Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
in unbekannte Länder
von
Jonathan Swift
MIT
HOLZSCHNITTEN VON
GRANDVILLE
n
ngiyaw eBooks
Nach der Buchausgabe »Gullivers Reisen in unbekannte Länder«,
Union Deutsche Verlagsgesellschaft, 4. Auflage, 922
Textbearbeitung von Dr. Karl Seifart, 870
Textnachbearbeitung von Manfred Kyber, 922
Illustrationen und Vignetten von Grandville, 838
ngiyaw eBooks unterliegen dem Copyright, außer für die Teile, die public
domain sind.
Dieses ebook (pdf) darf für kommerzielle oder teil-kommerzielle Zwecke
weder neu veröffentlicht, kopiert, gespeichert, angepriesen, übermittelt,
gedruckt, öffentlich zur Schau gestellt, verteilt, noch irgendwie anders
verwendet werden ohne unsere ausdrückliche, vorherige schriftliche
Genehmigung. Eine gänzlich nicht-kommerzielle Verwendung ist jedoch
gestattet, solange das ebook (pdf) unverändert bleibt.
ngiyaw eBooks werden Ihnen as-is ohne irgendwelche Garantien und
Gewährleistungen angeboten.
n
© 2008 Peter M. Sporer für ngiyaw eBooks.
Földvári u. 18, H – 5093 Vezseny (ebooks@ngiyaw-ebooks.com).
Jonathan Swift
Gullivers Reisen
in unbekannte Länder
n
ngiyaw eBooks
Erster Teil
nachher hörte, durch den Fall, als sie von meiner Seite herab-
sprangen. Bald aber kamen die Kleinen wieder, und einer von
ihnen wagte sich so weit, daß er mir ins Gesicht blicken konnte,
schlug dann voll Verwunderung seine kleinen, den Pfoten eines
Maulwurfs ähnlichen Händchen zusammen und rief mit feiner,
aber deutlicher und klarer Stimme: Hekina Degul! Ermutigt nä-
herten sich nun auch die übrigen Menschlein wieder, und aus
dem Stimmengewirr, das unter ihnen laut wurde, konnte ich
deutlich vernehmen, daß sie das Wort: Hekina Degul, dessen Sinn
ich damals nicht verstand, wiederholten.
Wie leicht zu erachten, befand ich mich in keiner bequemen
Lage und suchte daher die Bindfäden zu zerreißen, mit denen
man meine Glieder an eingerammte Stecken befestigt hatte. Es
gelang mir auch, meinen rechten Arm zu befreien, und durch
einen heftigen Ruck, der mir viel Schmerz verursachte, befreite
ich mich auch von den Banden, die mein Haar auf der rechten
Seite des Kopfes fesselten, so daß ich meinen Kopf etwa zwei
Zoll hoch erheben konnte. Mit der freigewordenen rechten Hand
suchte ich nun eines der Männlein zu erhaschen, aber es wich ge-
schickt aus und lief Hals über Kopf mit den übrigen davon. Eine
Zeitlang blieb’s rings um mich her ruhig, dann aber hörte ich
deutlich, wie einer im Kommandotone rief: Tolgo Phonac! Und
in demselben Augenblick fühlte ich ein so heftiges Beißen und
Prickeln auf meiner linken Hand, als ob ich sie in einen Ameisen-
haufen gesteckt hätte. Es war eine Salve von den kleinen Leuten
abgeschossener Pfeile, die mir diesen Schmerz verursachten; die
Spitzen dieser Pfeilchen wirkten wie Nadelstiche, drangen aber
nicht völlig durch die Haut. Gleich darauf traf mich ein anderer
Pfeilhagel, der aber, nach Art wie man die Bomben wirft, im
Bogen geschossen und darauf berechnet war, mein Gesicht zu
verwunden. Da die prickelnden Dinger mir doch höchst unan-
genehm waren, so ward ich unwillig und zornig und versuchte
mit drohender Gebärde, wiederum mich mit Gewalt aus meinen
Umstrickungen loszureißen. Meinen Bewegungen folgte aber
sogleich wieder eine noch stärkere Salve von Pfeilen, und einige
der verwegensten der kleinen Knirpse traten an mich heran und
versuchten, mir ihre acht Zoll langen Lanzen in die Seite zu boh-
ren, was ihnen aber nicht gelang, da das Wams von Büffelleder,
das ich trug, viel zu stark für ihre schwachen Klingen und Kräfte
war. Unsereins würde leichter eine Rhinozeroshaut mit einem
Dolchstich durchbohren, als diese Krieger mein Büffelwams mit
ihren Zahnstochern. Gleichwohl hielt ich es, des unangenehmen,
prickelnden Pfeilregens wegen, für geraten, mich ruhig zu ver-
halten und die Nacht zu meiner Befreiung abzuwarten, indem
ich mir sagte, daß ich, einmal frei, sämtliche Heere der kleinen
Leutchen nicht zu fürchten haben würde.
Als indes das Völkchen sah, daß ich mich ruhig und friedlich
verhielt, belästigte es mich nicht weiter mit Pfeilschüssen, doch
konnte ich aus dem zunehmenden Summen und Lärmen schlie-
ßen, daß meine kleinen Feinde fort und fort durch Hilfstruppen
und anderes herzulaufende Volk verstärkt wurden. Auch hörte
ich in der Nähe meines rechten Ohrs wohl eine Stunde hindurch
ein Klappern wie von kleinen Hämmern und ein leises Knirschen
von Sägen, wie sie zum Diebsgebrauch etwa aus Uhrfedern ver-
fertigt werden. Das Geräusch mochte etwa acht Fuß weit von
meinem Ohre laut werden. Ich drehte meinen Kopf, so gut es ge-
hen wollte, nach dem Geräusch um und sah, daß man an einem
etwa anderthalb Fuß hohen Gerüste arbeitete, das mit Leitern
zum Hinaufsteigen versehen war und oben eine umschränkte
Fläche bot, auf der wohl vier oder fünf der kleinen Männlein
Platz nehmen konnten.
Bald sollte es mir klar werden, daß das Gerüst als Redner-
bühne dienen sollte, denn als es fertig war, bestieg ein seiner
Kleidung und seinem würdevollen Benehmen nach vornehmer
Mann in Gesellschaft einiger Begleiter, von denen einer, anschei-
nend ein Page, ihm die Schleppe seines langen, kostbaren Man-
tels trug, die Plattform des Gerüsts und hielt eine lange Rede an
mich, von der ich jedoch begreiflicherweise kein Wort verstand.
Doch darf ich nicht unerwähnt lassen, daß, bevor der vorneh-
me Mann seine Rede begann, er dreimal ausrief: Langro dehul san!
(Worte, die mir später wiederholt und erklärt wurden), worauf
etwa fünfzig der Leutchen diensteifrig dicht an mich heranlie-
fen und die Bindfäden, die noch die linke Seite meines Kopfes
festhielten, rasch durchschnitten, so daß ich nun Gestalt und
Gebärden des Redners bequem beobachten konnte. Der Mann
war von schlanker, schöner Gestalt und ragte wenigstens um
zwei Haare breit über seine Begleiter hervor, von denen zwei
an seiner Seite standen, um ihn zu halten, damit er nicht etwa
im Eifer seiner Rede vom Gerüst falle. Obgleich ich nichts von
den Worten des Redners verstand, so konnte ich doch aus seinen
Gebärden wahrnehmen, daß er sich in Drohungen und Verspre-
chungen, in Teilnahme und in Artigkeiten erging.
Ich antwortete in wenigen Worten und in untertänigster Wei-
se, erhob die linke Hand und die Augen zur Sonne, als wollte
ich sie zum Zeugen meiner friedfertigen Gesinnung anrufen,
führte dann aber, da ich sehr hungrig war, die Hand wiederholt
zum Mund. Der Hurgo (so nannte man den vornehmen Redner,
wie ich nachher erfuhr) verstand meine Bewegung vollkommen
und nickte zustimmend. Darauf stieg er von seiner Bühne her-
ab und gab Befehl, mehrere hohe Feuerleitern an meine Seite zu
stellen. Als dies geschehen war, kletterten etwa hundert Mann
mit Körben voll Fleisch und Brot bepackt an mir herauf und nä-
herten sich meinem Munde. Die Speisen hatte, wie ich später
erfuhr, der Kaiser des Landes, gleich nach der ersten Nachricht
von meiner Ankunft, meine Bedürfnisse in seiner Weisheit vor-
aussehend, hierhergesandt. Ich erkannte in dem Fleische Keulen
und Rippenstücke verschiedener Tiere; sie waren sehr schmack-
haft zubereitet, aber der größte Hammelbraten war nicht grö-
ßer als bei uns in England ein Lerchenschenkel. Zwei oder drei
solcher Braten steckte ich auf einmal mit einer hohlen Handvoll
runder Brötchen, welche die Größe von Flintenkugeln hatten, in
den Mund und aß bei meinem ausgehungerten Magen und unge-
wöhnlichen Appetit so rasch, daß die Leutchen vollauf mit dem
Heranschleppen der Speisen zu tun hatten. Unbeschreiblich war
ihr Erstaunen über meinen Appetit.
Nachdem ich meinen Hunger gestillt, gab ich ein deutlich zu
erkennendes Zeichen, daß ich zu trinken wünschte. Man ver-
stand mich sogleich, hatte sich auch darauf vorgesehen, und
etwa zweihundert Arbeiter zogen mit viel Geschicklichkeit ei-
nes ihrer größten Fässer zu mir hinauf, rollten es auf meine Hand
und schlugen den Boden ein. Durstig, wie ich war, trank ich das
Faß in einem Zuge leer, und das war nicht groß zu verwundern,
da es kaum einen Schoppen hielt. Übrigens war das Getränk sehr
gut und erfrischend und schmeckte fast wie Burgunderwein, nur
war seine duftende Blume noch viel feiner. Unter Lachen und
Jubeln rollte man ein zweites Faß von derselben Größe auf meine
Hand, das ich ebenso rasch leerte wie das erste. Da mein Durst
noch immer nicht völlig gelöscht war, so gab ich durch weitere
Zeichen zu verstehen, daß man mir noch mehr Fässer bringen
möchte, allein auf einen solchen Riesendurst hatte man sich doch
nicht vorgesehen, es war kein Getränk mehr vorhanden und ich
mußte mich wohl oder übel mit dem Genossenen begnügen.
Mein gewaltiges Essen und Trinken ließ die Leutchen nicht
aus einem fortwährenden Geschrei des Staunens und der Ver-
wunderung kommen, sie tanzten, die Hände zusammenschla-
gend, auf meinem Bauche und meiner Brust herum und riefen
wiederholt wie früher: Hekina Degul! Dann bedeuteten sie mich,
die leeren Fässer von mir zu werfen, vergaßen aber vorher nicht,
die Umstehenden zu warnen, vor den herabfallenden Fässern auf
ihrer Hut zu sein. Ich machte ihnen nun den Spaß und ließ die
Fässer hoch durch die Luft sausen, wodurch ich ein abermaliges
Geschrei der Verwunderung hervorrief.
Eine Zeitlang hatte ich nicht übel Lust, dreißig oder vierzig
der kleinen Gesellen, die allzukeck auf mir herumkrabbelten, zu
packen und gegen den Boden zu schmettern, allein der Gedan-
ke, daß sie mir bei ihrer großen Zahl und anerkennenswerten
Tapferkeit doch unangenehme Plagen und Schaden zufügen
könnten, hielt mich davon zurück, auch sagte ich mir, daß es
ja meinerseits der schwärzeste Undank für die genossene Gast-
freundschaft sein würde, wenn ich so grausam und unbarmher-
zig zwischen die guten Leutchen griffe. Ich verhielt mich also
nach wie vor ruhig und friedlich.
Als meine kleinen Gastfreunde bemerkten, daß ich nicht mehr
zu essen wünschte, machten sie einem hohen Staatsbeamten
Platz, den Seine Majestät der Kaiser hergeschickt hatte. Die mit
Orden geschmückte Exzellenz stieg auf einer Leiter, wie man sie
bei uns wohl den Laubfröschen ins Glas stellt, zu meinem Knie
hinauf und marschierte, von zwölf Trabanten gefolgt, gravitä-
tisch meinem Gesichte zu. Hier angekommen, hielt er mir ein
besiegeltes Beglaubigungsschreiben seines Souveräns vor die Au-
gen und richtete dann eine lange Rede an mich, aus der ich, sei-
nen Mienen und Gebärden aufmerksam folgend, vernahm, daß
er zwar nicht im Zorn, aber doch mit Ernst und Entschlossenheit
sprach; wiederholt wies der Herr Geheimrat oder Minister nach
einer bestimmten Richtung hin, wo, wie ich bald bemerkte, in
der Entfernung einer guten Wegstunde die Haupt- und Residenz-
stadt des Landes lag. Es ward mir klar, daß man mich dorthin
abführen wollte, und ich gab mit de- und wehmütigen Gebärden
zu verstehen, daß man mich meiner Fesseln entledigen möch-
te. Die Exzellenz verstand meinen Wunsch, nahm ihn aber mit
unwilligem Kopfschütteln auf und machte mir deutlich, daß ich
als Gefangener abgeführt werden müsse; übrigens gab sie mir zu
verstehen, daß ich an Speise und Trank keinen Mangel leiden und
gut behandelt werden würde. Ärgerlich suchte ich jedoch noch
einmal meine Fesseln zu brechen, empfand aber sogleich wieder
einen prickelnden Pfeilregen auf den Händen und im Gesicht. Da
hielt ich es denn für das Klügste, mich den Wünschen des klei-
nen Volks zu fügen und gab Zeichen, daß sie ganz nach ihrem
Belieben mit mir verfahren möchten. Dies nahm der vornehme
Mann mit seinem Gefolge sehr gut auf und entfernte sich mit
vergnügtem Gesicht und befriedigter Amtsmiene.
Bald darauf fühlte ich, daß, wahrscheinlich auf hinterlasse-
nen Befehl des hohen Herrn, eine Menge der Leutchen die Strik-
ke an meiner linken Seite in der Art lösten, daß ich mich auf die
rechte umdrehen konnte, und diese Veränderung meiner Lage
war mir sehr wohltuend. Die veränderte Lage und das genossene
Getränk machten mich zum Schlaf geneigt. Ich schlief sanft ein
und, wie man mir nachher sagte, schlief ich acht Stunden hinter-
einander, was nicht zu verwundern war, da die Ärzte auf Befehl
des Kaisers einen Schlaftrunk in den von mir genossenen Wein
gemischt hatten.
Wie es scheint, hatte man gleich nach meiner Entdeckung Eil-
boten an den Kaiser geschickt, um hinsichtlich meiner Befehle
einzuholen, und diese waren dann nach erfolgtem Ministerrat
dahin gegangen, daß ich in der beschriebenen Weise gefesselt,
gespeist, getränkt und eingeschläfert werden sollte, um dann auf
einer Transportmaschine nach der Residenz zur allerhöchsten
Besichtigung geführt zu werden.
Dieser Entschluß könnte vielleicht allzu kühn und gefährlich
erscheinen, und ein europäischer Fürst würde bei ähnlicher Ge-
legenheit schwerlich eine solche Maßregel ergreifen. Allein bei
reiflicher Überlegung fand ich, daß die Verfügung des Kaisers
ebenso weise wie edelmütig war; denn welches Unglück hätte
daraus entstehen können, wenn man etwa versucht hätte, mich
während meines Schlafes zu ermorden! Die Mordversuche wür-
den mir Schmerz verursacht und mich geweckt haben, und dann
hätte ich im Aufwallen des Zornes und der Wut leicht ein fürch-
terliches Blutbad unter den Untertanen Seiner Majestät anrich-
ten können.
Wie ich später oft in Erfahrung zu bringen Gelegenheit hatte,
besitzt das kleine Völkchen eine außerordentliche Geschicklich-
keit in mechanischen Arbeiten; der Kaiser beschützt und fördert
sowohl diese als andere nützliche Tätigkeiten und Wissenschaf-
ten, und daher kommt es, daß ihm auch eine Menge sehr sinn-
reich konstruierter Maschinen zur Beförderung großer Lasten zu
Gebote stehen. Er läßt auf solchen durch Räder bewegten Ma-
schinen oft sogar seine größten Kriegschiffe, die gegen sechs Fuß
lang sind, von der Stelle ihres Bauplatzes auf eine Entfernung
von vierhundert Ellen zur See und bis an die Stelle fahren, wo
sie flottgemacht werden können. Die größte Maschine dieser
Art war nun zu meiner Beförderung bestimmt, und der König
befahl fünfhundert Zimmerleuten und Ingenieuren, sich rasch
ans Werk zu machen und die Maschine in den nötigen Stand zu
setzen. Sie bestand aus einem von derbem Holz gefügten und
drei Zoll über dem Boden erhabenen Bau, sieben Fuß lang, vier
Fuß breit und mit zweiundzwanzig Rädern versehen. Als diese
Maschine, die, wie es schien, bereits einige Stunden nach mei-
ner Entdeckung schon in Bewegung gesetzt war, ankam, erscholl
ein vieltausendstimmiges Freudengeschrei, denn das kleine Volk
fühlte sein Selbstgefühl gehoben durch die Weisheit seines Mon-
archen und die Geschicklichkeit seiner Gelehrten und Künstler.
Man stellte nun zunächst die Maschine meiner Lage parallel,
aber nun war die große Schwierigkeit zu überwinden, mich hin-
aufzuheben. Achtzig Stöcke von der Länge eines Fußes wurden
eingerammt, und die stärksten ihrer Seile, von der Dicke eines
Bindfadens, wurden mit Haken an eine gleiche Zahl von Ban-
den geheftet, welche die Arbeiter mir um Hände, Hals, Leib und
Arme wanden. An den eingerammten Pfählen nun hingen die-
se Seile auf Rollen, und neunhundert der stärksten Männer be-
gannen, sie aufzuwinden. Auf diese Weise wurde ich etwa drei
Stunden lang emporgehoben, endlich in die Maschine geworfen
und dort festgeschnürt. Man hat mir das alles nachher, nachdem
ich die Landessprache erlernt hatte, erzählt, denn während des
ganzen Vorgangs lag ich noch infolge des genossenen Weines in
tiefem Schlafe, nur das überlaute Freudengeschrei bei Ankunft
der Maschine hatte mich, jedoch nur auf wenige Augenblicke,
geweckt. Fünfzehnhundert der stärksten Pferde, die der Kaiser
besaß und die nach den Begriffen des Landes die ansehnliche
Länge von acht Zoll und eine Höhe von vier und einem halben
Zoll hatten, wurden vorgespannt; die mutigen Tiere zogen kräf-
tig an und die Reise ging ohne allen Unfall von statten.
Nur, als wir etwa vier Stunden unterwegs gewesen waren,
wäre beinahe durch die Neugier eines vorwitzigen Gardeoffiziers
ein Unglück herbeigeführt worden. Der Leutnant nämlich war,
um mein Gesicht in der Nähe zu betrachten, mit einigen ebenso
vorwitzigen Kameraden zu meinem Kopf heraufgeklettert, um
möglichst genau meine Züge zu sehen. Da hatte er es denn nicht
lassen können, mich mit der Spitze seines Degens im Nasenloch
zu kitzeln, so daß ich mehrmals laut niesen mußte und erwachte.
Durch mein Niesen und Blasen aber war der Gardeleutnant nebst
seinen Kameraden über und über gepurzelt, und alle würden sich
schwer durch einen Sturz beschädigt haben, wenn sie sich nicht
glücklicherweise in den Falten meines Wamses gefangen hätten.
Wir erreichten an demselben Tage die Stadt noch nicht, son-
dern mußten auf freiem Felde übernachten. Es wurde also halt
gemacht und fünfhundert mit Bogen und Spießen bewaffne-
te Leibgardisten wurden kommandiert, mich bei dem Schein
angezündeter Fackeln zu bewachen; sie hatten den Befehl, sofort
auf mich zu schießen, wenn ich mich rühren sollte. Bei Sonnen-
aufgang setzten wir am nächsten Morgen unsere Reise fort und
waren gegen Mittag nur noch etwa zweihundert Ellen von den
Stadttoren der Residenz entfernt. Der Kaiser kam uns mit seinem
ganzen Hofe entgegen; die ihn begleitenden Generale wollten
aber durchaus nicht dulden, daß Seine Majestät durch das Bestei-
gen meines Körpers sein kostbares Leben in Gefahr brächte.
Der Wagen fuhr bei einem uralten Tempel vor, der nicht mehr
zum Gottesdienst benutzt wurde und, wie man sagte, das größ-
te Gebäude im ganzen Lande sei. Dieser ehrwürdige Bau nun
wurde mir zur Wohnung angewiesen. Das große, gegen Norden
gelegene Tor hatte die ansehnliche Höhe von vier Fuß und war
beinahe zwei Fuß breit, so daß ich bequem hindurchkriechen
konnte. Auf jeder Seite des Tores befand sich ein kleines Fenster;
an den eisernen Fensterkreuzen des links gelegenen befestigte
nun der Hofschmied an starken eisernen Ringen einundneunzig
Ketten, von der Dicke unserer goldenen Damenuhrketten, und
schloß sie mit wohlverwahrten Schlössern an meinem linken
Fuß. Nachdem dies geschehen war, bestieg der Kaiser mit seinem
Gefolge einen etwa fünf Fuß hohen, in unmittelbarer Nähe des
Tempels stehenden Turm, um eine gute Übersicht über meinen
ganzen Körper zu haben. Unzählbar war das Volk, das zu dem-
selben Zweck aus der Stadt zusammengelaufen war und mich
mit staunender Bewunderung betrachtete. Viele wagten, auf Lei-
tern zu mir heraufkletternd, ihr Leben, so daß sich Seine Ma-
jestät veranlaßt sah, bei Todesstrafe diese allzuweit getriebene
Neugier zu verbieten.
Als man sich überzeugt hatte, daß meine Ketten fest genug
waren, durchschnitt man alle Stricke, womit ich gefesselt war.
Ich stand nun eben nicht in rosenfarbener Laune auf und schritt,
soweit es die Ketten erlaubten, ein paarmal hin und her, um
meine von dem langen Liegen steif gewordenen Glieder wieder
geschmeidig zu machen. Meine Feder ist zu schwach, um das
Staunen und den jubelnden Lärm des Volkes zu schildern, als
es mich nun in meiner ganzen Länge aufgerichtet umhergehen
sah. Die Ketten an meinem linken Fuß gaben mir ungefähr vier
Fuß Spielraum und gestatteten, daß ich in den Tempel kriechen
konnte. Dies tat ich, um mich dem unaufhörlichen Lärm zu ent-
ziehen, und streckte mich der Länge nach in dem geräumigen
Tempel aus.
Zweites Kapitel
Der Verfasser sieht sich die schöne Gegend an und wird vom Kaiser
mit Gefolge besucht. Beschreibung des Kaisers und der Großen seiner
Krone. Gelehrte erhalten Befehl, den Verfasser in der Landessprache
zu unterrichten. Seine Sanftmut und Freundlichkeit gewinnen ihm die
Gunst des Kaisers und des Volkes. Seine Taschen werden untersucht,
Degen und Pistolen werden ihm abgenommen.
er sich auf eine Strecke von sechs Fuß von mir entfernt hielt;
auch vergaß er nicht, sein gewaltiges Schlachtschwert, das fast
die Größe einer Federmesserklinge hatte, immer kampfbereit in
der Hand zu halten, damit er sich, wenn ich den Versuch machen
sollte, mich loszureißen, verteidigen könnte. Seine Kleidung war
zwar reich und geschmackvoll, aber doch von einer edlen Ein-
fachheit. Er trug einen goldenen, mit Juwelen sinnreich verzier-
ten Helm, einen grünseidenen, mit Silber verzierten Rock, der
sich sehr eng anschloß und die Kraft und das Ebenmaß seiner
Glieder vorteilhaft hervorhob. In malerische Falten gelegt, um-
floß ein langer, weiter Purpurmantel die ganze Gestalt.
Die Damen und Herren des Hofes waren noch reicher wie der
die Einfachheit liebende Kaiser und mit ausgesuchter Pracht geklei-
det. Wie sie so auf kostbaren Sesseln dasaßen zu meinen Füßen,
schien es mir, als blickte ich auf einen buntfarbigen persischen
Teppich, der mit Edelsteinen in allen Farben durchwirkt sei.
Seine Majestät war so herablassend, mich zu wiederholten
Malen anzureden, und ich erwiderte stets respektvoll, doch
konnten wir uns begreiflicherweise nicht verstehen. Auch ließ
mir der Kaiser mehrere Theologen und Juristen (ich schloß auf
ihren Stand aus ihren langen Perücken und ihrer Kleidung) vor-
führen, die mich in verschiedenen, mir unverständlichen Spra-
chen anredeten. Ich nahm meine nicht unbedeutenden Sprach-
kenntnisse zusammen und versuchte, mich ihnen im Deutschen,
Holländischen, Lateinischen, Französischen und Spanischen ver-
ständlich zu machen. Allein vergebens, es wurde mir klar, daß
die Sprache dieses Volkes mit den genannten in keinerlei Stamm-
verwandtschaft stehen müsse.
Nach etwa zweistündigem Aufenthalt entfernte sich der Hof,
nachdem der Kaiser befohlen hatte, eine starke Wache bei mir
aufzustellen, die mich gegen die Belästigungen des zudringli-
chen, neugierigen Volkes schützen sollte. Es waren recht mut-
willige, tückische Racker unter diesen Knirpsen, die sich nicht
begnügten, bloß auf mir herumzukrabbeln, sondern auch aus der
Ferne ihre Pfeile auf mich abschossen, wovon mir einer beinahe
das Auge verletzt hätte. Dieses wurde dem Obersten der bei mir
aufgestellten Wache doch zu bunt, und streng und energisch wie
er war, befahl er seinen Soldaten, fünf oder sechs der Mutwil-
ligen zu ergreifen und sie mir zu beliebiger Bestrafung gebun-
den zu überliefern. Das aber gab ein Jammergeschrei! Sechs der
Übeltäter wurden mir überliefert, von denen ich fünfen zunächst
ein wohlverdientes Gefängnis in meiner Rocktasche gab und den
sechsten mir vor den Mund hob, als wollte ich ihn lebendig ver-
speisen. Die arme Kreatur stieß ein furchtbares Angstgeschrei
aus, und der Oberst und seine Offiziere wurden doch um ein
Menschenleben besorgt, als sie sahen, daß ich mein Taschen-
messer hervorzog. Allein mein Herz dachte nicht daran, mit dem
armen Geschöpf grausam zu verfahren, ich beruhigte das Männ-
lein durch freundliche Mienen und durch ein sanftes Gebrumm,
womit Ammen wohl schreiende Kinder beschwichtigen, nahm
mein Messer und schnitt statt seines Halses die Fesseln durch,
womit ihn die Soldaten gebunden hatten. Dann setzte ich das
hochaufatmende und mich dankbar aus seinen kleinen Mäuse-
augen anblickende Menschlein sanft und unversehrt auf den Bo-
den. Die übrigen kleinen Sünder in meiner Rocktasche zog ich
hervor und behandelte sie mit derselben Milde und Sanftmut.
Dies verfehlte nicht, auf den Obersten sowohl wie auf die Solda-
ten und das umstehende Volk einen sehr günstigen Eindruck zu
machen, und die Nachricht von dieser meiner Milde und Men-
schenfreundlichkeit hat mir hinterher die Huld und Gnade Seiner
Majestät des Kaisers im hohen Grade erworben.
Gegen Abend kroch ich, der Ruhe sehr bedürftig, wieder in
meinen Tempel und legte mich zum Schlafen nieder. Das Lager
auf dem Steinpflaster war indes keineswegs angenehm, aber vier-
zehn Tage hindurch mußte ich mich damit begnügen, weil die
Anfertigung des mir auf kaiserlichen Befehl bestellten Betts eine
so lange Zeit in Anspruch nahm. Sechshundert landesübliche
Betten wurden in meinen Tempel getragen und dort zu meinem
Bedarf verarbeitet. Es entstand nun aus den zusammengenähten
Betten zwar eine meiner Körperlänge entsprechende Matratze,
aber das Lager war doch hart, weil die zusammengenähten Bett-
chen nicht dicht und hoch genug waren, um mich die harten, po-
lierten Pflastersteine des Tempels, auf denen das Riesenbett end-
lich ausgebreitet wurde, gar nicht fühlen zu lassen. Indes, es war
doch immerhin etwas und tat mir nach meinem langen Lagern
auf harter, bloßer Erde ganz wohl, auch vergaßen die guten Leut-
chen nicht, mich mit Bettdecken und Kissen reichlich zu verse-
hen, die ebenfalls aus Hunderten von landesüblichen Bettchen
zusammengenäht waren. Ich schlief die erste Nacht auf diesem
Lager ganz herrlich, gewöhnte mich nach und nach an meine
seltsame Lage und war, da man mich an den nötigsten Lebensbe-
dürfnissen durchaus keinen Mangel leiden ließ, so ziemlich mit
meinem Schicksal zufrieden.
Bevor ich in meiner Erzählung fortfahre, muß ich hier eines
Umstandes erwähnen, der wiederum ein helles Licht auf die
Weisheit des Fürsten wirft, von dem dies kleine Volk regiert zu
sein das Glück hatte. Auf die schnell verbreitete Nachricht von
meinem Erscheinen im Königreiche nämlich war von allen Sei-
ten eine ungeheure Menge neugieriger Menschen nach der Resi-
denz und meinem Tempel zusammengeströmt. Das dauerte nun
tage- und wochenlang fort, Geschäfte und Arbeiten gerieten in
gefährliche Stockungen und die notwendigen Feldbestellungen
wurden vernachlässigt. Da beeilte sich der Kaiser, die Gefahr, die
für Land und Leute aus solcher Wirtschaft entspringen müsse,
erkennend, durch Aufrufe und gemessene Staatsbefehle anzu-
ordnen: daß alle, die mich bereits gesehen, sofort nach Hause
und an ihre Geschäfte zurückkehren sollten, außerdem soll-
te es ohne besonderen Erlaubnisschein niemand gestattet sein,
mir bis auf fünfzig Ellen nahezukommen. Dieser Befehl gab so-
wohl Zeugnis von dem Scharfblick des Kaisers, wie von seiner
gastfreundschaftlichen Rücksicht gegen mich, und hatte zudem
für die Staatssekretäre und Polizeibeamten den Vorteil, daß sie
durch Ausstellung von Erlaubnisscheinen ihr Einkommen ver-
größern konnten.
Während ich nun so ganz gemächlich dahinlebte, hatte ich
keine Ahnung davon, daß meinetwegen unter dem Vorsitz des
Kaisers der Reichsrat häufig zusammentrat und über mein Wohl
oder Wehe die ernstesten und eingehendsten Beratungen hielt.
Später erfuhr ich von einem mir wohlgesinnten Geheimrat, daß
von verschiedenen Seiten Vorschläge gemacht worden waren,
mich aus dem Wege zu räumen, denn man glaubte aus ver-
schiedenen Gründen das Wohl des Landes ernstlich durch mich
bedroht. Einige meinten, ich möchte doch über kurz oder lang
meine Ketten zerreißen und feindlich auftreten, andere gaben zu
bedenken, daß meine kostspielige Unterhaltung eine Hungers-
not über das Reich verhängen müsse. Man beschloß daher in der
überwiegenden Mehrheit, mich zu töten, und nur über die Art
und Weise, wie ich am bequemsten aus der Welt zu schaffen sei,
war man uneins. Einige schlugen vor, mich mit vergifteten Pfei-
len zu erschießen, andere rieten, mir alle Nahrung zu entziehen
und mich Hungers sterben zu lassen, noch andere machten sogar
den grausamen Vorschlag, mich nächtlicherweise meuchlings
mit meinem Tempel zu verbrennen. Allein allen diesen Blutdür-
stigen gegenüber stand mir wiederum die Weisheit und die Güte
des Kaisers schützend zur Seite, er wollte meinen Tod nicht und
machte die Kurzsichtigen darauf aufmerksam, daß im Fall ich
getötet würde, der von einer so großen, verwesenden Leiche aus-
gehende Gestank Pest und Seuchen in der Hauptstadt und im
ganzen Reiche verbreiten könnte.
Während dieser Beratungen brachten Offiziere die Nachricht
über mein mildes Verfahren gegen die mir überlieferten sechs
Verbrecher; dies gab den Ausschlag und wandte mir das Herz des
Kaisers in dem Grade zu, daß von nun an nicht allein von mei-
nem Tode überall keine Rede mehr war, sondern daß auch aufs
ausreichendste für meinen Lebensunterhalt gesetzlich gesorgt
wurde. Auf des Kaisers Befehl nämlich wurden alle Dörfer bis
würde, worauf der Kaiser befriedigt erwiderte, daß mir alle mei-
ne Sachen, welche die Beamten bei mir fänden, bei meiner einsti-
gen Abreise zurückerstattet, oder mir ein ihrem Werte entspre-
chender Preis dafür gezahlt werden sollte.
Nach dieser Verhandlung erschienen auf den Wink des Kaisers
sogleich zwei der betreffenden Beamten, um die Durchsuchung
vorzunehmen. Um ihnen das Geschäft zu erleichtern, setzte ich
sie zunächst behutsam auf meine Hand und steckte sie zuerst
in die weiten Taschen meines Oberrocks, sodann in die übrigen
Taschen der Kleider, nur eine versteckte Hosentasche, die einige
mir nötige und für sie gleichgültige Gegenstände enthielt, ließ
ich undurchsucht. Die Herren hatten Papier, Tinte und Feder bei
sich und nahmen ein genaues Verzeichnis von all den Gegen-
ständen auf, die sie bei mir fanden. Dies Aktenstück, das mir
später in die Hände fiel, übersetzte ich möglichst getreu in meine
Muttersprache. Es lautete wie folgt:
Wir Unterzeichnete, auf Befehl Seiner Majestät des Kaisers
zur Durchsuchung der Kleider des Quinbus Flestrin (diesen Be-
griff weiß ich nicht anders als durch den Ausdruck »Menschberg«
wiederzugeben) bestellte untertänigste Diener, fanden nach ge-
nauer und gewissenhafter Untersuchung folgende Dinge:
Erstens: In seiner rechten Tasche ein quadratisches Stück
rauhen Tuchs, groß genug, um einen Teppich für das größte
Staatszimmer Seiner Majestät daraus zu machen. Auf Befragen
nach dem Zweck dieses riesigen Tuches sagte der Menschberg,
daß es sein Taschentuch sei.
Zweitens: In der linken Rocktasche fanden wir eine große
silberne Kiste, deren Deckel wir zu heben suchten, um nach dem
Inhalt der Kiste zu forschen, allein der schwere Deckel wich un-
seren vereinten Anstrengungen nicht, und darum ersuchten wir
den Menschberg, sie uns zu öffnen. Er tat es bereitwillig und wir
erblickten die Kiste etwa in halber Höhe mit einem dunkelbrau-
nen Staub angefüllt. Der genaueren Untersuchung wegen traten
wir bis an die Knie in den Staub, mußten uns aber eiligst wieder
zurückziehen, weil uns der aufwirbelnde Staub ein solches Nie-
sen verursachte, daß es nicht zum Aushalten war. Auf Befragen
nach dem Zwecke der Kiste und des ätzenden Staubes nannte er
sie seine »Schnupftabaksdose«, ein barbarisches Wort, mit dem
wir keinen Begriff verbinden können.
Drittens: In der rechten Tasche seines Unterwamses fanden
wir ein ledernes, mit einem starken Tau umwundenes Bündel,
das, nachdem wir das Tau abgewunden hatten, sich öffnete und
eine Menge großer, aber ganz dünner und biegsamer Bretter ent-
hielt. Diese Bretter waren mit Figuren bemalt, die wir, unserer
untertänigsten Meinung nach, für Buchstaben halten. Jede dieser
Figuren hat die Größe einer halben, manche auch die einer gan-
zen Hand. Der Menschberg erklärte, es sei sein Tagebuch.
Viertens: In der anderen Tasche desselben Kleidungsstückes
entdeckten wir einen horn- oder elfenbeinartigen Balken, aus
dem zwanzig etwa vier Fuß lange Pfähle hervorragten, von de-
nen einige schadhaft waren. Dies war augenscheinlich der Haar-
kamm des Menschberges; wir baten ihn deshalb um keine wei-
tere Erklärung.
Fünftens: In der rechten Tasche seiner Panfu-to (mit diesem
Worte bezeichnet man in der Landessprache die Hosen. Der
Verfasser) stießen wir auf eine ungeheuer hohe Säule von sau-
ber poliertem Eisen, die auf einem großen Stücke harten und
gekrümmten Holzes ruhte, aus dem sich sonderbar gestaltete
eiserne Figuren hervorhoben, die mit der hohlen Säule in irgend
einem Zusammenhange zu stehen schienen. Der Menschberg
nannte den seltsamen Koloß, wenn wir das Wort richtig notiert
haben, »Pistole«.
Sechstens: Die Nachsuchung in der linken Tasche der Panfu-
to ergab zwei große horn- oder knochenartige Bohlen von mehr
als Manneslänge, aus denen starke Stahlplatten hervorragten.
Wir vermuten, daß diese unheimlichen Maschinen irgendwel-
che staats- oder landesgefährliche Dinge enthalten könnten, und
befahlen daher dem Menschberg aufs ernstlichste, uns die Kon-
struktion der Maschinen genau zu erklären und uns mit ihrem
Zweck bekannt zu machen. Er gehorchte auch sofort und bog aus
den Bohlen die Stahlplatten hervor, die sich nun als ungeheure
Messerklingen erwiesen. Wie er angab, diente ihm die eine Klin-
ge zum Rasieren seines Bartes und die andere zum Zerschneiden
der Speisen.
In einem anderen ziemlich engen Behälter desselben Klei-
dungsstückes machten wir einen höchst merkwürdigen Fund.
Eine gewaltige silberne Kette, etwa von der Größe unserer An-
kerketten, die aus jenem Behälter herabhing, führte uns auf die
Spur, indem wir entdeckten, daß die Kette an einer Maschine
befestigt war, die wir ihrer Schwere wegen nicht herauszuzie-
hen vermochten. Wir befahlen dem Menschberg deshalb, das
verdächtige Ding sogleich herauszuziehen, möge es sein, was es
wolle. Er gehorchte und brachte eine große abgeplattete Kugel
hervor, deren unterer Teil aus Silber bestand, während der obe-
re mit einer ungeheuren Glaskuppel bedeckt war, durch die wir,
nachdem wir mit einiger Mühe bis zum Rande hinaufgeklettert
waren, seltsame schwarze Figuren erblickten, die sich auf einer
weißen kreisrunden Fläche in regelmäßigen Zwischenräumen
ausbreiteten. Unser Erstaunen wuchs, als wir ein fortwährendes,
lautes Geräusch, gleich dem einer Wassermühle vernahmen, das
aus der Maschine hervordrang. Wir sind der Meinung, daß der
Gegenstand entweder gar kein lebloser, sondern ein eigentüm-
liches Tier seines Landes, oder aber der Gott ist, den der Mensch-
berg verehrt. Zu letzterer Meinung neigen wir umso mehr, als er
uns auf Befragen, soviel wir aus seiner noch immer mangelhaf-
ten Sprachkenntnis entnehmen konnten, erklärte, daß dies ein
Ding sei, das er bei allen seinen Handlungen um Rat frage und
das ihm die Zeit zu seinen Geschäften zumesse.
Auch fanden wir in einer seiner Taschen noch eine Art Fi-
schernetz, das er seinen Geldbeutel nannte, was auch durchaus
wahrscheinlich schien, da es mehrere große, runde Platten von
Gold und Silber enthielt, auf denen sich ausgeprägte Köpfe und
Schriftzeichen befanden. Nach dem kolossalen Gewicht müssen
diese Geldstücke, wenn sie wirklich, wie es allerdings den An-
schein hat, von Gold und Silber sein sollten, einen unermeßli-
chen Wert haben.
Die bisher aufgezählten Gegenstände ergab die Durchsu-
chung der Taschen. Außerdem aber fanden wir an seinem Gür-
tel hängend einen Degen von etwa fünfzehn Ellen Länge, und
am anderen Ende des Gürtels einen ledernen, durchnähten Sack,
dessen eine Seite sehr schwere Bälle oder Kugeln von der Dicke
unserer Köpfe enthielt, während die andere Hälfte einen Haufen
weit kleinerer und leichterer Kügelchen und Körnchen barg; von
letzteren nahmen wir einige zwanzig ohne Mühe auf die Hand,
doch konnte uns ihr Zweck nicht klar werden.
Dies ist das genaue Verzeichnis sämtlicher Gegenstände, die
wir in den Taschen und am Leibe des Menschbergs gefunden
haben. Er fügte sich willig und höflich in Seiner Majestät durch
uns vollzogenen Befehl und hat uns keinerlei Anlaß zur Klage
gegeben.
Unterschrieben und mit unserem Siegel versehen am vier-
ten Tage des neunundachtzigsten Monats der glücklichen und
gesegneten Regierung Seiner Majestät unseres allergnädigsten
Kaisers.
diese Weise fast eine Figur wie jemand, der in den spanischen
Bock gespannt ist, und war froh, als ich mich aus dieser unbe-
quemen Lage wieder erheben konnte.
Gewiß ist es dem Leser von Interesse, den genauen Inhalt der
Urkunde mit den Bedingungen meiner Freiheit kennen zu lernen,
weil man mit Recht vermuten darf, daß sie von dem eigentüm-
lichen Stil und der Ausdrucksweise dieses Volkes einen klaren
Begriff geben und ein helles Schlaglicht auf die obwaltenden Ver-
hältnisse werfen könne. Ich lasse darum das merkwürdige Ak-
tenstück, von dem ich eine getreue Kopie genommen, hier Wort
für Wort folgen:
Golbasto Momaren Eulamé Gur-
dilo Shefin Mully Ully Gué, der
allergroßmächtigste Kaiser von
Liliput, Entzücken und Freu-
de der Welt, dessen Reich sich
fünftausend Blustrugs weithin
ausdehnt (im ganzen ungefähr
sechs Stunden), bis an den Rand
des Erdreichs; Monarch aller
Monarchen, größer an Wuchs
als die Söhne der Menschen;
dessen Füße den Mittelpunkt
der Erde drücken und dessen
Haupt sich bis zur Sonne erhebt;
auf dessen Wink die Fürsten der
Erde mit den Knien zittern; süß
wie der Frühling, voll Behaglich-
keit wie der Sommer, fruchtbar
wie der Herbst, furchtbar wie
der Winter. Seine hocherhabene
Majestät macht dem in unseren
himmlischen Provinzen kürzlich
angelangten Menschberge fol-
gende Vorschläge, deren Artikel
er mit feierlichem Eide beschwö-
ren muß.
I. Der Menschberg soll unser
Reich nicht ohne besondere, mit
unserem Reichssiegel versehene
Erlaubnis verlassen dürfen.
II. Er soll ohne besonderen
Befehl unsere Hauptstadt nicht
zu betreten wagen; alsdann soll
den Einwohnern zwei Stunden
vorher eine Warnung verkündet
werden, damit sie ihre Häuser
nicht verlassen.
III. Der besagte Menschberg
soll seine Spaziergänge auf un-
sere hauptsächlichsten Heerstra-
ßen beschränken und auf Wie-
sen oder Kornfeldern sich weder
niederlegen, noch auf ihnen
umherwandeln.
IV. Wenn er auf besagten
Heerstraßen spazieren geht, soll
er mit der äußersten Sorgfalt sich
in acht nehmen, nicht auf die
Leiber unserer geliebten Unter-
tanen, ihre Pferde oder Wagen zu
treten; er soll auch keinen unse-
rer Untertanen ohne besondere
Erlaubnis auf die Hand nehmen.
V. Wenn die außerordentliche
Abfertigung eines Kuriers erfor-
derlich ist, so soll der Mensch-
berg den Kurier, sowie dessen
Pferd sechs Tagereisen in seiner
Tasche tragen und zwar einmal
monatlich; ferner soll er den
besagten Kurier, im Fall dies
erforderlich ist, in unsere kaiser-
liche Gegenwart wohlbehalten
zurückbringen.
VI. Er soll unser Verbündeter
gegen unseren Feind auf der In-
sel Blefusku sein, und alles auf-
wenden, dessen Flotte zu zerstö-
ren, die einen Angriff auf unsere
Besitzungen vorbereitet.
VII. Besagter Menschberg soll
nach Zeit und Muße unsere Ar-
beiter unterstützen, gewisse gro-
ße Steine aufzuheben, die auf die
Mauer unseres Parkes und ande-
re königliche Gebäude verwen-
det werden sollen.
VIII. Besagter Menschberg soll
in der Zeit von zwei Monaten
eine genaue Übersicht des Um-
fangs unserer Königreiche einlie-
fern, indem er seine Schritte im
Umkreise der Küste berechnet.
IX. Letztens. Der besagte
Menschberg, nachdem er die
Beobachtung dieser Artikel fei-
erlichst beschworen hat, soll
eine tägliche Ration von Speise
und Trank, die zur Ernährung
von tausendachthundertvierund-
zwanzig unserer Untertanen ge-
nügend ist, sowie freien Zutritt
zu unserer Person und andere
Beweise unserer Gunst erhalten.
Gegeben in unserem Palast im
Belsuborac am zwölften Tage
des einundneunzigsten Monats
unserer Regierung.
Einige Tage, nachdem ich die Residenz und den Palast in Au-
genschein genommen hatte, fuhr eine Staatskarosse bei mir vor,
der mein schon genannter Freund Redresal, erster Privatsekretär
des Kaisers, entstieg; er ließ mich durch den einzigen ihn be-
gleitenden Diener bitten, ihm in einer wichtigen Angelegenheit
ein Stündchen Audienz zu gewähren. Redresals liebenswürdi-
ge Persönlichkeit, sowie auch die vielen freundlichen Gefällig-
keiten, die er mir bei Hofe erwiesen hatte, ließen mich ihn mit
Freuden willkommen heißen, und ich machte ihm, nachdem wir
nicht ohne Herzlichkeit die landesüblichen Höflichkeiten ausge-
tauscht, den Vorschlag, ihn auf meine Hand zu setzen und ihn
meinem Ohr nahe zu bringen, damit wir uns desto bequemer
unterhalten könnten.
Herr Redresal war ganz damit einverstanden und holte nun,
als ich ihn in die rechte und bequeme Lage gebracht hatte, etwas
diplomatisch weit aus, sprach in zarter Weise von den Diensten,
die er mir bei Hofe geleistet und kam dann allgemach auf die
Zustände des Reiches, in die ich ja nun wohl schon einen kleinen
Einblick zu tun Gelegenheit gehabt habe. Sich räuspernd fuhr er
sodann fort: »Es wird Euch, großgeehrter und größestgeborener
Herr Menschberg, nicht entgangen sein, daß die Zustände un-
seres Landes blühend sind und im allgemeinen nichts zu wün-
schen übrig lassen. Allein wie nichts vollkommen ist auf diesem
Theologen und das Volk jene Meinung aufrecht, weil sie eine alt-
herkömmliche ist.
Auch andere Gewohnheiten und gesetzliche Bestimmungen
sind von den unserigen sehr verschieden, dabei jedoch so be-
schaffen, daß ich nicht wüßte wie sie zu tadeln wären. So fehlt
es zum Beispiel bei der Strenge, mit der in Liliput Verbrechen
gegen den Staat und die geheiligte Person des Kaisers bestraft
werden, nicht an Spionen und Angebern, wenn aber ein solcher
jemand falsch beschuldigt, so verfällt der Angeber der gleichen
Strafe, die den schuldigen Staatsverbrecher getroffen hätte, und
außerdem fällt sein ganzes Vermögen dem unschuldig Ange-
klagten zu. Hat der Angeber kein oder kein ausreichendes Ver-
mögen, so erhält der unschuldig Verklagte für die Gefahr, in der
er schwebte, für Zeitverlust und Untersuchungsgefängnis eine
angemessene Entschädigung aus der Staatskasse, und hinterher
wird seine Unschuld durch öffentlichen Ausruf im ganzen Reich
bekanntgemacht.
Betrug wird weit härter bestraft als Diebstahl, weil die Li-
liputer der Ansicht sind, daß man sich vor Dieben leicht durch
Vorsicht und durch Schloß und Riegel hüten könne, während
man gegen die tückische List eines Betrügers ganz schutzlos sei.
Als ich einst für einen Verbrecher, der seinem Prinzipal eine gro-
ße Summe Geldes unterschlagen und versucht hatte, sich damit
aus dem Staube zu machen, ein gutes Wort beim Kaiser einlegen
wollte, erhielt ich eine so derbe Zurechtweisung von ihm, daß
ich mich wirklich schämte.
Man fördert ferner in Liliput nicht nur Tugend und Sittlichkeit
durch Verfolgung und Strafe von Vergehen und Verbrechen, son-
dern auch durch nützliche und zweckmäßige Belohnung guten
Verhaltens und guter Handlungen. So wird jeder, der nachweisen
kann, daß er siebenunddreißig Monate lang die Landesgesetze
und die Vorschriften der Moral pünktlich befolgt hat, mit ge-
wissen Vorrechten und einer ansehnlichen Geldsumme aus dem
Staatsschatz bedacht. Auch darf er von der Zeit an seinem Na-
men den Titel Frillnall, oder der Gerechte, vorsetzen, welcher
Titel aber nicht auf seine Nachkommen übergeht, sondern den
sich auch diese durch ihr gutes Betragen wieder selbst erwerben
müssen. Mit Rücksicht auf diese Sitte hält das Bild der Gerech-
tigkeit in ihren Gerichtshöfen in der rechten Hand zwar auch ein
Schwert, in der linken aber einen Beutel mit Geld zur Belohnung
der Gerechten.
Zur Erlangung hoher Staatsämter befähigt in Liliput nicht
Reichtum und hohe Geburt, sondern Fähigkeit und gutes Betra-
gen. Außerdem werden die Tugenden der Wahrhaftigkeit, Ge-
rechtigkeit und Mäßigkeit bei Bewerbungen um ein Amt noch
höher angeschlagen als die glänzendsten Verstandesfähigkeiten,
weil man der Meinung ist, daß wenn jene Tugenden nur mit ei-
nem einfachen gesunden Menschenverstand vereinigt wären, das
vollkommen ausreiche, um dem Vaterlande treue und nützliche
Dienste zu leisten.
Bei Erwähnung dieser wirklich guten und lobenswerten
Sitten und Gesetze lasse ich indes nicht unbemerkt, daß sie in
früherer Zeit weit genauer beobachtet wurden, als zu der Zeit,
als ich in Liliput weilte, sonst wäre die Unsitte nicht möglich ge-
wesen, daß man durch Seiltanzen und durch das Springen über
den Stock Orden und Ehrenstellen zu erhaschen suchte. Diese
Unsitte hatte zuerst der Großvater des jetzt regierenden Kaisers,
der ein launenhafter, tyrannischer Mann war, sich einzuführen
unterstanden, weil er dergleichen einem Volke bieten konnte,
das durch Parteistreitigkeiten und höfische Liebedienerei schon
tief gesunken war.
Auch über die Erziehung der Kinder haben die Liliputer von
den unserigen abweichende Begriffe. Da nämlich die Eltern oft
nur zu geneigt sind, ihre Kinder zu verzärteln und ihnen alle
Unarten nachzusehen, so werden die Kinder schon im zwanzig-
sten Monat öffentlichen Erziehungsanstalten übergeben, wo sie
streng zu guten Sitten und anständigem Betragen erzogen und
in den für ihr Alter passenden nützlichen Wissenschaften unter-
richtet werden. Geschickte Lehrer sind bestellt, die sowohl in der
ART
1
ART
2
ART
4
von Zeit zu Zeit einen tüchtigen Stoß. Auf diese Weise hatten
wir es bald bis auf vierzig Schritt zum Ufer gebracht, hier aber
mußten wir es stehen lassen, weil das Wasser zu seicht wurde.
Ich wartete nun die Ebbe ab, die nach etwa zwei Stunden eintrat,
und machte mich mit zweitausend Arbeitern und einer großen
Zahl von Hebezeugen und Maschinen (im Maschinenfach ge-
ben die Blefuskuden den Liliputern nichts nach) daran, das Boot
umzukehren. Nach unsäglicher Mühe gelang dies, und ich fand
zu meiner Freude, daß das Fahrzeug nur wenig Schaden gelitten
hatte und keiner großen Ausbesserung bedurfte.
Nun aber war noch der schwierigste Teil der Arbeit zu tun,
denn es kam darauf an, das Boot von seiner seichten Stelle ins
Fahrwasser und in den Hafen zu bringen. Nach zehntägiger
Arbeit war mir dies durch Hebel und Walzen, zu deren Her-
stellung ich in der Regel sechs bis acht der stärksten Eichbäu-
me zusammenband, und mit Hilfe einiger tausend Menschen
gelungen. Unbeschreiblich war der Zusammenlauf und das Er-
staunen der Menge, als sich das Riesenschiff nun in ihrem Hafen
wiegte.
Der König, dem ich schon gleich nach dem Auffinden des
Boots erklärt hatte, daß mir augenscheinlich der Himmel dies
Schiff gesandt habe, um damit mein so lange entbehrtes teures
Vaterland wieder aufzusuchen, machte anfangs vielerlei höfliche
Einwände und meinte, ich möge doch in seinem Lande bleiben
und mir seine dauernde Gastfreundschaft gefallen lassen. Allein
ich dankte ihm verbindlichst für sein huldvolles Anerbieten und
machte ihm begreiflich, daß meine quälende Sehnsucht nach
meinem Vaterlande und nach Frau und Kindern mich doch in
dem sonst so unvergleichlichen Blefusku nicht zufrieden und
glücklich sein lassen könne. Das gab mir denn Seine Majestät,
und zwar vergnügten Gesichtes zu, denn ich hatte längst ge-
merkt, daß ich ihm und seinem Staatsschatz mit den Bedürfnis-
sen meines Magens doch sehr lästig zu werden anfing.
Übrigens benahm sich dieser Monarch durchaus edel gegen
mich, was recht in der Art und Weise zutage trat, wie er einen
meinetwegen von Liliput ausgeschickten Gesandten abfertigte.
Als nämlich wegen meines auffallend langen Aufenthaltes
in Blefusku mein früherer Herr, der Kaiser von Liliput, Verdacht
schöpfte, daß ich wohl gar nicht wieder in sein Reich zurückkeh-
ren und mich der Strafe entziehen wolle, hatte er nach vorheri-
ger Beratung mit den mir feindlichen Ministern einen Gesandten
mit einer Abschrift meiner Anklage an den Hof von Blefusku ge-
schickt und seinem »königlichen Bruder« eröffnen lassen, daß es
eine große Undankbarkeit von mir und eine schnöde Verkennung
der kaiserlichen Milde sei, wenn ich nicht binnen zwei Stunden
zurückkehrte und mir die Augen ausstechen ließe. Kehrte ich
nicht nach der angegebenen Zeit zurück, so würde mir der Ti-
tel Nardak aberkannt und ich öffentlich als Verräter ausgerufen
werden.
Dieses hatte der Gesandte öffentlich vor König und Staatsrat
vorgetragen, in geheimem, an den König gerichteten Auftrage
hatte er jedoch auf Befehl seines Souveräns zu bedenken gege-
ben: daß sein erhabener Herr, der Kaiser von Liliput, um den
kaum geschlossenen Frieden beider Reiche ungestört aufrecht
erhalten zu sehen, seinem königlichen Vetter und Bruder zu be-
denken gebe, daß es das Geratenste sein würde, wenn er den
Menschberg gebunden und gefesselt nach Liliput ausliefere, da-
mit er dort auf eine ausgesuchte und exemplarische Weise am
Leben gestraft werde. Alles dies hat mir nachher Seine Majestät
in gewohnter huldvoller Weise wiedererzählt und mir auch die
Antwort nicht verhehlt, mit der er den Gesandten abgetrumpft
und heimgeleuchtet hat.
Sie lautete etwa folgendermaßen: »Gehe heim, guter Freund,
und sage deinem Herrn, meinem mir so brüderlich gesinnten, kai-
serlichen Vetter, daß die Forderung, den Menschberg gebunden
auszuliefern, mir so unausführbar wie ihm selbst sei, denn der
Quinbus Flestrin würde, obwohl sonst sehr gutmütig, sich doch
mit Felsstücken und Eichbäumen dagegen wehren, wenn man
ihn fesseln wolle. Übrigens erkläre deinem Herrn ferner, daß mir
gar keine Veranlassung vorliege, gegen den Menschberg feind-
lich zu verfahren, da er sich in meinem Reiche stets anständig
und bescheiden betragen hat. Auch magst du nicht zu bemerken
vergessen, daß der Quinbus Flestrin bald weit genug aus deines
Herrn und aus meinem Strafbereich sein werde, denn er habe
kürzlich ein ungeheures Riesenschiff an der Küste gefunden, das
er jetzt ausrüste, um damit in sein Vaterland zurückzukehren.«
Mit diesem Bescheid mußte sich der Gesandte trollen, und der
König bot mir, nachdem er mir von allem Mitteilung gemacht,
nochmals an, in seinem Lande zu bleiben und bei ihm Dienste
zu nehmen. Mein Vertrauen zu Fürsten, Höfen und Ministern
war aber durch meine Erlebnisse in Liliput so erschüttert, daß ich
nicht im Traum daran dachte, jemals wieder eine hohe Stelle im
Staatsdienst anzunehmen, und ich wiederholte daher unter An-
gabe meiner früheren Gründe meine Weigerung aufs bestimmte-
ste, zumal ich wußte, daß meines kostspieligen Magens wegen
im Grunde König und Minister wünschten, daß zwischen mir
und Blefusku tausend Meilen lägen.
Übrigens beschleunigte dies immerhin drückende Gefühl,
durch meinen Magen dem Reiche Blefusku eine große Last zu
sein, meine Arbeiten zur Herrichtung des Boots und zur Be-
schleunigung meiner Abreise, wobei mich der König durch
Arbeiter und alles, was ich wünschte, aufs bereitwilligste und
freigebigste unterstützte. Fünfhundert Segeltuchfabrikanten
wurden beordert, nach meiner Anweisung zwei Segel für mein
Boot zu verfertigen. Dazu bedurften sie etwa fünfzehnhundert
Ellen ihrer stärksten Leinwandstücke und mußten diese in drei-
zehn Lagen übereinandernähen, damit sie stark genug würden.
Zur Anfertigung der nötigen Taue bedurfte ich zwanzig bis drei-
ßig landesübliche Taue, um mir einen tauglichen Strick daraus
zusammenzudrehen. In großer Verlegenheit war ich um einen
Anker, denn auch die Anker ihrer größten Schiffe, von denen
ich noch heute zum Andenken einen an der Uhrkette trage und
mich seiner zuweilen als Zahnstochers bediene, reichten bei wei-
tem für meine Bedürfnisse nicht aus. Ich suchte daher im Gebirge
nach einem tüchtigen Felsblock und fand auch einen solchen von
etwa fünfundzwanzig bis dreißig Pfund, der zu meinem Zweck
genügte und mir wiederholt auf der Reise gute Dienste als Anker
geleistet hat. Als man mich mit diesem Stein unterm Arm so
leicht und ruhig zum Strande schreiten sah, wie die blefuskudi-
schen Schüler mit ihrem Pulmoklisch (so nennt man die von den
blefuskudischen Theologen bearbeitete landesübliche Bibel, die
von den liliputischen, spitzendigen Theologen als ketzerisch ver-
worfen wird) unterm Arm zur Schule gehen, war das Erstaunen
ein ganz maßloses.
Das Fett von dreihundert Ochsen brauchte ich, um mein Boot
einzuschmieren, und zum gleichen Zwecke kochte ich noch das
Fett von dreihundert tranhaltigen Fischen aus, die an der Kü-
ste häufig gefangen werden und die eine für die Eingeborenen
erhebliche Länge von sechs Zoll haben. Um für mein Segel eine
tüchtige Segelstange herstellen zu können, mußte ich mit mei-
nem Taschenmesser eine ziemliche Verwüstung unter den stärk-
sten Bäumen des königlichen Forstes anrichten, brachte aber
durch Zusammenbinden der verschiedenen Stämme, die mir die
Schiffszimmerleute glattzimmerten, endlich eine brauchbare Se-
gelstange zustande.
Nach zweimonatiger angestrengter Arbeit war endlich mein
Boot segelfertig, und ich ließ dem König sagen, daß ich, seine
Befehle erwartend, zur Abreise bereit sei. Darauf bestellte mich
der König zu einer feierlichen Abschiedsaudienz und empfing
mich mit seiner hohen Gemahlin und den Prinzen von Geblüt
mit solchem Aufwand, als ob ich ein ihm ebenbürtiger, sechs
Zoll hoher Monarch gewesen wäre. Ich wußte diese Ehrenbe-
zeigung wohl zu würdigen, warf mich anmutig auf den Bauch
und führte sämtliche fürstlichen Hände zierlich an meine Lip-
pen. Darauf schenkte mir der König fünfzig Beutel, von denen
jeder zweihundert Sprugs enthielt, sowie sein Bild in Lebensgrö-
ße, das ich gleich in meinen Handschuh steckte, um es nicht zu
verlieren. Die Abschiedszeremonien waren so umständlich und
zahlreich, daß ich den Leser nicht mit ihrer Schilderung ermüden
will.
Durch die Freigebigkeit des Königs versah ich nun mein Boot
mit dem gebratenen und zubereiteten Fleisch von hundert Och-
sen, dreihundert Schafen und einer entsprechenden Menge von
Brot, Wasser und Wein. Ferner vergaß ich nicht, sechs Kühe, zwei
Stiere und ebensoviele Mutterschafe mit Böcken lebendig einzu-
schiffen, weil ich diese Rassen nach meinem Vaterlande zu ver-
pflanzen wünschte. Gern hätte ich auch einige Pärchen von den
Eingeborenen mitgenommen, allein das wollte der König nicht
gestatten und ließ noch kurz vor meiner Abreise durch geschick-
te Steuerbeamte meine Taschen genau nach etwa versteckten
Blefuskuden und Blefuskudinnen durchsuchen.
Nach Vollendung der ganzen Ausrüstung ging ich am 24. Sep-
tember 1701, morgens sechs Uhr, unter dem Zusammenlauf ei-
ner ungeheuren Menschenmenge, die mir mit Fahnen und Tü-
chern Abschiedsgrüße zuwinkte und ein Geschrei erhob, als ob
zwanzig Bienenschwärme auf einmal zu summen anfingen, un-
ter Segel.
Nach einer Fahrt von etwa vier Meilen, die ich bei sehr günsti-
gem Winde zurückgelegt, entdeckte ich in nordöstlicher Richtung
eine Insel, steuerte darauf zu und warf in einer mir zur Landung
recht passend scheinenden Bucht meinen Ankerstein aus. Ich
stieg ans Land und schaute mich, einen nahe an der Küste gele-
genen Hügel besteigend, etwas um; die Insel schien unbewohnt
zu sein, und ich streckte mich mit dem beruhigenden Gefühle,
nicht gestört zu werden, ins weiche Moos und schlief einen ge-
sunden, traumlosen Schlaf. Früh mit Sonnenaufgang erwachte
ich, aß zehn gebratene Ochsenkeulen und einige Hammelviertel
zum Frühstück, lichtete meinen Anker und steuerte dann nach
der gleichen Richtung wie gestern.
Mein Taschenkompaß, der wie meine Brille und mein Fern-
rohr glücklicherweise nicht in die Hände der Liliputer gefallen
war, tat mir jetzt vortreffliche Dienste. Da ich nun mit Hilfe des
Kompasses immer wußte, in welcher Himmelsgegend ich mich
befand, so mußte ich, wenn ich so fortsteuerte, nach meinen
geographischen und seemännischen Kenntnissen eine jener In-
seln erreichen, die nordöstlich von Van Diemens Land liegen.
An diesem Tage kam mir nichts zu Gesicht als Himmel und
Wasser, am folgenden Tage aber – es war nach dem Stande der
Sonne etwa nachmittags um drei Uhr – entdeckte ich zu meiner
größten Freude ein südöstlich fahrendes Segel.
Meine ersten Zeichen, die ich gab, schien man auf dem Schiffe
der großen Entfernung wegen nicht zu bemerken; ich suchte des-
halb den Wind so geschickt wie möglich zu benutzen und segelte
so schnell, daß ich wie ein Pfeil über das Meer dahinschoß und
dem Schiffe, das sich immer größer und größer aus den Wellen
emporhob, rasch näher kam. Man bemerkte mich endlich, hiß-
te eine Flagge auf und schoß, um meine Aufmerksamkeit noch
mehr zu erregen, eine Kanone ab; als Gegengruß warf ich ju-
belnd meinen Hut in die Luft, so hoch ich konnte. Nun zog das
Schiff die Segel ein und erwartete mich. Gegen fünf Uhr abends
legte ich an Bord an, und wer beschreibt meine Freude, als ich
in dem Schiff ein englisches erkannte und nun die begründete
Hoffnung hegen konnte, mein geliebtes Vaterland und meine
Familie bald wiederzusehen! Rasch steckte ich mein Rindvieh
und meine Schafe in die Rocktasche und stieg mit meiner ganzen
Ladung an Bord.
Reise nach
Brobdingnag
Erstes Kapitel
Der Verfasser wird durch einen heftigen Seesturm nach einem unbe-
kannten Lande verschlagen. Von seinen Gefährten zurückgelassen,
wird er von einem Eingeborenen ergriffen und einem Pächter ausge-
liefert. Seine Aufnahme und was sich sonst zunächst mit ihm begeben
und zugetragen hat.
A nfangs begegnete uns auf der Reise, die ich nach zweimonati-
gem Aufenthalt in meinem Vaterlande mit Kapitän John Nicholas
nach Surate angetreten hatte, durchaus nichts Bemerkenswertes.
Wir hatten sehr günstigen Wind bis zum Kap der Guten Hoffnung,
wo wir landeten, um Wasser einzunehmen. Der Aufenthalt am
Kap sollte sich aber sehr in die Länge ziehen, weil unbegreifli-
cherweise unser Schiff trotz seiner glücklichen Fahrt ein bedeu-
tendes Leck bekommen hatte, dessen Ausbesserung uns zwang,
den ganzen Winter über am Kap zu bleiben. Im April endlich
konnten wir wieder unter Segel gehen und erreichten sehr bald
die Meerenge von Madagaskar; am neunzehnten desselben Mo-
nats aber, als wir uns nördlich von Madagaskar im fünften Gra-
de südlicher Breite befanden, schlug der Wind um und trieb uns,
während einer Fahrt von zwanzig Tagen, etwas östlich über die
Molukken hinaus. Dann trat plötzlich eine solche Windstille ein,
daß die Segel schlaff an den Masten herabhingen und das Schiff
fast unbeweglich auf der spiegelglatten Meeresfläche lag. Ich freu-
te mich anfangs über diese uns durch die Windstille aufgezwun-
gene Ruhe, denn die letzten Tage hindurch war das Schiff durch
den sehr scharf streichenden Wind stets in einer schaukelnden,
mir sehr lästigen Bewegung gewesen, allein die höchst bedenk-
liche Miene, die der Kapitän zeigte, verdarb mir bald die Freude,
zumal als er erklärte, daß ihm die Windstille in diesen Meeren
ein sicheres Vorzeichen eines nahen Sturmes sei. Er traf auch zur
Sicherung der Mannschaft und des Schiffes sofort alle Vorberei-
tungen, welche die drohende Gefahr nötig machte, und schon
der folgende Tag zeigte, daß sich der erfahrene Seemann in sei-
nen Voraussetzungen nicht getäuscht hatte.
Der Sturm brach mit einer Heftigkeit los, die uns nötigte, die
Kanonen festzumachen und sämtliche Segel einzuziehen; das
Bugsprietsegel war schon vor Ausbruch des Sturmes durch die
Vorsorge des Kapitäns eingezogen und überhaupt nichts unter-
lassen worden, seinem Ungestüm einigen Widerstand entgegen-
zusetzen. Die Vorkehrungen bewährten sich auch, denn das gut
verwahrte Schiff hielt sich wacker in den brüllenden Wogen;
zwar konnten wir ihm keine bestimmte Richtung geben, son-
dern mußten machtlos der Gewalt der Wellen und der Wind-
stöße folgen, aber unser Leben war doch gesichert, da sich die
Wut der Wogen an den derben Rippen unseres Schiffes macht-
los brach und wir hier auf hoher See von Klippen und Riffen
nichts zu fürchten hatten. Mehr als vierzehn Tage lang blieb un-
ser Schiff ein Spielball der tobenden Wogen und wurde in uns
ganz unbekannte wildfremde Gewässer getrieben. Nach meiner
Berechnung waren wir, als der Sturm endlich nachließ und von
einer anhaltend heftig streichenden Brise abgelöst wurde, unge-
fähr dreihundert Stunden von unserer ursprünglichen Richtung
nach Osten verschlagen worden; der erfahrene Kapitän und auch
die ältesten Seeleute wußten nicht, in welchem Teile der Welt
wir uns befinden möchten. Das mit Vorräten gut versorgte Schiff
hatte uns vor Mangel geschützt und die gesamte Mannschaft
war vollkommen gesund; schließlich aber kamen wir doch in
Not um Trinkwasser und beschlossen daher, die Richtung, die
wir unfreiwillig verfolgt hatten, vorderhand noch beizubehalten,
weil sie uns endlich doch an eine Küste führen würde, wo wir
Trinkwasser einnehmen könnten.
Diese Vermutung bewährte sich auch bald, denn am 16. Juni
1703 rief plötzlich der Schiffsjunge im Mastkorbe: Land! Land!
und am 17. Juni warfen wir an einer sich unermeßlich weithin
ausdehnenden Küste Anker. Wir blieben in Ungewißheit darüber,
ob wir uns vor einer Insel oder einem Festlande befanden. Der
Kapitän beauftragte nun zwölf Matrosen, das lange Boot auszu-
setzen und sich bewaffnet und mit Wassergefäßen versehen ans
Land zu begeben, um Trinkwasser aufzusuchen. Weil ich mich
nun nach so langer, sturmbewegter Fahrt danach sehnte, einmal
wieder festes Land unter den Füßen zu haben und zudem ver-
mutete, daß ich bei einem kleinen Ausflug in dies fremde Land
wichtige Entdeckungen machen könnte, so bat ich den Kapitän,
mir zu erlauben, die Matrosen zu begleiten. Herr Nicholas erteil-
te mir diese Erlaubnis bereitwilligst; ich schiffte mich wohlge-
mut mit den Matrosen ein und war sehr gespannt auf die neuen
Dinge, die ich in dieser unbekannten Welt sehen würde.
Als wir jedoch das Land betraten, sah ich mich anfangs in
meinen Hoffnungen getäuscht, denn das felsige Land lag in öder
Einförmigkeit da und zeigte keine Spur von menschlichen Be-
wohnern oder Tieren. Auch fand sich keine Quelle und kein Fluß,
so daß unsere Leute die Küste entlang gingen, um weiter nach
Süßwasser zu suchen. Diesen Aufenthalt benutzte ich, um etwa
eine halbe Stunde weiter ins Land zu gehen und mich nach sei-
nen etwaigen Eigentümlichkeiten umzuschauen, allein ich fand
auch auf dieser Exkursion nichts Bemerkenswertes und kehr-
te bald nach dem Meeresufer zurück. Doch wer malt meinen
Schrecken, als ich hier das Boot nicht mehr vorfand, sondern es
schon wieder in See erblickte und die Matrosen mit der äußer-
sten Anstrengung, als gälte es Tod oder Leben, unserem Schiffe
zurudern sah. Ich schrie aus Leibeskräften, mich aufzunehmen,
allein sie hörten mich nicht oder konnten mich nicht mehr hören,
weil sie schon zu weit in See waren. In Verzweiflung erhob ich
doch wieder meinen Ruf so laut ich konnte, als mir plötzlich über
einer Entdeckung, die ich machte, von starrem Entsetzen der Ton
in der Kehle stecken blieb. Ich entdeckte nämlich, daß die Ma-
trosen sich vor einem ungeheuren, kirchturmhohen Geschöpfe,
das sie verfolgte, so gewaltig in die Riemen legten. Die See reich-
te dem verfolgenden Ungeheuer nur bis an die Knie, doch war
zu hoffen, daß es trotz seiner Siebenmeilenstiefelschritte unsere
Leute nicht erreichte, denn das Boot hatte mindestens eine Vier-
telstunde Vorsprung und das Meer war zwischen ihm und dem
seiner noch mehr zu vergewissern, ging ich auf ihn zu und küßte
ihm die Hand.
Im weiteren Verlauf des Essens hörte ich plötzlich in meiner
Nähe ein Brummen und Schnurren, als ob zwölf Strumpfwir-
ker in Tätigkeit wären, und bemerkte, daß das Geräusch von
der Hauskatze herrührte, die meiner Herrin auf den Schoß ge-
sprungen war und von ihr gefüttert und gestreichelt wurde. Das
Tier, von der Größe eines Rhinozerosses oder Nilpferdes, bot mit
seinen funkelnden Augen einen entsetzlichen Anblick und ließ
mich fürchten, daß es plötzlich die fünfzig Fuß, die zwischen
mir und ihm lagen, überspringen und mir seine fürchterlichen
Krallen, mit denen verglichen Löwentatzen wie unsere Katzen-
pfötchen erschienen, in den Leib schlagen würde. Allein, als ich
sah, daß die Herrin meine Besorgnisse teilte und das Ungeheuer
festhielt, ermutigte ich mich und ging dreist auf die Katze los,
indem ich fest meinen Blick auf ihre funkelnden Augen richtete,
weil ich immer gehört hatte, daß dies wilden Tieren Respekt ein-
flöße, während sie sogleich gefährlich werden, wenn man Furcht
zeigt oder sich zur Flucht wendet. Die Katze wich sogar etwas
vor mir zurück, als ich dicht vor ihren Kopf trat und machte kei-
ne Miene, auf mich loszuspringen. Weniger Besorgnis hatte ich
vor den beiden Haushunden, die ins Zimmer kamen, um sich die
Knochen unterm Tisch hervorzusuchen; der eine war eine Dog-
ge, so groß wie vier Elefanten, der andere, ein Windhund, war
noch etwas größer, aber nicht so plump gebaut.
Nach dem Mittagessen trat eine Amme mit einem einjährigen
Säugling ins Zimmer, der mich sogleich erblickte und, ein Spiel-
zeug in mir witternd, mit den Händen nach mir langte und so
fürchterlich zu schreien anfing, daß man das Geschrei von der
Londoner Brücke bis nach Chelsea, also über eine halbe Stun-
de weit hätte hören können. Die Mutter, um den Schreihals zu
befriedigen, war so unvorsichtig, daß sie mich ergriff und mich
den zappelnden Händen des Kindes übergab, das mich nach
kleiner Kinder Art sofort in den Mund steckte. Ich aber brüll-
te in entsetzlicher Todesangst so laut, daß mich das kleine Un-
getüm erschrocken fallen ließ, wodurch ich unfehlbar meinen
Tod gefunden haben würde, wenn mich die Mutter nicht in ihrer
Schürze aufgefangen hätte. Die Amme brummte und schnurrte
nun wie ein Dutzend Löwinnen, um das Kind zu beruhigen, was
ihr auch endlich gelang, nachdem sie noch die Kinderklapper zu
Hilfe genommen hatte, die in Gestalt eines halben, mit einem
Weberbaum versehenen und mit schweren Kieselsteinen gefüll-
ten Oxhoftfasses, an einem Tau dem Säugling am Gürtel hing.
Nach Beendigung der Mahlzeit ging mein Herr wieder mit
seinen Arbeitern aufs Feld, nachdem er, wie ich aus seinen Mie-
nen und Bewegungen schließen konnte, seiner Frau anbefohlen
hatte, sorgfältig auf mich zu achten und mich vor Schaden zu
bewahren. Kaum war er fort, so gab ich der Herrin dadurch, daß
ich die Augen schloß und den Kopf auf die Seite legte, zu verste-
hen, daß ich sehr ermüdet sei, was sie auch sogleich bemerkte;
sie trug mich auf ihr eigenes Bett und deckte mich sorgfältig mit
einem ihrer feinsten Batisttaschentücher zu. Das Tuch war aber
dennoch dicker und gröber als das gröbste Segeltuch, das man in
England für die Kriegschiffe verwendet.
Ich schlief einige Stunden ruhig und erwachte endlich über ei-
nem Traum, der mich in die ferne Heimat versetzt und in die Mit-
te meiner geliebten Familie geführt hatte. Als ich, infolge dieses
Traums recht wehmütig gestimmt, mich meiner verlassenen Lage
unter wildfremden Riesen erinnerte, betrachtete ich die Gegen-
stände um mich genauer und fand, daß mein etwa zwanzig Ellen
breites und vierundzwanzig Fuß über dem Boden erhabenes Bett
in einem Schlafgemach von mindestens zweihundert Fuß Breite
und dreihundert Fuß Länge stand. Meine Herrin, die ihren häus-
lichen Geschäften nachgegangen war, sah sich nicht weiter nach
mir um, weil sie mich im Bette hinlänglich vor allen Gefahren
sicher glaubte. Doch darin sollte sie sich geirrt haben. Ich mochte
nämlich wohl eine halbe Stunde wachend dagelegen und an mein
Schicksal gedacht haben, als ich plötzlich ein starkes, krabbelndes
und nagendes Geräusch an den Pfosten meines Bettes hörte, und
ehe ich mir’s versah, kletterten zwei Ratten von der Größe star-
ker Bullenbeißer zu mir herauf und machten sofort Miene, mich
anzugreifen, indem sie mich zähnefletschend bedrohten. Glück-
licherweise hatte ich meinen Degen zur Hand, zog ihn flugs zu
meiner Verteidigung und führte einen so glücklichen Stoß gegen
die eine der mich anspringenden Ratten, daß ihr mein Degen bis
ans Heft in den dicken, aufgeschwemmten Leib fuhr. Die Ratte
stürzte in Todeszuckungen auf dem Bett zusammen und die an-
dere, das Schicksal ihres Kameraden fürchtend, entfloh eiligst.
Bald nach meinem siegreichen Kampfe trat die Herrin ins
Schlafgemach und war sehr erschrocken, als sie mich und das
Bett mit Blut befleckt sah; ich beruhigte sie jedoch bald, indem ich,
ihr meine gesunden Glieder zeigend, munter auf dem Bette hin
und her spazierte und triumphierend auf die tote Ratte deutete.
Erfreut und mich wegen meiner Tapferkeit liebkosend, hob mich
die Frau vom Bett und befahl der eintretenden Magd, eine Zange
zu holen und das getötete Tier zum Fenster hinauszuwerfen.
Zweites Kapitel
Der Verfasser schildert Gestalt und Eigenschaften der jüngsten Toch-
ter des Pächters und wird von ihr in sorgsame Pflege genommen. Der
Verfasser wird auf einem Jahrmarkt für Geld gezeigt und später zu dem
gleichen Zweck nach der Hauptstadt geführt.
Mit Erlaubnis
des Groß-Slarrald
fand ich sie so dick und schwer, als ob sie aus einer englischen
Bettdecke verfertigt wären, was mir anfangs sehr lästig war.
Je länger ich nun in meiner neuen Einrichtung und unter mei-
nen neuen Verhältnissen bei Hofe lebte, desto mehr Gefallen fand
die Königin an meiner Gesellschaft, so daß sie schließlich ohne
mich nicht einmal ihr Mittagsmahl halten konnte. Es wurde für
mich ein Tisch und ein Stuhl auf die Tafel gesetzt, an der Ihre
Majestät speiste, und ich mit einem Silberbesteck versehen, so
groß wie man es in Brobdingnag für die Puppenstübchen anfer-
tigt. Glumdalclitsch, die auf einem Schemel an der Tafel stehend
mich beim Essen bediente, säuberte nach Tisch immer sorgfältig
mein kostbares Geschirr und verwahrte es in einem silbernen
Döschen in ihrer Tasche. Es speisten in unserer Gesellschaft nur
noch die beiden königlichen Prinzessinnen, von denen die eine
sechzehn, die andere dreizehn Jahr und einen Monat alt war. Ihre
Majestät bediente mich beim Essen gern selbst, sie zerschnitt
mir das Fleisch in kleine Stücke, reichte es mir und hatte ein
inniges Vergnügen daran, wenn ich unter höflichen Verbeugun-
gen tapfer zulangte und es mir schmecken ließ. Mich setzte die
Eßlust der Königin, die doch nur einen schwachen Magen hatte
und nach den Begriffen des Landes wenig aß, anfangs in das
größte Erstaunen, denn sie nahm gewöhnlich auf einen Bissen so
viel in den Mund, daß sich zwölf englische, mit gutem Appetit
versehene Pächter daran hätten sattessen können. Die Knochen
eines kleinen Vogels, der wenigstens die neunfache Größe unse-
rer Gänse hatte, zermalmte sie mit Leichtigkeit, und ohne alle
Mühe steckte sie ein Stück Brot in den Mund, so groß wie bei
uns ein Viergroschenlaib. Aus einem feingearbeiteten, silbernen
Becherchen, das einen halben Oxhoft fassen mochte, trank sie
bei jedem Schluck eine Menge, die dem Umfang eines Schweins-
kopfs gleichkam, und doch nannte man die Art der hohen Dame
zu trinken, hierzulande nur am Glase nippen. – Ihr Messer war
um ein gut Teil länger als eine am Stiele gerade geschmiedete
Sense, und Gabel, Löffel und anderes Gerät waren der Größe
des Messers entsprechend. Einst war ich neugierig, einmal eine
offene Tafel bei Hofe zu sehen, und Glumdalclitsch trug mich zu
einer solchen hin, wo ein paar Dutzend solcher Messer und Ga-
beln in beständiger Bewegung waren. Die ungeheuren funkeln-
den und blinkenden Klingen und Zacken gewährten mir aber ei-
nen so grauenhaften Anblick, daß ich niemals wieder Lust zeigte,
bei einer Hoftafel gegenwärtig zu sein. – Wie gesagt, speiste ich
gewöhnlich nur mit der Königin und den beiden Prinzessinnen
allein, am Mittwoch aber, dem Sonntag des Volks, verlangte es
die Hofsitte, daß wir in Gesellschaft des Königs und der könig-
lichen Prinzen speisten, bei welcher Gelegenheit mir der König
sehr häufig Beweise seiner hohen Gunst gab. Mein Stuhl und
mein Tisch wurden ihm nahe zur Linken neben das Salzfaß hin-
gestellt, damit er meine Stimme bequem vernehmen konnte; er
erkundigte sich gern nach den Sitten, Gewohnheiten, nach dem
Stande der Gelehrsamkeit, nach der Regierungsform und nach
der Religion in meinem Vaterlande, worüber ich dann möglichst
vollständige Auskunft gab und nicht selten Gelegenheit hatte,
wahrzunehmen, daß die Bemerkungen, die mir der König machte
und die Urteile, die er über meine heimatlichen Zustände abgab,
von einer außerordentlichen Verstandesschärfe zeugten. Eines
Tags aber brachte er mich durch die Ansichten, die er über mein
geliebtes Vaterland darlegte, sehr auf. Ich hatte weitläufig von
unseren See- und Landkriegen, unseren Religionsspaltungen und
unseren sich heftig befeindenden politischen Parteien erzählt, als
er sich schließlich lächelnd und kopfschüttelnd an seinen mit ei-
nem weißen Stabe (der Stab war ungefähr so lang wie der Haupt-
mast des englischen Linienschiffs »Royal Sovereign«) hinter ihm
stehenden Premierminister wandte und sagte: »Wie erbärmlich
und verächtlich ist doch die menschliche Größe, auf die man so
viel pocht, da sie von solch kleinen miserablen Insekten, wie
der Däumling da, nachgeäfft werden kann. Es ist Tatsache, daß
dieses kleine Gewürm ebensogut wie wir seinen Rangstolz, sei-
ne Titel und Würden hat. Es baut sich Löcher und Ameisenhau-
fen, die es Städte nennt, stolziert in prächtigen Kleidern einher,
fährt in Staatskarossen und liebt, kämpft, betrügt, verrät und
intrigiert ganz wie wir. Ich brauchte keine halbe Kompanie Sol-
daten, um das Reich dieser Däumlinge in kurzer Zeit vom Erd-
boden zu verwischen, und doch dünken sie sich die Herren der
Welt!«
In dieser Weise sprach er längere Zeit, während ich voll Un-
willen die Farbe wechselte, als ich mein edles Vaterland, so aus-
gezeichnet durch Künste und Waffen, die Herrin der Meere, den
Ruhm des Weltalls und den Schiedsrichter Europas, mit solcher
Verachtung besprechen hörte. Beinahe hätte ich den Respekt vor
Seiner geheiligten Majestät hintenangesetzt und eine derbe Er-
widerung gegeben. Allein ich besann mich noch zu rechter Zeit
und überlegte, daß ich an die Größenverhältnisse in Brobdingnag
nun einmal gewöhnt, selbst gelacht haben würde, wenn ich hier
eine vornehme Gesellschaft von Europäern sich hätte brüsten
und großtun sehen. Konnte ich es doch manchmal nicht unter-
lassen, über mich selbst zu lächeln, wenn mich die Königin auf
die Hand nahm und mit mir vor einen Spiegel trat; nichts hätte
dann so albern sein können, als ein Vergleich zwischen uns, und
es schien mir dann wirklich, als ob meine Gestalt um mehrere
Grade zusammengeschrumpft wäre.
Ich wurde bei Hofe nicht allein von den allerhöchsten Herr-
schaften, sondern von jedermann gut und liebevoll behandelt,
nur der Zwerg der Königin nahm es sich heraus, mich oft emp-
findlich zu kränken und zu ärgern. Da er nämlich so klein von
Körper war (ich glaube, er maß kaum volle dreißig Fuß), wie
man ähnliches noch nicht im Lande gesehen, so blähte sich bei
meinem Anblick sein Stolz ungemein aus, weil er mit mir vergli-
chen, für einen Riesen gelten konnte. Keine Gelegenheit ließ er
vorübergehen, um mir seine Größe und meine Wenigkeit emp-
findlich fühlbar zu machen, und immer mußte ich spitzige Wor-
te über meine »Kleinheit« hören, wofür ich mich nur dadurch
rächte, daß ich ihn »Bruder« nannte, ihn spöttisch zum Ringen
aufforderte und Erwiderungen gab, wie sie wohl Hofpagen im
Munde führen. Eines Tags ward der boshafte Knirps über eine
meiner Erwiderungen so wütend, daß er mich, ehe ich Arges
dachte, um den Leib packte, mich in eine auf dem Tische stehen-
de silberne Schale voll Milch warf und dann eiligst davonlief. Ich
plumpste infolge des heftigen Wurfs fast bis auf den Grund der
Schüssel und wäre, da Glumdalclitsch gerade nicht gegenwär-
tig und die Königin vor Schrecken ganz außer Fassung gekom-
men war, unrettbar verloren gewesen, hätte ich als vortrefflicher
Schwimmer nicht sogleich die Oberfläche wieder gewonnen und
mich über »Milch« gehalten. Mittlerweile eilte Glumdalclitsch
herbei, schöpfte mich aus dem Milchsee heraus und brachte mich,
nachdem sie mich getrocknet und gesäubert, zu Bett, damit ich
mich von meinem Schrecken erhole und mir die Erkältung nicht
schade. Der Zwerg aber erhielt eine tüchtige Tracht Prügel und
mußte zur Strafe die Milch austrinken, in die er mich gewor-
fen; zu meiner größten Freude verschenkte Ihre Majestät auch
bald den Zwerg, der seit seinem tückischen Streich ihre Gunst
verloren hatte, an eine befreundete Dame von Stande; wäre der
Kobold bei Hof geblieben, so hätte er sich wegen der erhaltenen
Prügel gewiß empfindlich an mir gerächt.
Früher schon hatte mir der Schlingel einen Streich gespielt,
der freilich harmloser war und über den die Königin zu lachen
geruhte. Ihre Majestät nämlich hatte einen Markknochen auf
den Teller genommen und stellte ihn, als sie ihn vom Marke ge-
leert, wieder aufrecht in die Schlüssel. Da benutzte der Zwerg
eine augenblickliche Abwesenheit meiner lieben Glumdalclitsch,
packte mich und steckte mich bis über den halben Leib in den
hohlen Knochen, auf welche Weise ich, wie leicht zu erach-
ten, eine sehr lächerliche Figur spielte. Der Zwerg hatte seinen
Streich so rasch und geschickt ausgeführt, daß man mich nicht
gleich vermißte, und ich schämte mich, in meiner demütigenden
Stellung um Hilfe zu schreien. Erst nach etwa einer Minute ent-
deckte mich die Königin und befreite mich aus meiner ebenso
lächerlichen als hilflosen Lage. Meine Kleider aber waren durch
den fettigen Knochen völlig verdorben. Schon damals sollte der
Tückebold fortgejagt werden, blieb aber auf meine Fürbitte und
erhielt nur eine gehörige Anzahl Peitschenhiebe. Zuweilen neck-
te mich die Königin in ihrer huldvollen Weise auch, aber das ge-
schah stets in einer harmlosen, nicht verletzenden Art. So warf
sie mir wiederholt allzu große Furchtsamkeit vor, weil ich mich
vor den Stubenfliegen fürchte, allein ich fürchtete mich eigent-
lich nicht vor diesen ekelhaften Geschöpfen, sondern scheute
nur ihren widerlichen Anblick, ihr unerträgliches Gesumm und
ihren unausstehlichen Geruch. Diese brobdingnagschen Fliegen
sind nämlich so groß wie unsere Lerchen und konnten mich da-
her, wenn sie mich umsummten oder sich gar auf meine Nase
setzten, aufs Unangenehmste molestieren, so daß ich ihnen gern
auswich, zumal ich für alle ihre Ekelhaftigkeiten ein schärferes
Auge hatte als die Eingeborenen, für die das nur mikroskopisch
da war, was ich mit bloßem Auge sah. So sah ich die Fliegen in
ihrer ganzen widerwärtigen Gestalt, ihren borstigen Haaren und
runzlichen Leibern, ja ich erblickte sogar die übelriechende, kleb-
rige Feuchtigkeit an ihren Füßen, mit deren Hilfe diese Insekten
steil an den Wänden heraufgehen und sogar, ohne herabzufallen,
an den Zimmerdecken spazieren können. Der Zwerg, der meine
Scheu vor diesen Geschöpfen bemerkt hatte, fing oft eine gan-
ze Handvoll davon und warf sie mir ins Gesicht, um mich zu
erschrecken und die Königin zu amüsieren. Ich erwehrte mich
der abscheulichen Insekten, indem ich mein Messer zog und sie
mit einem gutgezielten Hiebe, während sie durch die Luft flogen,
zerschnitt, eine Kunst, in der ich es nach und nach zu großer
Fertigkeit brachte.
Diese Art von Kunstfertigkeit sollte mir eines Tags gegen ge-
fährlichere Feinde nützlich werden. Glumdalclitsch hatte mich
einst wieder, wie sie oft an schönen sonnigen Tagen zu tun pfleg-
te, mit meiner kleinen Wohnung ans offene Fenster gesetzt, da-
mit ich mich der frischen Luft erfreute. Da summten, während ich
gerade ein Stück Kuchen zum Frühstück aß, mehrere Wespen so
groß wie Rebhühner durch mein offenstehendes Fenster in mein
Zimmer, fielen über meinen Kuchen her und trugen ihn stück-
weise fort. Andere flogen mir, wie Dudelsäcke brummend, um
den Kopf und bedrohten mich mit ihren fürchterlichen Stacheln.
Aber auf meine gegen die Fliegen erworbene Fertigkeit vertrauend,
ergriff ich mutig mein Messer, hieb ein Dutzend der Plagegeister
zusammen und schlug die übrigen in die Flucht. Den Getöteten
zog ich die wenigstens anderthalb Zoll langen Stacheln aus und
bewahrte sie mit Sorgfalt auf. Nach meiner Rückkehr schenkte
ich drei Stacheln davon der Schule zu Gresham und machte mit
den anderen einigen Naturforschern eine Freude.
Viertes Kapitel
Beschreibung des Landes, der Hauptstadt und des königlichen Palastes.
Die Reiseschachtel des Verfassers, sowie auch etwas über die äußer-
liche Beschaffenheit der Landeseinwohner. Beschreibung des Haupt-
tempels. Großartiger Anblick des königlichen Militärs.
Jetzt wäre es wohl angemessen, daß ich dem Leser eine kurze
Beschreibung des merkwürdigen Landes lieferte, in dem ich alle
die bisher erzählten Abenteuer erlebte und noch andere erleben
sollte. Freilich kann ich nur über das berichten, was ich in Brob-
dingnag selbst gesehen habe, und das beschränkt sich nur auf ei-
nen Umkreis von zweitausend Meilen. Die Königin nämlich, die
ich stets auf ihren Reisen begleitete, schränkte ihre Reise immer
auf eine Strecke von nur zweitausend Meilen ein, während der
König sein großes Reich zweimal im Jahr bis zu den Grenzen be-
reiste. Die Größe des Reiches beträgt nach genauen Messungen
sechstausend Meilen (natürlich sind geographische, nicht engli-
sche Meilen zu verstehen) in der Länge und fünftausend in der
Breite.
Eine Bergkette, deren höchste Spitzen sich bis zu dreißig Mei-
len erheben, begrenzt dieses Reich im Nordosten und schließt es
nach dieser Seite vollständig von allem Verkehr mit der Welt ab,
denn das Gebirge ist stets in so starker vulkanischer Tätigkeit,
daß die von ihm ausgehenden Steinregen und Lavaströme das
Übersteigen ganz unmöglich machen. Daher hat man auch in
Brobdingnag nicht die geringste Kunde davon, ob und welche
Menschen jenseits dieses Gebirges wohnen. An den drei anderen
Seiten wird das eine Halbinsel bildende Land vom Ozean be-
grenzt, allein so sehr sonst das Meer gerade den Verkehr vermit-
telt, so ist er doch hier ebenso abgeschnitten, wie im Nordosten
durch das Gebirge, denn die in das Meer mündenden Flüsse und
das Meer selbst bis auf Hunderte von Meilen von der Küste, sind
so sehr durch scharfe und kantige Felsen versperrt, daß auch das
kleinste Boot nicht hindurchkann und sich also die Schiffahrt nur
aus das Innere des Landes beschränkt, wo allerdings die Flüsse
von solcher Breite und Tiefe sind, daß sie die größten Fahrzeuge
tragen können.
Unter diesen Umständen erklärt es sich leicht, daß die Ein-
wohner von Brobdingnag von allen übrigen Völkern abgeschlos-
sen bleiben, weshalb auch unsere besten Geographen von dem
Dasein dieses Landes nichts wissen, ebensowenig wie die Brob-
dingnagschen Gelehrten eine Ahnung von den Europäern und
anderen uns an Größe ähnlichen Völkern haben. Die Unzugäng-
lichkeit des Meeres verhindert selbst größere Seefische, sich der
Küste zu nähern, und nur bei heftigen Stürmen zerschellt zuwei-
len ein Walfisch an den scharfen Klippen, der dann in der Regel
den Leuten aus den ärmeren Klassen zur Beute wird. Ich habe
ab und zu dergleichen gestrandete Walfische gesehen, welche
so groß waren, daß sie ein Eingeborener nur mit Mühe auf den
Schultern nach Hause tragen konnte. Zuweilen kam ein solcher
Walfisch auch auf die königliche Tafel, jedoch mehr als bloßes
Schaugericht.
Das Land ist sehr bevölkert und enthält außer einundfünfzig
Hauptstädten eine große Menge von Landstädtchen und Dör-
fern. Die Bauart und Beschaffenheit der Städte entspricht ganz
der Residenz Lorbrulgrud, weshalb es genügen wird, wenn ich
von dieser eine kurze Beschreibung gebe. Die Stadt wird von ei-
nem mächtigen Strom in zwei ganz gleiche Hälften geschieden,
deren jede fünfzigtausend Einwohner zählt. Ihre Länge beträgt
drei Glomglungs, oder vierundfünfzig englische Meilen und ihre
Breite drei und einen halben Glomglung. Das Hauptgebäude der
Stadt, der Palast des Königs, hat mit allen dazu gehörigen Ge-
bäuden einen Umfang von sieben Meilen in der Runde und bildet
sozusagen eine Stadt für sich. Seine inneren Räume sind, wie
leicht zu erachten, von ungeheurem Umfange, so daß ich mich
oft nach Durchschreitung einiger Hauptsäle recht ermüdet fühl-
te. Damit ich die Stadt bequem besehen könne, hatte die Königin
befohlen, daß man stets für mich sowie für Glumdalclitsch und
deren Gouvernante eine Kutsche in Bereitschaft halten sollte, in
welcher wir nun häufig ausfuhren und uns die Merkwürdigkei-
ten der Stadt, ihre hervorragendsten Gebäude und prachtvollen
Kaufläden besahen. Unsere Kutsche war ungefähr so breit, wie
der Platz von Westminsterhall, jedoch nicht ganz so hoch wie
der Westminster Dom. Fuhren wir an einem sehenswerten Ge-
bäude oder Monument vorbei, so nahm mich Glumdalclitsch
sorgsam auf die Hand, damit ich einen bequemen Überblick hät-
te. Auf diese Weise überblickte ich wiederholt das lebendigste
Volksgewühl und hatte Gelegenheit, Menschen aller Stände und
Berufe in ihren verschiedenen Tätigkeiten genau zu beobachten.
Ich fand auch hier in der Residenz, daß der Brobdingnagsche
Menschenschlag, wie ich bei meinem bisherigen Verkehr unter
diesen Riesen schon bemerkt, ein sehr ebenmäßig gebauter und
wohlgebildeter sei, allein für unsere Augen sind diese Riesen-
menschen das, was man »fernschön« nennt, denn betrachtete ich
die Haut auch der zartesten Damen in der Nähe, so erschrak ich
anfangs über ihre abstoßende Grobheit und Häßlichkeit. Mei-
nem für das Kleine scharfen Auge entging keine Borste und kein
Wärzchen, womit die Haut bedeckt war und selbst die von den
einheimischen Dichtern oft besungene Hand Ihrer Majestät, die
zu den schönsten und zartesten Frauen des Reichs zählte, er-
schien mir in der Weise, als wenn wir einen unserer Finger durch
ein sehr starkes Vergrößerungsglas betrachten, das alle sonst un-
sichtbaren Fleckchen, Haare und Narben auf unserer Haut bloß
legt. Bei dieser Beschaffenheit der Haut ist es nicht zu verwun-
dern, daß mir häßliche, schmutzige Menschen, wie ich sie häufig
im Marktgewühl und vor den Kirchen unter den Bettlern fand,
einen ganz scheußlichen Anblick boten. Die Königin ließ außer
meiner größeren Wohnung noch eine andere »Schachtel«, wie
sie sich ausdrückte, für mich verfertigen, die kleiner war und
nur einen Umfang von zwölf Quadratfuß und eine Höhe von
zehn Fuß hatte. In dieser wurde ich, des bequemeren Transports
wegen, mit auf Reisen genommen. Sie bildete ein Viereck, das
an drei Wänden mit Fenstern versehen war. Jedes Fenster war
mit starken eisernen Stangen verwahrt, die mindestens die Dik-
ke Brobdingnagscher Stricknadeln hatten, um auf langen Reisen
ein Unglück zu verhüten. An der vierten, mit keinem Fenster ver-
sehenen Wand befanden sich zwei dicke Krampen, durch welche
die Person, die mich trug, einen ledernen Riemen zog, den sie
um den Leib schnallte. Dies war, wenn Glumdalclitsch sich nicht
wohl befand oder sonst behindert war, immer das Amt eines ge-
treuen, zuverlässigen Dieners. Die Reiseschachtel war wie meine
andere Wohnung mit allen Bequemlichkeiten versehen, enthielt
fest in den Boden geschraubte Stühle und Tische, Hängematte
und Bett und war so gut gepolstert, daß ich, wenn ein Bedien-
ter zu Pferde mit mir ausritt oder ich in der Kutsche fuhr, keine
großen Unannehmlichkeiten, sondern etwa nur die Bewegungen
fühlte, die ein ziemlich lebhaft vom Winde getriebenes Schiff
verursacht, und an solche Bewegungen war ich ja durch meine
vielen Seereisen hinlänglich gewöhnt.
In dieser Reiseschachtel, die Glumdalclitsch bequemer als
meine größere Wohnung auf dem Schoß halten konnte, besah
ich mir auch die Stadt und ließ mich auch eines Tages zu dem
Haupttempel führen, dessen Turm der höchste und schönste im
ganzen Reich sein sollte. Allein ich fand mich doch in meinen Er-
wartungen getäuscht, denn die Höhe dieses Turmes betrug nach
oberflächlicher Schätzung vom Fuß bis zur Spitze nur höchstens
dreitausend Fuß. Ein Verhältnis zu der Größe der Einwohner,
das dem des Straßburger Münsters zu uns Europäern noch bei
weitem nicht entspricht; was jedoch dem Turm an Höhe fehlte,
ward reichlich durch seine Schönheit und Stärke ersetzt. Seine
hundert Fuß dicken Mauern sind aus sauber behauenen Quadern
erbaut, von denen jeder vierzig Quadratfuß mißt, und dabei er-
heben sich diese Mauern nicht kahl und nüchtern, sondern sind
aufs reichste durchbrochen und verziert mit den Statuen der Göt-
ter und Könige, sowie mit anderen geschmackvoll und kunst-
reich ausgeführten Ornamenten. Die Statuen mochten meist die
Größe haben wie einst der Koloß von Rhodus, denn ich fand
unter einem Schutthaufen einen von einer Figur herabgefallenen
kleinen Finger, der genau vier Fuß und einen Zoll maß. Glum-
dalclitsch wickelte den schön in Marmor ausgearbeiteten Finger
in ihr Schnupftuch und nahm ihn als ein Spielzeug mit nach
Hause.
Auch der Tempel oder die Kirche erhebt sich in großartigen,
prächtigen Verhältnissen und ist im Inneren vortrefflich geziert,
die gewölbte Decke gipfelt bis zu einer Höhe von sechshundert
Fuß und die reich ornamentierten Altäre und Bänke haben einen
Masseninhalt von Holz und Stein, daß man aus jeder Bank oder
jedem Altar bei uns zu Lande einen stattlichen Palast herstellen
könnte. Überhaupt übertrifft die Größe der Gegenstände, wie sie
in Brobdingnag gebraucht werden, alle unsere Vorstellungen. Ich
sah Öfen, die dem Umfang der St. Paulskirche zu London wenig
nachgaben. Ich will es unterlassen, den Küchenherd, die unge-
heuren Töpfe und Kessel, sowie die Fleischstücke zu beschreiben,
die man an Spießen von der Höhe unserer größten Mastbäume
briet, weil ich fürchten muß, der Übertreibung beschuldigt zu
werden.
Einen prächtigen Anblick gewährt die Gardereiterei des Kö-
nigs auf ihren fünfzig bis sechzig Fuß hohen Pferden und mit
ihren Lanzen, deren Spitzen sich bei uns in niedrig streichenden
Wolken verlieren würden. Der König nimmt immer fünfhundert
dieser Gardereiter als Bedeckung und Ehrenwache mit auf Rei-
sen; ihr Achtung und Bewunderung gebietender Anblick wird
nur dann übertroffen, wenn man einen größeren Teil des Heeres
in Schlachtordnung aufgestellt sieht, wozu ich später auch ein-
mal Gelegenheit hatte.
Fünftes Kapitel
Der Verfasser erzählt eine Reihe von Abenteuern und Gefahren, die er
zu bestehen hatte. Der Verfasser zeigt dem Hofe seine Geschicklichkeit
im Lenken und Regieren eines Boots. Er kommt in große Gefahr durch
einen Hofaffen.
Ich würde mich unter der hohen Gunst und liebevollen Fürsorge
der allerhöchsten Herrschaften ganz behaglich und glücklich in
diesem Riesenlande gefühlt haben, wenn mein nach den dorti-
gen Landesverhältnissen leider zu winziger Körper mich nicht
allzuhäufig verdrießlichen und ärgerlichen Vorfällen ausgesetzt
hätte. Um dem Leser einen richtigen Begriff von dergleichen Un-
annehmlichkeiten zu geben, will ich noch einige dieser mir oft
gefährlichen Vorfälle erzählen. So pflegte mich Glumdalclitsch
mit meiner kleinen Behausung zuweilen in den Hofgarten zu
tragen und dann ins Freie zu setzen, damit ich mich der frischen
Luft erfreue. Eines Tages folgte uns der Zwerg, der damals noch
bei Hofe war, in den Garten, wo mich Glumdalclitsch eben un-
ter einen jungen Apfelbaum an den Boden gesetzt hatte. Kaum
hatte dies der Kobold bemerkt, so schlich er heran und schüttelte
den Baum so heftig, daß die Äpfel, fast so groß wie ein Faß, mir
um die Ohren regneten und als ich mich, um ihnen auszuwei-
chen, bückte, fiel mir gerade einer so heftig auf den Rücken, daß
ich alle Viere von mir streckte; doch wurde ich glücklicherweise
durch den Fall nicht beschädigt.
Ein andermal hatte mich Glumdalclitsch, um sich mit ihrer
Gouvernante ein wenig zu ergehen, auf einem freien Rasenplatz
zurückgelassen, als sich plötzlich der Himmel umzog und sich
unter fürchterlichen Blitzen und betäubendem Donner ein Ha-
gelwetter entlud. Schon die erste faustdicke Schloße, die mich
traf, hatte mich fast betäubt und die nachsausenden Körner
zerbläuten mich bald derart, daß ich schnell das Ende des hei-
ligen Stephan gefunden haben würde, wenn ich mich nicht mit
möglichster Raschheit unter eine dichte Taxushecke geflüchtet
hätte. Ich war hinterher ganz mit Beulen bedeckt, und wäre mei-
ne Kleidung nicht von diesem Brobdingnagschen Stoff gewesen,
der mich wie ein elastischer Panzer schützte, so hätte ich keinen
heilen Knochen am Leibe behalten.
Noch gefährlicher war ein Abenteuer, das ich ebenfalls in
diesem Hofgarten bestand. Glumdalclitsch glaubte mich unter
und als ich nun meine Wasserfahrt begann, kam der Frosch her-
angeschwommen und erkletterte die eine Seite des Bootes, so
daß es durch seine Schwere aus dem Gleichgewicht kam und fast
umgestützt wäre. Der ekelhafte Gesell, bei dessen Größe seine
ganze Häßlichkeit in der widerwärtigsten Deutlichkeit erschien,
hüpfte dann einige Male über mein Gesicht hinweg, beschmutz-
te mich mit seinem ekelhaften Schlamm und machte Miene, sich
in meinem Boot häuslich niederzulassen. Glumdalclitsch eilte
herbei, um mich mit einem Stöckchen von dem häßlichen Unge-
tüm zu befreien, aber ich bat, mich nur allein gewähren zu lassen
und zählte dann dem Quackhans ein paar so tüchtige Hiebe auf
sein haarloses, schlüpfriges Fell, daß er erschrocken und grun-
zend zum Boot hinaussprang und sich eiligst in der Tiefe des
Wassers verbarg.
Weit schlimmer hätte folgendes Abenteuer für mich ausschla-
gen können. Glumdalclitsch hatte mich einst, als sie einen Besuch
zu machen hatte, in ihrem Zimmer verschlossen. Der Tag war
sehr heiß und es standen deshalb sowohl die Fenster des Zim-
mers, als auch die Tür und die Fenster meiner Wohnung, in der ich
eben, mit sehnsüchtigen Gedanken an meine Heimat beschäftigt,
an einem Tische saß, weit offen, als ich etwas in das Zimmer
plumpen hörte, und als ich von meinem Fenster mich nach dem
Geräusch umschaute, erblickte ich einen Affen, der zum offenen
Fenster hereingeklettert war und nun mit hundert Grimassen und
Kapriolen über Tische und Stühle hinwegsetzte. Ich zog mich in
den fernsten Winkel meiner Wohnung zurück, als der Affe her-
ankam und mein Häuschen von allen Seiten beschnupperte. Bald
machte mich jedoch das neugierige Tier, das die Hand durchs
Fenster gesteckt hatte, ausfindig und zog mich, indem sich mir
vor Angst und Schrecken die Haare sträubten, unterm Bett her-
vor. Nachdem mich der Affe trotz meines Widerstandes aus mei-
ner Wohnung herausgezerrt hatte, setzte er mich auf seine rech-
te Hand, schaute mir grinsend ins Gesicht und streichelte mich,
wie etwa Ammen ein Kind streicheln und beschwichtigen, ohne
mir indes ein Leid zu tun. Wollte ich mich aber loswinden und
zu entfliehen suchen, so drückte er mich so stark an sich, daß ich
Gefahr lief, alle Rippen zu brechen und ich es daher fürs klügste
hielt, mich geduldig in mein Schicksal zu ergeben. Aus seinen
fortgesetzten ekelhaften Liebkosungen ging hervor, daß er mich
für einen jungen Affen hielt. Plötzlich scheuchte ihn ein im Zim-
mer entstehendes Geräusch auf, und ich hoffte schon, er würde
mich loslassen und entfliehen, als die Sache erst recht gefährlich
für mich wurde. Der Affe sprang zwar zum Fenster hinaus, aber
nicht ohne mich mitzunehmen, er drückte mich mit seiner Pfote
fest an sich, erkletterte das Dach und spazierte nun zu meinem
Grausen mit mir auf den Ziegeln und in den Dachrinnen umher.
Ich hörte wie Glumdalclitsch, die ins Zimmer getreten war und
das den Affen verscheuchende Geräusch verursacht hatte, laut
aufschrie, als sie mich in der entsetzlichen Gefahr sah. Das arme
Mädchen verlor beinahe den Verstand; der ganze Palast geriet
in Aufruhr, Diener kamen mit Feuerleitern. Der Affe ward von
Hunderten vom Hofe betrachtet, wie er auf dem Dachfirst saß,
mich wie ein Kind mit der einen Pfote streichelte und mit der
anderen – Entsetzen und Ekel sträuben noch mein Haar, wenn
ich daran denke – fütterte; er nahm nämlich kurz vorher gekau-
ten Zwieback aus seinen Backentaschen und stopfte mir ihn mit
Gewalt in den Mund. Der unten versammelte Pöbel lachte über
meine Lage, aber mir war sie wahrlich schrecklich genug. Einige
warfen Steine auf das Dach, um den Affen zu vertreiben, allein
das ward sogleich streng untersagt, weil ich durch solch einen
Stein auch leicht getroffen werden konnte.
Endlich wurden Leitern angelegt, und von verschiedenen Sei-
ten kletterten Menschen zu meiner Rettung hinauf. Als der Affe
dies bemerkte und sich umringt sah, ließ er mich auf einen Dach-
ziegel fallen, um mit dem freien Gebrauch aller vier Hände so
schnell als möglich entwischen zu können. So saß ich denn auf
dem in der Sonnenglut brennenden Dachziegel wohl fünfhun-
dert Ellen über dem Erdboden und fürchtete jeden Augenblick,
vom Winde herabgeweht zu werden, als endlich ein mutiger Jun-
ge, kühn zu mit herkletternd, mich erreichte, in seine Hosenta-
sche steckte und glücklich herunterbrachte.
Ich war an den gekäuten Zwiebackskrumen, die mir der Affe
in den Mund gesteckt, beinahe erstickt, und Glumdalclitsch hat-
te Mühe, mir meinen Mund mit einer Nadel von den ekelhaften
Speiseresten zu leeren, dann erbrach ich heftig und wurde zu Bett
gebracht, das ich infolge des ausgestandenen Schreckens und der
durch die Zärtlichkeit des Affen mir beigebrachten Quetschun-
gen vierzehn Tage lang hüten mußte. Der König und die Königin,
sowie der ganze Hofstaat erzeigten mir viel Teilnahme und lie-
ßen sich täglich nach meinem Befinden erkundigen.
Als ich wieder genesen war und dem König einen Besuch
machte, um mich für seine Teilnahme und Güte zu bedanken,
fragte er mich mit leichtem Spott, welche Betrachtungen ich
wohl angestellt hätte, als mich das Tier in seinen Pfoten gehabt,
wie mir die so zärtlich gereichte Speise geschmeckt habe und
ob mein Appetit nicht durch die frische Luft auf dem Dache ge-
schärft worden sei. Er möchte wissen, was ich bei dieser Gele-
genheit in meinem Vaterlande getan haben würde. »Majestät,«
erwiderte ich etwas erregt, »in Europa haben wir nur Affen, die
als Merkwürdigkeit aus anderen Weltteilen hingebracht werden
und sie sind im Verhältnis zu uns so klein, daß ich wohl mit
einem ganzen Dutzend fertig werden würde, wenn sie Miene
machten, sich an mir zu vergreifen. Auch würde ich, wenn ich
nicht die Geistesgegenwart verloren und mich meines Degens
erinnert hätte, jenem elefantengroßen einheimischen Affen neu-
lich tüchtig eins über die Tatze gegeben und ihn in die Flucht
geschlagen haben.« Diesen in festem Ton gesprochenen Worten
suchte ich dadurch Nachdruck zu geben, daß ich mit drohender
Miene meine Hand an den Degen legte, allein meine mannhafte
Gebärde und meine kühne Rede riefen nur ein lautes Gelächter
hervor.
Solchem Gelächter und Spott setzte mich oft mein unter
Europäern nie bezweifelter Mut aus; so stiegen einst auf einer
Spazierfahrt Glumdalclitsch und ihre Gouvernante mit mir aus
dem Wagen, damit ich mich ein wenig auf einer schönen Wie-
se erginge, die im frischesten Smaragdgrün meilenweit vor uns
ausgebreitet lag. Auf dem Wiesenpfad, den wir betraten, lag ein
Haufen Kuhdünger, und ich konnte es, um den Damen meine
Keckheit und Behendigkeit zu zeigen, nicht unterlassen, den Ver-
such zu machen, mit einem kühnen Ansatz hinüberzuspringen.
Allein der Fladen war doch für meine Sprungkraft viel zu weit
ausgebreitet, ich sprang zu kurz und geriet gerade in der Mitte
bis über die Knie hinein. Die Damen ließen über meine komische
Situation ihrer Lachlust alle Zügel schießen, aber ich hätte vor
Wut und Scham vergehen mögen. Ein Bedienter zog mich endlich
aus der unsauberen Geschichte heraus, reinigte mich so gut es
gehen wollte und Glumdalclitsch verschloß mich, noch immer
lachend, in meine Reisewohnung, um mit mir zu vollständigerer
Reinigung nach Hause zurückzukehren. Wer den Schaden hat,
darf bekanntlich für den Spott nicht sorgen, und so hatte ich
denn von der Königin und den Hofdamen, denen Glumdalclitsch
die Sache ausgeschwatzt hatte, noch lange Neckereien über den
unangenehmen Vorfall zu ertragen.
Sechstes Kapitel
Der Verfasser erfreut den König und die Königin durch Anfertigung
von Nippsachen. Er gibt einen Beweis von seinem musikalischen Ta-
lent. Der Verfasser berichtet dem König eingehend über Zustände
und Einrichtungen Englands. Des Königs kritische Bemerkungen zu
diesem Bericht.
auch wirklich die Verwunderung aller, die sie erblickten. Sie Kö-
nigin wünschte einst, ich möchte mich auf einen dieser Stühle
setzen, allein ich erwiderte verbindlich, ich wolle lieber sterben,
als mich auf die allerhöchsten Haare Ihrer geheiligten Majestät
setzen; eine rücksichtsvolle Artigkeit, die von der Königin sehr
hoch aufgenommen wurde. Auch verfertigte ich aus diesen Haa-
ren eine niedliche kleine Börse, von nur fünf Fuß Länge, die ich
mit Einwilligung der Königin meiner Glumdalclitsch schenkte.
Die Börse war freilich nicht stark genug, um größere landesübli-
che Münzen zu tragen, und Glumdalclitsch bewahrte sie deshalb
unter ihrem Spielzeug auf.
Der König, der die Musik sehr liebte, ließ häufig Konzerte
bei Hofe aufführen, zu denen man mich bisweilen, um mir eine
Freude zu machen, in meiner Schachtel herbeiholte. Ich hatte
aber keine Freude an dem Lärm der riesigen Instrumente, der so
furchtbar war, daß ich kaum die Melodien unterschied und ge-
nötigt wurde, mir die Ohren zuzuhalten. Ich bin der festen Über-
zeugung, daß alle Trommeln und Trompeten der englischen Ar-
mee keinen Lärm hervorbringen können, der jenem gleichkäme.
Ich ließ deshalb bei späteren Konzertbesuchen meine Schachtel
gewöhnlich so weit als möglich von dem Ort entfernen, wo die
Musikanten saßen, schloß Tür und Fenster und zog die Fenster-
vorhänge zusammen. Alsdann fand ich, daß die Musik gar nicht
unangenehm war, zumal wenn ich sie noch dadurch dämpfte,
daß ich mir die Hände flach auf die Ohren drückte.
Glumdalclitsch erhielt wöchentlich zweimal Unterricht auf
einem Instrument, das große Ähnlichkeit mit unserem Klavier
hatte und in der gleichen Art mit den Fingern gespielt wurde.
Da ich nun in meiner Jugend ein wenig Klavierspielen gelernt
hatte, so kam mir der Einfall, den König und die Königin mit
einer englischen Melodie auf diesem Instrument zu erfreuen.
Um die Unterhaltung, auf welche die Majestäten sehr gespannt
waren, zustande zu bringen, bedurfte es aber erst der Überwin-
dung vieler Schwierigkeiten von meiner Seite, denn das Klavier
war beinahe sechzig Fuß lang und jede Taste einen Fuß breit, so
daß ich mit ausgebreiteten Armen nicht über fünf Tasten greifen
konnte. Auch das Herunterdrücken der Tasten wäre mir zu
schwer geworden, darum erfand ich folgendes Auskunftsmittel.
Ich schnitzte mir ein paar tüchtige, oben mit einem Knopf ver-
sehene Knüttel, um die ich Werg wand, so daß sie das Ansehen
Liebe zur Wahrheit allein hat mich verhindert, die eben erzähl-
ten groben Auslassungen des Königs über mein Vaterland zu un-
terdrücken. Es tat mir, und so wird es gewiß jedem Leser gehen,
tief in der Seele weh, mein herrliches Vaterland so geschmäht
zu hören und ich hätte guten Grund gehabt, auf den König recht
böse zu sein, wenn ich mir bei näherer Überlegung nicht gesagt
hätte, daß man dem König manches schiefe Urteil nachsehen
müsse, weil seine Erziehung und Lebenserfahrung dadurch, daß
Brobdingnag von allen anderen Nationen abgeschlossen ist, eine
einseitige und beschränkte sein mußte. Diese Beschränktheit
trat recht klar zutage, als ich, um seine Aufmerksamkeit wieder
auf großartige Erfindungen und Einrichtungen hinzulenken, die
man in dem abgeschlossenen Brobdingnag nicht kannte, eines
Tages erzählte, daß man in Europa vor drei- oder vierhundert
Jahren ein Pulver erfunden habe, das der kleinste Feuerfunke un-
ter Donnergekrach zu den verderblichsten Wirkungen anfachen
könne. Wenn man eine bestimmte Menge dieses Pulvers in eine
eiserne Röhre stopfe, so treibe es, nachdem es entzündet, eine
darauf gepflanzte eiserne oder bleierne Kugel mit solcher Gewalt
vorwärts, daß alles, was der Kugel in den Weg käme, niederge-
schmettert würde. Die größeren dieser Kugeln vermöchten nicht
allein ganze Reihen eines Heeres niederzustrecken, sondern
auch Mauern einzureißen und ganze Städte und Flotten zu zer-
trümmern. Mir wären, fuhr ich fort, die Bestandteile, aus denen
man dies vernichtende Pulver verfertige, genau bekannt, auch
könne ich, wenn Seine Majestät befehle, seinen Eisenarbeitern
und Erzgießern Anweisung geben, wie sie solche Menschen und
Städte zertrümmernde Röhren herzustellen hätten. Im Besitze
eines solchen Pulvers und solcher Röhren könne Seine Majestät
jede Stadt, die es sich einmal herausnehmen sollte, sich den Be-
fehlen des Königs zu widersetzen, in wenigen Stunden in einen
Trümmerhaufen verwandeln. Gern sei ich bereit, Seiner Majestät
die Anweisung zur Herstellung dieser mächtigsten und unüber-
windlichsten Waffe zu geben, weil ich dadurch auch einen klei-
nen Tribut meiner Dankbarkeit abtragen könnte, für die vielen
Beweise der königlichen Huld und Gnade, die ich hier am Hofe
erfahren hätte.
Der König aber, anstatt sich über meinen Antrag zu freuen,
zog die Stirne in die ernstesten Falten zusammen und sagte mit
einer Miene des Widerwillens und des tiefsten Abscheues: er er-
staune, wie ein so schwaches, kriechendes Insekt, wie ich, solch
grausame und unmenschliche Gedanken hegen könne. Die-
se scheußlichen Mordmaschinen, von denen ich so ganz ohne
Schauder wie von den gleichgültigsten Dingen spräche, müsse
wohl irgend ein böser Geist, ein unversöhnlicher Feind der Men-
schen erfunden haben. Wenn mir mein Leben lieb sei, so solle
ich nie wieder von solch unmenschlichen Erfindungen reden, er
wolle lieber sein Königreich verlieren, als sich näher mit solchen
Scheußlichkeiten bekannt machen.
Da sehe man nun die einseitigen und beschränkten Ansichten
eines Fürsten, der sonst bei hohen Geistesgaben und durch sei-
ne anerkennenswerten Tugenden der Abgott seines Volkes war!
Seine einseitige Erziehung und Bildung ließ ihn Gewissensbe-
denken hegen, von denen kein gebildeter Europäer einen Begriff
hat und so ließ er sich die beste Gelegenheit entgehen, sich zum
unumschränkten Herrn über Leben, Freiheit und Vermögen sei-
ner Untertanen zu machen!
Solch beschränkte Ansichten wie der König hatten auch in
politischen Dingen seine Räte und Gelehrten, woraus ich den
Schluß zog, daß in Brobdingnag die Politik noch nicht zur Wis-
senschaft entwickelt sei, während dies in Europa durch scharf-
sinnige Männer längst geschehen ist. Den Wert einer solchen
Wissenschaft sah der König sehr geringschätzig an, denn als ich
einst erwähnte, daß wir Tausende von Büchern über die Regie-
rungskunst und über die Art und Weise, wie die Untertanen am
besten unterm Fuße zu halten seien, besäßen, meinte er, das
könne ihm keine große Meinung von unserem Verstande bei-
bringen, es gehöre nicht viel Klügelei dazu, um herauszubringen,
wie man gerecht zu regieren habe, der Regierende habe sich nur
vom gesunden Menschenverstande und von Gerechtigkeit und
Menschenfreundlichkeit leiten zu lassen, das reiche vollkommen
aus und mache große Lehrbücher darüber unnötig.
Da die wichtige Wissenschaft der Politik ganz ausfällt, so
kann man sich leicht vorstellen, daß die Literatur in Brobding-
nag überhaupt eine nur mangelhafte ist. Die Brobdingnagschen
Bücher handeln allein von Moral, Geschichte, Poesie und Mathe-
matik, geben aber allerdings in diesen Fächern Vorzügliches. Nur
ist bei der Behandlung der Mathematik zu tadeln, daß man sich
lediglich auf die angewandte Mathematik und ihren Nutzen für
das praktische Leben beschränkt.
Die geschriebenen Gesetze des Landes, das muß man zuge-
ben, zeichnen sich durch kurze Fassung und durch Deutlichkeit
aus, kein Gesetz darf in Worten die Zahl der Buchstaben des Al-
phabets überschreiten und dieses besteht nur aus zweiundzwan-
zig Lautzeichen. Die Klarheit der Gesetze läßt daher bei Prozes-
sen keine krausen Auslegungen und Vieldeuteleien zu, weshalb
dieses Volk auch keine Kommentare oder nähere Erklärungen
über die Gesetze besitzt.
Die Buchdruckerkunst ist in Brobdingnag schon lange bekannt
und wird ähnlich wie in China ausgeübt, doch wirft man bei
weitem nicht eine so große Anzahl von Büchern auf den Markt,
wie bei uns, woher es auch kommt, daß die Bibliotheken nicht
groß sind. Die des Königs, die für die größte im Reiche gehalten
wird, beträgt nicht über tausend Bände, die in einer Galerie von
eintausendzweihundert Fuß Länge aufgestellt sind. Ich hatte die
Erlaubnis, mir Bücher aus dieser Bibliothek in Glumdalclitschs
Zimmer kommen zu lassen; um sie aber lesen zu können, muß-
te mir der Tischler eine fünfundzwanzig Fuß hohe Doppelleiter
machen, die ich dann, nachdem das Buch aufgeschlagen an die
Wand gelehnt war, erstieg, und Stufe um Stufe herabsteigend, die
Zeilen bequem überlas. Manche dieser Bücher enthielten Lehren,
die unseren besten Philosophen alle Ehre machen würden und
waren meistens in einem sehr klaren und jedermann verständli-
chen Stil geschrieben, eine löbliche Eigenschaft, die bekanntlich
vielen unserer Moralisten und Philosophen abgeht. Es bleibt mir
bei meiner kurzen Übersicht Brobdingnagscher Einrichtungen
noch übrig, etwas über das dortige Militär zu sagen. Die könig-
liche Armee besteht aus hundertsechsundsiebzigtausend Mann
Infanterie und zweiunddreißigtausend Mann Kavallerie. Diese
Armee ist aber lediglich aus Bürgern und Bauern zusammenge-
setzt und wird von Leuten aus den gebildeten Ständen einexer-
ziert und befehligt. Sold wird nicht gezahlt, weil man der An-
sicht ist, es sei jedes Staatsbürgers selbstverständliche Pflicht und
Schuldigkeit, dem Vaterlande zu dienen.
Ich habe häufig den Waffenübungen der Miliz von Lorbrul-
grud, die auf einer ungeheuren Ebene vor der Stadt stattfanden,
zugesehen und ich muß gestehen, daß mir Großartigeres noch
nicht vorgekommen ist. Ein Reiter auf seinem Pferde mochte bis
zur Spitze seines Helms reichlich neunzig bis hundert Fuß mes-
sen. Wenn einige Schwadronen dieser Kavallerie auf Kommando
die Säbel zogen, in der Luft schwangen und im Galopp zu ei-
nem Scheinangriff ansetzten, so schien es, als ob die funkelnden
Klingen als ebensoviele Blitze die Luft durchschnitten, und das
gab einen Anblick, wie ihn sich die lebendigste Einbildungskraft
nicht großartiger ausmalen kann.
Es war mir anfangs unerklärlich, weshalb der König, dessen
Reich doch die Natur schon gegen jeden Feind abgeschlossen hat,
einer Armee bedürfe und sein Volk an den Kriegsdienst gewöhne.
Doch wurde ich bald gesprächsweise und auch durch das Lesen
Brobdingnagscher Geschichtsschreiber belehrt, daß das Volk vie-
le Menschenalter hindurch in Bürgerkriege verwickelt gewesen
war, weil Herrschsucht des Adels und der Könige einerseits und
Unabhängigkeitssinn des Volkes andererseits zu Parteiungen
und Ausschreitungen geführt hatten. Der letzte Bürgerkrieg war
indes schon zu den Zeiten des Großvaters des jetzt regierenden
Königs durch einen Vergleich beigelegt, und die Miliz bestand
nur fort nach alter Gewohnheit und zum Schutze der Gesetze
und der Verfassung des Landes.
Achtes Kapitel
Der Verfasser begleitet den König und die Königin auf einer Reise. Er
wird auf wunderbare Weise dem Lande entrückt und kehrt in sein
Vaterland zurück.
Plötzlich stieß sie so heftig auf einen harten Gegenstand, daß ich
zu Boden stürzte und schon besorgte, an einer Klippe gescheitert
zu sein. Doch mein schwimmendes Häuschen hielt zusammen
und bald hörte ich auf dem Deckel deutlich ein Geräusch, wie
von angezogenen Tauen. Jetzt steckte ich in der Hoffnung, daß
mein seltsames Fahrzeug von Menschen entdeckt sei und durch
ein Tau herangezogen werde, nochmals den Stock mit meinem
Schnupftuch zum Loch hinaus und schrie mich fast heiser nach
Hilfe. – O welch ein unnennbares Entzücken durchströmte mich,
als ich jetzt als Antwort auf meinen Ruf ein dreimaliges kräfti-
ges Hurra vernahm! Zugleich hörte ich ein heftiges Getrampel
auf dem Deckel meiner Schachtel und eine Männerstimme rief
in englischer Sprache laut durch das Luftloch: »Ist jemand hier
in dem Kasten, so gebe er sich zu erkennen!« – »Um Gottes wil-
len, kommt mir sogleich zu Hilfe,« rief ich zurück, »ich bin ein
Engländer und durch ein wunderbares Mißgeschick in diese selt-
same und gefährliche Lage geraten.« – »Seid nur ruhig, Mann,«
rief die Stimme von oben, »Euer Fahrzeug liegt fest an unserem
Schiff, gleich wird unser Zimmermann kommen und ein Loch in
die Decke sägen, das groß genug ist, um Euch ans Licht zu brin-
gen.« – »Ei, macht doch nicht so viel Umstände und Weitläufigkei-
ten, lieben Leute,« entgegnete ich, »es darf ja nur jemand seinen
Finger durch den Ring stecken, den Ihr auf dem Deckel meiner
Schachtel seht, um mich mit Leichtigkeit an Bord zu heben!«
Nach diesen Worten hörte ich die Leute laut auflachen und
schloß aus einigen Bemerkungen, die ich auffing, daß sie mich
für verrückt hielten.
Indes kam der Zimmermann und sägte ein Loch in mei-
ne Schachtel, das groß genug war, um einen Mann hindurch-
zuziehen. Dann warf man mir eine Strickleiter hinab, ich
bestieg sie und befand mich nach wenigen Minuten äußerst
schwach und bis zum Umfallen matt an Bord eines englischen
Kauffahrers.
Hunderte von Fragen, die von den erstaunt mich anstarrenden
Leuten an mich gerichtet wurden, konnte ich vorderhand wegen
meiner Schwäche und Müdigkeit nicht beantworten. Auch hin-
derte mich selbst Staunen und Überraschung am Sprechen, als
ich mich von so vielen Zwergen umwimmelt sah, denn mein
Auge war ja seit Jahren an die ungeheuersten Größenverhältnis-
se gewöhnt. Der Kapitän des Schiffs, Thomas Wilcock, ein men-
schenfreundlicher Mann, mußte wohl einsehen, daß mir Ruhe
und Erquickung vor allen Dingen Not taten. Er führte mich dar-
um in seine Kajüte, erquickte mich durch ein Glas guten spani-
schen Weines und sprach mir zu, daß ich mich auf sein Bett legen
und ein paar Stündchen ruhig schlafen möchte. Ich befolgte ger-
ne den freundlichen Rat, bat aber, ehe ich mich niederlegte, den
Kapitän, er möge doch freundlichst Sorge für meine Hausrat und
Wertsachen enthaltende Schachtel tragen, und einem Matrosen
befehlen, daß er sie in die Kajüte bringe. Der Kapitän, dem ich
mit meinen an Brobdingnagsche Verhältnisse gewöhnten Augen
und unfähig, mich gleich in die neuen Zustände zu finden, zumu-
tete, einen Kasten von zwölf Quadratfuß Umfang und zehn Fuß
Höhe durch einen Matrosen in die Kajüte tragen zu lassen, sah
mich mit bedenklichem Kopfschütteln an und hielt mich ohne
Zweifel für toll. Doch sprach er mir gütig zu, ich möchte mich
nur niederlegen und gehörig ausruhen, er werde schon für die
Bewahrung meines Eigentums Sorge tragen.
Der Kapitän erteilte dann sogleich Befehl, daß meine Stühle,
Bettstelle und andere Habseligkeiten aus dem Kasten aufs Schiff
befördert wurden, ließ auch von dem seltsamen Fahrzeug einige
brauchbare Bretter und Balken loslösen und aufs Schiff bringen
und den dann nutzlosen Rumpf ins Meer versenken.
Inzwischen erquickte mich ein anhaltender Schlaf, aus dem
ich endlich über Traumbildern erwachte, die mir meine liebe
Glumdalclitsch, das von mir verlassene, wunderbare Riesenland
und die zuletzt bestandenen Gefahren aufs lebhafteste vorführ-
ten. Als der Kapitän eintrat, mich wachend sah und sich teil-
nehmend nach meinem Befinden erkundigte, konnte ich ihm
die Versicherung geben, daß ich mich vollkommen wohl und
gestärkt fühlte. Darauf ließ Herr Wilcock das Abendessen auf-
tragen und bat mich, sein Gast zu sein. Anfangs betrachtete er
mich mit etwas mißtrauischen Augen, indem er nach meinen
früheren Äußerungen glaubte, mein Verstand habe gelitten, als
er aber sah, daß ich wie ein anständiger Mann aß und vernünf-
tig und zusammenhängend redete, bat er mich, ihm einen Be-
richt von meiner Reise zu geben und ihm zu erklären, wie ich
in die seltsame, ungeheure Kiste geraten und mit dem plumpen,
untauglichen Fahrzeug ins Meer gekommen sei. Ich fragte ihn
zunächst, auf welche Weise er die Kiste entdeckt und mir Ret-
tung verschafft habe. »Nun, das ist ganz einfach,« meinte er, »ich
stand etwa um zwölf Uhr mittags auf Deck und glaubte durch
mein Fernrohr ein Segel zu entdecken, als aber Ihre Kiste näher
kam, erkannte ich meinen Irrtum und ließ das Langboot ausset-
zen, um durch einige meiner Leute den mir unerklärlichen Ge-
genstand untersuchen zu lassen. Diese kamen alsbald mit allen
Zeichen des Schreckens und Erstaunens zurück und berichteten,
es sei ein schwimmendes Haus. Ich glaubte, die Leute seien über
ihre Ration Rum hinausgegangen und nicht recht bei Verstande,
begab mich selbst in das Boot und ließ ein starkes Tau mitneh-
men. Darauf untersuchte ich Ihre Behausung genau, und als ich
die Krampen daran entdeckte, ließ ich das Tau hindurchziehen
und Ihre Schachtel, wie Sie seltsamerweise diese kolossale Kiste
nennen, zum Schiff schleppen. Am Bug des Schiffes angekom-
men, ließ ich ein anderes Tau durch den Ring auf der Decke zie-
hen und versuchte die Kiste durch Rollen und Flaschenzüge in
die Höhe heben zu lassen, allein die vereinigten Kräfte meiner
ganzen Mannschaft vermochten das Ungeheuer nur drei Fuß zu
heben; sodann sahen wir ihren Stock mit dem Schnupftuch und
schlossen daraus, daß irgend ein nach Rettung Verlangender in
dem merkwürdigen Behälter stecken müsse.«
Ich hörte diese Erklärung des Kapitäns aufmerksam an und
fragte darauf, ob er oder seine Leute nicht beim ersten Erblik-
ken der Schachtel ein paar ungeheuer große Vögel in der Luft
bemerkt hätten?
»Jawohl,« erwiderte er, »einer meiner Leute wenigstens hat
mir erzählt, er habe zur Zeit der Entdeckung der Kiste in be-
trächtlicher Höhe drei Adler nach Norden fliegen sehen; von ih-
rer auffallenden Größe aber hat er nichts bemerkt.«
Ich konnte mir diese Augentäuschung leicht aus der ungeheu-
ren Entfernung der Vögel erklären und fragte, wie weit wir wohl
vom festen Lande entfernt wären? Er antwortete: nach der ge-
nauesten Berechnung etwa fünfzig Stunden. Ich gab ihm die Ver-
sicherung, er müsse sich wenigstens um die Hälfte irren, denn
ich hätte das Land, woher ich gekommen sei, höchstens zwei
Stunden vor meinem Niederfallen ins Meer verlassen. Diese Be-
hauptung brachte den Kapitän doch wieder auf den Gedanken,
daß es bei mir im Oberstübchen spuken müsse und er meinte:
»Es scheint, werter Freund, daß Sie sich von Ihren Unglücksfäl-
len und Strapazen doch noch nicht wieder recht erholt haben, es
wird gut sein, wenn Sie wieder zu Bett gehen und noch eine
Zeitlang der Ruhe pflegen.«
»O nein, verehrtester Herr,« entgegnete ich eifrig, »ich bin so
gesund und munter wie ein Fisch und bei vollem Verstande, las-
sen Sie uns nur noch ein paar Stündchen verplaudern, es wird
Ihnen alles klar werden.«
Herr Wilcock schüttelte indes wiederholt den Kopf, sah mich
mit einem durchdringenden Blick an und sagte dann sehr ernst.
»Mein Herr, seien Sie offen und aufrichtig gegen mich. Sie haben
sich sicherlich in einem fremden Lande, wo es Sitte ist, Misse-
täter ins Meer auszusetzen und dem Hungertode preiszugeben,
eines schweren Verbrechens schuldig gemacht und wurden zur
Strafe in jene Kiste verschlossen. Es ist mir nun freilich nicht
lieb, einen so bösen Mann an Bord genommen zu haben, denn
Sie werden wissen, wie wir Seefahrer darüber denken; ich bin
zwar nicht abergläubisch, aber wenn meine Matrosen erfahren,
daß ich einen schweren Verbrecher an Bord genommen habe, an
dessen Fersen sich Fluch und Unglück für das Schiff heften, so
kann ich Sie schwerlich dagegen schützen, über Bord geworfen
zu werden. Seien Sie aufrichtig gegen mich, Mann, erleichtern
Sie Ihr Gewissen und geben Sie mir ein offenes Bekenntnis, dann
gebe ich Ihnen mein Ehrenwort, über die Sache zu schweigen
und Sie an der ersten besten Küste auszusetzen. Ihr sonderbares
Betragen, Ihre scheuen Blicke und verworrenen Reden rechtferti-
gen nur zu sehr meinen Argwohn und ich verlange nun vollkom-
mene Aufrichtigkeit von Ihnen.«
Im Bewußtsein meiner Unschuld schlug ich aus Verwunde-
rung über diesen Argwohn die Hände über meinem Kopf zu-
sammen und bat dann den Kapitän, mich eine Weile geduldig
anzuhören, dann würde er bald von seinem Irrtum zurückkom-
men und einsehen, daß ich ein ehrenhafter, wahrheitsliebender
Mann bei völligem Verstande sei. Nachdem er zustimmend ge-
nickt, erzählte ich ihm nun meine ganzen Schicksale von dem
Augenblick an, wo ich England zum letztenmal verlassen, bis
auf mein Abenteuer mit dem Riesenadler, und unterstützte die
Glaubwürdigkeit meiner Erzählung dadurch, daß ich aus mei-
nem in die Kajüte geschafften Schrank mehrere Brobdingnagsche
Landesprodukte hervornahm und sie dem erstaunten Kapitän
vorlegte. Ich zeigte ihm einen goldenen Ring vom kleinen Finger
der Königin, die ihn mir einst in huldvoller Laune geschenkt und
wie ein Hundehalsband über den Kopf geworfen hatte. »Neh-
men Sie, Herr Kapitän,« sagte ich, »diesen Ring von mir als ein
Zeichen meiner Dankbarkeit für meine Lebensrettung und die
mir erwiesene Menschenfreundlichkeit.« Sodann zeigte ich ihm
meinen Kamm aus den Bartstoppeln des Königs, meine Wespen-
stacheln und ein Hühnerauge, das ich einst mit eigener Hand von
der kleinen Zehe einer Hofdame abgeschnitten hatte. Es war von
der Dicke eines großen Apfels und so hart geworden, daß ich es
nach meiner Ankunft in England aushöhlen, mit Silber einfassen
ließ und als Becher gebrauchte. Als ich ihm auch noch meine aus
Mäusefellen verfertigten Beinkleider und meine übrigen Merk-
würdigkeiten gezeigt hatte, ergriff der Kapitän meine Hand, bat
mir seinen Argwohn ab und versicherte, daß er nun vollkommen
von der Glaubwürdigkeit meiner Aussagen überzeugt sei. Den
Ring gab mir der bescheidene Mann als ein zu wertvolles Ge-
schenk wieder zurück, und da ich darauf bestand, er müsse sich
durchaus etwas zum Andenken aus meinen Sachen wählen, so
begnügte er sich mit dem Zahn eines Bedienten, der diesem einst
von einem ungeschickten Zahnarzt statt eines schadhaften Zah-
nes in Glumdalclitschs Zimmer ausgezogen worden war.
Der Kapitän hatte von dieser Zeit an einen großen Respekt
vor mir, da ich ein Mann von Erfahrungen und Erlebnissen war,
mit denen sich die seinigen nicht im Entferntesten messen konn-
ten, und er ließ es sich angelegen sein, mich zu überreden, daß
ich doch gleich nach meiner Ankunft in England meine Erleb-
nisse niederschreiben und zum Besten der wißbegierigen Welt
durch den Druck veröffentlichen möchte. Wie der geneigte Leser
sieht, habe ich den Rat des braven Mannes befolgt, muß indes
um Entschuldigung bitten, wenn meine Reisebeschreibung nicht
so viel des Erstaunlichen und Wunderbaren über fremde Länder
und Völker bietet, als andere Reisebeschreibungen, womit all-
jährlich der Büchermarkt überschwemmt wird. Auf ein Verdienst
stolz zu sein, möge mir dafür der geneigte Leser gestatten, es ist
dies, daß ich mich bei meinen Berichten immer der strengsten
Wahrheitsliebe beflissen habe.
Eines Tages machte der Kapitän die Bemerkung, warum ich
denn beim Sprechen immer so laut schreie, ob vielleicht der Kö-
nig und die Königin von Brobdingnag harthörig gewesen seien?
Ich erklärte ihm, daß ich seit zwei Jahren an eine so laute Spra-
che gewöhnt sei, weil ich oft, um mich verständlich zu machen,
so laut habe reden müssen, wie etwa jemand in England, der
zu einem aus einem Kirchturmfenster herausblickenden Mann
hinaufrede. Es hänge mir eben noch sehr viel von den Riesenge-
wohnheiten an, und habe ich zumal anfangs hier im Schiff alles
mit anderen Augen angesehen. So seien mir die Matrosen als
die winzig kleinsten Geschöpfe vorgekommen, die ich je erblickt
hätte. »Ah,« meinte der Kapitän, »nun ist mir auch Ihr seltsames
Benehmen beim Essen erklärlich. Sie pflegen da fast jeden Ge-
genstand zu belachen, wahrscheinlich weil er Ihnen so klein vor-
kommt.« – »Allerdings!« erwiderte ich, »muß es mir nicht höchst
komisch vorkommen, wenn ich Schüsseln von der Größe eines
Silberdreiers, eine Schweinskeule von der Größe eines Lerchen-
flügels und einen Becher nicht größer als einen Fingerhut erblik-
ke!« – Obgleich mir nämlich, wie der Leser weiß, die Königin, als
ich in ihren Diensten stand, einen vollkommenen Hausrat und
ein für mich passendes Besteck hatte machen lassen, so hatten
sich meine Ideen doch nach den Verhältnissen meiner Umgebung
gebildet und ich war mir über meine eigene Kleinheit unklar, wie
es die meisten Menschen über ihre Fehler sind. Woher es auch
kam, daß ich mich nach meiner Rückkehr für wunder wie groß
hielt und mich wie ein Brobdingnagscher Riese aufblähte.
Kapitän Wilcock kam von Tongking und war auf seiner Rück-
kehr nach England in den vierundvierzigsten Grad nördlicher
Breite und den hundertdreiundvierzigsten Grad östlicher Länge
verschlagen worden. Zwei Tage nach meiner Aufnahme an Bord
erhob sich ein Passatwind; wir segelten zuerst südlich, dann der
Küste von Neuholland entlang, hierauf Südsüdwest, bis wir das
Kap der Guten Hoffnung umfuhren. Unsere Reise wurde durch
keinen Unfall gestört, und am 3. Juli 1706, gerade neun Monate,
nachdem man mich an Bord genommen, langten wir in den Dü-
nen an. Ich bot dem Kapitän einen Teil meiner Güter als Bezah-
lung für die Überfahrt an, allein er lehnte aufs entschiedenste ab,
schüttelte mir beim Abschied die Hand, und versprach, meiner
Einladung zu folgen und mich in meiner Wohnung zu Redriff zu
besuchen, wenn er alle seine Geschäfte abgewickelt habe.
Als ich mir nun ein Pferd aus dem Erlös eines kleinen Teils
meiner Sachen gekauft hatte und meinem Wohnorte zutrabte,
erschienen mir Bäume, Häuser, Menschen und Vieh so klein,
daß ich mich allen Ernstes nach Liliput zurückversetzt glaubte.
Reise in das
Land der
Hauyhnhnms
Erstes Kapitel
Der Verfasser wird Schiffskapitän und tritt abermals eine Seereise
an. Seine Leute meutern und setzen ihn an einer unbekannten Küste
aus. Auf seiner Reise in das Innere des Landes trifft er auf Yähus und
sodann auf zwei Hauyhnhnms.
Ich hatte nach meiner letzten Reise unter den glücklichsten Ver-
hältnissen einige Zeit in meiner Familie gelebt, als meine unbän-
dige Reiselust wieder erwachte und ich trotz der Tränen und des
Widerstandes meiner Frau mich entschloß, abermals eine Seerei-
se anzutreten. Teil an diesem meiner Familie so schmerzlichen
Entschlusse hatte, ich muß es aufrichtig gestehen, meine Eitel-
keit, denn man hatte mir, meine nautischen Kenntnisse berück-
sichtigend, das schmeichelhafte und vorteilhafte Anerbieten ge-
macht, als Kapitän die Führung des »Abenteurers«, eines großen
Kauffahrers von dreihundertfünfzig Tonnen zu übernehmen.
Das Amt eines Kapitäns war mir überdies auch aus dem Grunde
angenehm, weil ich es müde war, ferner noch als Wundarzt zur
See tätig zu sein, und ich nahm deshalb auch einen jungen ge-
schickten Mann, namens Robert Purefoy, an Bord, damit er die
wundärztlichen Geschäfte versehe.
Wir gingen am 7. September 1710 von Portsmouth aus in See
und hatten anfangs eine glückliche Fahrt. Aber in den tropi-
schen Gegenden angekommen, wurde meine Mannschaft zum
Teil von hitzigen Fiebern aufgerieben und ich sah mich genötigt,
Matrosen in Barbados und auf den Inseln unter dem Winde an-
zuwerben, wo ich sowieso nach dem Auftrage der Reeder an-
legen mußte. Nur zu bald aber nahm ich mit Schrecken wahr,
daß die meisten der Neuangeworbenen ehemalige Flibustier oder
Seeräuber waren. Diese Schurken verführten bald durch Verspre-
chungen und Drohungen auch meine übrigen Leute und bildeten
eine Verschwörung, um sich des Schiffes zu bemächtigen und
mich unschädlich zu machen. Eines Morgens stürzten sie in
meine Kajüte, banden mich an Händen und Füßen und drohten,
mich über Bord zu werfen, wenn ich den geringsten Widerstand
versuchte. Ich nahm mir, weil ich wußte, daß es doch nichts hel-
fen konnte, nicht einmal die Mühe, den Elenden ihr schändliches
Betragen vorzuwerfen und sagte, ich müsse der Gewalt weichen
und sei ihr Gefangener. Darauf mußte ich ihnen einen Eid leisten,
daß ich mich als ehrlicher Gefangener halten wolle, und als ich
diesen Eid abgelegt, nahmen sie mir zwar die Banden wieder ab,
fesselten aber meine Füße an meine Bettstelle und befahlen ei-
ner vor meiner Tür aufgestellten Schildwache, sofort auf mich zu
schießen, wenn ich den Versuch machen sollte, mich zu befreien.
Es war die Absicht der Bösewichter, ihr altes Seehandwerk wie-
der zu treiben und, nachdem sie noch mehr Mannschaft an sich
gezogen, Jagd auf spanische Schiffe zu machen. Zuerst aber woll-
ten sie die Güter des Schiffes verkaufen und segelten deshalb in
die indischen Gewässer, weil sie hier den besten Markt dafür zu
finden hofften. Wochenlang war ich ihr Gefangener und wurde
zu verschiedenen Malen mit dem Tode bedroht.
Am 9. Mai 1711 kam ein gewisser James Welch zu mir und
sagte, er habe vom jetzigen Kapitän des Schiffes Befehl erhalten,
mich ans Land zu setzen. Ich wollte einige nähere Auskunft über
das mir bereitete Schicksal haben, aber er ließ sich auf nichts
ein und wollte mir nicht einmal den Namen dessen nennen, den
er Kapitän zu nennen beliebte. Man trieb mich an, sofort das
Langboot zu besteigen und gestattete mir, meinen besten Anzug
und ein Bündel Wäsche, doch, außer meinem Degen, keine Waf-
fe mitzunehmen. Meine Taschen, in denen ich Geld, Messer und
einige auf den Geschmack der Wilden berechnete Spielereien
bewahrte, ließen sie undurchsucht. Nach einer Fahrt von einer
Stunde setzten sie mich an einem Strande aus, und auf meine
Frage, was das für ein Land sei, in das sie mich geführt hätten,
schwuren sie, daß sie es selbst nicht wüßten. Ich erfuhr nichts
weiter, als daß der sogenannte Kapitän beschlossen habe, sich
meiner beim ersten besten Lande zu entledigen, sobald die La-
dung verkauft sei; das sei jetzt geschehen und darum sei ich hier,
ich solle nur machen, daß ich rasch fort und landeinwärts kom-
me, sonst würde mich die Flut überraschen.
Betrübten Herzens wanderte ich in das unbekannte Land
hinein und dachte daran, im Fall ich Wilden und Kannibalen
begegnen sollte, meine Sicherheit mit einigen Armbändern und
Glasringen zu erkaufen, die ich bei mir trug. Ich fand indes, daß
das Land nicht ohne Kultur war, namentlich fielen mir schöne
Wiesen und gutbeackerte Haferfelder auf, auch entdeckte ich vie-
le Spuren von Menschenfüßen und Kuhhufen, am meisten aber
fanden sich Spuren von Pferdehufen, und ich kam deshalb auf
die Vermutung, daß dieses Land wohl von einem Reitervolk be-
wohnt sein müsse.
Ich ging vorsichtig zwischen einigen Baumgruppen immer
tiefer ins Land hinein und entdeckte unter einer solchen Baum-
gruppe und zugleich auf ihren Zweigen eine Anzahl häßlicher
Tiere, die ich zunächst für Affen oder für Faultiere hielt; als ich sie
aber, hinter einem Busche liegend, länger und genauer betrach-
tete, erschienen sie mir als eine eigentümliche Art von höchst
widerwärtiger Häßlichkeit. Sie hatten Bärte wie Ziegenböcke
und zumeist einen langen Streifen Haar auf dem Rücken und
an den Schenkeln. Der übrige Teil ihres Körpers war unbehaart
und zeigte eine schmutzig-braune Haut. Auf Bäume kletterten
sie behend wie die Affen, wobei ihnen ihre starken, scharfen
Klauen sehr zustatten kamen. Übrigens fiel es mir auf, daß diese
Tiere ungeschwänzt waren. Die Weibchen waren nicht so groß
als die Männchen und trugen langherabhängendes Haupthaar,
das bei allen, sowie auch bei den Männchen nicht von gleicher
Farbe, sondern bald braun, bald rot, bald schwarz oder gelb war.
Niemals auf meinen ganzen Reisen erinnerte ich mich, Tiere ge-
sehen zu haben, die einen so ekelhaften abstoßenden Eindruck
machten, wie diese. Ich wollte mich daher dem unangenehmen
Anblick sobald wie möglich entziehen und folgte einem betrete-
nen Weg, weil ich hoffte, er würde mich zu der Hütte eines Ein-
geborenen bringen. Kaum aber hatte ich einige Schritte getan, als
mir eines jener häßlichen Geschöpfe in den Weg trat. Es machte
eine widerliche Grimasse und hob, ich weiß nicht zu welchem
Zwecke, seine Vorderpfote auf; ich aber zog, um das ekelhafte
Tier zu verscheuchen, meinen Degen und gab ihm einen tüchti-
gen Hieb mit der flachen Klinge über den Rücken, worauf es laut
heulend davonlief. Dies Geschrei wirkte wie ein Alarmsignal,
denn sogleich prasselte und krachte es in allen Büschen und Bäu-
men, und wenigstens fünfzig der widerlichen Geschöpfe stürz-
ten auf mich los. Meinen Degen gegen sie schwingend, lehnte
ich mich gegen einen Baum, um meinen Rücken zu decken; die
feigen Tiere griffen mich nicht an in dieser Stellung, kletterten
aber zu Dutzenden auf den Baum und beschmutzten mich aus
ihrem sicheren Versteck derart mit ihrem Unrat, daß ich hätte
vor Ekel vergehen mögen. Mit einem Male aber flohen sie – ich
begriff die Ursache nicht – so plötzlich und rasch davon, als ob
der Blitz zwischen sie geschlagen sei. Ich verließ nun den Baum,
verfolgte den eingeschlagenen Weg weiter und sah mich nach
allen Seiten um, indem ich nach der Veranlassung suchte, die den
Tieren einen solchen Schrecken eingejagt haben möchte. Gewiß
dachte ich, war es ein mit einem Schießgewehr bewaffneter Ein-
geborener, doch entdeckte ich weit und breit niemand, und end-
lich blieben meine suchenden Blicke auf einem Pferde haften, das
gemächlich daherspazierte. Da rings in der Runde weiter kein
lebendes Wesen zu sehen war, so mußte wohl dies Pferd die Ur-
sache jener plötzlichen Flucht gewesen sein.
Das Pferd schien äußerst zahm zu sein. Es kam auf mich zu,
stutzte zwar etwas bei meinem Anblick, trat dann aber näher
und betrachtete mich aufmerksam mit allen Zeichen des Erstau-
nens. Ich dachte bei mir, es sei sicher ein sehr gut geschultes
Pferd eines Eingeborenen, die hier also nicht ohne Kultur und
Geschicklichkeit sein können, und wollte mit diesem Gedanken,
das Pferd weiter nicht beachtend, meinen Weg verfolgen, als das
schöne Tier dicht vor mich hintrat, um mich mit verdoppelter
Aufmerksamkeit zu betrachten. Ich erhob nun meine Hand, um
seinen Hals zu streicheln und pfiff dabei, wie die Reitknechte zu
tun pflegen, wenn sie ein fremdes Pferd anlocken und ihm schön-
tun wollen. Allein – so etwas war mir doch in meinem ganzen
Leben nicht vorgekommen! – das Tier wies kopfschüttelnd und
mit deutlicher Verachtung meine gutgemeinten Schmeicheleien
zurück. Alsdann wieherte es drei- oder viermal in so verschiede-
nen, fast artikulierten Tonarten, als spräche es eine Sprache.
Gleich nach diesem Gewieher kam ein anderes Pferd herbei,
nickte dem ersteren zu und erhob wie zur Begrüßung den Vor-
derfuß. Darauf gingen die beiden Tiere einige Schritte zurück, als
wollten sie sich miteinander beraten, spazierten nebeneinander
her, rückwärts und vorwärts, wie Menschen, die sich über eine
wichtige Angelegenheit unterhalten, wobei sie häufig ihre Blicke
auf mich wandten, als wollten sie mich bewachen. Ich war vor
Verwunderung über dies Benehmen ganz außer mir und dachte:
nun, wenn in diesem Lande selbst die unvernünftigen Tiere so
viel Intelligenz zeigen, so bist du bei den menschlichen Bewoh-
nern sicher gut aufgehoben. Ich schickte mich deshalb zum Ge-
hen an, um sobald wie möglich auf diese ausgezeichneten Men-
schen zu stoßen, allein das Pferd, dem ich zuerst begegnet war,
ein hübscher Schecke, wieherte so ausdrucksvoll und drohend,
daß ich unwillkürlich stehen blieb. Nun kamen beide Pferde
heran, besahen wiederum aufmerksam mein Gesicht und meine
Hände und nickten einander zu. Dann tastete mir der Scheck
sanft mit dem Vorderhuf auf dem Kopf umher und verschob mir
dadurch den Hut, so daß ich genötigt war, ihn abzunehmen und
wieder zurechtzusetzen, worüber beide Pferde höchst erstaunt
schienen. Das andere, ein Kastanienbrauner, befühlte nun meine
Rockschöße und als er fand, daß sie locker um meinen Körper
herumhingen, wechselten beide wieder neue Zeichen der Ver-
wunderung. Der Braune streichelte auch meine rechte Hand und
schien die weiße Farbe und Zartheit zu bewundern, drückte sie
aber so stark zwischen Huf und Fesselgelenk, daß ich laut auf-
schreien mußte, worauf er mich sofort losließ.
Im allgemeinen war das Benehmen dieser Tiere so anstän-
dig und vernünftig, daß ich schon anfing, an Märchen zu glau-
ben, und nicht anders meinte, als ich habe Menschen vor mir,
die durch einen Zauberer in Pferde verwandelt seien, oder durch
Zauberkraft sich selbst verwandelt hätten. In dieser Meinung
hielt ich etwa folgende Anrede an sie: »Meine Herren, wenn
Sie Zauberer sind, wie ich zu vermuten Grund habe, so müssen
Sie jede Sprache verstehen können. Ich bin darum so frei, Euer
Gnaden wissen zu lassen, daß ich ein armer, unglücklicher Eng-
länder bin, der durch Mißgeschick an dieses Land verschlagen
wurde. Deshalb bitte ich einen von Ihnen, mich seinen Rücken
besteigen zu lassen, und mich nach einer Ortschaft zu Menschen
zu bringen, wo ich Hilfe und Unterstützung finden kann. Aus
Erkenntlichkeit für Ihren Dienst werde ich Ihnen dies Messer
und dieses Armband geben.« Ich hatte beides zuvor aus meiner
Tasche gezogen. Die Pferde hatten mir mit großer Aufmerksam-
keit zugehört und wieherten nun so lange miteinander, daß ich
überzeugt war, sie sprächen eine Sprache, die in ein Alphabet
von weit größerer Einfachheit als das Chinesische aufgelöst wer-
den könnte. – Sehr häufig gebrauchten sie bei ihrer Unterredung
das Wort Yähu, dies merkte ich mir und rief, als sie schwiegen,
wiederholt Yähu! Yähu! Darauf trat mir der Scheck mit beifälli-
gem Kopfnicken näher und wiederholte dasselbe Wort, jedoch
Als ich mich mit dem Pferde wieder auf den Weg machte und
wir etwa anderthalb Stunden gegangen waren, kamen wir an ein
scheunenartiges Haus, dessen niedriges Dach mit Stroh gedeckt
war. Das Pferd gab mir ein Zeichen, zuerst in das Haus zu treten,
und ich fand einen Raum, der von nackten Wänden eingeschlossen
war, an denen man Tröge und Krippen aufgestellt hatte. Hier sah
ich mehrere Pferde, die sich teils in sitzender Stellung unterhielten,
teils häuslichen Geschäften nachgingen, so daß mir wieder der Ge-
danke kam, ein Volk, das unvernünftige Tiere so sehr zu zivilisie-
ren verstehe, müsse notwendig alle Nationen der Welt an Weisheit
übertreffen. Der Braune war mir unmittelbar gefolgt, wieherte laut
und schien den anderen Pferdepersonen Befehle zu erteilen. Dar-
auf winkte er mir, ihm zu folgen, und führte mich in einen kleine-
ren Raum, in dem ich die menschlichen Bewohner vermutete, und
etwas zaghaft mein zu Geschenken bestimmtes, wertloses Gerät
hervorzog, nämlich zwei Messer, drei Armbänder von Glasperlen,
einen kleinen Spiegel und ein Halsband von Glaskorallen.
Der Braune wieherte mit besonderer Betonung, und ich glaub-
te schon, er wolle sich dadurch den menschlichen Bewohnern
bemerklich machen. Ich vernahm jedoch keine menschliche
Stimme, sondern nur eine Antwort in dem gleichen Dialekt, die
aber etwas heiserer klang. Das wunderbare Benehmen der Pferde
und meine ganze seltsame Umgebung ließen mich nach und nach
an meinem Verstande zweifeln, ich versuchte darum folgerichtig
über ein philosophisches Problem nachzudenken, und da mir
dies leidlich gelang, so beruhigte ich mich über die Gesundheit
meines Verstandes, meinte aber, ich liege wohl in einem tiefen
Schlaf und träume alle die seltsamen Dinge, die ich sah und hör-
te. Ich rieb mir die Augen und kniff mich in die Arme und in die
Seiten, um mich zu erwecken, erreichte aber damit nichts weiter,
als daß ich mich überzeugte, ich müsse vollkommen wach und
alles, was ich sah und hörte, Wirklichkeit sein. Der Braune riß
mich durch einen energischen Wink aus diesen Betrachtungen
und führte mich in einen dritten, eleganter ausgestatteten Raum,
dessen Boden mit schön geflochtenen Strohmatten belegt war,
auf denen zwei Stuten edelster Rasse mit zwei Füllen saßen.
Der Braune, ein Hengst, der hier der Herr im Hause zu sein
schien, stellte mich den Stuten vor, worauf sich eine dieser Pfer-
dedamen erhob, genau mein Gesicht und meine Hände betrach-
tete und dann mit einem unbeschreiblich verächtlichen Blick, na-
serümpfend, das Wort Yähu aussprach. Dieses dem Leser schon
bekannte Wort, dessen Bedeutung ich aber damals noch nicht
verstand, ward nun mehrere Male wiederholt. Sodann forderte
mich der Hengst wie unterwegs mit den Worten: huun! huun! auf,
ihm weiter zu folgen, und führte mich über den Hof in ein Stall-
gebäude, in dem ich drei jener scheußlichen Geschöpfe wieder-
fand, die mir zuerst in diesem Lande begegnet waren. Sie waren
mit gedrehten Weidenruten an Krampen gebunden und verzehr-
ten ihre aus übelriechendem Fleisch und Mohrrüben bestehende
Nahrung aus ihren haarigen und schmutzigen Vorderpfoten.
Der Herr-Hengst befahl nun einem etwas schäbigen Klepper,
der Stallknecht zu sein schien, das größte der häßlichen Tiere
aus dem Stall und auf den Hof zu ziehen. Sodann wurde ich mit
dem Scheusal zusammengestellt, und nachdem Herr und Diener
unsere Gesichtszüge und Gestalt verglichen, sprachen sie einan-
der zunickend wiederum das Wort Yähu aus.
Es ist schwer, meinen Schrecken und meinen Abscheu zu be-
schreiben, als ich jetzt nach genauerer Betrachtung in der neben
noch in tiefem Schlaf, bloß mit dem Hemd bekleidet, auf mei-
ner Streu, und erwachte erst, als der Diener durch wiederholtes
Scharren seine Gegenwart anzeigte. Unbeschreibliche Verwun-
derung malte sich auf seinem Gesicht, als er mich kleiderlos, in
einer ganz anderen Gestalt als sonst vor sich sah. Flugs lief er zu
seinem Herrn und gab ihm den verworrenen Bericht, ich sei ein
Doppelyähu, könne mich in mehrere Gestalten verwandeln und
meine Haut abstreifen. Als ich mich angekleidet hatte und zu
meinem Herrn ging, fragte dieser sogleich, was das bedeute, daß
ich, wie sein Diener berichte, im Schlafe ein anderes Geschöpf sei,
als im Wachen, er könne nicht recht aus der verworrenen Mittei-
lung seines aufs höchste verwunderten Dieners klug werden.
Ich erklärte ihm nun, daß in dem Weltteil, woher ich gekom-
men, mein ganzes Geschlecht sich teils des Anstandes wegen
und teils um sich gegen Hitze oder Kälte zu schützen, mit künst-
lichen Hüllen bedecke. Da ich bemerkte, daß ihm meine Erklä-
rung nicht recht faßlich war, bat ich ihn, mich zu entschuldigen,
wenn ich ihm unanständig erscheinen sollte, ich könne ihm aber
nur dadurch einen deutlichen Beweis meiner durch Kunst herge-
stellten gewöhnlichen Erscheinung geben, wenn ich mich nackt
auszöge. Ich entkleidete mich nun vor den verwunderten Augen
meines Herrn, der jede meiner Bewegungen mit der größten Auf-
merksamkeit verfolgte; er nahm ein Stück meiner Kleider nach
dem anderen mit dem Fußgelenk auf, betrachtete es genau und
streichelte dann sanft meinen nackten Leib. Das Resultat seines
Betastens und Beobachtens war aber kein anderes, als daß er zu
meinem großen Verdruß sagte, er wisse nun, daß ich ein voll-
kommener Yähu sei, ich unterscheide mich nur von den übrigen
meines Geschlechtes durch die Weiße und Glätte meiner Haut
und durch die etwas abweichende Form meiner Vorder- und Hin-
terklauen. Er habe genug gesehen und ich möge nur meine frem-
den Häute wieder anlegen.
Ich bat ihn, die Benennung Yähu, dieses mir so ekelhaften ver-
haßten Tieres doch nicht auf mich anzuwenden und meine künst-
liche Umhüllung für sich als ein Geheimnis zu bewahren. Was er
auch versprach und redlich hielt, so daß das Geheimnis erst spä-
ter offenkundig wurde, als ich genötigt war, meine abgenutzten
Kleider durch neue zu ersetzen, die ich mir selbst anfertigte.
Täglich wiederholte mein Herr seine Erkundigungen nach der
Art und Weise, wie ich ins Land gekommen sei, und nach den
Sitten und Einrichtungen meiner Mityähus. Je geläufiger mir nun
die Landessprache wurde, desto mehr konnte ich ins Einzelne
gehen, mußte aber, um ihm manches, wofür er keinen Begriff
hatte, recht klar zu machen, doch die Gebärdensprache zu Hilfe
nehmen. So erklärte ich ihm die Bewegung des großen hölzernen
Gefäßes, in dem ich übers Meer gekommen sei, dadurch, daß ich
vor seinen Augen mein Schnupftuch wie ein Segel aufblies.
Ich sagte ihm, ich wolle genau über meine Heimat berich-
ten, wenn er mir verspräche, nicht ärgerlich zu werden, denn
ich habe ihm manches mitzuteilen, was sicherlich keinen guten
Eindruck auf ihn machen würde. Als er mir nun seinen Huf dar-
auf gegeben, daß er mir nichts übelnehmen wolle, sagte ich, in
meinem Vaterlande, sowie in allen Ländern, die ich durchreist
hätte, seien die Yähus allein die vernünftigen und regierenden
Tiere; darum sei ich hier bei meiner Ankunft so erstaunt gewe-
sen, daß die Hauyhnhnms als vernünftige Geschöpfe handelten
und die Yähus sich wie das Vieh betrügen. Ich gestand ein, daß
ich den Yähus in jedem Teile meines Körpers gleiche, daß ich mir
jedoch ihre ausgeartete und viehische Natur nicht erklären kön-
ne. Wenn ich jemals das Glück haben sollte, in mein Vaterland
wieder zurückzukehren, um meine Reise hierher, zu erzählen, so
würde jeder glauben, ich erzähle etwas, was es gar nicht gäbe.
Ich müsse bei aller Achtung, die ich für ihn, seine Familie und
Freunde hege, offen gestehen, daß meine Landsleute schwerlich
glauben würden, ein Hauyhnhnm sei hier das vernünftige und
herrschende Geschöpf und der Yähu das Vieh.
Viertes Kapitel
Der Verfasser berichtet seinem Herrn über die Hauyhnhnms in sei-
nem Vaterlande, sowie über europäische Zustände im allgemeinen.
Sein Bericht wird von seinem Herrn nicht gebilligt. Auch die weitere
Fortsetzung dieses Berichts erhält den Beifall des Herrn nicht.
und je näher die Verwandtschaft ist, desto größer ist auch die
Neigung zum Zwist. Krieg ist unter allen Umständen eine Ehren-
sache, deshalb wird auch das Handwerk eines Soldaten für das
allerehrenvollste gehalten. Ein Soldat ist nämlich ein Yähu, der
gemietet wird, um möglichst viele Exemplare seiner Gattung, die
ihn nie beleidigt haben, mit kaltem Blute zu töten.
Auch gibt es bettelhafte Fürsten oder Oberyähus von Klein-
staaten in Europa, deren Macht zu klein ist, um selbst Kriege zu
führen, und die deshalb ihre Truppen an reichere Nationen ver-
kaufen. Für den Erlös bauen sie sich dann Paläste, legen Spring-
brunnen an, halten sich Tänzerinnen und andere, das zivilisierte
Leben angenehm machende Dinge«.
Hier unterbrach mich mein Herr wieder und meinte: »Nichts
kann einen besseren Beweis dafür geben, daß Ihr nichts weiter
als unvernünftiges Vieh seid, als wenn sich alles so verhält, was
Ihr mir vom Krieg und seinen Ursachen erzählet. Es ist bei Eurer
Unvernunft nur ein glücklicher Umstand, daß Ihr infolge Eurer
mangelhaften Körperbildung nicht viel Unheil anrichten könnt;
denn Euer Mund ist zu klein und flach, um damit gehörig bei-
ßen, und die Nägel an Eueren Klauen sind zu kurz und weich,
um gefährlich damit zerreißen zu können. Mit Euch verglichen
sind schon unsere Yähus besser bewaffnet, und ein einziger von
ihnen würde mit seinen scharfen Klauen ein Dutzend von den,
wie Ihr sagt, Euch gleichenden, europäischen Yähus vor sich her-
treiben können. Deshalb müßt Ihr etwas gesagt haben, was es
nicht gibt, wenn Ihr erzähltet, daß durch die Kriege Millionen
getötet würden.«
Ich mußte zu dieser naiven Unwissenheit meines Herrn lä-
cheln und beeilte mich, ihm eine Beschreibung von unseren
furchtbaren Waffen und Geschützen, sowie von unseren Belage-
rungen, Angriffen, Minen, Bombardements und Seeschlachten
zu geben, bei denen oft tausend Mann haltende Schiffe durch die
Kraft des Pulvers in die Luft flögen, so daß die abgerissenen und
zerschmetterten Glieder wie ein Hagelwetter niederregneten.
Ferner gab ich ihm eine möglichst anschauliche Beschreibung
von den Schrecken des Schlachtfeldes, dem Fluchen und Toben
der Führer, dem Geheul und Gewimmer der Sterbenden und
Solchen verwerflichen Menschenhandel trieben auch noch nach Swifts
Zeiten mehrere kleine Fürsten im achtzehnten Jahrhundert.
Verwundeten, von dem Rauch, dem Lärm, der Verwirrung, von
Flucht, Verfolgung und Sieg; wie die Felder alsdann mit Leichen
bedeckt seien als Futter für Wölfe, Hunde und Raubvögel. »Ich
selbst«, fügte ich hinzu, »habe gesehen, daß bei einer Belagerung
durch eine Pulvermine wenigstens hundert Feinde in die Luft ge-
sprengt wurden, und eine mehr als doppelte Zahl ist vor meinen
Augen aus einem zerschmetterten Kriegschiff aufgeflogen und
hat mit ihren herabfallenden blutigen Gliedern zum Ergötzen der
Zuschauer weit und breit die ganze See rot gefärbt«.
Ich wollte noch mehr ins Einzelne gehen, aber mein Herr be-
fahl mir zu schweigen und äußerte: er fürchte, sein Ohr möge
sich an die schändlichen Worte und Scheußlichkeiten gewöhnen,
wenn ich davon noch weiter erzählte, es sähe allerdings alles,
was ich erzählt habe, einem so nichtswürdigen Geschöpf wie
einem Yähu ähnlich, dennoch glaube er kaum, daß die Yähus
seines Landes die viehische Wildheit und Mordlust bis zu diesem
Grade treiben könnten. Obgleich er die Yähus seines Landes ver-
achte und verabscheue, so tadle er sie wegen ihrer Eigenschaften
ebensowenig, wie er einen Gnnahyh (Raubvogel) wegen seiner
Grausamkeit, oder einen scharfen Stein, weil er seinen Huf rit-
ze, tadeln könne. Wenn aber ein Geschöpf, das, wie die europä-
ischen Yähus, Anspruch auf Vernunft mache, dennoch Fähigkeit
zu solchen Scheußlichkeiten besitze, so besorge er, die Verderbnis
dieser Eigenschaften werde noch schlimmer sein, als die bloß tie-
rische Roheit. Er sei deshalb vollkommen überzeugt, daß wir an-
statt der Vernunft, nur irgend eine Eigenschaft besäßen, die sich
dazu eigne, unsere natürlichen Laster zu vermehren, so wie der
Widerschein einer gestörten Wasserfläche das Bild eines schlecht
gebildeten Körpers nicht allein größer, sondern auch verzerrter
wiedergebe. – Vom Kriege zu erzählen sollte ich also aufhören
und auf andere europäische Dinge übergehen, von denen er sich
freilich, nach dem, was er bisher von mir gehört, auch nicht viel
Gutes vorstellen könne.
Ich ging nun zunächst auf eine Beschreibung unserer berühm-
ten Gerichtshöfe über, erzählte ihm von Zivil- und Kriminalpro-
zessen, von dem Scharfsinn und der Zungenfertigkeit unserer
Advokaten, die aus Schwarz Weiß und aus Weiß Schwarz zu
machen wüßten, und eine außerordentliche Gewandtheit darin
hätten, Dinge zu erzählen, die es nicht gäbe; durch welche Kün-
ste sie viel Geld verdienten.
Da stieß ich aber bei meinem Herrn auf eine große Schwie-
rigkeit, mich verständlich zu machen, denn es wollte mir lan-
ge nicht gelingen, ihm einen auch nur annähernden Begriff von
Geld und den Stoffen zu geben, woraus es gemacht wird. Als
mir dies endlich doch einigermaßen gelungen war, fuhr ich fort:
»Hat nun ein Yähu einen ziemlichen Vorrat von dieser glänzen-
den Geldsubstanz, so kann er sich dafür alles anschaffen, was
er zu besitzen wünscht, wie schöne Häuser, Kleider, köstlich
zubereitete Speisen und Getränke. Deshalb glauben unsere Yä-
hus, von diesem Gelde nie genug haben zu können, und jagen
ihm umso eifriger nach, je mehr sie bereits davon besitzen. Der
Reiche macht vermöge dieses kostbaren Geldes den Armen zum
Sklaven und genießt die Früchte seiner Arbeit. Die Zahl die-
ser Reichen verhält sich zu der der Armen wie eins zu tausend,
und die Masse unseres Volkes wird gezwungen, jeden Tag um
geringen Lohn zu arbeiten, damit wenige im Überfluß leben
können.«
Mein Herr begriff nicht, warum alle europäischen und eng-
lischen Yähus nicht gleichen Teil an den Erzeugnissen der Erde
hätten und was ich mit den köstlich zubereiteten Speisen und
Getränken sagen wolle. Hierauf beschrieb ich ihm eine Menge
teurer und feiner Gerichte, die nicht anders beschafft und zu-
bereitet werden könnten, als daß man Schiffe nach allen Welt-
gegenden aussende, um fremde eßbare Waren und Flüssigkeiten
zum Trinken einzukaufen. Ich gab ihm die Versicherung, der
ganze Erdkreis müsse umschifft werden, bevor ein vornehmer
weiblicher Yähu in England ein Frühstück oder ein Geschirr dazu
bekommen könne.
Dann müsse ja mein Vaterland, meinte mein Herr, ein ganz
elender Erdwinkel sein, da es seinen Einwohnern keine genügen-
de Nahrung bieten könne, und es ihm sogar an Wasser mangle,
so daß wir genötigt seien, uns Getränk über See zu holen.
Ich benahm ihm seinen Irrtum, indem ich ihm erklärte, daß
Wasser hinlänglich da sei, daß es aber als ein Viehgetränk verach-
tet würde und von den Yähus erst dann genossen werde, wenn
es gebrannt sei und dadurch eine betäubende, geistverwirrende
und zu allerlei Torheiten führende Kraft gewinne. Auch mach-
ten wir Getränke von ähnlicher Wirkung aus Baumfrüchten und
holten eine aus gewissen Beeren gewonnene, wohlschmeckende
Flüssigkeit von den südlicher wohnenden Yähus. Unser Land sei
keineswegs arm und unfruchtbar, aber um die Unmäßigkeit oder
den Luxus unserer männlichen und die Eitelkeit unserer weib-
lichen Einwohner zu befriedigen, schickten wir den größeren
Teil unserer Erzeugnisse in andere Länder und erhielten dafür
Materialien, die Krankheiten, Laster und Torheiten herbeiführ-
ten. Aus der Unmäßigkeit, dem Luxus, der Eitelkeit, den Lastern
und Torheiten ergebe sich die notwendige Folge, daß ein gro-
ßer Teil unserer Yähus gezwungen werde, seinen Lebensunter-
halt durch Betteln, Rauben, Stehlen, Morden, Betrügen, Lügen,
Falschschwören, Verführen, Fälschen, Spielen, Schwatzen und
Klatschen zu suchen. – Es kostete mich indes unendliche Mühe,
einen jeden dieser Ausdrücke meinem Herrn verständlich zu
machen.
Auf den Beerensaft oder Wein wieder zurückkommend, er-
wähnte ich, daß er von uns sehr geschätzt und von unseren
Dichtern besungen sei, weil er uns munter und lebhaft mache,
melancholische Gedanken verscheuche und, über den Durst ge-
nossen – ein für meinen Herrn ganz unerklärlicher Umstand – aus-
schweifende Ideen und wunderliche Phantasien im Hirn erzeuge,
bis endlich seine Wirkung uns unfähig zum Gebrauch unserer
Glieder mache und in einen tiefen Schlaf versenke, aus dem wir
in einem elenden, kranken Zustande zu erwachen pflegten.
Alsdann erzählte ich von Leuten bei uns, die ein Geschäft dar-
aus machten, Krankheiten zu vertreiben und sich Ärzte nennten.
Diese gingen, und auch wohl nicht mit Unrecht, von dem Grund-
satz aus, daß die meisten Krankheiten aus Unmäßigkeit und
Überfüllung des Magens entständen, deshalb strebten sie dahin,
ihn von seinem Überfluß zu leeren, und beauftragten einen ge-
wissen Sudelkoch, Apotheker genannt, aus Kräutern, Mineralien,
Gummi, Ölen, Wurzeln, Salzen, Pflanzensäften, Seegräsern, Ex-
krementen, Baumrinden, Schlangen, Kröten, Fröschen, Spinnen,
Fleisch und Knochen von toten Menschen, Vögeln und Fischen
eine Mischung zu bilden, die für den Geschmack und Geruch so
ekelhaft wie möglich gemacht werde, so daß sie der Magen so-
gleich mit dem äußersten Widerwillen wieder auswerfe.
Als ich erwähnte, daß durch Unmäßigkeit und Laster erzeug-
te Krankheiten sich besonders häufig bei unseren Personen höch-
sten Standes und dem hohen Adel einstellten, unterbrach mich
mein Herr wieder und bemerkte, das sei ihm meinetwegen sehr
auffallend, da ich wegen meiner Gestalt, Farbe, Reinlichkeit und
leidlich anständigen Betragens die einheimischen Yähus weit
übertreffe, und deshalb selbst wohl von einer edleren oder wie
ich sage adeligen Familie unter diesen Tieren abstammen müsse.
Auch sei es wahrscheinlich eine Folge dieser meiner edleren Ab-
kunft, daß ich die Fähigkeit habe zu sprechen und einige Grane
von Vernunft in so hohem Maße besitze, daß ich bei allen seinen
Bekannten für ein Wundertier gelte.
Ich sagte meinem Herrn den verbindlichsten Dank für die
gute Meinung, die er von mir hege, fügte aber hinzu, daß ich
keineswegs die Ehre hätte, hochgeboren zu sein, sondern nur
ein Kind niederen Standes wäre. Übrigens scheine er von unse-
rem höheren Adel eine etwas zu vorteilhafte Meinung zu haben.
Unsere jungen Lords wüchsen von Kindheit an in Faulheit und
Üppigkeit auf und beschäftigten sich, je älter sie würden, desto-
mehr mit unmäßigem Essen, Trinken, Spielen, Wetten, Hahnen-
kämpfen, Fuchsjagden und sonstigen Allotriis, was man Sport
nenne. Ein schwacher und kranker Körper, die Folge ihrer Un-
mäßigkeit und Ausschweifungen sei das untrügliche Zeichen
der adeligen Geburt, und ein robuster Körperbau mit einem
Gesicht von gesunder Farbe werde von diesem Stande als eine
Eigenschaft von Stallknechten und Kutschern mit Verachtung
angesehen. Die Seele des größten Teils dieses Adels entspreche
dem kränklichen Körper, denn sie sei ein Gemisch von Laune,
Eigensinn, Sinnlichkeit, Unwissenheit, Dummheit, und was das
Schlimmste wäre, von Stolz, da doch kein Yähu weniger Ursa-
che habe stolz zu sein als ein adeliger.
Fünftes Kapitel
Der Herr des Verfassers vergleicht die Eigenschaften der Yähus mit
denen der Europäer. Der Verfasser beobachtet Leben und Treiben der
Yähus genauer. Er gibt einen Bericht über die Grundsätze und Tugenden
der Hauyhnhnms, über ihre Kindererziehung und ihre Parlamente.
Diese Insel setzte ich mir nun als nächstes Ziel meiner Reise,
sobald ich mit der Herstellung meines Fahrzeuges zustande ge-
kommen sein würde.
Ich machte mich dann mit dem Klepper sogleich ans Werk
und wir suchten in dem uns angewiesenen Gehölz die passen-
den Materialien zum Bau zusammen. Der Klepper fällte mit
Hilfe seines geschickt an einem Stiele befestigten Feuersteines
mehrere junge und geschmeidige Bäume, und ich half fleißig mit
meinem Messer sie zuzurichten. Da wir uns täglich an die Ar-
beit machten, so hatte ich nach sechs Wochen so viel passendes
Material zusammen, um ein Fahrzeug nach Art der indianischen
Kanoes daraus zusammenzufügen. Als eines Bindemittels be-
diente ich mich starker Riemen aus Yähuhäuten und überzog
auch den ganzen Bug des Schiffes mit dem zähen Leder dieser
Geschöpfe. Mein Segel verfertigte ich ebenfalls aus der Haut ei-
nes solchen Tieres. Auch versah ich mich mit vier Rudern, und
versorgte mich mit einem ziemlichen Vorrat gekochten Fleisches
von Kaninchen und Vögeln, sowie auch mit Gefäßen voll Milch,
Haferbrei und Wasser.
die mir günstige Flut, und als sie eintrat, nahm ich zum zweiten-
mal von meinem Herrn Abschied und machte Miene, mich vor
ihm niederzuwerfen und seinen Huf zu küssen; er erwies mir
jedoch die Ehre, seinen Huf sanft an meinen Mund zu erheben.
Letzteren Umstand werden meine Neider und Verleumder wohl
bezweifeln und nicht glauben, daß mir von einer so erlauchten
Person eine solche Ehre erwiesen worden. Allein ich kann die fe-
ste Versicherung geben, daß sich die Sache so verhält, und wären
meine Neider und Verleumder imstande, sich eine Vorstellung
von dem edlen und wohlwollenden Wesen der Hauyhnhnms zu
machen, so würden sie begreifen, daß mein erhabener Herr zu
einer solchen Gunstbezeugung, einem armen Geschöpfe wie mir
gegenüber, wohl fähig war.
Ich begrüßte nun noch einmal durch höfliches Schwenken
des Hutes seine Gnaden und die ihm befreundeten Hauyhnhnms,
bestieg mein Boot und stieß es mit kräftigem Ruderstoß in die
See.
Achtes Kapitel
Kühne und gefährliche Reise des Verfassers. Er gelangt nach Neuhol-
land und wird von einem Wilden durch einen Pfeilschuß verwundet.
Er wird gefangen genommen und mit Gewalt auf ein europäisches
Schiff geführt. Große Menschenfreundlichkeit des Kapitäns. Der
Verfasser kommt nach England zurück und verkehrt am liebsten
mit seinen Pferden.
und sog daher die Wunde, nachdem ich aus der Schußweite der
Wilden war, sorgfältig aus, indes erwies sich meine Befürchtung
glücklicherweise als unbegründet und ich konnte, nachdem ich
die Wunde verbunden, meine Fahrt bei guten Kräften und ohne
großen Blutverlust fortsetzen.
Einen anderen, sichereren Landungsplatz aufsuchend, ent-
fernte ich mich nun möglichst rasch von dem Ufer, an dem ich
die Wilden gesehen, und bemerkte plötzlich, kaum eine englische
Meile entfernt, zu meinem größten Verdruß ein Segel. Ich wollte
von dem verhaßten Yähugeschlecht, das in diesem, seiner gan-
zen Bauart nach, europäischen Schiffe hauste, nicht gesehen sein
und nichts mit ihm zu tun haben, deshalb wandte ich rasch mein
Boot und fuhr wieder meinem früheren Landungsplatz zu, indem
ich es vorzog, doch lieber bei den eingeborenen Barbaren, als bei
den europäischen Yähus zu wohnen. Am Lande angekommen,
versteckte ich mich hinter dem Felsen, aus dem der Quell ent-
sprang, der mich diese Tage hindurch gelabt hatte.
Zu meinem Verdruß bemerkte ich, daß ein von dem sich nä-
hernden Schiffe ausgesandtes Langboot, das wahrscheinlich
Trinkwasser einnehmen sollte, gerade auf meinen Landungsplatz
zuhielt, so daß ich keine Zeit fand, mein Versteck zu wechseln.
Die Matrosen entdeckten mein Boot, schlossen, daß der Besitzer
in der Nähe sein müsse und durchsuchten jeden Busch und jede
Felsenritze. Endlich fanden sie mich, als ich, um sie nicht weiter
anzusehen, mich mit dem Gesicht flach auf den Boden geworfen
hatte; sie griffen mich mit Gewalt empor und betrachteten stau-
nend meine seltsamen Kleider und Schuhe. Ein Matrose richtete
in portugiesischer Sprache die Frage an mich, wer ich sei, und
da ich Portugiesisch verstand, so erwiderte ich: ich sei ein armer,
von den Hauyhnhnms verbannter Yähu und bitte nur, daß man
mich abreisen lasse.
Die Leute wunderten sich, daß ich ihre Sprache redete, wuß-
ten sich aber nicht zu erklären, was ich mit den Hauyhnhnms
und den Yähus sagen wollte, und brachen endlich in ein helles
Gelächter aus, als ich, um ihnen das, was ich meinte, näher zu
erklären, wie ein Pferd zu wiehern und wie ein Yähu zu grun-
zen anfing. Furcht, Haß und Verachtung ließen mich erzittern
und erbeben, und ich bat aufs neue, daß sie sich ihres unange-
nehmen Geruches wegen rasch aus meiner Nähe entfernen und
mich ruhig abreisen lassen möchten. Da packten mich einige der
Matrosen ärgerlich an der Brust und verlangten, ich solle nun
ernstlich und ohne Kinderpossen sagen, aus welchem Lande ich
gekommen sei. Ich erwiderte: Ich sei ein Engländer und habe
mein Vaterland vor vier Jahren verlassen, damals habe Frieden
zwischen England und Portugal bestanden und ich hoffe daher,
daß sie mich nicht als Feind behandeln würden. Ich hätte nicht
die Absicht, ihnen irgend einen Schaden zuzufügen, sondern sei
nur ein armer Yähu, der irgend ein unbewohntes Land aufsuche,
um seine noch übrigen Lebenstage in Ruhe hinzubringen. Die
Matrosen berieten nun miteinander und kamen überein, daß
einige wieder zum Schiff zurückfahren sollten, um meinetwe-
gen Verhaltungsbefehle vom Kapitän einzuholen. Dies geschah,
und inzwischen suchten mich die zurückbleibenden Matrosen
von neuem auszuforschen, denn sie waren sehr begierig, meine
Geschichte und Schicksale zu erfahren. Übrigens betrugen sie
sich ganz menschenfreundlich gegen mich und sagten, ihr Kapi-
tän werde mich gewiß unentgeltlich mit nach Lissabon nehmen,
von wo aus ich leicht Gelegenheit hätte, in mein Vaterland zu-
rückzukehren. Ich flehte auf den Knien um meine Freiheit und
gab wiederholt die Versicherung, daß mir gar nichts daran liege,
nach Lissabon und nach England zu kommen, allein alles war
vergeblich, und als etwa nach einer Stunde die zum Kapitän ab-
geschickten Matrosen wieder zurückkamen, banden sie mich
mit Stricken und hoben mich ins Boot, von wo ich in das Schiff
und dann in die Kajüte des Kapitäns gebracht wurde.
Der Kapitän, namens Pedro de Mendez, war unverkennbar
ein wohlwollender und artiger Mann, allein all sein Entgegen-
kommen konnte meine verdrießliche Laune nicht verscheuchen,
und sein und seiner Leute Geruch war mir so widerwärtig, daß
ich fast einer Ohnmacht nahe war. Als mich hungerte, bat ich,
man möge mir etwas aus meinem Boot zu essen geben, aber
der Kapitän ließ mir ein gebratenes Huhn und eine gute Fla-
sche Wein vorsetzen und überwies mir dann ein reinliches Bett
zur Nachtruhe. Ich legte mich nieder, aber es kam kein Schlaf
in meine Augen, so unglücklich fühlte ich mich in Gesellschaft
dieser Yähus. Ich erhob mich halb in Verzweiflung, als ich alles
im Schlafe glaubte, schlich auf Deck und hatte die Absicht, über
Bord zu springen und nach meinem Boot zurückzuschwimmen,
allein ein wachhabender Matrose entdeckte mich und verhinder-
te mein Vorhaben.
Am folgenden Tag kam der Kapitän, dem mein verzweifelter
Entschluß berichtet worden war, zu mir und redete mir gütig zu,
ich möge ihm doch den Grund sagen, weshalb ich lieber über
Bord springen, als hier auf dem Schiff bleiben wolle, ich könne
versichert sein, daß er alles tun würde, um meine billigen Wün-
sche zu befriedigen. Don Pedro benahm sich in der Tat so lie-
benswürdig, daß ich wirklich einiges Zutrauen zu fassen anfing
und geneigt war, ihn als ein Tier zu betrachten, das wenigstens
einige Vernunft besitze. Darum fand ich mich bewogen, ihm in
kurzen Worten mitzuteilen, daß ich früher auch Schiffskapitän
gewesen, und von meinen meuterischen Leuten in einem unbe-
kannten Lande hilflos ausgesetzt worden sei. Diese Mitteilung
hatte der Kapitän gläubig angehört, als ich aber nun anfing, ihm
über meinen Aufenthalt und über meine merkwürdigen Erleb-
nisse in dem Lande der Hauyhnhnms zu erzählen, schüttelte er
den Kopf und schien mich für einen ausgemachten Lügner oder
für einen Verrückten zu halten. Sowie ich aber vermutete, daß
er glaube, ich könne eine Unwahrheit gesagt haben, wurde ich
aufs höchste entrüstet, denn abgesehen von meiner beständigen
strengen Wahrheitsliebe, die ja dem geneigten Leser hinlänglich
bekannt ist, war mir im Lande der tugendhaften Hauyhnhnms
das Lügen so verhaßt geworden, daß mir nichts beleidigender
sein konnte, als wenn mir jemand zutraute, daß ich eine Un-
wahrheit zu sagen vermöchte. Ich fragte deshalb den Kapitän
sehr ärgerlich, ob es vielleicht in seinem Lande üblich sei, daß
man etwas sage, was nicht wahr sei, und gab ihm die Versiche-
rung, im Lande der Hauyhnhnms würde er von dem geringsten
dienenden Klepper keine Unwahrheit hören und wenn er tau-
send Jahre darin lebe.
Der Kapitän, ein unverkennbar verständiger Mann, der mich
eher für einen Verrückten, als für einen Lügner halten mochte,
suchte mich zu beruhigen und meinte, auf meine Grundsätze
eingehend, wenn ich ein so warmer Freund der Wahrheit sei, wie
ich versichere, was er nur höchst lobenswert finden könne, so
möge ich ihm auf mein Ehrenwort die Versicherung geben, daß
ich ihm auf dieser Reise Gesellschaft leisten wolle, ohne je wie-
der den Versuch zu machen, durch Überbordspringen mir das
Leben zu nehmen. Ich gab ihm mein Ehrenwort und habe es na-
türlich auch redlich gehalten.
Unsere Reise verlief ohne bemerkenswerte Vorfälle und unter
den beständigen Versuchen des Kapitäns, mich an sich und seine
Mannschaft besser zu gewöhnen. Es wollte das aber durchaus
nicht gelingen, und ich konnte mich nicht einmal überwinden,
die mir von ihm gebotenen Kleidungsstücke mit meinem Eskimo-
anzug zu vertauschen, denn ich mochte nichts, nichts auf mei-
nem Leibe tragen, was ein Yähu auf dem seinigen getragen hatte;
doch ließ ich mich endlich willig finden, ein paar reine Hemden
vom Kapitän anzunehmen, die frisch gewaschen, von der Son-
ne tüchtig durchgebleicht und von allem Yähudunst gereinigt
waren.
Am 5. November 1715 landeten wir in Lissabon. Der Kapitän
hing mir, was ich in der Not gestattete, seinen Mantel um, damit
mir wegen meiner auffallenden Kleidung der neugierige Pöbel
nicht lästig falle. Gastfreundlich führte mich Don Pedro in sein
eigenes Haus und wies mir auf meine Bitte ein Zimmer im oberen
Stock auf der Hinterseite des Gebäudes an, wo ich hoffen konn-
te, ziemlich ungestört von den mir verhaßten Yähus zu wohnen.
Ich beschwor den Kapitän, niemandem Mitteilungen über das
zu machen, was ich ihm von den tugendhaften, aber gänzlich
ungläubigen und ketzerischen Hauyhnhnms erzählt habe, weil
ich sonst, wenn es sich herumspräche, daß ich mit solchen Philo-
sophen verkehrt hätte, Gefahr liefe, von der Inquisition verhaftet
und verbrannt zu werden.
ich mich doch nach und nach wieder an den Anblick von Men-
schen gewöhnen müsse, da ich in mein Vaterland zurückkehren
wolle, ließ ich mich etwa zehn Tage nach unserer Landung über-
reden, mit ihm einen Spaziergang durch die menschenbelebten
Straßen zu machen. Ich mochte ihm das seiner Güte und Gast-
freundschaft wegen nicht abschlagen, hielt mir aber wohlweis-
lich auf diesem Spaziergang die Nase zu und nahm häufig eine
derbe Prise Tabak.
Folgenden Tages kam Don Pedro zu mir und machte mich auf
die Pflichten aufmerksam, die ich als Familienvater habe; es wür-
de doch unverantwortlich sein, wenn ich nicht so bald als mög-
lich Frau und Kinder durch meine Rückkehr erfreue, wozu sich
gerade eine gute Gelegenheit biete, indem ein englisches Schiff
im Hafen liege, das sich dieser Tage segelfertig nach der Heimat
mache; er wolle mich gern mit Geld und allem Nötigen versehen.
Ich wollte mich zuerst gar nicht zu der Reise entschließen und
beharrte auf meinen Wunsch, eine von Menschen unbewohnte
Insel als Wohnort zu wählen, doch da mir der Kapitän einredete,
daß ich eine solche schwerlich finden würde, und mir nochmals
sehr warm meine Pflichten als Familienvater ans Herz legte, gab
ich endlich nach.
Am 24. November geleitete mich Don Pedro an Board des
englischen Kauffahrers, lieh mir zwanzig Pfund und umarmte
mich zärtlich zum Abschied, was ich mit Geduld und Überwin-
dung ertrug. Auf der ganzen Reise kümmerte ich mich weder
um den Kapitän noch um die Mannschaft des englischen Schif-
fes, sondern hielt mich, unter dem Vorgeben, kränklich zu sein,
zurückgezogen in meiner Kajüte. Am 5. Dezember 1715 war-
fen wir gegen neun Uhr morgens in den Dünen Anker, und um
drei Uhr nachmittags betrat ich wohlbehalten mein Haus in
Redriff.
Meine Frau und meine Kinder, die mich längst für tot gehal-
ten hatten, empfingen mich mit lautem Freudengeschrei, und
meine Frau schloß mich in ihre Arme und gab mir einen Kuß,
welche nahe und innige Berührung mir indes, bei meinem Wi-
derwillen gegen alles, was zum Geschlecht der Yähus gehörte,
eine Ohnmacht zuzog, aus der ich erst nach einer Stunde wieder
erwachte.
Anfangs konnte ich die Gegenwart meiner Frau und meiner
Kinder gar nicht ertragen, was mir oft wirklich herzlich leid tat,
allein ich konnte mir nicht helfen, ihr Geruch war mir unaus-
stehlich, und der Gedanke, daß sie zum Yähugeschlecht gehör-
ten, machte sie mir abscheulich. Jetzt, da ich dies niederschreibe,
sind bereits fünf Jahre nach meiner Rückkehr verflossen, und
mein Widerwille gegen die Menschen hat sich etwas gemildert,
doch weiche ich ihnen noch immer gern aus und verkehrte mit
niemandem lieber, als mit meinen Pferden. Für die erste bedeu-
tendere Geldsumme nämlich, die ich nach meiner Rückkehr zu-
sammenbringen konnte, kaufte ich mir ein paar Hengste edel-
ster Rasse und ließ sie in einen Stall führen, den ich vorher mit
allen Bequemlichkeiten, wie er solcher edlen Geschöpfe würdig
ist, hatte ausstatten lassen. Sie sind nebst dem Stallknecht, dem
der liebliche und der Gesundheit förderliche Stalldunst seinen
widerlichen Yähugeruch benimmt, meine besten Freunde, und
ich unterhalte mich mit ihnen, da sie sich bei ihrer natürlichen
Anlage und ihrer Klugheit sehr bald in der Sprache der edelsten
ihres Geschlechts zurechtfanden, täglich stundenlang über die
Torheiten und Laster der Yähus und über die Weisheit und die
Tugenden der Hauyhnhnms.