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1 Das Gespräch fand am 21.11.2001 in Cambridge statt und wird in dieser Überarbeitung ge-
kürzt wiedergegeben.
das zu interessieren, was die Menschen ta- wurde in einer historischen Zeitschrift ver-
ten - obwohl mir Malinowski riet, ich solle öffentlicht. Und das waren die Probleme,
mich nicht für Geschichte interessieren. die die Leute beschäftigten; sie waren dar-
UR: Warum? an interessiert, Bloch zu lesen, und sie wa-
JG: Na ja, es gab eine Menge Gründe, ren daran interessiert, Postan zu lesen, ob-
und einige davon waren gute Gründe. Es wohl Postanja nicht besonders viel schrieb,
gab eine Menge spekulativer Geschichten aber dafür sprach er sehr gut.
über Institutionen und Bevölkerungsgrup- UR: Also war der Einfluß des marxisti-
pen, die Anthropologen im 19. Jahrhundert schen Denkens entscheidend?
wirklich ohne Quellen über soziale Institu- JG: Nun, ich wuchs in einer Zeit auf, in
tionen geschrieben hatten. Einiges davon der man unmöglich vom Marxismus unbe-
war interessant. Aber vieles war auch ideo- rührt bleiben konnte. Und natürlich hat der
logisch gefárbt und hatte deshalb für je- Marxismus das Seine dazu beigetragen, daß
manden wie Malinowski wenig zu bieten, sich Anthropologen für Geschichte interes-
der nicht wissen wollte, wie Matrimonie sierten. So arbeitete beispielsweise Kathe-
entstanden war, sondern, wie es auf den rine Gough über matrilineare Systeme in
Trobriand Inseln und anderswo funktio- Indien. Auch in den Arbeiten von Peter Wor-
nierte. Und das erscheint mir als eine an- sley zeigen sich diese historischen Interes-
nehmbare Position: daß man sieht, was vor sen. Diese Leute waren sehr an Marx und an
sich geht und es analysiert. der Geschichte interessiert. In Frankreich
UR: Aber wie nahmst du das Interesse war das ähnlich. Der Marxismus war nicht
von Historikern und Historikerinnen an der der einzige Einfluß, aber einer von mehre-
Anthropologie wahr - Eileen Power war ja ren und einer, der einen zum Nachdenken
beispielsweise an Malinowski interessiert. über bestimmte Fragen brachte - beispiels-
JG: Malinowski war ein interessanter weise, was Feudalismus ist und weshalb
Charakter, weil er - ein bißchen wie Lévi- Leute diesen Begriff benutzten.
Strauss später in Frankreich - eine außerge- PB: Ja, ich glaube, es ergab sich durch
wöhnliche Resonanz unter Intellektuellen Peter Worsley, daß Gluckman Eric Hobs-
der Zeit hatte. Alle möglichen Leute gingen bawm bat, Vorlesungen in Manchester zu
zu den Seminaren an der London School of halten, wobei ich mich bis heute wundere,
Economics, und er hatte einen starken in- daß ein großer Strukturfunktionalist wie
tellektuellen Einfluß - nicht auf viele Hi- Gluckman im Anthropologischen Seminar
storiker, aber auf Power und Marc Postan. im Manchester der 50er Jahre einen Histo-
UR: Sie teilten dieses Interesse also als riker einlud, um einen Vortrag über Sozial-
Paar? rebellen zu halten.
JG: Ja, sie teilten es als Paar - und ich JG: Ich bin nicht sicher, ob es Worsley
weiß nicht, was Peter denkt, aber ich fand war, ich meine, Gluckmann war in Hull, und
seine Arbeit eindrucksvoll, auf dieselbe vielleicht war er ein Erzstrukturfunktiona-
Weise wie Marc Blochs Arbeiten. Einige list - aber irgendwie war er es auch nicht,
von uns betrachten bestimmte Werke, be- ich meine, es gibt eine Menge an Ambigui-
sonders wenn sie sich mit mittelalterlicher täten bei diesen Leuten, Shapira einge-
Geschichte beschäftigen, so als ob sie - schlossen, der immer versuchte, Geschich-
etwa - für unsere Arbeit über Afrika rele- te einzubauen. Aber Gluckmanns Interes-
vant seien. Man konnte Leute auch kaum sen waren anders gelagert. Er fragte sich,
davon abbringen, den Begriff „Feuda- wie er eine Zeitdimension in strukturfunk-
lismus" für afrikanische Gesellschaften zu tionalistische Studien einführen könnte,
verwenden. Eines der ersten Arbeitspapie- beispielsweise als er über die Zulu forschte.
re, das ich schrieb, hieß „Gibt es wirklich Er dachte daran, die Zulu nicht strikt chro-
Feudalismus in Afrika" oder so ähnlich. Es nologisch zu untersuchen, sondern mehrere
Punkte entlang einer Zeitlinie zu nehmen teresse daran, wie soziale Systeme funktio-
und das System an mehreren Punkten in der nieren, und einfach zu beobachten, wie die-
Mitte und am Ende vergleichend zu unter- se Menschen in vier verschiedenen Eßhäu-
suchen. Also, ich denke, daß die Einflüsse sern vier unterschiedliche Mahlzeiten auf
vielfältiger Natur waren - so daß Leute, wie vier verschiedene Arten einnahmen ... Ich
du sagst, in einem Kontext Strukturellsten, war sehr in Versuchung, das malayische Es-
in einem anderen Marxisten und in einem sen zu probieren, aber dann realisierte ich,
weiteren Freudianer waren. daß ich alles mit der rechten Hand essen
UR: Wann war das genau? müßte, und war mir nicht sicher, ob ich
JG: Wenn man bedenkt, daß Evans-Prit- schnell genug essen konnte. So entschied
chard seine Vorlesung darüber, wie die An- ich, trotz allem beim britischen Essen zu
thropologie die Geschichte vernachlässigt bleiben.
hat, bereits 1953 hielt, und wenn man dann UR: Wie alt warst du damals?
das Interesse an Hobsbawms Sozialrebel- PB: Ich war gerade achtzehn, als ich den
len berücksichtigt - es muß wohl in den Nationaldienst antrat - davor hatte ich bei
50er Jahren gewesen sein. In Frankreich meinen Eltern gelebt und war zur Schule
wiederum war es teilweise auch der marxi- gegangen. Also wurde ich innerhalb weni-
stische Einfluß, der zu einer Annäherung ger Wochen mit einer völlig neuen Umge-
zwischen Geschichtswissenschaft und An- bung konfrontiert. Es war alles ziemlich ei-
thropologie führte. Ich kann mich daran er- gentümlich - fulltime - ein bißchen wie im
innern, am Anfang der 70er zu der Ecole College. In Barracken sieht man eben das
des Hautes Etudes gegangen und völlig er- Privatleben anderer Leute. Später dachte
staunt gewesen zu sein, daß 50 Prozent der ich, daß dieser Nationaldienst in mancher-
Kurse als Ethnologie dieses oder jenen oder lei Hinsicht vergleichbar war mit der an-
Anthropologie von soundso bezeichnet thropologischen Feldarbeit. Ich machte
wurden - vor allem des Mittelalters. Notizen, allerdings nicht systematisch, und
UR: Kann man nicht auch von einem ge- ich beobachtete jeden Tag Dinge und
nerationalen Faktor sprechen, der für die schrieb sie in einem Tagebuch nieder, das -
Annäherung von Geschichte und Anthro- wie mich freut sagen zu können - jetzt im
pologie eine Rolle spielte - Jack hat schon Imperial War Museum ist.
seine Erfahrung im Krieg als grundlegend JG: Ja, der Krieg war ungemein wichtig
erwähnt? für die Leute - ich meine, sie kamen weg
PB: Für mich war es nicht der Weltkrieg, und mußten sich Fragen und Menschen
sondern der Nationaldienst, der mein Inter- stellen, denen sie sich nie zuvor gestellt
esse an der Anthropologie weckte. Es war hatten.
dieser Zufall, aus meiner lokalen Umge- UR: Wie war das für dich persönlich?
bung herausgerissen zu werden und in Sin- JG: Nun, ich bin sicher, daß ich eher über
gapur zu landen. Nicht nur in einer exoti- John Donne oder irgendein solches Thema
schen Stadt, sondern in einem Regiment, als den Mythos der LoDaGaa gearbeitet
wo ich von 600 Malayen umgeben war, ei- hätte, wenn ich nicht weggegangen wäre.
ner kleinen Anzahl von Chinesen und In- Der Krieg weckte mein Interesse daran, wie
dern und ungefähr 15 Engländern. In dieser andere Menschen leben. Eine Reihe von
seltsamen Situation ging alles sehr hierar- Leuten meiner Generation ging zurück in
chisch zu, aber ich stellte fest, daß es ver- den Pazifikraum oder nach Afrika, weil sie
schiedene Hierarchien gab: ich stand zwar dort gewesen waren - so wie später Alan
auf der untersten Stufe der militärischen, Macfarlane oder mein Freund Sandy Ro-
aber auf der höchsten Stufe der Färb- und binson zurück nach Indien gingen, weil
Bildungshierarchie. Keiner wußte, wie man ihre Eltern Teepflanzer waren und sie dort
mich einordnen sollte. Das weckte mein In- gewesen waren - es war das Kolonialerbe.
In der Generation davor kamen eine Menge UR: Wie beurteilst du die Kritik an Sah-
Leute aus Übersee, ich meine, in Mali- lins, daß sein Ansatz kulturelle Einstellun-
nowskis Seminar waren Leute aus Neusee- gen als zu uniform darstellt?
land, Südafrika, Australien und anderswo, PB: Ich glaube, hinsichtlich seiner Ar-
und sie blieben dann in England. beit über Hawaii ist das nicht ganz fair;
zeigt er hier doch sehr klar, daß das, was die
„chiefs", die „rulers" und die Bevölkerung
2. wollen, nicht zwangsläufig das Gleiche ist.
Mich hat Sahlins angeregt, über die Refor-
UR: Ich würde jetzt gerne auf ein ande- mation und über die Französische Revolu-
res Thema zu sprechen kommen. Peter, für tion nachzudenken. Ich stellte den Studie-
wie produktiv hältst du historisch-anthro- renden in unserem Historische-Anthropo-
pologische Ansätze, wenn man sich mit logie-Kurs die Frage, wie eine Sahlinische
Fragen des historischen Wandels beschäf- Beschreibung der Reformation oder der
tigt? Französischen Revolution aussehen könn-
PB: Am Anfang gefiel mir an dem An- te?
satz, daß er helfen kann, historische Struk- UR: Und wie könnte eine solche Be-
turen zu erklären. Es war also in einem ge- schreibung etwa der Reformation ausse-
wissen Sinn die Entdeckung der „Anna- hen?
les"-Schule, die sich ja bekanntlich mit PB: Man kann beispielsweise zeigen,
Strukturen und Konjunkturen beschäftigte. daß die Predigt eines Calvinisten keines-
Dann entdeckte ich, daß Anthropologen wegs als häretisch wahrgenommen wurde;
sehr gute Analyseinstrumentarien für die statt mit klaren Zuordnungen reagierten die
Erforschung von Strukturen entwickelt Zuhörer vorerst mit einer gewissen Verun-
hatten - das fand ich anfangs sehr span- sicherung. Nach und nach erst wurde deut-
nend. Es gibt jedoch auch einige Anthropo- lich, inwiefern diese Predigt von der eines
logen, die sehr originell über Wandel nach- Katholiken abwich, und die Menschen be-
denken, nicht so sehr jemand wie Clifford gannen, sich für die eine oder andere Seite
Geertz, der immer noch der Guru für so zu entscheiden.
viele Historiker zu sein scheint, vor allem UR: Jack, ich möchte zu der Frage nach
fur die Amerikaner, sondern eher Leute wie der Erklärungskraft der Historischen An-
Marshall Sahlins, der immer wieder ver- thropologie in bezug auf historischen Wan-
sucht hat, Wandel zu verstehen. del zurückkommen - wie stellt sich das für
UR: Kannst du genauer erklären, warum dich dar?
- deiner Meinung nach - Marshall Sahlins JG: Die Art von Wandel, die mich inter-
für Historiker und Historikerinnen interes- essiert, deckt sich mit dem, was Peter ge-
sant ist? sagt hat. Marshall Sahlins jedoch stehe ich
PB: Sehr anregend finde ich Sahlins „Is- kritischer gegenüber. Mich interessieren
lands of History", 2 da er sich hier mit dem Fragen nach sich wandelnden Einstellun-
Problem auseinandersetzt, wie der Schwel- gen. Im Unterschied zu vielen Anthropolo-
lenbereich zu definieren ist, in dem eine gen gehe ich nicht von in sich homogenen
bestimmte Struktur sich verändert. Mich Kulturen aus, sondern davon, daß Wider-
fasziniert die Idee, daß es einen Schwellen- sprüche Teil des Systems sind. Im übrigen
bereich gibt, an dem eine bestimmte Struk- habe ich mich für Langzeitwandel interes-
tur durch bestimmte Ereignisse förmlich siert - was passierte im Bronzezeitalter und
gesprengt wird. wie wirkte es sich nicht nur wirtschaftlich,
sondern auch kognitiv auf die Menschen JG: Ich glaube als Anthropologe gibt es
aus - solche Fragen. Dann habe ich mich sicher eine Gefahr, sich zu sehr auf Fallstu-
sehr viel mehr als andere fur die Kommuni- dien zu beschränken. Es gibt Anthropolo-
kationsmittel interessiert, für das Schrei- gen, die sich zeitlebens nur mit einer Re-
ben und den Druck und was das bewirkt gion beschäftigen, und diese sehen sie nie
hat. Dieses Interesse geht auf meine Zu- in einem weiteren Kontext. Das trifft aller-
sammenarbeit mit Ian Watt über die Entste- dings nicht für Malinowski zu - er be-
hung des Romans zurück. Dabei interes- schränkte sich nicht auf nur eine Region
sierte mich die Frage, ob und wie die im und erforschte im übrigen auch seine eige-
18. Jahrhundert wachsende Gesellschaft ne Gesellschaft. Es ist keine gute Entwick-
und ihr sich veränderndes Leserverhalten lung, daß viele mikroanthropologischen
das Aufkommen neuer Genres beeinflußte. Studien die Themen, für die sich die An-
Das ist eines meiner Hauptinteressen ge- thropologen des 19. Jahrhunderts interes-
wesen, und ich würde es als historische sierten, völlig beiseite lassen oder als etwas
Kulturanthropologie bezeichnen, oder, behandeln, das mit Evolution zu tun hätte.
wenn man so will, als anthropologische
Kulturgeschichte.
4.
3 Orlando Figes, Interpreting the Russian Revolution. The Language and Symbols of 1917,
New Haven u.a. 1999.
4 Simon Schama, Citizens. A Chronicle of the French Revolution, N e w York 1989.
5 Felipe Fernández-Armesto, A History of the Last Thousand Years, N e w York u. a. 1995.
6 Keith Thomas, Religion and the Decline of Magic. Studies in Popular Beliefs in Sixteenth and
Seventeenth Century England, London 1971.
auf Anthropologie. Das ist paradox, denn ge - sie waren also interessiert. Fortes ver-
eigentlich war eines der Gründungsbücher suchte, psychoanalytische Aspekte in sei-
der historischen Anthropologie politisch, nen afrikanischen Studien über Verwandt-
nämlich Marc Blochs „Les rois thaumatur- schaft und über Bildung mit in den Blick zu
ges". 7 Inzwischen hat es eine Reihe schö- nehmen. Auch Malinowski war ganz sicher
ner Studien zu politischen Festen gegeben, an psychologischen und psychoanalyti-
und es hat jüngst Studien über britische schen Fragen interessiert. Er hatte diese
Wahlen gegeben. Aber die aufregendsten Diskussion mit Ernest Jones, dem Freud-
Themen sind noch nicht behandelt worden. Biographen, und war an jedem Problem in-
Mich würde eine Anthropologie der italie- teressiert, das mit der Frage nach den Span-
nischen kommunistischen Partei und eine nungen zu tun hat, die es in matrilinearen
des britischen Parlaments interessieren. Ei- Institutionen zwischen Männern und ihren
ner von Daniel Roches Studenten, Lucien Müttern und Brüdern und Vätern gibt. Auch
Bély, hat dieses dicke Buch über die moder- ich hatte solche Fragen im Kopf, als ich
ne Diplomatie geschrieben. 8 Da beschreibt nach Afrika ging. Meine Dissertation über
er beispielsweise, weshalb man bei den „Death, Property and the Ancestors" 9 hatte
Friedensverhandlungen in Westphalen und teilweise mit den Spannungen zu tun, die
Utrecht unbedingt einen runden oder ova- u.a. durch Vererbungssysteme entstehen.
len Tisch finden mußte: sie konnten die Aber ich fand es immer schwierig, darüber
Vorrechtsprobleme nur so lösen. Er be- Material zu finden. Das ist auch der Grund,
schreibt dies auf nur zehn Seiten - nun, er weshalb ich immer etwas mißtrauisch ande-
macht es sehr gut auf zehn Seiten, aber es ren Leuten gegenüber war - ich meine ins-
ist ein Buch von 600 Seiten! Es ist ein besondere Historikern wie Ariès und so
Gebiet, auf dem man etwas vollkommen weiter, die eine Menge Unsinn über die Wir-
Originelles machen könnte, ein wirklich kung von Tod auf Individuen schreiben ...
großes Thema nehmen und ihm ein völlig
UR: Warum Unsinn?
neues Aussehen geben könnte.
JG: Es mag als logische Annahme er-
UR: Jack, von den Mentalitäten zur Psy- scheinen, daß die Trauer von Menschen
chologie und Psychoanalyse - wo siedelst von der Anzahl der Sterbenden beeinflußt
du ihren Stellenwert innerhalb der Anthro- wird. Aber in meiner Erfahrung ist das völ-
pologie an? liger Unsinn - ich meine, ich habe sehr viel
JG: Ich bin ja stark geprägt durch Durk- weniger Aufwand an Trauer in unserer Ge-
heim und durch Evans-Pritchard und For- sellschaft gesehen als in Afrika. Mein
tes. Kurioserweise war Fortes ein Psycholo- Nachbar starb vor ein paar Jahren, und ich
ge, zuerst in Südafrika. Aber er war immer wußte es noch nicht einmal - das ist die
sehr vorsichtig in bezug auf die Psycho- Ebene des Anteilnehmens. Die Idee, daß es
logie und Psychoanalyse. Fortes erzählte eine Ökonomie der Trauer gibt, ist schlicht-
mir einmal, daß er, als er seine Doktorarbeit weg falsch.
schrieb, von den Seligmanns gebeten wur- UR: Aber heißt das nicht, daß wir nach
de, einen Bericht darüber zu schreiben, wie Möglichkeiten suchen sollten, nach psy-
die Psychoanalyse die Sozialanthropologie chischen Dimensionen zu fragen?
beeinflussen könne. Auch Evans-Pritchard JG: Ja, wir sollten nach solchen Mög-
und Fortes korrespondierten über diese Fra- lichkeiten suchen. Wobei wir nicht hinter
7 Marc Bloch, Les rois thaumaturges. Etude sur le caractère surnaturel attribué à la puissance
royale particulièrement en France et en Angleterre, Straßburg u. a. 1924.
8 Lucien Bély, Les relations internationales en Europe (XII e -XVIII e siècles), Paris 1992.
9 Jack Goody, Death, Property and the Ancestors. A Study of the Mortuary Customs of the Lo-
DaGaa of West Africa, London 1962.
10 Jack Goody, The Domestication of the Savage Mind, Cambridge u.a. 1977.
11 Robert Darnton, Das große Katzenmassaker. Streifzüge durch die französische Kultur vor der
Revolution, München-Wien 1989.
ford Geertz den Hahnenkampf verstanden mein Lieblingsbuch, weil es in einem ge-
hat - beides eine holistische Sicht von Kul- wissen Sinn mehr für die Leute bedeutet,
tur. Er sieht nicht, daß die Kultur stratifi- mit denen ich in Afrika arbeitete. Das, wor-
ziert ist, daß das kindliche Verständnis von auf ich die meiste Zeit verwendete, war der
der Welt nicht dasselbe ist wie das eines „Myth of the Bagre", 12 mit detaillierter
Teenagers oder Erwachsenen. Es kann ein editorischer Arbeit. Ich bin stolz darauf ge-
Fragment der Wirklichkeit sein, niemals je- wesen. Aber das Buch, das ich zu schreiben
doch gibt es Aufschluß über eine Kultur als am meisten genoß, war sicherlich das Buch
Ganzes. Das passiert oft, wenn Leute sich über Blumen. 13 Ich begann es nach meiner
Mentalitäten oder Psychologien anschauen Pensionierung, als ich ein Seminar über
- sie sehen alles als Einheit und übersehen Blumen machte. Ich war absolut über-
deshalb Stratifikationen, Differenzierun- rascht, daß Blumen in Afrika keine Rolle
gen und Widersprüche. spielten. Ich glaube, ich hatte gerade etwas
UR: Welche eurer Bücher sind euch be- von Clifford Geertz über Indonesien gele-
sonders wichtig - was sind eure eigenen sen, das voll von Blumenritualen war. Da-
Lieblingsbücher? bei realisierte ich, daß Blumen in Afrika
PB: Ich weiß nicht, ob ich das beantwor- nicht angebaut wurden und daß auch wilde
ten kann, weil ich das Gefühl habe, daß ich Pflanzen nicht für Dekorationen benutzt
immer dasselbe Projekt verfolgt habe, das wurden.
im wesentlichen darin besteht, die Vergan-
genheit zu verstehen, indem ich mehr Sozi-
al- und Kulturtheorien verwende als das für 5.
gewöhnlich geschieht. Ich betrachte jedes
Buch als kleine Fallstudie und nicht als UR: Ich komme zu meiner letzten Frage
Projekt für sich, sondern nur als einen Bei- - was sind eurer Meinung nach die wichtig-
trag. Ich habe bewußt entschieden, über be- sten intellektuellen Bewegungen des letz-
stimmte Gebiete als Ausgleich zu anderen ten Jahrhunderts und im Moment?
zu arbeiten. An einem Punkt dachte ich, PB: Ich habe die Erfahrung gemacht,
daß ich der zweiten oder dritten Generation daß man zu einem bestimmten Zeitpunkt
der „Annales"-Schule zu sehr gefolgt wäre, von einer Bewegung fasziniert ist und von
und machte die Studie über Ludwig XIV, ihr mitgetragen wird. Sie wird zur Modeer-
um das zu korrigieren. Aber ich dachte scheinung, und als Reaktion darauf gerät
trotzdem, daß eine Studie über Repräsenta- sie allzu schnell wieder in Vergessenheit.
tionen des Königs Teil des umfassenden Ich wurde erst Marxist, und dann kam der
Projekts gewesen sei. Marxismus aus der Mode. Dabei kann der
UR: Und du Jack - was sind deine Favo- Marxismus dem 21. Jahrhundert noch vie-
riten? les lehren. Dann war der Strukturalismus
JG: Ich weiß nicht, ob ich einen Favori- dran, und ich glaube immer noch, daß eini-
ten habe - ich glaube, daß die meisten mei- ge Elemente des strukturalistischen An-
ner Studien aus der ersten Untersuchung satzes sinnvoll sind. Ich würde insgesamt
stammen, die ich über „Death, Property das befürworten, was das „Unified Social
and the Ancestors" verfaßte. Das war mei- Science Project" genannt wurde, und zu-
ne Doktorarbeit, und die Themen, die in ihr rück zu Braudel und seiner Idee der „histo-
enthalten sind, habe ich seitdem in ver- ire totale" gehen, die alle Arten mensch-
schiedenen Formen weiterverfolgt. Es ist licher Aktivität umfaßt. Aber das Projekt
würde auch Ideen, Konzepte und Theorien keine Hypothesen gab, mit denen man auf
von jeder Studie menschlichen Verhaltens eine besonders praktische Art umgehen
miteinbeziehen, egal ob es Geographie, konnte. Ich muß sagen, daß ich Durkheim
Anthropologie, Soziologie, Psychoanalyse interessant fand. Ich erinnere mich daran,
oder etwas anderes ist. Ich denke, daß, daß Evans-Pritchard sagte, das sei unser
selbst wenn man dazu verdammt ist, diese wichtigster intellektueller Einfluß. Dann
Dimensionen nie alle zusammen zu be- ist Marx im 19. Jahrhundert zu nennen und
kommen, diese Idee das große Projekt aus- Weber im 20. Jahrhundert, aber ich fand
drückt, daß Menschen fähiger werden, an- Weber in bezug auf einfachere Gesellschaf-
dere Menschen, Gruppen und Gesellschaf- ten nie besonders interessant. Postmoderne
ten zu verstehen. Arbeiten haben mich hingegen kaum ange-
UR: Wie genau situierst du die Bedeu- regt. Dann gibt es natürlich diese große Be-
tung des Marxismus? geisterung für Elias im Moment...
PB: In gewissem Sinne war es Marx, der PB: Er ist ein sehr origineller Weberia-
uns lehrte, ein gutes Gefühl für Strukturen ner, der ein bißchen Freud beigemischt hat
zu entwickeln - die harten Strukturen, die - u n d das in den 30er Jahren. Auch ist er ein
ökonomischen, sozialen und kulturellen großer Synthesenschreiber.
Strukturen. Auch ich halte die Marx'schen JG: Ja, die Geschichte der Verhaltensco-
Konfliktstudien nach wie vor für sehr wich- des ist ein wunderbares Thema, aber ich bin
tig· von seiner allgemeinen Sozialtheorie nicht
UR: Und welche Kulturtheorien hältst sehr beeindruckt, er kommt auch aus der
du für besonders wichtig? „Années Sociologiques"-Schule. Aber
PB: In den letzten 20 Jahren würde ich vielleicht sollten wir uns mehr mit Theo-
sicherlich Bourdieu und de Certeau nen- rien einer mittleren Reichweite befassen.
nen. Aber da es um das ganze 20. Jahrhun- Ich arbeitete eine Reihe von Jahren mit Par-
dert geht, sollte man sicher auch Max We- sons. Seine Vorstellung von Sozialstruktu-
ber nicht vergessen. ren ist allerdings viel zu stark formalisiert.
JG: Ich würde Peter folgen, aber meiner Zum Teil hatte Parsons eine negative Wir-
Ansicht nach wurde das „Unified Science kung auf so jemanden wie Geertz, der die
Project" nicht von Braudel entwickelt, son- Anthropologen mit Kultur und die Soziolo-
dern in Chicago. Kuhns Arbeit entstand gen mit dem Sozialen befaßt sah - und na-
daraus, und einige andere Philosophen der türlich beschäftigte sich Geertz selbst mit
Wiener Schule waren dort zusammen mit beidem, konzentrierte sich aber oft eher auf
Morris, der über Peirce schrieb. Aber ich das, was er als das Kulturelle sah. Es ist
weiß nicht, ob all dies irgendeinen tatsäch- nicht viel davon übrig geblieben.
lichen Effekt auf mich gehabt hat, weil es UR: Danke für das Gespräch.