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Headline 1: Radfahren in der Stadt

Headline 2: Nur was für Hartgesottene

Headline 3: Für viele Radfahrer gehören Beinahe-Unfälle und Fast-Zusammenstöße


mit Autos oder Lastern zum Alltag. Mit den bisherigen Maßnahmen wird sich daran
nichts ändern.

Von Andrea Reidl

Radfahren ist nicht gefährlich. Gefährlich ist eine Infrastruktur, die Radfahrerinnen
und Radfahrer immer wieder in kritische Situationen zwingt. Das zeigt Rachel
Aldreds Studie Investigating the rates and impacts of near misses and related
incidents among UK cyclists sehr eindrucksvoll. Die Verkehrswissenschaftlerin an
der University of Westminster hat erstmals Radfahrende nach ihren täglichen
Erlebnissen im Straßenverkehr befragt, um zu verstehen, was Menschen tatsächlich
am Radfahren hindert.

Für die Studie haben insgesamt 2.586 Radlerinnen und Radler an zwei bestimmten
Tagen eine Art Fahrradtagebuch geführt und ihre unangenehmen Erlebnisse im
Straßenverkehr protokolliert. Etwa drei von vier Teilnehmern waren erfahrene
Fahrradpendler, überwiegend männlich (70 Prozent) und zwischen 30 und 59 Jahre
alt. Etwa jeder Dritte von ihnen war in London unterwegs, die anderen ebenfalls aus
Städten in Großbritannien.

Das Ergebnis ist aufschlussreich. Die Studienteilnehmer notierten insgesamt mehr


als 6.000 Zwischenfälle. Die meisten von ihnen erlebten an dem betreffenden Tag
also gleich mehrere Zwischenfälle. Jeder siebte Vorfall war ein Beinah-
Zusammenstoß mit einem Bus oder einem Lkw. Auf der Liste standen außerdem
Autos, die mit zu geringem Abstand überholten, blockierte Radwege, das
sogenannte Dooring – also das plötzliche Öffnen der Tür eines stehenden Autos –
sowie gefährliche Situationen beim Abbiegen oder andere Beinah-Unfälle.

Headline 3: Alltagsfahrer nehmen Konfliktsituationen selten wahr


Die routinierten Fahrerinnen und Fahrer habe die hohe Zahl an Vorfällen selbst
erstaunt, sagt Rachel Aldred. Ihre Erklärung: "Sie nehmen die Konflikte gar nicht
mehr als Bedrohung wahr." Im Umkehrschluss heißt das, für viele gehören
gefährliche Situationen auf dem Arbeitsweg oder der Einkaufstour zum Alltag, und
die Geübten reagieren routiniert auf die Vorfälle. Sie denken nicht weiter über die
kritische Situationen oder den Beinah-Zusammenstoß nach und haben sich an das
Risiko gewöhnt.

Als beängstigend wurden insbesondere die Beinah-Unfälle durch Dooring


empfunden, aber auch das zu enge Überholen von Autos – und die wenig
erfahrenen Radlerinnen und Radler notierten an dem Studientag rund doppelt so
viele "sehr beängstigende" Vorfälle wie die regelmäßig Radelnden.
Zu den in der Studie zitierten Aussagen gehören unter anderem: "Ich fühle mich
nervös, wenn Autos von hinten ankommen" und "Ich glaube inzwischen, dass es
nicht mehr reicht, einfach die Regeln zu befolgen, wenn man am Leben bleiben will –
man muss immer antizipieren, dass die anderen sorglos sein könnten". Andere
gaben an, sie würden künftig noch vorsichtiger radeln. Allerdings: Ungeübte und
unsichere Radfahrer habe die Verkehrssituation so erschreckt, dass sie das
Radfahren unverzüglich wieder aufgaben, berichtet Aldred.

Für die Forscherin ist das Verhalten nachvollziehbar. Sie zieht folgenden Schluss:
"Wer Radfahrer vor beängstigenden Situationen schützen will, muss die Wege
trennen und die Straßenkultur ändern." Der Wunsch, in der Infrastruktur die
Radfahrenden vom motorisierten Verkehr zu separieren, wurde vielfach geäußert.
Der nur auf die Straße gepinselte Radstreifen genügt vielen Radfahrenden nicht.

Headline 3: Jeder zweite Radler fühlt sich im Verkehr unsicher


Aldreds Forderung ist klar: Gefährdete Verkehrsteilnehmer müssen Vorrang haben.
Dafür sei ein umfassender Paradigmenwechsel nötig, außerdem mutige strukturelle
Veränderungen.

In London hat dieser Wandel begonnen, wenn auch langsam. 2013 wurden zunächst
Radstreifen mit blauer Farbe auf die Straße gemalt. "Den Leuten wurde gesagt: Es
ist sicher, auf den Wegen zu fahren", sagt Aldred, "aber auf dieser Infrastruktur sind
Menschen gestorben." Inzwischen werden immer mehr Radwege vom Autoverkehr
klar getrennt. Zudem hat die Londoner Stadtverwaltung das Budget für die
Radinfrastruktur von einem auf zwölf Euro pro Einwohner pro Jahr erhöht.

Aber das allein reiche nicht, urteilt Aldred. Ein generelles Umdenken sei wichtig,
neben der höheren Investition sei auch der gesellschaftliche Wandel wichtig. Der hat
in London ebenfalls begonnen. "Vor ein paar Jahren wurden bei Zusammenstößen
zwischen Auto- und Radfahrern stets die Radfahrenden zur Rechenschaft gezogen",
stellt die Wissenschaftlerin fest. Journalisten hätten in ihren Beiträgen den
Radfahrern indirekt eine Mitschuld an Unfällen unterstellt, indem sie anmerkten,
dass die Toten beispielsweise weder Helme noch Warnwesten getragen hätten. Das
habe inzwischen aufgehört.

Mittlerweile kontrollieren außerdem Polizeistreifen zu Fuß und per Auto, ob Pkw-


Fahrer die Radler mit ausreichend Abstand überholen. An manchen Baustellen
werden sogar extra Polizisten platziert, die darauf achten, dass Autofahrer den
Radfahrern so viel Platz einräumen wie einem Pkw.

Radstreifen auf der Straße schrecken ab


Diese Maßnahmen klingen aus Sicht der Radfahrerinnen und Radfahrer sehr
fortschrittlich. Aber sie sind erst ein Anfang und vor allem meist noch eine
Ausnahme. "London ist alles andere als ein Fahrradmekka", findet Rachel Aldred.
Sie plädiert für einen integrativen Ansatz: Das ist eine Radinfrastruktur, die selbst
den Menschen sicher erscheint, die zurzeit nicht Rad fahren. So entstehe ein
Radwegenetz und ein Verkehrssystem, das für alle funktioniere. Das ist
entscheidend, denn das Ziel ist ja, mehr Menschen aufs Fahrrad zu bringen – und
da schrecken zum Beispiel Radstreifen auf der Straße rechts neben den Autos
potenzielle Radnutzer eher ab.
Auch in Deutschland vertreten inzwischen immer mehr Fahrradverbände und
Radaktivisten diesen Standpunkt. Der Berliner Volksentscheid Fahrrad, andere
ähnliche Initiativen und selbst der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC)
fordern für die Städte sogenannte protected bike lanes. Radstreifen also, die
beispielsweise mithilfe von Plastikpömpeln oder Blumenkübeln vom Autoverkehr
getrennt werden. Auf diesen Wegen fühlen sich Radfahrer jeden Alters sicher.

Infobox:
Lange Zeit vertrat insbesondere der ADFC die Haltung, dass es für Radfahrer am
sichersten sei, wenn sie sich mit Autofahrern eine Fahrspur teilen. So würden sie gut
gesehen und Zahl der Abbiegeunfälle sinke. Allerdings zeigen Umfragen seit Jahren,
dass sich viele Radfahrer im Verkehr nicht sicher fühlen – 47 Prozent in einer
Befragung vom Sommer 2017. Für Unsicherheit sorgen demnach vor allem zu viel
Verkehr (71 Prozent) und rücksichtslose Autofahrerinnen und -fahrer (65 Prozent).
Wer also mehr Menschen zum Umsteigen aufs Rad bewegen will, muss die
Sicherheit von Radfahrern im Alltagsverkehr steigern. Wie, ist der Mehrheit auch
klar: 70 Prozent wünschen sich deutlich getrennte Fahrspuren.

+Statistik -> S8 (Radverkehr in Zahlen)

(Quelle: www.zeit.de/mobilitaet/2018-04/radfahren-stadt-risiken-gefahren-studie)

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