Sie sind auf Seite 1von 6

H1: Arctic Coast Way

H2: Eine Reise durch Island


H3: Wer es gern einsam hat bei der Fahrt über die Insel, biegt am besten nach
Norden ab. Dort verläuft, nahe am Polarkreis, der neue Arctic Coast Way. Unser
Autor stellt sich mutig in den Wind und findet einen lange vermissten Speer.

Von Björn Erik Sass

An meinem letzten Tag auf Island, am nordöstlichen Rand der Insel, kommt mir ein
Radfahrer entgegen. Tief gebeugt hängt er über seinem Lenker, das Gesicht
verzerrt, der Tritt unrund, seine Regenklamotten flattern im Wind. Ich verbeuge mich
im Geiste und fahre hinter meiner Windschutzscheibe weiter die langen
Abwärtskurven hinunter. Nach einigen Minuten kommt mir eine Radfahrerin
entgegen, noch abgekämpfter als der Mann. Sie weint. Ich verbeuge mich noch
tiefer, bereite ihr im Geiste eine heiße Schokolade zu und denke, die beiden sind
bestimmt heute viele, viele Höhenmeter tiefer in Seydisfjördur gestartet, dem Hafen
für die Fähre aus Dänemark. Und dann gleich so eine Tortur. Ich wittere
Beziehungsbelastung und denke auch wieder, wie hübsch, wie schön allein und
kommod ich es hatte auf meiner Autotour entlang des Arctic Coast Way.

Dieser Arctic Coast Way, Nordurstrandarleid auf Isländisch, wurde zu Beginn der
diesjährigen Sommersaison eröffnet. Die Route verknüpft bestehende Straßen und
verläuft über die Halbinseln an Islands Nordküste. Die bekanntere Ringstraße, die
die Insel gut ausgebaut umrundet und an die sich die meisten Besucher halten, liegt
südlich davon. Die 900 Kilometer des Arctic Coast Way sollen durch einige der
abgelegensten Gegenden Islands führen und bieten sich vielleicht als Ausweichroute
für diejenigen an, denen es entlang der Hauptstraße zu voll wird. Schließlich
kommen Jahr für Jahr mehr Touristen.

Ich befahre den Nordurstrandarleid also von West nach Ost, von Hvammstangi bis
Vopnafjördur. Eine Woche habe ich dafür. Vom Flughafen Keflavík tief im Südwesten
des Landes rolle ich nach Norden. Bei Borgarnes bekomme ich Appetit und steuere
eine Tankstelle mit Shop an. Ich finde eine Gaskartusche für meinen Campingkocher
und einige Konserven, um in den nächsten Tagen autark zu sein. Dann esse ich
einen Hotdog, draußen, an meinen Wagen gelehnt. Ich schaue auf einen tiefgrauen
Fjord unter dichtem, tiefgrauem Himmel, dahinter Berge, schroff, dunkel, in der
Ferne auch schneebedeckt, und die Luft ist gleichzeitig klar und gedämpft von der
Schwere der Berge und des Himmels.

Keine drei Stunden soll ich brauchen bis Hvammstangi, behauptet die Navi-App,
mehr als doppelt so lange dauert es tatsächlich. Denn nach dem Hotdog fahre ich
durch eine weite Hochebene, in der das Band der Straße, noch dunkler als das
Land, wunderschön auf und ab schwingt. Die Straße folgt nicht stur dem Profil der
Landschaft, manchmal schwingt sie zur einen Seite, wenn das Land der anderen
Seite zuzustreben scheint, manchmal beschreibt sie eine weite Kurve, ohne dass
man versteht, warum sie ausgerechnet dort nicht einfach geradeaus führt, und das
eine betont so den Swing des anderen, als führten sie zusammen ein Stück auf, das
nur als Duett vollkommen gelingt, und je länger ich ihm beiwohne, desto ruhiger und
dabei wacher werde ich.

Kein Baum steht, es könnte eine Steppe sein, aber wenn ich aussteige, sehe ich
kaum Gras; fast nur Flechten und Moos krallen sich in den Boden. Immer wieder
halte ich an und starre ins Weite, und als ich mein Ziel erreiche, ist es zwar noch
hell, aber Nacht und die Rezeption meines Hotels nicht mehr besetzt. Über einen -
Code gelange ich aufs Zimmer. So erspare ich es mir, nach den ruhigen Stunden
wieder mit dem Sprechen beginnen zu müssen.

Hvammstangi hat knapp 600 Einwohner, einen Supermarkt, eine Tankstelle, eine
Apotheke, eine Post, ein Gesundheits- und ein Seehundzentrum. Es ist nicht sein
urbanes Glitzern, was den Ort zum Startpunkt des Arctic Coast Way macht. Er liegt
schlicht am südwestlichen Ende von Vatnsnes, der ersten Halbinsel auf der West-
Ost-Route. Auf schmaler Rollsplittpiste knirscht mein Auto an der Küste entlang nach
Norden. Ich sehe Schafe, wenige Bauernhöfe, kaum andere Wagen. Auf einer
Grasfläche unterhalb der Straße, direkt am Strand, steht ein alter hölzerner Pferch,
kreisrund und unterteilt wie ein riesiges Kutschenrad, zum Schafesortieren. Hier
bleibe ich ein paar Minuten, und zwei weitere Mietwagen halten, Leute steigen aus
und fotografieren. Wir beachten uns betont nicht, als wollte so jeder für sich glauben
können, der einzige Besucher hier zu sein. Ein Stückchen weiter halte ich, weil ich
die orangefarbene Kuppel eines Leuchtturms so pittoresk finde. Weit im Westen über
die riesige Húnaflói-Bucht hinweg sind auf dem Meer Konturen auszumachen, eine
Ahnung von Land. Wäre ich Seefahrer: eine Hoffnung.

Dann drückt der Wind Löcher in die Wolkendecke, aus ihnen strahlt die Sonne
gebündelt nach unten, und aus den Konturen schälen sich im Scheinwerferlicht
Berge heraus. Der Scheinwerfer wandert weiter mit dem windgewehten Wolkenloch,
auf schneebedeckte, schroffe Berge, auf Strände. Das ist tatsächlich Land, das ist
Strandir, ein Abschnitt der Westfjorde, der großen, zerklüfteten Extraportion Island im
äußersten Nordwesten.

Über die nächsten Stunden fahre ich und halte an, koche Kaffee, schaue herum,
fahre weiter und sehe nur wenige Menschen. Das Karge, Leere beginnt sich wohlig
in mir breitzumachen als entspannende Gedankenlosigkeit. Auf der östlichen Seite
der Halbinsel biege ich einmal von der Piste ab, um mir eine Klippe näher anzu-
sehen, und kreische beinahe vor Schreck: Ein Dutzend Autos und ein Reisebus
stehen auf einem Parkplatz. Kurz überlege ich, kehrtzumachen vor diesen Horden.
Und dann ist es wie oft: Wo viele hinwollen, ist es oft wirklich hübsch. Unten im
Wasser steht ein einsamer Felsen, 15 Meter hoch, verwittert. Der Legende nach ein
Troll, der versteinert wurde. Weil aber die vielen Vögel, die auf ihm nisten, auch viel
auf ihn kacken, heißt er nicht Versteinerter Troll, sondern Weißer Kittel.

H3: Groß die Höfe, groß die Pferdeherden

Am Ufer direkt vorm Felsen gibt eine Gruppe Chinesen Kameravollgas und brüllt
sich Posieranweisungen zu. Zuerst denke ich, warum so laut, Leute. Aber die freuen
sich so überschwänglich über den Felsen und nicken mir grinsend zu, hoch die
Daumen, dass ich meine Strenge fahren lasse. Ich setze mich in den schwarzen
Sand, schaue auf die Chinesen, auf die Seehunde im Fjord, auf diesen
merkwürdigen Felsen und fühle mich dermaßen kontemplativ, mir fällt noch nicht
einmal mehr ein aufregenderes Wort dafür ein.

Wenn ich auf Vatnsnes schon dachte, ist aber geistbefreiend reduziert hier, ist die
nächste Halbinsel Skagi noch weiter, rauer, leerer. Im Ort Skagaströnd schlafe ich
zum ersten Mal im Zelt, und der Wind fährt so schick über die Plane, dass ich mich
fühle wie sanft in einer Wiege geschaukelt. Morgens steige ich auf den Berg hinter
dem Dorf. Von da erkenne ich die Ostküste der Westfjorde noch besser als gestern.
Lange schaue ich nicht hinüber. Obenrum lediglich bekleidet mit langem Unterhemd,
Hemd, Fleece, Jacke und Windjacke, wird mir beizeiten frisch im brüllenden Wind,
trotz milder 10 Grad Celsius.

Im Norden der Halbinsel gehe ich zur Siedlung Kálfshamarsvik, die aufgegeben
wurde, als sich der Fischfang nicht mehr lohnte. Es gibt ein paar Grundmauerruinen,
ein Kliff aus sechseckigen Basaltsäulen und Hunderte Küstenseeschwalben, die
überhaupt keinen Bock auf Besuch haben. Ein paar ihrer Kackbomben treffen. Beim
Rückzug passiere ich neben dem Weg einen kleinen Vogel mit rostrotem
Halsgefieder. Oh, ein Odinshühnchen, denke ich; und weil mir das Geschrei der
Küstenseeschwalben und ihre Exkremente auf meiner Jacke noch so vehement im
Gemüt sind, frage ich mich nicht einmal, warum ich so etwas weiß.

Während meiner Skagi-Etappe finde ich übrigens auch einen seit 800 Jahren
verschollenen Heldenspeer. In der Stadt Saudárkrókur bittet man mich, bei der
Suche zu helfen, es sei wirklich eine enorm wertvolle Waffe. Auf Island war es
nämlich nicht immer so friedlich wie jetzt auf dem Arctic Coast Way. Im 13.
Jahrhundert kämpften Clans um die Vorherrschaft. Es kam zur Schlacht von
Örlygsstadir, nur ein paar Kilometer südlich von Skagi. Am Ende war Sturrla, Chef
des Sturluson-Clans und Neffe des Sagaschreibers Snorri Sturluson, tot. Tot war
auch die alte, unabhängige Verfassung Islands: Der norwegische König nutzte den
Zwist, spielte die Parteien gegeneinander aus und krallte sich am Ende die Insel,
ohne einmarschieren zu müssen. Ebenso dramatisch: In der Schlacht ging auch
Grásída, Sturrlas Speer, verloren. Und siehe, ich finde die Waffe tatsächlich in
kürzester Zeit. Eine Art Wiedergänger von Sturrla nimmt sie von mir entgegen,
prächtig gekleidet nach alter Art und auf einem Pferd. Das denke ich mir alles echt
nicht aus. Ich hätte auch ein Erinnerungsfoto gemacht, aber entweder trage ich
diese Spezialbrille und Sensorenhandschuhe im Virtual-Reality-Raum des Museums
"1238: The Battle of Iceland" und suche holografische Speere, oder ich knipse,
beides zugleich geht nicht.

Die Suche war durchaus schweißtreibend. Im Innenhof meines Hotels gibt es ein
Wasserbecken zum Baden, gespeist von einer heißen Quelle. Aber wenn ich Sachen
mache wie ein Held, will ich auch entspannen wie ein Held. Einige Kilometer nördlich
der Stadt, direkt am Meer, liegt Grettislaug, Grettirs Bad. Grettir der Starke ist ein
Held aus den alten Sagas. Der stieg einmal, um sich nach einer Schwimmtour durch
den arktisch kalten Fjord aufzuwärmen, in eine heiße Quelle. Vielleicht in genau
diese, sie trägt zumindest seinen Namen.

Grettislaug ist ein künstlicher Pool, in dem Thermalquellwasser mit kaltem Wasser
aus einem nahen Bach auf badefähige Temperatur gemischt wird, gebaut aus dicken
Steinen, brusttief, mit Steinbänken an den Innenseiten. Er liegt auf Bauernland, der
Besuch kostet 1000 Kronen, zur Feier des Tages gönne ich mir ein Bier, noch mal
1000 Kronen, zusammen rund 15 Euro, der Bauer akzeptiert lächelnd auch
Kreditkarten. Nach drei herrlich ruhigen Fahrtagen in 40 Grad Celsius revitalisierend,
habe ich nichts zu meckern. Die Dame eines mittelalten deutschen Paares hat sich
ihre Fähigkeit zu kritischem Denken dagegen noch nicht wegdampfen lassen und
moniert den Algenbewuchs auf den Einstiegsstufen als Unfallgefahrenherd, die
Sitzbänke als nicht passgenau für Kleinwüchsigere und wünscht sich eine
Ablagemöglichkeit für ihr Telefon in Griffweite vom Pool, jedoch
spritzwassergeschützt. Das brabbelt sie auf ihren Kerl nieder, doch der sitzt nur im
Wasser und reagiert null. Mir geht das irgendwann auf den Senkel. Ich gehe mir ein
neues Bier holen. "Aufpassen, das Geländer wackelt", warnt sie mich beim Ausstieg,
aber ich gebe nicht zu erkennen, dass ich Deutsch verstehe.

Das Land zwischen den Halbinseln Skagi und Tröllaskagi wird von mehreren
Flüssen durchzogen, es sieht nach fettem Boden aus. Groß die Höfe, groß die
Pferdeherden. Mit 20, 30 Kumpels stehen die Tiere hier immer herum. Junge
Hengste rangeln und machen sich wichtig. Fohlen gucken verschreckt hoch, ob die
Mutter noch in der Nähe ist. Selbst unter Wolken wirkt die Gegend viel leichter und
heller als die Halbinseln da draußen. Und so schön dieses üppige Bauernland ist,
das andere gefällt mir besser.

Tröllaskagi ist die gebirgigste der Halbinseln. Die Fahrt entlang der Küste, die Straße
hoch über den Klippen, ist ein Knüller, hinter jeder Kurve faltet sich das großartigste
Panorama überhaupt aus. Und eine Kurve weiter wieder das großartigste. Ich sehe
Wale, ich spreche mit einem Mann, der erst vor Kurzem Jürgen Klopp die Hand
schüttelte, als der in Dalvík zum Heli-Skiing ging. Und ich fahre nach Akureyri, so
etwas wie die Hauptstadt des Nordens. Zeitgleich mit mir kommt jedoch ein
Kreuzfahrtschiff an. Und dann schlendern auf einen Schlag 1000, 1500 Menschen
durch die kleine Innenstadt, und ich will weg. Während der gesamten 60 Jahre der
ersten Besiedlung Islands um das Jahr 900, heißt es im Landnámabók, der Chronik
über diese Zeit, seien 400 vor allem norwegische Familien hergesegelt. Da kann
man doch nicht jetzt so viele Leute an einem einzigen Ort auf einmal an Land
lassen.

H3: Es ist bildschön

Gebeutelt von diesem Erlebnis und begierig, es in möglichst intensivem Kontakt mit
der Natur zu vergessen, mache ich einen blöden Fehler: Ich fahre zum Godafoss-
Wasserfall. Der soll sehr beeindruckend sein. Er ist auch sehr beeindruckend. Aber
er liegt ganz nah an der Ringstraße und nahe an Akureyri. Ich zähle fast 20
Reisebusse, dazu Pkw und Wohnmobile sonder Zahl. Dichtes Gedränge auf den
asphaltierten Fußwegen und am Rand des Falles. Niemand setzt sich hin und guckt
bloß. Dabei ist der Wasserfall wirklich wunderschön. Es braust der Fluss vor seinen
Schnellen, es brodelt die Gischt, es leuchten Regenbogen darin. Aber hat man sich
solchen Orten nicht früher andächtig genähert, ihre Schönheit nach und nach in sich
einsickern lassen, vielleicht bei einem Picknick? Im Wegfahren denke ich an den
Film Apocalypse Now. Darin steigen zwei Männer einmal von ihrem Boot an Land,
um Mangos zu pflücken. Ein Tiger erschrickt sie. "Niemals das Boot verlassen" ist
ihre Lehre; "Niemals den Arctic Coast Way verlassen" sollte meine sein.

Die Halbinseln Flateyjarskagi und Tjörnes beruhigen mich wieder. In Húsavík nehme
ich einen Anhalter mit, einen Franzosen aus Bordeaux. Sein Rucksack ist ziemlich
klein, dafür trägt er eine extra Tasche mit sich, die wirkt schwer und klirrt. "Du hast
nicht Wein von zu Hause mitgenommen, um hier trotz der Preise für Alkohol ein
würdevolles Camperleben führen zu können?", frage ich und meine es bewundernd.
"Das ist billiger Wein", sagt er, "aber wenn ich hier erzähle, ich käme aus Bordeaux
und hätte diesen Wein dabei, dann halten ihn alle wegen meiner Herkunft sofort für
gute Qualität. Ich tausche dann Flaschen gegen Schlafplätze oder ein Essen, wenn
es gut ist." Wieder doof, aus Kiel zu kommen. Nichts zu exportieren außer Rapsöl.

In der Ásbyrgi-Schlucht zelte ich, auf einem Campingplatz. Freies Campen wie im
übrigen Skandinavien ist auf Island nur noch in wenigen Gegenden erlaubt, dafür
waren wir irgendwann zu viele, die Flechten zertraten und wild in die Landschaft
defäzierten. Am Ende der Schlucht liegt ein Teich, Enten schwimmen darin, einer der
zauberhaftesten Orte, die ich je gesehen habe. Ein Paar kommt dazu. Wir
schweigen, staunen. Immer wieder ist ein Flappen zu hören. Die Frau fragt mich, ob
ich wisse, welcher Vogel dieses Geräusch mache, sie findet es unheimlich. Das ist
die Bekassine, eine Schnepfenart, sage ich, dieses Flappen entsteht beim Balzen im
Sturzflug, wenn der Vogel die Steuerflügel aufstellt.

Ist mir selbst peinlich, diese Klugscheißerei. Jetzt fällt mir auch das Odinshühnchen
von Skagi wieder ein. Ich hatte es nie mit der Ornithologie. Mein Vater aber, und er
versuchte lange, mir sein Wissen weiterzugeben, ob ich wollte oder nicht. Ich hielt es
für erfolgreich versenkt. Diese Route holt es offenbar in Bruchstücken wieder hervor.

Zelten ist toll. Aber was macht man, wenn es zu kalt ist, um abends lange malerisch
vor dem Lager zu hocken? Ich stehe wieder auf und fahre gegen Mitternacht,
taghell, hinunter zum Dettifoss-Wasserfall. Es ist bildschön, nur ein paar Leute,
langes Stehen und Staunen über die Macht des Wassers.

Melrakkaslétta fasst mir alles zusammen. Es ist die letzte der Halbinseln auf meiner
Strecke. Sie ist die leerste, die kargste, die abweisendste, nirgends zieht der Wagen
eine längere Staubfahne hinter sich her. Blaue Schilder weisen entlang von Islands
Nebenstraßen auf nahe Gehöfte hin. Werden die Gehöfte aufgegeben, bleiben ihre
Namen stehen, aber das Gehöft-Symbol wird mit einem X durcíhkreuzt. Nirgendwo
sehe ich so viele X auf den Schildern wie auf Melrakkaslétta. Der ewige Wind und
die Kälte, die schroffen Steine, das Gefühl des Ausgesetztseins: Man muss nicht
lange fahren, um zu verstehen, dass Aufgeben manchmal die vernünftigste Option
ist.

Vorm Leuchtturm Hraunhafnartangi parke ich und gehe das letzte Stück zu Fuß. Ob
der Turm am nördlichsten Punkt Islands steht, ist umstritten, aber egal, ein Fleck ist
hier so weit draußen wie der andere. Der Weg ist voller Treibgut. Rostige Ölfässer,
eine Ninja-Turtle-Socke, blank gewaschene Stämme aus Sibirien. Und ein dickes
Bündel Fischernetz, schöne Farbe, tolle Maschengröße. Ich hebe das Paket an,
etwa 20 Kilo, und gehe weiter. Aus dem Netz könnte man wundervolle Dinge
basteln. Einkaufstaschen, Wanddeko, Schlüsselanhänger mit dem Hinweis "vom
nördlichsten Strand Islands". Ich wittere Bastelspaß, Kunstsinn, Verkaufserfolg.
Garantiert ließe sich ein Business draus machen, dann käme ich ständig zurück und
könnte Leere atmen, wann immer ich will.

Als ich wieder beim Netz bin, steht dort ein junges Camperbus-Pärchen. Ob ich ein
Messer hätte. Habe ich, kriegen sie. Ich denke an einen Splitter im Finger, an eine
verhedderte Anorakkordel. Und dann schnippeln sie mein Netz entzwei, und jeder
trägt eine Hälfte weg. Doch schon zu voll auf dem Arctic Coast Way?

Infobox + Vektorkarte inkl. Route (vom Bild nachmachen):

HINKOMMEN
Icelandair fliegt mehrmals täglich von Berlin, Frankfurt, Hamburg, München und
Düsseldorf. Passagiere mit einem Transatlantikflug können bis zu sieben Tage ohne
zusätzliche Kosten einen Zwischenstopp in Island einlegen.

AUSSCHAU HALTEN
Papageientaucher beim Fischen, Walflossen beim Abtauchen, Reiter am Horizont:
Es hilft, ein gutes Fernglas mitzunehmen.

RUMKOMMEN
Tipptopp, um unabhängig überallhin zu gelangen, sind zu Kleincampern umgebaute
Minivans. Voll ausgestattet für zwei Personen mit Kocher, Schlafsäcken,
Kühlschrank, Stühlen und Klapptisch. Verschiedene Vermieter, etwa goiceland.com,
Renault Kangoo ab circa 50 Euro; pro Tag.

AUFWÄRMEN
Natürlich muss man auf Island in mindestens einer heißen Quelle baden. Und es gibt
reichlich Alternativen zur überlaufenen Blauen Lagune. Bei der Orientierung hilft die
Website hotpoticeland.com.

(Quelle: www.zeit.de/2019/33/arctic-coast-way-nordisland-polarkreis-roadtrip-
einsamkeit)

Das könnte Ihnen auch gefallen