimal Unterricht auf
einem Instrument, das große Ähnlichkeit mit unserem Klavier
hatte und in der gleichen Art mit den Fingern gespielt wurde.
Da ich nun in meiner Jugend ein wenig Klavierspielen gelernt
hatte, so kam mir der Einfall, den König und die Königin mit
einer englischen Melodie auf diesem Instrument zu erfreuen.
Um die Unterhaltung, auf welche die Majestäten sehr gespannt
waren, zustande zu bringen, bedurfte es aber erst der Überwin-
dung vieler Schwierigkeiten von meiner Seite, denn das Klavier
war beinahe sechzig Fuß lang und jede Taste einen Fuß breit, so
daß ich mit ausgebreiteten Armen nicht über fünf Tasten greifen
konnte. Auch das Herunterdrücken der Tasten wäre mir zu
schwer geworden, darum erfand ich folgendes Auskunftsmittel.
Ich schnitzte mir ein paar tüchtige, oben mit einem Knopf ver-
sehene Knüttel, um die ich Werg wand, so daß sie das Ansehen

hatten wie der Trommelstock, womit unsere Regimentsmusiker


die große Trommel schlagen, nur daß ihre Stiele um ein gut Teil
länger waren. Damit übte ich mich die Tasten zu schlagen, und
als ich mir einer gehörigen Fertigkeit darin bewußt war und mir
vor dem Klavier eine hohe Bank hatte aufstellen lassen, erwarte-
te ich getrost meine erlauchte Zuhörerschaft. Als sie versammelt
war, bearbeitete ich mit meinen Knütteln die Tasten so geschickt,
daß ich weder aus Takt noch Melodie fiel und mir den lebhafte-
sten Beifall des Königspaares und seines Gefolges erwarb. Das
Spielen aber, bei dem ich natürlich immer an dem langen Instru-
ment hin und her springen mußte, strengte mich außerordent-
lich an, und doch konnte ich trotz dieser Anstrengungen nichts
Vollkommenes leisten, weil ich mit meinen Schlegeln nicht Baß
und Diskant zugleich erreichen konnte. Indes zeigten sich die
höchsten und hohen Herrschaften doch von meinem Spiel sehr
befriedigt.
Der König, der, wie schon früher bemerkt, ein Fürst von vie-
lem Geist war, ließ mich häufig zu sich bringen und auf seinen
Schreibtisch in die Nahe seines Ohres setzen, um sich mit mir
bequem unterhalten zu können. Eines Tages nahm ich mir bei
einer solchen Gelegenheit die Freiheit, seiner Majestät zu bemer-
ken, daß die geringschätzige Ansicht, die er so oft über uns Eu-
ropäer laut werden lasse, durchaus keine Berechtigung habe und
von einer ganz irrtümlichen Auffassung zeuge, die den sonstigen
trefflichen Urteilen und hervorragenden Geisteseigenschaften
Seiner Majestät nicht entspräche. Er scheine immer zu glauben,
daß unsere winzige Körpergröße eine großartige Entfaltung des
Verstandes nicht zulasse, allein er möge bedenken, daß das Maß
des Geistes nicht an das Maß des Körpers gebunden sei. Nicht
selten könne man sogar die Beobachtung machen, daß lang auf-
geschossene Schlingel sehr wenig Verstand besäßen, während
kleine Leute in der Regel scharfen Verstand und schlagenden
Witz zeigten. Auch unter den Tieren zeichneten sich oft kleinere
Geschöpfe, wie Bienen und Ameisen, durch hervorragende Intel-
ligenz vor manchen größeren Tieren vorteilhaft aus. Der König
möge mich und mein Volk ja nicht für zu gering ansehen; wenn
es ihm Vergnügen mache, so sei ich bereit, ihm durch eingehende
Auseinandersetzungen über Europa, namentlich über mein Va-
terland eine Meinung beizubringen, die seine geringschätzigen
Vorstellungen von uns zu unserem Vorteile berichtigen würde.
Der edle König, anstatt über meine Freimütigkeit ungehalten
zu werden, hörte mich mit Aufmerksamkeit an und forderte mich
auf, ihm die angedeuteten Auseinandersetzungen über England
zu machen. Ich schiene zwar, und das könne er nur lobenswert
finden, sehr eingenommen für mein Vaterland zu sein, allein er
wisse, daß ich mich zugleich der Wahrheitsliebe befleißige; ich
möge daher nur zur Sache kommen, und wenn er fände, daß
wirklich etwas Nachahmenswertes in den Sitten und Einrich-
tungen meines Vaterlandes vorliege, so werde er das nicht allein
anerkennen, sondern selbst zu seinem und seiner Untertanen
Nutzen davon nehmen.
O wie wallte mir jetzt mein Herz auf, als ich diese schöne
Gelegenheit hatte, die Größe und den Ruhm meines Vaterlandes
mit beredten Worten vor einem so mächtigen, leutseligen Herr-
scher zu verkünden!
Ich begann zunächst mit einem geographischen Bericht über
unsere drei vereinigten Königreiche und unsere Kolonien, sprach
über die Bedeutung unseres Handels und unserer Seemacht und
ging darauf genauer als früher auf unsere Staatsverfassung und
unser Parlament ein. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß
dieses Parlament teilweise aus einem erlauchten, durch Personen
vom edelsten Blute gebildeten Staatskörper bestehe, die mit der
größten Sorgfalt von Kindesbeinen an in den Künsten des Krieges
und des Friedens unterrichtet würden, damit sie einst als wert-
volle Ratgeber der Krone des Landes zur Seite stehen und das Ge-
meinwohl mit Erfolg fördern könnten. Diese Männer, Nachkom-
men hoher berühmter Ahnen, machten sich stets dieser Abkunft
würdig. Ihrer Versammlung seien mehrere heilige Personen unter
dem Namen »Bischöfe« beigegeben, die sich durch ihre Weisheit
auszeichneten und ein wachsames Auge über die Pflege der Reli-
gion und den Unterricht des Volkes hielten. Nur die durch from-
men Wandel und große Gelehrsamkeit ausgezeichneten Geistli-
chen würden zu dieser hohen Würde aus den übrigen erwählt.
Die andere Abteilung des Parlaments bilde das »Haus der Ge-
meinen«, in welches das Volk nur die gebildetsten und fähigsten
Köpfe wähle, damit durch sie die Nation würdig vertreten wür-
de. Diese beiden Häuser, denen gemeinsam mit dem Könige die
Gesetzgebung anvertraut sei, stellten wie in einem großen Staate
des Altertums, namens Rom, wahrhaft eine Versammlung von
Königen dar.
Sodann sprach ich über die vorzügliche Zusammensetzung
unserer Gerichtshöfe, erwähnte die treffliche Verwaltung der Fi-
nanzen und die Tapferkeit und Disziplin unserer Krieger zu Lan-
de und zur See. Ich berechnete ferner die Gesamtzahl der Ein-
wohner Großbritanniens und vergaß nicht, wie viele Millionen
zu jeder Religionssekte und zu jeder politischen Partei gezählt
würden. Auch vergaß ich nicht unserer interessanten Schauspie-
le zu erwähnen, bei denen bewunderungswürdige körperliche
Kraft und Gewandtheit an den Tag gelegt würde. Schließlich
hing ich meinem ganzen Bericht, der fünf Audienzen erfordert
hatte und den ich hier nur in aller Kürze wiedergebe, einen hi-
storischen Überblick über die wichtigsten Ereignisse an, die seit
hundert Jahren in England stattgefunden hatten.
Der König hatte mir während der fünf Audienzen mit gro-
ßer Aufmerksamkeit zugehört und dazwischen Bemerkungen
in sein Notizbuch geschrieben. Als ich nun mit meinem fünften
und letzten Vortrag ganz zu Ende war, übersah er nochmals die
niedergeschriebenen Bemerkungen und knüpfte manche Fragen,
Zweifel und Einwände daran. Er erkundigte sich näher nach der
Art und Weise der Erziehung unseres jungen Adels, der einst eine
so wichtige Stelle in unserem Staate einzunehmen hätte. Fer-
ner, in welcher Art man das Oberhaus wieder vollzählig mache,
wenn eine alte Familie ausgestorben sei? Welche Eigenschaften
zur Ernennung eines Lords erforderlich wären? Ob die Laune
des Fürsten oder die Bestechung einer Hofdame nicht zuweilen
bei diesen Beförderungen mitwirkten? Welche Kenntnis diese
Lords von den Gesetzen des Landes hätten und wie sie sich diese
Kenntnis erwürben, damit sie über Wohl, Weh und Eigentum der
Staatsangehörigen in letzter Instanz entscheiden könnten? Ob
sie stets so frei von Habsucht, Parteilichkeit oder Mangel seien,
daß sie keiner Bestechung zugänglich wären? Ob die heiligen
Bischöfe, von denen ich gesprochen, wirklich stets wegen ihres
unsträflichen Lebenswandels und ihrer großen Gelehrsamkeit zu
dieser Würde erhoben würden? Nach und nach wurde es mir
klar, daß diese und viele ähnliche Fragen des Königs in einem
spöttischen Tone gestellt wurden; das ließ sich gar nicht mehr
verkennen, als er fragte, ob denn wirklich immer in das Haus der
Gemeinen Männer von Bildung ihrer Verdienste wegen vom Vol-
ke gewählt würden, oder ob die Wähler aus dem gemeinen Volk
sich nicht auch durch einen vollen Geldbeutel bei ihrer Stimmen-
abgabe leiten ließen? Recht deutlich wurde mir der ironische
Ton des Königs, als er mit seinen Fragen auf unsere Gerichtshöfe
einging, über die ich ihm umso ausführlichere Berichte geben
konnte, als ich früher durch einen langen Prozeß beim Kanzlei-
hofe beinahe ruiniert wurde. Der König erkundigte sich nach den
Kosten und nach dem Zeitaufwand des Verfahrens und ob Par-
teileidenschaft oder religiöser Fanatismus nicht zuweilen auf die
Entscheidungen einwirkten? Ob Advokaten und Richter nicht
zu verschiedenen Zeiten für und gegen dieselbe Sache sprächen?
Wie es mit dem Wohlstande dieser Herren bestellt und ob sie
jeglicher Verführung durch Geld unzugänglich seien? Ähnliche
kritische Fragen setzte er meinem Bericht über die Verwaltung
des Landes und über die Finanzen entgegen und meinte, nach
der Berechnung der Schuldenlast des Landes, die ich ihm gege-
ben, könne er nicht begreifen, daß ein Königreich, wie mancher
Privatmann, über sein Vermögen hinaus verschwende. Unsere
Kriege müßten freilich viel Geld kosten, allein wenn er meinen
historischen Bericht genau verfolge, so sehe er nicht ein, wozu
alle diese großen Kriege nötig gewesen wären, in denen es sich
keineswegs immer um eine zu billigende Verteidigung des Va-
terlandes gehandelt habe. Auch sei er geradezu erstaunt darüber,
daß ich von einem besoldeten und stehenden Heere spräche, das
mitten im Frieden in einem freien Lande gehalten würde, denn
wenn wir uns durch selbstgewählte Personen, wie ich mein-
te, vortrefflich regierten, und Gesetz und Ordnung aufrecht zu
erhalten wüßten, so sehe er nicht, vor wem wir uns eigentlich
mitten im Frieden zu fürchten hätten. Meine Berechnung der
Einwohnerzahl nach religiösen und politischen Parteien scheine
ihm, ich möge ihm das nicht übelnehmen, geradezu lächerlich;
wie man so viel Gewicht auf Meinungs- und Glaubenssachen le-
gen könne, die doch jedes Menschen eigene Angelegenheit seien,
verstehe er nicht. In seinem Reiche sei es gleichgültig, ob man
den Tschieluloh oder den Tschielulah (mit diesen nur durch ei-
nen Buchstaben verschiedenen Namen bezeichnen verschiedene
Sekten in Brobdingnag ihre Gottheiten) anbete, wenn nur jeder
Gesetz und Recht befolge und sonst gewissenhaft seinen Pflich-
ten nachkäme.
Die Wetten und Spiele, meinte er ferner, womit sich nach mei-
ner Erzählung die Großen und Reichen vergnügten, schienen ihm
auch nicht derart zu sein, daß sie Geist und Herz bilden oder von
günstigem Einfluß auf die Vermögensverhältnisse sein könnten,
und ich müßte ihm gewiß zugeben, daß Leute gemeiner Gesin-
nung nicht selten danach trachteten, sich durch solche Spiele zu
bereichern. Was nun endlich meinen historischen Bericht über die
Geschichte der letzten hundert Jahre meines Vaterlandes beträfe,
so könne er daraus auf keinen besonders glücklichen Zustand
schließen, denn alles, was ich ihm erzählt, sei ja nur eine Anhäu-
fung von Verschwörungen, Rebellionen, Morden, Verbannungen
und anderen Begebenheiten, die durch die Leidenschaften des
Hasses, des Geizes und der Selbstsucht in Szene gesetzt würden.
Das ganze Ergebnis meiner begeisterten Lobrede auf mein Va-
terland war dem König gegenüber kein anderes, als daß er mich
nach der Schlußaudienz lächelnd auf die Hand nahm und sagte:
»Mein lieber kleiner Freund Grildrig. Sie haben Ihrem Vaterlan-
de eine bewundernswerte Lobrede gehalten; Sie haben deutlich
bewiesen, daß Unwissenheit, religiöse Unduldsamkeit, Faulheit,
Heuchelei und Laster die passendsten Eigenschaften sind, um
zu hohen Würden zu kommen und einen Gesetzgeber zu bilden.
Aus allem, was Sie mir gesagt haben, geht hervor, daß keine Voll-
kommenheit erfordert wird, um den Bewerbern höhere Stellen
zu verschaffen, noch viel weniger, daß die Menschen wegen ih-
rer Tugend den Adelsrang erhalten. Ihnen ist gewiß infolge Ihrer
vielen Reisen der Abgrund von Heuchelei und Verworfenheit, der
sich in Ihrem Lande auftut, in seinem ganzen Umfange nicht zur
Übersicht gekommen, ich aber kann Sie versichern, daß ich nach
Ihrem Bericht und nach den Antworten, die Sie mir auf meine
Fragen gegeben haben, schließen muß, daß die Mehrzahl Ihrer
Landsleute das verderblichste und ekelhafteste kleine Gewürm
sein muß, das auf Gottes Erdboden herumkriecht.«
Siebentes Kapitel
Der Verfasser macht dem König einen Vorschlag, den dieser mit Ab-
scheu zurückweist. Des Königs und seiner Räte Unwissenheit in der
Politik. Die Gelehrsamkeit von Brobdingnag ist nur auf wenige Wissen-
schaften und Künste beschränkt. Gesetze und Militärangelegenheiten.

Liebe zur Wahrheit allein hat mich verhindert, die eben erzähl-
ten groben Auslassungen des Königs über mein Vaterland zu un-
terdrücken. Es tat mir, und so wird es gewiß jedem Leser gehen,
tief in der Seele weh, mein herrliches Vaterland so geschmäht
zu hören und ich hätte guten Grund gehabt, auf den König recht
böse zu sein, wenn ich mir bei näherer Überlegung nicht gesagt
hätte, daß man dem König manches schiefe Urteil nachsehen
müsse, weil seine Erziehung und Lebenserfahrung dadurch, daß
Brobdingnag von allen anderen Nationen abgeschlossen ist, eine
einseitige und beschränkte sein mußte. Diese Beschränktheit
trat recht klar zutage, als ich, um seine Aufmerksamkeit wieder
auf großartige Erfindungen und Einrichtungen hinzulenken, die
man in dem abgeschlossenen Brobdingnag nicht kannte, eines
Tages erzählte, daß man in Europa vor drei- oder vierhundert
Jahren ein Pulver erfunden habe, das der kleinste Feuerfunke un-
ter Donnergekrach zu den verderblichsten Wirkungen anfachen
könne. Wenn man eine bestimmte Menge dieses Pulvers in eine
eiserne Röhre stopfe, so treibe es, nachdem es entzündet, eine
darauf gepflanzte eiserne oder bleierne Kugel mit solcher Gewalt
vorwärts, daß alles, was der Kugel in den Weg käme, niederge-
schmettert würde. Die größeren dieser Kugeln vermöchten nicht
allein ganze Reihen eines Heeres niederzustrecken, sondern
auch Mauern einzureißen und ganze Städte und Flotten zu zer-
trümmern. Mir wären, fuhr ich fort, die Bestandteile, aus denen
man dies vernichtende Pulver verfertige, genau bekannt, auch
könne ich, wenn Seine Majestät befehle, seinen Eisenarbeitern
und Erzgießern Anweisung geben, wie sie solche Menschen und
Städte zertrümmernde Röhren herzustellen hätten. Im Besitze
eines solchen Pulvers und solcher Röhren könne Seine Majestät
jede Stadt, die es sich einmal herausnehmen sollte, sich den Be-
fehlen des Königs zu widersetzen, in wenigen Stunden in einen
Trümmerhaufen verwandeln. Gern sei ich bereit, Seiner Majestät
die Anweisung zur Herstellung dieser mächtigsten und unüber-
windlichsten Waffe zu geben, weil ich dadurch auch einen klei-
nen Tribut meiner Dankbarkeit abtragen könnte, für die vielen
Beweise der königlichen Huld und Gnade, die ich hier am Hofe
erfahren hätte.
Der König aber, anstatt sich über meinen Antrag zu freuen,
zog die Stirne in die ernstesten Falten zusammen und sagte mit
einer Miene des Widerwillens und des tiefsten Abscheues: er er-
staune, wie ein so schwaches, kriechendes Insekt, wie ich, solch
grausame und unmenschliche Gedanken hegen könne. Die-
se scheußlichen Mordmaschinen, von denen ich so ganz ohne
Schauder wie von den gleichgültigsten Dingen spräche, müsse
wohl irgend ein böser Geist, ein unversöhnlicher Feind der Men-
schen erfunden haben. Wenn mir mein Leben lieb sei, so solle
ich nie wieder von solch unmenschlichen Erfindungen reden, er
wolle lieber sein Königreich verlieren, als sich näher mit solchen
Scheußlichkeiten bekannt machen.
Da sehe man nun die einseitigen und beschränkten Ansichten
eines Fürsten, der sonst bei hohen Geistesgaben und durch sei-
ne anerkennenswerten Tugenden der Abgott seines Volkes war!
Seine einseitige Erziehung und Bildung ließ ihn Gewissensbe-
denken hegen, von denen kein gebildeter Europäer einen Begriff
hat und so ließ er sich die beste Gelegenheit entgehen, sich zum
unumschränkten Herrn über Leben, Freiheit und Vermögen sei-
ner Untertanen zu machen!
Solch beschränkte Ansichten wie der König hatten auch in
politischen Dingen seine Räte und Gelehrten, woraus ich den

Schluß zog, daß in Brobdingnag die Politik noch nicht zur Wis-
senschaft entwickelt sei, während dies in Europa durch scharf-
sinnige Männer längst geschehen ist. Den Wert einer solchen
Wissenschaft sah der König sehr geringschätzig an, denn als ich
einst erwähnte, daß wir Tausende von Büchern über die Regie-
rungskunst und über die Art und Weise, wie die Untertanen am
besten unterm Fuße zu halten seien, besäßen, meinte er, das
könne ihm keine große Meinung von unserem Verstande bei-
bringen, es gehöre nicht viel Klügelei dazu, um herauszubringen,
wie man gerecht zu regieren habe, der Regierende habe sich nur
vom gesunden Menschenverstande und von Gerechtigkeit und
Menschenfreundlichkeit leiten zu lassen, das reiche vollkommen
aus und mache große Lehrbücher darüber unnötig.
Da die wichtige Wissenschaft der Politik ganz ausfällt, so
kann man sich leicht vorstellen, daß die Literatur in Brobding-
nag überhaupt eine nur mangelhafte ist. Die Brobdingnagschen
Bücher handeln allein von Moral, Geschichte, Poesie und Mathe-
matik, geben aber allerdings in diesen Fächern Vorzügliches. Nur
ist bei der Behandlung der Mathematik zu tadeln, daß man sich
lediglich auf die angewandte Mathematik und ihren Nutzen für
das praktische Leben beschränkt.
Die geschriebenen Gesetze des Landes, das muß man zuge-
ben, zeichnen sich durch kurze Fassung und durch Deutlichkeit
aus, kein Gesetz darf in Worten die Zahl der Buchstaben des Al-
phabets überschreiten und dieses besteht nur aus zweiundzwan-
zig Lautzeichen. Die Klarheit der Gesetze läßt daher bei Prozes-
sen keine krausen Auslegungen und Vieldeuteleien zu, weshalb
dieses Volk auch keine Kommentare oder nähere Erklärungen
über die Gesetze besitzt.
Die Buchdruckerkunst ist in Brobdingnag schon lange bekannt
und wird ähnlich wie in China ausgeübt, doch wirft man bei
weitem nicht eine so große Anzahl von Büchern auf den Markt,
wie bei uns, woher es auch kommt, daß die Bibliotheken nicht
groß sind. Die des Königs, die für die größte im Reiche gehalten
wird, beträgt nicht über tausend Bände, die in einer Galerie von
eintausendzweihundert Fuß Länge aufgestellt sind. Ich hatte die
Erlaubnis, mir Bücher aus dieser Bibliothek in Glumdalclitschs
Zimmer kommen zu lassen; um sie aber lesen zu können, muß-
te mir der Tischler eine fünfundzwanzig Fuß hohe Doppelleiter
machen, die ich dann, nachdem das Buch aufgeschlagen an die
Wand gelehnt war, erstieg, und Stufe um Stufe herabsteigend, die
Zeilen bequem überlas. Manche dieser Bücher enthielten Lehren,
die unseren besten Philosophen alle Ehre machen würden und
waren meistens in einem sehr klaren und jedermann verständli-
chen Stil geschrieben, eine löbliche Eigenschaft, die bekanntlich
vielen unserer Moralisten und Philosophen abgeht. Es bleibt mir
bei meiner kurzen Übersicht Brobdingnagscher Einrichtungen
noch übrig, etwas über das dortige Militär zu sagen. Die könig-
liche Armee besteht aus hundertsechsundsiebzigtausend Mann
Infanterie und zweiunddreißigtausend Mann Kavallerie. Diese
Armee ist aber lediglich aus Bürgern und Bauern zusammenge-
setzt und wird von Leuten aus den gebildeten Ständen einexer-
ziert und befehligt. Sold wird nicht gezahlt, weil man der An-
sicht ist, es sei jedes Staatsbürgers selbstverständliche Pflicht und
Schuldigkeit, dem Vaterlande zu dienen.
Ich habe häufig den Waffenübungen der Miliz von Lorbrul-
grud, die auf einer ungeheuren Ebene vor der Stadt stattfanden,
zugesehen und ich muß gestehen, daß mir Großartigeres noch
nicht vorgekommen ist. Ein Reiter auf seinem Pferde mochte bis
zur Spitze seines Helms reichlich neunzig bis hundert Fuß mes-
sen. Wenn einige Schwadronen dieser Kavallerie auf Kommando
die Säbel zogen, in der Luft schwangen und im Galopp zu ei-
nem Scheinangriff ansetzten, so schien es, als ob die funkelnden
Klingen als ebensoviele Blitze die Luft durchschnitten, und das
gab einen Anblick, wie ihn sich die lebendigste Einbildungskraft
nicht großartiger ausmalen kann.
Es war mir anfangs unerklärlich, weshalb der König, dessen
Reich doch die Natur schon gegen jeden Feind abgeschlossen hat,
einer Armee bedürfe und sein Volk an den Kriegsdienst gewöhne.
Doch wurde ich bald gesprächsweise und auch durch das Lesen
Brobdingnagscher Geschichtsschreiber belehrt, daß das Volk vie-
le Menschenalter hindurch in Bürgerkriege verwickelt gewesen
war, weil Herrschsucht des Adels und der Könige einerseits und
Unabhängigkeitssinn des Volkes andererseits zu Parteiungen
und Ausschreitungen geführt hatten. Der letzte Bürgerkrieg war
indes schon zu den Zeiten des Großvaters des jetzt regierenden
Königs durch einen Vergleich beigelegt, und die Miliz bestand
nur fort nach alter Gewohnheit und zum Schutze der Gesetze
und der Verfassung des Landes.
Achtes Kapitel
Der Verfasser begleitet den König und die Königin auf einer Reise. Er
wird auf wunderbare Weise dem Lande entrückt und kehrt in sein
Vaterland zurück.

Ich konnte trotz der oft gehörten Schmähungen meines Vaterlan-


des und trotz der guten, ja ausgezeichneten Behandlung, die ich
am Hofe von Brobdingnag erfuhr, dennoch kaum eine Stunde für
mich allein sein, ohne den sehnsüchtigsten Gedanken an mein
Vaterland nachzuhängen. Ich sann hin und her, wie ich wohl
diesem Riesenlande, das meinem körperlichen Zuschnitt ebenso
unbequem, ja in mancher Beziehung noch unangemessener und
unbequemer als einst Liliput war, entkommen könnte, allein es
wollte sich so leicht kein Ausweg finden. Nur ein außerordent-
liches Ereignis, wie der ungewöhnliche, anhaltende Sturm, der
mich nach diesem Lande verschlagen, konnte ein europäisches
Schiff, das mich vielleicht in mein Vaterland befördert hätte, der
Küste nahe bringen, aber darüber konnten viele Jahre vergehen,
und überdies hatte der König Befehl gegeben, daß wenn jemals
sich wieder ein Schiff mit solchen Däumlingen, wie ich, der
Küste nähere, man es sofort anhalten und die Mannschaft ins
Innere des Landes transportieren solle, weil er Lust hatte, eine
ganze Ansiedlung solch kleiner Menschlein in seinem Lande sich
festsetzen zu sehen. So hatte ich manche trübe, mich in Sehn-
sucht nach dem Vaterlande verzehrende Stunde, als ein Ereig-
nis eintrat, das schneller als mein kühnstes Hoffen meine Be-
freiung herbeiführte und meine Rückkehr nach dem Vaterlande
vermittelte. Ich will dies merkwürdige Ereignis mit allen seinen
Nebenumständen und Folgen hier, wie es meine Gewohnheit ist,
wahrheitsgetreu berichten.

Es war am Ende des zweiten Jahres meines Aufenthaltes in


Brobdingnag, als ich den König und die Königin mit Glumdal-
clitsch, wie das schon oft geschehen, auf einer Reise begleitete.
Die Reise bot anfangs durchaus nichts Bemerkenswertes oder
Abenteuerliches für mich; ich saß und schlief bequem in meiner
gutausgepolsterten, dem Leser ihrer inneren und äußeren Ein-
richtung nach bekannten Reiseschachtel und sah es gern, wenn
wir einmal anhielten, damit ich mich ein wenig in der frischen
Luft ergehen könne. Ein solches Bedürfnis nach frischer Luft
fühlte ich auch wieder recht lebhaft, als wir nach langer Fahrt
bei dem an der Südküste liegenden königlichen Palast Flanflasnic
angekommen waren, wo der König halten ließ, um hier einige
Tage zu ruhen. Diese Ruhe kam mir sowohl wie Glumdalclitsch
sehr zustatten, die infolge ihrer zarten Konstitution noch mehr
als ich von der langen Reise angegriffen war.
Nachdem ich unser Lustschloß flüchtig betrachtet, sehnte ich
mich danach, den Ozean einmal wieder zu sehen, für den ich
immer eine große Vorliebe hatte, weil ich mir sagte, daß nur er
allein die Brücke zu bilden vermöchte, auf der ich wieder in mein
Vaterland gelangen könne. So stellte ich mich denn, um die Er-
laubnis zu der Reise ans Meer zu bekommen, unwohler als ich
war und wußte die Meinung geltend zu machen, daß mir nur
die frische Seeluft helfen könne. Ich wurde darum mit meiner
Reiseschachtel einem zuverlässigen Pagen anvertraut, der mich
zur Seeküste tragen sollte, und nie vergesse ich’s, wie Glumdal-
clitsch, bitterlich über die Trennung von mir weinend, dem Pa-
gen die größte Sorgfalt für mich einschärfte. Es war, als ob sie’s
geahnt hätte, daß sie mich, ihren besten Freund und ihr liebstes
Spielzeug, nicht wiedersehen würde. Der Page trug mich in mei-
ner Behausung ungefähr eine halbe Stunde weit vom Palast ans
Meeresufer; hier befahl ich ihm, mich niederzusetzen und mich
eine Zeitlang nicht zu stören, weil ich der Ruhe bedürftig sei
und in meiner Hängematte ein Stündchen schlummern wollte.
Der Knabe gehorchte, schob, damit ich recht ungestört sei, das
Schiebfensterchen meiner Schachtel zu und entfernte sich sorg-
los, um am Strande nach Muscheln zu suchen.
Kaum war ich indes in meiner Hängematte ein wenig einge-
schlummert, als mich ein heftiges Ziehen an dem Ring erweckte,
der sich an meiner Schachtel befand, um sie bequemer um den
Leib gürten und tragen zu können. Ich fühlte deutlich, wie mei-
ne Schachtel hoch in die Luft emporgehoben und dann mit wun-
derbarer Schnelle fortgeführt wurde, die Bewegung war indes
eine so sanfte, daß ich ruhig in meiner Hängematte liegen blei-
ben konnte. Ich verließ sie jedoch aus Verwunderung und Furcht
und trat ans Fenster, um nach der Ursache meiner Fortbewegung
zu sehen, erblickte aber nichts als Himmel und Wolken, die oft
so nahe über meine Behausung hinstrichen, daß ich sie mit den
Händen hätte ergreifen können. Endlich vernahm ich über mir
ein Sausen und Geräusch, wie von einem starken Flügelschlage,
und nun wurde mir mit einem Male die ganze Furchtbarkeit mei-
ner unerhörten Lage klar. Ein den Größenverhältnissen des Lan-
des angemessener Adler hatte die Schnur, die durch den Tragring
meiner Schachtel geschlungen war, mit dem Schnabel ergriffen
und sie in keiner anderen Absicht hoch in die Lüfte erhoben, als
um sie, damit er zu ihrem von ihm ausgewitterten, lebendigen
Inhalt komme, auf den ersten besten Felsen herabfallen zu lassen
und zu zerschmettern, gleichwie es diese Tiere wohl mit einer
Schildkröte zu tun pflegen. Als ich noch über die Hilflosigkeit
meiner schrecklichen Lage mit Schaudern nachdachte, hörte ich
deutlich, wie sich der brausende Flügelschlag über mir verdop-
pelte und zugleich empfand ich infolge eines plötzlichen Hin-
und Herschwankens meiner Schachtel die heftigsten Erschütte-
rungen. Dann fühlte ich, wie ich schnurgerade und senkrecht
herabfiel, und zwar mit einer von Sekunde zu Sekunde zuneh-
menden Schnelligkeit, daß mir der Atem verging. Endlich fiel ich
mit meiner Schachtel auf einen laut aufrauschenden Gegenstand,
und gleich darauf verfinsterten sich meine Fenster so sehr, daß es
dunkle Nacht um mich wurde. Doch auch dieser überraschende
Zustand währte nicht lange; ich fühlte mich mit meiner Schach-
tel wieder gehoben, Tageslicht drang durch meine Fenster und
als ich heransprang, um hinauszuschauen, erkannte ich, daß ich
in die offene See gefallen sein müsse. Meine Schachtel schwamm
wegen meines Körpergewichtes, wegen der Sachen, die sie ent-
hielt und der breiten eisernen Platten, die, um ihr mehr Halt zu
geben, an den vier Ecken des Bodens befestigt waren, etwa fünf
Fuß tief im Wasser.
Meine neue, mir im Vergleich zur früheren gar nicht unwill-
kommene Lage, wußte ich mir sehr wohl zu erklären. Der Adler,
der mich geraubt hatte, wurde, das sagte mir der vernommene
verdoppelte Flügelschlag, in der Luft von zwei oder drei ande-
ren Adlern angefallen, die ihm seine Beute streitig machten, und
in dem darüber sich entspinnenden Kampfe hatte er mich, weil
er seinen Schnabel gebrauchen mußte, fallen lassen; bei allem
Unglück ein Glück, daß ich ins Meer und nicht auf einen Felsen
gefallen war.
Dank der guten, soliden Riesenarbeit, womit meine Schachtel
verfertigt war, war sie vollkommen dicht genug, um kein Was-
ser einzulassen, so daß ich wie in einem gutverwahrten Schiff
dahinschwamm. Freilich war meine Lage keineswegs beneidens-
wert, denn ich war ohne Ruder und Segel ein willenloses Spiel
der Wellen und mußte dazu noch jeden Augenblick fürchten, ge-
gen eine Klippe geworfen zu werden; zerbrach dann nur eine ein-
zige Glasscheibe und das Wasser drang ein, so mußte ich elend
ertrinken. Unter solchen Befürchtungen gedachte ich auch mit
inniger Wehmut meiner lieben, mütterlichen Freundin, meiner
teuren Glumdalclitsch, und malte mir den herben Schmerz aus,
den sie über meinen Verlust empfinden würde. O das gute, liebe
Kind, wie wird es meinen Verlust beweint haben!
Ich dachte daran, mich nach einem rettenden Schiff umzu-
sehen und versuchte die Decke meiner Schachtel zu heben und
mich oben daraufzusetzen, denn es war trotz des festen Baues
meiner Schachtel doch nach und nach so viel Wasser eingedrun-
gen, daß ich wegen ihres Tiefgangs kein Fenster mehr öffnen und
hinausschauen konnte. Allein ich hätte ebenso wenig einen Berg
wie den schweren Deckel heben können. So ergab ich mich denn
schon in mein Schicksal, entweder zu ertrinken oder Hungers
zu sterben, als ich nach mehreren Stunden der verzweiflungs-
vollsten Angst etwas an dem Ringe meiner Schachtel graspeln
hörte. Zugleich verspürte ich ab und zu einen heftigen Ruck, so
daß ich auf den tröstlichen Gedanken kam, meine Schachtel sei
von irgend einem Schiff ins Schlepptau genommen. In dieser
Hoffnung kletterte ich auf einen Stuhl zu einem nicht weit unter
der Decke befindlichen Luftloch und schrie in allen mir bekann-
ten Sprachen um Hilfe. Auch befestigte ich mein Taschentuch
an einen Stock und steckte es durch das Loch, indem ich es, so
gut es gehen wollte, als ein Notzeichen hin und her schwenk-
te, allein alles war vergebens; doch fühlte ich, daß sich meine
Schachtel immer in gleicher Richtung ruckweise fortbewegte.

Plötzlich stieß sie so heftig auf einen harten Gegenstand, daß ich
zu Boden stürzte und schon besorgte, an einer Klippe gescheitert
zu sein. Doch mein schwimmendes Häuschen hielt zusammen
und bald hörte ich auf dem Deckel deutlich ein Geräusch, wie
von angezogenen Tauen. Jetzt steckte ich in der Hoffnung, daß
mein seltsames Fahrzeug von Menschen entdeckt sei und durch
ein Tau herangezogen werde, nochmals den Stock mit meinem
Schnupftuch zum Loch hinaus und schrie mich fast heiser nach
Hilfe. – O welch ein unnennbares Entzücken durchströmte mich,
als ich jetzt als Antwort auf meinen Ruf ein dreimaliges kräfti-
ges Hurra vernahm! Zugleich hörte ich ein heftiges Getrampel
auf dem Deckel meiner Schachtel und eine Männerstimme rief
in englischer Sprache laut durch das Luftloch: »Ist jemand hier
in dem Kasten, so gebe er sich zu erkennen!« – »Um Gottes wil-
len, kommt mir sogleich zu Hilfe,« rief ich zurück, »ich bin ein
Engländer und durch ein wunderbares Mißgeschick in diese selt-
same und gefährliche Lage geraten.« – »Seid nur ruhig, Mann,«
rief die Stimme von oben, »Euer Fahrzeug liegt fest an unserem
Schiff, gleich wird unser Zimmermann kommen und ein Loch in

die Decke sägen, das groß genug ist, um Euch ans Licht zu brin-
gen.« – »Ei, macht doch nicht so viel Umstände und Weitläufigkei-
ten, lieben Leute,« entgegnete ich, »es darf ja nur jemand seinen
Finger durch den Ring stecken, den Ihr auf dem Deckel meiner
Schachtel seht, um mich mit Leichtigkeit an Bord zu heben!«
Nach diesen Worten hörte ich die Leute laut auflachen und
schloß aus einigen Bemerkungen, die ich auffing, daß sie mich
für verrückt hielten.
Indes kam der Zimmermann und sägte ein Loch in mei-
ne Schachtel, das groß genug war, um einen Mann hindurch-
zuziehen. Dann warf man mir eine Strickleiter hinab, ich
bestieg sie und befand mich nach wenigen Minuten äußerst
schwach und bis zum Umfallen matt an Bord eines englischen
Kauffahrers.
Hunderte von Fragen, die von den erstaunt mich anstarrenden
Leuten an mich gerichtet wurden, konnte ich vorderhand wegen
meiner Schwäche und Müdigkeit nicht beantworten. Auch hin-
derte mich selbst Staunen und Überraschung am Sprechen, als
ich mich von so vielen Zwergen umwimmelt sah, denn mein
Auge war ja seit Jahren an die ungeheuersten Größenverhältnis-
se gewöhnt. Der Kapitän des Schiffs, Thomas Wilcock, ein men-
schenfreundlicher Mann, mußte wohl einsehen, daß mir Ruhe
und Erquickung vor allen Dingen Not taten. Er führte mich dar-
um in seine Kajüte, erquickte mich durch ein Glas guten spani-
schen Weines und sprach mir zu, daß ich mich auf sein Bett legen
und ein paar Stündchen ruhig schlafen möchte. Ich befolgte ger-
ne den freundlichen Rat, bat aber, ehe ich mich niederlegte, den
Kapitän, er möge doch freundlichst Sorge für meine Hausrat und
Wertsachen enthaltende Schachtel tragen, und einem Matrosen
befehlen, daß er sie in die Kajüte bringe. Der Kapitän, dem ich
mit meinen an Brobdingnagsche Verhältnisse gewöhnten Augen
und unfähig, mich gleich in die neuen Zustände zu finden, zumu-
tete, einen Kasten von zwölf Quadratfuß Umfang und zehn Fuß
Höhe durch einen Matrosen in die Kajüte tragen zu lassen, sah
mich mit bedenklichem Kopfschütteln an und hielt mich ohne
Zweifel für toll. Doch sprach er mir gütig zu, ich möchte mich
nur niederlegen und gehörig ausruhen, er werde schon für die
Bewahrung meines Eigentums Sorge tragen.
Der Kapitän erteilte dann sogleich Befehl, daß meine Stühle,
Bettstelle und andere Habseligkeiten aus dem Kasten aufs Schiff
befördert wurden, ließ auch von dem seltsamen Fahrzeug einige
brauchbare Bretter und Balken loslösen und aufs Schiff bringen
und den dann nutzlosen Rumpf ins Meer versenken.
Inzwischen erquickte mich ein anhaltender Schlaf, aus dem
ich endlich über Traumbildern erwachte, die mir meine liebe
Glumdalclitsch, das von mir verlassene, wunderbare Riesenland
und die zuletzt bestandenen Gefahren aufs lebhafteste vorführ-
ten. Als der Kapitän eintrat, mich wachend sah und sich teil-
nehmend nach meinem Befinden erkundigte, konnte ich ihm
die Versicherung geben, daß ich mich vollkommen wohl und
gestärkt fühlte. Darauf ließ Herr Wilcock das Abendessen auf-
tragen und bat mich, sein Gast zu sein. Anfangs betrachtete er
mich mit etwas mißtrauischen Augen, indem er nach meinen
früheren Äußerungen glaubte, mein Verstand habe gelitten, als
er aber sah, daß ich wie ein anständiger Mann aß und vernünf-
tig und zusammenhängend redete, bat er mich, ihm einen Be-
richt von meiner Reise zu geben und ihm zu erklären, wie ich
in die seltsame, ungeheure Kiste geraten und mit dem plumpen,
untauglichen Fahrzeug ins Meer gekommen sei. Ich fragte ihn
zunächst, auf welche Weise er die Kiste entdeckt und mir Ret-
tung verschafft habe. »Nun, das ist ganz einfach,« meinte er, »ich
stand etwa um zwölf Uhr mittags auf Deck und glaubte durch
mein Fernrohr ein Segel zu entdecken, als aber Ihre Kiste näher
kam, erkannte ich meinen Irrtum und ließ das Langboot ausset-
zen, um durch einige meiner Leute den mir unerklärlichen Ge-
genstand untersuchen zu lassen. Diese kamen alsbald mit allen
Zeichen des Schreckens und Erstaunens zurück und berichteten,
es sei ein schwimmendes Haus. Ich glaubte, die Leute seien über
ihre Ration Rum hinausgegangen und nicht recht bei Verstande,
begab mich selbst in das Boot und ließ ein starkes Tau mitneh-
men. Darauf untersuchte ich Ihre Behausung genau, und als ich
die Krampen daran entdeckte, ließ ich das Tau hindurchziehen
und Ihre Schachtel, wie Sie seltsamerweise diese kolossale Kiste
nennen, zum Schiff schleppen. Am Bug des Schiffes angekom-
men, ließ ich ein anderes Tau durch den Ring auf der Decke zie-
hen und versuchte die Kiste durch Rollen und Flaschenzüge in
die Höhe heben zu lassen, allein die vereinigten Kräfte meiner
ganzen Mannschaft vermochten das Ungeheuer nur drei Fuß zu
heben; sodann sahen wir ihren Stock mit dem Schnupftuch und
schlossen daraus, daß irgend ein nach Rettung Verlangender in
dem merkwürdigen Behälter stecken müsse.«
Ich hörte diese Erklärung des Kapitäns aufmerksam an und
fragte darauf, ob er oder seine Leute nicht beim ersten Erblik-
ken der Schachtel ein paar ungeheuer große Vögel in der Luft
bemerkt hätten?
»Jawohl,« erwiderte er, »einer meiner Leute wenigstens hat
mir erzählt, er habe zur Zeit der Entdeckung der Kiste in be-
trächtlicher Höhe drei Adler nach Norden fliegen sehen; von ih-
rer auffallenden Größe aber hat er nichts bemerkt.«
Ich konnte mir diese Augentäuschung leicht aus der ungeheu-
ren Entfernung der Vögel erklären und fragte, wie weit wir wohl
vom festen Lande entfernt wären? Er antwortete: nach der ge-
nauesten Berechnung etwa fünfzig Stunden. Ich gab ihm die Ver-
sicherung, er müsse sich wenigstens um die Hälfte irren, denn
ich hätte das Land, woher ich gekommen sei, höchstens zwei
Stunden vor meinem Niederfallen ins Meer verlassen. Diese Be-
hauptung brachte den Kapitän doch wieder auf den Gedanken,
daß es bei mir im Oberstübchen spuken müsse und er meinte:
»Es scheint, werter Freund, daß Sie sich von Ihren Unglücksfäl-
len und Strapazen doch noch nicht wieder recht erholt haben, es
wird gut sein, wenn Sie wieder zu Bett gehen und noch eine
Zeitlang der Ruhe pflegen.«
»O nein, verehrtester Herr,« entgegnete ich eifrig, »ich bin so
gesund und munter wie ein Fisch und bei vollem Verstande, las-
sen Sie uns nur noch ein paar Stündchen verplaudern, es wird
Ihnen alles klar werden.«
Herr Wilcock schüttelte indes wiederholt den Kopf, sah mich
mit einem durchdringenden Blick an und sagte dann sehr ernst.
»Mein Herr, seien Sie offen und aufrichtig gegen mich. Sie haben
sich sicherlich in einem fremden Lande, wo es Sitte ist, Misse-
täter ins Meer auszusetzen und dem Hungertode preiszugeben,
eines schweren Verbrechens schuldig gemacht und wurden zur
Strafe in jene Kiste verschlossen. Es ist mir nun freilich nicht
lieb, einen so bösen Mann an Bord genommen zu haben, denn
Sie werden wissen, wie wir Seefahrer darüber denken; ich bin
zwar nicht abergläubisch, aber wenn meine Matrosen erfahren,
daß ich einen schweren Verbrecher an Bord genommen habe, an
dessen Fersen sich Fluch und Unglück für das Schiff heften, so
kann ich Sie schwerlich dagegen schützen, über Bord geworfen
zu werden. Seien Sie aufrichtig gegen mich, Mann, erleichtern
Sie Ihr Gewissen und geben Sie mir ein offenes Bekenntnis, dann
gebe ich Ihnen mein Ehrenwort, über die Sache zu schweigen
und Sie an der ersten besten Küste auszusetzen. Ihr sonderbares
Betragen, Ihre scheuen Blicke und verworrenen Reden rechtferti-
gen nur zu sehr meinen Argwohn und ich verlange nun vollkom-
mene Aufrichtigkeit von Ihnen.«
Im Bewußtsein meiner Unschuld schlug ich aus Verwunde-
rung über diesen Argwohn die Hände über meinem Kopf zu-
sammen und bat dann den Kapitän, mich eine Weile geduldig
anzuhören, dann würde er bald von seinem Irrtum zurückkom-
men und einsehen, daß ich ein ehrenhafter, wahrheitsliebender
Mann bei völligem Verstande sei. Nachdem er zustimmend ge-
nickt, erzählte ich ihm nun meine ganzen Schicksale von dem
Augenblick an, wo ich England zum letztenmal verlassen, bis
auf mein Abenteuer mit dem Riesenadler, und unterstützte die
Glaubwürdigkeit meiner Erzählung dadurch, daß ich aus mei-
nem in die Kajüte geschafften Schrank mehrere Brobdingnagsche
Landesprodukte hervornahm und sie dem erstaunten Kapitän
vorlegte. Ich zeigte ihm einen goldenen Ring vom kleinen Finger
der Königin, die ihn mir einst in huldvoller Laune geschenkt und
wie ein Hundehalsband über den Kopf geworfen hatte. »Neh-
men Sie, Herr Kapitän,« sagte ich, »diesen Ring von mir als ein
Zeichen meiner Dankbarkeit für meine Lebensrettung und die
mir erwiesene Menschenfreundlichkeit.« Sodann zeigte ich ihm
meinen Kamm aus den Bartstoppeln des Königs, meine Wespen-
stacheln und ein Hühnerauge, das ich einst mit eigener Hand von
der kleinen Zehe einer Hofdame abgeschnitten hatte. Es war von
der Dicke eines großen Apfels und so hart geworden, daß ich es
nach meiner Ankunft in England aushöhlen, mit Silber einfassen
ließ und als Becher gebrauchte. Als ich ihm auch noch meine aus
Mäusefellen verfertigten Beinkleider und meine übrigen Merk-
würdigkeiten gezeigt hatte, ergriff der Kapitän meine Hand, bat
mir seinen Argwohn ab und versicherte, daß er nun vollkommen
von der Glaubwürdigkeit meiner Aussagen überzeugt sei. Den
Ring gab mir der bescheidene Mann als ein zu wertvolles Ge-
schenk wieder zurück, und da ich darauf bestand, er müsse sich
durchaus etwas zum Andenken aus meinen Sachen wählen, so
begnügte er sich mit dem Zahn eines Bedienten, der diesem einst
von einem ungeschickten Zahnarzt statt eines schadhaften Zah-
nes in Glumdalclitschs Zimmer ausgezogen worden war.
Der Kapitän hatte von dieser Zeit an einen großen Respekt
vor mir, da ich ein Mann von Erfahrungen und Erlebnissen war,
mit denen sich die seinigen nicht im Entferntesten messen konn-
ten, und er ließ es sich angelegen sein, mich zu überreden, daß
ich doch gleich nach meiner Ankunft in England meine Erleb-
nisse niederschreiben und zum Besten der wißbegierigen Welt
durch den Druck veröffentlichen möchte. Wie der geneigte Leser
sieht, habe ich den Rat des braven Mannes befolgt, muß indes
um Entschuldigung bitten, wenn meine Reisebeschreibung nicht
so viel des Erstaunlichen und Wunderbaren über fremde Länder
und Völker bietet, als andere Reisebeschreibungen, womit all-
jährlich der Büchermarkt überschwemmt wird. Auf ein Verdienst

stolz zu sein, möge mir dafür der geneigte Leser gestatten, es ist
dies, daß ich mich bei meinen Berichten immer der strengsten
Wahrheitsliebe beflissen habe.
Eines Tages machte der Kapitän die Bemerkung, warum ich
denn beim Sprechen immer so laut schreie, ob vielleicht der Kö-
nig und die Königin von Brobdingnag harthörig gewesen seien?
Ich erklärte ihm, daß ich seit zwei Jahren an eine so laute Spra-
che gewöhnt sei, weil ich oft, um mich verständlich zu machen,
so laut habe reden müssen, wie etwa jemand in England, der
zu einem aus einem Kirchturmfenster herausblickenden Mann
hinaufrede. Es hänge mir eben noch sehr viel von den Riesenge-
wohnheiten an, und habe ich zumal anfangs hier im Schiff alles
mit anderen Augen angesehen. So seien mir die Matrosen als
die winzig kleinsten Geschöpfe vorgekommen, die ich je erblickt
hätte. »Ah,« meinte der Kapitän, »nun ist mir auch Ihr seltsames
Benehmen beim Essen erklärlich. Sie pflegen da fast jeden Ge-
genstand zu belachen, wahrscheinlich weil er Ihnen so klein vor-
kommt.« – »Allerdings!« erwiderte ich, »muß es mir nicht höchst
komisch vorkommen, wenn ich Schüsseln von der Größe eines
Silberdreiers, eine Schweinskeule von der Größe eines Lerchen-
flügels und einen Becher nicht größer als einen Fingerhut erblik-
ke!« – Obgleich mir nämlich, wie der Leser weiß, die Königin, als
ich in ihren Diensten stand, einen vollkommenen Hausrat und
ein für mich passendes Besteck hatte machen lassen, so hatten
sich meine Ideen doch nach den Verhältnissen meiner Umgebung
gebildet und ich war mir über meine eigene Kleinheit unklar, wie
es die meisten Menschen über ihre Fehler sind. Woher es auch
kam, daß ich mich nach meiner Rückkehr für wunder wie groß
hielt und mich wie ein Brobdingnagscher Riese aufblähte.
Kapitän Wilcock kam von Tongking und war auf seiner Rück-
kehr nach England in den vierundvierzigsten Grad nördlicher
Breite und den hundertdreiundvierzigsten Grad östlicher Länge
verschlagen worden. Zwei Tage nach meiner Aufnahme an Bord
erhob sich ein Passatwind; wir segelten zuerst südlich, dann der
Küste von Neuholland entlang, hierauf Südsüdwest, bis wir das
Kap der Guten Hoffnung umfuhren. Unsere Reise wurde durch
keinen Unfall gestört, und am 3. Juli 1706, gerade neun Monate,
nachdem man mich an Bord genommen, langten wir in den Dü-
nen an. Ich bot dem Kapitän einen Teil meiner Güter als Bezah-
lung für die Überfahrt an, allein er lehnte aufs entschiedenste ab,
schüttelte mir beim Abschied die Hand, und versprach, meiner
Einladung zu folgen und mich in meiner Wohnung zu Redriff zu
besuchen, wenn er alle seine Geschäfte abgewickelt habe.
Als ich mir nun ein Pferd aus dem Erlös eines kleinen Teils
meiner Sachen gekauft hatte und meinem Wohnorte zutrabte,
erschienen mir Bäume, Häuser, Menschen und Vieh so klein,
daß ich mich allen Ernstes nach Liliput zurückversetzt glaubte.

Ich fürchtete, die mir begegnenden Wanderer zu zertreten und


schrie ihnen oft so laut ich konnte zu, sie möchten mir doch
aus dem Wege gehen, wofür ich einigemal nahe daran war, eine
tüchtige Tracht Schläge zu bekommen.
Mein Haus fand ich erst nach langem Suchen und nach vielen
Umfragen unter Leuten, die mich meiner Sprache und Manieren
wegen lachend verfolgten. Als mir ein Bedienter die Türe zu mei-
ner Wohnung öffnete, bückte ich mich beim Hineingehen wie
eine Gans, die durch ein Scheunentor geht, denn ich fürchtete,
mir den Kopf einzustoßen. Meine Frau stürzte mir mit einem
lauten Freudenschrei entgegen und wollte mich in ihre Arme
schließen und küssen; da hielt ich’s aber für nötig, mich auf die
Knie niederzulassen, weil ich glaubte, sie würde sonst meinen
Mund nicht erreichen können. Mein Töchterchen kniete vor mir
nieder, um meinen Segen zu empfangen, aber ich sah sie anfangs
gar nicht, weil ich so lange Zeit gewöhnt gewesen war, den Kopf

immer im Nacken zu halten und die Augen in die Höhe zu rich-


ten, um an Personen über sechzig Fuß emporzusehen. Als ich sie
endlich bemerkte, umschlang ich sie mit einem Arm, hob sie in
die Höhe und versuchte, sie auf meine Hand zu setzen. Frau und
Kind rangen die Hände und glaubten, ich sei toll geworden, zu-
mal ich meiner Frau den Vorwurf machte, sie sei gewiß während
meiner Abwesenheit unverantwortlich geizig gewesen und habe
sich und dem Kinde die nötige Nahrung entzogen, wodurch sie
nun beide ganz ausgedörrt und wie die Zwerge zusammenge-
schrumpft seien. Einige Verwandte und Freunde, die gerade an-
wesend waren, behandelte ich ebenso, als ob ich ein Riese und
sie nur Zwerge wären, und brachte es durch mein Benehmen da-
hin, daß sie, wie früher Kapitän Wilcock, glaubten, Unglücksfäl-
le und Strapazen hätten mich um meinen Verstand gebracht.
Indes nach einiger Zeit gewöhnte ich mich wieder an mei-
nesgleichen und an die heimischen Verhältnisse, und wenn ich
ab und zu noch mit Brobdingnagschen Augen sah und mit Brob-
dingnagschen Ohren hörte, so begnügte man sich mit einem Lä-
cheln und bat mich, zu bedenken, daß ich im lieben Alt-England
unter Vettern und Freunden sei. Meine Frau, nachdem sie alle
meine bestandenen Abenteuer und Gefahren unter allen Zeichen
der Angst und des Schreckens angehört hatte, schwur hoch und
teuer, daß ich nie wieder in See gehen sollte; allein die Zukunft
hat gelehrt, daß meine Frau über mein Schicksal und meine Rei-
sewut keine Gewalt hatte, wie der geneigte Leser bald aus dem
dritten Teile meiner Reisebeschreibung erfahren wird.
Dritter Teil

Reise in das
Land der
Hauyhnhnms
Erstes Kapitel
Der Verfasser wird Schiffskapitän und tritt abermals eine Seereise
an. Seine Leute meutern und setzen ihn an einer unbekannten Küste
aus. Auf seiner Reise in das Innere des Landes trifft er auf Yähus und
sodann auf zwei Hauyhnhnms.

Ich hatte nach meiner letzten Reise unter den glücklichsten Ver-
hältnissen einige Zeit in meiner Familie gelebt, als meine unbän-
dige Reiselust wieder erwachte und ich trotz der Tränen und des
Widerstandes meiner Frau mich entschloß, abermals eine Seerei-
se anzutreten. Teil an diesem meiner Familie so schmerzlichen
Entschlusse hatte, ich muß es aufrichtig gestehen, meine Eitel-
keit, denn man hatte mir, meine nautischen Kenntnisse berück-
sichtigend, das schmeichelhafte und vorteilhafte Anerbieten ge-
macht, als Kapitän die Führung des »Abenteurers«, eines großen
Kauffahrers von dreihundertfünfzig Tonnen zu übernehmen.
Das Amt eines Kapitäns war mir überdies auch aus dem Grunde
angenehm, weil ich es müde war, ferner noch als Wundarzt zur
See tätig zu sein, und ich nahm deshalb auch einen jungen ge-
schickten Mann, namens Robert Purefoy, an Bord, damit er die
wundärztlichen Geschäfte versehe.
Wir gingen am 7. September 1710 von Portsmouth aus in See
und hatten anfangs eine glückliche Fahrt. Aber in den tropi-
schen Gegenden angekommen, wurde meine Mannschaft zum
Teil von hitzigen Fiebern aufgerieben und ich sah mich genötigt,
Matrosen in Barbados und auf den Inseln unter dem Winde an-
zuwerben, wo ich sowieso nach dem Auftrage der Reeder an-
legen mußte. Nur zu bald aber nahm ich mit Schrecken wahr,
daß die meisten der Neuangeworbenen ehemalige Flibustier oder
Seeräuber waren. Diese Schurken verführten bald durch Verspre-
chungen und Drohungen auch meine übrigen Leute und bildeten
eine Verschwörung, um sich des Schiffes zu bemächtigen und
mich unschädlich zu machen. Eines Morgens stürzten sie in
meine Kajüte, banden mich an Händen und Füßen und drohten,
mich über Bord zu werfen, wenn ich den geringsten Widerstand
versuchte. Ich nahm mir, weil ich wußte, daß es doch nichts hel-
fen konnte, nicht einmal die Mühe, den Elenden ihr schändliches
Betragen vorzuwerfen und sagte, ich müsse der Gewalt weichen
und sei ihr Gefangener. Darauf mußte ich ihnen einen Eid leisten,
daß ich mich als ehrlicher Gefangener halten wolle, und als ich
diesen Eid abgelegt, nahmen sie mir zwar die Banden wieder ab,
fesselten aber meine Füße an meine Bettstelle und befahlen ei-
ner vor meiner Tür aufgestellten Schildwache, sofort auf mich zu
schießen, wenn ich den Versuch machen sollte, mich zu befreien.
Es war die Absicht der Bösewichter, ihr altes Seehandwerk wie-
der zu treiben und, nachdem sie noch mehr Mannschaft an sich
gezogen, Jagd auf spanische Schiffe zu machen. Zuerst aber woll-
ten sie die Güter des Schiffes verkaufen und segelten deshalb in
die indischen Gewässer, weil sie hier den besten Markt dafür zu
finden hofften. Wochenlang war ich ihr Gefangener und wurde
zu verschiedenen Malen mit dem Tode bedroht.
Am 9. Mai 1711 kam ein gewisser James Welch zu mir und
sagte, er habe vom jetzigen Kapitän des Schiffes Befehl erhalten,
mich ans Land zu setzen. Ich wollte einige nähere Auskunft über
das mir bereitete Schicksal haben, aber er ließ sich auf nichts
ein und wollte mir nicht einmal den Namen dessen nennen, den
er Kapitän zu nennen beliebte. Man trieb mich an, sofort das
Langboot zu besteigen und gestattete mir, meinen besten Anzug
und ein Bündel Wäsche, doch, außer meinem Degen, keine Waf-
fe mitzunehmen. Meine Taschen, in denen ich Geld, Messer und
einige auf den Geschmack der Wilden berechnete Spielereien
bewahrte, ließen sie undurchsucht. Nach einer Fahrt von einer
Stunde setzten sie mich an einem Strande aus, und auf meine
Frage, was das für ein Land sei, in das sie mich geführt hätten,
schwuren sie, daß sie es selbst nicht wüßten. Ich erfuhr nichts
weiter, als daß der sogenannte Kapitän beschlossen habe, sich
meiner beim ersten besten Lande zu entledigen, sobald die La-
dung verkauft sei; das sei jetzt geschehen und darum sei ich hier,
ich solle nur machen, daß ich rasch fort und landeinwärts kom-
me, sonst würde mich die Flut überraschen.
Betrübten Herzens wanderte ich in das unbekannte Land
hinein und dachte daran, im Fall ich Wilden und Kannibalen
begegnen sollte, meine Sicherheit mit einigen Armbändern und
Glasringen zu erkaufen, die ich bei mir trug. Ich fand indes, daß
das Land nicht ohne Kultur war, namentlich fielen mir schöne
Wiesen und gutbeackerte Haferfelder auf, auch entdeckte ich vie-
le Spuren von Menschenfüßen und Kuhhufen, am meisten aber
fanden sich Spuren von Pferdehufen, und ich kam deshalb auf
die Vermutung, daß dieses Land wohl von einem Reitervolk be-
wohnt sein müsse.
Ich ging vorsichtig zwischen einigen Baumgruppen immer
tiefer ins Land hinein und entdeckte unter einer solchen Baum-
gruppe und zugleich auf ihren Zweigen eine Anzahl häßlicher
Tiere, die ich zunächst für Affen oder für Faultiere hielt; als ich sie
aber, hinter einem Busche liegend, länger und genauer betrach-
tete, erschienen sie mir als eine eigentümliche Art von höchst
widerwärtiger Häßlichkeit. Sie hatten Bärte wie Ziegenböcke
und zumeist einen langen Streifen Haar auf dem Rücken und
an den Schenkeln. Der übrige Teil ihres Körpers war unbehaart
und zeigte eine schmutzig-braune Haut. Auf Bäume kletterten
sie behend wie die Affen, wobei ihnen ihre starken, scharfen
Klauen sehr zustatten kamen. Übrigens fiel es mir auf, daß diese
Tiere ungeschwänzt waren. Die Weibchen waren nicht so groß
als die Männchen und trugen langherabhängendes Haupthaar,
das bei allen, sowie auch bei den Männchen nicht von gleicher
Farbe, sondern bald braun, bald rot, bald schwarz oder gelb war.
Niemals auf meinen ganzen Reisen erinnerte ich mich, Tiere ge-
sehen zu haben, die einen so ekelhaften abstoßenden Eindruck
machten, wie diese. Ich wollte mich daher dem unangenehmen
Anblick sobald wie möglich entziehen und folgte einem betrete-
nen Weg, weil ich hoffte, er würde mich zu der Hütte eines Ein-
geborenen bringen. Kaum aber hatte ich einige Schritte getan, als
mir eines jener häßlichen Geschöpfe in den Weg trat. Es machte
eine widerliche Grimasse und hob, ich weiß nicht zu welchem
Zwecke, seine Vorderpfote auf; ich aber zog, um das ekelhafte
Tier zu verscheuchen, meinen Degen und gab ihm einen tüchti-
gen Hieb mit der flachen Klinge über den Rücken, worauf es laut
heulend davonlief. Dies Geschrei wirkte wie ein Alarmsignal,
denn sogleich prasselte und krachte es in allen Büschen und Bäu-
men, und wenigstens fünfzig der widerlichen Geschöpfe stürz-
ten auf mich los. Meinen Degen gegen sie schwingend, lehnte
ich mich gegen einen Baum, um meinen Rücken zu decken; die
feigen Tiere griffen mich nicht an in dieser Stellung, kletterten
aber zu Dutzenden auf den Baum und beschmutzten mich aus
ihrem sicheren Versteck derart mit ihrem Unrat, daß ich hätte
vor Ekel vergehen mögen. Mit einem Male aber flohen sie – ich
begriff die Ursache nicht – so plötzlich und rasch davon, als ob
der Blitz zwischen sie geschlagen sei. Ich verließ nun den Baum,
verfolgte den eingeschlagenen Weg weiter und sah mich nach
allen Seiten um, indem ich nach der Veranlassung suchte, die den
Tieren einen solchen Schrecken eingejagt haben möchte. Gewiß
dachte ich, war es ein mit einem Schießgewehr bewaffneter Ein-
geborener, doch entdeckte ich weit und breit niemand, und end-
lich blieben meine suchenden Blicke auf einem Pferde haften, das
gemächlich daherspazierte. Da rings in der Runde weiter kein
lebendes Wesen zu sehen war, so mußte wohl dies Pferd die Ur-
sache jener plötzlichen Flucht gewesen sein.
Das Pferd schien äußerst zahm zu sein. Es kam auf mich zu,
stutzte zwar etwas bei meinem Anblick, trat dann aber näher
und betrachtete mich aufmerksam mit allen Zeichen des Erstau-
nens. Ich dachte bei mir, es sei sicher ein sehr gut geschultes
Pferd eines Eingeborenen, die hier also nicht ohne Kultur und
Geschicklichkeit sein können, und wollte mit diesem Gedanken,
das Pferd weiter nicht beachtend, meinen Weg verfolgen, als das
schöne Tier dicht vor mich hintrat, um mich mit verdoppelter
Aufmerksamkeit zu betrachten. Ich erhob nun meine Hand, um
seinen Hals zu streicheln und pfiff dabei, wie die Reitknechte zu
tun pflegen, wenn sie ein fremdes Pferd anlocken und ihm schön-
tun wollen. Allein – so etwas war mir doch in meinem ganzen
Leben nicht vorgekommen! – das Tier wies kopfschüttelnd und
mit deutlicher Verachtung meine gutgemeinten Schmeicheleien
zurück. Alsdann wieherte es drei- oder viermal in so verschiede-
nen, fast artikulierten Tonarten, als spräche es eine Sprache.
Gleich nach diesem Gewieher kam ein anderes Pferd herbei,
nickte dem ersteren zu und erhob wie zur Begrüßung den Vor-
derfuß. Darauf gingen die beiden Tiere einige Schritte zurück, als
wollten sie sich miteinander beraten, spazierten nebeneinander
her, rückwärts und vorwärts, wie Menschen, die sich über eine
wichtige Angelegenheit unterhalten, wobei sie häufig ihre Blicke
auf mich wandten, als wollten sie mich bewachen. Ich war vor
Verwunderung über dies Benehmen ganz außer mir und dachte:
nun, wenn in diesem Lande selbst die unvernünftigen Tiere so
viel Intelligenz zeigen, so bist du bei den menschlichen Bewoh-
nern sicher gut aufgehoben. Ich schickte mich deshalb zum Ge-
hen an, um sobald wie möglich auf diese ausgezeichneten Men-
schen zu stoßen, allein das Pferd, dem ich zuerst begegnet war,
ein hübscher Schecke, wieherte so ausdrucksvoll und drohend,
daß ich unwillkürlich stehen blieb. Nun kamen beide Pferde
heran, besahen wiederum aufmerksam mein Gesicht und meine
Hände und nickten einander zu. Dann tastete mir der Scheck
sanft mit dem Vorderhuf auf dem Kopf umher und verschob mir

dadurch den Hut, so daß ich genötigt war, ihn abzunehmen und
wieder zurechtzusetzen, worüber beide Pferde höchst erstaunt
schienen. Das andere, ein Kastanienbrauner, befühlte nun meine
Rockschöße und als er fand, daß sie locker um meinen Körper
herumhingen, wechselten beide wieder neue Zeichen der Ver-
wunderung. Der Braune streichelte auch meine rechte Hand und
schien die weiße Farbe und Zartheit zu bewundern, drückte sie
aber so stark zwischen Huf und Fesselgelenk, daß ich laut auf-
schreien mußte, worauf er mich sofort losließ.
Im allgemeinen war das Benehmen dieser Tiere so anstän-
dig und vernünftig, daß ich schon anfing, an Märchen zu glau-
ben, und nicht anders meinte, als ich habe Menschen vor mir,
die durch einen Zauberer in Pferde verwandelt seien, oder durch
Zauberkraft sich selbst verwandelt hätten. In dieser Meinung
hielt ich etwa folgende Anrede an sie: »Meine Herren, wenn
Sie Zauberer sind, wie ich zu vermuten Grund habe, so müssen
Sie jede Sprache verstehen können. Ich bin darum so frei, Euer
Gnaden wissen zu lassen, daß ich ein armer, unglücklicher Eng-
länder bin, der durch Mißgeschick an dieses Land verschlagen

wurde. Deshalb bitte ich einen von Ihnen, mich seinen Rücken
besteigen zu lassen, und mich nach einer Ortschaft zu Menschen
zu bringen, wo ich Hilfe und Unterstützung finden kann. Aus
Erkenntlichkeit für Ihren Dienst werde ich Ihnen dies Messer
und dieses Armband geben.« Ich hatte beides zuvor aus meiner
Tasche gezogen. Die Pferde hatten mir mit großer Aufmerksam-
keit zugehört und wieherten nun so lange miteinander, daß ich
überzeugt war, sie sprächen eine Sprache, die in ein Alphabet
von weit größerer Einfachheit als das Chinesische aufgelöst wer-
den könnte. – Sehr häufig gebrauchten sie bei ihrer Unterredung
das Wort Yähu, dies merkte ich mir und rief, als sie schwiegen,
wiederholt Yähu! Yähu! Darauf trat mir der Scheck mit beifälli-
gem Kopfnicken näher und wiederholte dasselbe Wort, jedoch

in einer Weise, als ob er mich seine richtige Betonung lehren


wollte. Als ich ihm nun gelehrig nachsprach, übte er mir noch
ein anderes Wort ein, das aber sehr schwer auszusprechen ist;
es gehört eben eine Pferdezunge dazu. Nach einigen verfehlten
Versuchen brachte ich’s aber doch zur sichtlichen Zufriedenheit
der Pferde heraus. Es ist aber ein ganz verteufeltes Wort und läßt
sich ebenso schwer aussprechen, als durch Schriftzeichen wie-
dergeben, der Leser muß sich darum begnügen, wenn ich mein
Möglichstes tue und das Wort durch folgende Buchstaben aus-
drücke: Hauyhnhnms. Nach einer weiteren Unterhaltung, die
sich augenscheinlich wieder auf mich bezog, reichten sich die
merkwürdigen Pferde wie zum höflichen Abschied die Hufe und
der Braune gab mir ein Zeichen, ihm zu folgen. Ich gehorchte,
ging aber teils in sinnender Verwunderung, teils aus Furcht et-
was langsam. Darauf schrie er, wie um mich anzutreiben, huun!
huun! Allein ich fühlte das Bedürfnis, ein wenig auszuruhen und
gab das durch Gebärden dem Pferde zu verstehen. Das kluge Tier
verstand mich sogleich, nickte und setzte sich, als ich mich auf
einer Rasenbank niederließ, mir gegenüber.
Zweites Kapitel
Der Verfasser wird von einem Hauyhnhnm in dessen Haus geführt.
Beschreibung des Hauses. Es wird ein unangenehmer Vergleich mit
dem Verfasser angestellt. Er kommt in Not wegen Mangels an Nahrung,
weiß sich aber zu helfen.

Als ich mich mit dem Pferde wieder auf den Weg machte und
wir etwa anderthalb Stunden gegangen waren, kamen wir an ein
scheunenartiges Haus, dessen niedriges Dach mit Stroh gedeckt
war. Das Pferd gab mir ein Zeichen, zuerst in das Haus zu treten,
und ich fand einen Raum, der von nackten Wänden eingeschlossen
war, an denen man Tröge und Krippen aufgestellt hatte. Hier sah
ich mehrere Pferde, die sich teils in sitzender Stellung unterhielten,
teils häuslichen Geschäften nachgingen, so daß mir wieder der Ge-
danke kam, ein Volk, das unvernünftige Tiere so sehr zu zivilisie-
ren verstehe, müsse notwendig alle Nationen der Welt an Weisheit
übertreffen. Der Braune war mir unmittelbar gefolgt, wieherte laut
und schien den anderen Pferdepersonen Befehle zu erteilen. Dar-
auf winkte er mir, ihm zu folgen, und führte mich in einen kleine-
ren Raum, in dem ich die menschlichen Bewohner vermutete, und
etwas zaghaft mein zu Geschenken bestimmtes, wertloses Gerät
hervorzog, nämlich zwei Messer, drei Armbänder von Glasperlen,
einen kleinen Spiegel und ein Halsband von Glaskorallen.
Der Braune wieherte mit besonderer Betonung, und ich glaub-
te schon, er wolle sich dadurch den menschlichen Bewohnern
bemerklich machen. Ich vernahm jedoch keine menschliche
Stimme, sondern nur eine Antwort in dem gleichen Dialekt, die
aber etwas heiserer klang. Das wunderbare Benehmen der Pferde
und meine ganze seltsame Umgebung ließen mich nach und nach
an meinem Verstande zweifeln, ich versuchte darum folgerichtig
über ein philosophisches Problem nachzudenken, und da mir
dies leidlich gelang, so beruhigte ich mich über die Gesundheit
meines Verstandes, meinte aber, ich liege wohl in einem tiefen
Schlaf und träume alle die seltsamen Dinge, die ich sah und hör-
te. Ich rieb mir die Augen und kniff mich in die Arme und in die
Seiten, um mich zu erwecken, erreichte aber damit nichts weiter,
als daß ich mich überzeugte, ich müsse vollkommen wach und
alles, was ich sah und hörte, Wirklichkeit sein. Der Braune riß
mich durch einen energischen Wink aus diesen Betrachtungen
und führte mich in einen dritten, eleganter ausgestatteten Raum,
dessen Boden mit schön geflochtenen Strohmatten belegt war,
auf denen zwei Stuten edelster Rasse mit zwei Füllen saßen.
Der Braune, ein Hengst, der hier der Herr im Hause zu sein
schien, stellte mich den Stuten vor, worauf sich eine dieser Pfer-
dedamen erhob, genau mein Gesicht und meine Hände betrach-
tete und dann mit einem unbeschreiblich verächtlichen Blick, na-
serümpfend, das Wort Yähu aussprach. Dieses dem Leser schon
bekannte Wort, dessen Bedeutung ich aber damals noch nicht
verstand, ward nun mehrere Male wiederholt. Sodann forderte
mich der Hengst wie unterwegs mit den Worten: huun! huun! auf,
ihm weiter zu folgen, und führte mich über den Hof in ein Stall-
gebäude, in dem ich drei jener scheußlichen Geschöpfe wieder-
fand, die mir zuerst in diesem Lande begegnet waren. Sie waren
mit gedrehten Weidenruten an Krampen gebunden und verzehr-
ten ihre aus übelriechendem Fleisch und Mohrrüben bestehende
Nahrung aus ihren haarigen und schmutzigen Vorderpfoten.
Der Herr-Hengst befahl nun einem etwas schäbigen Klepper,
der Stallknecht zu sein schien, das größte der häßlichen Tiere
aus dem Stall und auf den Hof zu ziehen. Sodann wurde ich mit
dem Scheusal zusammengestellt, und nachdem Herr und Diener
unsere Gesichtszüge und Gestalt verglichen, sprachen sie einan-
der zunickend wiederum das Wort Yähu aus.
Es ist schwer, meinen Schrecken und meinen Abscheu zu be-
schreiben, als ich jetzt nach genauerer Betrachtung in der neben

mir aufgestellten Schandkreatur eine vollkommene Menschen-


gestalt erblickte. Zwar war das Gesicht häßlich und von affenar-
tigem Ausdruck, wie bei den Australnegern, allein es war doch
immerhin ein menschliches. Nun wußte ich, was ein Yähu sei,
und mit einem solchen Scheusal stellte man mich auf eine Stufe!
Die Vorderpfoten des Yähu unterschieden sich von meinen Hän-
den nur durch die Länge der Nägel, durch die haarige Rückseite
und durch die Rauheit und braune Färbung der Handflächen.
Gleiche Ähnlichkeit bestand zwischen unseren Füßen, was aber
die Pferde nicht wußten, da ich Schuhe und Strümpfe trug.
Überhaupt verdankte ich es nur meiner Bekleidung, daß die
beiden Pferde, wie ich an ihrem Kopfschütteln und Nicken merk-
te, eine kleine Verschiedenheit zwischen mir und dem Yähu zu
finden schienen. Der dienende Klepper reichte mir eine Mohr-
rübe, die er zwischen seinem Huf und dem Fußgelenk hielt; ich
nahm sie, roch daran und gab sie mit abweisendem Dank zu-
rück. Darauf brachte er mir aus dem Stall der Yähus ein Stück
Eselsfleisch, das so übel roch, daß ich es mit Ekel von mir wies,
worauf er es dem Yähu gab, der es gierig verschlang. Schließlich
versuchte es der Klepper mit einem Bündel Heu und einem Kübel
voll Hafer, aber auch dies mußte ich natürlich dankend ablehnen,
und fürchtete schon Hungers zu sterben, wenn ich nicht bald zu
meinesgleichen käme.
Mein Widerwille gegen den ekelhaften Yähu neben mir war
so deutlich, daß ihn der Herr-Hengst nicht verkannte und das
Scheusal deshalb wieder in seinen Stall abführen ließ. Sodann
legte er mit staunenswerter Gelenkigkeit seinen Vorderhuf an
das Maul und sah mich fragend an, wodurch er zu verstehen
geben wollte, ich möge andeuten, was ich zu essen wünsche. Ich
suchte vergebens eine ihm verständliche Antwort durch Gebär-
den auszudrücken, als eben eine Kuh an uns vorüber ging. Nun
war mir geholfen, ich deutete auf das Euter und tat, als ob ich
melke. Dies half. Das Pferd führte mich in das Haus zurück und
befahl einer dienenden Stute ein kleines Zimmer zu öffnen, in
dem ich einen großen Milchvorrat in hölzernen Schalen fand.
Ich verzehrte eine Schale davon und fühlte mich dadurch sehr
erquickt.
Vor das Haus tretend, sah ich ein schlittenähnliches Fuhrwerk,
das von zwei Yähus gezogen wurde, und worin sich ein altes, be-
leibtes Pferd befand, das eine Person von hohem Stande zu sein
schien. Es stieg, weil die Vorderfüße offenbar gelähmt waren,
schwerfällig mit den Hinterfüßen zuerst vom Wagen und wur-
de von meinem Hauswirt, mit dem es zu Mittag speisen wollte,
sehr höflich empfangen. Man speiste gemeinschaftlich im Staats-
zimmer, woselbst die Tröge in Kreisform aufgestellt waren und
von einer dienenden Magd mit Hafer und Milch gefüllt wurden,
welche Speise das alte Pferd warm aß. Man aß sehr anständig,
und das Benehmen der männlichen und weiblichen Füllen war
weit bescheidener und artiger, als es unsere Kinder in Europa
bei Tische oft an den Tag zu legen pflegen. Der Hengst winkte
mir, mich an seine Seite zu stellen und pflog mit seinem Freunde
eine lange Unterredung, die sich unverkennbar auf mich bezog
und in der das Wort Yähu oft genannt wurde. Ich hatte zufällig
meine Handschuhe angezogen, und da das Pferd vorher meine
Hände nur entblößt gesehen hatte, so deutete es mit fragender
Verwunderung mit dem Huf darauf und schien sagen zu wollen,
was ich mit meinen Händen angefangen habe, worauf ich meine
Handschuhe wieder auszog und in die Tasche steckte. Dies rief
ein neues Gespräch hervor, und ich glaubte zu bemerken, daß die
Pferdegesellschaft mit meinem Betragen zufrieden war. Darin
hatte ich mich nicht getäuscht, denn der Herr-Hengst nahm sich
meiner wohlwollend an und lehrte mich einige der notwendig-
sten Bedürfnisse, als Wasser, Milch, Hafer, Feuer in der Pferde-
sprache bezeichnen. Bei meinem, dem Leser aus meinen früheren
Reisen bekannten Talent für fremde Sprachen, sprach ich ihm
diese Worte auch bald ziemlich richtig nach, was mit sichtlicher
Befriedigung aufgenommen wurde.
Nach Tisch gab mir mein Gastfreund zu verstehen, daß es
ihm leid tue, mir kein Essen nach meinem Geschmack und mei-
nen Gewohnheiten bieten zu können. Da erinnerte ich mich, daß
aus Hafer (in der Landespferdesprache Hlumch genannt) eine
Art Brot gemacht werden könne, das nebst der Milch ausreichen
würde, mein Leben zu fristen, bis ich wieder zu Menschen käme.
Nachdem ich meine ziemlich richtig verstandenen Andeutungen
gemacht, befahl das Pferd der dienenden Stute, mir in einer gro-
ßen Mulde eine Menge Hafer zu bringen, diesen enthülste ich
dann so gut es gehen wollte durch Erhitzung und mahlte ihn
zwischen zwei Steinen zu Mehl, tat Wasser und Milch dazu und
buk mir einen Kuchen daraus. Anfangs wollte er mir nicht mun-
den, da aber Hunger die beste Würze ist, so verzehrte ich ihn
mit umso größerem Appetit, als der Magen gebieterischer wie je
seine Rechte forderte.
Diese Lebensart führte ich nun drei Jahre lang unter diesen Pfer-
den, die sich in ihrer Sprache als Hauyhnhnms bezeichneten.
Meine Nachtruhe fand ich in einem abgesonderten Raume auf
einer reinlichen Schütte Stroh, nachdem man dafür gesorgt hatte,
daß mir die dienende Stute einen warmen Haferbrei als Nacht-
essen bereitete.
Drittes Kapitel
Der Verfasser erlernt die Sprache der Hauyhnhnms. Ähnlichkeit dieser
Sprache mit dem Deutschen. Hauyhnhnms von Stande besuchen ihn
und unterhalten sich mit ihm, wodurch er sich in der Sprache immer
mehr vervollkommnet. Sein Herr kommt hinter ein Geheimnis. Kurze
Andeutung über europäische Zustände.

Meine hauptsächlichste Beschäftigung bestand vorläufig in Er-


lernung der Sprache der Hauyhnhnms, in welcher mich mein
Herr (so werde ich fortan den Herrn-Hengst nennen), sowie des-
sen Kinder und Gesinde freundlich unterrichteten. So machte ich
denn bald bedeutende Fortschritte in der Erlernung dieser Spra-
che, und als mein Herr das bemerkte, war er sehr erfreut darüber
und verwandte alle seine Mußestunden zu meinem Unterricht,
so daß ich rasch vorwärts kam. Nach meinem Urteile, das ich mir
über diese an Kehl- und Nasallauten sehr reiche Sprache gebildet
habe, kommt sie dem Deutschen am nächsten, welche Auffas-
sung ich mit Kaiser Karl V. gemein habe, der bekanntlich sagte:
Mit Gott spreche er Lateinisch, mit seinen Großen Spanisch, mit
seiner Braut Französisch, mit seinem Pferde aber Deutsch.
Mein Verstand und meine Gelehrigkeit, die ich bei Erlernung
der Sprache entwickelte, setzten meinen Herrn ebenso wie mein
anständiges Betragen und meine Reinlichkeit in Erstaunen, weil
er sonst bei allen Yähus das Gegenteil dieser Eigenschaften fand.
Er ließ also zu meinem Verdruß immer nicht von der Meinung ab,
daß ich auch zu den ekelhaften Yähus gehöre. – Nach ungefähr
zehn Wochen war ich imstande, die meisten Fragen zu verstehen,
und nach drei Monaten konnte ich schon leidliche Antworten ge-
ben. Ich verstand nun bereits meinen Herrn vollkommen und er-
fuhr, daß er sehr gern zu wissen wünsche, woher ich gekommen
sei und wie ich gelernt habe, vernünftigen Geschöpfen nachzu-
ahmen, da die Yähus doch sonst die ungelehrigsten aller Tiere
seien. Ich konnte ihm ziemlich geläufig erwidern, daß ich aus ei-
nem fernen Lande mit anderen meines Geschlechts in einem gro-
ßen hölzernen Gefäß über See gekommen sei. Meine Gefährten
hätten sich gegen mich, der ich ihr Befehlshaber gewesen, em-
pört und mich gezwungen, an dieser Küste zu landen, ohne mir
Lebensmittel mitzugeben. Es war schwierig, ihm manche Dinge
zu bezeichnen, für welche die Hauyhnhnms keine Begriffe ha-
ben. Er meinte, auf meine eben erzählte Mitteilung erwidernd,
ich müsse mich notwendig irren, denn ich habe Dinge gesagt, die
es gar nicht gäbe (daß ich gelogen habe, konnte er weder meinen
noch sagen, denn die Sprache der Hauyhnhnms hat kein Wort
für Lüge oder Falschheit), denn er wisse, daß sich jenseits des
Meeres kein Land befinde, und halte es für unmöglich, daß ein
Haufen Tiere ein hölzernes Gefäß auf dem großen Wasser belie-
big leiten könne. Kein Hauyhnhnm könne ein solches Gefäß ver-
fertigen, wie denn ein Yähu zu dieser Kunstfertigkeit kommen
solle! – Das Wort Hauyhnhnm oder Pferd bezeichnet nämlich in
seiner Ableitung die »höchste Vollkommenheit der Natur«.
Nachdem sich das Gerücht von meiner Gelehrigkeit und mei-
nem gesitteten Betragen im Lande verbreitet hatte, kamen häufig
vornehme Hengste und Stuten aus der Nachbarschaft in unser
Haus, um den wunderbaren Yähu zu sehen, der sprechen könne
und in seinen Handlungen und Worten einige Spuren von Ver-
nunft offenbare. Die Gäste unterhielten sich gern mit mir und
legten mir häufig Fragen vor, wodurch ich mich immer bedeuten-
der in der Sprache vervollkommnete. Einige der Besucher waren
darüber im Zweifel, ob ich ein wirklicher Yähu sei, weil ich mit
Ausnahme des Gesichts und der Hände eine andere Haut habe.
Mein Herr war aber durch einen Zufall hinter das Geheimnis ge-
kommen, daß diese vermeintliche Haut nicht zu meinem Körper
gehöre, sondern durch meine Kleider gebildet werde, indes hatte
er auf meine Bitte dies Geheimnis für sich behalten.
Wie er hinter dies Geheimnis gekommen war, will ich jetzt er-
zählen. Eines Morgens nämlich ließ mich der Herr durch seinen
dienenden Klepper ungewöhnlich früh zu sich bestellen. Ich lag

noch in tiefem Schlaf, bloß mit dem Hemd bekleidet, auf mei-
ner Streu, und erwachte erst, als der Diener durch wiederholtes
Scharren seine Gegenwart anzeigte. Unbeschreibliche Verwun-
derung malte sich auf seinem Gesicht, als er mich kleiderlos, in
einer ganz anderen Gestalt als sonst vor sich sah. Flugs lief er zu
seinem Herrn und gab ihm den verworrenen Bericht, ich sei ein
Doppelyähu, könne mich in mehrere Gestalten verwandeln und
meine Haut abstreifen. Als ich mich angekleidet hatte und zu
meinem Herrn ging, fragte dieser sogleich, was das bedeute, daß
ich, wie sein Diener berichte, im Schlafe ein anderes Geschöpf sei,
als im Wachen, er könne nicht recht aus der verworrenen Mittei-
lung seines aufs höchste verwunderten Dieners klug werden.
Ich erklärte ihm nun, daß in dem Weltteil, woher ich gekom-
men, mein ganzes Geschlecht sich teils des Anstandes wegen
und teils um sich gegen Hitze oder Kälte zu schützen, mit künst-
lichen Hüllen bedecke. Da ich bemerkte, daß ihm meine Erklä-
rung nicht recht faßlich war, bat ich ihn, mich zu entschuldigen,
wenn ich ihm unanständig erscheinen sollte, ich könne ihm aber
nur dadurch einen deutlichen Beweis meiner durch Kunst herge-
stellten gewöhnlichen Erscheinung geben, wenn ich mich nackt
auszöge. Ich entkleidete mich nun vor den verwunderten Augen
meines Herrn, der jede meiner Bewegungen mit der größten Auf-
merksamkeit verfolgte; er nahm ein Stück meiner Kleider nach
dem anderen mit dem Fußgelenk auf, betrachtete es genau und
streichelte dann sanft meinen nackten Leib. Das Resultat seines
Betastens und Beobachtens war aber kein anderes, als daß er zu
meinem großen Verdruß sagte, er wisse nun, daß ich ein voll-
kommener Yähu sei, ich unterscheide mich nur von den übrigen
meines Geschlechtes durch die Weiße und Glätte meiner Haut
und durch die etwas abweichende Form meiner Vorder- und Hin-
terklauen. Er habe genug gesehen und ich möge nur meine frem-
den Häute wieder anlegen.
Ich bat ihn, die Benennung Yähu, dieses mir so ekelhaften ver-
haßten Tieres doch nicht auf mich anzuwenden und meine künst-
liche Umhüllung für sich als ein Geheimnis zu bewahren. Was er
auch versprach und redlich hielt, so daß das Geheimnis erst spä-
ter offenkundig wurde, als ich genötigt war, meine abgenutzten
Kleider durch neue zu ersetzen, die ich mir selbst anfertigte.
Täglich wiederholte mein Herr seine Erkundigungen nach der
Art und Weise, wie ich ins Land gekommen sei, und nach den
Sitten und Einrichtungen meiner Mityähus. Je geläufiger mir nun
die Landessprache wurde, desto mehr konnte ich ins Einzelne
gehen, mußte aber, um ihm manches, wofür er keinen Begriff
hatte, recht klar zu machen, doch die Gebärdensprache zu Hilfe
nehmen. So erklärte ich ihm die Bewegung des großen hölzernen
Gefäßes, in dem ich übers Meer gekommen sei, dadurch, daß ich
vor seinen Augen mein Schnupftuch wie ein Segel aufblies.
Ich sagte ihm, ich wolle genau über meine Heimat berich-
ten, wenn er mir verspräche, nicht ärgerlich zu werden, denn
ich habe ihm manches mitzuteilen, was sicherlich keinen guten

Eindruck auf ihn machen würde. Als er mir nun seinen Huf dar-
auf gegeben, daß er mir nichts übelnehmen wolle, sagte ich, in
meinem Vaterlande, sowie in allen Ländern, die ich durchreist
hätte, seien die Yähus allein die vernünftigen und regierenden
Tiere; darum sei ich hier bei meiner Ankunft so erstaunt gewe-
sen, daß die Hauyhnhnms als vernünftige Geschöpfe handelten
und die Yähus sich wie das Vieh betrügen. Ich gestand ein, daß
ich den Yähus in jedem Teile meines Körpers gleiche, daß ich mir
jedoch ihre ausgeartete und viehische Natur nicht erklären kön-
ne. Wenn ich jemals das Glück haben sollte, in mein Vaterland
wieder zurückzukehren, um meine Reise hierher, zu erzählen, so
würde jeder glauben, ich erzähle etwas, was es gar nicht gäbe.
Ich müsse bei aller Achtung, die ich für ihn, seine Familie und
Freunde hege, offen gestehen, daß meine Landsleute schwerlich
glauben würden, ein Hauyhnhnm sei hier das vernünftige und
herrschende Geschöpf und der Yähu das Vieh.
Viertes Kapitel
Der Verfasser berichtet seinem Herrn über die Hauyhnhnms in sei-
nem Vaterlande, sowie über europäische Zustände im allgemeinen.
Sein Bericht wird von seinem Herrn nicht gebilligt. Auch die weitere
Fortsetzung dieses Berichts erhält den Beifall des Herrn nicht.

Mein Herr hörte mit unverkennbaren Zeichen des Mißmuts,


daß die elenden Yähus in anderen Ländern eine so große Rol-
le spielten, denn daß ich die Unwahrheit sage, konnte er nicht
annehmen, weil, wie schon bemerkt, seine Sprache für Lüge
und Unwahrheit gar keine Worte hat. Er meinte indes mit mür-
rischem Kopfschütteln, es gehe ganz über seine Begriffe, daß die
Yähus herrschende Tiere sein könnten und fragte, ob wir denn
keine Hauyhnhnms im Lande hätten und womit sich diese zu
beschäftigen pflegten?
Ich erwiderte ihm, wir hielten viele Hauyhnhnms zu den
verschiedensten Zwecken. Im Sommer grasten sie auf gro-
ßen Weiden, während sie im Winter in Häusern ähnlich wie
das seinige gehalten und mit Heu und Hafer ernährt wür-
den; dienende Yähus versorgten sie mit Futter, striegelten
ihre Haut rein, kämmten ihre Mähne und untersuchten ihre
Hufe. »Ich sehe also,« sagte mein Herr, »daß die Hauyhnhnms
doch die Herren des Landes sind, da sie von Yähus bedient
werden, wogegen wir hierzulande freilich sehr protestieren
würden.«
»Bitte um Entschuldigung, Euer Gnaden,« erwiderte ich, »die
Yähudiener handeln nur im Auftrage und auf Befehl ihrer Yähu-
herren, aber ich fürchte Euer Gnaden im höchsten Grade zu miß-
fallen, wenn ich weiter in meinem Bericht fortfahre und über die

Stellung erzähle, die bei uns die Hauyhnhnms einnehmen.« Da


aber mein Herr befahl, ich solle nur erzählen, er würde mir nichts
übelnehmen, so fuhr ich fort: »Die Hauyhnhnms, die wir bei uns
zu Lande Pferde nennen, sind wegen ihrer Schönheit, Körper-
kraft und Schnelligkeit sehr geschätzt. Wenn sie Eigentum vor-
nehmer Personen sind, so werden sie zum Reiten, Wettrennen
und Wagenziehen gebraucht und sehr gut behandelt, bis sie alt
oder krank werden. Dann verkauft man sie an Yähus niederen
Standes, wo ihre schwindenden Kräfte noch so lange ausgenutzt
werden, bis sie sterben, worauf man ihnen die Haut, um sie zu
verwerten, abzieht, den Leichnam aber den Hunden und Vögeln
zum Fraß überläßt.
Die Pferde von minder edler Rasse haben es aber in ihrer Ju-
gend bei weitem nicht so gut; sie werden von Pächtern, Fuhrleu-
ten, Bauern und anderen Leuten geringen Standes gehalten, die
schwerere Arbeit verlangen, wenig und schlechteres Futter, aber
destomehr Prügel geben.«
In den Augen meines Herrn malten sich nach diesen wahr-
heitsgetreuen Auseinandersetzungen Mißmut und Zorn, aber
ich ließ mich nicht dadurch beirren, fuhr fort und beschrieb ihm
so gut es gehen wollte, unsere Art zu reiten, die Form und den
Gebrauch des Zaumes, des Sattels, der Sporen, der Peitsche, des
Geschirres und der Räder.
Sodann ging ich auf die Behandlung des Hufes über und be-
schrieb ihm, daß wir unter ihn eiserne Sohlen zu nageln pflegten,
damit sich der Huf auf den steinigen und harten Wegen, die wir
auf unseren Reisen und beim Reiten meist zu passieren hätten,
nicht abnutze.
»Das ist denn doch zu toll,« fiel mir mein Herr ärgerlich in die
Rede, »ich begreife überhaupt nicht, wie Ihr elenden Yähus es
nur wagen könnt, den Rücken eines Hauyhnhnm zu besteigen,
der schwächste meiner Diener würde den stärksten Yähu, der
es wagt, abwerfen oder, sich auf den Rücken legend, ihn wie
Brei zerquetschen!« Ich erwiderte, Prügel und pfiffige Behand-
lung, die man Dressur nenne, wüßten schon bei uns von Jugend
auf die Pferde so zu erziehen, daß sie von ihrer Stärke gar kei-
nen Gebrauch zu machen wagten, eine Erläuterung, die meinem
Herrn wahrlich keine willkommene war, allein er hielt gewis-
senhaft sein ehrliches Pferdewort und ließ es mich in keiner Wei-
se übel empfinden, oder gar empfindlich fühlen, daß ich ihm die
unangenehmsten Dinge über sein Geschlecht sagte, das er als
das vollkommenste in der ganzen Natur anzusehen gewohnt
war.
Doch bemerkte er: Wenn es möglicherweise ein Land geben
könne, wo die Yähus allein Vernunft besäßen, so sehe er nicht
ein, wie sie diese mit Hilfe ihres schwächlichen und unzweck-
mäßig gebauten Körpers betätigen und anwenden könnten. So
könnte ich meine Nägel an den Vorder- und Hinterfüßen zu
nichts Rechtem gebrauchen und seien die Raubvögel in dieser
Beziehung mit mir und meinen Mityähus verglichen, weit besser
ausgestattet. Meine Vorderfüße verdienten nicht einmal den Na-
men von Füßen, denn sie seien so weich und zart, daß ich gar
nicht darauf gehen könne, weshalb ich es auch wie seine einhei-
mischen Yähus vorzöge, immer auf den Hinterfüßen zu gehen.
Er könne auch nicht begreifen, wozu die vielen Abteilungen und
Gelenke an meinen Vorder- und Hinterfüßen dienen sollten, es
sei doch weit vernünftiger und zweckmäßiger, solch weiche und
der Verletzung leicht ausgesetzte Körperteile von der Natur, wie
bei den Hauyhnhnms, mit einer starken Hornhaut umhüllt zu
haben. Mein ganzer Körper sei überhaupt ein elendes Machwerk,
da ich ihn täglich durch lästiges Aus- und Ankleiden gegen Hit-
ze oder Kälte zu schützen habe. Bei solcher unvollkommenen
Beschaffenheit wisse er sich in der Tat nicht zu erklären, wie
wir es möglich machten, andere vollkommenere und stärke-
re Tiere zu unserem Willen zu zwingen, doch wolle er mit mir
nicht darüber streiten, sondern ich solle nur fortfahren, ihm das
Eigentümliche aus meinem und meiner Mityähus Leben, sowie
von den Zuständen in Europa und in meinem Geburtslande zu
erzählen.
Ich gehorchte, und an meine früheren kurzen Mitteilungen
anknüpfend, erzählte ich ihm nun zunächst ausführlicher mei-
ne letzten Reiseschicksale und erwähnte, daß die Matrosen, die
sich gegen mich empört und mich ausgesetzt hätten, aus Ge-
sindel aller Nationen zusammengesetzt gewesen wären. Einige
hätten all ihr Vermögen im Trinken, Spielen und anderen Aus-
schweifungen vergeudet, andere seien wegen Mordes, Diebstah-
les, Raubes, Fälschung oder Meineides flüchtig geworden. Noch
andere hätten ihren Fahneneid gebrochen und seien desertiert,
keiner aber wage, in sein Vaterland zurückzukehren, weil er be-
fürchten müsse, gehängt oder zeitlebens ins Gefängnis geworfen
zu werden.
Während dieser Mitteilung wurde ich wiederholt von meinem
Herrn unterbrochen, um ihm zu erläutern, was ich unter den
genannten Verbrechen eigentlich verstehe. Dazu hatte ich nun,
weil in der Landessprache die Worte dafür fehlten, mancherlei
Umschreibungen nötig, und als auch diese zu meinem Zwecke
nicht vollkommen ausreichten, bat ich ihn, er möge nur geduldig
meinen weiteren Auseinandersetzungen über europäische Yä-
hus und Zustände folgen, dann werde ihm die Entstehung und
Beschaffenheit der im Lande der Hauyhnhnms unbekannten
Verbrechen schon vollkommen klar werden.
Mein Herr nickte befriedigt, stützte sein Haupt auf den Vor-
derhuf und schickte sich an, eine längere Erzählung mit Ruhe
und Geduld anzuhören.
Ich gab ihm nun, so gut es gehen wollte, ein möglichst vollstän-
diges Bild von den Zuständen in ganz Europa, die, einige Sitten,
Gebräuche und Regierungsformen abgerechnet, im wesentlichen
einander ganz gleich seien. Dann ging ich auf mein Vaterland
über und erzählte von dem letzten großen Krieg  unter unserer
Königin Anna, an dem sich alle großen Mächte der Christenheit,
besonders der allerchristlichste König von Frankreich, beteiligt
hätten. Ich berechnete, daß durch diesen Krieg ungefähr hundert
Städte eingenommen und beschädigt und mindestens fünfhun-
dert Schiffe zertrümmert und verbrannt seien, die Yähus aber,
die das Leben durch diesen Krieg verloren hätten, zählten nach
Hunderttausenden.
Hier konnte es mein Herr wieder nicht unterlassen, mich ent-
rüstet zu fragen, welche Beweggründe denn in der Regel diese
scheußlichen Metzeleien und Zerstörungen hätten, die ich unter
dem Namen Krieg begriffe?
»Ah, Euer Gnaden,« sagte ich, »dieser Beweggründe und Ursa-
chen gibt es unzählige. Zuweilen ruft die Habsucht und Herrsch-
sucht der Oberyähus oder Fürsten solche Kriege hervor, weil sie
meinen, sie hätten noch nicht Land und Yähus genug, die ihnen
 Der Verfasser meint den spanischen Erbfolgekrieg von 1701 bis 1714.
Königin Anna regierte von 1702 bis 1714.
dienen und sie ernähren müssen; dann nehmen sie an Land und
Leuten mit Gewalt, was nicht ihr Eigentum ist und nennen die-
sen Akt mit ihren Großen Eroberung; der gemeine Yähu aber
nennt es Raub und wird, wenn er sich in seinen kleinen Verhält-
nissen dieses Verbrechens schuldig macht und zum Beispiel ein
ihm nicht gehöriges Hauyhnhnm mit Gewalt an sich nimmt, ge-
hängt. Euer Gnaden werden nun begreifen, weshalb einige mei-
ner nichtsnutzigen Matrosen wegen Raubes nicht in ihre Heimat
zurückkehren durften. – Oft verwickeln auch die Minister oder
ersten Diener der Oberyähus diese in einen Krieg, indem sie da-
durch das Geschrei der Untertanen über eine schlechte Regie-
rung zu betäuben hoffen; besonders aber haben Verschiedenheit
der Meinung und des Glaubens die verheerendsten Kriege ange-
facht und vielen Millionen das Leben gekostet. So die Frage, ob
es besser sei, einen Pfahl oder ein hölzernes Bild zu küssen oder
es ins Feuer zu werfen. Ferner die verschiedenen Meinungen,
wie man sich am besten kleiden müsse, schwarz, weiß, rot, grün
oder blau , ob der Rock lang oder kurz, eng oder weit, schmutzig
oder reinlich sein solle. Je unbedeutender und gleichgültiger die
Streitfragen waren, desto erbittertere und vernichtendere Kriege
haben sie in der Regel hervorgerufen.
Es ist ferner eine leicht zu rechtfertigende Ursache, ein Land
mit Krieg zu überziehen, wenn das Volk durch Hungersnot oder
Pest geschwächt, oder durch bürgerliche Parteikämpfe entzweit
ist. Wenn ein Fürst seine Streitkräfte einer Nation sendet, die
arm und unwissend ist, so darf er mit Recht die eine Hälfte tö-
ten und die andere zu Sklaven machen, um sie, wie man das
nennt, zu zivilisieren und an eine bessere Lebensart zu gewöh-
nen. Auch kommt es vor, daß ein Fürst die Hilfe eines anderen
nachsucht, um sich vor einem mit bewaffneter Hand in sein
Land eingefallenen Feind zu retten; dann ist es ein königliches,
 Der Verfasser denkt hier an die sich befehdenden Parteien im alten
Byzanz.
höchst ehrenvolles und häufiges Verfahren, daß der herbeigeru-
fene Bundesgenosse, nachdem er den Feind vertrieben, das Land
für sich selbst in Besitz nimmt und den geretteten Fürsten tötet,
verhaftet oder verbannt. Verbindung durch Blutsverwandtschaft
oder Ehe ist eine häufige Ursache zu Kriegen zwischen Fürsten,

und je näher die Verwandtschaft ist, desto größer ist auch die
Neigung zum Zwist. Krieg ist unter allen Umständen eine Ehren-
sache, deshalb wird auch das Handwerk eines Soldaten für das
allerehrenvollste gehalten. Ein Soldat ist nämlich ein Yähu, der
gemietet wird, um möglichst viele Exemplare seiner Gattung, die
ihn nie beleidigt haben, mit kaltem Blute zu töten.
Auch gibt es bettelhafte Fürsten oder Oberyähus von Klein-
staaten in Europa, deren Macht zu klein ist, um selbst Kriege zu
führen, und die deshalb ihre Truppen an reichere Nationen  ver-
kaufen. Für den Erlös bauen sie sich dann Paläste, legen Spring-
brunnen an, halten sich Tänzerinnen und andere, das zivilisierte
Leben angenehm machende Dinge«.
Hier unterbrach mich mein Herr wieder und meinte: »Nichts
kann einen besseren Beweis dafür geben, daß Ihr nichts weiter
als unvernünftiges Vieh seid, als wenn sich alles so verhält, was
Ihr mir vom Krieg und seinen Ursachen erzählet. Es ist bei Eurer
Unvernunft nur ein glücklicher Umstand, daß Ihr infolge Eurer
mangelhaften Körperbildung nicht viel Unheil anrichten könnt;
denn Euer Mund ist zu klein und flach, um damit gehörig bei-
ßen, und die Nägel an Eueren Klauen sind zu kurz und weich,
um gefährlich damit zerreißen zu können. Mit Euch verglichen
sind schon unsere Yähus besser bewaffnet, und ein einziger von
ihnen würde mit seinen scharfen Klauen ein Dutzend von den,
wie Ihr sagt, Euch gleichenden, europäischen Yähus vor sich her-
treiben können. Deshalb müßt Ihr etwas gesagt haben, was es
nicht gibt, wenn Ihr erzähltet, daß durch die Kriege Millionen
getötet würden.«
Ich mußte zu dieser naiven Unwissenheit meines Herrn lä-
cheln und beeilte mich, ihm eine Beschreibung von unseren
furchtbaren Waffen und Geschützen, sowie von unseren Belage-
rungen, Angriffen, Minen, Bombardements und Seeschlachten
zu geben, bei denen oft tausend Mann haltende Schiffe durch die
Kraft des Pulvers in die Luft flögen, so daß die abgerissenen und
zerschmetterten Glieder wie ein Hagelwetter niederregneten.
Ferner gab ich ihm eine möglichst anschauliche Beschreibung
von den Schrecken des Schlachtfeldes, dem Fluchen und Toben
der Führer, dem Geheul und Gewimmer der Sterbenden und
 Solchen verwerflichen Menschenhandel trieben auch noch nach Swifts
Zeiten mehrere kleine Fürsten im achtzehnten Jahrhundert.
Verwundeten, von dem Rauch, dem Lärm, der Verwirrung, von
Flucht, Verfolgung und Sieg; wie die Felder alsdann mit Leichen
bedeckt seien als Futter für Wölfe, Hunde und Raubvögel. »Ich
selbst«, fügte ich hinzu, »habe gesehen, daß bei einer Belagerung
durch eine Pulvermine wenigstens hundert Feinde in die Luft ge-
sprengt wurden, und eine mehr als doppelte Zahl ist vor meinen
Augen aus einem zerschmetterten Kriegschiff aufgeflogen und
hat mit ihren herabfallenden blutigen Gliedern zum Ergötzen der
Zuschauer weit und breit die ganze See rot gefärbt«.
Ich wollte noch mehr ins Einzelne gehen, aber mein Herr be-
fahl mir zu schweigen und äußerte: er fürchte, sein Ohr möge
sich an die schändlichen Worte und Scheußlichkeiten gewöhnen,
wenn ich davon noch weiter erzählte, es sähe allerdings alles,
was ich erzählt habe, einem so nichtswürdigen Geschöpf wie
einem Yähu ähnlich, dennoch glaube er kaum, daß die Yähus
seines Landes die viehische Wildheit und Mordlust bis zu diesem
Grade treiben könnten. Obgleich er die Yähus seines Landes ver-
achte und verabscheue, so tadle er sie wegen ihrer Eigenschaften
ebensowenig, wie er einen Gnnahyh (Raubvogel) wegen seiner
Grausamkeit, oder einen scharfen Stein, weil er seinen Huf rit-
ze, tadeln könne. Wenn aber ein Geschöpf, das, wie die europä-
ischen Yähus, Anspruch auf Vernunft mache, dennoch Fähigkeit
zu solchen Scheußlichkeiten besitze, so besorge er, die Verderbnis
dieser Eigenschaften werde noch schlimmer sein, als die bloß tie-
rische Roheit. Er sei deshalb vollkommen überzeugt, daß wir an-
statt der Vernunft, nur irgend eine Eigenschaft besäßen, die sich
dazu eigne, unsere natürlichen Laster zu vermehren, so wie der
Widerschein einer gestörten Wasserfläche das Bild eines schlecht
gebildeten Körpers nicht allein größer, sondern auch verzerrter
wiedergebe. – Vom Kriege zu erzählen sollte ich also aufhören
und auf andere europäische Dinge übergehen, von denen er sich
freilich, nach dem, was er bisher von mir gehört, auch nicht viel
Gutes vorstellen könne.
Ich ging nun zunächst auf eine Beschreibung unserer berühm-
ten Gerichtshöfe über, erzählte ihm von Zivil- und Kriminalpro-
zessen, von dem Scharfsinn und der Zungenfertigkeit unserer
Advokaten, die aus Schwarz Weiß und aus Weiß Schwarz zu
machen wüßten, und eine außerordentliche Gewandtheit darin
hätten, Dinge zu erzählen, die es nicht gäbe; durch welche Kün-
ste sie viel Geld verdienten.
Da stieß ich aber bei meinem Herrn auf eine große Schwie-
rigkeit, mich verständlich zu machen, denn es wollte mir lan-
ge nicht gelingen, ihm einen auch nur annähernden Begriff von
Geld und den Stoffen zu geben, woraus es gemacht wird. Als
mir dies endlich doch einigermaßen gelungen war, fuhr ich fort:
»Hat nun ein Yähu einen ziemlichen Vorrat von dieser glänzen-
den Geldsubstanz, so kann er sich dafür alles anschaffen, was
er zu besitzen wünscht, wie schöne Häuser, Kleider, köstlich
zubereitete Speisen und Getränke. Deshalb glauben unsere Yä-
hus, von diesem Gelde nie genug haben zu können, und jagen
ihm umso eifriger nach, je mehr sie bereits davon besitzen. Der
Reiche macht vermöge dieses kostbaren Geldes den Armen zum
Sklaven und genießt die Früchte seiner Arbeit. Die Zahl die-
ser Reichen verhält sich zu der der Armen wie eins zu tausend,
und die Masse unseres Volkes wird gezwungen, jeden Tag um
geringen Lohn zu arbeiten, damit wenige im Überfluß leben
können.«
Mein Herr begriff nicht, warum alle europäischen und eng-
lischen Yähus nicht gleichen Teil an den Erzeugnissen der Erde
hätten und was ich mit den köstlich zubereiteten Speisen und
Getränken sagen wolle. Hierauf beschrieb ich ihm eine Menge
teurer und feiner Gerichte, die nicht anders beschafft und zu-
bereitet werden könnten, als daß man Schiffe nach allen Welt-
gegenden aussende, um fremde eßbare Waren und Flüssigkeiten
zum Trinken einzukaufen. Ich gab ihm die Versicherung, der
ganze Erdkreis müsse umschifft werden, bevor ein vornehmer
weiblicher Yähu in England ein Frühstück oder ein Geschirr dazu
bekommen könne.
Dann müsse ja mein Vaterland, meinte mein Herr, ein ganz
elender Erdwinkel sein, da es seinen Einwohnern keine genügen-
de Nahrung bieten könne, und es ihm sogar an Wasser mangle,
so daß wir genötigt seien, uns Getränk über See zu holen.
Ich benahm ihm seinen Irrtum, indem ich ihm erklärte, daß
Wasser hinlänglich da sei, daß es aber als ein Viehgetränk verach-
tet würde und von den Yähus erst dann genossen werde, wenn
es gebrannt sei und dadurch eine betäubende, geistverwirrende
und zu allerlei Torheiten führende Kraft gewinne. Auch mach-
ten wir Getränke von ähnlicher Wirkung aus Baumfrüchten und
holten eine aus gewissen Beeren gewonnene, wohlschmeckende
Flüssigkeit von den südlicher wohnenden Yähus. Unser Land sei
keineswegs arm und unfruchtbar, aber um die Unmäßigkeit oder
den Luxus unserer männlichen und die Eitelkeit unserer weib-
lichen Einwohner zu befriedigen, schickten wir den größeren
Teil unserer Erzeugnisse in andere Länder und erhielten dafür
Materialien, die Krankheiten, Laster und Torheiten herbeiführ-
ten. Aus der Unmäßigkeit, dem Luxus, der Eitelkeit, den Lastern
und Torheiten ergebe sich die notwendige Folge, daß ein gro-
ßer Teil unserer Yähus gezwungen werde, seinen Lebensunter-
halt durch Betteln, Rauben, Stehlen, Morden, Betrügen, Lügen,
Falschschwören, Verführen, Fälschen, Spielen, Schwatzen und
Klatschen zu suchen. – Es kostete mich indes unendliche Mühe,
einen jeden dieser Ausdrücke meinem Herrn verständlich zu
machen.
Auf den Beerensaft oder Wein wieder zurückkommend, er-
wähnte ich, daß er von uns sehr geschätzt und von unseren
Dichtern besungen sei, weil er uns munter und lebhaft mache,
melancholische Gedanken verscheuche und, über den Durst ge-
nossen – ein für meinen Herrn ganz unerklärlicher Umstand – aus-
schweifende Ideen und wunderliche Phantasien im Hirn erzeuge,
bis endlich seine Wirkung uns unfähig zum Gebrauch unserer
Glieder mache und in einen tiefen Schlaf versenke, aus dem wir
in einem elenden, kranken Zustande zu erwachen pflegten.
Alsdann erzählte ich von Leuten bei uns, die ein Geschäft dar-
aus machten, Krankheiten zu vertreiben und sich Ärzte nennten.
Diese gingen, und auch wohl nicht mit Unrecht, von dem Grund-
satz aus, daß die meisten Krankheiten aus Unmäßigkeit und
Überfüllung des Magens entständen, deshalb strebten sie dahin,
ihn von seinem Überfluß zu leeren, und beauftragten einen ge-
wissen Sudelkoch, Apotheker genannt, aus Kräutern, Mineralien,
Gummi, Ölen, Wurzeln, Salzen, Pflanzensäften, Seegräsern, Ex-
krementen, Baumrinden, Schlangen, Kröten, Fröschen, Spinnen,
Fleisch und Knochen von toten Menschen, Vögeln und Fischen
eine Mischung zu bilden, die für den Geschmack und Geruch so
ekelhaft wie möglich gemacht werde, so daß sie der Magen so-
gleich mit dem äußersten Widerwillen wieder auswerfe.
Als ich erwähnte, daß durch Unmäßigkeit und Laster erzeug-
te Krankheiten sich besonders häufig bei unseren Personen höch-
sten Standes und dem hohen Adel einstellten, unterbrach mich
mein Herr wieder und bemerkte, das sei ihm meinetwegen sehr
auffallend, da ich wegen meiner Gestalt, Farbe, Reinlichkeit und
leidlich anständigen Betragens die einheimischen Yähus weit
übertreffe, und deshalb selbst wohl von einer edleren oder wie
ich sage adeligen Familie unter diesen Tieren abstammen müsse.
Auch sei es wahrscheinlich eine Folge dieser meiner edleren Ab-
kunft, daß ich die Fähigkeit habe zu sprechen und einige Grane
von Vernunft in so hohem Maße besitze, daß ich bei allen seinen
Bekannten für ein Wundertier gelte.
Ich sagte meinem Herrn den verbindlichsten Dank für die
gute Meinung, die er von mir hege, fügte aber hinzu, daß ich
keineswegs die Ehre hätte, hochgeboren zu sein, sondern nur
ein Kind niederen Standes wäre. Übrigens scheine er von unse-
rem höheren Adel eine etwas zu vorteilhafte Meinung zu haben.
Unsere jungen Lords wüchsen von Kindheit an in Faulheit und
Üppigkeit auf und beschäftigten sich, je älter sie würden, desto-
mehr mit unmäßigem Essen, Trinken, Spielen, Wetten, Hahnen-
kämpfen, Fuchsjagden und sonstigen Allotriis, was man Sport
nenne. Ein schwacher und kranker Körper, die Folge ihrer Un-
mäßigkeit und Ausschweifungen sei das untrügliche Zeichen
der adeligen Geburt, und ein robuster Körperbau mit einem
Gesicht von gesunder Farbe werde von diesem Stande als eine
Eigenschaft von Stallknechten und Kutschern mit Verachtung
angesehen. Die Seele des größten Teils dieses Adels entspreche
dem kränklichen Körper, denn sie sei ein Gemisch von Laune,
Eigensinn, Sinnlichkeit, Unwissenheit, Dummheit, und was das
Schlimmste wäre, von Stolz, da doch kein Yähu weniger Ursa-
che habe stolz zu sein als ein adeliger.
Fünftes Kapitel
Der Herr des Verfassers vergleicht die Eigenschaften der Yähus mit
denen der Europäer. Der Verfasser beobachtet Leben und Treiben der
Yähus genauer. Er gibt einen Bericht über die Grundsätze und Tugenden
der Hauyhnhnms, über ihre Kindererziehung und ihre Parlamente.

Lieber Leser, du wirst es vielleicht mißbilligen, daß ich eine so


freimütige und scharfe Schilderung meines eigenen Geschlechtes
bei einer Pferdenation gegeben habe, die schon zu sehr geneigt
war, die verächtlichste Meinung vom Menschengeschlecht zu
hegen, indem sie eine vollkommene Ähnlichkeit zwischen mir
und den Yähus fand. Ich muß indes der Wahrheit die Ehre geben
und bekennen, daß die vielen Tugenden, die ich bei diesen aus-
gezeichneten Vierfüßlern entdeckte, mich die Handlungen und
Leidenschaften der Menschen in einem so ungünstigen Licht er-
blicken ließen, daß ich zu der Ansicht kam, es sei nicht der Mühe
wert, die Ehre meines Geschlechtes aufrecht zu erhalten. Auch
wäre mir das ja, wenn ich in meinem Bericht bei der Wahrheit
blieb, bei dem Scharfsinn und der Urteilskraft meines Herrn un-
möglich gewesen.
Um aufrichtig zu sein, ist auch wohl deshalb meine Schilde-
rung von Menschen und Dingen in Europa so scharf ausgefallen,
weil ich, nachdem ich kaum ein Jahr im Lande gewesen, eine
solche Achtung und Verehrung für seine vierfüßigen Herren
empfand, daß ich fest beschloß, gar nicht wieder zu Menschen
zurückzukehren, sondern fern von dieser bösartigen Rasse mein
Leben in Ausübung der Tugend bei den bewunderungswürdigen
Hauyhnhnms hinzubringen. – Das Schicksal aber wollte es nicht,
daß mir dies große Glück zuteil werden sollte.
Als ich nun durch die vollständigsten Berichte, aus denen ich
hier natürlich nur eine kurze Andeutung des Hauptinhaltes ge-
ben konnte, die Wißbegier meines Herrn vollkommen befriedigt
hatte, zog er sich mehrere Tage zurück, um über das Gehörte
philosophische Betrachtungen anzustellen. Dann ließ er mich
eines Tages rufen, erlaubte mir, mich in einiger Entfernung von
ihm niederzusetzen, und teilte mir das Ergebnis seiner Betrach-
tungen mit. Er sei nun vollständig überzeugt, begann er, daß
ich mit meinen Mityähus in Europa eine Tiergattung bilde, der
durch einen ihm nicht erklärlichen Zufall einige Gran Vernunft
zugekommen seien, die aber von uns nur dazu angewandt wür-
den, unsere Bedürfnisse zu vermehren und uns untereinander
das Leben zu verbittern. Wir seien im Grunde kein anderes Ge-
schlecht als die Yähus seines Landes, ständen ihnen aber an Kör-
perkraft und Schnelligkeit nach, während wir an Bösartigkeit
und Grausamkeit allerdings viel vor ihnen voraus hätten. Nach
meiner Darstellung entsprächen die Sitten, Leidenschaften und
Gewohnheiten der europäischen Yähus ganz denen der hiesigen.
Die hiesigen Yähus, das sei eine durch Beobachtungen längst
festgestellte Sache, haßten sich untereinander heftiger wie jede
andere Tiergattung, und nach dem, was ich von den Kriegen,
Grausamkeiten und Verbrechen in Europa erzählt habe, müsse
bei den dortigen Yähus dieser Haß den höchsten Grad erreicht
haben. Ebenso fände er die Leidenschaft der Habsucht und Unge-
nügsamkeit, von der ich gesprochen, auch bei dem Yähugesindel
seines Landes stark ausgeprägt. »Denn wenn man«, fuhr er fort,
»fünf Yähus auch so viel Futter vorwirft, daß sich fünfzig davon
sättigen könnten, so gönnen sie einander doch keinen Bissen und
streiten sich aufs erbittertste darum. Stirbt eine Kuh, die man
den Yähus überläßt, so stürzen sie, anstatt sich friedlich und ver-
nünftig darin zu teilen, herdenweise über das Aas her, machen
es sich einander streitig und es entsteht ein Kampf, ähnlich wie
Ihr ihn mit dem Namen Schlacht bezeichnet; sie bringen sich mit
Klauen und Zähnen die fürchterlichsten Wunden bei, können
aber einander nur selten töten, weil ihnen die Mordinstrumente
fehlen, die Ihr mit Eurer schief angewandten Vernunft erfunden
habt. Auch finden solche Kämpfe manchmal ohne jede erhebli-
che Ursache, bloß aus Haß und Mordlust statt. Ferner finde ich
darin eine überraschende Ähnlichkeit zwischen den hiesigen Yä-
hus und Euch, daß sie wertlosen, unnützen Dingen aufs gierigste
nachjagen. So findet sich hier auf verschiedenen Feldern ein ge-
wisser gelber und glänzender Stein, den sie mit ihren Klauen aus
der Erde scharren, wütend einander streitig machen und wenn es
ihnen gelingt, einen Vorrat davon fortzuschaffen, ihn furchtsam
und mißtrauisch in ihren Ställen verbergen. Diese merkwürdige
Leidenschaft ist nichts anderes, als was Ihr in Europa mit dem
Namen Geiz oder Geldgier bezeichnet. Auch kommt es nicht sel-
ten vor, daß wenn ein Streit über den Besitz eines solchen Steines
unter zwei Yähus entsteht, ein dritter hinzutritt, seinen Vorteil
wahrnimmt und den Stein als sein Eigentum wegnimmt.«
Dies, meinte mein Herr, habe einige Ähnlichkeit mit unseren
Prozessen, von denen ich mehrfach erzählt habe.
Hier konnte ich es aber nicht unterlassen, zu bemerken, daß
diese Entscheidung weit billiger sei, als manches bei uns ge-
bräuchliche Verfahren, denn der Kläger und der Beklagte verlie-
re nichts als den strittigen Stein; während unsere Gerichtshöfe
einen solchen Streit nicht eher beilegten, als bis den streitenden
Parteien auch von ihrer übrigen Habe nichts mehr übrig bleibe.
»Überraschende Ähnlichkeit mit Euch,« belehrte mich mein
Herr weiter, »zeigen auch unsere Yähus in der Leidenschaft, die
Ihr Unmäßigkeit und Völlerei nennt; sie fressen von Kräutern,
Beeren, Wurzeln und ekelhaftem Fleisch alles, was nur ihre
Zähne bezwingen können, und schätzen solche Speisen umso
höher, je ekelhafter sie sind, gleichwie Ihr mir erzählt habt, daß
manches Ekelhafte Eure Lords und Eure Reichen als eine gro-
ße Delikatesse schätzen. Infolge dieser Freßgier entstehen auch
Überladungen des Magens oder Krankheiten bei ihnen, die sie
durch das Hineinschlingen einer gewissen Wurzel, die sie eifrig
sammeln, zu vertreiben suchen. Auch noch eine andere Wurzel
wird von ihnen sehr geschätzt, deren Genuß bei ihnen ungefähr
die gleiche Wirkung hervorbringt, wie der von euch genannte
Beerensaft, oder das durch Brennen und giftige Beimischung ver-
dorbene Wasser. Nachdem sie eine größere oder geringere Menge
dieser Wurzeln verschlungen, pflegen sie sich zu umarmen oder
zu prügeln, heulen, lachen, drehen sich im Kreise und stürzen
dann gewöhnlich in Pfützen und Morästen zusammen, wo sie
einschlafen.«
Überhaupt, meinte er ferner, sei ihm die Liebe der Yähus zu
Morast und Schmutz sehr auffallend, da sich doch alle anderen
Tiere der Reinlichkeit befleißigten.
Die Parallelen, die mein Herr zwischen den einheimischen
Yähus und dem Menschengeschlecht gezogen hatte, veranlaßten
mich, meinen Widerwillen gegen diese Tiere einigermaßen zu
überwinden und ihr Tun und Treiben näher zu beobachten. Mein
Herr hatte gegen diese Absicht nichts einzuwenden, befahl aber
dem dienenden Klepper, mich bei meinen Untersuchungen zu be-
gleiten, und mich gegen die Tücke und Bosheiten des ekelhaften
Viehes zu schützen. Auch vergaß ich zu meinem Schutz niemals
meinen Degen mitzunehmen, wenn ich mich in die Nähe einer
Yähuherde wagte. Oft kamen mir einzelne oder ganze Gruppen
dieser widerwärtigen Geschöpfe nahe, ahmten meine Bewegun-
gen wie die Affen nach und zeigten in ihren Gebärden die deut-
lichsten Spuren von verhaltenem Haß und tückischer Bosheit.
Nach allem, was ich entdecken konnte, scheinen die Yähus die
ungelehrigsten Tiere zu sein. Ihre Fähigkeiten entwickeln sich
nie weiter hinaus, als Lasten zu ziehen und zu tragen. Ich glaube
jedoch, daß dieser Mangel nur aus ihrem störrischen Wesen ent-
steht. Sie sind, wie schon mehrfach erwähnt, stark und kräftig,
aber zugleich feig, unverschämt, niederträchtig und grausam.
Die Hauyhnhnms verwahren die zum Lastentragen und Zie-
hen tauglichen Yähus in Ställen, die möglichst fern von ihren
Wohnungen angelegt sind. Die übrigen überläßt man auf den Fel-
dern sich selber, wo sie Wurzeln ausgraben und Kräuter fressen,
auch Äser aufsuchen und bisweilen Wiesel oder Luhimuhs – eine
Art wilder Ratten – fangen und gierig verschlingen.
Auch holen sie als geschickte Schwimmer ihre Nahrung aus
dem Wasser, verschmähen aber die besseren Fische, sondern su-
chen mit Vorliebe nach Eidechsen, Schlangen, Molchen, Seespin-
nen und anderem ekelhaften Gewürm.
Kurz, das Betragen, die Sitten, Gewohnheiten und die ganze
Lebensweise dieser Scheusale sind so widerlich, daß ich gern ein-
mal davon abbreche, um, was der geneigte Leser sicherlich schon
gewünscht hat, etwas Näheres über die edlen Hauyhnhnms und
ihre vorzüglichen Tugenden zu erzählen.
Der Hauptgrundsatz dieser edlen und mit ausgezeichnetsten
Anlagen begabten Geschöpfe besteht in der Ausbildung der Ver-
nunft, worunter sie die Erkenntnis verstehen, daß die Tugend
allein das einzig Begehrenswerte sei, was das Leben verschönern
und beglücken könne. Diese geistige Eigenschaft der Vernunft ist
bei ihnen aber nicht wie bei uns etwas Zweifelhaftes, so daß de-
ren Begriff von verschiedenen Meinungen verschieden ausgefaßt
wird, sondern sie ist das eigentliche Wesen ihrer Natur und das
selbstverständliche Richtmaß ihres Handelns. Und da sie infol-
ge dieses Richtmaßes nur das Edle und Gute erstreben, so kom-
men sie in ihrer Ansicht ganz mit der Behauptung des Sokrates
überein, daß nur der Unvernünftige böse und schlecht sein kön-
ne. Aus dieser beständigen Betätigung der Vernunft bilden sich
bei ihnen die Gefühle der Freundschaft und des Wohlwollens
in hohem Grade aus, und diese Freundschaft und dieses Wohl-
wollen erstrecken sich bei ihnen nicht auf einzelne Individuen,
sondern auf das ganze Geschlecht. Anstand und Höflichkeit,
die aber nie in fade Komplimente ausarten, sind wiederum eine
Folge dieser edlen Gefühle, doch wird eine übertriebene Zärt-
lichkeit oder Affenliebe für die Füllen bei ihnen vermißt. Auch
in Behandlung und Erziehung dieser ihrer Kinder lassen sie sich
ausschließlich von den Vorschriften ihrer Vernunft leiten. Die
sorgfältige Kindererziehung bedingt auch ein musterhaftes, ehe-
liches Leben unter ihnen, und ist der Ehebund einmal nach den
dortigen schönen und erhebenden Gebräuchen geschlossen, so
kann man versichert sein, daß die Gatten bis an ihr Ende in un-
gestörter Eintracht und schönster Harmonie miteinander leben.
Mäßigkeit, Fleiß, Körperbewegung und Reinlichkeit werden
den Füllen beiderlei Geschlechts als Grundlehren tief eingeprägt.
Man übt die Füllen in Entwicklung ihrer Körperkräfte durch
Wettlaufen und durch das Erklimmen steiler Höhen. Sind sie da-
bei in Schweiß geraten, so müssen sie bis über die Ohren in einen
Teich oder Fluß springen. Viermal des Jahres kommt die Jugend
eines bestimmten Bezirks zusammen, um ihre Fortschritte im
Laufen, Springen und anderen Fertigkeiten zu zeigen; der Sieger
oder die Siegerin wird durch eine Lobrede belohnt. Auch trei-
ben bei diesen Festen die dienenden Pferde eine Herde Yähus
vor der jungen Pferdewelt zusammen, damit sie sich an deren
zänkischem, schmutzigem und unvernünftigem Betragen ein
abschreckendes Beispiel nehmen. Nicht lange jedoch wird die
Nähe der Yähus geduldet. Sobald sie sich eine Weile gekratzt und
gebissen haben, werden sie von den dienenden Pferden wieder
nach ihren Ställen zurückgetrieben.
Alle vier Jahre im Frühling, zur Zeit der Tag- und Nachtglei-
che, versammeln sich die dazu erwählten Hauyhnhnms zu ei-
nem Parlament, in dem die gemeinsamen Landesinteressen zur
Beratung kommen. Der Zustand der verschiedenen Bezirke wird
untersucht, und es wird in Frage gezogen, ob sie Überfluß an
Heu, Hafer, Kühen und Yähus besitzen, oder ob sie daran Man-
gel leiden; stellt sich letzteres, was jedoch selten vorkommt, her-
aus, so wird der Mangel durch freiwillige Beiträge sofort wieder
ausgeglichen.
Wir werden Veranlassung haben, im folgenden Kapitel auf die
Verhandlungen dieses großen Parlaments näher einzugehen.
Sechstes Kapitel
Eine Debatte in der allgemeinen Versammlung der Hauyhnhnms.
Wissenschaften und Künste bei dieser vierfüßigen Nation. Ihre Gebäu-
de, Geräte und ihre Art, die Toten zu begraben. Ihre Gedanken über
den Tod. Mangelhaftigkeit ihrer Sprache.

Unter den Beratungen jener großen Versammlungen, die ich im


vorigen Kapitel kurz erwähnte, hebe ich eine hervor, die schon
oft auf der Tagesordnung gestanden hatte und etwa drei Mo-
nate vor meiner Abreise zur Verhandlung gelangte. – Die Frage
betraf nichts Geringeres, als die Vertilgung der Yähus von der
Erde. – Ein Parlamentsmitglied sprach eifrig für diese Vertilgung
und führte folgende wichtigen Gründe für seine Meinung an:
Die Yähus seien nicht allein die schmutzigsten, zänkischsten
und häßlichsten Tiere, welche die Natur jemals hervorgebracht
habe, sondern sie zeigten sich auch störrisch, ungelehrig und
boshaft. Im geheimen sögen sie die Milch aus den Eutern der
Kühe, die den Hauyhnhnms gehörten, erwürgten und fräßen die
Katzen, zerträten Hafer und Gras und begingen tausend andere
Nichtswürdigkeiten. Die Yähus, wahrscheinlich durch einen bö-
sen Geist in Morast und Schmutz erzeugt, seien eine wahre Pla-
ge des Landes und ihr Nutzen und ihre Leistungsfähigkeit wöge
den Schaden, den sie anrichteten, bei weitem nicht auf. Man hät-
te dies ekelhafte Vieh überhaupt nicht zu Dienstleistungen her-
anziehen, sondern statt seiner sich lieber der Esel bedient haben
sollen, die einst im Lande gezüchtet worden wären, aber deren
Zucht man später ganz vernachläßigt hätte. Die Esel seien weit
ordentlichere, zahmere und lenksamere Tiere als die Yähus und
hätten auch nicht einen so abscheulichen Geruch. Ihr Geschrei
sei zwar etwas unangenehm, aber mit dem Geheul der Yähus
verglichen, ein ganz lieblicher Schall.
Nachdem noch mehrere andere sich im Sinne des Vorredners
ausgesprochen hatten, erhob sich mein Herr (ich muß hier ein-
schalten, daß mein Herr später die Güte hatte, mir einen Bericht

über diese ganze wichtige Sitzung zu geben) und meinte, er glau-


be nicht, daß die Yähus von einem bösen Geist in Schmutz und
Morast erzeugt seien, sondern, daß sie in vorgeschichtlichen Zei-
ten aus fernen Landen übers Meer gekommen sein mögen und an
dieser Küste verwildert seien. Diese Ansicht werde bei ihm fast
zur Gewißheit, wenn er den zahmen, übers Meer gekommenen
Yähu beobachte, den er, wie vielen der geehrten Herren bekannt
sein dürfte, als Affen in seiner Familie halte. Dieser Yähu zeichne
sich vor den einheimischen durch besseres Betragen und durch
einige Spuren von Vernunft aus, was seinen Grund nur in einer
besseren Erziehung haben könne, die ihm zuteil geworden wäre.
Er gebe deshalb zu bedenken, ob es nicht geraten sei, der Erzie-
hung der jungen Yähus mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden, wo-
bei es nicht ausgeschlossen bleibe, daß man auch auf die Zucht
der Esel wieder sein Augenmerk richten könne.
Dies war indes alles, was mir mein Herr über die damali-
gen Parlamentsverhandlungen sagen wollte, denn das weite-
re in den Beratungen hatte sich auf mich bezogen und er fand
für gut, mir dies vorläufig zu verhehlen. Später mußte ich es
zu meinem Unheil doch erfahren und werde dem Leser am ge-
eigneten Ort erzählen, welches herbe Mißgeschick mir daraus
entsprang.
Die Hauyhnhnms kennen keine Schrift, weshalb ihr ganzes
Wissen auf Tradition beruht, doch ist ihr Gedächtnis ausgezeich-
net und bis an ihr Ende ungeschwächt, so daß bemerkenswerte
historische Ereignisse und wichtige Gesetze nie vergessen wer-
den. Auch die Wissenschaft der Medizin ist bei ihnen nicht sehr
ausgebildet, aus dem einfachen Grunde, weil sie infolge ihrer
mäßigen und geordneten Lebensweise fast gar keinen Krankhei-
ten unterworfen sind; Risse und Beulen, die sie sich zuweilen auf
steinigem Boden bei ihren Reisen holen, heilen sie leicht durch
einige heilsame Kräuter.
Ihre astronomischen Kenntnisse beschränken sich auf die
Wissenschaft von den Bewegungen der Planeten und den Ursa-
chen der Verfinsterungen von Sonne und Mond, dagegen steht
unter den Künsten die Poesie bei ihnen in hoher Blüte und mö-
gen sie darin wohl alle Sterbliche übertreffen. Ihre Verse, die
sie mit der besten Deklamation vortragen, sind außerordentlich
reich an treffenden schönen Bildern und haben in der Regel die
poetische Verherrlichung der Begriffe der Freundschaft und des
Wohlwollens zum Gegenstande, oder preisen den Ruhm der Sie-
ger bei Wettrennen und anderen Leibesübungen.
Mechanische Künste sind ziemlich vernachlässigt, weil die
geringen Bedürfnisse dieser genügsamen Pferdenation sie nicht
erheischen, doch sind sie sehr erfahren darin, zweckmäßige,
warme und gegen jede Art von Unwetter geschützte Wohnun-
gen zu erbauen. Ihr Land erzeugt einen Baum, der, wenn er vier-
zig Jahr alt ist, an der Wurzel abfault und beim ersten, besten
Sturm zusammenbricht. Diese häufig vorkommenden Stämme
glätten und behauen sie mit einem in diesem Lande zu solcher
Verrichtung außerordentlich tauglichen Feuerstein, rammen sie
zehn Fuß voneinander in die Erde, verbinden sie mit dichtem
Flechtwerk, nachdem sie Öffnungen für Tür und Fenster gelas-
sen, und bedecken dann das so hergerichtete Gebäude mit Schilf
und Haferstroh.
Bei diesen und ähnlichen Arbeiten bedienen sich die
Hauyhnhnms des hohlen Teils ihres Vorderfußes zwischen dem
Huf und dem äußerst geschmeidigen Fußgelenk mit großem Ge-
schick. Sie wissen in dieser Weise selbst Arbeiten zu verrichten,
wozu eine geübte menschliche Hand gehört, und ich habe selbst
gesehen, daß einst eine weiße Stute aus unserer Familie eine
Nähnadel, die ich ihr gegeben, mit ihrem Fußgelenk einfädelte.
Mit ihrem Fußgelenk verfertigen sie auch die zu ihrem Haus-
halt nötigen irdenen und hölzernen Gefäße, die freilich gerade
keine zierliche Form haben, aber doch für ihre Bedürfnisse voll-
kommen genügen.
Die Hauyhnhnms erreichen ein hohes Alter, wenn sie nicht
durch hier indes sehr seltene Unglücksfälle umkommen. Die
Toten werden in dunklen Höhlen würdig, aber ohne Prunk be-
stattet, wobei weder Freunde noch Verwandte Kummer zeigen.
Denn der Tod hat für diese vierfüßigen Philosophen durchaus
nichts Schreckliches, sie sehen ihn als eine notwendige Natur-
erscheinung an und finden sein Eintreten deshalb vernünftig,
denn alles, was ihnen nach den Naturgesetzen notwendig er-
scheint, erscheint ihnen zugleich als vernünftig; somit wür-
de es bei ihnen nur verwerflich oder albern sein, ein vernünf-
tiges und notwendiges Naturereignis zu bejammern und zu
beklagen.

Die Hauyhnhnms fühlen in der Regel durch Abnahme ih-


rer Kräfte den Tod einige Wochen vor seinem Eintreten voraus.
Dann empfangen sie Abschiedsbesuche ihrer Freunde und Ver-
wandten und statten, wenn es ihre Kräfte noch erlauben, auch
wohl noch Gegenbesuche in von Yähus getragenen Tragsesseln
ab. Es wird alsdann ein feierlicher Abschied genommen, und je-
der der Anwesenden gibt sich dem ernsten Gedanken hin, daß
auch an ihn einst die Reihe kommen werde, dem vernünftigen
und notwendigen Naturgesetz zu unterliegen.
Wie ich schon bemerkt zu haben glaube, hat ihre Sprache kein
Wort für den Begriff böse, nur annäherungsweise haben sie da-
für einige Ausdrücke, die sie erfunden haben, um damit ihnen
ganz fremde, schlechte Eigenschaften der Yähus zu bezeichnen.
So bezeichnen sie die Dummheit eines Bedienten, die Unart
eines Füllens, einen Stein, der ihren Fuß ritzt, lange Dauer des
schlechten Wetters und ähnliche Dinge durch Hinzufügung des
Beiworts Yähu.
Ich würde mich gern über die Sitten und Tugenden dieser er-
habenen Nation noch weiter auslassen, behalte es mir aber für
ein größeres Werk über Moral- und Pflichtenlehre vor, auf das
seinerzeit der Buchhandel den geneigten Leser aufmerksam ma-
chen wird.
Siebentes Kapitel
Des Verfassers glückliches Leben bei den Hauyhnhnms und sein
Haushalt. Er verfertigt sich Kleider und Schuhe. Sein Geist und Gemüt
bilden sich immer mehr in dem Umgange mit den edlen Vierfüßlern.
Ein plötzlicher Glückswechsel läßt den Verfasser ohnmächtig zusam-
mensinken, er findet sich dann aber männlich in sein unvermeidliches
Schicksal. Er verfertigt mit Hilfe des dienenden Kleppers ein Boot und
stößt auf gut Glück in See.

Ich lebte recht behaglich unter diesen weisheitsvollen Pferden


und hatte mir meinen kleinen Haushalt zur Zufriedenheit ein-
gerichtet. Mein Herr hatte mir in der Nähe seiner Wohnung eine
Hütte nach Landessitte bauen lassen, die ich mir mit Binsenmat-
ten ganz wohnlich ausstattete. Auch hatte ich mir ein paar Stüh-
le und einen Tisch, zu denen der Klepper mit seinem Feuerstein
die gröberen Vorarbeiten gemacht hatte, verfertigt, und ging nun
auch daran, meine abgerissenen Kleider durch neue zu ersetzen.
Zu diesem Zweck hatte ich schon lange Zeit Kaninchenfelle ge-
sammelt und getrocknet, die ich mit im Lande wild wachsendem
Hanf zusammennähte. Aus den noch zarteren Fellen eines dort
häufigen kleineren Vierfüßlers machte ich mir Strümpfe, und
meine zerrissenen Schuhe ersetzte ich durch hölzerne Sohlen,
die ich mit Riemen aus getrockneten Yähuhäuten befestigte.
Ich war vollkommen gesund, heiteren Sinnes und mit dem
wenigen, das ich mein nannte, zufrieden. Ich härmte mich nicht
über die Verräterei oder die Unbeständigkeit eines Freundes, noch
über die Beleidigungen eines offenen oder geheimen Feindes. Ich
brauchte keinen Schutz gegen Betrug oder Unterdrückung, noch
brauchte ich mich vor Spionen zu hüten, die einem die Worte
im Munde umdrehen. Es gab hier weder Ärzte, die meinen Leib,

noch Juristen, die mein Vermögen ruinierten. Man wußte nichts


von Räubern, Taschendieben, Spielern, launenhaften Menschen,
langweiligen Schwätzern, Zänkern, Narren, Stutzern, Trunken-
bolden, dummen und stolzen Pedanten, kurz, ganz und gar nichts
von all dem Gesindel, das einem in der sogenannten zivilisierten
Welt das Leben sauer zu machen pflegt.
Oft hatte ich durch meinen gütigen Herrn die Ehre, besuchen-
den Hauyhnhnms vorgestellt zu werden, die sich, obwohl ich in
ihren Augen nur ein elender Yähu war, herabließen, mit mir eine
Unterredung anzuknüpfen, die stets etwas Belehrendes und Er-
hebendes für mich hatte, so daß ich eine solche Gesellschaft nie
verließ, ohne einen erheblichen Gewinn für meinen Geist und
mein Gemüt mitzunehmen.
Dachte ich bei dieser glücklichen Lebensweise unter den von
mir wahrhaft verehrten Hauyhnhnms an meine Familie, meine
Freunde, meine Landsleute und an das Menschengeschlecht im
allgemeinen, so betrachtete ich sie als das, was sie wirklich wa-
ren, nämlich als Yähus in Form und Wesen, obgleich etwas mehr
zivilisiert und mit der Gabe der Rede versehen. Unter diesen Um-
ständen kann es nicht befremden, daß ich nach und nach einen
lebhaften Widerwillen gegen das ganze Menschengeschlecht,
ja gegen mich selbst empfand, denn wenn ich zufällig einmal
in einem See oder in einem Bach das Spiegelbild meiner Gestalt
sah, so wandte ich voll Schauder über mich selbst mein Gesicht
ab.
Durch meine Bewunderung der Hauyhnhnms kam ich un-
willkürlich dahin, einige ihrer Eigenschaften und Bewegungen
nachzuahmen, die freilich nicht zu meiner Körperbeschaffenheit
paßten, so trabte ich beim Gehen gern wie ein Pferd, setzte mich
beim Schnellgehen in kurzen Galopp, wieherte anstatt zu gäh-
nen und legte in meine Stimme den Akzent der Pferdesprache.
Gewohnheiten, die mir später, als mich das Unglück zwang, in
mein Vaterland zurückzukehren, häufig Spöttereien zuzogen,
woraus ich mir aber nicht das mindeste machte, sondern zur
Vergeltung nur, indem ich den Spötter mitleidig und verächtlich
betrachtete, leise und achselzuckend für mich das Wort »Yähu«
aussprach.
Schon wähnte ich, ich würde mein glückliches und zufriede-
nes Leben ungestört in dem schönen Lande der Hauyhnhnms
beschließen und war meines Daseins recht froh, als mich eine Er-
öffnung meines gnädigen Herrn wie ein Donnerschlag traf und
mich aus allen Himmeln warf. Er ließ mich nämlich eines Mor-
gens sehr früh zu sich bescheiden, und eröffnete mir mit einiger
Verlegenheit, daß die letzte Versammlung hinsichtlich meiner
einen Beschluß gefaßt habe, dessen Ausführung er sich vernünf-
tigerweise nicht länger mehr widersetzen könne.
Ich stand nach diesen Worten wie auf Kohlen und beobach-
tete mit der ängstlichsten Gespanntheit das Mienenspiel meines
gütigen Herrn.
Er fuhr fort: Ich werde mich aus seinen Mitteilungen erinnern,
daß in der letzten Versammlung auch über Sein und Nichtsein
der Yähus verhandelt worden sei; bei dieser Gelegenheit sei auch
mein Aufenthalt auf der Insel und mein Verkehr in seiner Fami-
lie zur Sprache gekommen, und da habe sich dann die Ansicht
geltend gemacht, der er sich leider auch nicht ganz verschließen
könne, daß ein weiterer Verkehr mit mir, der ich doch nur ein
etwas gezähmter Yähu sei, sich für einen Hengst seines Standes
nicht zieme. Zudem sei mein Aufenthalt auf der Insel überhaupt
nicht wünschenswert, denn von Natur boshaft, wie alle Yähus,
könne ich eines Tages mit meinen Mitgeschöpfen ins Gebirge
flüchten, sie zum Aufruhr verleiten und so den Viehherden und
übrigem Eigentum der Hauyhnhnms gefährlich werden. Es sei
daher der unwiderrufliche Beschluß der hohen Versammlung,
mich entweder in den Yähustall zu schicken und mich wie die
übrigen meines Geschlechtes zu behandeln, oder mir zu befehlen,
daß ich das Land verließe und nach dem Orte zurückschwimme,
woher ich gekommen sei.
Mein Herr fuhr fort: Er werde nun täglich von den Hauy-
hnhnms der Nachbarschaft angegangen, diesen Beschluß der
Versammlung auszuführen und könne dies jetzt durchaus nicht
länger aufschieben. Er werde mir Materialien zu einem Fahrzeug
anschaffen lassen, und dafür Sorge tragen, daß mir der dienen-
de Klepper, mit dem ich ja in gutem Einvernehmen stehe, bei
der Herstellung eines solchen Fahrzeuges fleißig zur Hand gehe.
Schließlich versicherte er noch, er für seine Person würde mich
ganz gerne Zeit meines Lebens in seinen Diensten behalten ha-
ben, weil er gefunden, daß ich mich von manchen schlechten
Yähugewohnheiten dadurch befreit habe, daß ich mir nach mei-
nen schwachen Kräften Mühe gegeben, den Hauyhnhnms, so-
weit dies meine untergeordnete Natur erlaube, in jeder Hinsicht
nachzuahmen.
Diese Eröffnung meines Herrn brachte mich der Verzweiflung
nahe, und der Schmerz darüber überwältigte mich so sehr, daß
ich ohnmächtig zu seinen Füßen niederstürzte.
Als ich wieder zur Besinnung gekommen war, sagte ich un-
ter Tränen und Schluchzen, ich maße mir zwar nicht an, den
Beschluß einer so hohen, mir an Geisteskräften und Tugenden
weit überlegenen Versammlung zu tadeln, allein ich hätte doch
gewünscht, daß man mit weniger Härte und Strenge gegen mich
verfahren sei. Wenn es mir auch gelänge, was hier mit großen
Schwierigkeiten verbunden sei, ein Fahrzeug zustande zu brin-
gen, so schauderte ich doch bei dem Gedanken, nach einer viel-
leicht glücklich bestandenen Fahrt, wieder zu meinen Mityähus
zu kommen und durch die schlechten Beispiele ihrer Laster und
Gewohnheiten wieder in die alte Verderbnis zurückzusinken.
Ich wisse indes sehr wohl, daß die Beschlüsse der weisen Hauy-
hnhnms zu richtig begründet seien, als daß ich, ein erbärmlicher
Yähu, sie erschüttern könne. Darum sage ich ihm, da die Sache
nun einmal nicht zu ändern sei, meinen demütigen Dank für das
Material zu meinem Schiff und für die versprochene Hilfelei-
stung seines Dieners, und bäte nur, mir die erforderliche Zeit zu
gestatten, um das schwierige Werk zustande zu bringen. Würde
ich jemals nach England zurückkehren, so hege ich einige Hoff-
nung, meinem Geschlechte dadurch nützlich zu werden, daß ich
den Ruhm der weisen Hauyhnhnms feiern und ihre Tugenden
dem Menschengeschlecht zur Nachahmung hinstellen würde.
Mein Herr gab mir eine gnädige und wohlwollende Ant-
wort und gestattete mir einen Zeitraum von zwei Monaten zur
Herstellung meines Schiffes. Zunächst ging ich nun an die Kü-
ste, um eine passende Stelle zum Bau und zum Flottmachen des
Fahrzeuges aufzusuchen. Als ich bei dieser Gelegenheit eine Höhe
bestieg und in das Meer hinausblickte, glaubte ich in der Ferne
eine Insel zu entdecken, und fand mit Hilfe meines Taschenfern-
rohrs, daß ich mich nicht geirrt hatte; ich schätzte die Entfer-
nung der Insel auf etwa fünf Stunden. Der dienende Klepper, der
mich auf Geheiß seines Herrn begleitet hatte, hielt die Insel aber
nur für eine ferne blaue Wolke, weil er sich keinen Begriff davon
machen konnte, daß es außer seinem Lande noch ein anderes
gebe.

Diese Insel setzte ich mir nun als nächstes Ziel meiner Reise,
sobald ich mit der Herstellung meines Fahrzeuges zustande ge-
kommen sein würde.
Ich machte mich dann mit dem Klepper sogleich ans Werk
und wir suchten in dem uns angewiesenen Gehölz die passen-
den Materialien zum Bau zusammen. Der Klepper fällte mit
Hilfe seines geschickt an einem Stiele befestigten Feuersteines
mehrere junge und geschmeidige Bäume, und ich half fleißig mit
meinem Messer sie zuzurichten. Da wir uns täglich an die Ar-
beit machten, so hatte ich nach sechs Wochen so viel passendes
Material zusammen, um ein Fahrzeug nach Art der indianischen
Kanoes daraus zusammenzufügen. Als eines Bindemittels be-
diente ich mich starker Riemen aus Yähuhäuten und überzog
auch den ganzen Bug des Schiffes mit dem zähen Leder dieser
Geschöpfe. Mein Segel verfertigte ich ebenfalls aus der Haut ei-
nes solchen Tieres. Auch versah ich mich mit vier Rudern, und
versorgte mich mit einem ziemlichen Vorrat gekochten Fleisches
von Kaninchen und Vögeln, sowie auch mit Gefäßen voll Milch,
Haferbrei und Wasser.

Wie nun alles soweit imstande war, versuchte ich mein


Boot und fand, daß es bis auf einige unbedeutende Ritzen ganz
zweckdienlich sei. Ich verstopfte diese Ritzen glücklich mit
zähem Yähutalg, und war dann imstande, den Tag meiner Ab-
reise festzusetzen.
Als dieser für mich unvergeßlich schmerzliche Tag herange-
kommen war, nahm ich unter vielen Tränen von meinem gütigen
Herrn und seiner ganzen Familie Abschied. Die Familie beschloß,
teils aus Güte, teils aus Neugier, mich abfahren zu sehen, und gab
mir deshalb das Geleit zu meinem Boot, wozu sie noch mehrere
Freunde der Nachbarschaft eingeladen hatte. Ich erwartete dann

die mir günstige Flut, und als sie eintrat, nahm ich zum zweiten-
mal von meinem Herrn Abschied und machte Miene, mich vor
ihm niederzuwerfen und seinen Huf zu küssen; er erwies mir
jedoch die Ehre, seinen Huf sanft an meinen Mund zu erheben.
Letzteren Umstand werden meine Neider und Verleumder wohl
bezweifeln und nicht glauben, daß mir von einer so erlauchten
Person eine solche Ehre erwiesen worden. Allein ich kann die fe-
ste Versicherung geben, daß sich die Sache so verhält, und wären
meine Neider und Verleumder imstande, sich eine Vorstellung
von dem edlen und wohlwollenden Wesen der Hauyhnhnms zu
machen, so würden sie begreifen, daß mein erhabener Herr zu
einer solchen Gunstbezeugung, einem armen Geschöpfe wie mir
gegenüber, wohl fähig war.
Ich begrüßte nun noch einmal durch höfliches Schwenken
des Hutes seine Gnaden und die ihm befreundeten Hauyhnhnms,
bestieg mein Boot und stieß es mit kräftigem Ruderstoß in die
See.
Achtes Kapitel
Kühne und gefährliche Reise des Verfassers. Er gelangt nach Neuhol-
land und wird von einem Wilden durch einen Pfeilschuß verwundet.
Er wird gefangen genommen und mit Gewalt auf ein europäisches
Schiff geführt. Große Menschenfreundlichkeit des Kapitäns. Der
Verfasser kommt nach England zurück und verkehrt am liebsten
mit seinen Pferden.

Ich trat diese unerhört kühne und gefahrdrohende Reise in mei-


nem schwachen Boot am 15. Februar 1715 um neun Uhr mor-
gens an. Anfangs machte ich nur von meinen Rudern Gebrauch;
da ich jedoch bedachte, daß ich bald ermüden würde, und der
Wind günstig war, so setzte ich mein ledernes Segel auf und kam
damit und durch Hilfe der Flut ziemlich schnell vorwärts. Mein
Herr und seine Freunde blieben am Ufer, so lange ich in Sicht
war.
Sehr fühlbar wurde mir bei meiner Fahrt der Übelstand, daß
ich keinen Kompaß besaß und nicht wußte, in welcher Weltge-
gend ich mich befand. Ich sehnte mich freilich durchaus nicht
danach, von Menschen bewohnte Länder zu entdecken, viel-
mehr war mir der Gedanke furchtbar, in Gesellschaft und unter
die Regierung von Yähus zu geraten, und mein sehnsüchtigster
Wunsch war einzig auf die Entdeckung einer Insel gerichtet, wo
ich fern von den mir verhaßten Menschen ungestört leben könn-
te. Das von dem Lande der Hauyhnhnms aus gesehene Eiland
konnte ich wegen widrigen Windes unmöglich erreichen. Hätte
ich nun bei meinem wirklich sehr ausgebreiteten geographischen
Wissen nur ungefähr gewußt, in welcher Weltgegend ich mich
befände, so hätte ich meinem Fahrzeug wahrscheinlich eine
Richtung geben können, die mich einer der vielen unbewohnten
kleinen Inseln der Südsee zuführte, allein ich mußte die Sache
nun einmal nehmen wie sie war und steuerte auf gut Glück ins
Blaue hinein, doch vermute ich, daß ich nach Osten hielt. Das
Glück hatte mich begünstigt, denn schon abends gegen sechs
Uhr, nachdem ich wohl achtzehn Seemeilen unter immer gleich-
streichendem, günstigem Winde gefahren war, entdeckte ich ein
kleines Eiland, das ich auch bald erreichte. Die Insel bestand nur
aus einem Felsen, mit einem durch die Gewalt der Stürme na-
türlich gebildeten Damm. Hier legte ich mein Boot an, bestieg
den Felsen, um mich umzuschauen, und erblickte in nicht allzu-
weiter Ferne eine ziemlich ausgedehnte Küste. Froh, wenigstens
erst einmal ein bestimmtes, sicher zu erreichendes Ziel vor Au-
gen zu haben, stieg ich getröstet in mein Boot und schlief darin
sanft und erquickend bis an den lichten Morgen. Sodann setzte
ich, nachdem ich ein reichliches Frühstück eingenommen, meine
Reise fort und erreichte nach sechs Stunden das von mir gestern
erblickte Land. Wie ich später erfuhr, befand ich mich jetzt an
der südöstlichen Spitze von Neuholland.
Nachdem ich in einer kleinen Bucht ans Land gestiegen war,
wagte ich unbewaffnet nicht weiter zu gehen, sondern sah mich
vorsichtig von einer Höhe der Küste nach allen Seiten um; zu
meiner Befriedigung erblickte ich kein menschliches Wesen, so
weit mein Auge reichen konnte. Drei Tage lebte ich nun an dieser
Küste und nährte mich von dem Rest meiner Vorräte und von
Austern, die ich ziemlich zahlreich am Ufer fand, wozu mir ein
klarer Quell, der, aus einem Felsen entspringend, seine Flut fast
unmittelbar ins Meer ergoß, einen willkommenen und erquik-
kenden Trunk bot.
Als ich mich am vierten Tage in dem Glauben, es gebe wohl
gar keine Menschen in diesem glücklichen Lande, etwas weiter in
das Innere wagte, erblickte ich zu meinem Abscheu und Schrek-
ken auf einer Anhöhe in meiner Nähe etwa zwanzig schwarze
Eingeborene, die um ein Feuer saßen und wahrscheinlich einen
ihrer Kameraden verzehrten. Die Scheusale sehen und wieder
spornstreichs zum Ufer laufen, war eins. Rasch warf ich mich in
mein Boot und stieß vom Lande, allein die Wilden hatten mich
erblickt, verfolgt und ehe ich mir’s versah, hatte mich einer, da
ich noch nicht weit in See war, durch einen Pfeilschuß heftig
am Knie verwundet. Ich fürchtete, der Pfeil könne vergiftet sein

und sog daher die Wunde, nachdem ich aus der Schußweite der
Wilden war, sorgfältig aus, indes erwies sich meine Befürchtung
glücklicherweise als unbegründet und ich konnte, nachdem ich
die Wunde verbunden, meine Fahrt bei guten Kräften und ohne
großen Blutverlust fortsetzen.
Einen anderen, sichereren Landungsplatz aufsuchend, ent-
fernte ich mich nun möglichst rasch von dem Ufer, an dem ich
die Wilden gesehen, und bemerkte plötzlich, kaum eine englische
Meile entfernt, zu meinem größten Verdruß ein Segel. Ich wollte
von dem verhaßten Yähugeschlecht, das in diesem, seiner gan-
zen Bauart nach, europäischen Schiffe hauste, nicht gesehen sein
und nichts mit ihm zu tun haben, deshalb wandte ich rasch mein
Boot und fuhr wieder meinem früheren Landungsplatz zu, indem
ich es vorzog, doch lieber bei den eingeborenen Barbaren, als bei
den europäischen Yähus zu wohnen. Am Lande angekommen,
versteckte ich mich hinter dem Felsen, aus dem der Quell ent-
sprang, der mich diese Tage hindurch gelabt hatte.
Zu meinem Verdruß bemerkte ich, daß ein von dem sich nä-
hernden Schiffe ausgesandtes Langboot, das wahrscheinlich
Trinkwasser einnehmen sollte, gerade auf meinen Landungsplatz
zuhielt, so daß ich keine Zeit fand, mein Versteck zu wechseln.
Die Matrosen entdeckten mein Boot, schlossen, daß der Besitzer
in der Nähe sein müsse und durchsuchten jeden Busch und jede
Felsenritze. Endlich fanden sie mich, als ich, um sie nicht weiter
anzusehen, mich mit dem Gesicht flach auf den Boden geworfen
hatte; sie griffen mich mit Gewalt empor und betrachteten stau-
nend meine seltsamen Kleider und Schuhe. Ein Matrose richtete
in portugiesischer Sprache die Frage an mich, wer ich sei, und
da ich Portugiesisch verstand, so erwiderte ich: ich sei ein armer,
von den Hauyhnhnms verbannter Yähu und bitte nur, daß man
mich abreisen lasse.
Die Leute wunderten sich, daß ich ihre Sprache redete, wuß-
ten sich aber nicht zu erklären, was ich mit den Hauyhnhnms
und den Yähus sagen wollte, und brachen endlich in ein helles
Gelächter aus, als ich, um ihnen das, was ich meinte, näher zu
erklären, wie ein Pferd zu wiehern und wie ein Yähu zu grun-
zen anfing. Furcht, Haß und Verachtung ließen mich erzittern
und erbeben, und ich bat aufs neue, daß sie sich ihres unange-
nehmen Geruches wegen rasch aus meiner Nähe entfernen und
mich ruhig abreisen lassen möchten. Da packten mich einige der
Matrosen ärgerlich an der Brust und verlangten, ich solle nun
ernstlich und ohne Kinderpossen sagen, aus welchem Lande ich
gekommen sei. Ich erwiderte: Ich sei ein Engländer und habe
mein Vaterland vor vier Jahren verlassen, damals habe Frieden
zwischen England und Portugal bestanden und ich hoffe daher,
daß sie mich nicht als Feind behandeln würden. Ich hätte nicht
die Absicht, ihnen irgend einen Schaden zuzufügen, sondern sei
nur ein armer Yähu, der irgend ein unbewohntes Land aufsuche,
um seine noch übrigen Lebenstage in Ruhe hinzubringen. Die
Matrosen berieten nun miteinander und kamen überein, daß
einige wieder zum Schiff zurückfahren sollten, um meinetwe-
gen Verhaltungsbefehle vom Kapitän einzuholen. Dies geschah,
und inzwischen suchten mich die zurückbleibenden Matrosen
von neuem auszuforschen, denn sie waren sehr begierig, meine
Geschichte und Schicksale zu erfahren. Übrigens betrugen sie
sich ganz menschenfreundlich gegen mich und sagten, ihr Kapi-
tän werde mich gewiß unentgeltlich mit nach Lissabon nehmen,
von wo aus ich leicht Gelegenheit hätte, in mein Vaterland zu-
rückzukehren. Ich flehte auf den Knien um meine Freiheit und
gab wiederholt die Versicherung, daß mir gar nichts daran liege,
nach Lissabon und nach England zu kommen, allein alles war
vergeblich, und als etwa nach einer Stunde die zum Kapitän ab-
geschickten Matrosen wieder zurückkamen, banden sie mich
mit Stricken und hoben mich ins Boot, von wo ich in das Schiff
und dann in die Kajüte des Kapitäns gebracht wurde.
Der Kapitän, namens Pedro de Mendez, war unverkennbar
ein wohlwollender und artiger Mann, allein all sein Entgegen-
kommen konnte meine verdrießliche Laune nicht verscheuchen,
und sein und seiner Leute Geruch war mir so widerwärtig, daß
ich fast einer Ohnmacht nahe war. Als mich hungerte, bat ich,
man möge mir etwas aus meinem Boot zu essen geben, aber
der Kapitän ließ mir ein gebratenes Huhn und eine gute Fla-
sche Wein vorsetzen und überwies mir dann ein reinliches Bett
zur Nachtruhe. Ich legte mich nieder, aber es kam kein Schlaf
in meine Augen, so unglücklich fühlte ich mich in Gesellschaft
dieser Yähus. Ich erhob mich halb in Verzweiflung, als ich alles
im Schlafe glaubte, schlich auf Deck und hatte die Absicht, über
Bord zu springen und nach meinem Boot zurückzuschwimmen,
allein ein wachhabender Matrose entdeckte mich und verhinder-
te mein Vorhaben.
Am folgenden Tag kam der Kapitän, dem mein verzweifelter
Entschluß berichtet worden war, zu mir und redete mir gütig zu,
ich möge ihm doch den Grund sagen, weshalb ich lieber über
Bord springen, als hier auf dem Schiff bleiben wolle, ich könne
versichert sein, daß er alles tun würde, um meine billigen Wün-
sche zu befriedigen. Don Pedro benahm sich in der Tat so lie-
benswürdig, daß ich wirklich einiges Zutrauen zu fassen anfing
und geneigt war, ihn als ein Tier zu betrachten, das wenigstens
einige Vernunft besitze. Darum fand ich mich bewogen, ihm in
kurzen Worten mitzuteilen, daß ich früher auch Schiffskapitän
gewesen, und von meinen meuterischen Leuten in einem unbe-
kannten Lande hilflos ausgesetzt worden sei. Diese Mitteilung
hatte der Kapitän gläubig angehört, als ich aber nun anfing, ihm
über meinen Aufenthalt und über meine merkwürdigen Erleb-
nisse in dem Lande der Hauyhnhnms zu erzählen, schüttelte er
den Kopf und schien mich für einen ausgemachten Lügner oder
für einen Verrückten zu halten. Sowie ich aber vermutete, daß
er glaube, ich könne eine Unwahrheit gesagt haben, wurde ich
aufs höchste entrüstet, denn abgesehen von meiner beständigen
strengen Wahrheitsliebe, die ja dem geneigten Leser hinlänglich
bekannt ist, war mir im Lande der tugendhaften Hauyhnhnms
das Lügen so verhaßt geworden, daß mir nichts beleidigender
sein konnte, als wenn mir jemand zutraute, daß ich eine Un-
wahrheit zu sagen vermöchte. Ich fragte deshalb den Kapitän
sehr ärgerlich, ob es vielleicht in seinem Lande üblich sei, daß
man etwas sage, was nicht wahr sei, und gab ihm die Versiche-
rung, im Lande der Hauyhnhnms würde er von dem geringsten
dienenden Klepper keine Unwahrheit hören und wenn er tau-
send Jahre darin lebe.
Der Kapitän, ein unverkennbar verständiger Mann, der mich
eher für einen Verrückten, als für einen Lügner halten mochte,
suchte mich zu beruhigen und meinte, auf meine Grundsätze
eingehend, wenn ich ein so warmer Freund der Wahrheit sei, wie
ich versichere, was er nur höchst lobenswert finden könne, so
möge ich ihm auf mein Ehrenwort die Versicherung geben, daß
ich ihm auf dieser Reise Gesellschaft leisten wolle, ohne je wie-
der den Versuch zu machen, durch Überbordspringen mir das
Leben zu nehmen. Ich gab ihm mein Ehrenwort und habe es na-
türlich auch redlich gehalten.
Unsere Reise verlief ohne bemerkenswerte Vorfälle und unter
den beständigen Versuchen des Kapitäns, mich an sich und seine
Mannschaft besser zu gewöhnen. Es wollte das aber durchaus
nicht gelingen, und ich konnte mich nicht einmal überwinden,
die mir von ihm gebotenen Kleidungsstücke mit meinem Eskimo-
anzug zu vertauschen, denn ich mochte nichts, nichts auf mei-
nem Leibe tragen, was ein Yähu auf dem seinigen getragen hatte;
doch ließ ich mich endlich willig finden, ein paar reine Hemden
vom Kapitän anzunehmen, die frisch gewaschen, von der Son-
ne tüchtig durchgebleicht und von allem Yähudunst gereinigt
waren.
Am 5. November 1715 landeten wir in Lissabon. Der Kapitän
hing mir, was ich in der Not gestattete, seinen Mantel um, damit
mir wegen meiner auffallenden Kleidung der neugierige Pöbel
nicht lästig falle. Gastfreundlich führte mich Don Pedro in sein
eigenes Haus und wies mir auf meine Bitte ein Zimmer im oberen
Stock auf der Hinterseite des Gebäudes an, wo ich hoffen konn-
te, ziemlich ungestört von den mir verhaßten Yähus zu wohnen.
Ich beschwor den Kapitän, niemandem Mitteilungen über das
zu machen, was ich ihm von den tugendhaften, aber gänzlich
ungläubigen und ketzerischen Hauyhnhnms erzählt habe, weil
ich sonst, wenn es sich herumspräche, daß ich mit solchen Philo-
sophen verkehrt hätte, Gefahr liefe, von der Inquisition verhaftet
und verbrannt zu werden.

Der Kapitän versprach dies und überredete mich wiederum,


meine Kleider zu wechseln, da ich in meinem Fellkleide gar zu
abscheulich aussehe. Ich willigte endlich ein, und er gab mir aus
seiner Garderobe passende Kleider, die er lange nicht auf dem
Leibe gehabt, und die seit dem Antritt seiner letzten langen See-
reise im Schrank gehangen hatten; gleichwohl lüftete ich sie erst
vierundzwanzig Stunden, bevor ich sie anzog.
Glücklicherweise hatte der Kapitän keine Frau, die mich durch
ihre Gegenwart belästigt hätte, und ich sah überhaupt keinen
Yähu, weil der Kapitän seinen Bedienten befohlen hatte, sich vor
mir niemals sehen zu lassen. Da ich nun, um nicht zufällig auf
Menschen zu blicken, mich immer hinter verschlossenen Fen-
stern im Zimmer hielt, so meinte der Kapitän, diese Lebensweise
sei meiner Gesundheit schädlich, ich möge doch das Fenster öff-
nen, und, um frische Luft zu schöpfen, ab und zu hinaussehen,
auf dem Hofe befänden sich ja keine mich anwidernden Men-
schen. Ich sah nun zuweilen aus diesem Fenster, und war be-
friedigt, keinen Menschen zu erblicken; als ich aber einer bau-
lichen Veränderung wegen in ein Zimmer nach der Vorderseite
gebracht wurde und meiner Gewohnheit nach aus dem Fenster
und auf die Straße sah, fuhr ich aufs höchste erschrocken wieder
zurück.
Nach einer Woche fühlte ich, daß sich mein Schauder vor der
Menschheit etwas gelegt hatte, während Haß und Verachtung
gegen sie rege in mir blieb. Auf die Vorstellung des Kapitäns, daß

ich mich doch nach und nach wieder an den Anblick von Men-
schen gewöhnen müsse, da ich in mein Vaterland zurückkehren
wolle, ließ ich mich etwa zehn Tage nach unserer Landung über-
reden, mit ihm einen Spaziergang durch die menschenbelebten
Straßen zu machen. Ich mochte ihm das seiner Güte und Gast-
freundschaft wegen nicht abschlagen, hielt mir aber wohlweis-
lich auf diesem Spaziergang die Nase zu und nahm häufig eine
derbe Prise Tabak.
Folgenden Tages kam Don Pedro zu mir und machte mich auf
die Pflichten aufmerksam, die ich als Familienvater habe; es wür-
de doch unverantwortlich sein, wenn ich nicht so bald als mög-
lich Frau und Kinder durch meine Rückkehr erfreue, wozu sich
gerade eine gute Gelegenheit biete, indem ein englisches Schiff
im Hafen liege, das sich dieser Tage segelfertig nach der Heimat
mache; er wolle mich gern mit Geld und allem Nötigen versehen.

Ich wollte mich zuerst gar nicht zu der Reise entschließen und
beharrte auf meinen Wunsch, eine von Menschen unbewohnte
Insel als Wohnort zu wählen, doch da mir der Kapitän einredete,
daß ich eine solche schwerlich finden würde, und mir nochmals
sehr warm meine Pflichten als Familienvater ans Herz legte, gab
ich endlich nach.
Am 24. November geleitete mich Don Pedro an Board des
englischen Kauffahrers, lieh mir zwanzig Pfund und umarmte
mich zärtlich zum Abschied, was ich mit Geduld und Überwin-
dung ertrug. Auf der ganzen Reise kümmerte ich mich weder
um den Kapitän noch um die Mannschaft des englischen Schif-
fes, sondern hielt mich, unter dem Vorgeben, kränklich zu sein,
zurückgezogen in meiner Kajüte. Am 5. Dezember 1715 war-
fen wir gegen neun Uhr morgens in den Dünen Anker, und um
drei Uhr nachmittags betrat ich wohlbehalten mein Haus in
Redriff.
Meine Frau und meine Kinder, die mich längst für tot gehal-
ten hatten, empfingen mich mit lautem Freudengeschrei, und
meine Frau schloß mich in ihre Arme und gab mir einen Kuß,
welche nahe und innige Berührung mir indes, bei meinem Wi-
derwillen gegen alles, was zum Geschlecht der Yähus gehörte,
eine Ohnmacht zuzog, aus der ich erst nach einer Stunde wieder
erwachte.
Anfangs konnte ich die Gegenwart meiner Frau und meiner
Kinder gar nicht ertragen, was mir oft wirklich herzlich leid tat,
allein ich konnte mir nicht helfen, ihr Geruch war mir unaus-
stehlich, und der Gedanke, daß sie zum Yähugeschlecht gehör-
ten, machte sie mir abscheulich. Jetzt, da ich dies niederschreibe,
sind bereits fünf Jahre nach meiner Rückkehr verflossen, und
mein Widerwille gegen die Menschen hat sich etwas gemildert,
doch weiche ich ihnen noch immer gern aus und verkehrte mit
niemandem lieber, als mit meinen Pferden. Für die erste bedeu-
tendere Geldsumme nämlich, die ich nach meiner Rückkehr zu-
sammenbringen konnte, kaufte ich mir ein paar Hengste edel-
ster Rasse und ließ sie in einen Stall führen, den ich vorher mit
allen Bequemlichkeiten, wie er solcher edlen Geschöpfe würdig
ist, hatte ausstatten lassen. Sie sind nebst dem Stallknecht, dem
der liebliche und der Gesundheit förderliche Stalldunst seinen
widerlichen Yähugeruch benimmt, meine besten Freunde, und
ich unterhalte mich mit ihnen, da sie sich bei ihrer natürlichen
Anlage und ihrer Klugheit sehr bald in der Sprache der edelsten
ihres Geschlechts zurechtfanden, täglich stundenlang über die
Torheiten und Laster der Yähus und über die Weisheit und die
Tugenden der Hauyhnhnms.

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