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Barbaren ante portas: Die gentes zwischen Beutemachen und

Ansiedlung am Beispiel von Bazas


Helmut Castritius

Was wollten barbarische Gruppen – von schlichten Ruberbanden1 einmal ab-


gesehen – in der Vçlkerwanderungszeit2 wirklich, wenn sie die Reichsgrenzen
ðberschritten und sich einer unbekannten und weithin nicht selbst bestimmten
Zukunft anvertrauten? Zogen sie weitgehend ziellos und ahnungslos durch das
Rçmerreich und vertrauten darauf, dass es ihnen in Zukunft auf jeden Fall
besser ergehen wðrde als in ihren heimatlichen, nach der eigenen Wahrneh-
mung rmlichen Ausgangsregionen oder brachen sie mit festen Vorstellungen
von dem auf, was erreichbar und durchsetzbar sein kçnnte? Durchliefen sie auf
ihren jahrelangen Wanderbewegungen und bei den hufigen oft mehrjhrigen
Zwischenaufenthalten einen Lernprozess, so dass sie am Ende mit den rçmi-
schen Autoritten auf Augenhçhe kommunizieren konnten? Eine totale Ah-
nungslosigkeit jedenfalls wird man ihnen nicht unterstellen kçnnen, standen
doch schon vor dem großen Aufbruch, der die Vçlkerwanderungszeit konsti-
tuierte, mehrere Generationen von barbarischen Landsleuten im Dienst des
Imperiums, mit denen ein Austausch von Informationen stattfinden konnte und,
wenn auch in unterschiedlicher Intensitt, stattfand. Nur selten erhalten wir auf
diese Fragen nachvollziehbare Antworten, und wenn dies einmal geschieht, so
misstraut man der ˜berlieferung, besonders wenn sie hagiographischen Quellen
oder der Dichtung verdankt wird.
Der Zufall der ˜berlieferung will es, dass die sðdwestgallische Stadt Bazas3
im Fokus einer ausfðhrlichen Berichterstattung ðber die Bedrohung gallischer

1 Zum Ruberunwesen im Rçmerreich vgl. Th. Grðnewald, Ruber, Rebellen, Rivalen,


Rcher: Studien zu Latrones im rçmischen Reich, Stuttgart 1999; zu einigen Beispielen
aus Sptantike/Frðhmittelalter im Hinblick auf soziale Gruppen, deren Status zwischen
gemeinen Rubern und Sozialverbnden oszilliert, vgl. Verf., Ethnogenetische Vor-
gnge am Ende der Antike: Unvollendete bzw. erfolglose Ethnogenesen, in: R. Bratož
(Hrsg.), Slowenien und die Nachbarlnder zwischen Antike und karolingischer Epoche,
Ljubljana 2000, bes. S. 337.
2 St. Krautschick, Zur Entstehung eines Datums: 375 – Beginn der Vçlkerwanderung,
Klio 82, 2000, S. 217 – 222; M. Springer, Art. „Vçlkerwanderung“, RGA 32, 2006,
S. 509 – 517; S. Brather, Art. „Vçlkerwanderungszeit“, ebd. S. 517 – 522.
3 In den Quellen begegnen verschiedene Variationen des Stadtnamens: Cossio Vasatum/
civitas Vasatum/civitas Vasatica/Vasates. Paulinus von Pella, Eucharistikos 331 f. gibt den
Stadtnamen mit urbs Vasatis wieder.
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Stdte im frðhen 5. Jahrhundert n. Chr. steht. Aber im Gegensatz zu den pau-


schalen Bemerkungen zu den Gefhrdungen, Plðnderungen und Zerstçrungen
von Stadt und Land sowohl durch marodierende Barbarengruppen als auch
durch grçßere, bereits politisch organisierte gentes – plakativ in der Bemerkung
des Bischofs Orientius von Auch (Augusta) zusammengefasst, ganz Gallien
habe wie ein einziger Scheiterhaufen geraucht4 – liegen uns nmlich zwei de-
taillierte Schilderungen der Nçte der Bevçlkerung von Bazas in einem recht
kurzen Zeitraum (ca. 408 – 415) vor. Beide Male konnte jedoch das Schlimmste
verhindert werden, die Barbaren konnten die befestigte Stadt nicht einnehmen
und zogen ab, wenn auch aus unterschiedlichen Grðnden. Den Berichten His-
torizitt und Authentizitt zuzuerkennen strubt sich die Forschung in nicht
geringem Maße, weil es sich um Quellensorten handelt, die man mindestens im
ersten Fall – da eine hagiographische Darstellung im Gewand einer Wunder-
geschichte – als unhistorisch ansieht und im zweiten Fall – da autobiographische
Verarbeitung und Stilisierung eines Lebenslaufs und -werks in gebundener
Rede – sehr skeptisch betrachtet. Auch handelt es sich in beiden Fllen, bezogen
auf Bazas, um Nachrichten und Deutungen, die durch keine Parallelðberliefe-
rung abgesichert sind.
Wie man mit hagiographischen Quellen sinnvoll umgeht und wie man sie im
Hinblick auf Informationen, die sonst nicht belegt sind, mit Erfolg auswertet, ist
mittlerweile allerdings erkannt und wird praktiziert. Hier helfen die Analyse
von Weltverstndnis und Bewusstseinslage des Verfassers und das Herausfiltern
tendenzneutraler oder atypischer Aussagen und vor allem die Einsicht in die
Genese solcher Wunderepisoden. Heiligenviten und Mirakelerzhlungen sind
ein in der Regel bereits in mðndlicher ˜berlieferung ausgeformtes Erzhlgut
aus dem Umkreis von Heiligen, von heiligen Sttten und Schreinen und von als
heilig angesehenen Objekten, das eine bis zwei Generationen nach seiner
Entstehung und Vervollkommnung schriftlich fixiert und hufig noch mit wei-
teren Erzhlelementen angereichert wurde.5 Diese Geschichten waren gleich-
sam „verbal relics“, konnten oder mussten aber – wie die materiellen Reliquien
durch Zukauf bzw. Neuerwerb – aktualisiert werden. Derartige Aktualisierung
betraf zum Zeitpunkt der schriftlichen Fixierung vor allem die Namen der
Hauptakteure, die also zunchst vom Heiligen selbst einmal abgesehen noch

4 Orientius, Commonitorium II 184; zu hnlichen zeitgençssischen úußerungen vgl. G.M.


Berndt, Konflikt und Anpassung. Studien zu Migration und Ethnogenese der Vandalen,
Husum 2007 (Historische Studien 489), S. 96 f.
5 Methodisch und in der Anwendung grundlegend hierzu sind die Arbeiten von F. Lotter,
Legenden als Geschichtsquellen, DA 27, 1971, S. 195 – 200; Severinus von Noricum.
Legende und historische Wirklichkeit, Stuttgart 1976, bes. S. 156 – 177 u. Zur Interpre-
tation hagiographischer Quellen, Mittellateinisches Jahrbuch 19, 1984, S. 37 – 62; vgl.
auch R. van Dam, Saints and their Miracles in Late Antique Gaule, Princeton 1993, bes.
S. 136 – 144.
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austauschbar waren. Wirkliche Ereignisse werden in diesem Prozess bestimmten


Typen von Wundern angeglichen und nicht selten bis zur Unkenntlichkeit ver-
fremdet.6
Eine solche Wundergeschichte, die unter diesen methodischen Prmissen
interpretiert werden kann, liegt im Liber in gloria martyrum c. 12 aus der Feder
Gregors von Tours7 fðr Bazas vor. Die zugrunde liegende Realitt ist darin zwar
zu einem fernen Spiegel geworden, der nur undeutlich reflektiert und die Sicht
darauf trðbt, aber sie bleibt letztendlich doch erkennbar. Fðr G. Scheibelreiter8
in seinem großen Werk ðber die barbarische Gesellschaft waren solche und
hnliche Geschichten Zeugnisse fðr die vorherrschende Mentalitt vom 5. bis
zum 8. Jahrhundert, und so war von diesem Ansatz her die Frage nach dem
jeweils realhistorischen Hintergrund und nach der Identitt der handelnden
Personen unerheblich. Andererseits kommt Scheibelreiter nicht umhin zu
konstatieren: „Was Gregor hier unbewusst fast ins Rationale transportiert,
verchristlicht er an anderer Stelle.“9 Das berichtete Wunder, das zu einer „in-
nere(n) Kapitulation“10 der Barbaren fðhrte, d. h. zu ihrem vçlligen Abzug, und
ein Folgewunder bestanden in der Perspektive der ˜berlieferer aus durch nu-
minose Mchte veranlassten Erscheinungen, die es dem Anfðhrer der Belagerer
als sinnlos erscheinen ließen, die Stadt weiter zu belagern. Dieser wird mit dem
Namen Gausericus und als rex barbarorum, die Barbaren zudem als Hunnen
eingefðhrt. Whrend einer schon lnger andauernden Belagerung wird den
Belagerern an mehreren Abenden ein seltsames Schauspiel geboten. Zunchst
schreitet der Bischof der Stadt, fðr die Barbaren gut sichtbar, jede Nacht
Psalmen singend und betend die Stadtmauern ab,11 ohne dass diese ihm be-
sondere Beachtung schenken. Sie verlegen sich vielmehr auf das Plðndern und
Zerstçren der Huser, úcker und Weingrten auf dem flachen ungeschðtzten
Land und auf das Wegtreiben des Viehs. Anschließend wird der Barbarenkçnig
selbst mit einer Erscheinung konfrontiert. Diesmal begehen nun in Weiß ge-
kleidete Gestalten Psalmen singend und angezðndete Kerzen tragend den
Mauerkranz. Der Kçnig ist ðber die darin zum Ausdruck kommende Sorglo-
sigkeit und Anmaßung der Belagerten erzðrnt und schickt Boten in die Stadt,

6 Charakteristisch fðr diesen Prozess sind Motivhufung, Synchronisation verschiedener


Vorgnge und Dubletten, vgl. Lotter (Severinus, s. Anm. 5), S. 141 – 155.
7 Gregor v. Tours, Liber in gloria martyrum c. 12 (MGH SS rer. Merov. I 2, 1885, ed. B.
Krusch, S. 46).
8 G. Scheibelreiter, Die barbarische Gesellschaft. Mentalittsgeschichte der europischen
Achsenzeit. 5.–8. Jahrhundert, Darmstadt 1999.
9 Scheibelreiter (s. Anm. 8), S. 248.
10 Scheibelreiter (s. Anm. 8), S. 248.
11 Gregor v. Tours, ed. Krusch (s. Anm. 7), S. 46, 3: omni nocte sacerdos … circuibat
psallendo et orabat (konkret ist hier mit circu(m)ire das Schreiten auf dem Mauerkranz
gemeint).
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die von den Bðrgern Aufklrung ðber ihr Tun verlangen. Diese stellen sich
jedoch ahnungslos, und die Boten kehren unverrichteter Dinge zu ihrem Kçnig
zurðck. Und in der darauf folgenden Nacht werden Kçnig und Belagerungsheer
Zeugen einer Erscheinung, zu deren Erklrung sie noch weniger fhig sind: ein
großer Feuerball steigt ðber die Huser in den Himmel empor, obwohl nirgends
ein Brand auszumachen ist.12 Wiederum schickt der Kçnig Boten in die Stadt
mit dem Auftrag herauszufinden, was es mit der Feuerkugel auf sich habe. Die
so Befragten wollen wiederum nichts gesehen haben, und so bleibt die Ursa-
chenforschung erneut ergebnislos. Der Kçnig nimmt den Belagerten ihre Un-
kenntnis ab und zieht daraus den ðberraschenden Schluss, dass ihnen ihr Gott –
Deus eorum – Beistand leiste, und bricht die Belagerung ab. „Gregor macht den
Kçnig in seiner Nðchternheit fast zu einem Rationalisten“,13 der nach Ursachen
forscht und aus den erhaltenen Informationen und aus eigener Anschauung
seine (zunchst ðberraschenden) Schlðsse zieht. Den standhaften Bewohnern
von Bazas wird unmittelbar anschließend ein weiteres Wunder teilhaftig. Von
der Kirchendecke fallen drei gleichgroße kristallklare Tropfen auf den Altar, die
sich schließlich in einer silbernen Patene zu einer kostbaren Gemme vereini-
gen.14 Vor der in ein goldenes Kreuz spter eingearbeiteten Gemme geschehen
dann viele Wunder, auf die einzugehen sich bei unserer Fragestellung erðbrigt.
Fðr das Verstndnis der Geschichte von den drei Tropfen gibt Gregor von
Tours selbst die Deutung. Sie sind Symbol und Versinnbildlichung der Einheit in
der Trinitt und damit auch ein Zeugnis fðr die Orthodoxie der von den Bar-
baren bedrohten Bevçlkerung von Bazas. Die Rechtglubigkeit der Bewohner
von Bazas wird der iniquam et Deo odibilem Arrianam heresim gegenðberge-
stellt, die sich damals ðberall ausgebreitet habe.15 Aus dieser Feststellung ergibt
sich nun ein klarer Fingerzeig zu einer genauen Identifizierung der Hunnen/
Barbaren unter dem Kçnig Gausericus, die die Belagerung aufgegeben hatten.
Denn auch das goldene Kreuz mit der die Dreieinigkeit in der Einheit sym-
bolisierenden Gemme wird fðr die Flucht der Barbaren verantwortlich ge-
macht.16 Die Hunnen waren ein Synonym fðr Barbaren, aber sie waren keine
arianischen Christen, sondern Heiden. Mit der Anspielung auf die arianische
Hresie und der Namennennung Gausericus kçnnen wir die Belagerer vielmehr
eindeutig als Vandalen identifizieren.
Die Wundererzhlung lsst sich noch weiter historisch auswerten, unge-
achtet dessen, dass es ðberhaupt nicht die Absicht derer war, die am Anfang

12 Gregor v. Tours, ed. Krusch (s. Anm. 7), S. 46, 13: Alia vero nocte vidit quasi globum
magnum ignis super urbem discendere.
13 Scheibelreiter (s. Anm. 8), S. 247.
14 Gregor v. Tours, ed. Krusch (s. Anm. 7), S. 46, 23 – 25.
15 Gregor v. Tours, ed. Krusch (s. Anm. 7), S. 46, 26 – 27.
16 Gregor v. Tours, ed. Krusch (s. Anm. 7), S. 46, 33: Nec mora, fugato, ut diximus, hoste
civitas liberata est.
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ihrer mðndlichen Fixierung standen, der Nachwelt ein historisches Ereignis als
solches zu ðberliefern. Es wird allgemein angenommen, dass die Vandalen nach
ihrem Rheinðbergang und auf ihrem Durchzug durch Gallien mit dem Ziel
Spanien auch Bazas berðhrt haben werden.17 Das mag im Jahr 408 oder im
Frðhjahr 409 gewesen sein.18 In den Jahren davor sollen die gentes nach dem
Zeugnis des Hieronymus19 eine Vielzahl von Rçmerstdten jenseits des Rheins
zerstçrt bzw. eingenommen haben. Die Aufzhlung der betroffenen Stdte bei
Hieronymus ist so unsystematisch, dass daraus keine wirkliche Marschrichtung
der Verbnde erschlossen werden kann. Die Invasoren mçgen sich dabei zu-
nchst auf die nordostgallischen Regionen konzentriert haben, bevor sie dann
die sðdwestgallischen Gebiete in Richtung Pyrenen durchzogen und in Spanien
ankamen. Deutliche Zerstçrungs- und Brandhorizonte lassen sich jedenfalls
nicht feststellen,20 beim Fehlen einer fðr Belagerungen effektiven Ausrðstung
dðrften Objekt der Begierde vorrangig die von den Kommunen eingelagerten

17 Verf., Die Vandalen. Etappen einer Spurensuche, Stuttgart 2007, S. 54 f. mit Karte 2 u.
58 (vgl. auch dens., Art. „Wandalen“, RGA 33, 2006, S. 181). Berndt (s. Anm. 4), S. 159
spricht bezðglich der von Gregor von Tours geschilderten Belagerung von Bazas von
einer Verwechslung, wobei nicht klar wird, ob Berndt dabei an eine Dublette denkt und
von zwei verschiedenen Schilderungen ein und derselben Belagerung von Bazas aus-
geht. Eine Verwechslung kann jedenfalls nur den Namen des Kçnigs betreffen, die
Situationen sind hingegen so verschieden, dass es sich nicht um eine Dublette handeln
kann.
18 Fðr das Jahr 409 sind 2 Pyrenenðbergnge der gentes – am 28. 9. und am 13. 10. – przis
datiert (Hydatius 42). Das rechtfertigt die Annahme – allerdings unter der Vorausset-
zung, dass die gentes whrend ihres gesamten Gallienaufenthalts zusammengeblieben
sind –, dass der ˜bergang ðber die Pyrenen eine lngere Phase in Anspruch nahm,
eben den Zeitraum von gut zwei Wochen (so Berndt [s. Anm. 4], S. 101 – 103). Geht man
davon aus, dass die gentes sich sptestens nach den Rheinðbergngen getrennt hatten
und Gallien auf verschiedenen Routen durchzogen, dann machen die beiden Daten fðr
den ˜bergang ðber die Pyrenen bzw. die Ankunft in Spanien durchaus Sinn (so Verf.
[Die Vandalen, s. Anm. 17], S. 58 f.). Auch der Rheinðbergang der gentes erfolgte nicht
an einem einzigen Ort und zur gleichen Zeit, vielmehr wird man von zwei Rhein-
ðbergngen am Ende des Jahres 405 ausgehen kçnnen (Verf. [Die Vandalen, s.
Anm. 17], S. 46 – 53 mit Karte 2, S. 55 u. A. Alemany Vilamajý, Sources on the Alans. A
Critical Compilation, Leiden–Boston–Kçln 2000 [Handbook of Oriental Studies –
Handbuch der Orientalistik VIII 5], S. 58). Ende 405 statt 406 auch bei L. Schumacher,
Mogontiacum, in: M.J. Klein (Hrsg.), Die Rçmer und ihr Erbe, Mainz 2003, S. 23 f.
19 Hieronymus, ep. 123, 15 gibt einen regelrechten Vçlkerkatalog wieder, der sich auf die
Vçlkerlawine bei ihrem ˜bergang ðber die Donau beziehen muss und die Situation bei
den Rheinðbergngen nicht wiedergibt; so gehçrten Ende des Jahres 405 die Burgunder
ebenso wenig dazu wie Sarmaten, Gepiden, Heruler, Sachsen (!) und Alemannen, je-
denfalls nicht als gentile Einheiten, wie Hieronymus vorgibt (vgl. F. Lotter/R. Bratož/
Verf., Vçlkerverschiebungen im Ostalpen-Mitteldonau-Raum zwischen Antike und
Mittelalter 375 – 600, Berlin–New York 2003, S. 32 f. u. S. 90 – 92).
20 Berndt (s. Anm. 4), S. 96 f.; Verf. („Wandalen“, s. Anm. 17), S. 179 f. u. ders. (Die
Vandalen, s. Anm. 17), S. 53.
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Wintervorrte gewesen sein. Die Barbaren konnten davon ausgehen, sowohl im


unmittelbaren Umland der Stdte ausreichend Getreide und andere Versor-
gungsgðter fðr Mensch und Vieh durch Plðnderungen zu gewinnen als auch
durch ˜bereinkunft mit den stdtischen Autoritten als Kompensation fðr ihren
Abzug die Versorgung mit Proviant auszuhandeln. Unsere Wundererzhlung
offenbart dies zur Genðge in der tendenzneutralen, fðr eine Mirakelgeschichte
eher untypischen Angabe, die Barbaren htten von der Belagerung zeitweise
Abstand genommen und seien plðndernd und sengend durch das Umland ge-
zogen. Eher untypisch, dafðr aber glaubwðrdig – wenn auch auf den ersten Blick
ðberraschend – ist auch die Schilderung der anscheinend nie abgebrochenen
Kommunikation zwischen Belagerern und Belagerten. Man hat eher den Ein-
druck, als glaubten die Belagerer selbst nicht an ihren Erfolg, versuchten viel-
mehr, mit den Bewohnern von Bazas immer wieder ins Gesprch zu kommen.
Dass diese Kommunikation nach unserer Quelle nicht um konkrete materielle
Dinge ging – um die es zweifellos in Wahrheit ging –, wird der hagiologischen
Perspektive des Autors bzw. der ihm vorliegenden mðndlichen ˜berlieferung
verdankt, die daran nicht interessiert waren, sondern Beispiele fðr die Wirk-
mchtigkeit eines festen, durch Wunder gestrkten Glaubens unter den Hçrern
und Lesern verbreiten wollten.
Der auffallend rational agierende Barbarenkçnig trgt in der Mirakelge-
schichte den Namen Gausericus. Dass mit ihm Geiserich gemeint sei, ist com-
munis opinio und auch zweifellos richtig.21 Zum Kçnig erhoben wurde Geiserich
allerdings erst in Spanien und wohl im Zusammenhang einer neuerlichen Eth-
nogenese nach den Niederlagen der Alanen und Silingen durch die Westgoten
Valias.22 Zum Zeitpunkt des Zugs der Vandalen durch Gallien nach Spanien und

21 Vgl. Krusch (s. Anm. 7), S. 46 Anm. 1. Zu den Namenvarianten des Vandalenkçnigs vgl.
N. Wagner, Gaisericus und Gesiric, Beitrge zur Namenforschung 37, 2002, S. 259 – 270
u. N. Francovich Onesti, I Vandali. Lingua e storia, Rom 2002, S. 155 f.
22 Zur vandalischen Ethnogenese in Spanien als Folge des Untergangs der Silingen und
Alanen nach deren Niederlagen gegen die im rçmischen Auftrag handelnden Westgoten
unter Valia vgl. Verf. (Die Vandalen, s. Anm. 17), S. 67 – 72. Nach Berndt (s. Anm. 4),
bes. S. 172 – 174 bildete sich die gens Vandalorum erst nach dem ˜bergang nach
Nordafrika heraus. Der Untergang der Silingen und spanischen Alanen als selbstndi-
gen Sozialverbnden und die Kçnigserhebung Geiserichs noch in Spanien und noch zu
Lebzeiten seines Bruders Gunderich spricht fðr eine Konstituierung eines neuen
Großverbands noch in Spanien (vgl. auch Verf. [„Wandalen“, s. Anm. 17], S. 185 – 187 u.
dens. [Die Vandalen, s. Anm. 17], S. 67 – 72). – Zu den Kmpfen mit den in rçmischem
Dienst stehenden Westgoten unter Valia in Spanien vgl. H. Wolfram, Die Goten. Von
den Anfngen bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnogra-
phie, Mðnchen 4. Aufl. 2001, S. 176 f.; Berndt (s. Anm. 4), S. 160 u. G. Kampers, Ge-
schichte der Westgoten, Paderborn 2008, S. 109.
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damit auch bei der Ankunft der gens vor Bazas fðhrte sein Vater Godegisel23 die
Vandalen an. Als man vielleicht zwei Generationen spter an die Verschriftli-
chung der Episodenerzhlung vom durch gçttliche Hilfe bewirkten Scheitern
der Vandalen vor Bazas ging, war der – zudem lange regierende – Vandalen-
kçnig Geiserich der bekannteste Barbarenfðrst der Zeit. Ihm, „dem gewaltigs-
ten Kmpfer unter allen Mnnern und dem Kçnig des Landes und des Mee-
res“,24 widerstanden zu haben, war eine besondere, ja geradezu einmalige
Auszeichnung fðr den Beharrungswillen der Einwohner von Bazas und fðr
deren durch Verdienst erworbene Gnade Gottes. Den Namen des weniger be-
kannten Vandalenkçnig Godegisel25 im Zusammenhang des Zeitpunkts der
Verschriftlichung der Wundergeschichte durch den Namen Gausericus/Geise-
rich zu ersetzen, war eher ein kleiner Schritt. Und als Gregor von Tours
ca. 100 Jahre spter sie in seinen Liber de gloria martyrum einfðgte, war ihm
dabei sicher kein Fehler unterlaufen,26 war doch der Name Gausericus/Geise-
rich bereits zu einem festen Bestandteil des Wunders von Bazas geworden.

Wenige Jahre nach der gescheiterten Belagerung von Bazas durch die Vandalen
hatte sich die politische Landkarte in den germanisch-gallischen Provinzen des
westrçmischen Reiches grðndlich verndert. Sowohl nach Absprachen mit der
westrçmischen Zentralregierung in Ravenna als auch durch Vereinbarungen mit
Usurpatorenregimen, dazu in unautorisierten Besitznahmen rçmischen Pro-
vinzialbodens durch barbarische Gruppen erlebte dieser Großraum im 2. Jahr-
zehnt des 5. Jahrhunderts einen gewaltigen Umbruch. Die Vçlkerlawine, die
wohl schon zum Jahresende 40527 den Rhein ðberschritten hatte, war bereits im

23 Es ist vollkommen unverstndlich, dass der Tod Godegisels noch vor den Einfall der
Vandalen in Spanien angesetzt wird (so jetzt wieder Berndt [s. Anm. 4], S. 92). Dem
widersprechen sowohl das Zeugnis des Renatus Profuturus Frigeridus bei Gregor v.
Tours, hist. Franc. II 9 wie die eindeutigen Aussagen bei Prokop, b. V. I 3,2; 3,23 – 25 u.
32 – 34 als auch die seinem Nachfolger Gunderich gegebenen 18 Regierungsjahre, womit
dessen Herrschaftsbeginn in der Nachfolge Godegisels erst in das Jahr 410 fllt (Isid.,
hist. Wandal. 73; Hydatius 79). Zu erklren ist dies wohl damit, dass man dem von
Gregor v. Tours eingearbeiteten Frigeridusfragment nicht traut und relativ spten
Zeugnissen wie dem von Prokop oder von Isidor von Sevilla die Glaubwðrdigkeit ab-
spricht.
24 Prokop, b. V. I 3,24; Theophanes 5941.
25 Zum Namen Godegisel vgl. Francovich Onesti (s. Anm. 21), S. 159 f. Dass die Namen
Godegisel und Gausericus/Geiserich alliterieren, kçnnte den Namenaustausch ebenfalls
erleichtert haben.
26 So Berndt (s. Anm. 4), S. 159, der den Prozess der Aktualisierung im Zuge der Ver-
schriftlichung der Mirakelgeschichte nicht in Rechnung stellt.
27 Eine Vordatierung des Rheinðbergangs auf Ende 405 wurde mit guten Grðnden von M.
Kulikowski, Barbarians in Gaul, Usurpers in Britain, Britannia 31, 2000, S. 325 – 345
vorgenommen. Der Mainzer Althistoriker L. Schumacher und der Verf. mçchten sich
ihm anschließen, weil dadurch zahlreiche Ungereimtheiten in der ˜berlieferung zu den
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Herbst 409 nach Spanien weitergezogen, unter Zurðcklassung von mindestens


zweier Gruppen von Alanen.28 Dafðr war aber mit den Westgoten, die gerade
erst aus einer „Fahrten- und Schicksalsgemeinschaft“ zu einem Volk geworden
waren,29 ein neuer und starker Faktor im Krftespiel zwischen rechtmßiger
Regierung in Ravenna, dem Usurpatorenregime des von den Burgundern30 und
einer Teilgruppe der Alanen unterstðtzten Iovinus und der gallorçmischen Se-
natsaristokratie aufgetaucht. Die Westgoten unter ihrem Kçnig Athaulf hatten –
zunchst in Absprache mit Ravenna – 413 wichtige sðdwest- und sðdostgallische
Zentren – Bordeaux, Toulouse, Narbonne – erobert, dabei auch wieder mit
Priscus Attalus31 ein Usurpatorenregime reaktiviert und damit Ravenna vor den
Kopf gestoßen.32 In diese beiden Jahre der erstmaligen Festsetzung der West-
goten im sðdwestgallischen Raum gehçrt das detaillierte Stimmungsbild, das
uns als ein umfangreiches autobiographisches Zeugnis in Gedichtform – in
Hexametern – aus der Feder eines Mitakteurs vorliegt. Der Titel des Gedichts
ist eher ungewçhnlich: „Danksagung an Gott in Verbindung mit dem Text
meines Tagebuchs“ (Eucharistikos Deo sub ephemeridis meae textu).33 Der
Verfasser Paulinus von Pella,34 ein Enkel des berðhmten Ausonius, war als
Mitglied der gallorçmischen Senatsaristokratie zu den Westgoten und zum von
diesen unterstðtzten oder ðberhaupt erst etablierten Usurpatorenregime des
Priscus Attalus ðbergelaufen und hatte diesem in einer hohen Funktion – als
comes privatarum largitionum –35 gedient. In dieser Eigenschaft sah er sich mit
turbulenten Jahren zwischen 405 und 407 beseitigt werden kçnnten, vgl. auch J.F.
Drinkwater, The Alamanni and Rome 213 – 496 (Caracalla to Clovis), Oxford 2007,
S. 321.
28 Zu den ðber Europa und Asien verstreuten verschiedenen Alanengruppen vgl. B.S.
Bachrach, A History of the Alans in the West, Minneapolis 1973, das monumentale, alle
erdenklichen Belege zusammentragende und interpretierende Werk von Alemany
Vilamajý (s. Anm. 18) u. jetzt V. Kouznetsov/I. Lebedynsky, Les Alains. Cavaliers des
steppes, Paris 2007.
29 Wolfram (s. Anm. 22), S. 167 u. Kampers (s. Anm. 22), S. 110 – 117.
30 Zum ersten Burgunderreich am Mittelrhein vgl. R. Kaiser, Die Burgunder, Stuttgart
2004, S. 26 – 37 u. Verf., Die Vçlkerlawine der Silvesternacht 405 oder 406 und die
Grðndung des Wormser Burgunderreichs, in: V. Gall¤ (Hrsg.), Die Burgunder. Eth-
nogenese und Assimilation eines Volkes, Worms 2008, S. 31 – 47.
31 PLRE II, 1980, S. 180 f.
32 Wolfram (s. Anm. 22), S. 167 – 169 u. Kampers (s. Anm. 22), S. 112 f.
33 Paulin de Pella. Poeme dÌaction de graces et priºre, Paris 1974 (SC 209). Deutsche
˜bersetzung mit Einfðhrung von J. Vogt, Der Lebensbericht des Paulinus von Pella, in:
Festschr. Fr. Vittinghoff, Kçln–Wien 1980, S. 527 – 572. Eine englische ˜bersetzung
findet sich in der Ausonius-Ausgabe der Loeb Library: Ausonius II, transl. by H.G.E.
White, Cambridge–London ND 1985, S. 304 – 35; auch hier (S. 335) wird sors oblata
ausschließlich ðbertragen verstanden und mit chance wiedergegeben.
34 K.F. Stroheker, Der senatorische Adel im sptantiken Gallien, Reutlingen 1948 (ND
Darmstadt 1970), bes. S. 202 f.; PLRE I, 1971, S. 677 f. (Paulinus Nr. 10).
35 Paulin., Eucharistikos 295.
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einer alanischen Gruppe konfrontiert, die im Einverstndnis mit den Westgoten


Athaulfs gerade Bazas belagerte und mit der er eine Verstndigung zu erreichen
suchte. Es gelang Paulinus ðberraschenderweise damals, die Alanen zum Abzug
zu bewegen und sie aus der Allianz mit den Westgoten zu lçsen.36
Die Bedeutung des Gedichts liegt fðr den Historiker nun darin, dass es
Passagen mit wichtigen Informationen enthlt, die bisher nicht oder nur unzu-
lnglich gewðrdigt worden sind, z. T. auch dadurch, dass die poetische Aus-
drucksweise des Paulinus nicht verstanden worden ist (um nicht zu sagen, dass
sie falsch ðbersetzt wurde). Schon die Identifizierung des Anfðhrers der alani-
schen Belagerer bereitet Schwierigkeiten. Von Paulinus Kçnig – rex – genannt
und als Freund eingefðhrt37 kann es sich nicht um den in den Quellen mehrfach
bezeugten, bei der Erhebung des Usurpators Iovinus eine erhebliche Rolle
spielenden Goar38 gehandelt haben. Dieser war Heide, whrend der barbarische
rex vor Bazas offensichtlich ein Christ war.39 Ebenso auffllig wie schon bei der
Belagerung von Bazas durch die Vandalen wenige Jahre zuvor (s. o.) sind die
anscheinend kaum eingeschrnkten Mçglichkeiten der Kommunikation zwi-
schen Belagerern und Belagerten. Paulinus geht aus der Stadt heraus, um den
Alanenkçnig zu treffen und zu sprechen, der Kçnig wiederum gibt zu verstehen,
dass er Paulinus nur dann wieder in die Stadt zurðckkehren lassen kçnnte, wenn
dies in seiner Begleitung geschehe, er selbst in die Stadt aufgenommen werden
wðrde.40 Nach Beratungen mit den Huptern der Stadt – primates urbis – kommt
es dann zum Seitenwechsel des Kçnigs und zu einem Vertragsabschluß.41 Die
Alanen ðbernehmen als neue Schutzmacht die Sicherheit der Stadt und stellen
als Unterpfand der Einhaltung ihrer Verpflichtungen sogar Gattin und Sohn
ihres Kçnigs als Geiseln.42 Die Westgoten Athaulfs sind nun der gemeinsame
Feind.43 Folge davon ist, dass sich gotische Truppen, die sich im Umland der
Stadt zu Plðnderungszwecken aufhalten, einfach davon machen.44 Und
schließlich ziehen sogar die Alanen ab, nach den Worten des Paulinus „ent-
schlossen den Frieden mit den Rçmern zu wahren“.45 Befremdlicherweise wird
die in gebundene Rede gegossene ausfðhrliche Darstellung des Paulinus in

36 In Paulin., Eucharistikos 382 wird vom „gemeinsamen gotischen Feind“ gesprochen


(communi tamquam Gothico … ab hoste).
37 Paulin., Eucharistikos 346.
38 PLRE II, 1980, S. 514 f.
39 Paulin., Eucharistikos 375: auxiliante Deo, cuius iam munus habebat; munus meint hier
zweifellos die gçttliche Gnade; vgl. auch PLRE II, 1980, S. 1236 (Anonymus 118).
40 Paulin., Eucharistikos 353 – 361.
41 Paulin., Eucharistikos 368 – 376.
42 Paulin., Eucharistikos 379 f. u. 383 – 385.
43 Paulin., Eucharistikos 382.
44 Paulin., Eucharistikos 390 – 395.
45 Paulin., Eucharistikos 397 f.: fidem pacis servare parati Romanis…
290 Helmut Castritius

wichtigen Punkten immer wieder missverstanden. Der Westgotenkçnig Athaulf


wird zwar einmal namentlich genannt, aber bei dem Anfðhrer der alanischen
Belagerer von Bazas handelt es sich um den Alanenkçnig, dessen Namen
Paulinus uns verschweigt, und nicht um den Kçnig der Westgoten. Diese Ver-
wechslung ist anscheinend nicht auszurotten, aber sie bleibt eine Verwechslung
und fðhrt zu einer Reihe von Fehlinterpretationen.46
Die wie eine Peripetie im antiken Drama plçtzlich eingetretene neue Si-
tuation in Bazas wird im Eucharistikos ußerst anschaulich geschildert und
zudem so, dass man spðrt, dass hier eigenes und unmittelbares, totalen Anteil
nehmendes Erleben zugrunde liegt. Danach strçmen die Frauen der bewaff-
neten alanischen Krieger nach Bekanntwerden der ˜bereinkunft aus ihren
Unterkðnften (sedes) heraus und vereinigen sich mit ihren Mnnern, auf den
Mauern der Stadt wiederum steht die waffenlose Menge der Bðrger beiderlei
Geschlechts, whrend sich die bisherigen Feinde außerhalb der Mauern und
geschðtzt durch ihre Wagen und Waffen aufhalten.47 Dieses farbige Bild, das
Paulinus von Pella von der Aufnahme des Friedensschlusses durch beide Par-
teien zeichnet, enthlt eine Reihe von aufschlussreichen Hinweisen, die sich
sehr gut in unsere aus den sonstigen Quellen gewonnene Vorstellung von den
Migrationen der gentes einfðgt. Auch die alanische Belagerungstruppe, nicht nur
der Anfðhrer, war komplett mit Frau und Kind unterwegs. Ihr Transportmittel
war – neben den Reitpferden – der Wagen (plaustrum), auf dem die Familie
Platz fand. Diese Wagen waren unterhalb der Stadtmauern postiert, d. h. man
musste nicht befðrchten, dass sie von den Belagerten von der Stadtmauer herab
in Brand gesetzt wðrden. Hier fassen wir eine schçne Parallele zu den Ereig-
nissen whrend der Belagerung von Bazas durch die Vandalen einige Jahre
vorher. Auch damals war das Tischtuch zwischen den Kontrahenten nicht
wirklich durchtrennt worden, zweifellos in der Erwartung, dass es zu einer Ei-
nigung kommen wðrde. Wie aber ist dieses Verhalten zu erklren? Setzt man
eine gewisse Rationalitt auf Seiten der Barbaren voraus, dann fllt eine Er-
klrung nicht schwer. Den Barbaren mag lngst bewusst gewesen sein, dass sie
keine Chance hatten, eine befestigte, mit Vorrten versehene rçmische Stadt in
einer angemessenen Belagerungszeit zu erobern. Andererseits waren die
Stadtbewohner an einem baldigen Abzug der Belagerer interessiert und suchten
deshalb nicht die Konfrontation um jeden Preis. Htten sie die Wagen der
Alanen zerstçrt, dann wren sie diese kaum losgeworden. Abzugsverhandlun-

46 Paulin., Eucharistikos 311: regis … Atiulfi (sc. der Westgotenkçnig); ebd. 346 u. 352
kann nur der namentlich ungenannte Alanenkçnig gemeint sein, ebenso 379 f., wo von
uxor regis und regis caro quoque nato die Rede ist, allein schon deshalb, weil in Vers 378
die Alanen genannt werden. Deshalb denkt auch Vogt (s. Anm. 33), S. 572 Anm. 13 zu
Vers 346 an den Alanenkçnig Goar.
47 Paulin., Eucharistikos 377 f., 386 – 389.
Barbaren ante portas 291

gen, die den Belagerten in der Regel natðrlich einiges kosteten, war immer das
Gebot der Stunde. Und ebenso endete selbst die Einnahme einer Stadt durch
eine Barbarentruppe nicht regelmßig in deren Zerstçrung, sondern sie geschah
auf dem Verhandlungswege und mit gewissen Garantien fðr Leib und Leben der
Bevçlkerung. Dies war auch die entscheidende Voraussetzung dafðr, dass
stdtisches Leben und stdtische Kultur in den frðhmittelalterlichen Reichen
jedenfalls auf dem Boden des Imperium Romanum nicht zum Erliegen kamen.
Die „Danksagung an Gott“ aus der Feder des Paulinus von Pella enthlt
zudem einen besonders wichtigen Hinweis, mit der ein ganz aktueller Streit-
punkt in der Forschung entschieden werden kann. Es geht um das Problem, ob
die Barbaren im Zusammenhang ihrer Reichsgrðndungen wirklich auf echte
Landzuweisungen aus waren und dafðr umfangreiche Landenteignungen in
Gang gesetzt werden mussten. Seit den Forschungen von Goffart hat diesbe-
zðglich eine Richtung an Boden gewonnen, die solche Landzuweisungen ve-
hement bestreitet und ausschließlich von der Zuweisung von Steueranteilen an
die Land nehmenden Barbaren ausgeht.48 Diese ,fiskalistischeÍ These wollen
Goffart und im Anschluss an ihn Durliat auf alle vçlkerwanderungszeitlichen
barbarischen Reichsgrðndungen mehr oder weniger flchendeckend angewandt
wissen. Nun mag sich eine Kriegerschicht in einer ˜bergangsphase mit der
Zuweisung von Steueranteilen zufrieden gegeben haben, aber nur mit der
handfesten Option auf Landbesitz, zumal die Barbaren nie daran dachten, zu
bodenstndigen Ackerbauern zu werden, sondern die ihnen ðbereigneten Gðter
von Pchtern und Sklaven bewirtschaften ließen. Eine solche Erwartungshal-
tung wird an der alanischen Barbarentruppe unter ihrem namentlich unbe-
kannten rex in kaum zu ðberbietender Klarheit deutlich, sofern man die ent-
sprechende Stelle bei Paulinus von Pella richtig ðbersetzt. Die Verse 395 – 398
des Eucharistikos lauten: …Cuius non sero secuti / exemplum et nostri quos
diximus auxiliares / discessere, fidem pacis servare parati / Romanis, quoquo
ipsos sors oblata tulisset. In der ˜bersetzung von J. Vogt49 nimmt sich diese
Passage aus dem Eucharistikos so aus: „Diesem Beispiel folgten alsbald auch
die ðbrigen, die wir Hilfstruppen nannten, und rumten das Feld, entschlossen
den Frieden mit den Rçmern treu zu wahren, wohin immer das kommende
Geschick sie bringen wðrde.“ Vçllig unverstndlich ist hierbei die Wiedergabe
von nostri (Vers 396) mit „die ðbrigen“, nicht exakt ist zudem die ˜bersetzung

48 W. Goffart, Barbarians and Romans. AD 418 – 584. The Techniques of Accomodation,


Princeton 1980; J. Durliat, Le salaire de la paix sociale dans les royaumes barbares
(Ve–VIe siºcles), in: H. Wolfram/A. Schwarcz (Hrsg.), Anerkennung und Integration.
Zu den wirtschaftlichen Grundlagen der Vçlkerwanderungszeit 400 – 600 (Verçffentli-
chungen der Kommission fðr Frðhmittelalterforschung 11), Wien 1988, S. 21 – 72.
49 Vogt (s. Anm. 33), S. 559. Richtiges Verstndnis von sors als Landlos bei R. W. Ma-
thisen, Roman Aristocrats in Barbarian Gaul. Strategies for Survival in an Age of
Transition, Austin 1993, S. 71.
292 Helmut Castritius

von sors oblata (Vers 398) mit „kommende(m) Geschick“. Nostri sind die neuen
Verbðndeten, die Alanen des namentlich nicht bekannten rex, die dadurch zu
auxiliares (verbðndete Truppen) des von Paulinus von Pella reprsentierten
Regimes des Priscus Attalus werden. Und sors oblata hat zunchst einmal die
Bedeutung „ðbertragenes, angebotenes Landlos“,50 wobei damit ein schçnes
Wortspiel verbunden ist. Denn ein zugewiesenes, ðbertragenes Landlos – wo
auch immer auf rçmischem Reichsboden – ist auch die Manifestation eines
individuellen wie kollektiven Schicksals. Die Passage sollte in etwa also lauten:
„Diesem Beispiel alsbald folgend zogen auch die Unsrigen, die wir (jetzt)
Hilfstruppen nannten, ab, bereit mit den Rçmern Friedenstreue zu bewahren,
wohin auch immer das (ihnen) angebotene Landlos sie bringen wðrde.“ Es
spricht auf Grund dieser Formulierung einiges dafðr, dass das kurzlebige
Usurpatorenregime des Priscus Attalus im sðdwestlichen Gallien durch seinen
hohen Funktionstrger Paulinus von Pella den Alanen fðr ihren Abzug aus
Bazas auch konkret Ansiedlungsflchen zusagte. Damit fallen die Geschehnisse
von Bazas in eine bisher von der Forschung nicht zur Kenntnis genommene
Phase, in der Priscus Attalus den Versuch unternahm, von der westgotischen
Bevormundung loszukommen und sich vielleicht im Einklang mit der gallorç-
mischen Senatsaristokratie eine eigenstndige Position und Neuorientierung
sowohl gegenðber Ravenna als auch gegenðber den Westgoten aufzubauen.
Dieser – sich aus verschiedenen Grðnden schnell erledigende – Versuch lsst
sich durchaus in die politischen Ereignisse und Konstellationen nach dem Er-
scheinen der Westgoten in Gallien genauer einordnen. Noch im Jahre 414
musste Priscus Attalus zwar in der Rolle des Gefolgsmanns bei der Vermhlung
des Gotenkçnigs mit der kaiserlichen Prinzessin Galla Placidia in Narbonne –
eine Heirat, die als Verbindung der „Kçnigin des Sðdens mit dem Kçnig des
Nordens“ stilisiert wurde – das Hochzeitsgedicht aufsagen.51 Im folgenden Jahr
aber zogen die Westgoten in die im Nordosten Spanien gelegene Tarraconensis
ab, im Sommer 415 fiel ihr Kçnig durch Mçrderhand.52 Der Versuch einer
Neuorientierung des Priscus Attalus und seines politischen Anhangs, sich von
den Westgoten zu lçsen und ,die alanische KarteÍ zu ziehen, gehçrt zeitlich in
diese wenigen Monate, ja Wochen, als sich abzeichnete, dass Ravenna massiv in
die Verhltnisse in Gallien eingreifen wðrde, wie es alsbald auch erfolgreich
geschah.53 Der als Marionette Alarichs mit den Goten nach Gallien gezogene
Usurpator von 409/410 hatte zunchst und erfolglos versucht, die Westgoten

50 oblata ist bekanntlich ein Partizipium Perfekt und kein Prsenspartizip.


51 Wolfram (s. Anm. 22), S. 169 f.
52 Wolfram (s. Anm. 22), S. 170 f.; Kampers (s. Anm. 22), S. 108 f.
53 Wolfram (s. Anm. 22), S. 170; E. Demougeot, La formation de lÌEurope et les invasions
barbares II 2, Paris 1979, S. 464 – 469; A. Demandt, Die Sptantike. Rçmische Ge-
schichte von Diocletian bis Justinian 284 – 565 (HdAW III 6), Mðnchen 1989, S. 147 –
149.
Barbaren ante portas 293

unter Athaulf zu einer Unterstðtzung des Usurpators Iovinus zu gewinnen.


Nach dem Sturz des Iovinus 413 und dem Abzug der Westgoten nach Spanien
415 hatte er sich dann mit seinen Gefolgsleuten, darunter Paulinus von Pella,
auf eigene Fðße gestellt und versucht, das sðdliche Gallien gegen die Armee der
Zentralregierung in Ravenna zu behaupten und eine eigene Herrschaft zu
etablieren. Gegen die Streitkrfte unter dem Heermeister Constantius, der als
Constantius III. spter sogar die Kaiserwðrde erringen sollte, war Priscus At-
talus jedoch chancenlos. Er wurde noch im Jahre 415 oder ein Jahr spter ge-
fangen genommen, nach Rom verbracht und dort im Jahre 416 im Triumph
mitgefðhrt. Zudem wurde er auf Befehl des Kaisers Honorius verstðmmelt und
beschloss sein Leben in der Verbannung auf den Liparischen Inseln.54 Obwohl
eine isolierte, nicht durch Parallelbelege zu kontrollierende Aussage, lsst sich
aus wenigen Zeilen des Eucharistikos des Paulinus von Pella ein Szenario sonst
verloren gegangener Reichsgeschichte des 2. Jahrzehnts des 5. Jahrhunderts
rekonstruieren.
Forschungsmßig gesehen bedeutsamer ist zweifellos das hier aufgezeigte
Verstndnis von sors oblata; darunter ist jedenfalls kein einem Barbaren jhrlich
zu ðbereignender Steueranteil zu verstehen, sondern ganz konkret ein Stðck
Land von welchem Umfang auch immer. Werden immerhin mittlerweile in der
Forschung unter den sortes Vandalorum ðberwiegend wieder die Zuweisung von
Landgðtern an die Vandalen verstanden, so dass man auf Seiten der ,FiskalistenÍ
sich anscheinend darauf verstndigt hat, die nordafrikanischen Verhltnisse zur
Ausnahme zu deklarieren, so kçnnte die klare Aussage des Paulinus von Pella
bezðglich der den Alanen angebotenen Landlose zu einer Umbesinnung in der
Forschung im Hinblick auf die Arrangements fðhren, die bei einer Ansiedlung
barbarischer gentes ðber die Bðhne gingen. Heiligenviten, Mirakelgeschichten
und poetische Werke sollten fðr eine relativ quellenarme Epoche wie Sptan-
tike/frðhes Mittelalter55 nicht vernachlssigt, ja strker berðcksichtigt werden,
ermçglichen sie doch unter Beachtung eines strikt methodisch-kritischen An-
satzes ereignisgeschichtliche wie strukturelle Erkenntnisse, die uns die hufig
dðrftigen chronikalischen und historiographischen Quellen verweigern.

Abstract

Bazas in south-western Gaul is an impressive example for a scenario con-


tinuously repeating itself throughout the fourth and fifth centuries: a siege by a
horde of barbarians, the danger of losing oneÌs life or, at the very least, house

54 PLRE II, 1980, S. 181.


55 Ein weiteres Manko fðr Erschließung und Verstndnis dieser Epoche ist die immer
dðnner werdende inschriftliche und urkundliche ˜berlieferung.
294 Helmut Castritius

and property and being abducted. Only seldom are we hereby provided with
insights on the mindsets, sensitivities, hopes and goals of the barbarians and, if at
all, merely from an exterior vantage point. Evidence authentic to the barbarians
themselves, however, is extremely seldom. Accordingly, for the case of the si-
tuation of Bazas between the year 408 and 415 we likewise only possess the
views of those under threat, in the form of poetry (Paulinus of Pella) and
hagiography (Gregory of Tours). Still, they believably convey a faculty for ra-
tional action on the side of the barbarians. Moreover, Paulinus of Pella offers a
convincing argument against the „fiscalistic“ hypothesis of Goffart and Durliat.

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