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Ein Sommer in Savannah

Ein Roman von Cara Lay


Inhaltsverzeichnis
Impressum
Über das Buch
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
Einige Monate später
Nachwort
Impressum

Ein Sommer in Savannah

1. Auflage März 2018

© 2018 by Cara Lay

Covergestaltung: C. Wenzel
Korrektorat: Klaus Hering

Bildnachweis:
kiuikson/Shotshop.com
V. Wenzel

Cara Lay
c/o Papyrus Autoren-Club
Pettenkoferstr. 16 - 18
10247 Berlin

www.cara-lay.de
info@cara-lay.de

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.


Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies
gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung,
Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Über das Buch

Der Gewinn eines Stipendiums katapultiert Livia Riggs von der


beschaulichen elterlichen Farm geradewegs ins pulsierende
Großstadtleben Savannahs. Als sie entdeckt, dass ihre
Mitbewohnerin Marisa ihr Geld als Escort-Girl verdient, findet sich
Livia in einer Welt aus Betrug und Verbrechen wieder. Obendrein
sorgt der undurchsichtige Staatsanwalt Gregory für ein
Gefühlschaos. Seine Blicke sind verführerisch, doch kann sie ihm
vertrauen?
Bald gerät sie in tödliche Gefahr und Livia bleibt keine Wahl, als ihr
Leben in Gregs Hände zu legen.

Ein prickelnder Liebesroman mit viel Herz und einer Prise Erotik vor
der Kulisse Savannahs/Georgia.

Band 2 der Elliottville-Reihe.


Jeder Band ist abgeschlossen, aus sich heraus verständlich und
kann unabhängig von den anderen gelesen werden. Keine
Cliffhanger.

Über die Autorin:

Als Cara Lay schreibt sie sinnliche Liebesromane mit viel Herz und
einer Prise Erotik, unter anderem Namen veröffentlicht sie Kriminal-
und Frauenromane. Die Autorin lebt im Westen Deutschlands.
1.

»Auf die Freiheit!« Die drei Gläser trafen mit einem vernehmlichen
Klirren über der Tischmitte aufeinander.
Es war einer jener selten gewordenen Abende, an dem es Liv
gelang, sich mit Myra und Annie zu treffen. Myra – seit jeher
Stubenhockerin – ließ sich, seit sie mit Cole zusammen war, noch
schwieriger vor die Tür zerren. Auch die temperamentvolle Annie
verbrachte jede freie Minute mit ihrem neuen Freund Tyler Hill.
Heute hatten sich Annie und Myra jedoch Zeit für Liv genommen,
galt es doch, ihren Abschied aus Elliottville gebührend zu feiern.
»Ich hätte nie gedacht, dass ausgerechnet du als Erste von uns
die Schwingen ausbreitest, um in die große weite Welt
hinauszufliegen«, sagte Myra und schwenkte gedankenverloren ihr
Glas. »Du warst immer diejenige, die an Elliottville gefesselt schien.«
Sie hatte recht. Liv war in die Arbeitsabläufe auf der elterlichen
Farm eingebunden und es war fast unmöglich, den Hof, und sei es
nur für wenige Tage, zu verlassen.
»Ich weiß«, stimmte Liv strahlend zu. »Es grenzt an ein Wunder.«
»Vermutlich hat dein Vater den Gegenwert des Stipendiums
gesehen und war von den vielen Nullen vor dem Komma so
beeindruckt, dass er nicht anders konnte, als dich ziehen zu lassen«,
warf Annie grinsend ein.
»Hm.« Liv schürzte zweifelnd die Lippen. »Ich denke eher, er
konnte dem geballten Ansturm der Frauen der Familie nicht länger
standhalten.«
»Jetzt wird es spannend«. Myra stellte ihr Glas ab und beugte sich
interessiert vor. »Wie habt ihr es denn nun geschafft, den
gestrengen Mister Riggs weichzukochen?«
Lächelnd lehnte sich Liv zurück und genoss die Aufmerksamkeit
ihrer Freundinnen. Ihr ereignisloses Dasein hatte sie bisher selten
zum Mittelpunkt der Unterhaltung gemacht. Ihre Farm lag zu weit
außerhalb, um in das gesellschaftliche Leben Elliottvilles
eingebunden zu sein, und ein Date mit einem Mann scheiterte nicht
nur an mangelnden Gelegenheiten, sondern obendrein an den
konservativen Ansichten ihres Vaters.
Doch all das sollte sich jetzt ändern! Sie war Mitte zwanzig, hatte
ein Stipendium ergattert und das Leben stand ihr offen – zumindest
einen ganzen Sommer lang! In einigen Monaten würde eine ganz
neue Liv nach Elliottville zurückkehren, das war ihr fester Plan. Sie
setzte sich in Pose und räusperte sich wichtig. »Das Ganze drohte
an der Wohnraumfrage zu scheitern. Meine Eltern waren anfangs
nicht so sehr gegen diesen Kurs, wie ich befürchtet hatte. Ich
glaube, sie wissen, welches Opfer es für mich bedeutet, bei ihnen
auf der Farm zu leben und zu arbeiten. Diese einzigartige Chance
hätten sie mir sicher gegönnt. Mein Vater war vielleicht sogar ein
kleines bisschen stolz, dass ich diesen Schreibwettbewerb
gewonnen habe. Alles lief gut – bis die Frage nach der Unterkunft
aufkam.« Liv rollte theatralisch mit den Augen. »Das Stipendium
umfasst die Gebühren der Uni, sowie sämtliche Lehrmaterialien,
außerdem helfen sie bei der Suche nach vergünstigten Zimmern.
Meine Eltern hörten nur etwas von Studentenwohnheim, da war die
Sache für sie erledigt. Sie sahen mich vermutlich schon
daueralkoholisiert durch die Flure torkeln, an jeder Seite einen
knackigen Typen mit freiem Oberkörper.«
»Ausgerechnet du!«, prustete Annie los. »Aber sollte es dort
wirklich so sein, sag Bescheid, ich eile dir zur Hilfe, falls es zu viele
Kerle werden.«
»Was sagt denn Tyler dazu?« Myra hob mahnend den Zeigefinger
in Annies Richtung. »Du bist jetzt vergeben.«
»Der hat ja nie Zeit«, konterte diese und zog einen Schmollmund.
»Wenn wir zusammen sind, läuft es bombastisch. Der Typ ist der
Knaller im Bett. Aber was nützt mir das, wenn wir uns nie sehen?«
Annie warf Myra einen bedeutungsvollen Blick zu. »Es hat ja nicht
jeder so viel Glück und angelt sich einen Halbgott, der den Boden
unter den Füßen seiner Freundin anbetet und jede freie Minute mit
ihr verbringen möchte. Wohnst du eigentlich noch in deinem
Appartement?«
Myras Strahlen sprach Bände »So ist das eben, wenn man frisch
verliebt ist«, entgegnete sie lachend. »Und überhaupt haben wir uns
jetzt drei ganze Tage lang nicht gesehen, weil Cole auf einer
Geschäftsreise war.«
»Oh du Arme«, spöttelte Annie weiter. »Wenn das so weitergeht,
musst du direkt mitkommen, damit wir uns die Männer in Livs
Wohnheim teilen können.«
»Aber ich bin doch gar nicht im Wohnheim«, unterbrach Liv
energisch den Schlagabtausch. »Das Wohnheim hätten meine
Eltern mir niemals erlaubt!« Liv sah ihren Freundinnen an, dass
beiden der Hinweis auf ihr Alter auf der Zunge lag. »Ich könnte nicht
ohne ihre Zustimmung weggehen«, fügte sie deshalb rasch hinzu.
»Ich hätte kein gutes Gefühl dabei.«
»Und nun? Hast du eine Wohnung in Savannah?« Myra wirkte
erstaunt. Kein Wunder, sie wusste um die beengten finanziellen
Verhältnisse der Familie Riggs.
»Nein, selbst für ein Studentenzimmer hätten meine Ersparnisse
kaum gereicht.« Liv schüttelte den Kopf. »Meine Tante Trish war die
Rettung. Genauer gesagt meine Cousine Marisa. Die lebt und
studiert in Savannah.« Sie grinste. »Zumindest behauptet sie das,
nur hat meine Tante gewisse Zweifel und das ist jetzt mein Glück.«
Als sie die ratlosen Blicke ihrer Freundinnen auffing, erklärte sie: »Es
ist so: Marisa ist das genaue Gegenteil von mir. Sie hat sich von
Zuhause abgenabelt, hält kaum Kontakt zu ihrer Mutter, und wenn
die beiden mal reden, dann kommt es Tante Trish so vor, als hätte
sie jeden Zugang zu Marisa verloren. Falls sich meine Cousine mal
daheim sehen lässt, trägt sie teure Klamotten, die sie sich eigentlich
nicht leisten kann und sieht aus, wie dem Cover eines
Hochglanzmagazins entstiegen. Kurz gesagt: Tante Trish kommt um
vor Sorge, weil sie nicht weiß, was ihre Tochter in der großen Stadt
treibt. Als sie hörte, dass ich nach Savannah gehe, war sie aus dem
Häuschen vor Freude, weil endlich jemand ein Auge auf Marisa
haben kann.«
»Du sollst deine Cousine bespitzeln?« Myras Augenbrauen
schossen in die Höhe. »Du weißt, wie schnell solche Aufträge
daneben gehen.« Myra hatte unlängst schlechte Erfahrung in ihrem
Job als Journalistin gemacht, als sie für einen Zeitungsartikel Conrad
Hughford, Coles Vater, ausspionieren sollte. Ihre Anstellung bei der
Zeitung war sie daraufhin los, und beinahe hätte sie auch Coles
Zuneigung verloren.
»Ja, ich weiß«, räumte Liv kleinlaut ein. »Aber vielleicht ist ja alles
ganz harmlos. Dann kann ich Tante Trish beruhigen und habe
gleichzeitig eine Bleibe in Savannah. Meine Tante hat die Dinge in
die Hand genommen und mit meinem Vater geredet. Ich wohne also
bei meiner Cousine, mein Vater hat nicht gewagt, seiner Schwägerin
zu widersprechen. Alle sind glücklich.« Livia strahlte ihre
Freundinnen an. Sie war gewiss glücklich.

Am nächsten Tag musste Livia nur noch endlos lange vier Stunden
neben ihrem Vater überstehen, der nicht besonders fröhlich wirkte,
während er in die Lincoln Street einbog, um Liv in die Obhut ihrer
Cousine zu übergeben.
Marisas Gesicht sah nicht wesentlich vergnügter aus als das ihres
Onkels, als sie die Tür öffnete.
Livia schaute sich mit großen Augen um. Bereits das Äußere des
Hauses hatte sie beeindruckt. Die hellgrüne Holzverkleidung, die
roten Ziegel der Treppe und des Daches sowie die umlaufende, in
Weiß gehaltene Veranda bildeten eine harmonische
Farbkomposition; kleine Erker, ein Balkon sowie die strahlend
weißen Fenstersimse sorgten für einen verspielten Anblick. Das
Vordach wurde von zwei Säulen gestützt und erinnerte an das Portal
einer Villa. Liv verglich dieses Gebäude unwillkürlich mit dem
ausgesprochen nüchternen elterlichen Wohnhaus und zog den Kopf
ein. Sie fühlte sich bereits provinziell, bevor sie nur einen Fuß über
die Schwelle gesetzt hatte. Im Inneren wurde es nicht besser. Hier
hatte sich jemand mit einem Design-Magazin in der Hand ausgetobt.
Jedes einzelne Stück der spärlichen Möblierung wirkte bewusst in
Szene gesetzt. Die Möbel dienten hier nicht dem Zweck, dem
Mobiliar dienen sollte – darauf sitzen, liegen, etwas hineinstellen. Es
handelte sich vielmehr um die Installation eines Gesamtkunstwerks.
Zumindest kam es Livia so vor, die auf der Stelle den Eindruck hatte,
hier deplatziert zu sein. Sie warf einen Seitenblick auf ihren Vater,
dem ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen. Das wusste sie,
bevor er auch nur einen Ton zu der Ansammlung an Designobjekten
gesagt hatte. Zögerlich stellte er Livs Reisetasche ab, als
befürchtete er, allein dadurch die im hereinfallenden Sonnenlicht
blendenden weißen Bodenfliesen zu beschädigen. Steif reichte er
seiner Nichte die Hand.
»Ähm … schön hast du es hier«, brummte er, sichtlich darum
bemüht, seinen ersten Schreck über diese futuristisch anmutende
Möblierung zu überwinden. »So viel Glas und Metall. Ähm …
modern. Ja.«
Liv sah auf ihre Schuhspitzen, um ihr Grinsen zu verbergen.
Gleich darauf wurde sie jedoch ernst, als ihr einfiel, dass sie die
nächsten drei Monate inmitten dieser Museumslandschaft
verbringen müsste. Das weiße Ledersofa sah nicht so aus, als
könnte man darauf herumlümmeln. Eine Tüte Chips durfte sich
vermutlich nicht auf zehn Schritte den Sofaritzen nähern.
Marisa bog die Mundwinkel andeutungsweise nach oben. »Nun ja,
so ist das eben, wenn man am College of art and design
eingeschrieben ist.« Ein gekünsteltes Lachen folgte. »Ich habe
schließlich erst Möbeldesign studiert, bevor ich auf Fashion
Marketing and Management umgestiegen bin.«
Mr Riggs verkniff sich jeden weiteren Kommentar, hatte es jedoch
mit einem Mal unerwartet eilig, sich zu verabschieden. Liv überlegte
für einen Moment, ob sie ihre Tasche schnappen und ihm
schnurstracks zum Auto folgen sollte – so übermächtig wurde der
Wunsch, nicht in diesem kalten Ambiente wohnen zu müssen. Aber
natürlich siegte ihr Verstand. Für die Chance auf den Schreibkurs
am College of liberal arts, das zur Armstrong Atlantic State
University gehörte, hätte sie auch im Schlafsack vor dem Hörsaal
übernachtet.

Als sie allein waren, sah Marisa Livia an. Lange und irgendwie
abschätzig. Liv musste sich zusammenreißen, um nicht verlegen von
einem Bein aufs andere zu treten. Ihre Cousine war schon immer
selbstbewusster gewesen. Weltgewandter, obschon auch sie nur
aus einer Kleinstadt stammte, aber verglichen mit der abgelegenen
Farm, auf der Liv aufgewachsen war, galt das nahezu als Metropole.
Hatte Marisa doch Zugang zu einer Mall gehabt, mit Boutiquen,
Cafés und einem Kino, ohne dass sie dafür erst eine halbe Stunde
über Feldwege hoppeln musste. Marisa hatte sich die Haare schon
zu aberwitzigen Frisuren hochgesteckt, als Liv noch zwei
geflochtene Zöpfe trug. Sie lief in knappen Outfits herum, als Liv
noch Jeans und T-Shirts mit Comic-Prints anzog, und sie hatte eine
Vorliebe für Schuhe mit spektakulären Absätzen entwickelt, in denen
Livia keine zehn Meter weit gekommen wäre. Und daran hatte sich
bis heute nicht viel geändert.
Die lustigen Prints auf Livias Shirts gehörten der Vergangenheit an
und die beiden seitlichen Zöpfe waren mit den Jahren zu einem
einzigen geworden, der in ihrem Rücken fast bis zur Hüfte reichte.
Davon abgesehen bevorzugte sie nach wie vor Jeans und Sneaker
und galt schon als geschminkt, wenn sie nur etwas Lipgloss auftrug.
Marisa hingegen sah aus, als wolle sie direkt in den
Samstagabend starten – und zwar nicht in der Livia-Version mit DVD
auf dem Sofa, sondern in einen angesagten Club.
»Willst du ausgehen?«, rutschte es Livia heraus.
»So?« In dieser einen Gegenfrage schwang ein vollständiger
Aussagesatz mit. Der lautete: »Oh Mann, du hast wirklich keine
Ahnung«.
Livia biss sich auf die Lippe. »Ich dachte nur … also dein Kleid, es
ist so schön.«
Marisas angespannte Züge glätteten sich sofort. »Ach das«. Sie
winkte ab. »Das habe ich mir schnell übergestreift, als ich euch
vorfahren sah. Das ist doch nichts Besonderes.«
›Und vermutlich hast du auch für die kunstvolle Frisur nicht
Stunden vor dem Spiegel gestanden‹, dachte Livia, verkniff sich
diese Spitze jedoch; immerhin wollte oder musste sie die nächsten
drei Monate mit ihrer Cousine auskommen, da sollte sie es sich nicht
schon in der ersten halben Stunde mit ihr verscherzen.
Marisa macht eine hoheitsvolle Geste in Richtung Tür. »Folge mir
bitte nach oben, ich zeige dir das Gästezimmer.« Sie ließ ihren Blick
durch den Flur gleiten. »Wo ist denn das restliche Gepäck?«
Liv schulterte ihre Reisetasche. »Welches restliche Gepäck?«
»Du willst doch wohl nicht sagen, dass du für drei Monate mit den
paar Klamotten gekommen bist?«
Liv schluckte. Beinahe hätte sie zugegeben, dass sie gar nicht viel
mehr hatte. Sie lief wirklich immer gleich herum: Sneaker, Jeans,
Shirt. Zur Abwechslung hatte sie nur zwei Kleider, ebensoviele
Röcke und ein paar flache Sandalen. Sie seufzte innerlich. Sie fühlte
sich nicht nur provinziell – sie war es definitiv. Da Marisa immer noch
auf eine Antwort wartete, zuckte Liv unbestimmt mit den Schultern.
»Gibt doch Waschsalons.«
»Unten stehen Trockner und Waschmaschine. Aber das meinte
ich nicht.«
Liv wusste, was Marisa meinte, aber was sollte sie schon dazu
sagen? Marisa drehte sich ohne weiteren Kommentar um und stieg
die Treppe in den ersten Stock hinauf. Ein dicker, cremefarbener
Teppich bedeckte den Gang, von dem einige Türen abgingen. »Hier
ist mein Zimmer«, erklärte Marisa, »hier das Badezimmer, unten ist
auch noch ein Gäste-WC, hier ist ein Abstellraum und das hier«, sie
stieß eine Tür auf, »ist dein Reich für die nächsten Wochen.« Sie
rang sich ein halbherziges Lächeln ab. »Willkommen.«
Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und ließ Livia allein. Das
Zimmer war nicht groß, aber gemütlich. Erleichtert atmete Livia auf.
Nach dem Albtraum von einem Wohnzimmer hatte sie mit dem
Schlimmsten gerechnet. Dieser Raum war erfreulich
durchschnittlich. Helle Holzmöbel, bestehend aus Bett, Tisch, Stuhl
und Schrank, ein feines Blümchenmuster auf der Tapete und luftige
Vorhänge, die sich im Windhauch bauschten, als Livia das Fenster
einen Spalt öffnete, um den Kopf hinauszustrecken.
Warme Sommerluft schlug ihr entgegen. Marisas Haus lag in
einem gepflegten Wohngebiet. Schmale baumbeschattete Straßen,
hübsch gestaltete Vorgärten und Häuser, die dem ähnelten, aus dem
sie gerade herausspähte. Definitiv keine schlechte Gegend. Livia
verstand die Frage ihrer Tante, wie Marisa sich das alles leisten
konnte. Sie hatte kein Vollstipendium, das teure Privatcollege
bezahlte zum größten Teil Marisas Mutter. Für ihren Lebensunterhalt
musste Marisa arbeiten. Angeblich hatte sie abends einen Job im
Büro. »Ablage machen und solche langweiligen Dinge«, hatte sie
ihrer Mutter einmal erzählt, die diese Information an Liv
weitergegeben hatte.
Livia wandte sich vom Fenster ab und begann, ihre wenigen
Habseligkeiten auszupacken. Ein paar Minuten später – sie hatte
gerade die leere Tasche weggeräumt – klopfte es an der Tür. Marisa
trat ein, den Arm voller Kleidung. Sie ließ die Sachen aufs Bett
fallen.
»Aus dir machen wir jetzt erstmal eine Stadtpflanze«, sagte sie.
»Nein, keine Widerrede!«, fügte sie sofort hinzu, als sie Livs Miene
bemerkte. »Du kannst am Montag nicht so zur Uni.«
»Was ist falsch an einer Jeans?«, protestierte Livia.
»Nichts, wenn das Oberteil stimmt. Aber weite Schlabber-Shirts
wie das da«, sie zeigte kopfschüttelnd auf Livias Oberkörper, »gehen
gar nicht. Also los jetzt.«
Die nächste Stunde verbrachten die Cousinen mit Livias
Makeover. Drei mitgebrachte Jeans fanden Gnade unter Marisas
Augen, die dazu passenden Oberteile kamen von Marisa. Taillierte
Shirts, Blusen, dazu zwei Kleider und zwei Röcke nahmen den Weg
in Livias Kleiderschrank. Die wusste nicht, wie ihr geschah.
»D… Danke«, stammelte sie schließlich, als Marisa mit
zufriedenem Gesicht den Kleiderschrank schloss. Im Spiegel sah
Livia zwei junge Frauen, die eine in einem taillierten Kleid, die
andere in einem engen kurzen Rock in dunklen Grautönen mit einem
passenden recht knapp geschnittenen Top in hellem Grau, dazu
einen leichten Chiffonschal und einen breiten Gürtel, beides
knallbunt. Etwas zu gewagt nach Livias Geschmack.
Marisa schnalzte hingegen anerkennend mit der Zunge. »Viel
besser«, sagte sie. »Wie gut, dass du meine Figur hast.«
Tatsächlich hätten die Cousinen auch Schwestern sein können.
Größe und Körperbau waren identisch, die gleichen hellblauen
Augen strahlten aus einem leicht gebräunten Gesicht mit
ebenmäßiger Haut und wären nicht die Haare so unterschiedlich
gewesen, hätte man sie aus der Ferne womöglich sogar für Zwillinge
halten können. Marisas blonde Haare flossen glatt, aber schwungvoll
über ihren Rücken. Livia dagegen hatte die Naturlocken ihrer Mutter
geerbt. Ihr Haar zeigte ein ähnliches Blond wie das Marisas, doch
durch die Krause wirkte es stumpf und dunkler. Niemals hätte sie es
offen tragen können, nach wenigen Minuten in der feuchten Luft
Georgias sah sie aus, als hätte sie in eine Steckdose gefasst.
Der Blick ihrer Cousine glitt suchend durch den Raum. »Wo ist
dein Schminkzeug? Hast du es schon im Bad untergebracht?«
»Alles hier drin.« Liv deutete auf einen Kulturbeutel, der noch am
Fußende des Betts darauf wartete, verstaut zu werden. »Lipgloss
und Puder, mehr benutze ich nicht.«
Marisas genuschelter Kommentar hörte sich verdächtig nach
»hoffnungslos« an, ihr Augenrollen verriet auch ohne deutliche
Worte, was sie dachte. »Darum kümmern wir uns später«, sagte sie,
nachdem sie wieder ein etwas aufgesetztes Lächeln in ihr Gesicht
gezaubert hatte. »Ich muss mich fertig machen, ich will bald los,
Carlos konnte mich gerade noch eben so dazwischenschieben, da
darf ich nicht zu spät kommen. Lohnt danach nicht mehr, nach
Hause zu kommen, wir sehen uns also morgen irgendwann.« Marisa
hatte das Zimmer verlassen, noch bevor Liv auf diesen Redefluss
hätte reagieren können. Verdutzt blickte sie ihrer Cousine hinterher.
Deren Verhalten war wirklich schwer einzuordnen. Und wer war
Carlos?

Während Marisa im Bad herumwerkelte, stand Liv unschlüssig in


ihrem Zimmer. Sie hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, wie
sie die ersten Tage in Savannah verbringen würde und wusste nun
nichts mit sich anzufangen. Auf der Farm gab es immer irgendetwas
zu tun, und in den seltenen Momenten, in denen wirklich einmal
Ruhe herrschte, setzte sich Liv mit einer Tasse Kaffee zu ihrer
Mutter oder verabredete sich mit Myra oder Annie. Ein Gefühl von
Schwermut überkam Livia und sie schüttelte den Kopf, um es
loszuwerden. Sie war noch keinen Tag weg aus Elliottville und schon
machte sich Heimweh bemerkbar? Es war ihr Traum gewesen, in die
große Stadt zu gehen, das Unileben und neue Menschen
kennenzulernen – und sei es nur für die drei Monate, die das
Stipendium ihr dies ermöglichte. Energisch kämpfte sie diese
Melancholie nieder, richtete sich auf und trat auf den Flur hinaus.
Marisa war noch immer im Bad, also kehrte Liv in ihr Zimmer zurück
und nahm ein Buch mit nach unten. Da das Wohnzimmer nichts von
seiner wenig einladenden Kälte eingebüßt hatte, setzte sich Livia auf
die Veranda, die das Haus umgab. Die breite Holzbank im weißen
Shabby chic Stil sah mit ihren bunten Kissen freundlich aus. Liv
kuschelte sich an, legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Ein
leichter Wind strich über ihr Gesicht, etwas entfernt rauschte der
Verkehr, doch in ihrer unmittelbaren Umgebung übertönte das
Vogelgezwitscher aus den großen Bäumen am Straßenrand
jedweden anderen Laut. So konnte man es wirklich aushalten. Die
Anspannung der letzten Stunden fiel von ihr ab und sie merkte, wie
sich ihre Mundwinkel wie von selbst zu einem leisen Lächeln nach
oben bogen.
»Ach, hier steckst du«. Mit einem Klacken fiel die
Insektenschutztür hinter Marisa zu, die auf die Veranda stöckelte.
Liv riss die Augen auf und sah ihre Cousine wie eine Erscheinung
aus einer anderen Welt an. In gewisser Weise war sie das auch. Nie
hatte sie die Unterschiede zwischen ihr und Marisa bei aller
optischen Ähnlichkeit deutlicher wahrgenommen. Allein diese
aberwitzig hohen Stilettoabsätze, die länger wirkten als der winzige
Minirock, der kaum diese Bezeichnung verdiente. Das Outfit war hart
an der Grenze zu nuttig und Liv wurde abwechselnd heiß und kalt,
wenn sie daran dachte, dass ihre Tante einen Bericht darüber
erwartete, was ihre Tochter in der Stadt trieb. Beim Anblick dieses
Outfits schossen Livia die wildesten Phantasien durch den Kopf.
Falls Marisa die Verwirrung ihrer Cousine auffiel, überging sie
diese lässig. »Wenn du heute noch ausgehen willst, das RMagic ist
gerade angesagt. Der Bus fährt da vorne ab.« Sie zeigte in eine
ungefähre Richtung. Liv wusste, dass dort die Hauptstraße lag, weil
sie am Mittag von dort gekommen waren. »Hier ist ein
Haustürschlüssel für dich. Kühlschrank ist voll, Kaffeemaschine
selbsterklärend.« Ohne ihre Cousine weiter zu beachten, trippelte
Marisa die hölzernen Stufen zum Weg hinab und verschwand mit
einem lässigen Winken um die Ecke.
Kurz darauf startete ein Motor, dann sorgten wieder allein die
Vögel für die Hintergrundgeräusche. Liv ließ sich gegen die Lehne
der Bank fallen und vermisste ihre Freundinnen.
2.

Die folgenden Tage flogen nur so dahin. Liv und Marisa hatten eine
angenehme Form des Zusammenlebens gefunden, die vor allem
darauf basierte, nicht stattzufinden. Wenn Liv von der Uni nach
Hause kam, war Marisa meist kurz darauf schon wieder unterwegs.
Liv wunderte sich, weil Marisa anscheinend nie etwas für das
College machen musste, andererseits fühlte sich Livia gerade selbst
wie im Urlaub.
Die Uni verlangte ihr noch nichts ab, die erste Woche diente der
Orientierung, das bedeutete, es gab Einführungsveranstaltungen
zum gegenseitigen Kennenlernen, jedoch noch keine Kurse.
»Im Grunde ist Einführungswoche auch nur eine Umschreibung
für siebentägige Party«, kommentierte Livia, als sie von Réjane
einen Plastikbecher entgegennahm, in dem etwas undefinierbar
Orangenes schwappte, das laut dem am Tisch lehnenden Plakat die
beschönigende Bezeichnung ›fruchtig-frischer Sommercocktail‹ trug.
Aus großen Boxen schallte Musik über die Wiese, die – eingerahmt
von roten Backsteingebäuden, in denen sie die nächsten Wochen
Literaturkurse belegen würden – das aktuelle Zentrum des
studentischen Partylebens bildete. Zu den ersten früh angereisten
Freshmen, deren reguläres Semester in Kürze losging, gesellten
sich Studenten wie Liv, die bis in den Spätsommer hinein spezielle
Paketangebote wahrnahmen. Überall verteilten sich kleine Gruppen,
vereinzelt erklang Gelächter.
Réjane warf einen skeptischen Blick auf den Inhalt ihres Bechers,
bevor sie daran nippte und sofort das Gesicht verzog. »Merde«,
schimpfte sie, »der besteht ja nur aus Alkohol mit etwas Farbe.
Wollen die uns vergiften oder meinen die, man muss sich die Uni
schönsaufen?« Dann grinste sie verschmitzt. »Andererseits
erleichtert es die Kontaktaufnahme und dafür sind wir schließlich
hier.« Ihre Augen wanderten über eine Gruppe, die etwas von ihnen
entfernt stand. Als hätte er das Interesse gespürt, drehte sich ein
großer Lockenkopf wie aufs Stichwort um. Begleitet von einem
breiten Lächeln winkte er aufgeregt. »Réjane, wie schön, komm her
und bring deine Freundin mit!«
Lächelnd folgte Livia Réjane. Sie hatten sich am Vortag auf einer
eher langweiligen Veranstaltung kennengelernt und sofort gut
verstanden. Die französische Austauschstudentin erinnerte Livia mit
ihrer temperamentvollen Art an Annie, auch wenn die optische
Ähnlichkeit der beiden gering war.
Réjane wurde sofort in die Gruppe gezogen. Der Lockenkopf legte
einen Arm um die Französin und meldete damit offensichtlich
Besitzansprüche gegenüber seinen Freunden an, gegen die Réjane
durchaus nichts einzuwenden hatte, denn sie schmiegte ihren Kopf
an seine Schulter und warf ihm ein kokettes Lächeln zu. Wenngleich
Livia weder an dem Lockenkopf, noch an einem seiner Freunde
Interesse hatte, versetzte es ihr doch einen Stich, wie spielerisch
einfach Réjane mit der Gruppe verschmolz. Livia seufzte. So war es
bereits in Elliottville gewesen. Stets war sie die Außenseiterin. Die
Farm lag zu weit draußen. Bis sie ihren eigenen Führerschein hatte
und – viel schwieriger noch – bis ihr Vater ihr endlich das
Familienauto anvertraute, hatte sie buchstäblich auf der Farm
festgesessen und sich die Abende mit Romanhelden vertrieben,
während ihre Mitschülerinnen die ersten Küsse erhielten. Besser
geworden war es erst, als sie bei einem Schreibkurs der städtischen
Bibliothek Annie und Myra kennenlernte. Zum ersten Mal in ihren
Leben hatte sie echte Freundinnen. Den beiden gelang es nach und
nach, Liv aus ihrem Schneckenhaus zu locken.
Und jetzt war sie hier – inmitten einer phantastischen Großstadt,
an einer der wichtigsten Universitäten des Staates, umgeben von
unzähligen Menschen. Dennoch wurde Liv den Eindruck nicht los,
allzu viel hatte sich nicht geändert. Angesichts der fremden
Kommilitonen war ihre alte Schüchternheit wieder da – und obwohl
Réjane sich in diesem Moment zu ihr umdrehte und auffordernd ihre
Hand ausstreckte, um sie näher an die Gruppe zu beordern, machte
sich in Liv das vertraute Fünfte-Rad-am-Wagen-Gefühl breit.
Mit einem schmalen Lächeln schüttelte sie den Kopf. »Meine
Cousine wartet«, log sie und hatte beim Anblick der enttäuschten
Miene der Französin sofort ein schlechtes Gewissen. Auch einer der
Typen sah sie bedauernd an, als Liv sich kurzentschlossen
verabschiedete. Wilde Studentenpartys waren nichts für sie. Auf
dem Weg zur Bushaltestelle überfiel sie Ernüchterung. Es sollte
doch alles anders werden. Das war ihre Chance gewesen, einen
großen Freundeskreis aufzubauen. Zumindest für drei Monate hätte
sie das Leben führen können, das sie sich in ihrer Highschoolzeit
immer gewünscht hatte. Und der eine Typ hatte doch eigentlich ganz
nett gewirkt. Vielleicht hätte sie mutiger sein sollen. Bestimmt hätte
sie mutiger sein sollen. Ab morgen, das schwor sich Liv, würde alles
anders werden. Doch heute Abend wollte sie lieber noch einmal den
Kopf in den Roman stecken, der auf dem Nachttisch wartete.

Am Ende der Einführungswoche hatte Liv sich immerhin einige Male


auf einen Kaffee mit Réjane getroffen und war mittags mit ihr und
dem Lockenkopf, der Brett hieß, sowie einigen seiner Freunde essen
gegangen. Da das Pensum des Kurses erschreckend straff war,
stellte sich für Liv die Frage nicht mehr, ob sie abends ausgehen
sollte – sie hatte schlicht keine Zeit für andere Aktivitäten. Auf Marisa
traf sie nur selten. Immer häufiger wunderte sich Livia über das
Leben, das ihre Cousine führte. Angefangen vom kleinen,
sportlichen Flitzer, den sie fuhr, über die erlesene Ausstattung des
Hauses, das für eine Studentenbude entschieden zu groß war, bis
hin zu den teuren Outfits. Marisa hatte mit Designernamen um sich
geworfen, von denen Liv mindestens die Hälfte nicht kannte, die
aber offenbar in der Modewelt wichtige Label waren, so wie Marisa
die Namen betonte. Einiges davon gefiel Livia sogar, andere Stücke
fand sie entschieden zu offenherzig. Niemals würde sich Livia so aus
dem Haus wagen – völlig gleichgültig, wie lange sie in der Großstadt
lebte oder wie sehr sie von ihrer Cousine modisch umerzogen
werden würde.
Das Klingeln des Telefons riss Livia aus ihren Grübeleien. Sie
konnte sich nicht erinnern, ob Marisa das Haus schon verlassen
hatte – die Haustür klemmte ein wenig, so dass Liv für gewöhnlich
hörte, wenn ihre Cousine kam oder ging. Da das Telefon beharrlich
weiterläutete, legte Liv mit einem genervten Ausatmen ihr Buch zur
Seite und lief die Treppe hinab. Über Festnetz kamen nur selten
Anrufe an und die wenigen waren in aller Regel für Marisa.
Nachdem sich die Anruferin gemeldet hatte, wünschte sich Livia
sofort, das Klingeln überhört zu haben.
»Oh, hallo, Tante Trish«, säuselte Liv und zwang ihre Mundwinkel
nach oben, da sie mal gehört hatte, man bekäme allein anhand der
Stimme mit, ob der Gesprächspartner am Ende der Leitung lächelte.
Dabei wäre sie am liebsten in einem Loch im Boden versunken. Was
sollte sie antworten, wenn ihre Tante …
»Liebes, schön, dass ich dich dranhabe.«
Schon ging es los. Trisha rief ihretwegen an. Livia stockte
unwillkürlich der Atem.
»Wie geht es denn meiner Lieblingsnichte?«, flötete es aus dem
Hörer. Den lauernden Unterton konnte Trisha nicht kaschieren.
»Hast du dich gut eingelebt?«
»Oh, ja, danke, die Kurse sind interessant und meine
Kommilitonen nett.«
»Und Marisa? Versteht ihr euch gut? Hat sie dir die Stadt schon
gezeigt?«
»Ich habe mir schon einiges von Savannah angesehen.« Dass
Trisha eigentlich etwas anderes wissen wollte, war Livia klar, aber
sie würde ihre ohnehin beunruhigte Tante nicht noch nervöser
machen, indem sie ihr erzählte, dass Marisa vorwiegend abends und
nachts aktiv war und dabei niemals aussah, als würde sie zu ihrem
langweiligen Bürojob aufbrechen.
Ȁh ja, das freut mich. Was macht ihr denn, wenn ihr zusammen
seid?«
»Marisa gibt mir Styling- und Schminktipps.« Das war zumindest
nicht gelogen, auch wenn der zeitliche Rahmen, in dem diese
gemeinsame Unternehmung stattgefunden hatte, denkbar gering
war.
»Ach ja, das kann ich mir vorstellen, das ist ganz sicher Marisas
Berufung.« Trisha lachte.
Nachdem Liv ihr versichert hatte, sie werde Marisa, die leider
gerade aus dem Haus war, Grüße ausrichten, beendete ihre Tante
zum Glück das Verhör. Aufatmend legte Liv den Hörer in die
Ladeschale zurück und zuckte augenblicklich zusammen, als
Marisas Stimme schneidend an ihr Ohr drang.
»Was wollte meine Mutter von dir?«
Langsam drehte Liv sich um. »Nun, ich nehme an, sie wollte
eigentlich mit dir sprechen. Ich wusste nicht, dass du zuhause bist.«
»Bin gerade reingekommen.« Marisa zog die Augenbrauen
zusammen. »Was wollte Trisha denn? Ihr habt doch über mich
gesprochen!«
Wenn sie wüsste, wie hässlich sie mit den Runzeln aussieht,
würde sie nicht so ein böses Gesicht ziehen, dachte Livia und
grinste innerlich. Äußerlich gelassen erwiderte sie: »Sie wollte
wissen, ob ich mich eingelebt habe und ob wir uns gut verstehen.
Das nennt man höfliches Interesse. Menschen machen so etwas,
weißt du?« Sie schenkte ihrer Cousine ein liebreizendes Lächeln
und schob sich an ihr vorbei auf den Flur. Hoffentlich blieb es bei
dieser einen telefonischen Inquisition. Es behagte Livia überhaupt
nicht, so zwischen ihrer Tante und ihrer Cousine zu stehen.

»Überraschung!« Mit einem strahlenden Gesicht erschien Marisa in


Livs Türrahmen. Zwei Tage waren seit Trishas Anruf vergangen, in
denen die Cousinen auch weiterhin kaum miteinander gesprochen
hatten. Deshalb konnte Liv sich auch keinen Reim auf Marisas
fröhliche Miene machen.
»Ja?«, erwiderte sie fragend und im Grunde nur mäßig
interessiert. Sie sollten über das Wochenende eine Kurzgeschichte
plotten sowie schreiben und Livia schwante bereits, dass diese
Aufgabe wesentlich aufwändiger war, als sie sich zunächst anhörte.
Deshalb wollte sie sich durch nichts davon ablenken lassen – schon
gar nicht durch ihre Cousine, denn welche interessante
Überraschung sollte die für Livia haben? Ein weiteres Shirt aus
Marisas Beständen brauchte sie nun wirklich nicht.
Ihre Cousine ließ sich nicht anmerken, ob sie Livias
unterschwellige Ablehnung wahrnahm. Unbeeindruckt tänzelte sie
ins Zimmer. »Du und ich, wir machen morgen einen Cousinentag.
Ich habe es geschafft, auch für dich noch einen Termin bei Carlos zu
bekommen, danach essen wir eine Kleinigkeit und
dann … tadaaa …«, sie machte eine dramatische Pause »dann
gehen wir ins ›RMagic‹. Ich werde dich in Savannahs Nachtleben
einführen!« Sie klatschte von sich selbst begeistert in die Hände.
»Na, was sagst du?«
Cousinentag. Daher wehte der Wind. Trishas Anruf hatte Marisa
wachgerüttelt, die nun entweder ein schlechtes Gewissen beruhigen
wollte oder schlicht Sorge hatte, Livia könnte beim nächsten
Telefonat womöglich nicht genug zu berichten haben. Livia hatte
bereits eine bissige Antwort auf der Zunge, als sie sich bremste.
Vielleicht wäre diese Abwechslung doch ganz nett. Ihr Plan für den
Sommer war schließlich, eine neue Livia zu entdecken. Eine, die
ausging und neue Leute traf. Und womöglich auch flirtete. Eventuell
lernte sie ja sogar einen attraktiven Typen kennen. Annie, Myra und
sie wollten ihr Singledasein beenden. Diesen Plan hatten sie zu
Beginn des Sommers gefasst und Myra und Annie waren beide
inzwischen glücklich mit Cole und Tyler. Zumindest Myra und Cole
waren glücklich, korrigierte sich Livia. Annie hatte die letzten Male
darüber geklagt, dass Tyler zu wenig Zeit für sie hatte.
»Und?« Marisa klang ungeduldig.
»Ja, gerne, das ist eine gute Idee.« Livia lächelte Marisa friedfertig
an. »Ich freue mich.«
Die ersten Bedenken, ob die Idee tatsächlich so gut war, kamen
Livia bereits beim Betreten des ausgesprochen luxuriösen Salons
von Carlos, der sich als Marisas Friseur und Stylist entpuppte. Livia
entspannte sich ein wenig, nachdem Marisa ihr zugeflüstert hatte:
»Keine Sorge, das geht auf meine Rechnung.«
Trotzdem konnte Liv sich nicht voller Ruhe in die sicherlich fähigen
Hände von Carlos’ Assistentin begeben. Sie fühlte sich wie ein
Fremdkörper zwischen all den Personen, die hier in einer ihr völlig
fremden Welt genau zu wissen schienen, was von ihnen erwartet
wurde – auf Seiten des Stylistenteams ebenso, wie auf Seiten der
Kundinnen. Nur Liv warf immer wieder einen hilfesuchenden Blick zu
ihrer Cousine, die ganz in ihrem Element war.
Bevor eine Horde Assistenten über Marisa herfiel, beratschlagte
man sich noch mit fachkundiger Miene, wie mit Livia zu verfahren
sei. Diese kam sich vor wie eine renovierungsbedürftige Wand in
einem vom Verfall bedrohten Haus. Da niemand von ihr eine eigene
Meinung oder gar Mitarbeit zu erwarten schien, ließ sie Carlos und
die immer größer werdende Gruppe um sich herum gewähren und
musste irgendwann sogar zugeben, dass sich die Kopfmassage
angenehm anfühlte und es auch kein Grund zum Weglaufen war,
dass ihr die Hände massiert und die Fingernägel lackiert wurden,
während eine ätzend riechende Masse auf ihrem Kopf einwirkte. Sie
hatte etwas erschrocken auf die Menge an Tunke gestarrt, die eine
von Carlos’ Mitarbeiterinnen in bestimmten Abständen auf Livias
Locken pinselte, sich dann aber damit beruhigt, dass Marisas
unbestreitbar gutes Aussehen unter anderem Carlos zu verdanken
war.
Nachdem das Werk vollbracht war – just in dem Augenblick, als
ihr die Prozedur allmählich zu viel wurde – starrte Livia ungläubig auf
die Person, die ihr aus dem Spiegel entgegen lächelte. Sie war so
stark geschminkt, wie nie zuvor in ihrem Leben, so dezent allerdings,
dass es kaum auffiel und doch ihre glänzenden Augen riesig und
ihre Lippen sinnlich und voll erschienen ließ. Die Augenbrauen
waren akkurat gezupft und die Wimpern bildeten einen dichten
Kranz.
Selbst Marisa schien hingerissen zu sein. Die übliche
Geringschätzung, die so häufig in ihrem Blick lag, wenn sie Livia
ansah, war verschwunden und hatte ehrlicher Bewunderung Platz
gemacht.
»Du siehst großartig aus.«, sagte sie, und nur die deutlich
heraushörbare Verwunderung darüber gab Livia einen kleinen Stich.
Dennoch konnte nichts ihr Hochgefühl trüben, das sich in ihr
ausbreitete, zumal das gesamte Team nach und nach an ihrem Stuhl
vorbeischaute, um sie mit anerkennender Miene zu begutachten.
Livia hatte sich nie hässlich gefühlt. Sie hatte mit Sicherheit auch
vorher nicht so schlimm ausgesehen, wie Marisas offen zur Schau
gestellte Überraschung vermuten lassen könnte. Zwar waren ihre
Haare immer ein Ärgernis gewesen, aber sie hatte gleichmäßige
Gesichtszüge, nie Hautprobleme gehabt und um ihre Modellmaße
hatten Myra und Annie sie stets beneidet, obschon die beiden selbst
eine schlanke, sportliche Figur hatten. Doch als sie nun auf ihre
glänzenden, wohlgeformten Locken blickte, die den Schein der
Deckenbeleuchtung reflektierten und schwungvoll bei jeder
Bewegung wippten, fühlte auch Livia sich an die Verwandlung des
hässlichen Entleins in einen prachtvollen Schwan erinnert. Sie hatte
keine Ahnung gehabt, dass sie so gut aussehen konnte.

Einige Stunden später war Livia zum ersten Mal aus tiefstem Herzen
dankbar für Marisas Einfluss auf ihr Styling. Nicht nur wegen des
Besuchs bei Carlos, sondern vielmehr wegen des engen schwarzen
Minikleids und den mörderischen Stilettos unter den Hacken. Beides
hätte sie ohne Marisas Rat, vorgebracht in ihrem typischen
Befehlston, sicherlich niemals angezogen – und wäre prompt am
Türsteher des RMagic gescheitert. Marisa kannte zum Glück den
ungeschriebenen Dresscode des Clubs, der offenbar möglichst viel
Bein verlangte. Das bedeutete nicht nur halsbrecherische Absätze,
sondern oben möglichst wenig Stoff, damit viel Schenkel frei blieb.
Ein paar wartende Mädchen waren so angezogen, dass Livias Vater
nicht auf der Stelle einen Herzinfarkt bekommen hätte, doch alle, die
– wie Livia und Marisa – vom Türsteher an der Schlange vorbei
durchgewunken wurden, trugen diese Uniform aus Stilettos und
schwarzem Mini.
Der Club bestand aus dröhnenden Bässen, zuckenden Lichtern
und viel Dunkelheit. Livia fragte sich, wie sie sich zwischen all den
dichtgedrängten Körpern zurechtfinden sollte, aber Marisa schob
sich zielsicher durch die Finsternis, bis sie vor zwei Frauen standen,
die sich ebenfalls dem hier gängigen Bekleidungsdiktat unterworfen
hatten.
»Das sind Elora und Sage«, stellte Marisa ihre Freundinnen vor,
nachdem sie ihre gezierte Küsschen-links-Küsschen-rechts
Begrüßungsshow beendet hatte. Liv las diesen Satz von den Lippen
ab, bei dem herrschenden Krach hätte sie ihn niemals verstehen
können. Da Marisa ihr vorher von ihren Freundinnen erzählt hatte,
reimte sie sich den Inhalt zusammen. Obwohl Elora und Sage sie
höflich begrüßten, oder es zumindest so wirkte – denn etwas
Gesprochenes zu hören war schlicht unmöglich – setzte sofort das
Außenseitergefühl ein. Mit jeder Faser ihres Körpers spürte sie, hier
nicht hinzugehören. Der Eindruck verstärkte sich, als die drei
zielsicher in Richtung Bar marschierten. Livia stöckelte hinter dem
Trio her und hatte sie bald aus den Augen verloren. Sie war das
Gehen in diesen Schuhen nicht gewohnt und musste sich auf jeden
Schritt konzentrieren, wenn sie nicht eine peinliche Bauchlandung
machen wollte. Sie achtete so sehr darauf, möglichst elegant einen
Fuß vor den anderen zu setzen, dass sie nicht aufpasste, wohin sie
lief und prompt gegen einen breiten Rücken prallte. Der breite
Rücken zuckte kurz, dann drehte sich der Mann, zu dem er gehörte,
um.
Livia hob den Kopf, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Es kam
nicht häufig vor, dass ein Mann sie so deutlich überragte. Dieser hier
musste fast zwei Meter groß sein. Zwei außerordentlich sportliche
Meter. Das weiße Hemd war für Livias Geschmack zu weit
aufgeknöpft und gab den Blick auf ausgesprochen gut definierte
Brustmuskeln frei und sie war sicher, ein Stückchen unterhalb einen
beachtlichen Sixpack zu finden. Einen unsinnigen Moment lang
verspürte sie das Bedürfnis, die Hand auszustrecken, um das zu
überprüfen. Dabei war der Kerl überhaupt nicht ihr Typ. Seine
arrogante Haltung und das viel zu weit geöffnete Hemd
disqualifizierten den Mann sofort. Und dennoch schoss ihr ein
eigentümliches Gefühl durch den Körper, als sie sein spöttisches
Lächeln auf sich spürte und seine Augen belustigt funkelten. Deren
Farbe konnte sie wegen der schlechten Beleuchtung nicht erkennen.
Warum interessierte sie sich überhaupt dafür? Das Lächeln ihres
Gegenübers wurde breiter, er entblößte eine Reihe weißer,
gleichmäßiger Zähne, dann sagte er etwas. Dabei beugte er sich zu
ihr nach vorne. Ein Hauch seines Aftershaves streifte ihre Nase, es
war nicht annähernd so aufdringlich, wie Liv erwartet hatte, sondern
roch angenehm würzig herb und passte zu ihm. Liv trat einen Schritt
zurück. Was waren das plötzlich für Gedanken? Es war doch völlig
egal, welche Augenfarbe der Kerl hatte, oder welches Rasierwasser
er benutzte. Sie hatte sich zwar vorgenommen, in diesem Sommer
in Savannah einen Flirt zu wagen, aber sicherlich nicht mit einem
Typen wie dem, der jetzt gerade die Stirn in Falten legte, den Kopf
leicht zur Seite neigte und offensichtlich auf eine Antwort wartete.
Die er nie erhalten würde, denn abgesehen davon, dass Liv die
Frage nicht verstanden hatte, wollte sie nur eins: weg von diesem
Kerl, der sie mit seinen Augen, die seltsam eindringlich auf ihr
ruhten, gefangen nahm. Sie machte eine entschuldigende Geste in
Richtung Ohr, zuckte mit den Schultern und drehte sich auf dem
Absatz um. So schnell es die Schuhe erlaubten, brachte sie Abstand
zwischen sich und dem viel zu offenherzigen Hemd.

Liv wusste nicht, welchem Zufall sie es verdankte, dass sie Marisa
und ihre Freundinnen auf der Tanzfläche wiederfand, doch während
sie sich zusammen mit ihnen zu wummernden R ’n’ B Rhythmen
bewegte, begann sie zu ihrer Überraschung, den Abend zu
genießen. Irgendwann glaubte sie, bohrende Blicke in ihrem Rücken
zu spüren, aber als sie sich umwandte, war dort nur eine wogende
Menge. Vermutlich musste sie sich erst daran gewöhnen,
umschwärmt zu werden, denn das war zweifelsohne der Fall. Die
vier Frauen zogen die Blicke auf sich, die Interessenten
umschwirrten sie wie Wespen einen Krug Limonade. Während die
drei anderen solche Aufmerksamkeit offenbar nicht nur gewohnt
waren, sondern auch genossen, musste Liv eins ums andere Mal
ihren Fluchtreflex unterdrücken. Irgendwann wurde es ihr zu viel.
Eine Gruppe von Männern zog den Kreis immer enger um die vier
und Liv fühlte sich mit einem Mal an das Viehtreiben auf der Farm
erinnert. Da ihre Füße inzwischen ohnehin schmerzten,
verabschiedete sie sich von Marisa, winkte Elora und Sage zu und
schob sich durch den Ring der tanzenden Männerkörper in Richtung
Ausgang. Halbherzig ließ sie sich den Stempel für den Wiedereintritt
aufdrücken, denn eigentlich reichte es ihr für heute, auch wenn sie
zwischendurch erstaunlich viel Spaß gehabt hatte.
Vor der Tür lehnte sie sich gegen die kühle Außenmauer, schloss
die Augen und sog die frische Nachtluft ein. Das Vibrieren der Bässe
kribbelte durch die Ziegel an ihrem Rücken. Vereinzelt standen
Gäste auf dem Vorplatz und unterhielten sich, doch verglichen mit
dem Lärmpegel im Inneren war es paradiesisch ruhig. Bis eine
warme, tiefe Stimme die Stille durchbrach.
»Hierhin hast du dich also geflüchtet.«
Liv riss überrascht die Augen auf. ›Blau‹, schoss es ihr durch den
Kopf. Nicht so blau wie ihre Iriden, aber Mister-offenes-Hemd hatte
eindeutig blaue Augen, wie sie im Licht der Außenscheinwerfer, die
den Vorplatz taghell beschienen, erkennen konnte.
»Warum bist du vorhin so schnell verschwunden?«, hakte der Typ
nach und überging, dass Livia noch keinen Ton gesagt hatte. »Du
bist die Erste, die vor mir wegläuft, nur weil ich ihr einen Drink
ausgeben will.« Sein Lächeln setzte Grübchen frei. Und
Glückshormone in Livs Innerem. Dennoch war sein Auftreten
eindeutig zu großspurig. Selbstsicher grinste er sie an.
»Es war so laut, ich habe da drin nichts verstanden«,
entschuldigte sich Liv.
»Wie wäre es dann jetzt? Wollen wir Verpasstes nachholen?«
Sein Blick bohrte sich in sie, als wollte er sie hypnotisieren.
Irgendetwas in Liv sprach auf diesen Mann an, obwohl der Kopf
zeitgleich tausend Gründe lieferte, die Finger von ihm zu lassen.
Angefangen mit dem offenen Hemd, über die arrogante Art bis hin
zu der Tatsache, dass er aus jeder Pore Testosteron verströmte.
Solche Typen wollten schnellen Sex, das wusste Livia auch ohne
einschlägige Erfahrung. Und plötzlich sah sie sich mit seinen Augen:
aufgedonnert mit viel zu hohen Absätzen in einem extrem
körperbetonten Kleid. Sie schrie ja quasi ›Fick mich‹. Schamesröte
schoss ihr ins Gesicht und sie hoffte nur, ihr Gegenüber würde das
nicht sehen. Eigenartigerweise war ihr trotz allem nicht egal, was er
von ihr hielt. Schnell senkte sie den Kopf.
»Ich wollte nach Hause«, erwiderte sie schließlich. »Und es sieht
so aus, als warteten deine Freunde auf dich.« Sie deutete mit dem
Kinn auf zwei Männer, die einige Schritte entfernt standen und mit
schlecht verborgenem Interesse zu ihnen herübersahen.
»Ach die«, lachte der Mann und Liv ärgerte sich darüber, wie gut
ihr der warme Ton gefiel, »das sind Drew und Tim. Tim wollte eine
rauchen, deshalb sind wir rausgegangen. Die finden den Weg zur
Tanzfläche auch ohne meine Hilfe. Übrigens, ich heiße Greg.«
»Livia«, erwiderte Liv ganz automatisch und biss sich dann auf die
Unterlippe. Wie kam sie dazu, diesem Wildfremden ihren Namen zu
nennen?
»Freut mich«, sagte Greg und sah zum Glück überhaupt nicht
gefährlich aus. »Wollen wir dann?« Er machte eine einladende
Geste in Richtung Tür.
Sie sah die feingliedrigen Hände, die zu einem Pianisten oder
Chirurgen passen würden. Sie bemerkte die Muskeln seiner
Unterarme, die aus den hochgekrempelten Hemdsärmeln ragten und
sie verspürte jäh ein unverständliches Verlangen danach, diese
Arme um sich zu fühlen, von seinen Lippen liebkost und – Livias
Gesicht glühte förmlich – von diesen Fingern überall berührt zu
werden. Seine Wirkung war zu stark. Livia warf sich herum, als habe
Greg sie körperlich angegriffen. Aus den Augenwinkeln nahm sie
seinen verdatterten Gesichtsausdruck wahr, doch sein ausgeprägtes
Ego würde sicher keinen Schaden nehmen. Mit schnellen Schritten
floh sie in Richtung Bushaltestelle, darüber verwundert, wie rasch
man in diesen Schuhen laufen konnte, wenn man es musste.
Als sie im Nachtbus saß, atmete sie auf. Ihr Herz klopfte noch
immer bis zum Hals und verwirrende Emotionen stritten um die
Vorherrschaft. Gregs Lächeln tauchte vor ihrem geistigen Auge auf.
Auch wenn sie noch nie Sex gehabt hatte, war sie nicht prüde.
Dennoch hatte sie niemals wenige Minuten nach dem Kennenlernen
schon das Bedürfnis verspürt, mit einem Mann ins Bett zu steigen.
Greg hatte eine Seite in ihr angesprochen, die sie nicht kannte. Livia
presste die Schenkel zusammen, als ihr erneut Bilder durch den
Kopf schossen, was Gregs Hände alles mit ihr anstellten. Ein leises
Stöhnen schlüpfte über ihre Lippen und sie sah sich eilig um. Zum
Glück hatte keiner der übrigen Fahrgäste etwas gehört. Sie rutschte
auf dem Sitz herum, um ihren Schritt zu beruhigen. Sie sollte wirklich
schnellstmöglich auf andere Gedanken kommen.
3.

»Was hast du meiner Mutter erzählt?« Ohne anzuklopfen riss Marisa


die Tür zu Livias Zimmer auf und blitzte ihre Cousine an.
Livia hob den Kopf. Sie hatte endlich die Ruhe gefunden, sich mit
der Kurzgeschichte zu befassen, die sie bis morgen fertig haben
musste. Ständig hatten sich Gregs Grübchen und sein leicht
spöttisches Lächeln in ihre Gedanken geschoben und ein
konzentriertes Arbeiten unmöglich gemacht. Und nun, da sie die
Bilder endlich verdrängen konnte, störte ihre Cousine. »Was soll ich
ihr erzählt haben?«, erwiderte sie stirnrunzelnd. »Du weißt doch
schon, worüber wir gesprochen haben.«
»Ich will es aber ganz genau wissen!« Marisas Tonfall klang, als
würde sie jeden Moment mit dem Fuß aufstampfen wollen.
Liv atmete tief ein und wieder aus. »Hör zu«, sagte sie betont
ruhig. »Deine Mutter wollte wissen, ob ich mich gut eingelebt habe,
das habe ich bejaht. Das war schon alles.«
»Red doch keinen Unsinn! Ihr habt über mich gesprochen! Das
habe ich doch gehört! Und jetzt ist sie zu mir irgendwie komisch am
Telefon.«
»Wenn du unser Gespräch ohnehin belauscht hast, was fragst du
dann?« Allmählich verlor auch Livia die Geduld. »Tante Trish wollte
wissen, was wir beide zusammen unternehmen und ich habe ihr von
deinen Stylingtipps berichtet. Mehr gibt es dazu ja nicht zu sagen.«
Der letzte Satz klang vorwurfsvoller als geplant. Wie sehr es sie
tatsächlich kränkte und enttäuschte, dass Marisa meist distanziert
und obendrein herablassend mit ihr umging, wurde Liv in diesem
Augenblick klar.
»Das war es also. Du konntest ihr nicht genug über mich
mitteilen.« Marisa holte tief Luft. »Du rufst jetzt sofort bei meiner
Mutter an und erzählst ihr von dem tollen Cousinentag und meinen
netten Freundinnen!« Ihr Blick schwankte zwischen auffordernd und
befehlend.
»Wie bitte?« Livias Augenbrauen schossen in die Höhe. »Hast du
sie noch alle? Ich bin doch nicht die NSA! Wenn ihr Probleme
miteinander habt, klärt die gefälligst unter euch. Ich werde weder für
die eine, noch die andere von euch Bericht erstatten!« Demonstrativ
wandte Livia sich wieder ihrem Laptop mit der Kurzgeschichte zu,
aber sie hatte nicht mit der Beharrlichkeit ihrer Cousine gerechnet.
»Nicht so schnell, Fräulein!«. Mit zwei Schritten stand Marisa
neben Livias Tisch und klappte den Rechner einfach zu.
»Ey«, protestierte Livia.
»Du bist ganz schön undankbar«, zischte Marisa. »Ich lasse dich
hier wohnen, habe dir Klamotten geschenkt, habe dich zu Carlos
geschleppt und dich mit meinen Freundinnen bekannt gemacht. Also
erzähle meiner Mutter gefälligst davon!«
»Und ich habe den Eindruck, du hast das nicht aus Nächstenliebe
getan, sondern genau aus diesem Grund – damit ich deiner Mutter
davon erzähle!« Livia schoss den Pfeil ins Blaue hinein ab, doch
Marisas Gesichtszüge verrieten den Volltreffer, den sie damit
landete. Plötzlich verstand sie Marisas Verhalten. Diese aufgesetzte
Freundlichkeit. Das Gefühl, dass Marisa sie nicht bei sich haben
wollte, ihr aber andererseits Klamotten schenkte, Stylingtipps gab
und nicht zuletzt den ›Cousinentag‹ organisiert hatte, der allerdings
erst geboren worden war, nachdem Marisa das Telefonat belauscht
hatte.
»Was bist du für eine manipulative Person!« Ungläubig schüttelte
Livia den Kopf.
»Pff.« Marisa zuckte mit den Schultern. »Denk doch, was du willst.
Ich habe dich schließlich nicht gebeten, hier einzuziehen.«
Livia schob ihren Stuhl zurück, um sich vollständig zu ihrer
Cousine drehen zu können. »Mir war schon klar, dass es
ursprünglich Trishas Idee war, mich hier unterzubringen. Doch mir
war nicht bewusst, wie sehr du dagegen bist.« Sie stand auf. »Es ist
wohl angebracht, ich ziehe noch heute aus«, sagte sie kühl, dabei
glühte sie innerlich. Das Gefühl, unerwünscht zu sein, sich
aufgedrängt zu haben, brannte Löcher in ihre Brust. Zu Livias
Überraschung hielt Marisa ihren Arm fest, mit dem sie ihre Tasche
vom Schrank angeln wollte.
»Bist du wahnsinnig?«, empörte sich Marisa. »Wie sollen wir das
meiner Mutter erklären?«
»Das ist deine größte Sorge?« Livia starrte ihre Cousine an. »Kein
Gedanke daran, wie ich jetzt so schnell eine neue Bleibe finde? Ob
ich überhaupt ein Zimmer auftreibe, das ich mir leisten kann? Oder
ob ich womöglich meinen Traum begraben muss, nur weil du dieses
ohnehin ungenutzte Zimmer lieber leer stehen lässt, um eine
Fassade aufrecht zu halten?«
Marisa war blass geworden. »Wie meinst du das?«, fragte sie
scharf.
»Was meine ich womit?«
»Das mit der Fassade! Was willst du damit andeuten?«
Livia biss sich von innen auf die Wange. Wie meinte sie das? Es
war ihr herausgerutscht, aber je länger sie darüber nachdachte,
desto mehr Sinn ergab ihre Behauptung. Marisa hatte damit
begonnen, ihre Cousine zu manipulieren, als ihr klar wurde, dass
Trisha Livia über Marisas Leben aushorchen wollte. Irgendetwas
hatte Marisa zu verbergen.
»Sind es Drogen?«, fragte Livia aufs Geratewohl. »Hast du Angst,
Trisha könnte erfahren, dass du Drogen nimmst?«
»Bitte?« Marisa riss die Augen auf. »Wie kommst du denn
darauf?«
Livia lehnte sich unschlüssig gegen die Schranktür und
bearbeitete erneut die Wangeninnenseite. »Elora und Sage. Ich bin
mir ziemlich sicher, dass die beiden gestern etwas genommen
hatten. Sie waren beide total überdreht.«
»Ich bringe sie um«, murmelte Marisa, mehr zu sich als zu Livia.
Sie ließ sich auf Livias Bett fallen und zog die Beine an. »Ich habe
sie gebeten, ein einziges Mal auf den Mist zu verzichten. Du solltest
harmlose drei Freundinnen beim Tanzen sehen. Ein paar Drinks,
gute Laune, vielleicht einen Flirt dazu. Absolut nichts, worüber sich
meine Mum Sorgen machen müsste, wenn du es ihr erzählst.« Sie
schloss die Augen und legte den Kopf zurück. »Die beiden schaffen
nicht einmal mehr ein Wochenende ohne Koks.« Sie hob den Kopf
wieder und sah ihre Cousine fest an. »Aber du musst mir glauben,
dass ich das Zeug nicht anrühre. Wirklich, das schwöre ich dir!« Ihre
Stimme hatte einen flehenden Unterton.
»Was ist es dann?«, hakte Livia nach. Sie spürte, dass da noch
mehr war. Auch wenn Marisa keine Drogen nahm – das schien die
Wahrheit zu sein – irgendetwas verbarg sie vor ihrer Mutter. »Du
kannst mir vertrauen. Ich habe bisher schließlich dicht gehalten. Ich
hätte Trisha längst erzählen können, dass du jeden Abend das Haus
verlässt, aufgetakelt wie zu einem Date und sicherlich nicht auf dem
Weg, um Ablage in einem Büro zu machen. Ich habe kein Wort
darüber verloren, dass du dir so oft die Nacht um die Ohren
schlägst, dass ich mich frage, wie du noch Vorlesungen besuchen
kannst. Bis jetzt. Aber …« Voller Entschlossenheit blickte Livia in
Marisas Augen. »… ich werde Tante Trish all das berichten, wenn du
nicht sofort mit der Wahrheit rausrückst!«
Marisa fuhr hoch. »Das ist Erpressung!«
»Das mag sein«, erwiderte Livia scheinbar gelassen. »Doch wenn
ich nun mitbekomme, welche Mühe du dir gibst, eine Theaterkulisse
vor mir zu errichten, wenn ich höre, dass du sogar deine
Freundinnen in diese Farce mit einbeziehst, dann bin ich besorgt.
Ich will mir später keine Vorwürfe machen müssen. Wenn du
möchtest, dass ich den Mund halte, will ich jetzt wissen, bei was ich
dich decke!«
Marisa hockte sich auf die Bettkante, stützte die Ellbogen auf die
Knie und legte ihr Gesicht in die Hände. So saß sie minutenlang, bis
sie endlich den Kopf hob und Livia ansah, die inzwischen wieder auf
dem Stuhl Platz genommen hatte und Marisa abwartend taxierte.
»Schwörst du, meiner Mutter nichts zu verraten?«, fragte Marisa.
Das Zurückhaltende, beinahe Resignierte, in Marisas Tonfall
alarmierte Livia. »Wie kann ich dir mein Wort darauf geben, wenn ich
noch gar nicht weiß, um was es geht?«, erwiderte sie vorsichtig.
»Du würdest mein Leben zerstören! Und das meiner Mutter gleich
mit. Wie kannst du das verantworten?« Der Moment der Schwäche
war vorüber. Marisa funkelte Livia kämpferisch an.
»Das habe ich doch gar nicht vor. Ich will nur wissen, was los ist!«
Livias Augen parierten die Blitze, feuerten sie zurück und Marisa
schien zu begreifen, dass sie verloren hatte. Sie atmete tief durch.
»Ich arbeite für einen Escortservice«, sagte sie schließlich und
beobachtete Livias Reaktion.
Die schnappte nach Luft. »Was? Was machst du?«
»Ich arbeite für einen Escortservice. Du weißt doch, was das ist?«
Livia nickte stumm. Natürlich wusste sie das. So ungefähr
zumindest. Das passte ins Bild. Marisas offenherzige Outfits. Ihr
perfektes Styling. Und nicht zuletzt ihre außergewöhnlichen
Arbeitszeiten. »Dann hast du das Studium geschmissen?«, war die
erste Frage, die ihr einfiel.
»Nein.« Marisa schüttelte den Kopf. »Aber du hast schon recht –
es kommt etwas zu kurz. Das macht aber nichts, ich verdiene so
viel, dass ich es mir leisten kann, noch ewig zu studieren.« Sie
lächelte. »Und mein Lebensstil ist deutlich angenehmer als der
meiner Kommilitoninnen.«
Nur dass die nicht jeden Abend die Beine für irgendwelche
schmierigen Typen breitmachen, dachte Livia und schüttelte sich
innerlich. Ein Teil ihrer Gedanken musste sich auf ihrem Gesicht
abgezeichnet haben.
»Findest du das so widerlich?«, fragte Marisa angespannt.
»Widerlich ist das falsche Wort.« Livia ließ sich Zeit, dachte nach.
»Ich kann es mir nur nicht vorstellen, Sex mit jedem x-beliebigen
Kerl zu haben.«
»So schlimm ist das nicht.« Als sie Livias Gesichtsausdruck sah,
lachte Marisa auf. »Nein, wirklich nicht. Unsere Kunden sind
handverlesen. In aller Regel geht man erst zusammen aus, bevor
man entscheidet, wie der Abend weiter verläuft. Die Kunden wissen,
dass die Mädchen das Recht haben, sexuelle Dienste abzulehnen.
Sie respektieren das. Natürlich wird man dann von dem Kerl nicht
mehr gebucht und wenn das zu häufig passiert, fliegt man. Zu einer
Ablehnung kommt es jedoch selten. Richtige Widerlinge schaffen es
erst gar nicht in die Kundenkartei.« Marisa lächelte verschmitzt. »Mit
einigen macht es sogar Spaß.«
Ungläubig schüttelte Livia den Kopf. »Und wie bist du zu diesem
Job gekommen?«
»Scouting. Ich war mit Elora unterwegs. Im RMagic sind wir von
einem Scout angesprochen worden. Erst haben wir es für einen
Scherz gehalten, dann waren wir empört, aber als wir die Bezahlung
hörten, stieg das Interesse. Und der Rest ist Geschichte.« Marisa
zwinkerte Liv zu. Sie wirkte, als sei eine große Last von ihrer
Schulter genommen. »Du bist so interessiert. Soll ich ein
Vorstellungsgespräch für dich organisieren?«
»Niemals!« Livia schnaubte entrüstet und hätte dann beinahe
aufgelacht. Eine Jungfrau als Escort-Dame wäre sicherlich ein
Novum.
»Du hältst aber dicht? Jetzt wo du weißt, dass alles ganz harmlos
ist?«
›Harmlos‹ ist irgendwie anders, dachte Liv, aber verkniff sich den
Kommentar. »Ist der Sex safe?«
»Ja, absolut. Ohne Gummi geht gar nichts. Kunden, die
versuchen, das zu umgehen, fliegen sofort.«
»Dann halte ich dicht. Versprich mir, dass ich mir niemals werde
vorwerfen müssen, diese Entscheidung getroffen zu haben. Du
passt immer auf dich auf, hörst du?«
Marisa stand auf und beugte sich zu Livia. Ehe die es sich versah,
hatte Marisa ihre Arme um sie gelegt. »Ich danke dir. Und ich
schwöre dir, dass ich auf mich achtgebe. Und dass ich mich ab
heute darüber freue, dass du bei mir wohnst.« Sie entließ Livia aus
der Umarmung und trat einen Schritt zurück. »Alles gut zwischen
uns?«
Livia lächelte ihre Cousine an. »Ja, ich denke schon.« Sie würde
an den Neuigkeiten noch eine Weile zu knabbern haben, dennoch
war sie froh, dass sie nun die Wahrheit kannte und die Spannungen
zwischen ihnen jetzt wohl der Vergangenheit angehörten.

Die neue Harmonie im Haus hielt bis zum Samstagvormittag. Marisa


und Livia saßen in der Küche und ließen sich ein ausgiebiges
Frühstück schmecken.
»Ich glaube, ich muss gleich noch Joggen gehen«, kicherte
Marisa. »Ich bin für heute Abend gebucht. Ein neuer Kunde, der
nicht denken soll, er habe einen Blauwal bestellt.« Trotzdem biss sie
genüsslich in ein Butterhörnchen mit Marmelade.
Livia lachte. Seit ihrer Aussprache verstanden sie sich bestens.
Nun, da sie wusste, wohin ihre Cousine aufbrach, hatte sie zwar ein
merkwürdiges Gefühl, wenn Marisa abends das Haus verließ, doch
kommentierte sie den Job nicht.
Marisa wiederum behandelte Livia herzlich. »Natürlich werde ich
nicht jeden Tag gebucht«, hatte Marisa erklärt. »Ich war nicht immer
im Einsatz, sobald ich unterwegs war.« Seitdem das Geheimnis
gelüftet war, blieb sie häufiger zuhause und die Cousinen hatten
sogar schon einen unerwartet gemütlichen DVD-Abend auf der
Designercouch verbracht.
»Macht dich ein neuer Kunde nicht nervös?«, fragte Liv
interessiert. »Du weißt doch, dass es vermutlich auf Sex
hinauslaufen wird.«
»Na ja, sofern die Chemie einigermaßen stimmt, ist es im Grunde
nichts anderes als das erste Mal mit einem neuen Typen.« Marisa
lachte auf. »Du weißt ja, wie das ist. Nervosität auf beiden Seiten.«
»Ehrlich gesagt nicht.« Livia rührte in ihrem Kaffee herum, als
gälte es, einen Preis dafür zu gewinnen.
»Wie – nicht? Du meinst, du hattest noch nicht so viele
verschiedene Partner?«
»Genau genommen noch keinen einzigen.« In Livias Kaffeetasse
bildete sich inzwischen ein Strudel, an dessen Rändern die dunkle
Flüssigkeit aus der Tasse zu schwappen drohte.
Einen Moment war es totenstill in der Küche, bis auf das leise
›Pling‹ des Löffels, der rhythmisch gegen die Tassenwand schlug.
Dann stieß Marisa hörbar die Luft aus. »Du bist noch Jungfrau?«
Endlich legte Livia den Löffel neben die Tasse und hob den Kopf.
»Ja.«
»Oh Mann«. In Marisas Zügen kämpften Unglauben und
Belustigung um die Vorherrschaft. »Dann muss dir mein Job ja
wirklich absonderlich erscheinen. Und ich frage dich auch noch, ob
du Interesse hast!« Sie schüttelte den Kopf. »Apropos Job, ich muss
mal eben mein Handy holen, ob ich schon eine Nachricht habe, wo
ich heute hinmuss.« Sie sprang vom Hocker und verließ die Küche.
Keine Minute später erschien sie wieder in der Tür. Leichenblass
und mit zitternden Händen.
»Katastrophe«, sagte sie tonlos und kletterte auf den Barhocker
am Küchentresen.
»Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.« Liv musterte
ihre Cousine besorgt.
»Schlimmer. Mum hat gestern Abend angerufen. Ich habe das
Blinken des Anrufbeantworters aber gerade erst bemerkt. Hätte ich
es gestern schon abgehört, hätte ich vielleicht noch etwas retten
können, aber so … Mist! Mist! Mist!« Sie hieb mit der Faust auf den
Tresen, dass die Messer auf den Tellern klirrten. Dann bekam ihr
Blick etwas Starres. Aus zu Schlitzen verengten Augen sah sie Liv
an. »Du musst gehen.« Das hörte sich ziemlich befehlend an und
keineswegs so, als sei Widerspruch eine Option. »Du hast mir
diesen Mist eingebrockt, also hilf mir gefälligst aus diesem
Schlamassel auch wieder heraus!«
Liv beschlich ein ungutes Gefühl, obgleich sie noch nicht einmal
verstanden hatte, um was es ging. Dennoch spürte sie, dass sich
etwas Furchtbares anbahnte.
Nach einem Schluck Kaffee und einigen tiefen Atemzügen hatte
sich Marisa wieder so weit beruhigt, dass sie Livia in ihren Plan
einweihen konnte.
»Die Nachricht, die meine Mutter hinterlassen hat. Sie kündigt ihr
Kommen für heute an. Sie muss jeden Moment hier sein!« Marisas
Stimme hatte einen Unterton von Panik. Und Anklage, als sie
fortfuhr: »Verstehst du? Meine Mutter war noch nie zu Besuch! Das
ist alles nur deine Schuld, weil du sie beunruhigt hast.«
Livia rutschte auf ihrem Hocker herum. »Also ich weiß nicht, ich
habe doch gar nichts …«
»Unterbrich mich nicht«, sagte Marisa streng. »Wer weiß, wie
lange uns noch Zeit bleibt. Du musst heute Abend den Auftrag für
mich übernehmen!«
Livia sah ihre Cousine an, als hätte diese den Verstand verloren.
»Bist du irre?« Ihre Stimme drohte vor Empörung zu kippen. »Hast
du mir gerade nicht zugehört? Ich bin Jungfrau! Mein erstes Mal
habe ich mir ganz sicher nicht mit einem deiner Freier vorgestellt!
Und selbst wenn ich mit jedem Mann entlang der Golfküste schon im
Bett gewesen wäre: Ich – übernehme – nicht – deinen – Job!« Liv
sprang auf. »Ich habe nicht über die Art geurteilt, wie du dein Geld
verdienst, aber wage es nicht, mich in diese Sache hineinzuziehen.
Den Mist habe nicht ich dir eingebrockt, sondern du dir ganz allein.
Also sieh zu, wie du da wieder herauskommst!« Wütend begann sie,
das Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine zu räumen. Als sie den
Tisch abwischte, fiel ihr auf, dass Marisa noch immer unbeweglich
auf dem Barhocker kauerte. Zusammengesunken, die Schultern
nach vorne geklappt, gab sie ein Bild des Elends ab. Sofort hatte
Livia ein schlechtes Gewissen.
»Hey.« Sie legte Marisa eine Hand auf den Arm. Zu ihrem Schreck
sah sie, dass ihrer Cousine Tränen über die Wangen liefen. »Es
kann doch sicher ein anderes Mädchen einspringen. Oder kann man
den Termin auf nächste Woche verschieben? Trisha wird doch nicht
ewig hierbleiben.«
»Du verstehst das nicht.« Die leise Antwort war zwischen den
Schluchzern kaum wahrnehmbar. »Leonard ist ein umgänglicher
Typ, aber er hasst Unzuverlässigkeit. Der Kunde bucht das Mädchen
aus einem Katalog. Nach seinen optischen und sexuellen Vorlieben.
Wenn man gebucht wird, geht man hin. Das ist nicht einfach
austauschbar. Ich werde Ärger bekommen. Vielleicht ist sogar mein
Job in Gefahr.«
»Wer ist Leonard? Dein Zuhälter?«
»Was?« Marisa zuckte förmlich zusammen. »Ich bin doch keine
Prostituierte!« Sie klang ehrlich gekränkt. »Leonard ist der Chef der
Vermittlungsagentur. Aber sicher kein Zuhälter!«
»Entschuldigung. Ich wollte dich nicht ärgern. Ich sag doch, dass
ich mich da nicht auskenne.«
»Schon gut. Also ja: Leonard ist mein Chef und mit ihm ist nicht
gut Kirschen essen, wenn eines seiner Mädchen sich nicht an seine
Spielregeln hält. Die besagen unter anderem: keine kurzfristigen
Änderungen.« Sie schlug die Hände vors Gesicht. »Was soll ich
denn bloß machen?«, schluchzte sie zwischen den Fingern
hindurch. »Liv, ich flehe dich an. Du musst hingehen! Bitte!« Sie
nahm die Hände herunter und sah Liv aus riesigen babyblauen
Augen flehentlich an. »Bitte!«, drängte sie noch einmal. »Mein Job
hängt davon ab.« Dicke Tränen perlten aus Marisas Augen.
Liv seufzte. Sie konnte es noch nie ertragen, jemand so
verzweifelt zu sehen. Aber natürlich kam es überhaupt nicht infrage,
mit irgendeinem Kerl ins Bett zu gehen, nur um ihrer Cousine aus
der Patsche zu helfen.
»Du musst nicht mit ihm schlafen«, sagte Marisa in diesem
Moment, als hätte sie Livias Gedanken gelesen.
»Aber ich dachte, darum geht es bei deinem Job?«
»Natürlich. Aber ich habe dir doch erklärt, dass wir das Recht
haben, diesen Teil der Verabredung abzulehnen. Genau das macht
den Unterschied. Der Kunde bucht nur die Begleitung für einen
Abend. Alles andere kann passieren, muss aber nicht.«
»Und dafür zahlt ein Mann Geld?«
»Nein, er zahlt natürlich für die Hoffnung, dass der Abend im Bett
endet. Aber er weiß, dass es dafür keine Garantie gibt.«
»Hast Du schon mal Sex verweigert?«
»Natürlich! Und es war überhaupt kein Problem. Wir waren schick
Essen und haben uns danach voneinander verabschiedet. Er hat
mich nie wieder gebucht.« Marisa legte den Kopf schief und ließ
Livia nicht aus den Augen. »Ein Abendessen? Ganz schick, in
Begleitung eines steinreichen Kerls?«, verlegte sie sich aufs Locken.
»Machst du das für mich?«
»Ich weiß nicht.« Livia kaute auf ihrer Wange. »Glaubst du
wirklich, Leonard würde dich feuern, wenn du einmal absagst?«
»Liebes«, Marisa langte über die Theke und griff nach Livias
Hand. »Das ist kein Bürojob. Hier gelten andere Regeln.« Sie
lächelte hoffnungsvoll. »Du gehst für mich hin, ja? Es ist doch nur
ein Abendessen. Und hast du nicht selbst gesagt, du wolltest in
Savannah neue Eindrücke sammeln und mehr unter Menschen
gehen? Das ist die Gelegenheit einen Typen zu treffen, an den du
sonst nicht herankommst. Warte mal eben.« Marisa rutschte vom
Barhocker, nahm ihr Handy von der Arbeitsplatte und suchte etwas
im Internet. Dann hielt sie Livia ein Foto unter die Nase. Es war ein
Schnappschuss, veröffentlicht auf einer Society-Seite und zeigte
einen Mann, ungefähr in Livias Alter, vielleicht auch einige Jahre
älter. Er wirkte durchtrainiert, hatte die etwas dunklere Haut eines
Hispanoamerikaners und im Kontrast dazu ein strahlend weißes
Lächeln. Die Haare waren unter einem Baseball-Cap verborgen.
»Sieht nicht übel aus«, resümierte Livia und hatte damit offenbar
genau das gesagt, was Marisa hören wollte, auf deren Miene
augenblicklich ein Strahlen erschien.
»Und ist steinreich«, fügte sie hinzu. »Außerdem kennt Elora ihn
und ist von ihm begeistert.«
»Ich nehme an, das ist der Kunde, um den es geht?«, stellte Livia
trocken fest. Ihre Gedanken rasten. Der Typ war höllisch attraktiv
und irgendein abenteuerlustiges Stimmchen in ihr flüsterte, dass
Marisa recht hatte. Die neue Livia wollte nicht mehr davonlaufen,
sondern Erfahrungen sammeln. Ein Abendessen. Es war nur ein
Abendessen. Mit einem heißen Begleiter.
»Ja, das ist der Typ, um den es geht«, erwiderte Marisa und ihr
fröhliches Gesicht verriet, dass sie genau merkte, wie sie Livia
langsam weichkochte. »Und es gibt sicher hunderte von Frauen, die
dafür zahlen würden, mit ihm auszugehen«, setzte sie noch einen
drauf. »Ihm gehört das RMagic. Er ist gutaussehend, reich,
witzig …«
»… und dennoch darauf angewiesen, Frauen für ein Date zu
bezahlen?«
»Manche Männer schätzen Profis. Bezahlte Dates sind
pflegeleichter.«
»Aber er wird doch merken, dass ich nicht die Bestellte bin.«
»Unwahrscheinlich. Wenn Carlos mit dir fertig ist, wird man dich
für meinen Zwilling halten. Er hat mich aus dem Katalog gewählt und
noch nie aus der Nähe gesehen. Deine sexuelle Unerfahrenheit wird
er mangels Gelegenheit nicht feststellen können.« Marisa sprang
auf. »Komm, wir müssen uns um alles kümmern, bevor meine Mutter
erscheint. Ich gebe dir Geld für ein Hotelzimmer und wir sagen Mum,
du seist über Nacht bei einer Freundin.«
4.

»Hey, Babe, da bist du ja.« Eine große Hand landete auf Livias
Pobacke und drückte einmal fest zu.
Liv fuhr herum und stieß mit der Nase fast gegen eine breite
dunkle Brust mit schwarzer Behaarung und einer übertriebenen
Goldkette. Rapperklischee, schoss es ihr durch den Kopf. Sie
wusste, Rey hatte sie gefunden, noch bevor sie in sein Gesicht
blickte. Liv gefiel nicht, was sie darin las. Zwar sah er genauso gut
aus wie auf den Fotos, die sie im Internet angeschaut hatte. Die
hispanoamerikanische Abstammung verlieh ihm nicht nur den
dunklen Teint, sondern auch markante Züge und dichte schwarze
Haare. Doch seine Augen glitzerten gefährlich und unverhohlen
lüstern. Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, ohne dass
seine Miene dadurch an Freundlichkeit gewann. »Marisa, nehme ich
an«, konstatierte er und kniff Livia abermals in den Hintern, sodass
sie zusammenzuckte. Er lachte auf. »Nicht so schreckhaft,
Häschen.«
Bevor er erneut zufassen konnte, hatte Livia sich ganz zu ihm
herumgedreht und ihr Gesäß seinem Zugriff entzogen. Vorerst
zumindest. Irgendetwas an Reynold Simmons Verhalten ließ sie
zweifeln, ob er ihr ›Nein‹ so selbstverständlich akzeptieren würde,
wie Marisa das versprochen hatte.
Die letzten Stunden hatte sie ein Wechselbad der Gefühle
durchlebt. Mehr als einmal war sie kurz davor gewesen, einen
Rückzieher zu machen, und jetzt bereute sie, es nicht getan zu
haben. Immer wieder hatte sie ihre abenteuerlustige Stimme
verflucht, war in Panik verfallen, als ihr klar wurde, dass sie
tatsächlich gleich in der Rolle einer Escort-Dame einen Kunden
treffen würde und wäre Carlos beinahe vom Frisierstuhl gesprungen,
als der ihre Haare um fast zwei Handbreit gekürzt und so auf
Marisas Länge gebracht hatte.
Doch bis Trisha auftauchte, war Marisa nicht von Livias Seite
gewichen, darauf bedacht jeden aufkommenden Zweifel sofort zu
zerstreuen. Sie war nicht müde geworden, den bevorstehenden
Abend in schillerndsten Farben als Spaß und Abenteuer
auszumalen, sobald sie bei Livia einen Anflug von Nachdenklichkeit
wahrnahm. Marisa hatte schnell begriffen, welche Knöpfe sie bei
Livia drücken musste, damit diese sich letztendlich irgendwann in
den von ihrer Cousine geliehenen Klamotten aus dem Haus schlich
und von einem Taxi zum verabredeten Treffpunkt, dem RMagic,
bringen ließ. Und nun stand sie mit rasendem Herzen vor diesem
Mann, der ihr auf Anhieb unsympathisch war und zwang sich zu
einem Lächeln.
»Hier entlang«, sagte Rey, ging los und erwartete ganz
selbstverständlich, dass Livia hinterherkam, denn er machte sich
nicht einmal die Mühe, sich nach ihr umzudrehen.
Livia schluckte und folgte Rey die Treppe hoch. »Wohin gehen
wir?«, fragte sie, doch er würdigte sie keiner Antwort. Vielleicht hatte
er ihre Worte einfach nicht verstanden. Obwohl der Abend noch jung
war und sich erst eine überschaubare Anzahl von Gästen im RMagic
aufhielt, war die Musik schon ohrenbetäubend. Liv hatte einen
Abend in einem Restaurant erwartet, sah sich nun jedoch in den
Privatbereich von Reynold Simmons hoch oberhalb der Tanzfläche
versetzt.
»Da hin.« Rey deutete auf ein ausladendes Sofa. Mit den Worten
»mach dich locker, du bist zu verkrampft«, drückte er ihr ein Glas mit
einer hellen perlenden Flüssigkeit in die Hand.
Verdammt, Liv hatte nicht auf das Glas geachtet. Wenn er nun
etwas hineingeschüttet hatte, um sie willig zu machen? Unsinn,
schalt sie sich selbst. Er geht doch davon aus, dass er den Sex mit
mir kaufen wird. Wieso sollte er also zu solchen Mitteln greifen? Sie
nippte einen kleinen Schluck und setzte sich folgsam auf das Sofa.
Ihr knapper Rock rutschte so weit hoch, dass man ihren Slip sehen
konnte. Schnell zog sie den Saum ein Stück in Richtung Knie. Als
sie den Kopf wieder zu Rey drehte, fing sie seinen verblüfften Blick
auf. Dann lachte er laut auf.
»Na, du bist mir ja eine! Als ich Leonard sagte, ›eine, der ich es
hart besorgen kann‹, habe ich nicht damit gerechnet, dass du auf
schüchtern machen wirst. Aber ist gut. Ich mag Spielchen.
Hauptsache, du gibst gleich im Bett richtig Gas, wenn ich dich nach
allen Regeln der Kunst ficken werde.«
Dass Liv vor Schreck der Mund offenstand, nahm er
glücklicherweise – abgelenkt durch ein Klopfen an der Tür – nicht
wahr. Das gab Liv Gelegenheit, ihr galoppierendes Herz zu
beruhigen. Worauf hatte sie sich hier nur eingelassen?
Eine junge Frau betrat den Raum. Sie hatte ähnlich wenig an wie
Liv und eine atemberaubende Figur. Noch bevor sie die große
Schüssel Popcorn in ihrer Hand abgestellt hatte, riss Rey sie an sich
und steckte ihr seine Zunge in den Hals. Als er von ihr abließ, hatte
sie einen verklärten Blick und himmelte ihn geradezu an. »Ich habe
dir das Popcorn gemacht«, hauchte sie und schenkte ihm ein
dümmliches Lächeln.
»Stacey, Baby, du bist die Beste«, erwiderte er und nahm ihr mit
einer Hand die Schüssel ab, während er mit der anderen über ihre
Brüste strich und mit einer schnellen Bewegung in den rechten
Nippel kniff.
Stacey quiekte auf, sah jedoch keineswegs so aus, als ob sie das
wirklich gestört hätte. Im Gegenteil.
›Was mache ich eigentlich hier, wo Stacey doch so offensichtlich
willig ist?‹, fragte sich Liv. Rey hatte eine Footballübertragung
angeschaltet und sich zu Livia auf das Sofa gesetzt. Stacey zog er
auf seinen Schoß. Geistesabwesend streichelte er ihre Brüste,
während er sich auf das Spiel im Fernsehen konzentrierte. Nach
dem ersten Viertel schob er Stacey von sich herunter.
»Bist du feucht, Babe?«, säuselte er ihr ins Ohr, gab sich jedoch
keine Mühe, dabei diskret zu sein. Mit einem Seitenblick versicherte
er sich vielmehr, dass Livia alles mitbekam.
»Ja, Süßer«, flüsterte Stacey und Liv bemerkte, wie Stacey ihre
Beine ein Stück öffnete. Ob sie wirklich erwartete, dass Rey sie in
Livs Beisein befriedigte? Livia fixierte mit Tunnelblick den Bildschirm,
wo sich zwei Experten angelegentlich über irgendwelche Spielzüge
austauschten.
Rey stieß ein kehliges Lachen aus. »Babe, mehr bekommst du
heute nicht von mir. Bring uns gleich noch eine Flasche Champagner
hoch, vielleicht gibt es dann einen Nachschlag. Aber mein Schwanz
ist heute nur für diese Lady hier bestimmt.« Reys Hand wanderte auf
Livs Oberschenkel und dort in Zeitlupe zum Rocksaum. Liv hielt den
Atem an. Wie sollte sie reagieren? Sie mochte seine Berührung
nicht. Doch womöglich gehörte das zum normalen Repertoire, war
Bestandteil des gebuchten Arrangements und Marisa würde Ärger
bekommen, wenn sie an dieser Stelle den Schlusspunkt setzte?
Stacey rettete sie erneut, die mit dem Fuß aufstampfte. »Du bist
so gemein«, beschwerte sie sich mit einem Schmollmund im Tonfall
eines kleinen Mädchens und zog damit Reys Aufmerksamkeit auf
sich, der sich erhob, Stacey zwei kräftige Klapse auf den Hintern
verpasste und sie dann zur Tür führte. »Den Champagner«,
erinnerte er sie und schob sie aus dem Raum. Er ließ sich wieder
neben Liv auf das Sofa fallen.
»Das war dir unangenehm«, stellte er fest. »Auf Dreier stehst du
nicht.«
Liv schüttelte den Kopf.
»Schade, hätte nachher mehr Spaß bedeutet.« Er grunzte
unzufrieden, zuckte dann jedoch unbeteiligt mit den Schultern.
»Muss Stacey sich halt bis morgen gedulden. Heute hast du
Vorrang.« Er warf ihr ein Lächeln zu, das erneut jegliche Herzlichkeit
vermissen ließ. Livia lief es eiskalt den Rücken hinunter. »Aber erst
sehen wir uns das Spiel an.«
Er nahm die Fernbedienung, stellte den Ton lauter und versank
zum Glück sofort wieder in dem Geschehen auf dem Bildschirm. Liv
gelang es, die Fingerspitzen auszublenden, die ab und zu beiläufig
über ihre nackten Schenkel tanzten. Hauptsache, sie schaffte es
irgendwie, Rey später auf Abstand zu halten, wenn es ernst wurde.
Dass er ohne Weiteres ihr Nein zu Dreiern akzeptiert hatte, gab ihr
Hoffnung. Vielleicht würde er ihre abschlägige Antwort gleich doch
einfacher hinnehmen, als zwischenzeitlich befürchtet.
Dennoch wuchs der Knoten in ihrem Magen, als sich die
Übertragung dem Ende zuneigte und Reys Blicke immer häufiger
interessiert über ihren Körper glitten. Sie schluckte, um das trockene
Gefühl im Mund loszuwerden. Noch mehr Champagner wollte sie
nicht trinken. Sie ahnte, dass sie einen klaren Kopf benötigen würde,
um sich zu verabschieden.
»So, Babe, jetzt zu uns.« Das Gerät klackte leise, als Rey den
Fernseher abschaltete. Von der Tanzfläche drang gedämpfte Musik
zu ihnen herauf. Liv versteifte sich. Sie hatte in Gedanken versunken
das Spielende verpasst. Jetzt war die Stunde der Wahrheit
gekommen.
Rey nahm ihren Schenkel mit seiner großen Hand in Besitz. Bevor
er damit auf Erkundung gehen konnte, legte Liv ihre Hand darüber.
»Rey«, begann sie, doch weiter kam sie nicht.
Im selben Augenblick wurde die Tür aufgerissen und Staceys
ängstliches Gesicht erschien im Türrahmen.
»Raul schickt mich hoch«, begann sie, ohne auf die finstere Miene
ihres Chefs zu achten. »Er meint, du sollst besser herunterkommen.
DiMarco ist mit seinen Männern aufgekreuzt.«
»Was will der Scheißkerl?«, knurrte Reynold und sprang auf. Er
warf einen Blick auf Livia. »Darum muss ich mich selbst kümmern,
geh solange an die Bar und trink etwas.«
Er eilte davon und Livia, glücklich über die gute Gelegenheit zu
verschwinden, hinterher. Doch weit kamen sie nicht. Bereits am
Fuße der Treppe wartete eine Gruppe von drei bulligen Kerlen, im
Hintergrund ein weiterer Türstehertyp, den Liv zu Beginn des
Abends in der Nähe von Rey gesehen hatte. Rey baute sich vor den
Dreien auf. Die Musik war zu laut, um die Männer zu verstehen, aber
als Liv sich an der Gruppe vorbeidrücken wollte, meinte sie, etwas
von »komm mir bei dem Geschäft nicht in die Quere«
aufzuschnappen. Rey warf seinem Gegenüber einen
geringschätzigen Blick zu, er wollte ihn zur Seite schieben, doch
dem passte das gar nicht. Mit einer schnellen Bewegung schlug er
Reys Arm weg und schon begann eine handfeste
Auseinandersetzung zwischen den fünf Männern. Livia schlüpfte
hindurch und wollte gerade erleichtert die Flucht über die Tanzfläche
antreten, als sie mit einem kräftigen, eindeutig männlichen Körper
zusammenstieß, der ihr entgegenkam.
»Na, hallo«, sagte der Mann und hielt sie fest, während zwei
Begleiter in Richtung der Streitenden weitereilten. »Wo ist die
Lockenmähne hin? Mit den glatten Haaren hätte ich dich fast nicht
erkannt.«
Liv hob langsam den Kopf. Ihr Blick glitt über ein dunkles Jackett,
passierte einen weit geöffneten Hemdkragen und blieb schließlich an
zwei mit einem Bartschatten umrahmten Grübchen hängen. Sie
zuckte zurück. Greg! Zu ihrem Schreck gesellte sich ein nervöses
Prickeln, als seine eisblauen Augen sie taxierten.
»Lass mich los«, fauchte sie ihn an und versuchte, ihr Handgelenk
aus seinem Griff zu drehen.
»Das geht leider nicht«, erwiderte er ungerührt. »Du warst gerade
Zeugin eines Vorfalls, über den ich gerne mehr erfahren würde. Und
da du dazu neigst, vor mir wegzulaufen …«
Mehrere Polizisten in Uniform drängten sich an Greg und Livia
vorbei, während Gregs Freunde – Drew und Tim, wie Livia jetzt
erkannte – sich wieder zu ihnen gesellten.
»Wir haben Raul und einen von DiMarcos Leuten«, sagte Drew.
»Die anderen sind durch den Hinterausgang raus. Beide beteuern,
das sei ein Missverständnis, alle hätten sich nur friedlich
unterhalten.«
»Sah irgendwie ganz anders aus«, brummte Greg und schob Livia
dann zu Drew. »Nimm sie mit aufs Revier, sie war dabei und soll ’ne
Aussage machen, ich komme später nach.«
Revier? Sie wurde verhaftet? Sie war zu perplex, um zu
protestieren, und einen Augenblick später war Greg in ein Gespräch
mit uniformierten Polizisten vertieft und Drew dirigierte sie mit einer
Armbewegung vor sich her. Das Blut rauschte laut in ihren Ohren,
als er Livia nach draußen führte. Zum Glück nahmen sie den
Hinterausgang, wenigstens die Peinlichkeit einer Verhaftung in aller
Öffentlichkeit wurde ihr erspart. Vor einem wartenden Streifenwagen
hielt Drew Livs Handtasche hoch. »Was dagegen, wenn ich einen
Blick hineinwerfe?«
Stumm schüttelte Liv den Kopf. Sie hatte ohnehin kaum etwas
dabei. Der Inhalt der Tasche war schnell überprüft. Ihr Handy und
etwas Bargeld, mehr nicht.
»Keine Dokumente? Führerschein?«
»Nein, meinen Führerschein habe ich nicht mit«. Sie hatte Angst
gehabt, durch einen dummen Zufall könnte der Rey in die Hände
fallen und ihr Schwindel auffliegen.
»Das klären wir dann auf dem Revier.«
Liv nickte ergeben. Darauf kam es nun auch nicht mehr an. Der
Abend war bereits eine absolute Katastrophe, viel unangenehmer
konnte es kaum werden. Widerstandslos ließ sie sich in den
Streifenwagen schieben. Sie hatte tausend Fragen, aber niemand
schien im Moment bereit, ihr diese zu beantworten. Sie saß
unbeachtet auf der Rückbank, bis sie schließlich losfuhren und sie
mitten in der Nacht vor einer Polizeistation ausgespuckt wurde.
Inzwischen war sie todmüde. Man setzte sie in einem langen Gang
auf eine Bank, ein Uniformierter fragte ihre Personalien ab und wies
sie an, dort zu warten, während Drew durch eine der angrenzenden
Türen verschwand. Livia starrte auf den ausgetretenen
Linoleumboden unter ihren Füßen und hoffte, dieser Albtraum wäre
bald vorbei. Trotz der späten Stunde waren im Gebäude noch etliche
Menschen unterwegs. Hin und wieder eilte jemand durch den Flur.
Die ersten Male hatte Liv noch hoffnungsvoll den Kopf gehoben,
doch irgendwann gab sie auf, beschäftigte sich damit, die Flecken
auf dem Boden zu zählen, bis die Müdigkeit siegte und sie mit
Lethargie einlullte.
Daher reagierte Livia nicht, als abermals jemand über den Gang
lief, aber diesmal stoppten die glänzenden schwarzen Lederschuhe
vor ihrer Bank. Sie schaute auf, ihr Blick glitt über einen weißen,
ordentlich geschlossenen Hemdkragen mit einem eleganten
Krawattenknoten, darüber ein strenger Strich aus Lippen, wo sonst
Grübchen waren. Eisblaue Augen bohrten sich in sie. Unwillig
runzelte Livia die Stirn. Sie hatte sich geirrt, als sie dachte, der
Abend könnte nicht unerfreulicher werden.
»Riggs«, sagte Greg. »Livia Riggs aus Elliottville; aktuell Lincoln
Street, Savannah. Stimmen die Angaben?«
Livia nickte, noch immer stumm. Ihre Personalien hatte sie vorhin
so mitgeteilt.
»Deinen Führerschein hast du nicht dabei?«
Kopfschütteln. Der lag in Marisas Gästezimmer. Die sie jedoch
unmöglich anrufen konnte, solange Trisha in der Nähe war. Sollte
ihre Tante etwas von diesem Schlamassel mitbekommen, wären
auch ihre Eltern Minuten später informiert und das wäre das Ende
von Livs Träumen in Savannah. Bei dem Gedanken daran, dass ihre
Eltern das Wohnheim als zu wild abgelehnt und ihr Savannah nur
gestattet hatten, weil sie behütet bei Marisa wohnen konnte, musste
Livia beinahe grinsen.
»Danke Drew, ich kläre das.«
Livia hatte nicht mitbekommen, dass auch Drew wieder auf den
Flur getreten war. »Ihr seid beide Cops?«, fragte sie und blickte von
einem zum anderen. »Der Dritte auch? Tim?«
»Yep«, meldete sich jemand aus dem benachbarten Büro, dessen
Tür nur angelehnt war. Kurz darauf erschien ein Mann im
Türrahmen. »Ich hörte meinen Namen?«
»Wenn eine schöne Frau ihn ruft, wird er wach«, spottete Drew.
»Hast du den Papierkram fertig?«
»Fast«, murrte Tim und fuhr sich durch die Haare, bevor er die
Arme nach hinten dehnte. »Ich muss mal kurz vor die Tür an die
frische Luft, dann mache ich weiter.« Er nickte den Dreien zu und
schlurfte den Gang hinunter.
»Ich dachte, er wollte sich das Rauchen abgewöhnen?« Greg sah
ihm stirnrunzelnd hinterher, aber Drew zuckte nur mit den Schultern.
»Nun zu uns beiden«, wandte Greg seine Aufmerksamkeit wieder
Livia zu. »Folgender Vorschlag: Ich lade dich jetzt auf einen Kaffee
und einen Donut ein, wir reden ein bisschen und anschließend
bringe ich dich nach Hause.«
»Und wenn ich das nicht möchte?«
»Dann sitzt du hier noch eine Weile herum, bis jemand Zeit hat,
deine Aussage aufzunehmen.« Greg lächelte sie liebenswürdig an.
»Das ist Erpressung!«, protestierte Liv.
Gregs Mundwinkel zuckten. »Ich nenne es ›angenehme
Alternative‹. Du hast die Wahl.« Er legte den Kopf schief und
betrachtete Liv aufmerksam.
»Ich will ins Bett!«
»Auch dafür bin ich zu haben«, erwiderte Greg mit einem
Auflachen. »Ich dachte nur, wir lernen uns vorher etwas kennen.«
Der Blick, den er ihr zuwarf, ging Liv durch und durch. Das war
keine reine Spöttelei gewesen. Den Tonfall zugrundegelegt, war es
weit mehr: Es war ein Angebot. Für einen Augenblick versank Livia
in seinen Augen und trotz der Müdigkeit vibrierte jede Zelle in ihrem
Körper. Es war verrückt, wie ihr Inneres auf diesen Mann ansprach.
Gregs Miene änderte sich fast unmerklich. Die Eindringlichkeit, mit
der er sie plötzlich musterte, war neu und etwas an der Art, wie er für
den Bruchteil einer Sekunde überrascht wirkte, sagte Livia, dass
auch Greg auf sie reagierte – und zwar auf eine Weise, die er so
nicht erwartet hatte.
Abrupt zerriss er den intensiven Blickkontakt, er richtete sich auf
und sah herausfordernd zu ihr herunter. »Also was ist? Willst du
noch eine Weile den Komfort dieser harten Bank genießen, wählst
du den Kaffee oder möchtest du sofort mit mir ins Bett?«
»Du weißt genau, wie das gemeint war«, fauchte Livia, die sich
ärgerte, keine schlagfertige Antwort parat zu haben. Diese mokante
Seite an Greg mochte sie nicht. Gut, dass diese sie rechtzeitig daran
erinnerte, sich auf seine Flirtversuche nicht einzulassen. Ihre Augen
schossen giftgetränkte Blitze in Gregs Richtung, doch sie gab sich
geschlagen, stand auf und drehte sich zum Ausgang. »Also los,
wenn es denn sein muss.« Einen Kaffee mit Greg würde sie
überstehen, wenn sie danach Ruhe vor ihm hatte. Sie hörte Greg
und Drew in ihrem Rücken leise lachen, dann schloss Greg zu ihr
auf.
Schweigend liefen sie nebeneinander her, Greg lotste sie zum
Ende des Parkplatzes, wo die Blinker eines Fahrzeugs kurz
aufleuchteten, als Greg den Knopf seiner Fernbedienung drückte.
»Ist das dein Wagen?« Sie musste sich zwingen, den Mund zu
schließen. Ein dunkelgraues Coupé. Sie registrierte den Stern auf
der Heckklappe, rechts daneben die Buchstaben AMG. Allein die
Felgen kosteten vermutlich mehr als ihre Familienkutsche daheim.
»Du bist kein Cop«, konstatierte sie. Das war keine Frage.
»Nein, bin ich nicht«, lachte Greg. »Ich bin Staatsanwalt.« Sanft
schob er sie zur Beifahrertür, die er für Liv öffnete. »Bitte sehr.«
Sie versank in den sportlichen Sitzen. Dunkelgraues Leder, perfekt
abgestimmt auf den übrigen Innenraum. Greg nahm auf dem
Fahrersitz Platz und startete den Motor, der mit einem satten Sound
antwortete. Liv bedauerte es fast, als sie bereits nach wenigen
Minuten, die sie über die nächtlich verlassenen Straßen Savannahs
geglitten waren, vor einem Diner anhielten. Die Nacht war mild und
so holten sie Donuts und Kaffee und wählten einen Ecktisch auf der
Terrasse, wo sie die einzigen Gäste waren.
Herzhaft biss Liv in ihren Donut. Sie hatte seit Stunden nichts
mehr gegessen und Reys dröges Popcorn zählte ohnehin nicht als
Abendessen. Mit halb geschlossenen Augen verdrückte sie
genüsslich den gesamten Kringel und leckte sich dann noch den
Zuckerguss von den Fingern, bis sie ein leises Lachen veranlasste,
den Kopf zu heben und sie Gregs amüsiertem Blick begegnete.
»Ich habe noch nie einen Menschen so hingebungsvoll einen
Donut essen sehen«, kommentierte er mit einer Mischung aus
Belustigung und Erstaunen.
»Das Catering auf dem Büroflur lässt zu wünschen übrig«,
erwiderte Livia trocken und griff nach dem zweiten Donut, den Greg
ihr über den Tisch reichte. »Ich habe seit dem Mittag nichts mehr
gegessen.«
»Dann war es eine gute Idee, mit dir herzufahren«, stellte Greg
zufrieden fest.
»Machst du das mit allen Verhafteten?«, erkundigte sich Liv
spöttisch.
»Niemand hat dich verhaftet«, korrigierte Greg. »Du warst in
Gewahrsam, für eine Aussage« Er grinste sie breit an. »Genau
genommen bist du das noch, denn ich habe dich noch nicht
entlassen.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und betrachtete
Liv mit schräg gelegtem Kopf. Irgendwie genüsslich und so intensiv,
dass Liv eine eigentümliche Wärme in ihrem Unterleib spürte.
Schnell lenkte sie den Blick auf ihren Kaffeebecher. Trotzdem sah
sie, wie Gregs Grinsen breiter wurde. Ob er ahnte, welche Wirkung
er auf sie hatte? Als Liv vorsichtig die Lider hob, um in seine
Richtung zu schielen, stellte sie fest, dass er sie nicht aus den
Augen ließ. Er wusste es nicht nur, er genoss es.
»Also – lädst du alle Personen auf einen Kaffee ein, die in
Gewahrsam sind?«
»Nur die, die ich informell befragen möchte. Und die, die schon
zweimal vor mir geflohen sind. Insbesondere Angehörige der letzten
Gruppe entlasse ich erst aus dem Gewahrsam, wenn ich sicher bin,
dass sie zukünftig nicht mehr vor mir weglaufen.« Er schenkte ihr
einen weiteren seiner eindringlichen Blicke, und die Kraft darin ließ
Liv erschauern.
»Und zu welcher Gruppe gehöre ich?«, krächzte sie und erntete
ein Auflachen von Greg. Schnell räusperte sie sich.
»Du gehörst zu beiden. Deshalb gab es für dich noch Donuts
dazu.«
An dem sich Livia beinahe verschluckte, als ihr gewahr wurde, wie
ernst Greg den Teil mit der Befragung meinte.
Jeglicher Spott wich aus seinen Zügen, er sah sie plötzlich mit
professioneller Distanz forschend an. »In welcher Beziehung stehst
du zu Reynold Simmons?«
Hastig ergriff Livia den Kaffeebecher. Ihre Kehle war mit einem
Mal trocken. »Brauche ich einen Anwalt?« Die Frage kam reflexartig.
Fragten das nicht alle als Erstes. Oder sah sie zu viele
Fernsehkrimis?
Gregs Mundwinkel zuckten kurz. »Wohl kaum bei einer
informellen Befragung. Deshalb heißt die so.« Er blickte Liv scharf
an. »Wir können das Gespräch aber auch in mein Büro verlegen,
wenn dir das lieber ist. Dann stellt dir der Staat einen Verteidiger.«
Livia merkte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. »Aber ich
kenne Rey doch kaum!« Das hörte sich verdammt weinerlich an,
doch allmählich bekam sie es mit der Angst zu tun. Was, wenn Greg
Ernst machte? Wenn er sie wirklich verhören wollte, warum auch
immer? Sie war eine schlechte Lügnerin, schon immer gewesen.
Doch keinesfalls durfte er erfahren, aus welchem Grund sie heute
bei Rey gewesen war.
»Das sah aber ganz anders aus. Drew erwähnte etwas von
Simmons Händen auf deinem Hintern. Lange – und mit den Fingern
schon beinahe in deinem Schritt.« Greg hob anzüglich eine
Augenbraue, doch lag noch immer nichts Amüsiertes in seiner
Miene. Er beugte sich vor. »Also sage mir Livia Riggs: Wenn Rey
Simmons deinen Po massieren darf – wie gut kennst du ihn wirklich?
Oder darf das bei dir jeder?« Kalt musterte er sie.
»Du Mistkerl!« Livia sprang auf; so hektisch, dass ihr Stuhl
umkippte. Wütende Tränen brannten in ihren Augen. Sie stützte sich
mit den Händen auf die Tischplatte und beugte sich zu Greg. »Sag
diesem Drew, er soll das nächste Mal genauer hingucken. Reys
Hand war weit entfernt von irgendeiner Art intimer Berührung. Wenn
du Details wissen willst, dann lade mich offiziell vor, dann erscheine
ich mit einem Anwalt, der dir Manieren beibringen wird. Sollte ich
keine Vorladung erhalten, erspare dir und mir diese beleidigenden
Fragen!« Sie drehte sich um und überquerte, den Parkplatz so rasch
es ihre hohen Absätze zuließen.
Doch natürlich war Greg schneller. Mit wenigen Schritten war er
bei ihr und packte sie am Oberarm. »Warte!«
Livias Herz schlug bis in den Hals. Verhaftete er sie jetzt?
Er sah sie jedoch nur durchdringend an. »Ich habe dir die offizielle
Aussage erspart.« Er lachte trocken auf. »Zumal ich sicher bin, dass
deine offizielle Aussage in etwa so ergiebig wäre, wie die von Raul
und seinem Gorillakollegen, den wir ebenfalls mitgenommen haben.
Mit anderen Worten: Es käme nichts dabei heraus.« Er schnaubte
verächtlich. »Da war angeblich keine Schlägerei, die Drew gesehen
hat. Da wir drei privat im Club waren und Drew und Tim schon etwas
getrunken hatten, muss sich Drew natürlich getäuscht haben.« Er
verzog spöttisch die Mundwinkel. »Polizisten sind ja so dumm, dass
sie nach zwei Bier eine körperliche Auseinandersetzung nicht mehr
von einem freundschaftlichen Gespräch unterscheiden können. Also
Livia, sag du mir: Ist Drew so dumm?«
Livia blickte zu Boden. Was sollte sie tun? Dreist lügen? Das
würde er merken. Sie hatte noch nie die Unwahrheit sagen können.
Mit der Schuhspitze stocherte sie auf dem staubigen Parkplatz
herum. Marisa würde ihr wegen der verdreckten Schuhe eine
Standpauke halten. Greg wartete geduldig, bis Livia den Kopf hob.
»Nein«, antwortete sie leise. »Drew irrt sich nicht. Das war ein Streit.
Aber ich kenne die Männer nicht und habe nicht verstanden, um was
es ging, die Musik war viel zu laut.«
Greg sah ihr lange in die Augen. Er ließ sich nicht anmerken, ob er
ahnte, dass sie ihm nicht alles sagte, sondern lächelte freundlich.
Sein schlichtes »Danke« machte Livia ratlos, doch ohne weitere
Erklärung oder Kommentar nahm er sie sanft am Ellbogen und
dirigierte sie zu seinem Wagen. »Dann lass mich dich jetzt nach
Hause bringen. Wie ich es dir versprochen habe.«
Liv schüttelte den Kopf und wollte ihm ihren Arm entziehen.
»Bitte.« Gregs Stimme war plötzlich wieder voller Wärme. Als sich
ihre Blicke kreuzten, wirkten seine Augen sanft und beinahe etwas
traurig.
Liv überlegte. Sie hatte keine Ahnung, in welcher Ecke Savannahs
sie waren, ob es hier überhaupt einen Bus gab und wann der fuhr.
Mit Greg zu fahren war die einfachste Lösung, auch wenn alles
zwischen ihnen kompliziert war. Schweigend stieg sie ein. Sie hätte
so viele Fragen gehabt, doch sie traute sich nicht, das Gespräch in
Gang zu bringen. Womöglich hätte er sonst zurückgefragt. Deshalb
war es still im Wagen, während Greg das elegante Coupé zielsicher
durch die Straßen lenkte, bis er den Motor vor Marisas Einfahrt
abstellte.
Liv wollte die Tür öffnen, doch er ergriff ihre Hand. »Warte, bitte.«
Sie drehte sich nicht zu ihm um, aber verharrte.
»Es tut mir leid. Ich wollte dich vorhin nicht beleidigen. Das sind
die Schattenseiten meines Berufs. Manchmal muss man Menschen
provozieren, um die Wahrheit aus ihnen herauszukitzeln.«
»Schön. Bist du nun zufrieden? Kennst du die Wahrheit?« Liv
starrte noch immer aus dem Beifahrerfenster.
»Ehrlich gesagt weiß ich das nicht.«
Der Unterton missfiel ihr. Ihr war, als startete gleich die nächste
Runde der Inquisition. Sie öffnete die Beifahrertür. »Ich hole dir eben
meinen Führerschein, wegen meiner Personalien.«
»Nicht nötig. Diesen Teil deiner Aussage glaube ich dir.«
Ohne ihn noch einmal anzusehen, schlüpfte sie aus dem Wagen
und schlug die Beifahrertür zu. Etwas fester als notwendig. Greg gab
Gas, noch bevor sie das Haus erreichte.
5.

»Auf das Ende des Wochenendes!« Marisa hob ihre Sektflöte.


»Und dass wir nie wieder ein Ähnliches erleben müssen.« Livia
stieß mit ihrem Glas dagegen.
Vor wenigen Minuten hatte Trisha endlich ihre Sachen ins Auto
gepackt und war mit elanvollem Winken in Richtung Hauptstraße
davongefahren. Sofort hatten es sich die Cousinen in den
Korbsesseln auf der Veranda mit einer Flasche Sekt bequem
gemacht.
»Und nun erzähl mal! Wie war es mit Rey? Und warum warst du
so früh wieder hier? Du solltest doch im Hotel übernachten.«
Marisa hatte Liv am Morgen schlafend auf dem Sofa vorgefunden.
Unglücklicherweise war Trisha ihrer Tochter auf dem Fuße gefolgt
und hatte einen langen und ausgesprochen tadelnden Blick auf ihre
schlaftrunkene Nichte in dem viel zu knappen Outfit geworfen. »Das
würde deinem Vater aber gar nicht gefallen, dich in einem derartigen
Kleid zu sehen«, hatte sie spitz gerügt und die Lippen missbilligend
geschürzt. »Und diese Schuhe!«, hatte sie mit einem Blick in
Richtung Fußboden hinzugefügt.
Liv und Marisa hatten sich grinsend angesehen. Wenn Trisha
gewusst hätte, aus wessen Schrank die Sachen stammten. Livia
hatte etwas von »Dresscode« gemurmelt und war in ihr Zimmer
geeilt, das Trisha an diesem Wochenende bewohnte. Hastig hatte
sie die weitesten und schlabberigsten Klamotten aus dem Schrank
gezogen. So saß sie jetzt auf der Veranda und erwiderte den
erwartungsvollen Blick ihrer Cousine mit einem geheimnisvollen
Lächeln. Mit etwas Abstand und Schlaf, sowie nach einigen
Schlucken Sekt, die ihr allmählich in den Kopf stiegen, kamen ihr die
Erlebnisse der vergangenen Nacht unwirklich vor und längst nicht
mehr so erschreckend.
»Was soll ich denn erzählen? Von Rey, der vor meinen Augen
eine andere Frau heiß machte, weil er gerne einen Dreier wollte?
Oder wie ich stundenlang auf einer harten Bank auf dem
Polizeirevier herumsaß? Oder das anschließende Verhör, ach nein,
es war ja bloß eine informelle Befragung, durch die
Staatsanwaltschaft?« Livia lachte laut auf, als sie das Gesicht ihrer
Cousine sah, der tatsächlich der Mund aufstand. »Guck nicht so«,
kicherte sie. »Du hast mir doch immer vorgeworfen, mein Leben sei
langweilig. Das kannst du nun nicht mehr behaupten.« Sie amüsierte
sich über Marisas entgeisterten Gesichtsausdruck, während sie ihr
die Details der vergangenen Nacht berichtete. Erst als ihr Gespräch
auf Greg und seine Befragung kam, verging Livia das Lachen und
räumte das Feld für eine unangenehme Mischung aus Scham, Wut
und ein bisschen Traurigkeit, weil sie so fühlte. »Ich kann ihn einfach
nicht einordnen«, gestand sie ihrer Cousine. »Er ist unfassbar
attraktiv und hat etwas an sich, das mich wünschen lässt, mit ihm im
Bett zu landen.« Sie lachte auf und trank einen großen Schluck Sekt.
»Aus irgendeinem Grund kann sich mein Körper mein erstes Mal
ausgerechnet mit ihm gut vorstellen. Mit einem Aufreißer! Bei
diesem Aussehen kann er jede haben und dummerweise weiß er
das. Seine Arroganz macht mich wahnsinnig. Er ist spöttisch,
herablassend und hat sich gestern wie ein Arschloch verhalten.
Trotzdem muss ich nur an ihn denken und tausend Schmetterlinge
jagen durch meinen Bauch. Das ist verrückt, oder?«
»Überhaupt nicht.« Marisa schenkte beiden Sekt nach. »Vielleicht
hat er einfach auch eine charmante Seite, die …«
»Oh ja, die hat er«, seufzte Livia und dachte an die Momente, in
denen sein Blick sanft und voller Wärme auf ihr geruht hatte. »Und
im nächsten Moment ist er wieder kühl und unnahbar. Ich verstehe
es einfach nicht.«
»Man muss nicht alles verstehen, Liebes. Wenn er offensichtlich
auch Interesse hat, dann angle ihn dir, lass dich verwöhnen und
genieß es. Wenn er etwas im Bett kann, bist du von einem tollen
Kerl entjungfert worden. Falls er nichts taugt, kannst du die Sache
wenigstens schnell abhaken.«
So wie Marisa es darstellte, klang das einfach und logisch. Livia
grinste in ihr Sektglas. »Mal sehen, vielleicht laufe ich das nächste
Mal wirklich nicht mehr vor ihm weg.«
Das ›Pling‹ einer eingehenden Nachricht unterbrach das
Gespräch. Marisa nahm ihr Smartphone zur Hand, dann runzelte sie
die Stirn. »Ich habe doch schon so viele Termine nächste Woche«,
murmelte sie, während sie durch den Text scrollte. Mit einem Mal
wurde sie blass, kerzengerade richtete sie sich auf. »Nein, das kann
nicht sein!«
Sie klang so erschreckt, dass Livia alarmiert ihr Glas abstellte und
ihre Cousine fragend ansah. Die kaute auf ihrer Unterlippe,
schüttelte den Kopf, überlegte und tippte mit fliehenden Fingern eine
Antwort. Durchatmend legte sie das Telefon danach auf den Tisch.
»Was ist denn?« Liv entging nicht das leichte Zittern von Marisas
Händen.
»Du glaubst es nicht.« Marisa nahm ihr Sektglas und trank es in
drei großen Schlucken leer, bevor sie es sofort wieder auffüllte.
»Hey, langsam«, warnte Livia und ihre Cousine stellte das Glas
wieder ab. »Erzähl schon.«
»Die Nachricht kam von der Agentur. Die haben meine Termine
über den Haufen geworfen, um noch jemanden einzuschieben.« Sie
hielt inne, holte tief Luft und platzte dann heraus: »Der Grund ist
Rey. Er hat mich wieder gebucht. Für übermorgen.«
»Oh mein Gott!« Nun war es an Liv, den Sekt hinunterzustürzen.
»Da kannst du doch unmöglich hingehen. Was machen wir denn
jetzt?«
»Ich habe geantwortet, dass der Abend nicht so gut verlaufen ist
und ich von meinem Recht Gebrauch mache, den Kunden
abzulehnen.« Marisa biss sich auf die Lippe. »Ich hoffe, das gibt
keinen Ärger.«
Kaum hatte sie den Satz beendet, klingelte ihr Handy. Die
Cousinen zuckten bei dem Geräusch zusammen. Beide dachten
offenbar das Gleiche. Marisas Hand bebte so heftig, dass sie das
Handy fast vom Tisch gestoßen hätte, als sie danach griff. »Leonard
Meyers«, flüsterte sie erschrocken und sah Livia mit tellergroßen
Augen an. »Es ist der Chef persönlich!« Sie schluckte. »Er hat mich
noch nie angerufen.« Sie räusperte sich und nahm das Gespräch
an.
Livia konnte nicht hören, was Marisas Boss sagte, aber dem
Tonfall nach war er nicht glücklich über die Absage.
»Bitte Leonard, du musst das verstehen«, warf Marisa flehend ein,
»ich bin verhaftet und verhört worden, saß ewig im Polizeipräsidium
herum. Ich will so etwas nie wied…«
Ein neuer Wortschwall ergoss sich über Marisa.
»Nein, ich habe natürlich nichts gesagt.« Marisa sah Livia fragend
an, die energisch mit dem Kopf schüttelte. »Nein, ich habe nichts
über Rey gesagt, ich kenne ihn ja kaum. Bei einer Verabredung zum
Football gucken und Popcorn essen lernt man sich doch
nicht… Nein, was hätte ich denn auch sagen … nein, von mir
bestimmt nicht.«
Leonard Meyers schien sich allmählich zu beruhigen, Livia konnte
dem Gespräch nur noch einseitig folgen, ahnte jedoch, was der Boss
seiner Angestellten soeben befohlen hatte, als diese leichenblass
stammelte »Nein, bitte verlang das nicht von mir. Ich habe seit
Ewigkeiten keinen Kundenwunsch abgelehnt und…«
Leonard wurde wieder lauter – so laut, dass Livia nun jedes
einzelne Wort verstand, das durch den Hörer gebrüllt wurde.
»Du hast das Recht, den Sex abzulehnen, aber nicht das Treffen.
Ist das klar?«
Als Marisa stumm blieb und Livia nur einen tränenverhangenen,
hilfesuchenden Blick zuwarf, wurde ihr Chef noch einige Dezibel
lauter.
»Ob das klar ist, habe ich gefragt?«
»Ja, Leonard«, antwortete Marisa mit dünner Stimme, »aber…«
»Kein ›Aber‹«, donnerte es aus dem Telefon. »Wenn du
übermorgen nicht pünktlich bei Rey auf der Matte stehst, dann hole
ich dich persönlich ab und bringe dich zu ihm.« Er lachte bösartig.
»Wenn es sein muss, setze ich dich höchstpersönlich nackt auf
seinen Schoss und sehe zu, wie du ihn reitest. War das deutlich
genug?«
»Ja«, piepste Marisa ins Telefon, dann klackte es und die Leitung
war tot.
Marisa sah erstarrt auf das Display, das inzwischen schwarz
geworden war. Sie legte das Telefon nicht einmal weg, als Tränen
auf den Bildschirm tropften. Ganz so, als könne sie es mit der Kraft
ihrer Gedanken dazu bringen, erneut zu läuten, und Leonard Meyer
würde ihr lachend erklären, das sei alles nur ein Scherz gewesen.
Aber das Handy blieb stumm.

Zwei schlaflose Nächte lagen hinter den Cousinen. So fühlten sich


beide und so sahen sie aus. Marisa hatte Elora, beste Freundin und
Kollegin zugleich, angerufen und zu dritt beratschlagten sie in der
Küche.
»Eine von euch beiden muss zu Rey«, konstatierte Elora. Sie war
inzwischen über alle Geschehnisse des vergangenen Samstags im
Bilde. »Ich arbeite schon länger für Leonard. Einen solchen
Ungehorsam lässt er nicht durchgehen.« Sie sah Marisa an. »Rey ist
ein spezieller Kunde. Es gibt Kunden, denen darf man nicht
absagen. Rey ist so einer.«
Marisa nickte. »Das habe ich inzwischen auch verstanden. Ich
habe immer geglaubt, ich könnte ein Arrangement ablehnen.«
»Ist manchmal möglich. Bei Rey nicht.«
»Und wenn wir Leonard die Wahrheit sagen?«, unterbrach Livia.
»Dann kann Marisa zu Rey gehen, ihm seine Wünsche erfüllen und
alle bekommen das, was sie wollen.«
»Bist du wahnsinnig?« Elora sah Livia entsetzt an. »Ich glaube,
euch ist nicht klar, mit wem ihr es zu tun habt.« Sie sah von einer
Cousine zur anderen. »Ich habe ein paar Wochen eher bei Leonard
angefangen als Marisa. Ich war noch nicht lange in der Agentur, da
hat ein Mädchen einem der speziellen Kunden abgesagt und ließ
sich auch nicht überzeugen. In derselben Nacht ist sie überfallen
worden. Zwei Männer haben sie vergewaltigt. Leonard saß zur
selben Zeit seelenruhig mit Freunden beim Dinner. In der
Öffentlichkeit, gut sichtbar für unzählige Zeugen. Sein Alibi war
felsenfest. Und doch hatte niemand einen Zweifel daran, wer
dahintersteckte. Die Täter wurden nie gefasst.«
Eine bleischwere Stille senkte sich über den Raum.
»Ich habe ihn nie für einen Zuhälter gehalten«, sagte Marisa leise.
»Dann lässt er mich wohl auch nicht einfach gehen, oder? Wenn ich
kündige?«
Elora lachte trocken auf, dann runzelte sie die Stirn, und sah
Marisa mit einer Mischung aus Unverständnis und Mitleid an. »Du
hast wirklich keine Ahnung …«, erwiderte sie kopfschüttelnd.
»Wie mächtig ist er? Und wie nachtragend? Würde er mich
suchen, wenn ich den Bundesstaat verlasse? Und könnte er mich
aufspüren? Livia müsste Savannah dann wohl auch verlassen.« Sie
warf einen entschuldigenden Blick zu ihrer Cousine.
»Keine Ahnung, schwer zu sagen«, entgegnete Elora mit einem
Schulterzucken. »Ich weiß, dass zu unseren Kunden hochrangige
Cops und Politiker gehören. Würd’ ich nicht ausschließen, dass er
dich findet, wenn er sich entschließt, dich zu jagen.«
Das klang bedrohlich. Livia sah in den Augen ihrer Cousine die
gleiche Angst, die auch ihr gerade Schauer über den Rücken jagte.
Sie seufzte und ließ den Kopf auf die Arme fallen, die sie vor sich auf
dem Tisch überkreuzt hatte. Minutenlang war Marisas unterdrücktes
Schluchzen das einzige Geräusch, während Livia Ordnung in ihre
Gedanken brachte. »Also muss Marisa befürchten, dass Leonard sie
aufspürt und bestraft, wenn sie einfach abhaut«, fasste sie
zusammen. »Ebenso wird er sie bestrafen, wenn er von unserem
Tausch erfährt.«
»Und dich gleich mit«, vervollständigte Elora düster. »Du hängst
jetzt mit drin.«
Die Worte saßen wie ein Schlag in die Magengrube und raubten
Livia für einen Moment den Atem. Sie starrte auf Elora und Marisa,
als könnte eine von ihnen plötzlich eine Antwort liefern, wenn sie die
beiden nur lange genug ansah. Von Marisa war allerdings kaum
mehr als Schluchzen zu erwarten und auch Elora wirkte ratlos.
»Es tut mir so leid«, jammerte Marisa und Liv strich ihr über das
Haar. Sie hätte wütend sein müssen, aber Marisa war seit zwei
Tagen am Boden zerstört. Nachtreten war nie Livias Ding gewesen.
»Also, wir können nicht verschwinden, wir können nicht Marisa
schicken, Marisa darf den Job aber auch nicht ablehnen.« Die
Ausweglosigkeit war bittere Kost und Livia hatte den Eindruck, sich
gleich übergeben zu müssen. »Was ist mit der Polizei?«
Alle drei wechselten Blicke.
»Leonard bringt euch um.«
Marisa stöhnte leise und presste die Handballen vor die Augen.
Dann richtete sie sich auf. »Ich gehe zur Polizei«, sagte sie. »Ich
erzähle denen alles und bitte um Schutz. Livias Rolle werde ich mit
keinem Wort erwähnen. Wenn es stimmt, dass Leonard
Beziehungen hat, ist es riskant, aber wenigstens wird Livia in
Sicherheit sein.« Sie ergriff Livias Hand und drückte sie leicht.
»Du hast etwas vergessen«, wandte Elora ein und knetete ihre
Nasenwurzel.
»Nämlich?«
»Was willst du der Polizei erzählen? Dass dein Chef dich zwingen
will, den Abend – ohne sexuelles Arrangement – mit einem seiner
Kunden zu verbringen? Die Vermittlung von Verabredungen ist nicht
strafbar. Dass er dich dorthin zwingen will, wäre strafbar, aber
beweis das mal. Ein Leonard Meyers macht sich deshalb sicher
nicht ins Hemd, sondern regelt das auf seine Weise. Wie soll die
Polizei dich davor schützen?«
»Verdammt!« Marisa schlug mit der Faust auf den Tresen. »Es ist
Mittag. Egal, was wir machen, uns läuft die Zeit davon.«
»Elora, du hattest Rey schon als Kunden?«, wandte sich Liv an
Marisas Freundin.
»Ja, mehrfach.«
»Wird er mein ›Nein‹ akzeptieren?«
»Du denkst doch wohl nicht daran …«, setzte Marisa an, doch
Livia würgte sie mit einer Handbewegung ab.
»Nicht jetzt, Marisa.«
Elora wiegte den Kopf hin und her. »Ich denke schon. Ich habe
ihm allerdings noch nie einen Wunsch ausgeschlagen, hätte ich nie
dran gedacht, denn der Kerl weiß, wie man vögelt. Der hat es
überhaupt nicht nötig, jemanden zu zwingen. Der hat an jeder Hand
zig willige Bettgespielinnen. Der bucht uns Profis nur, weil er sich
dann auf seine eigene Befriedigung konzentrieren kann. Genug
Gleitgel und der Spaß geht los, waren seine genauen Worte.« Sie
lachte auf. »Ja, ich glaube, der wird es akzeptieren. Warum sollte
der sich den Stress antun, jemanden gegen den Willen zu nehmen,
wenn er uns für den bequemen Sex bestellt?« Sie sah Livia an.
»Aber überleg dir dein ›Nein‹ nochmal. Der Sex mit ihm ist wirklich
nicht schlecht. Du könntest es als One-Night-Stand mit einem gut
bestückten Kerl sehen.«
Livia spürte, wie das Blut bei der Vorstellung eines One-Night-
Stands mit Rey aus ihrem Gesicht wich. Trotzdem musste sie alles
auf diese Karte setzen. »Dann ist alles klar. Ich gehe hin.«. Sie
wunderte sich selbst über die Ruhe, mit der sie das aussprach. »Er
wird Marisa danach nicht noch einmal buchen, unser Schwindel
bleibt geheim und niemandem passiert etwas.« Ihre Worte klangen
besonnener, als sie sich fühlte. Doch sie erkannte mit grausamer
Klarheit die Falle, in der sie saßen. Würde sie nicht gehen und
Leonard Marisa etwas antun, dann könnte Livia sich das nie
verzeihen. So bestand zumindest die Möglichkeit, mit einem
einzigen weiteren Abend in der unangenehmen Gesellschaft von
Rey Simmons die Sache aus der Welt zu schaffen. Sofern Elora
Recht behielt.
Marisa sah Livia bewundernd an. »Ich habe dich völlig
unterschätzt. Du bist der toughste Mensch, den ich kenne. Ich werde
dir nie vergessen, dass du darüber auch nur nachdenkst. Aber ich
weiß nicht, ob ….«
»Ich finde Livs Plan gar nicht schlecht«, schaltete sich Elora ein.
»Wenn alles gut geht, ist das Ergebnis für alle perfekt.«
»Aber falls er ihr ›Nein‹ nicht akzeptiert, hat sie ihr erstes Mal mit
diesem Penner.«
Das mochte sich Liv allerdings nicht vorstellen. »Ich werde es
schaffen«, sagte sie und legte alle Überzeugung in ihre Stimme, zu
der sie fähig war. Vor allem, um sich selbst zu beruhigen. »Elora
kennt Rey von uns allen am besten. Ich vertraue ihr, wenn sie sagt,
er würde mich nicht zwingen. Außerdem trennt mich im RMagic nur
eine einzige Tür vom öffentlichen Bereich. Ich glaube nicht, dass
Rey vor den Augen der Gäste Gewalt anwenden wird. Elora hat
recht: Er ist nur auf eine unkomplizierte Nummer aus.«

Diesen Satz sagte sich Livia mantramäßig wieder und wieder, als sie
gegen zwanzig Uhr das RMagic betrat. Carlos hatte abermals wahre
Wunder an ihr vollbracht, die Haare fielen glatt und seidig über ihren
Rücken, das Make-up war etwas verruchter geraten, weil sie ein
knallrotes Kleid tragen sollte. ›Besonderer Kundenwunsch‹, war
Marisa von der Agentur mitgeteilt worden. Hauchdünne
Unterwäsche, die alles in Szene setzte, aber nichts verbarg,
vervollständigte das Outfit. Nebst abenteuerlichen roten
Stilettosandaletten und einer feuerwehrroten Clutch natürlich.
Die Cousinen hatten sich unwohl angesehen, während Liv in die
Dessous schlüpfte. Sie wussten beide, dass Rey die besser nicht zu
Gesicht bekommen sollte. Und was es bedeutete, dass Liv sie
trotzdem trug.
Liv wurde mulmig, als sie bemerkte, dass außer ihr niemand im
Club war. Keine anderen Gäste, nicht einmal Angestellte, abgesehen
von dem Muskelprotz Raul, der sie hineingelassen hatte.
Rey wartete auf einem der Barhocker. Bei ihrem Eintreten hatte er
sich umgedreht und verfolgte nun genüsslich, wie Liv auf ihn zukam.
Ihre Schritte wurden zögerlicher, kürzer, und irgendwann lachte Rey
lauthals auf. »Genau so habe ich mir das gewünscht. Das Spiel
macht mich heiß, Baby.«
Seine Stimme hallte in der leeren Diskothek und übertönte das
Tock-tock ihrer Absätze. Er streckte die Hand nach ihr aus. »Komm
her zu mir.«
Liv trat auf ihn zu, achtete aber darauf, außerhalb seiner
Reichweite stehenzubleiben.
»Keine Gäste heute?« Sie lächelte ihn zaghaft an.
»Wir haben geschlossen.«
Livias Herz setzte für einen Augenblick aus. Das war das Ende
ihres Notfallplanes, der darauf basierte, Rey würde sie in der
Öffentlichkeit zu nichts zwingen. Ein Tropfen kalten Schweißes rann
über ihren Rücken.
»Hey, Babe, was siehst du so verschreckt aus?« Rey rutschte
vom Barhocker und trat auf sie zu. Wie beim letzten Treffen landete
eine Hand sofort auf ihrer Pobacke, die er mit festen Griff massierte.
»Tut es noch weh?«, fragte er und rieb mit dem Daumen genau über
die Stelle, die seit Samstag blau unterlaufen war. Liv zuckte
zusammen und Rey lachte leise. »Ah, gut, du spürst es noch.« Er
quetschte ihre Haut abermals zwischen seinen Fingern und Liv
stöhnte auf.
»Hör damit auf«, sagte sie fest. »Du hast mich gebucht, damit ich
dich heute Abend begleite. Nur das werde ich tun. Also, wohin
gehen wir?« Sie drehte sich aus seinem Griff und zu ihrer
Überraschung ließ er sie gewähren.
»Wenn ich ehrlich bin, würde ich den geselligen Teil gerne
überspringen«, raunte Rey ihr ins Ohr, der es irgendwie geschafft
hatte, sie zwischen seinem Körper und der Theke einzuzwängen. Liv
spürte eine leichte Beule in seiner Hose. »Deine schüchterne Art
weckt den Jäger in mir. Ich habe seit Samstag Fantasien, was ich
alles mit dir machen will. Wenn die verdammten Cops nicht gewesen
wären…« Er schlug mit der Faust auf die Theke. »Und jetzt will ich
keine Zeit verlieren.« Er umfasste Livs Gesicht und betrachtete sie
wie seine Beute. »Leonard hat mir versichert, dass du damit
umgehen kannst, hart genommen zu werden.«
Livia spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Vielleicht sollte sie ihm vor
die Füße speien. Das würde ihn vermutlich abtörnen. Oder
unbeschreiblich wütend machen. Ihr waren seine unnatürlich
geweiteten Pupillen und die fahrigen Gesten nicht entgangen. Er
hatte etwas genommen. Sein Verhalten war unberechenbar.
»Rey, mir ist nicht gut.« Sie versuchte erfolglos, ihn ein Stück
wegzudrücken. Er lachte leise, legte seine Hand erneut an ihren
Hintern und verringerte die Distanz zwischen ihnen so weit, dass
kein Blatt Papier mehr zwischen ihre Körper gepasst hätte.
»Rey, bitte. Du hast mich als Begleitung gebucht. Sollten wir uns
nicht diesem Teil des Vertrages widmen?«
»Babe.« Sein Atem kitzelte an ihrem Ohr. »Ich habe dir doch
gerade gesagt, dass ich heute Abend nicht an deiner Begleitung,
sondern nur an deiner Pussy interessiert bin. Ich will dich vögeln,
verstehst du, sonst nichts.«
»Aber ich will nicht von dir gevögelt werden!« Jetzt war es raus.
Sie hätte das Gespräch gerne anders geführt und vor allem in einer
anderen Situation als eingekeilt zwischen Tresen und der
entschieden zu harten Ausbuchtung in seiner Hose. Zu Livs
Erleichterung trat Rey einen Schritt von ihr weg. Er starrte ihr
prüfend ins Gesicht.
»Das ist nicht dein Ernst!«
»Doch Rey. Mir ist heute nicht nach Sex. Bitte akzeptiere das.«
»Ah, ich verstehe schon.« Er lachte. »Du musst lockerer werden.
Du willst etwas von Reys weißem Zauberpülverchen, stimmt’s?«
Er machte eine Handbewegung und aus dem Halbdunkel näherte
sich der Türsteher. Liv hatte nicht bemerkt, dass er in der Nähe
gewartet hatte. Ihre Beunruhigung wuchs.
»Weißes Pulver? Du meinst Koks?«
Rey verdrehte die Augen. »Also, willst du?«
Liv schüttelte heftig den Kopf »Nein!« Ihre Antwort war eher ein
Schrei der Ablehnung.
»Schon gut, zwingt dich ja keiner. Deine Kollegin ist ganz wild
darauf, hält mich für eine Art Selbstbedienungsladen, bevor ich sie
durchvögeln darf.« Er lachte auf eine unangenehme Art. »Dafür geht
sie danach im Bett aber auch ordentlich ab.«
Oh Gott, er sprach von Elora. Deshalb war sie von Rey so
begeistert. Und sie hatte dem Urteil von Marisas Freundin vertraut.
Viel zu sehr vertraut, wie Liv nun klar wurde, als Rey überhaupt
keine Anstalten machte, seinen Wunsch nach Sex mit ihr
aufzugeben. Vielmehr schien er nur die Taktik zu wechseln.
»Mein Babe muss lockerer werden«, wandte er sich an den
Muskelprotz. »Raul, mach ihr einen Drink.«
Der Stiernacken grunzte etwas und fing an, hinter der Theke zu
arbeiten. Eiswürfel klirrten, Flaschen wurden abgestellt und wenig
später stand ein großes Cocktailglas vor Liv.
»Trink«, befahl Rey und es hörte sich nicht nach einer
freundlichen Einladung an.
Wenn da nur halb so viel Alkohol drin war, wie es schien, wäre sie
in kurzer Zeit betrunken. Liv sah sich nach einer Möglichkeit um, das
Getränk unauffällig wegzuschütten. Kein Abfluss, keine Topfpflanze,
nichts. Vorsichtig nippte sie unter Reys gestrengem Blick ein
winziges Schlückchen. Es schmeckte unerwartet gut. Es war Alkohol
drin, das war eindeutig, aber die fruchtige Note überdeckte den
Geschmack fast vollständig.
Rey bedeutete Liv, sich auf einen der Barhocker zu setzen, dann
gab er Raul ein Zeichen und setzte sich neben sie. Kurz darauf
stellte Raul ein Whiskyglas vor seinen Chef und zog sich wieder in
den Schatten zurück.
»Also Marisa, dann lass mal hören.« Rey legte seine Hand auf ihr
Knie. »Da du so viel Wert auf Einhaltung des Arrangements legst,
müssen wir uns wohl erst in nichtssagendem Smalltalk ergehen,
bevor der angenehme Teil kommt. Über was möchtest du reden?«
Livs Gedanken froren ein. Smalltalk. Ein Albtraum. Auf Papier war
sie eloquent und witzig, ihren Protagonisten konnte sie problemlos
eine schlagfertige Antwort in den Mund legen, doch wenn sie selbst
mit Fremden reden sollte, lösten ihre Synapsen jedwede
Steckverbindung zwischen Gehirn und Zunge.
»Babe, das wird langweilig.« Rey drückte ihr Knie fester. »Trink
schneller, damit wir hier wegkönnen. Mein Freund hier ist voller
Tatendrang.« Ein Griff an seinem Schritt unterstrich die Worte. Dabei
lachte er laut und überwachte mit Argusaugen, dass Livia ein paar
große Schlucke nahm. Die brauchte sie allerdings auch, um Mut zu
sammeln. Sie rutschte vom Barhocker und trat einen Schritt von Rey
weg, der sie interessiert beobachtete.
Unsicher balancierte sie sich aus. Die noch immer ungewohnt
hohen Absätze machten es nicht leichter, hinzu kam der Alkohol. Der
Cocktail war stärker, als sie gedacht hatte. Im Sitzen war ihr das
nicht aufgefallen, doch jetzt schwankte der Boden unter ihr.
»Geht es denn?« Rey schien amüsiert, blieb jedoch unbewegt
sitzen.
»Ja«, erwiderte Liv. »Oder ehrlich gesagt nein. Es geht mir nicht
gut, deshalb werde ich jetzt auch gehen. Buch demnächst wieder
Elora, die steht auf den Sex mit dir.« Es fiel ihr zunehmend schwer,
die Worte zu sortieren, aber eigentlich war auch alles gesagt. Sie
drehte sich um, hatte die Tanzfläche jedoch nicht einmal zur Hälfte
überquert, als Rey ihre Oberarme mit festem Griff packte und sie in
Richtung Hinterausgang dirigierte.
»Au, du tust mir weh«, jammerte Livia und versuchte, seine Hände
abzuschütteln, sah allerdings recht schnell ein, wie zwecklos das
war, als er seinen Griff daraufhin verstärkte.
»Schön brav sein, Babe«, sagte Rey gleichmütig, »dann tut dir
auch niemand weh.«
Unterdessen hatten sie die Hintertür erreicht, die Raul öffnete.
Gleich darauf hielt er auch die Tür einer großen Limousine auf und
Rey schob die stolpernde Livia hinein, die den Kopf nach hinten
legte und sich in die Polster kuschelte. Sie war benommen. Jede
Bewegung kostete enorm viel Kraft. Ein merkwürdiges Gefühl ergriff
von ihr Besitz. Sie war nicht mehr Herrin ihres Körpers, aber nicht
betrunken. Im Zeitlupentempo drehte sie ihr Gesicht zu Rey, der sie
mit einem Raubtierlächeln bedachte. »Du hast mir etwas in den
Drink gemischt«. Ihre Gedanken waren unerwartet klar.
Rey erwiderte nichts, doch sein Lächeln vertiefte sich.
Unglücklicherweise wurde es nicht freundlicher, sondern nur
verschlagener. »Sei mir dankbar. Du warst so verspannt.«
»Dankbar? Dafür, dass du mich wehrlos in dieses Auto
verfrachtest? Ohne deinen miesen Trick hättest du mich niemals hier
herein bekommen!« Liv wunderte sich, wie analytisch ihr Kopf noch
funktionierte. Nur ihre Muskeln versagten den Dienst. Und ihr
Angstzentrum, denn sie wusste, dass sie unter normalen Umständen
schier umgekommen wäre vor Panik. Stattdessen spürte sie eine
angenehme Lethargie, fast als wäre ihr egal, was er gleich mit ihr
machen würde.
»Das werden wir wohl nie erfahren«, sagte Rey lächelnd und
prostete ihr mit einem Whiskey zu.
»Du kennst die Regeln«, unternahm Livs Verstand einen letzten
Anlauf, dem anscheinend Unvermeidlichen doch noch zu
entkommen. »Wir Mädchen haben das Recht, sexuelle
Kundenwünsche abzulehnen.« Das war recht kühn behauptet, denn
seit sie den Grund für Eloras Ergebenheit durchschaut hatte, war sie
sich in diesem Punkt alles andere als sicher. Und richtig – Reys
Gesicht zeigte offene Belustigung, dann legte er den Kopf in den
Nacken und lachte schallend.
»Das hat dir aber nicht Leonard gesagt, Babe?« Er stellte sein
Glas zurück auf die Mittelkonsole, dann griff er mit der Hand um Livs
Gesicht und zwang sie, ihn anzusehen. »Jetzt hör gut zu, denn ich
sage es nur einmal: Ich bin nicht irgendein Kunde. Ich bezahle
Leonard mit etwas, das ihm viel wichtiger ist, als Geld oder
irgendeines seiner Mädchen. Solange er seine Drogen erhält, gelten
für mich keine Regeln. Und ein ›Nein‹ schon einmal gar nicht. In der
Welt des Reynold Simmons gibt es kein ›Nein‹. Und jetzt steig aus.«
Während Livia Reys Worte mit eigentümlicher Gleichmut aufnahm,
hatte der Wagen vor einem Haus angehalten, das dem von Marisa
ähnelte, nur dass dieses hier ein paar Nummern größer war. Raul
öffnete ihr die Wagentür. Mit zitternden Beinen kletterte Liv aus der
Limousine und hielt sich an der Tür fest. Rey, der dicht hinter ihr das
Fahrzeug verließ, führte sie mit festem Griff ins Haus. Liv nahm
kaum etwas von der Einrichtung wahr. Die Angst kämpfte sich nun
doch durch den lethargischen Brei an die Oberfläche und ihr
Herzschlag beschleunigte sich mit jeder Stufe, die Rey sie nach
oben führte. Nach oben – dorthin, wo sich sein Schlafzimmer
befand. Livs Beine gaben nach, als sie die Zimmertür erreichten,
doch Rey fing sie auf, noch bevor ihre Knie den weichen Teppich
berührten. Er zog sie mit Leichtigkeit hoch, hob sie auf den Arm und
legte sie auf einem riesigen Bett ab. Ein kühles schwarzes Laken
breitete sich unter ihr auf seiner Spielwiese aus, über ihr ein Spiegel,
in dem Liv die angstverzerrte Grimasse kaum als die eigene Miene
erkannte.
Rey hantierte neben dem Bett mit etwas Metallischem.
Handschellen! Liv fuhr hoch. Sie wollte die Beine aus dem Bett
schwingen, doch unter dem Einfluss des teuflischen Cocktails
gelang ihr nur eine unkoordinierte Seitwärtsbewegung. Rey ließ sich
von ihren Bemühungen nicht einmal aus der Ruhe bringen.
»Zieh dein Kleid aus«, befahl er und Liv erstarrte.
Als sie sich nicht rührte, warf er ihr einen kalten Blick zu. »Ich will
dich ficken und ich werde dich ficken.« Er legte den Kopf schief. »Ich
habe den Eindruck, du hättest noch ein paar Schlucke mehr von
dem Cocktail vertragen, offenbar lässt die Wirkung nach.
Bedauerlich, aber nicht zu ändern.« Mit strenger Miene trat er einen
Schritt auf das Bett zu und ließ die Handschellen vor Livs Gesicht
hin- und herbaumeln. »Ich mag harten Sex, aber ich mag keine
Kämpfe im Bett. Du hast deshalb zwei Möglichkeiten: Du ziehst brav
dein Kleid aus, dann legst du dich folgsam auf das Bett und ich
werde dir die hier anlegen. Oder du leistest Widerstand. Dann werde
ich Raul hereinrufen.« Er lachte gehässig. »Der steht draußen auf
dem Flur und hätte sicher nichts gegen etwas Spaß mit dir. Er wird
dich gerne ausziehen und das Fesseln übernehmen. Es wird etwas
schmerzhafter und du wirst dich keinen Zentimeter mehr bewegen
können, wenn er fertig ist. Er verwechselt ›Fesseln‹ leider mit ›Bis-
zur-Schmerzgrenze-Festzurren‹.« Rey musterte Liv mit
gleichgültiger Miene, unbeeindruckt davon, dass diese inzwischen
heftig zitterte, und Tränen in den Augen hatte.
»Nun?«, er hob die Augenbrauen und drehte sich zur Tür. »Soll
ich …?« Er deutete auf die Klinke.
Liv fühlte sich entrückt. Die Drohung rieselte nur langsam in ihr
Bewusstsein. Als sie dort ankam, löste sie nicht einmal die Panik
aus, die Liv erwartet hätte. Verwundert über ihre Ruhe, aber vor
allem erleichtert registrierte der Teil Livias, der dazu noch fähig war,
dass die Droge noch wirkte und verhinderte, alles zu spüren. Mit
etwas Glück würde sie kaum mitbekommen, was nun passierte.
Dennoch legte sich die Angst vor dem Bevorstehenden wir eine
Pranke um ihre Eingeweide. Wie in Trance bewegte Liv die Hände
zum Rücken. Ihre bebenden Finger konnten kaum den
Reißverschluss öffnen. Es dauerte endlos, vielleicht versuchte sie
unbewusst auch, ihren letzten Schutz gegen Rey nicht aufzugeben.
Doch irgendwann saß sie nur noch in der Unterwäsche vor ihm.
Reizwäsche, die nichts verbarg. Ihre Übelkeit wurde stärker, je
länger sie so dahockte. Stoßweise holte sie Atem, wenn sie sich
nicht beherrschte, würde sie hyperventilieren.
Rey war unerwartet geduldig, er gab ihr einen Moment Zeit, bis er
nähertrat. »Und nun leg dich hin.«
Sie fügte sich diesmal sofort. Was hätte es jetzt noch für einen
Sinn, sich zu wehren? Mit geübten Bewegungen schloss er die
Handschellen um ihre Handgelenke, das Gegenstück klickte um die
Streben des massiven Bettgestells. Ebenso verfuhr er mit ihren
Beinen.
»Du hängst an holzverkleideten Metallstangen«, informierte Rey
sie. »Du kannst ruhig daran zerren, eher brechen deine Knochen,
als dieses Möbelstück.« Er grinste. »Spezialanfertigung.«
Er ließ seinen Blick hungrig über ihren Körper gleiten, dann legte
er den Kopf in den Nacken und betrachtete sie im Spiegel, während
er langsam seinen Reißverschluss öffnete. Liv lag regungslos und
wünschte sich eine stärker sedierende Wirkung des Cocktails. Ihr
Herz raste und alles in ihrem Inneren bebte vor Angst. Sie verfluchte
Elora für ihre drogenvernebelte Fehleinschätzung, doch vielmehr
verwünschte sie sich selbst dafür, ihr geglaubt zu haben. Wie hatte
sie sich nur einbilden können, gegen diesen Typen eine Chance zu
haben? Weil ich nicht wusste, welch skrupelloses Arschloch er ist,
beantwortete sie ihre Frage. Er nahm offenbar nicht nur Drogen,
sondern dealte auch. Die Waffe, die sie beim Hereingehen in Rauls
Hosenbund gesehen hatte, passte dazu. Sie würde gleich ihr erstes
Mal mit einem Verbrecher erleben. Einer, der es hart mochte. Ob er
rücksichtsvoller wäre, wenn sie ihm sagte, dass sie noch Jungfrau …
Es klopfte an der Tür. Nein, jemand hämmerte gegen die Tür.
»Rey, wir müssen weg!«, erklang Rauls Stimme von draußen.
»Wir bekommen Besuch. Ich habe gerade einen Anruf von …«
Weiter kam er nicht, da hatte sein Boss fluchend die Tür
aufgerissen und schob Raul zurück auf den Gang, bevor er von
außen die Tür schloss. Liv spitzte vergeblich die Ohren. Sekunden
später erschien Rey wieder im Schlafzimmer, würdigte sie jedoch
keines Blickes, sondern verschwand durch eine Nebentür.
Vermutlich ein begehbarer Kleiderschrank, denn nur einen Moment
danach hatte er sein Jackett gegen eine Outdoorjacke vertauscht
und hastete mit einer prall gefüllten, schwarzen Reisetasche in der
Hand zum Fenster. Zeitgleich erklangen Motorengeräusche auf der
Straße.
»Fuck!« Rey sprang förmlich vom Fenster weg, griff in seine
Hosentasche und warf im Vorbeirennen etwas auf Livs Bauch.
Schlüssel. »Sorry, keine Zeit. Sieh zu, dass du hier wegkommst.«
Bei den letzten Worten war er bereits durch die Tür verschwunden.
Liv warf einen entgeisterten Blick auf die Schlüssel, die so nah
und gleichzeitig kühl und unerreichbar auf ihrer nackten Haut lagen.
Die Wirkung des Cocktails ließ nach, genug zumindest, um sich
einigermaßen kontrolliert zu bewegen. Sie hatte keine Idee, wie sie
dieses freiheitverheißende Stück Metall in ihre Finger bekommen
sollte, aber sie musste es versuchen. Mit zuckenden Bauchmuskeln
brachte sie den Schlüssel zum Tanzen, er sprang und hüpfte um
ihren Bauchnabel, aber wanderte keinen Zentimeter. Mit einem
Seufzen ließ sie den Kopf ins Kissen zurückfallen.
Hysterisches Gelächter bahnte sich den Weg durch ihre Kehle, als
sie daran dachte, wie sie ihre Eltern wegen ihrer Besorgnis belächelt
hatte. Wenn die wüssten, wie sehr sie recht behalten hatten. Sie
ahnten zum Glück nicht, dass ihre Tochter gerade in der Rolle einer
Prostituierten gefesselt auf dem Bett eines Drogendealers lag, und
nur dadurch vor Schlimmerem bewahrt worden war, weil der
seinerseits vor irgendjemandem davonlief. Doch war sie wirklich vor
Schlimmerem bewahrt worden? Das Lachen klang eher nach
Schluchzen, als es die Kehle schließlich passiert hatte. Liv biss sich
auf die Unterlippe. Sie durfte jetzt nicht durchdrehen. Irgendwie
würde …
Von unten drang ein Knall herauf, Gebrüll, donnernde, schwere
Schritte. Liv glaubte, inmitten dieser Kakofonie das Wort »Polizei« zu
hören. Sie atmete tief durch. Das würde zwar peinlich werden, aber
sie war gerettet!

Die Männer arbeiteten sich gleichmäßig durchs Haus. Türen wurden


geöffnet und wieder zugeschlagen, Rufe schallten über den Korridor
und rückten immer näher. Sollte sie sich bemerkbar machen?
Allerdings wollte sie nicht mehr Aufmerksamkeit als nötig auf sich
ziehen, es würde auch so unangenehm genug werden. Schon ging
es los. Mit einem Knall flog die Tür gegen die Wand, dann sah Livia
in die Mündung einer Maschinenpistole. Sie schrie auf. Zwei Beamte
kamen ins Zimmer. Der eine hielt noch immer die Waffe auf sie
gerichtet, der andere sprach in sein Funkgerät.
»Eine weibliche Person im Schlafzimmer. Gefesselt.« Er sah sie
an. »Sind Sie verletzt?«
Liv schüttelte den Kopf.
»Unverletzt.«
Der andere Polizist näherte sich, sah die Schlüssel auf ihrem
Bauch. Als er danach greifen wollte, unterbrach ihn ein weiterer
Mann, der den Raum betrat. Drew. Liv stöhnte innerlich auf. Sein
Blick taxierte die Szene, zeigte kurz Überraschung, als er Liv
erkannte, wurde dann sofort wieder professionell. »Ich mach das
hier schon. Sichert den Nebenraum, dann lasst uns allein.«
Die beiden Polizisten nickten, überprüften den begehbaren
Kleiderschrank und verließen nach der Meldung »niemand drin« das
Schlafzimmer.
Drew hatte Livia unterdessen von den Fesseln befreit. Mühsam
rappelte sie sich auf. Bis eben hatte die Erleichterung über ihre
Rettung überwogen, jetzt genierte sie sich vor Drew. Mit unbewegter
Miene hob er das Kleid vom Boden und reichte es ihr. Hastig streifte
sie es über, während Drew etwas in sein Handy tippte. Beide
sprachen kein Wort, bis Liv zur Bettkante rutschte und Drew fragend
ansah.
»War das freiwillig?«, fragte er und deutete mit einer
Kopfbewegung auf die Handschellen, die noch immer an den
Bettpfosten baumelten.
Liv kniff den Mund zusammen und zuckte unbestimmt mit den
Schultern.
Drew warf ihr einen undefinierbaren Blick zu, insistierte aber
vorerst nicht weiter. »Komm, ich bring dich hier raus.«
Mit noch recht wackeligen Beinen stand Liv auf und machte zwei
vorsichtige Schritte in Richtung Tür.
Drews Stirnrunzeln schwankte zwischen Strenge und Besorgnis.
»Deine Schuhe?«
Liv schüttelte den Kopf. Sie war froh, wenn sie es barfuß schaffte,
das Gleichgewicht zu halten. Im Stehen bemerkte sie die
Nachwirkungen des Cocktails wieder stärker. Auf dem Boden, dort
wo sie vorhin gestrauchelt war, lag ihre Handtasche, Liv wäre fast
gestürzt, als sie sich danach bückte und konnte sich gerade noch an
der Wand abstützen.
»Bist du sicher, dass du okay bist?«, fragte Drew.
»Ja, geht schon«, quetschte Liv zwischen zusammengebissenen
Zähnen hervor. Sie wollte nur raus hier. Weit weg von sämtlichen
Drogendealern, Schusswaffen, Polizisten und der Gefahr, am Ende
einem gewissen Staatsanwalt Rede und Antwort stehen zu müssen,
dem sie doch aus dem Weg gehen sollte.
Und dennoch immer wieder gegenüberstand.
»Hallo Livia«, ertönte Gregs tiefe Stimme, kaum dass sie mit Drew
das Haus verlassen hatte. Sie bemerkte aus den Augenwinkeln,
dass einige Blicke sie streiften, als sie die Stufen hinabstieg und auf
den Staatsanwalt zutrat. Abwartend sah sie ihn an.
»Du hast sie im Schlafzimmer gefunden?«, wandte sich Greg über
Livs Kopf hinweg an Drew.
»Ja, sie lag auf dem Bett, an Handgelenken und Knöcheln x-
förmig ans Bettgestell gefesselt.«
Eine Hitzewelle jagte hinauf in ihre brennenden Wangen. Hätte es
nicht vor Polizisten gewimmelt – sie wäre davongerannt.
»Freiwillig?« Zum ersten Mal sah Greg Livia richtig an. Ein harter
Zug umgab seine Mundwinkel und Liv schämte sich mit einem Mal
vor ihm in Grund und Boden. Tränen schossen in ihre Augen,
aufschluchzend verbarg sie ihr Gesicht in den Händen.
Greg überraschte sie, indem er sie an sich zog und ihr sanft über
den Rücken strich. Sie lehnte sich an seine Brust. »Ich will nach
Hause«, schluchzte sie. »Bitte, darf ich nach Hause?«
»Später.« Gregs Stimme klang warm und beruhigend. Er
streichelte sie weiter und umschlang sie fester, als Liv immer stärker
zitterte. »Schscht. Alles ist gut.« Er ließ sie los, streifte sein Jackett
ab und legte es Liv um die Schultern, bevor er sie wieder in seine
Arme nahm.
»Soll sie aufs Revier?«
Liv hatte vergessen, dass Drew hinter ihnen stand. Sie versteifte
sich, spürte jedoch sofort, wie Greg sie kurz drückte.
»Dafür sehe ich keinen Grund«, erwiderte Greg. »Ich kümmere
mich schon darum.«
»Was immer du vorhast, solltest du jetzt tun, unsere Freunde von
den Medien rücken gerade an.«
Livias Kopf ruckte hoch. »Bitte nicht!«, flehte sie.
Greg folgte Drews Blick und verzog beim Anblick der
wohnmobilartigen Fahrzeuge, die am Ende der Straße auftauchten,
das Gesicht.
»Bring mir eine Decke aus dem Streifenwagen«, bat er Drew, der
kurz darauf mit dem Gewünschten erschien.
Greg warf Liv die Decke über den Kopf. »Für alle Fälle«, sagte er
und schob sie dann vor sich her zu seinem AMG. »Leg dich auf die
Rückbank, unter die Decke«, ordnete er an. »Die Scheiben sind
stark getönt, man wird dich dort nicht sehen. Ich bin gleich wieder
da.«
Wenig später rutschte er mit den Worten »Die Jungs kommen
ohne mich klar« auf den Fahrersitz. Er drehte sich zu Liv nach
hinten, die durch einen Spalt zwischen Decke und Rückbank zu ihm
hochspähte. »Du siehst mitgenommen aus, brauchst du einen
Arzt?«, erkundigte er sich.
»Nein, alles gut!«, wehrte Liv erschrocken ab. Je mehr Aufhebens
sie um die Sache machte, desto riskanter wurde es. Leonard könnte
doch etwas herausfinden. Oder ihre Eltern. Liv wusste nicht, was ihr
mehr Angst einjagte. Sie wollte nur eins: Nichts mehr mit all dem zu
tun haben. Danach sah es allerdings nicht aus, denn Greg
entschied: »In Ordnung, dann fahren wir zu mir.« Er startete den
Mercedes. Livs Protest erstickte er im Keim. »Ruhig jetzt und
liegenbleiben, wir passieren gerade die Reporter.«
Das Klicken der Fotoapparate und das Stimmengewirr der
Journalisten drangen bis in den Wagen, als Greg in
Schrittgeschwindigkeit durch die vor der Absperrung wartende
Menge fuhr. »Das haben wir geschafft.« Er klang erleichtert.
Liv schob die Decke vom Kopf, blieb aber liegen. Sie fühlte sich
wie gerädert. Ein starker Kaffee oder Schlaf wären jetzt nicht
schlecht. Ihr fielen die Augen zu, noch bevor sie den Satz zu Ende
gedacht hatte.
6.

Sie wurde wach, als Greg nachdrücklich über ihren Arm strich.
»Aussteigen, wir sind da!«
Livia blinzelte. Sie befanden sich in einer Tiefgarage. Greg half ihr
aus dem Wagen. Schlaftrunken lehnte sie sich an seine Brust, was
er sich lächelnd gefallen ließ. »Das war also dein Ernst, dass wir zu
dir fahren?«, nuschelte sie.
»Natürlich.« Greg grinste. »Bei mir gibt es den besseren Kaffee
als im Büro oder auf dem Revier und du siehst aus, als könntest du
einen vertragen.«
»Einen? Du meinst einen Liter?«
»Auch das, wenn du möchtest.« Er umfasste ihre Hüfte und
stützte Liv, während er sie in Richtung eines Fahrstuhls dirigierte.
Dort zückte er eine Keycard und sanft surrend näherte sich die
Kabine, die sie wenig später direkt in Gregs Wohnung beförderte.
»Wow, du hast einen privaten Aufzug?«, staunte Liv, als sich die
Fahrstuhltür hinter ihnen geschlossen hatte und sie mitten in einem
Loft standen.
»Bitte, sieh dich ruhig um.« Greg machte eine einladende
Handbewegung. Wie magisch angezogen bewegte sich Liv durch
den Raum auf eine lange Glasfront zu. Zu ihren Füßen glitzerte das
Wasser des Savannah River im Schein einiger Straßenlaternen.
»Und noch einmal ›wow‹. Du wohnst direkt am Fluss. Tagsüber
muss die Aussicht atemberaubend sein.«
Greg war hinter sie getreten. Sein Spiegelbild in der Scheibe
lächelte ihr zu. »Ja, es ist atemberaubend. Du kannst dich morgen
beim Frühstück davon überzeugen.« Sein Lächeln verbreiterte sich
zu einem Grinsen. Liv fuhr herum.
»Wohl kaum! Du denkst doch nicht ernsthaft, dass ich heute Nacht
…«
Greg lachte auf und Liv funkelte ihn böse an. Er hatte sie nur
aufgezogen und sie ärgerte sich, wie leicht sie auf seine Tricks
hereinfiel.
»Lass uns erstmal einen Kaffee trinken«, sagte er versöhnlich,
zwinkerte ihr zu und begann, in der offenen, modernen Küche
herumzuwerkeln. Hohe, weißglänzende Fronten, viel Chrom und
Edelstahl und eine Arbeitsplatte aus Granit. Livia war abermals
beeindruckt. Der Kaffeevollautomat gluckerte, surrte, wurde kurz
laut, dann ergoss sich mit einem Brummen die tiefschwarze
Flüssigkeit in zwei gläserne Tassen. Eine davon reichte Greg ihr an.
»Doppelter Espresso«, erklärte er. »Wenn du später etwas
anderes möchtest, sag es ruhig. Für den Anfang schien mir Coffein,
viel Coffein, eine gute Idee.«
Während beide an dem herrlich aromatischen Getränk nippten,
zog Greg eine Flasche Rotwein aus einem Regal, öffnete sie mit
geübter Hand und füllte den Inhalt in einen Dekanter um. »So kann
der schon mal atmen.«
Danach ging er zu einem wahren Ungetüm von Kühlschrank und
richtete eine Käseplatte an. Liv ließ ihn nicht aus den Augen. Er
hantierte geschickt in der Küche, seine Bewegungen waren
geschmeidig. Er hatte sein Jackett ausgezogen und wenn er ihr den
Rücken zuwandte, konnte sie die Muskeln unter seinem Hemd
arbeiten sehen. Sie genoss es, ihn zu beobachten, doch im gleichen
Maß wuchs Ihre Beunruhigung. Eigentlich wollte sie so schnell wie
möglich nach Hause. Marisa machte sich bestimmt Sorgen. Und die
letzten Zusammentreffen mit Greg waren entschieden zu
anstrengend für Herz und Kopf gewesen, um länger als absolut
notwendig in seiner Nähe zu bleiben.
Greg schien von solchen Bedenken weit entfernt zu sein, denn er
stellte Käse und Rotwein auf einem niedrigen Tisch vor einer
ausladenden Sitzgruppe ab und sah Liv auffordernd an. »Möchtest
du dich nicht setzen?«
Unschlüssig blieb Liv stehen. Das Sofa war groß, dennoch
bedeutete, sich zu ihm zu setzen eine Nähe, zu der Liv nicht bereit
war. Sie hätte sich sonst eingestehen müssen, welche Wirkung er
auf sie hatte. Seit sie diese Wohnung betreten hatten, war ihr seine
Präsenz mehr als bewusst; wenn ihre Blicke ihm folgten, konnte sie
sich an seinem Äußeren kaum sattsehen. Ihr Körper reagierte in
geradezu unvernünftiger Weise auf ihn und ihr Kopf funktionierte
nach den Erlebnissen des Abends, inklusive der verheerenden
Cocktailmixtur, nicht besonders zuverlässig. Wie sonst war es zu
erklären, dass sie jetzt doch einen Fuß vor den anderen setzte und
sich langsam in Gregs Richtung bewegte. Ihre nackten Füße traten
lautlos auf, nur Livs Herzschlag trommelte in ihrem Kopf.
Liv ließ sich neben Greg nieder. Stumm reichte er ihr einen
Rotwein. Sie zögerte kurz, überlegte, ob sie um ein Wasser bitten
sollte, aber nachdem sie einen Schluck der granatfarbenen
Flüssigkeit gekostet hatte, entschied sie sich dagegen. Der Wein war
gut, das erkannte sie, ohne Kennerin zu sein. Ebenso edel, wie das
Interieur seiner Wohnung. Schweigend nippten beide an ihren
Gläsern und probierten von dem Käse. Es war, als wollte er Liv erst
einmal ankommen lassen, und Liv war dankbar für die Gelegenheit,
sich zu sammeln. Zu viel ging ihr durch den Kopf. Es war erstaunlich
angenehm, mit Greg zu schweigen, der sich entspannt
zurückgelehnt hatte und dessen Ruhe allmählich auf sie abfärbte.
Erst als auch Livia nicht mehr nur auf der Kante des Sofas hockte,
sondern in die weichen Polster sank, eröffnete Greg das Gespräch.
Oder Verhör? Sofort richtete sich Livia wieder auf.
»Erzählst du mir vom heutigen Abend?«, fragte Greg in einem
lockeren Ton. Er wollte ihr eindeutig nicht das Gefühl geben,
vernommen zu werden. Dennoch musste sie auf der Hut sein und
durfte nicht vergessen, mit wem sie hier saß. Sie stellte das Glas auf
den Tisch und beschloss, besser bei Wasser zu bleiben. Das würde
keine lockere Plauderei, auch wenn sich Greg alle Mühe gab, es wie
ein freundschaftliches Treffen wirken zu lassen, indem er ihr
Weinglas auffüllte und auffordernd den Käse hinhielt.
Liv angelte sich ein Stückchen, gab es ihr doch Gelegenheit, ihre
Antwort zu überdenken, während sie kaute. Außerdem war der Käse
ausgezeichnet. »Was willst du denn wissen?«
»Alles. Ausführlich und umfassend.« Gregs Stimme war neutral,
auch war er weiterhin um Leichtigkeit bemüht und zwinkerte ihr zu.
Dennoch wusste Liv, dass das Gespräch ernst war und noch ernster
würde.
»Warum verfolgt ihr Rey? Was hat er getan?«
»Die Frage ist eher, was er nicht getan hat«, erwiderte Greg
düster. »Ich vermute, es gibt nicht viele Strafgesetze, gegen die er
noch nicht verstoßen hat. Offiziell geht es derzeit um Hehlerei und
Drogen.« Er schwieg abwartend und ließ seine Worte auf Liv wirken.
Die wand sich innerlich. Was würde Leonard mit ihr oder Marisa
anstellen, wenn sie einen Kunden verpfiff? Andererseits hatte
besagter Kunde sie ans Bett gefesselt und wäre wohl gerade dabei,
rücksichtslos seinen Schwanz in sie zu rammen, wenn nicht Drew
und seine Kollegen dazwischen gekommen wären. Wie viel
Verschwiegenheit durfte ein solcher Mensch erwarten?
Erneut gab Greg ihr Zeit. Als fühlte er instinktiv, welch ein
Zwiegespräch in ihrem Kopf stattfand. Er stand auf und holte eine
Karaffe mit Wasser. Er hatte gemerkt, dass sie den Wein nicht mehr
anrührte. Selten war ein aufmerksamer Mann weniger willkommen,
als in diesem Moment, in dem Liv endgültig bewusst wurde, wie
einfach Greg sie durchschaute. Er sah sie erwartungsvoll an, ein
wenig verführerisch, ein bisschen auffordernd, und plötzlich wollte
sie ihn nicht enttäuschen. Sie konnte vage bleiben, nicht zu viel von
ihrem Geheimnis preisgeben. »Wir hatten ein … ähm … eine
Verabredung. In seinem Club, im RMagic, du weißt schon.« Liv
knetete ihre Finger. »Wir sind dann zu ihm nach Hause gefahren und
dann … also … er war gerade dabei, seine Hose zu öffnen, als Raul
– der ist sein Türsteher oder so etwas – ihn warnte, sie müssten
weg, weil ihr kommt, er hatte einen Anruf. Rey hat eine Tasche
mitgenommen und ist abgehauen. Kurz bevor die Polizei ins Haus
gestürmt kam.«
»Verdammt« Greg knallte sein Weinglas auf den Tisch. Ohne die
Spur seiner üblichen Gelassenheit sprang er auf und lief vor der
langen Fensterfront auf und ab. Mit großen Schritten durchmaß er
den Raum, bis er mit hinter dem Rücken verschränkten Händen vor
Livia stehenblieb. »Denk bitte genau nach. Hat dieser Raul
irgendetwas über den Anrufer gesagt?«
Liv kaute auf ihrer Unterlippe und versuchte, sich zu erinnern.
Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich glaube nicht. Nur, dass er einen
Anruf bekommen hätte. Den Rest habe ich nicht verstanden, weil sie
auf dem Flur weitergesprochen haben.«
Greg nickte und nahm seine Wanderung vor der Fensterfront
wieder auf. »Das hatte ich befürchtet«, murmelte er und stieß erneut
einige Verwünschungen aus, bevor er tief durchatmete und Liv
anlächelte. »Danke. Das hat mir sehr weitergeholfen. Kannst du
noch etwas anderes beisteuern?« Er grinste schief. »Er hat nicht
zufällig verraten, wohin er mit der Tasche verschwunden ist?«
»Tut mir leid.« Liv schüttelte abermals den Kopf. »Er hat mich
nicht unbedingt zum Reden best… ähm … eingeladen.«, fügte sie
entschuldigend hinzu.
Greg presste die Lippen aufeinander. »Schon klar«, erwiderte er
knapp und wirkte einen Moment verärgert. Seine Augen bohrten sich
in ihre. »Wie viel davon war freiwillig?«
Liv wurde eiskalt. Dieser lauernde Unterton. Er wusste Bescheid.
Er hatte die ganze Zeit über gewusst, weshalb sie bei Rey gewesen
war! Beschämt senkte sie den Kopf. »Ich gehe wohl besser«,
murmelte sie und stand auf.
»Warte!« Greg verstellte ihr den Weg. »Ich brauche noch bei einer
Sache deine Hilfe.«
»Wobei?«
Ein leises Lächeln schlich sich in sein Gesicht. »Ich möchte
herausfinden, warum jedes unserer Treffen damit endet, dass du
davonläufst.«
Liv konnte nicht sagen, wie ernst er diese Worte meinte. Seine
Augen funkelten, doch seine Miene verriet nichts.
Sie zuckte scheinbar unbeteiligt mit den Schultern. »Vielleicht liegt
es daran, dass jedes unserer Gespräche damit endet, dass du nicht
mit mir redest, sondern mich verhörst.« Hoffentlich merkte Greg
nicht, wie nervös er sie machte. Sie spürte die Hitze auf ihrer Haut.
Gleich würde sie hektische rote Flecken bekommen. Ihre Angst, zu
viel zu verraten, mischte sich mit einer eigentümlichen Spannung,
die sich mit jeder Sekunde vergrößerte. Die Luft zwischen ihnen
knisterte plötzlich, als Greg sie mit seinen Augen gefangen nahm
und sich ihr langsam näherte.
»Ach, ist das so?«, fragte er mit leiser Stimme. Sanft und
bestimmt. »Vielleicht wäre ein intensives Verhör ja lohnenswert? Ich
habe da meine ganz eigenen Methoden.«
Mit jedem seiner Schritte schlug ihr Herz heftiger. Schon konnte
sie sein Aftershave riechen. Er war nur noch eine Armlänge entfernt.
Liv hätte wie ein aufgescheuchtes Kaninchen über das Sofa flüchten
können, doch sie blieb stehen und starrte ihn wie hypnotisiert an.
Sein Blick ließ sie nicht mehr los. Das Blau darin war dunkler
geworden, intensiver. Ein Kranz dichter Wimpern gab diesen Augen
etwas Geheimnisvolles. Livia hielt den Atem an, als sein Gesicht
ihrem so nahe kam, dass sie jedes Detail in sich aufnehmen konnte.
Der schön geschwungene Amorbogen seiner Lippe, die
Bartstoppeln, die morgen früh verschwinden würden, wenn er wieder
in die Rolle des aalglatten Staatsanwalts schlüpfte. Dabei stand ihm
der Bartschatten ausgezeichnet. Sie entdeckte eine kleine Narbe an
seinem Kinn, ihre Augen wanderten weiter über die gerade Nase
und kreuzten abermals seinen Blick. Ein leichtes Lächeln zeichnete
sich in Gregs Miene ab und noch etwas anderes – Livs Herzschlag
setzte einen Augenblick aus, als sie das Begehren darin erkannte.
Sein Lächeln wurde breiter, verführerischer und sein Blick
eindringlicher, während er sich vorbeugte, ihr Gesicht mit seinen
Händen umfasste und ihre Lippen hauchzart mit seinen streifte. Die
Berührung war kaum zu spüren und doch versetzte sie Liv einen
regelrechten Stromstoß. Sie sog scharf Luft ein und Greg hielt sofort
inne. Er schob sie auf eine Armlänge weg und studierte ihr Gesicht.
»Alles okay?«, fragte er und mit einem Mal war es nicht mehr der
Staatsanwalt, der zu ihr sprach. Warm und weich hüllte seine
Stimme sie ein, einladend wie eine Decke, in die sie sich kuscheln
wollte.
Liv hätte nicht sagen können, was den Ausschlag gab – war es die
Nachwirkung von Rauls Mixtur, war es der Rotwein oder war es
schlicht der Gedanke, nicht länger warten zu wollen, nicht länger
warten zu können. Bei all dem Durcheinander in ihrem Kopf,
erinnerte sie sich zu gut an den Moment, als ihr klar wurde, dass es
Rey sein würde, der sie entjungferte. Dieser Gedanke hatte sie fast
wahnsinnig gemacht und plötzlich wollte sie Nichts lieber, als dass
es Greg sein sollte. Marisa hatte recht gehabt, worauf noch warten?
Auf irgendjemanden in ferner Zukunft, der sich am Ende doch als
riesige Enttäuschung entpuppte? Greg würde sie nicht enttäuschen,
bei ihm wusste sie sicher, was sie bekam: Einen arroganten, viel zu
selbstbewussten Kerl, der jedoch gebaut war wie ein Halbgott,
atemberaubend lächelte und im Bett unglaublich gut sein würde –
das stand für Liv nach diesem ersten zarten Kuss bereits fest, der
gereicht hatte, ihre Nervenbahnen zu elektrisieren. Ihre Lippe
kribbelte immer noch. Sie leckte darüber.
»Ja, es ist alles gut«, sagte sie, als ihr bewusst wurde, dass er auf
eine Antwort wartete, und es nur eine gab, die sie ihm ehrlich geben
konnte. Sie wollte ihn.
Greg lächelte entspannt und zog sie näher. Sie legte den Kopf in
den Nacken, und öffnete erwartungsvoll die Lippen, als sich sein
Gesicht näherte. Seine Pupillen weiteten sich. »Himmel, du
verdrehst mir den Kopf, wenn du mich so ansiehst«, hauchte er mit
rauer Stimme, ehe er sie abermals küsste. Fordernder diesmal.
Nicht lange, und seine Zunge eroberte ihren Mund.
Liv spürte dem ungewohnten Gefühl nach, dem samtenen
Streicheln an ihrer Zungenspitze, das leichte Kitzeln, das zu einem
angenehmen Kribbeln wurde und sich von der Zunge ausgehend als
wohlige Gänsehaut überall ausbreitete und sie schließlich bis in die
Zehenspitzen elektrisierte. Mehr. Sie wollte mehr von diesem Gefühl,
legte ihre Arme um seinen Nacken und schmiegte sich an ihn. Sie
registrierte das leichte Vibrieren seines Brustkorbs. Trotz ihrer
geschlossenen Lider wusste Liv, dass Greg lachte und riss die
Augen auf. »Was ist?«, fragte sie, in Erwartung seines üblichen
Spotts.
Er wirkte wie so oft ein bisschen amüsiert, jedoch fand sie in
seiner Miene keine Spur von Herablassung. Vielmehr schien er sie
zu studieren, während ein liebevolles Lächeln auf seinem Gesicht
lag.
»Ich mag deine Art zu küssen«, erwiderte er schlicht.
»Hingebungsvoll.«
Liv atmete aus. Es hätte sie verletzt, wenn er sie wegen ihrer
Unerfahrenheit aufgezogen hätte. Greg schien ihre Unsicherheit
nicht zu bemerken, im Gegenteil, er nahm das Spiel ihrer Lippen und
Zungen wieder auf, bis er sich schließlich irgendwann etwas atemlos
räusperte. »Wollen wir uns nicht setzen?«
Erst jetzt registriere Livia, dass sie noch immer vor dem Sofa
standen. Sie hatte bei dem Kuss wahrhaftig alles um sich herum
vergessen. Ungläubig angesichts der Wirkung seiner Küsse starrte
sie auf den Mann, der sich auf die Couch setzte und sie sanft auf
seinen Schoß zog.
Zärtlich zeichnete er die Konturen ihres Amorbogens nach und
folgte dem Verlauf der Lippe, bis seine Hand am Kinn zum Liegen
kam, das er so zu sich drehte, dass er sie erneut küssen konnte.
Livs Lippen fühlten sich feucht und geschwollen an und doch konnte
sie nicht genug bekommen von Gregs Liebkosungen, der sie nun
nicht mehr nur umarmte, sondern seine Hände über ihren Körper
wandern ließ. Er streichelte sanft ihren Nacken, den Rücken und
strich mit den Fingerspitzen dann federleicht am Rand ihres
Dekolletés entlang, bis zu den Spitzen ihres BHs, die über den
Saum des tiefen Ausschnitts lugten.
Dies war der Moment der Entscheidung. Die letzte Gelegenheit,
den Kurs zu ändern, um die Nacht in ihrem Bett zu verbringen, allein
und noch immer unerfahren. Wenn sie dagegen auf seine
unausgesprochene Aufforderung einging, hätte sie heute den
heißesten Mann, dem sie je begegnet war, an ihrer Seite. All die
Dinge, die sie sich seit ihrem ersten Treffen vor dem RMagic
vorgestellt hatte, könnten in dieser Nacht Wirklichkeit werden.
Sie fing an, den Knoten seiner Krawatte zu lösen. Greg sah sie
einen Moment forschend an, dann vertiefte sich sein Lächeln.
Während seine Krawatte neben dem Sofa landete und Livia die
obersten Knöpfe seines Hemdes öffnete, schob er seine Hände
unter ihr Kleid und begann, Livs Pobacken zu massieren. Wie
anders sich das anfühlte. Viel sanfter als bei Rey, der bis zur
Schmerzgrenze zugedrückt hatte. Greg würde ihr nicht weh tun, das
wusste Liv instinktiv. Sie ließ ihr Hände über seine Brust gleiten und
bewunderte das leichte Spiel seiner Muskeln, wenn er sich bewegte.
Sie fuhr die Konturen seines Körpers nach, Brustmuskeln,
Schlüsselbein, die kleinen Mulden an seinem Hals. Sein Gesicht
zeigte, dass er ihre Berührungen genauso genoss, wie sie seine.
Er küsste sie wieder, drängender, fordernder und strich dabei mit
einer Hand über ihre linke Brust. Der Stoff des Kleides war dünn, der
BH kaum vorhanden und so reckte sich ihre Brustwarze deutlich
sichtbar seinen Fingern entgegen, die Greg mit kreisenden
Bewegungen um ihren Nippel wandern ließ.
Liv schnappte nach Luft, als daraufhin ein heißes Gefühl direkt
zwischen ihre Beine schoss. Sie hatte sich voller Neugier früher
schon selbst gestreichelt und gemerkt, dass es sich gut anfühlte,
dort berührt zu werden, jedoch hatte sie niemals geahnt, wie intensiv
es sein könnte. Ihr Körper reagierte auf ihn ganz anders und sie
registrierte verwirrt, wie schnell sich Feuchtigkeit in ihrem Schritt
sammelte. Wenn sie diese eher zurückhaltenden Berührungen
bereits so erregten, wie würde es erst sein, Haut an Haut mit ihm
aneinanderzuliegen?
Greg lächelte an ihrem Mund, als sie abermals mit einem tiefen
Atemzug auf seine Finger reagierte, die sich jetzt um ihre rechte
Brust kümmerten und sich unter den Stoff des Kleides geschoben
hatten. Das Gefühl zwischen ihren Beinen wurde intensiver,
dringlicher. Sie spürte das Blut in ihrem Schambereich pulsieren.
»Wenn ich dir das Kleid ausziehen darf, wirst du es nicht
bereuen«, flüsterte er ihr ins Ohr und Liv wusste, dass das keine
leeren Worte waren.
Sie öffnete den seitlichen Reißverschluss und hielt den Atem an,
als er ihr das Kleid über den Kopf streifte. Nun saß sie fast nackt auf
seinem Schoß und doch fühlte sie sich nicht so preisgegeben wie
bei Rey. Obwohl Greg beruflich eine Gefahr für sie und Marisa war,
fühlte sie sich durch ihn nicht bedroht. Nicht körperlich, nicht wie bei
Rey. Die Kraft, die Greg ausstrahlte, verhieß Schutz, nicht
Gewalttätigkeit.
Während sich ihre Blicke ineinander verhakten und Greg sich
unausgesprochen ihr Einverständnis holte weiterzumachen, knöpfte
Liv sein Hemd bis unten auf und zog es ihm über die Schultern. Er
hatte einen Sixpack, sie hatte es gewusst. Fast ehrfürchtig starrte sie
darauf. Als sie sich über die Lippen leckte, lachte Greg so laut auf,
dass Liv die Hitze in ihrem Gesicht spürte. Schnell schaute sie weg
und Gregs Brustkorb vibrierte stärker vor unterdrücktem Lachen.
Liv biss sich auf die Lippe und nestelte an seinen Manschetten,
um die Knöpfe zu öffnen. Greg schlüpfte aus den Ärmeln und zog
Liv fest an sich. Er streichelte ihren Rücken und grinste.
»Was denn?«, fuhr Liv ihn an.
»Es ist okay. Mir gefällt es auch, dich anzusehen«, antwortete
Greg und Liv fühlte sich einen Augenblick noch ertappter, bis die
Freude über sein Kompliment überwog. Sie legte den Kopf schief
und grinste zurück. Seine Anerkennung gab ihr den Mut, forscher zu
werden, deshalb setzte sie sich aufrecht und wölbte den Brustkorb
vor. »Du hast doch noch gar nicht so viel von mir gesehen«, forderte
sie ihn heraus, obwohl ihre Dessous wahrlich kaum etwas
verbargen.
»Das ist in der Tat ein Versäumnis, welches nicht länger
hinnehmbar ist«, erwiderte Greg und schob im selben Augenblick
den Stoff des BHs unter ihren Busen, so dass sich ihre Brüste wie
von einem Push-up hochgedrückt in seine Richtung reckten.
Mit den Händen an ihren Hüften dirigierte er sie in eine andere
Position, aufgerichtet und so, dass ihre Brustwarzen auf Höhe
seines Mundes waren. Er beugte sich etwas vor und begann, ihre
Nippel mit der Zunge zu umspielen. Erst die eine Seite, danach die
andere und dann saugte und knabberte er abwechselnd an beiden,
bis Liv das Gefühl hatte, innerlich in Flammen zu stehen. Ihr Atem
beschleunigte sich, und ihr Schoß reagierte mit einem
verlangenderen Pochen auf seine Liebkosungen.
Greg hob zwischendurch immer wieder den Blick.
Er studierte sie. Er brachte sie an den Rand der Begierde – bis sie
es kaum abwarten konnte, einen Schritt weiterzugehen.
Er wirkte nicht einmal angestrengt, als er sie auf seine Arme hob
und sie erst auf seinem Bett wieder ablegte. Einen Moment lang ließ
er seinen Blick über ihren Körper wandern. Liv las das wachsende
Verlangen in ihnen seinen Augen. Er entledigte sich seiner Hose und
legte sich zu ihr. Behutsam streichelte er ihren Körper und zupfte an
ihren Brustwarzen, bis Livias Atemfrequenz sich erneut
beschleunigte. Auch ihre Hände gingen auf Erkundung, fuhren über
seine Muskeln, strichen über seine Brust und neckten seine Nippel,
bis die Beule in Gregs Boxershorts prall war und die Spitze seines
Penis herausragte. Bei diesem Anblick wurde es Livia ein bisschen
mulmig. Er sah so riesig aus.
»Alles okay?« Greg musterte sie.
Liv nickte – gleichermaßen erschreckt wie fasziniert von seiner
Beobachtungsgabe. Er war mit Sicherheit ein verflixt guter
Staatsanwalt, dem niemand so leicht etwas vormachen konnte. Und
ein höllisch attraktiver dazu, der ihr gerade ein grübchenumrahmtes
Lächeln schenkte, das sie unterdrückt seufzen ließ.
Während Greg seinen Kopf mit dem rechten Arm abstützte, glitt
seine linke Hand tiefer, umkreiste Livs Bauchnabel, streifte entlang
des Bündchens des Slips und schob diesen schließlich energisch die
Oberschenkel hinunter. Jetzt lag sie nackt im Bett eines Mannes, der
sie genüsslich mit Blicken verschlang. Ihr hämmerndes Herz
beschleunigte sich.
Greg näherte sich ihrer intimsten Stelle und Liv hielt unwillkürlich
die Luft an, als ein Mann das erste Mal ihre Scham berührte. Er
strich über ihre äußeren Schamlippen, bis er seinen Finger
dazwischen gleiten ließ und in Richtung ihres Eingangs führte. Sie
war feucht und reagierte mit einem Zucken, bereit für ihn, doch er
drang nicht ein, sondern kreiste nur mit der Fingerkuppe in der
Pforte, dann verteilte er etwas Feuchtigkeit in der Spalte, bevor er
ihre Perle erreichte. Liv schloss die Augen und gab sich dem
elektrisierenden Gefühl hin, als er sanften Druck dort ausübte.
Blitzartige Impulse schossen durch die Nervenbahnen, während er
die empfindliche Stelle massierte, erst behutsam, dann fester, bis
sich eine heiße Woge in ihr aufstaute, drängender wurde und
schließlich eine Welle aus Hitze und Zuckungen über sie
hinwegfegte. Ein Laut entfuhr ihr, wie ein leiser Schrei, dann
krampfte ihre Scheidenmuskulatur noch ein paar Mal und sie kam
mit einem herrlich leeren Gefühl im Kopf zur Ruhe. Sie lächelte selig.
Bis sie Gregs Blick auffing, der sie mit einer eigentümlichen Miene
ansah.
Sofort richtete sie sich auf. Hatte sie etwas falsch gemacht? Auch
ohne Erfahrung wusste sie eigentlich, wie Sex ablief. Sie hatte Myra
und Annie zugehört, hatte Romane gelesen und sich sogar von
Annie Erotik-DVDs ausgeliehen. Annie hatte so etwas natürlich, sie
war in diesen Dingen viel aufgeschlossener als Liv.
»Greg? Was ist?« Sie hätte sich gerne weniger unsicher angehört.
Gerade als der Drang übermächtig wurde, sich einzurollen und
etwas Schützendes über sich zu ziehen, spürte sie seine kräftigen
Arme um sich und einige Küsse landeten auf ihrer Stirn, ihrer Nase
und ihrem Mund.
»Es ist alles gut. Ich hatte gerade nur den Eindruck …« Er brach
ab. »Egal.« Er lächelte sie liebevoll an. »Diese süßen kleinen Laute
sind umwerfend. Du wirkst so unschuldig.« Er küsste sie die Linie
vom Ohr zum Hals entlang. »Das würde ich gerne noch einmal
hören. Meinst du, das schaffen wir ein weiteres Mal?« Greg
zwinkerte ihr zu und beugte sich über sie hinweg zu seinem
Nachttisch. Aus der Schublade holte er ein Kondom. Dann zog er
Livs Slip ganz von ihren Beinen, seine Boxershorts landeten neben
dem Höschen auf dem Boden. »Der stört auch«, kommentierte er,
als er Liv auf die Seite drehte und ihren BH öffnete, den er mit einer
raschen Bewegung auf den Haufen der restlichen Unterwäsche warf.
Greg schlang ein Bein um sie und zog sie an sich. Liv
erschauerte, als sie seine erhitzte Haut auf ihrer spürte, die
Spannung seiner Muskeln fühlte und sich sein erigierter Penis gegen
ihren Unterleib presste. Ihre Hände fuhren seinen Rücken entlang,
gelangten an seine strammen Pobacken und drückten ihn fester
gegen ihre Scham. Ein unvergleichliches Gefühl, ihn zwischen ihren
Schamlippen zu spüren, wo ihre Feuchtigkeit seinen Schaft
benetzte. Greg stöhnte verhalten und rieb sich an ihr. Seine Härte
glitt durch ihre Spalte. Jetzt entschlüpfte auch Liv erneut ein leises
Geräusch und es war, als hätte sie damit Gregs rissige Mauer an
Selbstbeherrschung vollends zum Einsturz gebracht. Mit fliehenden
Fingern stülpte er sich das Kondom über und war Sekunden später
über Liv. Er platzierte sich zwischen ihren Schenkeln, positionierte
seine Eichel vor ihrem Eingang und drang mit einem kräftigen Stoß
in sie ein.
Liv war, als hätte sie einen Schlag in den Unterleib erhalten. Sie
stöhnte vor Schmerz, als sich Greg zwischen ihre verkrampfte
Muskulatur zwängte. Auch Greg wirkte nicht glücklich.
»Verdammt«, fluchte er und zog sich mit betroffener Miene aus Liv
zurück. »Das war wohl zu schnell. Entschuldige«. Er strich eine
Strähne aus ihrer Stirn. »Ich hatte erwartet … sollen wir aufhören?
Hast du Schmerzen?« Unablässig streichelte er Liv über die Haare.
Sein besorgter Blick und seine hilflos anmutende Geste rührten
etwas tief in Liv. Mehr als seine Liebkosungen es vermocht hätten,
zog sie dieser Ausdruck in seinen Augen an, dieser Verlust der Aura
der totalen Kontrolle, die ihn für gewöhnlich umgab. Sie wollte nicht,
dass der Abend so endete.
»Nein, es ist alles okay«, schwindelte sie. »Es war nur
vielleicht … also etwas schnell vermutlich.«
In Gregs Augen las sie noch immer tiefe Besorgnis. »Nein.« Er
kniete sich vor Liv, schüttelte nachdrücklich den Kopf und musterte
sie eindringlich. Prüfend. Zwar weiterhin liebevoll, doch es mischte
sich nun der professionelle Blick des Staatsanwalts darunter. Er
beugte sich vor und umfasste ihr Kinn mit der Hand. »Livia Riggs.
Ich verdiene meine Brötchen damit, herauszufinden, wenn
Menschen lügen. Nichts ist okay. Ich habe dir weh getan – und das
tut mir unendlich leid.«
Noch immer vor ihr kniend richtete er seinen Oberkörper wieder
auf. Sein Blick glitt an sich hinab, er griff nach unten, wollte das
Kondom abstreifen, doch verharrte seine Hand auf halbem Weg und
Unglauben zeichnete sich in seinen Zügen ab. Als er seinen Kopf
wieder hob und Liv anstarrte, lagen Verwunderung und eine Art
Entsetzen in seiner Miene. Er sprang aus dem Bett.
»Greg, was ist …«, begann Liv, stoppte jedoch, als Greg
abwehrend die Hand hob.
»Gib mir einen Moment, ja?« Er fuhr sich mit der Hand durch die
Haare, drehte sich abrupt um und verschwand ins Bad. Das Letzte,
das Livia von ihm sah, bevor er die Tür zuknallte, war sein Gesicht.
Wutverzerrt und irgendwie schockiert. Momente später wurde das
Wasser der Dusche aufgedreht.
Livia lag erstarrt auf dem Bett. Ihr erstes Mal war gründlich
schiefgelaufen. Sie hätte weinen mögen. Vor Enttäuschung über
Gregs unsensible Reaktion, weil sie nicht so funktionierte, wie er
offenbar erwartet hatte. Wut auf sich selbst, weil sie sich mit diesem
Kerl eingelassen hatte, obwohl sie doch längst erkannt hatte, dass er
ein Womanizer und nur auf sein Vergnügen aus war. Man brauchte
ihn schließlich nur anzusehen, um Bescheid zu wissen. Aber Tränen
halfen jetzt nicht weiter. Wenn die Sache nicht noch peinlicher
werden sollte, musste sie sofort verschwinden. Sie sprang aus dem
Bett, schnappte sich ihre Unterwäsche und schlüpfte stolpernd im
Laufen hinein. Ebenso verfuhr sie mit dem Kleid, das sie zusammen
mit ihrer Handtasche im Vorbeirennen vom Sofa riss. Sie fand neben
dem Aufzug eine Tür und lief bereits durch das Treppenhaus,
während sie noch den Reißverschluss des Kleids hochzog. Es war
spät geworden und der Gehsteig vor dem Haus glücklicherweise
menschenleer. So hatte sie zumindest keine befremdeten Blicke
wegen der fehlenden Schuhe zu befürchten. Sie nestelte ihr Handy
aus der Tasche und wählte Marisas Nummer, dabei bewegte sie sich
in Richtung Fluss und hielt nach irgendwelchen Hinweisschildern
Ausschau.
Schon nach dem ersten Klingeln nahm Marisa das Gespräch an.
»Livia, Gott sei Dank, ich bin gestorben vor Angst! Ist alles okay?«
»Ja. Ich meine, nicht ganz. Kannst du mich abholen?«
»Natürlich. Wo bist du?«
»Ich weiß nicht genau. Irgendwo in der Nähe vom Fluss, hier ist
ein Park, ich sehe eine Statue mit einer winkenden Frau. Sagt dir
das was? Sonst musst du warten, bis mein Handy das GPS Signal
gefunden …«
»Nein, alles gut. Das ist der Morrell Park. Warte an der Statue auf
mich, ich bin gleich da.«
»Danke. Und Marisa?«
»Ja?«
»Kannst du mir Schuhe mitbringen?«
7.

Wie konnte man sich nur so elend fühlen? Livia schleppte sich durch
den Tag und ewig lange Kurse. Warum hatte sie sich überhaupt zur
Uni gequält? Was der Dozent erzählte, zog ungehört an ihren Ohren
vorbei. Sie schwänzte den Nachmittagskurs und sah wohl so
erbärmlich aus, dass Réjane sofort »gute Besserung« wünschte, als
Liv sich vorzeitig verabschiedete.
Nun lag Liv in ihrem Zimmer und sehnte ihre Freundinnen herbei.
Wie gerne hätte sie sich bei Myra und Annie ausgeheult. Marisa kam
dafür nicht in Frage, ihre Cousine hatte ihr Selbstbewusstsein
weitgehend eingebüßt und wirkte gerade hilfloser als sie selbst. Liv
hatte ihr gestern auf der Rückfahrt stichpunktartig erzählt, was
passiert war. Bereits bei der Erwähnung von Rauls spezieller Mixtur
und wie Rey sie mit in sein Haus geschleppt hatte, war Marisa in
Tränen ausgebrochen. Liv ersparte ihr daraufhin detaillierte
Schilderungen aus dem Schlafzimmer, sondern ging gleich über zu
ihrer Rettung durch Greg und wie er sie mit zu sich genommen
hatte. Den unrühmlichen Ausgang verschwieg sie. Marisa konnte
sich denken, dass nicht alles glatt gelaufen war, und Liv rechnete ihr
hoch an, dass sie nicht tiefer bohrte. Sie hätte ihre Cousine gerne
um Rat gefragt, doch schmerzte die Erinnerung noch zu sehr.
Vielleicht wenn einige Zeit verstrichen wäre und sie sich nicht mehr
wegen ihrer Naivität selbst ohrfeigen wollte. Womöglich sobald eines
Tages die Wut auf Greg überwog. Eventuell konnte sie dann über
den Abend bei ihm sprechen. Bis dahin musste es reichen, das
Gesicht im Kopfkissen zu vergraben und auf bessere Zeiten zu
hoffen.

Ein Auto kam vor dem Haus zum Stehen, Schritte ertönten auf den
hölzernen Verandastufen, dann läutete die Türglocke. Marisa war
noch nicht zuhause, seit einigen Tagen besuchte sie wieder
regelmäßig ihre Kurse am College. Liv, die kein Bedürfnis verspürte,
ihr verheultes Gesicht zu präsentieren, zog trotz der
Sommertemperaturen die Decke über sich. Der Besucher ging dazu
über, die Tür mit den Fäusten zu bearbeiten. Liv wurde mulmig. Was,
wenn es jemand von Reys oder Leonards Leuten war? Solche
Typen hatten bestimmt wenig Geduld mit verschlossenen Türen.
Oder mit Menschen, die solche Türen nicht öffneten. Widerstrebend
schlich sie zum Fenster und spähte hinunter. Aufgrund der
Verandaüberdachung konnte sie den Besucher nicht sehen, doch
das Auto am Straßenrand kannte sie. Das Gefühl im Magen wurde
dadurch nicht besser.
»Verschwinde, Greg!«, rief sie nach unten.
Das Trommeln an der Tür hörte auf, der Staatsanwalt trat auf den
Weg und blickte zu ihr herauf.
»Livia, bitte mach auf!«
Livia glaubte, das Glimmen in seinen Pupillen noch im ersten
Stock zu erkennen. Hochaufgerichtet mit einem sehr entschlossenen
Gesichtsausdruck starrte er sie an. Er trug eine dunkelgraue
Stoffhose. Das Jackett hatte er ausgezogen und die Ärmel seines
Hemds hochgekrempelt. Vermutlich kam er gerade aus dem Büro.
Er sah gut aus, auch wenn Schatten unter seinen Augen verrieten,
dass er vergangene Nacht ähnlich wenig geschlafen hatte wie Liv.
Wie konnte er dennoch so attraktiv sein, während sie einer
Vogelscheuche glich?
»Ich möchte, dass du gehst«, sagte Livia fest und trat vom Fenster
zurück, um es zu schließen. Einen Arm hatte sie bereits
ausgestreckt, als Gregs »Warte!« sie innehalten ließ. Etwas in seiner
Stimme sagte ihr, dass es besser wäre, den Kopf noch einmal nach
draußen zu strecken.
»Was ist denn noch?«
»Ich möchte mit dir reden«, erwiderte Greg. »Ich muss mit dir
reden. Wenn du mich danach wegschicken willst, werde ich gehen,
aber erst musst du mich anhören.«
»Nein, es gibt nichts mehr …«
»Ich schwöre, ich lasse dich festnehmen!«
Greg hatte die Hände in die Hüften gestützt. Er wirkte autoritär
und energisch und Liv zweifelte keinen Augenblick daran, dass er es
ernst meinte.
»Spinnst du?«
»Keineswegs. Du bist zweimal in Begleitung eines flüchtigen
Verbrechers angetroffen worden. Das dürfte Grund genug sein.«
»Posaune das doch noch lauter heraus, die Nachbarschaft hat
vielleicht nicht alles mitbekommen!« Liv wurde allmählich sauer. Und
ihre Unruhe stieg. Wenn Greg als Staatsanwalt auftrat, konnte sie
ihm das Gespräch nicht verweigern.
»Mach mir auf, dann muss ich nicht schreien.« Er sprach etwas
ruhiger.
»Verdammt. Greg.« Livs Fluch verwandelte sich in ein resigniertes
Seufzen. Er hatte gewonnen.
Als sie ihm die Haustür öffnete, baumelten zwei feuerrote Absätze
vor ihren Augen.
»Die wollte ich dir wiedergeben«, sagte Greg und drückte ihr die
Sandaletten vom Vorabend in die Hand. »Drew hat sie mir vorhin
vorbeigebracht.«
»Danke.« Liv warf die Schuhe achtlos in den Flur hinter sich.
»Sonst noch etwas?«
»Wir sollten reden.«
»Sollten wir nicht.« Liv schob die Tür wieder zu, aber Greg stellte
seinen Fuß dazwischen.
»Irgendwie funktionierte es bei Cinderellas Prinz deutlich besser,
als er ihr die Schuhe zurückgebracht hat.« Greg legte den Kopf
schief und schenkte Livia ein grübchenumrahmtes Lächeln, das ihr
durch und durch ging. Das würde sie allerdings niemals zugeben.
»Ich kann mich nicht an die Stelle im Märchen erinnern, an der der
Prinz wutschnaubend das Bett verlassen hat.«
»Touché.« Gregs Mundwinkel zuckte kurz. »Ich war ein Idiot. Lass
es dir erklären, bitte. Deswegen bin ich hier.«
»Ich dachte, um mich festzunehmen.« Wütend funkelte Liv ihn an.
»Du willst es mir nicht leicht machen, oder?« Er fuhr sich mit
beiden Händen über den Kopf, verstrubbelte dabei sein Haar und
sah im Ergebnis aus wie ein kleiner Junge, der etwas ausgefressen
hat, wie er mit schuldbewusster und um Verzeihung heischender
Miene vor ihr stand. Ein merkwürdig warmes Gefühl breitete sich in
ihrer Brust aus und sie konnte nicht anders, als ihren Mundwinkeln
zu gestatten, ein leichtes Lächeln zu formen.
Sofort wurden Gregs angespannte Gesichtszüge weicher.
»Können wir uns setzen? Bitte.«
Liv nickte und deutete auf die Korbsessel in der Ecke der Veranda.
»Nimm Platz. Ich hole uns Getränke.«
Wenig später balancierte sie ein Tablett mit einem Krug Eistee und
zwei Gläsern hinaus und stellte sie auf dem kleinen Tisch vor den
Sesseln ab. Sie reichte Greg ein Glas.
»Kann ich gefahrlos trinken oder hast du etwas reingemischt?«,
fragte er mit einem Augenzwinkern.
Liv zuckte zusammen. Wusste er mehr über den vergangenen
Abend, als sie glaubte? Doch Greg grinste sie offen an.
»Einen Staatsanwalt zu vergiften, wäre wohl keine ausgesprochen
kluge Idee«, gab Liv trocken zurück. »Auch wenn ich gestern
bewiesen habe, dass ich zu nicht besonders schlauen Aktionen
neige.«
Sofort wurden Gregs Augen ernst. »Du bereust es?« Er wirkte
zerknirscht und ein wenig verletzt.
Liv zuckte in dem Versuch, den vorigen Abend herunterzuspielen,
mit den Schultern.
»Ich fand es sehr schön«, sagte Greg leise. »Bis auf den Schluss.
Das habe ich übelst verbockt. Bitte gib mir eine Chance, das wieder
gutzumachen.«
Liv verschluckte sich an ihrem Eistee. Hustend stellte sie das Glas
auf den Tisch zurück. »Wie meinst du das?«, fragte sie, nachdem
der Hustenreiz abgeebbt war.
»Ich will dich ausführen. Und wenn du magst, danach verführen.«
Sein Lächeln war betörend. So verheißungsvoll, dass Liv am
liebsten all ihre Bedenken weggewischt und sich sofort auf ihn
gestürzt hätte. Doch sie hatte seine schockierte Miene der
vergangenen Nacht nicht vergessen.
»Das ist keine gute Idee«, sagte sie kopfschüttelnd. »Es hat nicht
besonders gut gepasst mit uns, du erinnerst dich?«
»Livia, Herrgott, ich habe mich wie ein echter Scheißkerl
benommen.« Er sprang auf, fuhr sich erneut durch die Haare, die
ohnehin noch immer in alle Richtungen abstanden, schritt mehrfach
die Länge der Veranda ab, bis er etwas ruhiger vor ihr zum Stehen
kam. »Ich hatte doch keine Ahnung!« Er legte den Kopf schief und
sah sie an. »Ich habe als Staatsanwalt wirklich Erfahrung darin,
Menschen einzuschätzen. Aber dich, Livia Riggs, durchschaue ich
nicht.« Er setzte sich wieder neben sie und ergriff ihre Hand.
»Warum bist du gestern mit mir ins Bett gegangen?«
Livia runzelte die Stirn. »Was ist das denn für eine Frage?« Sie
wollte ihm ihre Hand entziehen, doch er ließ nicht los. Und eigentlich
fühlte es sich auch ganz gut an. Seine Hand war kräftig, der Griff fest
und verlässlich.
»Warum wolltest du gestern mit mir schlafen? Du bist nicht der
Mensch, der das aus einer Laune heraus macht, sonst hättest du
nicht so lange damit gewartet. Irgendetwas muss passiert sein und
ich will wissen was.« Greg klang bestimmt. Bestimmend. Er würde
sie nicht ohne eine Antwort auf seine Frage davonkommen lassen.
Liv sah zur Seite. Diese Andeutung – er hatte ihre Unerfahrenheit
gemerkt. Sie wollte nicht mehr darüber reden, doch sobald sie im
Bann seiner eindringlichen Augen stand, würde sie ihm erzählen,
was immer er wissen wollte. Viel zu viel.
Greg gab ihr einen Moment, dann drehte er ihren Kopf zu sich.
»Sieh mich an und antworte.« Sein Tonfall wurde noch autoritärer.
Liv schluckte. Man merkte, dass Greg sein Handwerk verstand. Der
kraftvollen Stimme und diesem entschlossenen Blick hatte sie wenig
entgegenzusetzen. Sie schloss die Augen.
»Liv, bitte. Wir können den gestrigen Abend nur aufarbeiten, wenn
wir ehrlich zueinander sind.« Seine warme Stimme umschmeichelte
Livia. Noch ein Vernehmungstrick?
»Wer sagt, dass ich das überhaupt will?« So leicht gab sie sich
nicht geschlagen.
»Wir wissen beide, dass es gestern ein besonderer Moment in
deinem Leben war. Zu behaupten, ich fühle mich schlecht wegen
des unrühmlichen Endes, wäre eine absolute Untertreibung. Ich
könnte mich seitdem ununterbrochen ohrfeigen, weil ich dir diesen
Augenblick vermasselt habe. Findest du nicht, ich habe zumindest
das Recht zu erfahren, wie es dazu kam?«
»Was fragst du? Du warst doch dabei«, wich Livia aus. Sie
brannte vor Scham, dass er ihre verpatzte Entjungferung so offen
ansprach.
»Ja, ich war dabei. Aber ich kapier nichts von dem, was gestern
passiert ist!« Greg fuhr sich schon wieder durch die Haare und Liv
unterdrückte den Impuls, ihre Hände darin zu vergraben. Innerlich
schüttelte sie den Kopf. Wie kam sie in dieser Situation bloß auf
solche Gedanken?
»Ich verstehe nicht, wieso du Jungfrau bist, aber gefesselt auf
Reynold Simmons’ Bett entdeckt wirst. Wie kannst du für Leonard
Meyers arbeiten, aber noch nie mit einem Mann geschlafen haben?
Herrgott Livia, da passt nichts zusammen, also erkläre es mir!« Greg
hatte wieder ihre Hände ergriffen und sah sie beinahe flehend an.
»Rede mit mir!«
»Ich arbeite nicht für Leonard Meyers«, verteidigte sich Livia
empört und diesmal entzog sie ihm ihre Hände mit einem Ruck.
»Wie kannst du mir so etwas unterstellen?«
»Weil ich einfach nicht glauben will, dass Rey Simmons dein Typ
ist. Jemand, der so unschuldige kleine Seufzer von sich gibt, seine
eigene Erregung mit fast schamhafter Neugier wahrnimmt und
meinen erigierten Schwanz mit tellergroßen Augen betrachtet, als
sähe er so etwas zum ersten Mal, was vermutlich auch stimmt, wie
wir jetzt wissen – so jemand liegt nicht freiwillig gefesselt auf dem
Bett von Typen wie Reynold Simmons. Also will ich verdammt
nochmal wissen, was hier gespielt wird.«
Gregs Blick durchbohrte sie. Er würde nicht lockerlassen. Der
Staatsanwalt in ihm hatte die Führung übernommen. Und genau das
machte die Situation nicht nur unangenehm, sondern gefährlich.
Livia hatte Eloras Warnungen noch sehr gut im Ohr.
»Ich arbeite nicht für Leonard Meyers.« Sie sah Greg fest an und
hoffte, er würde ihr glauben.
»Dennoch hast du nicht gefragt, von wem ich spreche. Du weißt,
wer er ist.«
»Wenn das ein Verhör wird, breche ich das Gespräch sofort ab.«
Liv erwartete, dass Greg nun wieder mit einer Festnahme drohte,
oder zumindest mit einer Vernehmung in seinem Büro. Doch sie
täuschte sich. Er stand auf, hob sie aus dem Sessel und ging mit ihr
auf dem Arm zu der Holzbank an der Hauswand. Dort setzte er sich
und platzierte Livia auf seinem Schoß. Er umfasste ihr Gesicht mit
beiden Händen und sah sie an. Livia starrte zurück, zu überrumpelt,
um zu reagieren.
»Ich werde dich jetzt küssen«, informierte er sie in sachlichem
Ton, doch das Blau seiner Iriden funkelte. Er schien bis in ihr
Innerstes zu sehen. »Falls du das nicht willst, müsstest du schreien.
Anderenfalls wirst du meinen Lippen nicht entkommen.«
Livs Blick huschte zu seinem Lächeln, das leicht diabolisch und
atemberaubend verführerisch wirkte und immer näher kam. Sein
Mund war nur noch Zentimeter von ihrem entfernt, Millimeter, schon
streifte er sie. Ganz sanft nur, beinahe nicht zu spüren und doch von
einer Intensität, die ihre Nerven vibrieren ließ. Unwillkürlich leckte sie
sich zwischen seinen Küssen die Lippen.
Greg lachte leise. »Lass mich das übernehmen.« Er strich mit
seiner Zungenspitze über ihren Mund, der sich willig öffnete. Als sich
ihre Zungen berührten, seufzte Livia wohlig auf. Die Empfindung war
stark wie am Abend zuvor, ihr Körper reagierte sofort, nur diesmal
wusste Liv, was sie erwartete und konnte die Gefühle genießen. Es
überraschte sie nicht mehr, als sich Verlangen in ihr aufbaute und sie
feuchte Wärme zwischen den Beinen spürte. Als ihr Atem sich
merklich beschleunigt hatte, löste Greg seinen Mund von ihrem. Mit
dem Zeigefinger wischte er über ihre geschwollenen Lippen und
zeichnete die Konturen nach. Auch sein Blick war verhangen, als er
sie liebevoll anlächelte. »Du sitzt hier nicht mit dem Staatsanwalt.
Aber der Mann, mit dem du gestern im Bett warst, will wissen, was
geschehen ist.«
Liv legte den Kopf an seine Schulter und Greg umschlang sie mit
seinen Armen. In dieser Geborgenheit schmolz ihr Widerstand.
»Ich arbeite wirklich nicht für Leonard Meyers«, begann sie. »Ja,
ich weiß, wer er ist«, fügte sie hinzu, als sie merkte, wie Greg sich
versteifte. »Aber nicht, weil ich für ihn arbeite.«
Greg nickte, gab jedoch nicht zu erkennen, ob er ihr glaubte.
»Das mit Rey war so nicht geplant. Wir hatten ein … äh … Date,
aber ich wollte nicht mit ihm schlafen.« Sie stockte. Wie konnte sie
ihm erklären, was passiert war? Gleichgültig was sie sagte, sie
würde zu viel über Marisa, Leonard und Rey preisgeben. Dinge, die
den Staatsanwalt auf den Plan rufen würden, egal was er beteuerte.
Sie würde den Mund halten, den Teil überspringen. »Nachdem wir
bei dir waren, wurde mir bewusst, wie knapp es war. Beinahe hätte
mich dieses Arschloch entjungfert.« Ein Schauer lief über ihren
Rücken. »Ich wollte die Erlebnisse mit etwas Schönem
überdecken.« Sie klaubte ihren Mut zusammen und sah ihn an. »Ich
wollte unbedingt vermeiden, jemand wie Rey könnte mein erstes Mal
sein. Ich wollte jemanden wie dich.« Liv wagte kaum, den
Blickkontakt aufrecht zu erhalten. Wenn Greg jetzt lachte, würde sie
ins Haus rennen und ihm nie wieder unter die Augen treten.
Der sah sie jedoch mit einem eigentümlichen Gesichtsausdruck
an, in dem unzählige Emotionen miteinander stritten. Ihre Worte
berührten ihn eindeutig, doch schienen Skepsis und Reue
daruntergemischt und er murmelte betroffen: »Wenn ich das
gewusst hätte.«
»Was dann? Hättest du mich nicht mit zu dir genommen?«
»Doch«. Gregs Miene hellte sich auf, wurde weicher. »Die
Gelegenheit hätte ich mir unter keinen Umständen entgehen
lassen«. Das erste Grübchen wurde sichtbar. »Aber ich wäre
zurückhaltender gewesen, hätte dich besser vorbereitet. Ich würde
dir niemals wehtun wollen.« Er strich eine Locke hinter ihr Ohr. »Ich
war wirklich überzeugt, du seist … äh … sexuell aktiv. Es tut mir
leid.« Sein Lächeln wurde inniger. »Also, gibst du mir eine Chance
auf Wiedergutmachung?« Er beugte sich ein Stück vor und küsste
eine prickelnde Bahn von Livs Schlüsselbein bis hinauf zur
empfindlichen Stelle unter ihrem Ohr, löste einen wohligen Schauer
aus, indem er an ihrem Ohrläppchen zupfte, und raunte mit
betörender Stimme: »Du wirst es nicht bereuen.«
Livs Unterleib reagierte, als seien die Worte direkt vom Hörnerv in
den Schritt geschossen. Wärme breitete sich aus, erfasste ihren
Bauchraum und stieg bis in die Brust, wo ihr Herz heftig klopfte. Sie
schluckte trocken.
»Ja«, flüsterte sie und dann fester. »Ja, ich würde gerne …«
Den Rest erstickte Greg mit einem heißen Kuss, der Liv zu der
Frage brachte, ob sie wirklich noch ein Abendessen dazwischen
schieben oder sofort im Bett landen würden. Ihr Schoß überstimmte
den Magen. Gierig erwiderte Liv seinen Kuss und seufzte auf, als
ihre Zungen sich wild umtanzten.
»Störe ich?«
Greg und Liv fuhren auseinander wie zwei ertappte Teenager, als
die spöttische Stimme hinter ihnen erklang. Liv wand sich aus Gregs
Umarmung und stand mit brennenden Wangen vor Marisa. Die
feixte.
»Du bist wirklich für Überraschungen gut, Cousinchen«,
kommentierte Marisa die Szene trocken und streckte Greg dann die
Hand hin. »Hi, ich bin Marisa, Livias Cousine.«
»Freut mich«, Greg ergriff die dargebotene Hand. »Gregory
Harrell.«
War ihre Cousine bei dem Namen kurz zusammengezuckt, oder
hatte Liv sich das nur eingebildet? Sekunden später strahlten sich
beide gleichermaßen unecht an.
»Ich gehe dann mal, und mache mich frisch«, sagte Marisa und
sah Livia auffordernd an.
Die verstand. »Ich hole uns neuen Eistee«, entschuldigte sie sich
bei Greg und folgte ihrer Cousine ins Haus.
»Ein heißer Typ«, kam Marisa unumwunden zur Sache. »Aber du
musst die Finger von ihm lassen.«
»Warum?«
»Gregory Harrell. Das ist Greg, dein Staatsanwalt von gestern
Nacht?«
Liv nickte.
»Das ist nicht gut, gar nicht gut.« Marisa klang in einem Maß
besorgt, dass bei Livia sämtliche Alarmglocken schrillten. »Hör zu,
ich weiß nicht, was hier gespielt wird, aber es ist bestimmt kein
Zufall, dass Greg sich an dich ranmacht. Er ist hinter Leonard her.«
Livia starrte ihre Cousine an, die sich ihrer Sache sehr sicher zu
sein schien. Ein Gefühl wie im Epizentrum eines Erdbebens breitete
sich aus, ließ alles schwanken und ihre Beine wackelig werden.
»Hier, setz dich.« Rasch schob Marisa sie auf einen Stuhl. »Du
bist ja ganz blass.«
»Woher weißt du das mit Harrell?«, fragte Livia tonlos.
»Ich war vorhin in der Agentur, wollte noch etwas wegen des
Termins heute Abend klären. Leonard unterhielt sich mit jemandem.
Seine Bürotür war geschlossen, ich weiß nicht, wer bei ihm war, aber
sie stritten sich oder debattierten lautstark, was weiß ich. Jedenfalls
hörte ich eine Aussage deutlich: ›Gregory Harrell wird langsam zu
gefährlich. Der Hurensohn wird ein echtes Problem, um das wir uns
kümmern müssen.‹ Mehr konnte ich nicht verstehen, dann kam
Elora um die Ecke.«
Mit einem stummen Schrei schlug Liv die Hände vor den Mund. Er
hatte sie also die ganze Zeit über aushorchen wollen. Daher hatte er
das Gespräch auf Leonard gelenkt. Alles nur ein mieser Trick.
»Tut mir leid«, sagte Marisa und wischte Liv eine Träne von der
Wange. »Weine nicht wegen so eines Scheißkerls.« Sie strich Livia
über den Kopf. »Er ist es nicht wert. Soll ich ihn fortjagen, oder
machst du es?«
»Nein, ich rede mit ihm«, erwiderte Livia und erhob sich mit
schwachen Beinen. Marisa umarmte sie. »Sei stark«, flüsterte sie ihr
ins Ohr. »Ich muss mich beeilen, bin spät dran. Du schaffst es
allein?«
Livia nickte und begann mechanisch, Eiswürfel und Tee in den
Krug zu füllen. Greg wartete auf der Veranda, er hatte es sich wieder
in einem der Korbsessel gemütlich gemacht und lächelte Livia
entgegen. Sie starrte zurück und knallte den Krug auf den Tisch
zwischen ihnen.
»Alles klar?« Greg sah sie stirnrunzelnd an.
»Warum bist du hier?« Liv wunderte sich selbst, wie beherrscht
ihre Stimme klang. Kühl musterte sie den Staatsanwalt.
»Weil ich dir die Schuhe bringen und mit dir reden wollte. Das
weißt du doch.« Er legte den Kopf schräg. »Was ist da drin gerade
passiert?«
»Nichts, was dich etwas anginge.«
»Scheint mir aber doch so.«
»Du gehst jetzt besser.«
»Nicht bevor du mir nicht gesagt hast, warum. Vor ein paar
Minuten wolltest du noch mit mir ins Bett.« Gregs durchdringender
Blick raubte ihr beinahe die Luft. Er hatte die Arme vor der Brust
verschränkt. Selbst durch das Hemd konnte Liv erkennen, wie
muskulös sie waren. Wieso achtete sie in diesem Moment bloß auf
so etwas?
Möglichst unbeteiligt zuckte sie mit den Schultern. »Hab’s mir
anders überlegt.«
»Red’ keinen Blödsinn.« In einer einzigen geschmeidigen
Bewegung, die Liv einem Mann dieser Größe nicht zugetraut hätte,
sprang Greg auf und presste Liv zwischen seinen Körper und die
Hauswand. Er beugte seinen Kopf und seine Lippen trafen hart auf
ihre.
Ohne nachzudenken erwiderte Liv den Kuss. Sie hatte tausend
Gründe, es nicht zu tun, aber wenn er sie so festhielt, wenn sie seine
kräftigen Bauchmuskeln an ihrem Körper spürte, wenn sie das
Glitzern seiner Augen sah, dann war ihr Herzklopfen der eine Grund,
es doch zu tun. Als seine Zungenspitze zwischen ihre Lippen fuhr,
zögerte sie nicht eine Sekunde, ihren Mund für ihn zu öffnen und
wurde mit einem verheißungsvollen Kuss belohnt. Gregs Zunge
umspielte ihre, eine Hand hatte er im Nacken in ihren Haaren
vergraben, mit der anderen hielt er ihr Gesicht und streichelte sie mit
dem Daumen, bis Liv leise seufzte.
Lächelnd trat er eine Armlänge zurück, damit er sie mustern
konnte. Liv schnappte nach Luft, als er mit dem Daumen sachte über
ihre Lippen fuhr. Sie hatte nicht geahnt, dass diese kleine Geste so
erotisch sein konnte. Unwillkürlich öffnete sie ihren Mund erneut und
umschloss den Finger. Sie konnte an Gregs Augen ablesen, dass
ihn das anmachte. Erregung durchzuckte sie bei diesem neuen
Gefühl. Männer warfen ihr hin und wieder begehrliche Blicke zu,
aber noch nie hatte sie einen Mann verführt. Sie umspielte seinen
Daumen mit ihrer Zungenspitze und wunderte sich, wie sehr ihr
Schoß auf seine wachsende Begierde reagierte, die sich deutlich in
seiner Miene abzeichnete.
Die Luft zwischen ihnen war elektrisiert, obwohl sie kaum etwas
machten. Gregs Fingerspitze in ihrem Mund war die einzige
Berührung und doch schienen alle Nervenbahnen zu vibrieren.
Gregs Atmung hatte sich beschleunigt und als Liv behutsam an
seinem Daumen saugte, sog er scharf Luft ein.
Das Geräusch der Insektenschutztür, die heftiger als notwendig
zugeworfen wurde, zerstörte den Zauber.
»Ich bin dann mal weg«, erklang Marisas Stimme. »Wie ich sehe,
hast du alles im Griff«, ätzte sie in Livias Richtung.
Die trat einen Schritt von Greg weg und sah ihre Cousine
schuldbewusst an. »Ich … äh …« Auf der Suche nach Worten brach
sie ab. Wie sollte sie erklären, unter welchem Bann sie stand, sobald
Greg sich im Umkreis von weniger als einem Meter um sie herum
aufhielt. Vor allem während sich besagter Mann in eben dieser
Entfernung neben ihr befand und die Szene wachsam beobachtete.
»Schon gut.« Marisa winkte ab. »Mach, was du denkst. Ist dein
Leben.« Sie warf Livia einen mahnenden und Greg einen
unfreundlichen Blick zu, schmiss ihre Haare mit einer schwungvollen
Bewegung über die Schulter und stolzierte von der Veranda. Livia
sah ihr unbehaglich hinterher.
Greg trat neben sie, legte einen Arm um ihre Schulter und zog sie
an sich. »Versucht sie, dich in diese Leonard Meyers Sache mit
reinzuziehen? Warst du deshalb bei Rey? Will sie mich aus diesem
Grund von dir fernhalten?«
Livia versteifte sich. Sie sollte auf Marisa hören. Er kam immer
wieder auf Leonard Meyers zurück.
»Wenn du hier bist, damit ich dir Leonard Meyers ans Messer
liefere, bist du auf dem Holzweg«, erwiderte sie brüsk. »Ich habe dir
bereits versichert, dass ich nicht für ihn arbeite. Mehr habe ich dazu
nicht zu sagen, Herr Staatsanwalt.« Sie wollte sich aus seiner
Umarmung drehen, aber Greg legte auch seinen anderen Arm um
sie und hielt sie fest.
»Ich bin hier, um meinen Fehler von gestern Abend wieder
gutzumachen«, sagte er schlicht. Er zog ihren Kopf näher und
platzierte einen Kuss auf ihrer Stirn, dann hob er ihr Kinn und sah sie
eindringlich an. »Nur kannst du nicht von mir verlangen, dass ich
meine Augen verschließe, wenn ich sehe, dass etwas im Gange ist.
Wenn eine Frau, die mir etwas bedeutet, gefangen ist im Netz aus
Drogen und Prostitution, wenn ich noch dazu befürchten muss, dass
sie mit Gewalt, Erpressung oder Drogen gezwungen wurde, sich auf
dem Bett eines der übelsten Verbrecher fesseln zu lassen – wie soll
ich dann bitte so tun, als wäre nichts?« Seine Stimme hatte an
Schärfe zugenommen. Er hielt seine Augen auf sie gerichtet und Liv
sah, dass er es ehrlich meinte. Und langsam drang die Information
zu ihr durch, dass sie ihm etwas bedeutete. Ein glückliches Lächeln
breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
»Du hast recht«, sagte sie, legte einen Arm um seine Taille und
ihren Kopf an seine Brust. »Es ist nicht fair, dir das vorzuwerfen.
Doch wenn du ohnehin schon so viel weißt oder vermutest, dann
wirst du verstehen, warum ich mit dir nicht sprechen kann. Nicht
darüber.« Sie hob hoffnungsvoll den Blick. »Verstehst du es?«
»Ich begreife, dass du deine Cousine schützen willst.« Greg
lehnte seine Stirn gegen ihre. »Aber ich kann nicht aus meiner Haut.
Ich muss wissen, was Rey dir angetan hat. Erzählst du es mir, wenn
ich dir verspreche, dass alles unter uns bleibt?«
»Und dann? Wenn du weißt, was geschehen ist, vergisst du, dass
du Staatsanwalt bist, weil du mir dein Wort gegeben hast?« Liv
schüttelte den Kopf.
»Also ist etwas geschehen«, war alles, was Greg dazu sagte,
während er Livia fest in die Augen blickte. »Erzähl es mir.«
Gregs Stimme war einschmeichelnd, eine Einladung, ihm zu
vertrauen. Seine gesamte Haltung war offen, entspannt, voller
Stärke und transportierte eine einzige Aufforderung – ihm die
Wahrheit zu sagen. Liv war wie verhext. Ob er all seine Zeugen so
manipulieren konnte? Die Beschuldigten gleich mit? Sie merkte,
ohne sich dagegen wehren zu können, wie sie den Kampf allmählich
verlor. Ihr Widerstand schmolz unter seinem Blick. Sein Knie
destabilisierendes, grübchenumrahmtes, Herzklopfen
verursachendes Lächeln bannte jeden Zweifel.
Er zog Liv mit sich zur Bank und dort auf seinen Schoß. Seine
Umarmung verhieß Sicherheit, er wiegte sie beruhigend wie ein
kleines Kind. »Wovor auch immer du Angst hast, ich werde dich
beschützen«, sagte er leise. »Ich verspreche es.« Dann hielt er sie
einfach fest, streichelte ihren Rücken, massierte sanft ihren Nacken
und spürte offenbar genau, wann er gewonnen hatte, denn gerade
als Liv sich entspannte, nachgiebiger wurde, sich an ihn schmiegte,
setzte er nach: »Sag es mir.«
Liv seufzte. Er würde keine Ruhe geben und sie brachte es
offensichtlich nicht fertig, ihn fortzujagen, wie Marisa es ihr geraten
hatte. Konnte man einem Mann tatsächlich innerhalb weniger Tage
derartig verfallen? Greg küsste ihre Schläfe und wischte damit die
letzten Abwehrbemühungen fort.
Während Greg sie weiterhin sanft streichelte, holte Livia einmal
tief Luft und begann: »Ich habe mich mit Reynold Simmons
getroffen, um Marisa einen Gefallen zu tun. Es sollte nur ein einziges
Date sein. Kein Sex oder so. Da das erste Date unterbrochen wurde,
bestand Rey auf einem zweiten Treffen. Wir hatten einen Drink im
RMagic und er muss mir etwas hineingemischt haben, jedenfalls
fühlte ich mich danach komisch, irgendwie nicht mehr als Herrin
meines Körpers. Als er mich in sein Haus gebracht hat, habe ich das
zwar mitbekommen, war aber nicht in der Lage, mich zu
widersetzen. Ganz zu schweigen davon, dass sie zu zweit,
muskelbepackt und bewaffnet waren.«
»Bewaffnet?« Gregs Hand stoppte abrupt ihre Wanderung über
ihre Haut. »Bist du sicher?«
»Zumindest bei Raul.« Livia nickte.
»Nicht bei Rey?«
»Nein, ich glaube, er hatte an beiden Abenden keine Waffe bei
sich.«
»Drogen?«
»Keine Ahnung.« Liv richtete sich auf und sah Greg prüfend an.
»Es geht dir nicht darum, was er mit mir gemacht hat, oder? Du willst
eine Aussage von mir. Ein Verhör in etwas angenehmeren
Rahmen.«
»Es tut mir leid, der Staatsanwalt in mir kommt immer wieder
durch.« Er verzog schuldbewusst das Gesicht. »Ich verfolge diesen
Schweinehund jetzt schon so lange, da ergreife ich einfach jede sich
bietende Gelegenheit, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen.«
Sein Lächeln bat um Verzeihung. »Natürlich geht es um dich. Es
macht mich stinkwütend, wenn ich mir vorstelle, was er mit dir
vorhatte.« Ein Muskel in Gregs Wange zuckte, während seine Kiefer
mahlten. Livia spürte, wie sich seine Hand in ihrem Rücken zur
Faust ballte, bevor er sie langsam, fast erschien es widerwillig,
wieder öffnete. Er atmete tief durch, dann stahl sich die Andeutung
eines verführerischen Lächelns in sein Gesicht. »Aber wenigstens
hat der Abend etwas Gutes gebracht.«
Er zog Livia an sich, die noch nicht recht wusste, wie sie darauf
reagieren sollte. Ablehnend, obwohl ihr Körper eindeutig anders
entscheiden wollte? Konnte sie ihm daraus einen Vorwurf machen,
wenn er jede sich bietende Chance nutzte, einen Verbrecher zu
überführen? Einen, den er bereits so lange jagte? Vielleicht sollte sie
vorsichtiger sein, misstrauischer. Andererseits wollte sie ihn ja nicht
gleich heiraten. Was konnte ein kleiner Vertrauensvorschuss schon
schaden. Immerhin schien er begriffen zu haben, dass sie ihm nicht
mehr über Marisas Verhältnis zu Leonard Meyers erzählen würde
und bisher hatte er ihr keine Informationen entlockt, über die er nicht
ohnehin bereits verfügte. Sie schmiegte sich an ihn.
»Wenigstens konnte ich dich auf diese Weise in meinen Armen
halten«, sagte Greg leise und sein liebevoller Ton löste einen
wohligen Schauer aus, dem Liv nachschmeckte wie einem guten
Tropfen Wein.
»Womit wir beim Thema des gestrigen Abends wären.« Greg
zeichnete mit seinen Fingerspitzen hauchzarte Linien auf ihren
Rücken.
Livias keuchte unterdrückt auf, als sich eine Gänsehaut auf ihr
ausbreitete. Unter ihren halbgeschlossenen Lidern hervor sah sie
Gregs Grinsen. Er wusste, was er gerade mit ihr anstellte und
sicherlich wäre er auch nicht überrascht vom Zustand ihres
Höschens, in dem sich bereits wieder Feuchtigkeit sammelte.
»Möchtest du etwas zu essen bestellen oder soll ich dich schick
ausführen und danach als Dessert vernaschen?«, fragte Greg und
setzte seine Fingerspitzenmalerei an ihrer Hüfte vorbei auf ihrem
Bauch fort.
»Wenn du so weitermachst, bin ich dafür, den Nachtisch
vorzuziehen«, japste Livia, als Gregs Hand sich unter den
Hosenbund schob. Sie rutschte so unauffällig wie möglich auf Gregs
Schoß herum, um sich von dem verlangenden Pochen zwischen
ihren Beinen abzulenken.
Greg stieß ein leises, kehliges Lachen aus. »Du musst dich schon
noch eine Weile gedulden. Ich wollte dir nur einen Vorgeschmack
geben, um sicherzustellen, dass du mir nicht wieder davonläufst.« Er
zog seine Hand zurück und drückte sanft Livs Po. »Also, wo
möchtest du essen?«
»Nicht hier!«, antwortete Liv wie aus der Pistole geschossen.
Greg zog fragend eine Augenbraue hoch.
»Ich weiß nicht, wie lange Marisa fortbleibt. Wenn sie
zurückkommt, und dich hier noch …«
»Schon klar.« Greg lächelte beschwichtigend. »Wir fahren zu mir
und bestellen uns was vom Chinesen. Wie klingt das?«
8.

Eine gute Stunde später lag Liv satt und zufrieden in Gregs Arm
gekuschelt auf seiner bequemen Couch. Sie hatten gegessen, etwas
Wein getrunken und Greg hatte einen alten Schwarz-Weiß-Film
eingeschaltet, aber Liv hätte nicht einmal den Titel nennen können.
Sie war viel zu nervös, neben Greg zu liegen und zu wissen, worauf
dieser Abend hinauslief. Auch Greg wirkte abgelenkt. Zärtlich
streichelte er Livs Arm, spielte mit ihren Locken, die ihr offen über
die Schulter fielen, seit Greg kurzerhand das Haargummi
herausgezogen hatte, und verteilte hauchzarte Küsse, wo immer er
ein Stück freie Haut erreichte. Mit jeder Minute wurde sein Blick
intensiver, das Blau der Iriden dunkler, bis er mit rauer Stimme
fragte: »Bekommst du von dem Film eigentlich irgendetwas mit?«
Stumm schüttelte Liv den Kopf.
Ohne den Blick von ihr abzuwenden, ergriff Greg die
Fernbedienung und schaltete um auf einen Musiksender. Dann
begann er, jeden Zentimeter ihres Mundes zu küssen. Anfangs sanft,
wurde das Spiel seiner Lippen bald fordernder. Liv öffnete ihren
Mund für ihn und erwiderte seinen feurigen Kuss, mit dem er ihr
ohne viele Worte eine ganz besondere Nacht versprach. Auch Gregs
Atem ging schneller, als er sich schließlich von ihr löste. »Ich habe
zwei Bedingungen für heute Nacht«, sagte er und lachte kurz auf.
»Eigentlich drei. Vorher mache ich hier nicht weiter.«
»Was denn?«, fragte Liv, plötzlich alarmiert und sprungbereit.
»Schau nicht so entsetzt.« Greg verzog das Gesicht zu einem
unlustigen Grinsen. »Du gibst mir gerade das Gefühl, irgendwie
bedrohlich zu sein.«
»Entschuldige«. Liv biss sich auf die Unterlippe. »War nicht so
gemeint.«
»Gut. Denn wenn du heute Nacht schreist, nur vor Lust.« Er
wackelte anzüglich mit den Augenbrauen und Liv prustete los.
»Na, geht doch.« Dann sah er sie ernst an. »Ich möchte, dass du
mir heute Nacht die Führung überlässt. Du sollst dich auf nichts
konzentrieren, außer auf deine Empfindungen. Heute soll dein
richtiges erstes Mal werden und ich möchte, dass es atemberaubend
für dich wird.«
Sein Blick entzündete ein Feuer in Livs Unterleib. Erwartungsvolle
Spannung baute sich bereits in ihr auf und ihr Körper reagierte mit
einem völlig unangemessenen Zittern, als Greg jetzt nur mit seinen
Fingerspitzen sachte über ihren Arm strich.
»Mit Bedingung eins, hängt Bedingung zwei eng zusammen«, fuhr
Greg fort. »Ich will, dass du absolut ehrlich zu mir bist. Wenn dir
etwas unangenehm ist, musst du mir das sofort sagen. Wir
erforschen gemeinsam, was dir gefällt. Versprochen?«
Liv nickte und fragte sich, ob Greg ihr anmerkte, was allein seine
Worte mit ihr machten. Andere Pärchen praktizierten dirty talk, für
sie reichte sein schlichtes Versprechen, ihr Lust zu bereiten, um
innerlich zu vibrieren.
»Und was ist deine dritte Bedingung?, krächzte sie und erntete ein
belustigtes Grinsen.
»Dass du nicht wieder fortläufst«, sagte Greg in strengem Tonfall,
fasste unter ihren Rücken und die Beine, hob Liv hoch und trug sie
ins Schlafzimmer, wo er sie auf dem Bett absetzte. Er verschwand
durch die Badezimmertür und kurz darauf hörte Liv Wasser
plätschern.
Unschlüssig, was sie tun sollte, stand sie auf und sah sich um. Der
Raum war wie der Rest der Wohnung elegant eingerichtet. Möbel
mit klaren Linien aus Nussbaumholz, Parkettboden eine Nuance
dunkler und im Kontrast dazu helle, schlichte Vorhänge ergaben ein
nüchternes Gesamtbild. Keine Deko, keine Bilder. Nicht einmal
Fotos auf einem Sideboard. Überhaupt gab die Wohnung wenig
Persönliches preis. Alles war sauber und ordentlich und wenn Greg
morgens das Haus verließ, um ins Büro zu fahren, würde vermutlich
nicht einmal ein erfahrener Fährtenleser eine Spur von Greg in den
Räumen finden. Nur sein männlich herber Geruch hing in der Luft
und wurde nun stärker, als der Mann, zu dem er gehörte, auf sie
zutrat und sie zärtlich betrachtete.
Seine Hände umfassten ihr Gesicht, streiften die Konturen ihrer
Wangenknochen, ihre Lippen und fuhren dann der Silhouette ihres
Körpers folgend bis zur Hüfte hinunter. Mit dem Daumen strich Greg
über die Haut oberhalb ihres Hosenbündchens, wanderte dann mit
den Fingern unter ihr Shirt und streichelte sie sanft. Ohne sie aus
den Augen zu lassen, fasste er an den Saum des Shirts und zog es
Liv über den Kopf.
Liv streckte im Gegenzug ihre Hände aus und öffnete die Knöpfe
seines Hemdes und noch während sie es ihm abstreifte, knöpfte er
ihre Hose auf. Liv legte ihre Handflächen an seine Brust. Sie liebte
es, die Bewegungen seiner Muskeln unter ihren Fingern zu spüren.
Sie erkundete seinen Oberkörper und Greg stand still, während ihre
Fingerspitzen über seine Bauchmuskeln fuhren und dem Verlauf der
V-förmigen Stränge folgten, die in seiner Hose verschwanden. Seine
beschleunigte Atmung war die einzige Reaktion, aber als Liv den
Blick von seiner Mitte hob, die sichtlich praller geworden war,
erschrak sie fast, als sie das Lodern in seinen Augen sah. Er nahm
ihre Hände und führte sie an ihre Seiten. Dann löste er den
Verschluss ihres BHs und zog die Träger mit einer raschen
Bewegung von ihren Schultern und entledigte sie auch gleich ihrer
Hose und des Slips. Bevor Liv ihre plötzliche Nacktheit unangenehm
werden konnte, hatte er sie hochgehoben und betrat mit ihr auf den
Armen das Bad. In der Zwischenzeit war die Badewanne
vollgelaufen. Ein Duft von Zitrusfrüchten und Minze hing in der Luft.
»Was …« setzte sie an, doch Gregs in die Höhe gezogene
Augenbrauen brachten sie zum Schweigen.
»Bedingung eins«, erinnerte er sie. »Ich habe das Sagen, du lässt
dich verwöhnen.«
Sein Blick hatte etwas Herrisches und löste bei Liv zu ihrer
Überraschung ein warmes Ziehen zwischen den Schenkeln aus. Nie
hätte sie gedacht, dass sie darauf stehen könnte, wenn ein Mann
dermaßen den Ton angab. Doch seine Willensstärke machte sie
unbestreitbar an.
Greg hatte Liv unterdessen am Wannenrand abgesetzt, prüfte die
Wassertemperatur und schob sie dann ins Wasser. Die Eckwanne
war riesig, hatte eine Whirlpoolfunktion und als Liv den Kopf wandte,
bemerkte sie die Panoramaaussicht.
»Blickdichtes Glas«, erklärte Greg, der ihren Augen gefolgt war.
»Wie übrigens überall in der Wohnung. Von außen kann niemand
hineinsehen.« Greg griff nach einem Waschlappen. »Also kannst du
dich jetzt ganz entspannt zurücklehnen und alles weitere meinen
fähigen Händen überlassen.« Seine Stimme war bei den letzten
Worten dunkler und betörender geworden.
Liv grinste ihn an. »Du ziehst jetzt aber auch alle Register.«
»Und – wirkt’s?«, erwiderte Greg augenzwinkernd und strich mit
dem Lappen über Livias Dekolleté.
»Ich glaube schon«, seufzte sie behaglich, ließ sich gegen den
Wannenrand zurücksinken und genoss mit geschlossenen Augen
das Gefühl, von ihm behutsam gewaschen zu werden. Greg streifte
nicht einmal ihre intimsten Stellen und doch schossen heiße Impulse
durch ihre Nervenbahnen, wo immer er sie sanft berührte.
»Kommst du nicht mit rein?«, fragte sie, als er den Lappen
schließlich zur Seite legte, aber nach wie vor nicht im Begriff schien,
zu ihr ins Wasser zu steigen.
»Soll ich denn?«, gab er zurück, war jedoch schon dabei, Hose
und Slip abzulegen, bevor Liv geantwortet hatte. Er rutschte hinter
ihr in die Wanne, sodass Liv mit dem Rücken an seinem Bauch lag.
Sein halberigierter Penis an ihrem Po machte deutlich, wie sehr es
ihm gefallen hatte, sie zu waschen. Seine Hände, die zunächst brav
im Bereich ihres Nabels gelegen hatten, wanderten höher und wenig
später umfasste Greg Livias Brüste und begann dort eine zärtliche
Massage. Liv legte den Kopf nach hinten auf seine Schulter und sog
scharf Luft ein, als er ihre Brustwarzen zwischen Daumen und
Zeigefinger nahm und sachte zudrückte.
»Alles gut?«, fragte Greg sofort und hielt inne.
»Ja«. Ihre Antwort geriet zum Stöhnen und Liv merkte an der
Vibration seines Brustkorbs, dass Greg leise lachte.
»Denk an dein Versprechen, mir sofort zu sagen, wenn dir etwas
weh tut oder unangenehm ist«, erinnerte Greg sie mit sanfter
Strenge. »Ich gebe mir Mühe, in dir zu lesen, aber ich möchte nicht
bei jedem Stöhnen hinterfragen müssen, ob es vor Wollust oder
Schmerz war.«
»Das war Wollust«, japste Livia, als Greg in diesem Augenblick
ihre Nippel zwirbelte und ihr dabei ins Ohr raunte: »Es geht auch
eine Kombination aus beidem.«
Wieder vibrierte sein Oberkörper und nochmals, als Livia die
Beine reflexartig für ihn öffnete, während seine Hand tiefer wanderte.
Er umkreiste ihre Schamlippen, teilte sie dann und glitt mit einem
Finger durch ihre Spalte. Liv zuckte zusammen, als er an ihrer
empfindlichsten Stelle ankam und Greg hörte sofort auf.
»Schließ die Augen, entspann dich und genieße«, sagte Greg und
Liv erschauerte bei seinem zärtlichen Befehl. Sie schmiegte sich an
ihn. Greg zog ihre Beine weiter auseinander und legte seine Hand
auf ihren Venushügel. Seine Finger übten einen leichten Druck aus,
er massierte kaum merklich ihren Schambereich, bis Livia wohlig
seufzte und ihren Unterleib von selbst gegen seine Hand presste.
Abermals glitt sein Finger durch ihre Spalte und diesmal erwartete
Livia das elektrisierte Kribbeln geradezu, das sich in ihrem Bauch
ausbreitete, als Greg wieder ihre Perle berührte. Sie keuchte auf und
wölbte sich seiner Hand entgegen. Greg tat ihr den Gefallen und
streichelte mit den Fingerspitzen um die empfindlichste Stelle, selten
streifte er die Klit direkt und jedes Mal prickelte ein neuer Stromstoß
durch Livias Unterleib.
Livs tiefe Atemzüge gingen in ein verhaltenes Stöhnen über und
Greg vergrößerte die Kreise, die er um ihre Klitoris zog und verharrte
jedes Mal länger an ihrer Pforte. Vorsichtig umspielte er ihren
Eingang mit den Fingerspitzen, schob seine Fingerkuppe in sie
hinein und bewegte sie behutsam, bis Livia sich in seinen Armen
wieder entspannte. Sie hatte sich verkrampft, als sein Finger mehr
als nur wenige Millimeter in sie eindrang. Jetzt erlebte sie zum
ersten Mal das Gefühl eines langen, kräftigen Fingers in sich. Sie
spürte Gregs Blicke auf sich und hob den Kopf, um ihm zuzulächeln.
Allein die Erregung in seinen Augen reichte, um ihr Verlangen weiter
anzufachen. Sie spreizte die Beine so weit es die Größe der Wanne
zuließ und schob sich seinem Finger entgegen. Ein zufriedenes
Lächeln umspielte Gregs Mundwinkel. »Du bist wunderbar«, sagte
er liebevoll und strich ihr mit der freien Hand eine Strähne hinter das
Ohr.
Als Liv sich daraufhin noch inniger an ihn schmiegte, begann er,
seinen Finger in ihr zu bewegen. »Entspannen und genießen«,
ordnete er sanft, aber bestimmt an, als Liv abermals zurückzuckte.
Diesmal, weil er einen Punkt in ihrem Inneren getroffen hatte, der so
intensive Empfindungen durch ihren Körper jagte, dass sie dachte,
es nicht aushalten zu können.
»Ich weiß«, sagte er beschwichtigend, während Livia sich unruhig
wand. Er unterbrach seine innere Massage und ließ Livia zu Atem
kommen.
»Alles gut?«, erkundigte er sich, bevor er einen zweiten Finger in
Position brachte.
Liv nickte atemlos. »Ja.« Sie räusperte sich, ihr Hals war trocken
wie nach einer Stunde Fitnesstraining. »Ja, es ist nur alles so neu.
Und mächtig.«
»So soll es sein«, schmunzelte Greg. »Guter Sex bringt dich um
den Verstand. Umso schöner ist die Erlösung.« Er schob den
zweiten Finger in sie und gab ihr Zeit, sich an das Gefühl zu
gewöhnen. Als er die Finger in ihr bewegte, sie leicht krümmte,
dabei diesen einen wundervollen Punkt berührte, stöhnte Liv auf.
»Ich … glaube«, keuchte sie, »das mit der … Erlösung …« Weiter
kam sie nicht, da überrollte sie eine heiße Woge, die weitaus
kräftiger über sie hinwegfegte, als am Abend zuvor. Sie warf ihren
Kopf zurück und stieß einen langen kehligen Laut aus, während
Greg sie festhielt. Liv hätte keine Wette darauf abgegeben, dass
sie ohne seinen starken Griff – ganz diesem überwältigenden Gefühl
ausgeliefert – nicht untergegangen wäre.
Nachdem sich ihre inneren Muskeln zum letzten Mal um seine
Finger zusammengezogen hatten, legte Greg seine Hand ums Livs
Taille und zog sie fest an sich. Sie blinzelte ihn matt an und er
bedeckte ihr Gesicht mit zärtlichen kleinen Küssen. Erst als das
Badewasser kühl wurde, schob er sie sanft von sich, stand auf und
zog sie mit sich hoch. Sorgfältig wickelte er Liv in ein Badetuch,
dann führte er sie ins Schlafzimmer.
Greg setzte sich auf den Rand des Bettes, Liv auf seinen Schoß
und als er dabei ihren nackten Po berührte, wunderte sich Livia, wie
sie noch immer – oder schon wieder – so erregt sein konnte. Reichte
wirklich die kleinste Berührung dieses Mannes, um sie unter Strom
zu setzen? Anscheinend, denn als er jetzt begann, behutsam ihre
Gesäßbacken zu massieren, sammelte sich sofort neue Feuchtigkeit
in ihrem Schritt. Einen Moment war es ihr unangenehm, so heftig auf
ihn zu reagieren und sie änderte ihre Position, damit Greg nicht an
seinem Oberschenkel merken würde, was er bei ihr anrichtete.
»Was wird das?«, fragte Greg, als Livia versuchte, unauffällig das
Handtuch etwas tiefer zu ziehen. »Genierst du dich plötzlich nackt
vor mir?« Stirnrunzelnd sah er sie an. »Du denkst an dein
Versprechen, mir zu sagen, wenn du dich unbehaglich fühlst?«
Liv nickte. »Es ist alles okay«, schwindelte sie und konnte nicht
verhindern, dass ihr Hitze ins Gesicht schoss.
»Sicher?«, erwiderte Greg und zog in aufreizender Langsamkeit
die Enden ihres Handtuchs auseinander, das hinter Liv zu Boden
fiel. »Dann ist es in Ordnung, wenn ich jetzt jeden Zentimeter deines
Körpers erkunde.« Seine Stimme war heiser vor Erregung.
Livias Unterleib stand allein von dieser Ankündigung in Flammen.
»Steh auf« verlangte er rau und positionierte Livia, nachdem sie
seiner Aufforderung nachgekommen war, so, dass sie rittlings auf
seinem rechten Bein zu sitzen kam. Ihre feuchten Schamlippen
rieben über seine nackte Haut. Livia erschauerte bei dem Gefühl,
doch mischte sich auch Scham unter ihre Empfindungen, da Greg
nun genau mitbekam, wie nass sie war.
»Was ist?«, fragte er prompt.
»Nichts, alles gut«, log Liv erneut und kaute auf ihrer Unterlippe
herum.
Greg lachte leise. »Bete nur dafür, niemals im Zeugenstand lügen
zu müssen. Dir sieht man aus zehn Schritten Entfernung bereits an,
wenn du versuchst zu schwindeln.« Er umfasste ihr Kinn und bohrte
seinen Staatsanwaltsblick in sie. »Und da das jetzt geklärt ist,
verrätst du mir auf der Stelle, was los ist, oder ich überlege mir, ob
wir der Liste deiner neuen sexuellen Erfahrungen Spanking
hinzufügen.« Seine Mundwinkel kräuselten sich.
»Was hinzufügen?«
»Spanking. Mit anderen Worten: Ich versohle dir den Hintern.«
Liv schnappte nach Luft und Greg lachte auf. Ehe sie es sich
versah, war Greg aufgestanden, hob sie dabei mit hoch und landete
zusammen mit ihr bäuchlings auf dem Bett.
»Würde dir das gefallen?«, neckte er sie und gab ihr einen
leichten, kaum spürbaren, Klaps auf den Po. Liv, die halb unter ihm
begraben lag, warf einen Blick über ihre Schulter und bekam gerade
noch mit, wie sich seine Miene jäh verfinsterte.
»Was ist das?«, fragte er und ließ seine Finger um den großen
Bluterguss auf ihrer Pobacke kreisen. »Und wage es nicht, ›nichts‹
zu sagen.«
»Rey«, antwortete Liv unbehaglich.
»Er hat dich geschlagen?« Gregs Stimme glich einem
Donnergrollen.
»Gekniffen. Er mag es, Frauen in den Hintern zu kneifen.«
Greg ballte seine Hände zu Fäusten, eine Ader an seiner Schläfe
trat besorgniserregend hervor. »Irgendwann erwische ich den
Scheißkerl«, knurrte er, »und dann gnade ihm Gott.« Er sah Liv an,
eine unheilvoll steile Falte auf seiner Stirn. »Hat er noch etwas mit
dir angestellt, wovon ich wissen sollte?«
›Du solltest am besten von gar nichts wissen‹, dachte Liv und
schüttelte energisch den Kopf. »Nein, nichts. Lass uns doch bitte
nicht immer wieder über diesen Kerl reden.«
»Du hast ja recht.« Gregs Stirn glättete sich, seine Mundwinkel
bogen sich leicht nach oben, aber noch erreichte das Lächeln nicht
seine Augen, die unverändert dunkel schimmerten. »Komm her.« Er
rollte sich auf den Rücken und zog Liv auf seinen Bauch. Seine
Hände streichelten ihre Wirbelsäule entlang, während seine Lippen
ihren Mund fanden. Seine Küsse wurden schnell drängender und
fordernder und Augenblicke später fühlte Liv neue Lust in sich
aufsteigen. Greg ließ seine Hände tiefer wandern, er massierte ihre
Pobacken, achtete jedoch darauf, der von Rey malträtierten Stelle
nicht zu nahe zu kommen. »Rutsch etwas höher« forderte er sie auf
und rückte Liv in die von ihm gewünschte Position. Sie lag auf Gregs
Bauch, ein Bein links, das andere rechts von ihm. Der Knoten seines
Handtuchs hatte sich geöffnet, sein erigierter Penis wartete kaum
eine Handbreit unter ihrer Öffnung. Er könnte ihn bequem einführen,
dachte Liv und wurde nervös, obwohl sie wusste, dass es heute
anders sein würde. Langsamer, rücksichtsvoller. Und vermutlich
erregender. Ihr Schritt reagierte mit einem fordernden Pochen auf
ihre Gedanken. Doch Greg schien weit davon entfernt zu sein,
dieses Verlangen zu stillen. Er erkundete mit seiner Zunge ihren
Mund und mit seinen Händen ihren intimen Bereich. Seine Finger
schoben sich stetig in Richtung ihrer Perle, mit jedem Streicheln
kamen sie ihrer empfindlichsten Stelle näher, um auf dem Rückweg
zwischen ihre Schamlippen zu gleiten. Erst als sie unter seinen
Berührungen stöhnte, hielt er kurz inne. »Leg dich auf den Rücken«,
bat er, drückte danach mit dem Knie ihre Schenkel weiter
auseinander und setzte seine erregenden Liebkosungen fort, bis
Livs Nervenenden so sensibilisiert waren, dass sie keuchte und
zuckte, sobald er sie berührte.
»Das wäre jetzt der Moment, in dem die Frau darum bettelt, erlöst
zu werden«, sagte Greg und zwinkerte ihr zu.
»Verdammt Greg«, japste Livia, als er ungeachtet des sich
windenden Unterleibs einen Finger in sie schob, dem ein zweiter
folgte. »Du hast versprochen, mich zu verwöhnen, nicht mich zu
foltern.«
»Die Grenzen sind mitunter fließend«, gab er ungerührt zurück
und ließ seine leicht gespreizten Finger in ihr kreisen, um sie zu
dehnen. Dann wurde sein Lächeln sündiger. »Aber ich will nicht so
sein.«
Er griff ein Kondom vom Nachttisch und streifte es über. Sein
Penis stand senkrecht und war offenbar mehr als bereit für sie.
»Ganz ruhig«, sagte Greg sanft, als Liv sich nervös über die
Lippen leckte. »Wir machen langsam und du sagst sofort, wenn
etwas unangenehm wird. Entspann dich.«
Liv verhakte ihren Blick in Gregs Augen. Der lächelte warm und
vertrauenserweckend zurück, während er sich über ihr in Position
brachte, seinen Penis zu ihrem Eingang führte und dann behutsam
in sie eindrang. Ein leichtes Ziehen machte sich bemerkbar, aber als
Liv sich bewusst entspannte, verschwand dieses Gefühl und sie
konnte sich auf die völlig neuen Empfindungen konzentrieren. Ihr
Inneres schien nur auf ihn gewartet zu haben, und umschloss seinen
Penis fest, doch zugleich geschmeidig. Eine nie gekannte Begierde
stieg in Liv auf und sie schob Greg ihr Becken entgegen, der die
Augen aufriss und überrascht aufkeuchte.
Seine Gesichtszüge lösten sich und Liv wurde klar, wie viel
Selbstbeherrschung es ihn gekostet hatte, sich so zurückzuhalten.
Als er merkte, dass er widerstandslos in Livia hineingleiten konnte,
wurde er forscher und Liv nahm ihn tief auf. In dieser Position
verharrten sie, Greg mit zunehmend verzerrtem Gesicht. Als Liv sich
leicht unter ihm bewegte, stöhnte er auf.
»Tu das nicht«, wisperte er. »Ich kann mich nicht mehr lange
zurücknehmen.«
»Ich glaube, das musst du auch nicht«, erwiderte Livia. »Es tut
nicht weh.«
Ihre Worte wirkten wie eine Befreiung auf Greg, der begann, sich
vorsichtig in Liv zu bewegen. Noch immer waren ihre Blicke
ineinander verschlungen und Liv wusste, wenn er nur den kleinsten
Hinweis auf Schmerzen wahrnähme, würde er sich bremsen. Doch
sie hatte nicht geschwindelt. Es tat nicht weh. Die Schmerzen vom
Vortag waren vergessen. Sie spürte die Reibung, wenn er sich aus
ihr fast vollständig herauszog, um gleich darauf wieder zuzustoßen,
aber es war angenehm und nachdem die Anspannung von ihr
abgefallen war, mochte sie das Gefühl, von ihm ausgefüllt zu
werden. Sie wurde mutiger und wölbte sich ihm entgegen und sie
fanden einen Rhythmus, eine Harmonie in ihren Bewegungen, als
teilten sie nicht zum ersten Mal das Bett.
Livia beobachtete fasziniert, wie sich die wachsende Lust in Gregs
Zügen abzeichnete. Dies hier war nicht mehr der beherrschte
Staatsanwalt, sondern ein Mann voller Leidenschaft. In seinen
Augen loderte ein Feuer, Schweißtropfen rannen über seine Stirn
und glänzten auf seiner Brust. Als er sich mit halbgeschlossenen
Lidern von seinen Gefühlen davontragen ließ und mit kräftigen
Stößen in ihr kam, schlug Livias Herz so stark, als wäre es ihr
eigener Orgasmus.
Schwer atmend kam Greg auf ihr zum Liegen. Seine Brust hob
und senkte sich wie nach einem Dauerlauf, sein Kopf ruhte auf ihrer
Schulter.
»Gib mir einen Moment«, flüsterte er nach Luft ringend, dann rollte
er sich neben sie. Einen Augenblick blieben beide still
nebeneinander liegen, bevor Greg sich aufrichtete, sich auf einen
Ellbogen stützte und Livia forschend ansah. »Geht es dir gut? Alles
in Ordnung?«
Liv lächelte ihn an und hatte die Ahnung, dabei wie eine Katze zu
wirken, die aus dem Sahnetöpfchen genascht hatte. »Ja«, sagte sie
und musste lachen, weil es eher nach grundzufriedenem Seufzen
als nach einer Antwort klang.
Greg grinste beruhigt, runzelte dann jedoch die Stirn. »Aber du
hattest nur den einen Orgasmus in der Badewanne.«
»Der reicht doch«, Liv rekelte sich und schmiegte sich an Greg,
der ihr einen Kuss auf die Nasenspitze drückte und sie an sich zog.
»Finde ich nicht.« Seine Stimme rutschte schlagartig eine Oktave
tiefer und seine Mundwinkel kräuselten sich geheimnisvoll. »Wart’s
nur ab.«
Sekunden später kniete Greg zwischen ihren Beinen.
»Was hast du vor?« Liv starrte ihn regungslos an, nur ihr Unterleib
reagierte sehr lebendig. Es pochte gierig, als ihr der Gedanke kam,
was er mit ihr anstellen würde.
Greg legte seine Hände an die Innenseiten ihrer Oberschenkel
und spreizte ihre Beine, bis sie weit geöffnet vor ihm lag. Dann
beugte er sich vor, zog ihre Schamlippen ein Stück auseinander und
hauchte auf ihre Feuchtigkeit. »Du bist noch nie geleckt worden,
schätze ich«, sagte er und sein Atem in ihrem Schritt jagte bereits
eine Welle der Erregung durch ihren Körper.
»N… nein«, stieß sie hervor. Das Verlangen raubte ihr die
Kontrolle über die Sprache.
Gregs Mundwinkel zuckten. »Das ändern wir jetzt und du wirst
noch einmal kommen. Und wenn ich es will, danach abermals.« Das
Lächeln, das er ihr schenkte, war diabolisch. Als er sich langsam
vorbeugte und genüsslich mit der Zunge durch ihre Spalte fuhr,
wusste Livia plötzlich, woher Greg die Gewissheit nahm, über so viel
Macht zu verfügen. Er hatte die volle Kontrolle über ihren Körper
übernommen, hielt sie an den Hüften gepackt, damit sie seiner
süßen Folter nicht entkommen konnte und leckte sie mal gemächlich
und hingebungsvoll, bis ihr ein langgezogenes Stöhnen entfuhr, mal
schnellte seine Zungenspitze um ihren Kitzler, bis Liv wimmerte. Viel
zu schnell spürte sie die Vorboten des herannahenden Orgasmus,
und während die Welle heiß über ihr zusammenschlug, überkam sie
ein tiefes Bedauern, so früh von diesen köstlichen Qualen erlöst
worden zu sein.
Als Liv leise keuchend zu Atem kam, hob Greg den Kopf. Mit
einem breiten Grinsen sah er sie an und sagte in einem Ton, der bei
Liv den nächsten wohligen Schauer auslöste: »So, meine kleine Liv,
jetzt gönne ich dir eine Pause und dann wirst du ein drittes Mal für
mich kommen.«
9.

Am folgenden Morgen weigerte sich Liv, ihre Augen zu öffnen, als


Greg sie zärtlich wachküsste.
»Steh auf, du Schlafmütze. Ich war bereits Laufen, habe
Frühstück gemacht und muss gleich ins Büro.«
Liv fühlte sich ausgelaugt wie nach einem Halbmarathon. Unwillig
blinzelte sie Greg an. »Ist Sex immer so anstrengend?«
»Wenn er gut war, dann schon«, erwiderte Greg schmunzelnd.
»Aber dafür bekommt man den ganzen Tag dieses selige Grinsen
nicht aus dem Gesicht.« Er beugte sich vor und drückte Liv einen
weiteren Kuss auf die Stirn. »Und du hast momentan genau diesen
Ich-hatte-geilen-Sex-Ausdruck.«
Liv rollte sich seitlich aus dem Bett und schlurfte ins Bad. Greg
lachte hinter ihr her. »Du gehst auch genau so.« Sie würdigte ihn
keiner Antwort, sondern schloss nachdrücklich die Badezimmertür.
»Ich warte mit frischem Kaffee auf der Dachterrasse auf dich«, rief
Greg ihr nach.
Liv stellte sich vor den Spiegel. Ihre Haare wanden sich zerzaust
in alle Richtungen und die Augenringe zeugten von zu wenig Schlaf.
Dennoch hatte Greg recht – in ihrem Blick lag ein besonderes
Funkeln. Sie grinste ihrem Spiegelbild wissend entgegen und griff
nach der Zahnbürste, die Greg ihr gestern gegeben hatte. Es erfüllte
Liv mit einer eigentümlichen Wärme, wie diese einträchtig neben
Gregs im Zahnputzbecher stand. Fast als wären sie ein Paar. Dabei
wusste Liv, dass Greg nicht der Typ für feste Bindungen war. Sie
musste sich nur an sein Aufreißergebaren im RMagic erinnern.
Dennoch lächelte sie dieses heimelige Bild an und schmunzelte
anschließend über sich selbst. Da tobte wirklich ein Sturm von
Hormonen in ihr. Sie hätte nicht im Traum über eine Beziehung mit
einem Mann wie Greg nachgedacht, doch schwärmte sie jetzt von
Familienidylle im Zahnputzbecher. Schnell spritzte sie sich zwei
Handvoll Wasser ins Gesicht, schrubbte in Blitzgeschwindigkeit über
ihre Zähne und suchte dann im Schlafzimmer ihre auf dem Boden
verstreuten Klamotten zusammen. Als sie durch die Tür trat,
vernahm sie Gregs Stimme. Er stand an der Glasfront, blickte auf
den Fluss und telefonierte. Mit einer unwilligen Handbewegung fuhr
er sich durch die Haare und drosch anschließend mit der Faust
gegen die durchsichtige Wand, dass sie klirrte.
»Verdammt, Drew, das kann einfach nicht sein. Wieso ist uns
dieser Scheißkerl immer einen Schritt voraus? Es war wirklich nicht
der kleinste Hinweis auf seiner Festplatte?« Greg lehnte seinen Kopf
an die Scheibe und trommelte mit der freien Hand gegen das Glas.
»Nein, noch einen Durchsuchungsbeschluss bekomme ich nicht
durch.« Er schüttelte vehement den Kopf, auch wenn Drew das nicht
sehen konnte. »Der Richter wollte mir ja anfangs nicht einmal den
für die Privaträume ausstellen. Das Büro sei im RMagic, der
Verdacht auf Drogen beruhe auf dem RMagic, also sei der
Beschluss für die Geschäftsräume ausreichend. Das waren seine
Worte.«
Liv trat einen Schritt zurück in den Schatten, als Greg sich
umwandte. Sie hätte nicht sagen können, warum sie lauschte,
vielleicht war sie einfach schon zu sehr in die Sache verstrickt, um
es nicht zu tun. Greg warf einen stirnrunzelnden Blick in ihre
Richtung, als habe er ihre Anwesenheit gespürt, doch da er sie in
der Ecke nicht sehen konnte, drehte er sich wieder zum Savannah
River.
»Natürlich war die Begründung Schwachsinn. Aber es ist ja nicht
das erste Mal, dass etwas bei den Ermittlungen schief läuft. Es
bestärkt meine Vermutung, dass Reynold Simmons mächtige
Freunde hat … ja, das glaube ich wirklich … ja, ich würde auch
einen Maulwurf in den eigenen Reihen nicht mehr ausschließen.«
Drew antwortete offenbar recht ausführlich, denn Greg schwieg
eine Weile und brummte nur hin und wieder unzufrieden. Schließlich
folgte ein Laut vager Zustimmung. »Versuch es meinetwegen.
Meinen Segen hast du. Wenn du wirklich denkst, an Meyers kommst
du eher ran als an Simmons.«
Erneut folgte ein längerer Monolog auf Drews Seite.
»Nein, sie weiß nichts.«
Liv beugte sich elektrisiert vor. Sie wusste instinktiv, über wen
Greg sprach.
»Nein, sie arbeitet nicht für Meyers.« Greg lachte trocken auf. »Ja,
das ist ganz sicher … nein, ich weiß noch nicht, warum sie bei
Simmons war, ich habe den Verdacht, sie wurde gezwungen … ja,
richtig, das ist die Cousine, kann sein, dass die sie erpresst oder so
etwas … nein, freiwillig hundertprozentig nicht, dafür lege ich meine
Hand ins Feuer.«
Nagende Zweifel schlugen ihre Giftzähne jäh in die Glücksgefühle,
die Liv bis zu jenem Moment ausgefüllt hatten. Marisas Stimme
hallte in ihrem Kopf, die sie wegen Greg warnte. So viel zum Thema
›es bleibt unter uns‹ und ›du sprichst nicht mit dem Staatsanwalt‹.
Das reichte jetzt. Mit schweren Schritten trat sie auf den
Parkettboden und Greg fuhr herum.
»Ich muss Schluss machen, Drew«, sagte Greg, legte das Telefon
zur Seite und sah ihr mit einem strahlenden Lächeln entgegen. »Du
bist ja schnell im Bad, hast du es so eilig hier wegzukommen?«,
scherzte er, doch das Lachen gefror in seinem Gesicht, als er ihre
Miene bemerkte. »Alles okay?«
»Natürlich«, antwortete sie kühl. »Ich habe nur nicht auf die Zeit
geachtet, ich bin spät dran für die Uni.«
Greg warf ihr einen Blick zu, den er sonst sicherlich für die
Beschuldigten reserviert hatte, wenn er ihnen in der Verhandlung
den verbalen Todesstoß versetzte. »Was ist los?« Auch seine
Stimme klang einige Grade eisiger.
»Nichts, ich bin bloß in Eile«, beschied sie ihm aggressiver, als sie
geplant hatte, doch sie wollte weg, bevor er auf die Idee kam, sie ins
Kreuzverhör zu nehmen. Auf frühmorgendliche
Auseinandersetzungen hatte sie keine Lust. Glücklicherweise sah er
das offenbar genauso, denn er zuckte nur mit den Schultern. »Ich
hole eben meine Autoschlüssel, dann fahre ich dich.«
»Nicht nötig, ich nehme den Bus.« Livia schnappte sich ihre
Handtasche und riss die Wohnungstür auf. Sie sah den verdutzten
Ausdruck in seiner Miene, er folgte ihr jedoch nicht. Vermutlich war
er froh, dass er sie los war, schoss es Liv durch den Kopf, während
sie mit brennenden Augen zur Bushaltestelle eilte.

Die Uni schwänzte sie. Sie schrieb Réjane eine Nachricht und
nachdem Liv tags zuvor schon mitleiderregend ausgesehen hatte,
kamen prompt Genesungswünsche zurück, sowie das Versprechen,
Liv beim Dozenten zu entschuldigen.
Marisa kommentierte Livs Aussehen nicht weiter. Sie fragte nur
»Greg?«, als Livia mit tränenverhangenem Blick ins Haus huschte,
mit einem gemurmelten »du hattest recht« in ihr Zimmer eilte und
sich heulend aufs Bett warf. Sie brachte Liv eine Packung
Taschentücher und eine Tasse Tee, ließ sie jedoch ansonsten in
Ruhe.
Am nächsten Tag zwang sich Livia wieder zur Uni, und schaffte es
sogar, mit leichter Willensanstrengung und hocherhobenen Hauptes
jeden der Anrufe von Greg wegzudrücken, die gegen Nachmittag
aufhörten. Fast rechnete sie damit, ihn später vor Marisas Haus zu
treffen, aber er kam nicht und sie sah sich bestätigt. Jetzt, da er alles
erfahren hatte, was sie wusste – oder zu sagen bereit war – hatte er
sein Interesse an ihr verloren.
Mit zusammengebissenen Zähnen starrte sie auf ihren Monitor
und zwang ihre Gedanken erfolglos zurück zu ihrer Hausaufgabe.
Sie versuchte, sich damit zu trösten, dass sie zumindest guten Sex
gehabt hatte. Für diesen einen Abend hatte er sie glauben lassen,
sie wäre der Mittelpunkt seines Universums, nur ihre Lust zählte und
unterm Strich sollte sie für diese außerordentliche Nacht wohl
dankbar sein. Auch ohne Vergleichsmöglichkeiten fühlte Livia, dass
es ganz besonderer Sex gewesen war und sie sich vermutlich
glücklich schätzen durfte, ihn erlebt zu haben. Wahrscheinlich gab
es eine Menge Frauen, die gerne mit ihr getauscht hätten. Es war
doch von Beginn an klar gewesen, dass Greg nur ein Mann für eine
heiße Nacht war. Trotzdem fühlte es sich nicht richtig an.
Unvollendet. Als ob ihr Herz ohne Abschiedskuss nicht loslassen
konnte. Ob es das wohl mit Abschiedskuss gekonnt hätte?
Liv schüttelte über sich selbst den Kopf. Gedanken, die zu nichts
führten und sie nur von ihrem Kurs abhielten. Mit einem tiefen
Seufzen, das so erbarmungswürdig geriet, dass sie trotz allem
lachen musste, wandte sie sich ihrer Schreibaufgabe zu, die sie
nächste Woche abgeben sollte.
Als ihr Handy losdudelte, zuckte Liv zusammen, sie musste die
feuchten Hände erst an der Hose abwischen, bevor sie das Telefon
vom Nachttisch nahm. Myras Foto lächelte ihr entgegen. Natürlich,
das war ja auch ihr Klingelton. Greg hatte noch keinen eigenen,
eigentlich hätte sie seine Nummer ohnehin längst wieder gelöscht
haben sollen.
»Hallo Myra«, meldete Liv sich fröhlicher, als sie sich fühlte. Sie
freute sich, die Stimme ihrer Freundin zu hören. Auch wenn sie
Réjane mochte und ihr Marisa inzwischen ans Herz gewachsen war,
vermisste sie Annie und Myra. Gerade in Momenten wie diesen, in
denen ihr so viel durch den Kopf ging, hätte sie sich gerne mit
beiden beratschlagt. Sie strahlte deshalb glücklich auf, als sie Myras
Worte vernahm: »Cole hat morgen beruflich in Savannah zu tun und
als ich hörte, wo es hingeht, habe ich spontan beschlossen, ihn zu
begleiten. Wollen wir abends zu viert essen gehen?«
»Zu viert?«, entgegnete Livia verwirrt. »Aber ich habe doch gar
keinen …«
»Ronan wird dabei sein«, unterbrach Myra. »Er kommt mit, wenn
es für dich okay ist.«

Am nächsten Abend schlenderten Liv und Myra die River Street


entlang. Der Fluss gurgelte neben ihnen, das Wasser plätscherte
gegen den Rumpf der ›Georgia Queen‹, die am Anleger auf neue
Passagiere wartete. Ihr riesiges Schaufelrad, das sich in den
graudämmernden Abendhimmel streckte, wirkte wie ein
vergessenes Detail aus einer Punksteam-Kulisse. Beinahe
ehrfürchtig blieben die Freundinnen stehen, lehnten sich ans
Geländer und starrten abwechselnd auf das imposante Schiff und
die vorbeiziehenden Kähne.
»So sehr ich Elliottville mag, aber das Paddeln vermisse ich
doch«, sagte Myra, die als Kind an der Küste gelebt hatte, mit
sehnsüchtigem Blick.
»Und ich dachte, die letzten Erfahrungen hätten dich kuriert«,
spöttelte Livia in Erinnerung an Myras Kenterung während eines
Unwetters in den Florida Keys.
»Im Gegenteil! Solltest du auch mal versuchen, man lernt dabei
die attraktivsten Kerle kennen!«, feixte Myra, die durch dieses
Missgeschick auf dem Meer die Bekanntschaft mit Cole und dessen
Sicherheitschef und Freund Ronan gemacht hatte.
»Hör mir auf mit Männern!« Livia rollte übertrieben mit den Augen
und beide lachten, doch dann sah Myra sie unerwartet ernst an.
»Das war nicht nur ein Spruch, oder? Mir ist vorhin schon
aufgefallen, dass du verändert wirkst. Und damit meine ich nicht nur
dein Haar.«
Automatisch langte Livia nach ihrem Zopf. Im Zuge ihrer optischen
Anpassung an Marisa hatte Carlos bei Livia ein gutes Stück der
Haare abschneiden müssen. Zwar hingen sie immer noch bis weit
über die Schulterblätter, doch für Livia fühlte es sich ungewohnt kurz
an.
Myra rieb ihr über den Arm. »Willst du mir nicht erzählen, warum
du so bedrückt bist?«
Liv schüttelte den Kopf und sah auf die Armbanduhr. »Nicht jetzt.
Cole und Ronan müssten jeden Moment hier sein. Wir reden in
Ruhe, wenn ich wieder in Elliottville bin, okay?« Sie blickte über
Myras Schulter den Gehweg entlang. »Sie werden den Treffpunkt
doch finden? Eigentlich ist die ›Georgia Queen‹ ja nicht zu
übersehen.«
Während Liv sich in die andere Richtung drehte, um nach Cole
und Ronan Ausschau zu halten, wurde sie blass.
»Lass uns verschwinden«, zischte sie Myra zu, doch es war zu
spät. Er hatte sie gesehen.
Groß und ganz in schwarz gekleidet trat Rey auf sie zu und baute
sich vor ihnen auf. Neben ihr stand Myra mit erschrockener Miene.
Reys Hüfte drängte sich unanständig dicht an Livs Unterleib, schon
spürte sie im Rücken die Metallbrüstung. Ohne eine Szene zu
machen, käme sie hier nicht weg.
»Hallo Marisa«, säuselte Rey mit einer Stimme, der jede Wärme
fehlte. »Etwas vor heute Abend?«
»Ja, habe ich.« Livia ärgerte sich über ihr Zittern, das ihre Worte
fast unhörbar machte. Sie räusperte sich. »Du siehst, dass ich
verabredet bin. Wieso bist du eigentlich hier? Ich dachte, du wirst
gesucht?«
»Warum so garstig, Baby?« Reys Hand wanderte besitzergreifend
an ihren Po. »Ich bin ein freier Mann, die Cops haben wie immer
nichts gefunden.« Er grinste selbstgefällig. »Das muss gefeiert
werden. Ich nehme auch euch beide mit. Wie wär’s?« Ohne Liv
dabei loszulassen, drehte er sich zu Myra. »Ich lade euch auf ein
paar Drinks ein und dann vernasche ich euch. Nacheinander oder
gemeinsam, falls deine Freundin ihre Abneigung gegen Dreier
inzwischen überwunden hat.« Er lachte ein trockenes, kaltes
Lachen, das allerdings Sekunden später in ein langgezogenes
Stöhnen überging, als seine Hand von jemandem gepackt und
unsanft abgeknickt wurde, bis sein Arm und sein Körper dem Druck
folgen mussten und Rey sich kurz darauf auf Knien wiederfand, im
eisernen Griff von Ronan.
»Sorry, Kumpel, aber die Ladys haben schon ein Date«, knurrte
Ronan und sah Rey, der einen überraschten Blick über seine
Schulter warf, so finster an, dass dieser tatsächlich einen Augenblick
lang beeindruckt wirkte, bevor seine Coolness zurückkehrte.
»Wenn du nicht sofort loslässt, gibt es hier ein Blutbad.«
Nicht nur Liv musste den Eindruck gehabt haben, dass Reys
Worte keine leere Drohung waren, denn Ronan drückte Rey noch
etwas tiefer zu Boden, während Cole Myra und Liv von der Szene
wegzog.
»Wartet hier«, sagte Cole und wollte zu seinem Sicherheitschef
zurückkehren, der die Situation jedoch unter Kontrolle hatte.
Ungeachtet des Interesses der Passanten, die sich allmählich
versammelten, hatte er einen Fuß auf Reynolds Rücken platziert und
durchsuchte den auf dem Gehweg Liegenden nach Waffen. Offenbar
wurde er fündig, denn Liv sah einen kleinen Gegenstand in hohem
Bogen über das Geländer fliegen und im Savannah River
verschwinden. Zwei weitere Dinge folgten, dann zog Ronan seinen
Gegner auf die Beine. Liv konnte nicht verstehen, was die beiden
sprachen, doch Rey streckte in einer friedfertigen Geste die Arme
zur Seite und entfernte sich einige Schritte rückwärts, bevor er sich
umwandte und mit betont lässiger Haltung auf die andere
Straßenseite wechselte. Liv sah ihm nach, bis er in einer Hofeinfahrt
verschwand. Erst danach atmete sie auf.
Cole hatte Myra beschützend in seine Arme gezogen und strich ihr
beruhigend über das Haar. Liv beobachtete die beiden mit einem
Stich Eifersucht. Nicht auf Cole, der zwar unbestreitbar attraktiv war,
dessen Blicke jedoch nicht einmal ansatzweise ein ähnliches Feuer
in ihr entfachen konnten, wie dies einem gewissen Staatsanwalt
gelungen war. Sie hätte im Augenblick nur auch gerne eine Schulter
zum Anlehnen gehabt. Sie schlang die Arme um sich, obwohl ihr klar
war, dass nicht die Temperaturen sie frösteln ließen.
Ronan hatte Rey aufmerksam hinterhergestarrt, bis er sicher
schien, dass dieser nicht mehr auftauchte. Während sich die
Menschen allmählich zerstreuten, gesellte er sich wieder zu ihnen.
»Alles klar?«, fragte er Livia, die mit den Tränen kämpfte.
Sie nickte und schaute auf ihre Schuhspitzen. »Danke«, murmelte
sie und fügte hinzu: »Entschuldigt bitte. Der Vorfall tut mir leid.« Eine
Träne rollte nun doch über ihre Wange und beschämt fuhr sie sich
mit der Hand über das Gesicht.
»Hat der Typ dir schon mal Probleme gemacht? Und warum nennt
er dich Marisa?«, fragte Myra und Liv musste noch mehr
Feuchtigkeit aus den Augenwinkeln blinzeln, als sie die Besorgnis in
der Miene ihrer Freundin las. Auch Coles und Ronans Blicke ruhten
auf ihr. Glücklicherweise wirkten die Männer eher beunruhigt als
verärgert. Vielleicht würde der Zwischenfall den Abend doch nicht
völlig ruinieren.
Liv nickte unbehaglich. Sie wollte weg, irgendwohin, wo Rey nicht
urplötzlich wieder vor ihr stehen konnte, aber Myra bohrte weiter.
»Ist das der Kerl, dessentwegen wir nicht über Männer reden
dürfen?«
»Wer will sich über andere Männer unterhalten?«, kam Cole Liv
unverhofft zu Hilfe. »Du doch wohl nicht!« Er sah Myra mit gespielter
Strenge an und tuschelte ihr etwas ins Ohr, allerdings nicht leise
genug, denn Liv verstand etwas von ›bestrafen‹. Als ihre Freundin
daraufhin knallrot anlief, konnte Liv sich ein Grinsen nicht vergreifen.
Auch Ronan schmunzelte und die angespannte Stimmung lockerte
sich. Mit dem Hinweis »wir können uns während des Essens in Ruhe
unterhalten« schob Cole die kleine Gruppe in Richtung des
Restaurants, in dem er einen Tisch reserviert hatte.
Weit kamen sie nicht – da stoppte Livia abrupt. Ein Mann kam
ihnen entgegen – und es handelte sich dabei ausgerechnet um
denjenigen, den Livia in diesem Moment noch weniger treffen wollte
als Rey.
Ihr Herz machte einen Satz, als sich ihrer und Gregs Blick
kreuzten.
Greg stutzte, für eine Sekunde sah es aus, als wollte er die
Straßenseite wechseln, doch fiel ihm wohl rechtzeitig seine gute
Erziehung ein. Er knipste ein Lächeln an, das die Augen nicht
erreichte.
»Hallo Greg«, grüßte Liv und schob sich instinktiv näher an
Ronan, der sich prompt aufrichtete und ihren Arm berührte. Eine
Geste, die bei Greg nicht unbeachtet blieb. Er musterte die Gruppe
noch verbissener. Sein künstliches Lächeln versteinerte.
»Livia.« Ein knappes Nicken. »Wie romantisch – du hast ein
Rendezvous«, ätzte er und das Gift in seiner Stimme strafte das
bemüht freundliche Gesicht Lügen.
»Ja, richtig. Ich wünsche dir einen schönen Abend.« Liv machte
sich nicht die Mühe, ihre Freunde vorzustellen oder seinen Irrtum
richtigzustellen. Was sollte dieser Sarkasmus? Oder war es
Eifersucht? Besitzanspruch? In jedem Fall unnötig – schließlich hatte
nicht sie ihn ausgenutzt, sondern umgekehrt.
Greg warf ihr unter zusammengezogenen Brauen einen düsteren,
aber sehr intensiven Blick zu, presste die Lippen aufeinander und
eilte weiter. Livia starrte ihm nicht minder finster hinterher. Und
stutzte, als Greg auf Höhe der Hofeinfahrt die Straße überquerte, in
der Rey verschwunden war.
»Wartet kurz hier«, bat sie ihre Freunde, dann rannte Livia zurück
zu der Stelle, wo sie Greg aus den Augen verloren hatte. Sie stieg
auf eine der kleinen Mauern, die die Grünrabatten einfassten, und
spähte über die Menschenmenge auf die gegenüberliegende
Straßenseite. Ein Aufsteller wies auf eine After-Work-Party in einem
Club im Innenhof hin. Von Greg fehlte jede Spur, so sehr sie den
Gehsteig auch absuchte.
»Können wir weiter?« Die anderen drei standen plötzlich neben
ihr. Ronan wirkte ungeduldig. Liv wusste von Myra, dass er es nicht
mochte, wenn sich der wohlhabende Cole, der Sohn eines noch
reicheren Wirtschaftsmagnaten, zu lange an einem Ort in der
Öffentlichkeit aufhielt. Sie nickte deshalb und folgte ihren Freunden
in das Restaurant, das Cole ausgesucht hatte. Elegante Möbel im
alten Südstaatenstil schufen einen vornehmen Rahmen, der nach
gut gefüllten Geldbeuteln verlangte.
»Keine Sorge, Cole zahlt«, raunte Myra ihr zu, die Livias Blick
richtig deutete.
Im allseitigen Einverständnis bestellten sie Wasser, überließen
Cole die Auswahl des Weins dazu und vertieften sich in die
Speisekarten. Für Liv die Gelegenheit sich zu sammeln. So kurz
hintereinander vor Rey und Greg zu stehen, hatte ihr Nervenkostüm
nicht nur arg strapaziert, es hatte auch zu einem sich immer
schneller rotierenden Gedankenkarussell geführt. Wieso war Greg in
derselben Hofeinfahrt wie Rey verschwunden? Das konnte
unmöglich ein Zufall sein. Beschattete er Rey? Aber er war aus der
entgegengesetzten Richtung und mit Verzögerung angekommen.
Ein geplantes Treffen? Doch warum sollte sich Greg …?
»Hat die Dame gewählt?«
Die professionell höfliche Stimme des Kellners riss sie aus den
Gedanken. Nur am Rande bekam sie nun mit, dass die anderen
bereits geordert hatten, während sie selbst nur auf die Karte gestarrt
und kein einziges Wort gelesen hatte. »Ich nehme das Gleiche wie
meine Freundin«, schloss sie sich eilig Myras Bestellung an, ohne zu
wissen, was ihr in Kürze serviert werden würde.
Myra grinste sie gutmütig an, nachdem die Bedienung sich wieder
entfernt hatte. »Da hat es jemanden aber ganz schön aus der Spur
geworfen«, kommentierte sie und legte abwartend den Kopf schief.
»Ich glaube, wir alle sind neugierig.«
Liv zupfte an ihrer Unterlippe. »Ich frage mich …« Der Satz lief ins
Leere, während die Puzzleteilchen von selbst an ihren Platz fielen,
bis sie mit einem Mal ein klares Bild ergaben. Eins, das Livia für
einen Moment die Luft nahm.
»Ja?«, drang diesmal Coles Stimme an ihr Ohr. »Was fragst du
dich?«
Livia hatte Cole als ebenso scharfsinnigen wie belesenen
Gesprächspartner kennengelernt, der über ein erstaunliches
Allgemeinwissen verfügte.
»Du weißt nicht zufällig, was ein Staatsanwalt verdient?«,
entgegnete sie deshalb.
Cole wirkte einen Moment verblüfft, legte dann allerdings
nachdenklich die Stirn in Falten. »Ganz genau nicht, aber ich meine,
ich hätte mal etwas von sechzig- bis achtzigtausend Einstiegsgehalt
im Jahr gelesen. Wieso fragst du?«
Livia holte einmal tief Luft. »Der Typ gerade …«
»Welcher?«, unterbrach Ronan. »Der Grabscher oder dein Ex?«
Livia stieß fast das Weinglas um, an dem sie gedankenverloren
herumgespielt hatte. Sie starrte Ronan an. »Wie kommst du darauf,
dass er mein Ex ist?«
»Es war doch offensichtlich, dass ihr etwas miteinander hattet«,
lachte Cole und Myra nickte nachdrücklich.
»Und eure Wunden sind frisch, das sieht man sofort«, fügte sie
hinzu. »Also erzähl. Wie gerät die brave Livia, die sich immer von
Männern ferngehalten hat, gleich an zwei Typen, kaum dass sie in
die Großstadt zieht?«, hakte sie mit auffordernder Miene nach,
während Livia auf dem Stuhl herumrutschte, der ihr unversehens
äußerst unbequem erschien.
Livia trank einen großen Schluck Wein und atmete tief durch.
»Rey und Greg. So heißen die beiden.« Sie drehte den Stiel des
Weinglases zwischen ihren Fingern. »Dem einen versuche ich, aus
dem Weg zu gehen. Und dem anderen irgendwie auch. Scheint bei
beiden nicht gut zu klappen«, fügte sie mit einem schiefen Grinsen
hinzu und fasste die Geschehnisse seit ihrer Ankunft zusammen. Die
pikanten Details ihrer Treffen mit dem Staatsanwalt ließ sie aus, aber
sie spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht schoss und sah in den
Mienen ihrer Freunde, dass sie das Unausgesprochene auch so
begriffen. »Als ich Greg vorhin im selben Hinterhof wie Rey
verschwinden sah, fiel mir mit einem Mal der Maulwurf ein. Die
ständigen Pannen im Verfahren, von denen Greg sprach. Was ist,
wenn Greg selbst ein falsches Spiel treibt?« Sie schüttelte den Kopf,
wollte es sich nicht vorstellen. »Als ich bei ihm war, habe ich mir
nichts dabei gedacht, aber nun springt es mir förmlich ins Auge: Sein
Lebensstil ist ziemlich exklusiv. Zu exklusiv. Er fährt ein Coupé,
einen Mercedes, der neu aussieht und bestimmt nicht billig war.
Zudem seine Möbel, die einen hochwertigen Eindruck machen, auch
wenn ich mich damit nicht auskenne. Und seine loftähnliche
Wohnung. Er bewohnt eine ganze Etage, mit Dachterrasse und Blick
auf den Fluss.«
Ronan pfiff leise durch die Zähne. »Hier unten am Fluss ist
Savannah unbezahlbar. Und ein neuer Mercedes kann locker den
Gegenwert seines Jahreseinkommens haben.«
»Sieht so aus, als könntest du mit deinem Verdacht richtig liegen.«
Coles Stirn zeigte eine steile Falte. »Es fragt sich nur, ob man seinen
luxuriösen Lebensstil wirklich zur Schau trägt, wenn man sich
schmieren lässt. Das erregt doch Aufsehen.« Er warf Ronan einen
Blick zu.
»Ich hör mich mal um«, versprach dieser sofort.
10.

»Autsch, sei doch vorsichtig!« Marisa riss Livia den Eisbeutel aus
der Hand, den diese ihrer Cousine an den geschwollenen
Mundwinkel drückte.
»Es geht dir offensichtlich wieder besser«, kommentierte Livia
trocken, eher erleichtert als verärgert über Marisas barsches
Verhalten. Als ihre Cousine vorhin blutüberströmt nach Hause
gekommen und heulend auf dem Sofa zusammengebrochen war,
hatte Livia das Schlimmste befürchtet. Auf dem Weg zum Telefon,
um den Krankenwagen zu rufen, wurde sie von Marisa
zurückgehalten und es stellte sich heraus, dass die Verletzung durch
das auf die Kleidung getropfte Blut dramatischer aussah, als sie
tatsächlich war. Dennoch saß der Schreck tief und Marisa konnte
trotz des nun wieder forscheren Auftretens ihr Zittern nicht
unterdrücken.
Livia setzte sich zu ihr aufs Sofa, legte einen Arm um die
bebenden Schultern ihrer Cousine und forderte sie behutsam auf:
»Jetzt erzähl, was passiert ist. Was hat dieser Scheißkerl dir
angetan?«
Dass Leonard für die aufgeplatzte Lippe verantwortlich war, hatte
Marisa zwischen den Schluchzern bisher als einzige Information
hervorgewürgt. Nun, da die Tränen ihrer Cousine versiegten und
sich ihr Atem allmählich beruhigte, hoffte Livia, die ganze Geschichte
zu erfahren.
»Leonard hat mich heute zu sich bestellt«, begann Marisa
stockend. »Er wirkte anders als sonst, viel angespannter. Er hatte
einen brutalen Zug an sich, den ich noch nie bemerkt hatte. Mit
einem Mal sah er nach dem Zuhälter aus, für den ich ihn nie
gehalten habe. Und er benahm sich auch so. Gar nicht mehr wie der
seriöse Geschäftsmann.« Marisa lachte bitter auf. »Seit heute weiß
ich es.« Sie sah Livia an. »Du hattest recht – er ist mein Zuhälter.«
Neue Tränen traten in ihre Augen und sie barg ihr Gesicht in den
Händen.
»Beruhige dich erstmal.« Livia streichelte tröstend über Marisas
Rücken und ihren Kopf. Dann stand sie auf und öffnete eine Flasche
Wein. Nachdem sie Marisa ein gut gefülltes Glas Weißwein in die
Hand gedrückt hatte, sprach ihre Cousine nach einem großzügigen
Schluck weiter.
»Leonard will mich schon wieder zu Rey schicken. Um in einem
geeigneten Augenblick Wanzen zu installieren, im Büro und bei ihm
zuhause.«
»Wanzen? Date mit Rey?« Livia schluckte. Sie ahnte, worauf es
hinauslief. Als Kind hatte sie sich immer die Ohren zugehalten, wenn
ihre Mutter ihr Märchen vorlas und es gefährlich wurde. Diesen
Impuls verspürte sie auch jetzt.
»Der Reihe nach.« Marisa nahm einen Schluck Wein. »Leonard ist
aus allen Wolken gefallen, als ich ihm sagte, das könnte ich nicht
machen. Er hat mich angeschrien, ich hätte ihm zu gehorchen.« Bei
der Erinnerung verzog Marisa gequält das Gesicht. »Zum ersten Mal
hat er sich mir gegenüber wie ein echter Zuhälter aufgeführt und
mich bedroht. Er hat sogar offen auf die damaligen Geschehnisse
angespielt. Du weißt schon, die Sache, von der Elora gesprochen
hat. Von der Vergewaltigung.« Die Augen ihrer Cousine waren
schreckensweit.
Liv drückte ihre Hand. »Erzähl weiter.«
»Ich habe ihn angefleht, mich nicht zu diesem Job zu schicken, wo
es doch bereits zweimal nicht gut mit Rey lief. Er lachte nur und
machte mir klar, wie egal ihm meine Befindlichkeiten sind. Ich habe
beteuert, ich würde alles für ihn tun, ihm meine Ergebenheit für alle
Zeiten versichert, wenn er mir nur Rey ersparte. Da wurde er
misstrauisch. Was das für eine Sache zwischen Rey und mir wäre,
fragte er und dann muss er mir angesehen haben, dass etwas nicht
stimmt, denn er wurde richtig grob. Er griff in meine Haare und riss
meinen Kopf in den Nacken. Dabei brüllte er mich an, dass ich
dachte, ich werde vor Schreck gleich ohnmächtig. Irgendwann habe
ich ihm alles gebeichtet.« Marisa fasste an ihre aufgeplatzte Lippe.
»Das Resultat war das hier.« Sie sah Livia zerknirscht an. »Es tut
mir leid, dass ich dich mit reingezogen habe.«
»Schon gut.« Livia strich ihrer Cousine hilflos über den Kopf.
»Nichts ist gut.« Marisa sank noch etwas mehr in sich zusammen.
»Du musst Savannah heute noch verlassen. Geh packen. Sofort.«
»Aber …«
»Kein ›aber‹! Ich komme klar. Geh!«
Livia sah Marisa die Lüge an. Ihre Cousine war verzweifelt, am
Boden zerstört.
»Ich werde nicht gehen, bis ich nicht die ganze Geschichte gehört
habe«, erwiderte sie ruhig und bestimmt. »Wenn du willst, dass ich
ausziehe, musst du reden.«
Ihre Cousine rollte genervt mit den Augen und wirkte für eine
Sekunde wie die alte Marisa. »Kapierst du es nicht? Je eher du
verschwindest, desto besser.«
»Was ist mit dir?«
»Ich bleibe. Leonard weiß alles von mir. Verstehst du Liv – er
weiß, wo Mum wohnt. Ich kann nicht weg und ich kann nicht
untertauchen.« Marisas Stimme war brüchig und kaum noch zu
hören.
Auch Livias Kehle war wie zugeschnürt.
»Risa«, sagte sie sanft. So hatte sie ihre Cousine früher immer
genannt. »Es muss einen anderen Weg geben. Du bist nicht
Leonards Eigentum.«
»Doch, das bin ich. Seit heute weiß ich das«, erwiderte Marisa
tonlos.
»Und wie soll es weitergehen?«
»Ich gehe zu Rey und mache meinen Job. Und dann gehe ich zu
jedem anderen Kunden, zu dem Leonard mich schickt und mache da
meinen Job.«
Marisas Resignation war von einer Trostlosigkeit, dass Livia heftig
gegen die aufsteigenden Tränen anblinzeln musste. »Kannst du
nicht die Polizei einschalten? Die können dir sicher helfen!«
»Bist du irre? Der Plan ist doch von der Polizei!«
Dieser Satz – so knapp er war – riss Livia den Boden unter den
Füßen weg. Die Zeit blieb stehen in dem Moment, als sie die ganze
Tragweite dieser Worte begriff. »Du hast mir noch immer nicht alles
gesagt«, folgerte sie, sobald ihr Denken wieder einsetzte.
Marisa schwieg.
»Verdammt, rede! Ich weiche nicht von der Stelle, bis ich nicht
auch noch das letzte Detail erfahren habe.«
Marisa fuhr zusammen, als Livias Hand auf die Armlehne knallte.
»Versprichst du mir, danach sofort nach Hause zu fahren? Ich gebe
dir das Geld für einen Mietwagen.« Marisas Blick wurde flehentlich.
»Bitte! Wenn sie dich hier finden, zwingen sie dich, den Job bei Rey
zu übernehmen! Du musst von hier weg!«
»Darum geht es also.« Der Knoten im Magen vergrößerte sich.
»Leonard will mich für den Job.«
Marisas Gesicht verlor noch mehr Farbe, bevor sie mit einer
langsamen Bewegung nickte. »Deshalb musst …«
»Deshalb soll ich verschwinden, schon klar. Und dann? Willst du
dich bei Rey für mich ausgeben? So ähnlich sind wir uns nun doch
nicht!«
»Wenn du weg bist, muss er mich ja nehmen.«
»Und wenn er das nicht akzeptiert?«
Marisa kniff die Lippen zusammen und zuckte schwach wie ein
flügellahmer Spatz mit den Schultern. Unschwer zu erraten, dass
auch ihr soeben Eloras Geschichte durch den Kopf ging.
»Was würde ich machen müssen, wenn ich hingehe?« Fragte sie
das wirklich gerade? »Was erwartet Leonard von mir?«
»Das lasse ich nicht zu!« Marisa war aufgesprungen. »Du haust
jetzt ab! Sofort! Raus aus meinem Haus!« Mit einer Energie, die
Livia ihrer Cousine an diesem Tag nicht mehr zugetraut hatte, wies
diese mit ausgestrecktem Arm zur Tür.
»Beruhige dich«. Auch Liv hatte sich erhoben und erwiderte
Marisas Blick ebenso energisch. »Ich habe nur laut gedacht. Wenn
wir uns eine Lösung überlegen wollen, muss ich wissen, um was es
geht.« Sie griff den Arm der Cousine und zog sie resolut auf die
Couch zurück. »Ich höre!«
Marisa nickte. Livia hatte dieses Kräftemessen gewonnen. Das
hatte es nie zuvor gegeben.
»Nach meiner Beichte hat Leonard mich erst übel beschimpft.
Später meinte er, dass es ihn einen Dreck interessiere, wer von uns
beiden sich von Rey vögeln lässt, solange nur der Job erledigt und
der Auftrag der Cops erfüllt wird. Wer von uns seinen Arsch rettet,
wäre ihm egal. Er malte mir in schillerndsten Farben aus, was er mit
uns machen wird, wenn wir versagen. Mit mir, mit dir und mit Trisha.
Ich erspare dir Details, aber seitdem weiß ich, dass Eloras
Geschichte wahr ist.«
Liv schluckte trocken. Natürlich, das kam nicht überraschend,
Elora hatte sie schließlich ebenfalls vor Leonards
Vergeltungsaktionen gewarnt, doch es so deutlich zu hören, jagte ihr
einen eisigen Schauer über den Rücken.
»Damit war zu rechnen«, würgte sie tapfer hervor. »Und weiter?«
»Du solltest in Reys Büro Wanzen anbringen. Und auch in seinem
Haus. Rey ist versessen auf Sex mit dir, es ist nur eine Frage der
Zeit, dass er dich wieder bucht, dann sollst du die Dinger verteilen.«
Ein großer Schluck Wein spülte Livias aufsteigende Übelkeit
hinunter. Dass Rey Sex mit ihr wollte, war ebenfalls nicht neu, doch
hätte sie den Gedanken lieber verdrängt. Wie den, dass sie drauf
und dran war, sich in echte Schwierigkeiten zu bringen. Das alles
ging sie gar nichts an. Und dennoch hörte sie sich fragen: »Was soll
das mit den Wanzen?«
»Die Idee der Cops. Leonard hatte heute Morgen Besuch von
zwei Detectives. Sie haben ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass
er entweder kooperiert oder selbst zum Ziel der Ermittlungen wird,
falls er nicht bereit ist, Rey ans Messer zu liefern.«
»Die Polizei unterstützt Prostitution?« Livia musste sich zwingen,
den Mund wieder zu schließen.
»Na ja. Sie wollen durch eines von Leonards Mädchen die
Wanzen ins Haus schleusen lassen. Der Rest wird denen egal sein.«
»Ist das nicht illegal?«
»Keine Ahnung.« Marisa zuckte mit den Schultern. »Ist auch nicht
unser Problem. Unseres ist vielmehr, dass Leonard unterwürfigst
seine Zusammenarbeit zugesichert hat. Wir sind seine ›Du-kommst-
aus-dem-Gefängnis-frei‹-Karte. Die einzige Chance, seinen Kopf aus
der Schlinge zu ziehen. Deshalb wird der uns mit allen Mitteln
zwingen, zu Rey zu gehen.«
Livia knetete ihre Unterlippe, bis sie schmerzte. »Ich schaffe das
nicht. Ich kann keinen Sex mit diesem Ekel haben. Ich muss mich
schon beherrschen, ihm nicht vor die Füße zu kotzen, wenn ich ihn
bloß sehe.« Sie schüttelte vehement den Kopf. »Und ich glaube
nicht, dass ich darauf vertrauen sollte, ein weiteres Mal von einem
Einsatzkommando mit Durchsuchungsbeschluss gerettet zu
werden.«
»Vergiss Rey. Das würde ich nie von dir verlangen. Ich will nur,
dass du von hier verschwindest. Schlimm genug, dass ich Leonard
ausgeliefert bin. Das muss dir nicht auch noch passieren.«
»Und du meinst, ich packe seelenruhig meine Tasche und
überlasse dich diesen Verbrechern? Was glaubst du, wie ich mich
fühle, falls dir etwas passiert?« Das war die traurige Wahrheit. Sie
hing tief in der Sache mit drin. Sie musste nur einen Blick auf das
klägliche Bild werfen, das ihre Cousine abgab, um zu begreifen,
dass sie sich nicht einfach heraushalten konnte. Ihre Stimme wurde
eindringlicher. »Du weißt, wie groß die Chance ist, dass du allein
nicht unbeschadet aus der Sache herauskommst. Ich lasse dich
nicht im Stich. Uns fällt etwas ein.« Livia probierte ein
aufmunterndes Lächeln.
Marisa starrte sie mit großen Augen an und lag plötzlich in ihren
Armen. »Oh Livi, es tut mir leid, dass ich oft fies und gemein zu dir
war. Du bist der einzige Mensch auf der Welt, dem ich etwas
bedeute«, schluchzte sie, »ich weiß nicht, wie ich das jemals wieder
gutmachen soll.«
»Schscht, Risa« Livia wiegte ihre Cousine wie ein kleines Kind.
Unwillkürlich waren beide zu den Kosenamen ihrer Kindheit
übergegangen – zurückversetzt in eine Zeit, in dem ihre Welt heile
war und sie sich sicher und einander verbunden fühlten. »Du redest
Unsinn. Du bedeutest vielen Menschen etwas. Nicht nur mir. Trisha
kommt schier um vor Sorge um dich.«
»Wenn wir das hier überstehen, werde ich alles anders machen«,
beteuerte Marisa unter Tränen. »Wenn ich nur irgendwie von
Leonard wegkäme.«
»Darum kümmern wir uns jetzt«, entschied Livia resolut. »Wir
bestellen uns eine Pizza, füllen unsere Weingläser und halten
Kriegsrat. Diese Typen kriegen uns nicht klein!«

»Was wäre, wenn ich störe?« Marisa wickelte eine weitere


Haarsträhne um ihren Finger. Livia kannte die Geste von früher,
allerdings hatte sie geglaubt, Marisa hätte den Tick längst abgelegt.
Strähne um Strähne zwirbelte sie, während die Cousinen Pläne
ersonnen und wieder verwarfen. Sie hatten inzwischen eingesehen,
dass Rey sich nicht mit Marisa zufriedengeben würde, wenn er Liv
bestellte. Das würde seinen Jagdtrieb nicht befriedigen. Kurz hatten
sie überlegt, zusammen bei Rey aufzutauchen, doch damit würden
nur beide in seine Gewalt geraten.
Livia nickte. »Stören klingt gut. Aber woher weißt du, wann der
richtige Zeitpunkt ist? Irgendwann nachdem ich die Wanzen platziert
habe, aber bevor Rey über mich herfällt.«
»Ich muss mithören.« Marisa drehte die nächste Locke. »Vielleicht
per Handy?«
»Vorausgesetzt, ich kann meine Handtasche die ganze Zeit über
bei mir haben.«
»Trag es am Körper. Wenn ich dich sowieso rette, solange du
angezogen bist.«
»Könnte gehen. Ich habe einen dieser Fitnessbelts zum Joggen.
Nur hauteng darf ich dann nicht tragen.«
»Ich habe das passende Oberteil für dich. Obenrum knalleng,
bringt den Busen zur Geltung. Am Bauch dafür lockerfallend,
kaschiert den Gurt. Sexy genug und sündhaft teuer.«
Liv nickte. »Perfekt. Nächster Punkt: Wie willst du stören?«
»Weiß nicht. Improvisieren. Vielleicht die Alarmanlage seines
Autos auslösen. Eine Scheibe einwerfen. Mir fällt schon was ein.«
Bis in den späten Abend hinein spielten die Cousinen immer
wieder mögliche Szenarien durch, bis sie irgendwann das Gefühl
hatten, an alles gedacht zu haben.
»Das wird klappen«, sagte Liv schließlich zuversichtlich und
begann, das Geschirr in die Küche zu tragen. Als sie das
hoffnungsvolle Leuchten in Marisas Augen sah, schwor sich Liv, vor
ihrer Cousine zu verbergen, wie viel Angst sie in Wirklichkeit hatte.
Wenn sie das jetzt nicht durchzogen, hätte Marisa niemals die
Chance, in ihr altes Leben zurückzukehren. Doch Marisa würde die
Aktion sofort abbrechen, wenn sie Livias Zweifel erkannte. Also gab
sich Livia zwei Tage tapfer lächelnd mutig und optimistisch, bis
Marisa Mittwochnachmittag mit blassem Gesicht und tellergroßen
Augen im Türrahmen erschien und wortlos ihr Handy in den Raum
hielt. Das Display zeigte eine Nachricht von Leonard: »Es geht los.
Schick sie vorbei.«
11.

Mit einem lauten Klatschen landete Reynolds Hand in ihrem Gesicht.


Die Wange glühte bereits heiß und geschwollen von seinen
Schlägen. Rey setzte nicht seine Faust ein – er dosierte die Qualen
so genau, dass sie zwar bei jedem Treffer aufstöhnte und die Tränen
unablässig über ihre brennende Haut flossen, aber er ließ nicht zu,
dass sie das Bewusstsein verlor.
»Du wirst jede Sekunde miterleben«, versprach er ihr prompt mit
eisiger Stimme. »Ich werde dir zeigen, was ich mit Verrätern
mache.«
Er baute sich vor Livia auf. Kaum hatte sie das RMagic betreten,
hatte Reynold sie mit festem Griff in die Haare hinter sich
hergezogen, sie in seiner privaten Lounge an einem Stuhl
festgezurrt und sofort damit begonnen, sie zu schlagen. Wortlos, mit
zornig blitzenden Augen. Seine kalte, kontrollierte Wut machte ihr
größere Angst, als alles, was sie in seiner Gegenwart bisher erlebt
hatte. Die unwirkliche Atmosphäre glich einem Schauplatz aus
einem Achtzigerjahre Actionfilm. Die leere Diskothek, die spärliche
Beleuchtung, wie sie seinen Treffern mit an den Armlehnen
festgebundenen Handgelenken völlig ausgeliefert war. All das hätte
ein Regisseur nicht besser in Szene setzen können, doch erinnerte
das brennende Gesicht sie daran, dass das Geschehen scheußliche
Realität war. Livia zitterte vor mühsam unterdrückter Panik.
Den Ansatz ihrer Frage erstickte Rey mit einer heftigen Ohrfeige,
noch bevor sie über das »Was …« hinausgekommen war, aber auch
ohne Erklärung ahnte Livia, dass der Maulwurf ganze Arbeit geleistet
hatte. Ihr Herz schmerzte bei dem Gedanken an den Verräter mehr
als ihre Wange. Die Vorstellung, Greg könne an all dem die Schuld
tragen, setzte ihr deutlicher zu als Reys Hand, die sich abermals in
ihren Haaren vergrub und den Kopf nach hinten riss.
»Wo sind sie? In der Handtasche?« Ohne ihre Antwort
abzuwarten, nahm er die Tasche und leerte den Inhalt auf dem Tisch
aus. Liv dankte dem Schicksal still für die Eingebung, das Handy
nicht darin gelassen zu haben. Sie wollte sich Reys Reaktion nicht
vorstellen, wenn er begriff, dass jemand mithörte. Überhaupt – ihr
Plan. Wo blieb Marisas Einsatz? Lange würde Rey sich nicht mehr
auf Ohrfeigen beschränken. Gerade hatte er das letzte der winzigen
würfelförmigen Abhörgeräte unter seiner Schuhsohle zermalmt und
sein Blick machte klar, dass er Ähnliches mit ihr vorhatte.
»Waren die schon aktiviert?«, fragte er und unterstrich seine
Frage mit einem weiteren Schlag, der diesmal in der Nähe des
Mundwinkels landete. Livia schmeckte Blut.
»Nein«, beeilte sie sich zu sagen, als Rey wieder ausholte. »Ich
sollte sie erst anschalten, unmittelbar bevor ich sie festklebe.«
»Braves Mädchen«, sagte er und tätschelte ihr unsanft die
Wange. Livia verzog das Gesicht.
»Tut weh, ja?« Er grinste emotionslos. »Warte mal ab, bis ich mit
dir fertig bin.«
Livia betete darum, dass Marisa alles mitbekam und Hilfe holte.
Vielleicht hatte sie doch die Polizei informiert? Das hier konnte nicht
von den Cops gewollt sein. Die würden nicht zulassen, dass eine
unschuldige Person …
Sie zuckte zusammen, als die Tür aufgerissen wurde und Raul
Marisa vor sich her in den Raum schob. Marisas
schreckenverzerrtes Gesicht glich einer Fratze, als sich Rey vor ihr
aufbaute.
»Die habe ich dabei entdeckt, wie sie sich an deinem Auto zu
schaffen machte«, informierte Raul seinen Boss. »Ich habe mich
schon darauf gefreut, ihr zu zeigen, was wir mit Autodieben
anstellen.« Er stieß ein grunzendes Lachen aus. »Doch kurz bevor
ihr Arm knackte, gestand sie mir, dass sie den Wagen gar nicht
aufbrechen wollte. Ich habe mich dann ein bisschen mit ihr
unterhalten und interessante Dinge erfahren.«
Die Art, wie er ›unterhalten‹ sagte, ließ Livia genauer hinschauen.
Tatsächlich schwoll Marisas rechtes Auge bereits zu.
Rey schnaubte unwillig. »Ja?«
»Die beiden Hübschen stecken unter einer Decke. Leonard hat
nicht nur die Nutte mit den Wanzen losgeschickt, sondern die zweite
gleich hinterher, um aufzupassen.«
Livia atmete innerlich auf. Marisa hatte die Wahrheit
geistesgegenwärtig zurechtgebogen. Für Rey musste es sich so
anhören, als wartete Leonard jede Minute auf ihre Rückkehr.
Vielleicht hätte er jetzt Skrupel, ihnen etwas anzutun.
»Kümmere dich um Leonard.« Die vier an Raul gerichteten Worte
machten die Hoffnung ebenso schnell zunichte, wie der folgende
Schlag, der Marisa zu Boden schickte. Das lief deutlich anders als
geplant. Jäh stieg Übelkeit in ihr auf, als sie die Ausweglosigkeit
ihrer Lage begriff. Tief einatmen, befahl sie sich und hatte trotzdem
das Gefühl, gleich zu ersticken, weil die Angst ihre Kehle
zuschnürte.
Ungerührt sah Rey dabei zu, wie Marisa mühsam wieder auf die
Beine kam, während Raul mit einem knappen Nicken den Raum
verließ.
»Auf die Knie.«
Marisa gehorchte sofort. Livia hörte den stoßweisen Atem. Sie
standen beide kurz vor einer Panik.
»Da Leonard nun keine Einwände mehr geltend machen kann,
werde ich mit euch all die hübschen Dinge tun, die ich schon immer
ausleben wollte«, eröffnete Rey den Cousinen in einem sachlichen
Tonfall, der in keinem Verhältnis zu seinem sadistischen
Gesichtsausdruck stand. »Er hat mir viel durchgehen lassen, nicht
zuletzt, weil Elora ohnehin für Koks eine Menge zu tun bereit ist.
Dennoch durfte Leonards Ware nicht beschädigt werden.« Er
schnaubte abschätzig. »Heute gelten diese Regeln nicht.« Er verzog
die Mundwinkel zu einem fiesen Grinsen und zeigte auf Marisa. »Mit
dir fange ich an. Wenn deine Kehle wund ist vom Schreien, dann
hole ich deine Freundin dazu, auch wenn sie keine Dreier mag.« Er
warf Livia einen kalten Blick zu, während er Marisa auf die Beine
zog. Marisa zitterte am ganzen Körper. Liv überlegte fieberhaft, wie
sie ihr helfen konnte.
»Man wird sie hören«, rief sie beiden verzweifelt hinterher, die
schon in der geöffneten Tür standen. »Die Wände sind nicht so
dick.«
Rey lachte auf und wirkte für einen Moment ehrlich amüsiert, als
er sich zu Livia umdrehte. »Wer soll uns hören? Wir sind hier allein.
Außerdem ist mein Büro im Nebengebäude schallisoliert«,
informierte er sie kalt lächelnd. »Im Übrigen auch abhörsicher. Selbst
wenn man Freunde bei den Cops hat, kann man nicht vorsichtig
genug sein. Deine kleine Aktion hätte also überhaupt nichts
gebracht. Ist es nicht tragisch? Ihr beiden Hübschen werdet qualvoll
sterben für Nichts!« Noch immer lauthals lachend, schleifte er die vor
Angst gelähmte Marisa mit sich.
Als die Schritte verklangen und irgendwo im hinteren Teil des
Gebäudes eine Tür ins Schloss fiel, atmete Liv durch. Der Druck auf
der Brust blieb. Sie zwang sich zu gleichmäßigen Atemzügen, zählte
rückwärts von Zehn und allmählich setzte klares Denken ein. Der
Versuch scheiterte, ihre Hände aus den Stricken zu zerren, ihre
Unterarme waren zu fest angebunden, die Arme lagen wie
festgeklebt auf den Lehnen.
Anders als ihre Beine. Rey hatte nicht genug Paketschnur in einer
der Schubladen gefunden und kurzerhand ein Boxenkabel
zweckentfremdet, mit dem er die Knöchel an den Stuhlbeinen
festgebunden hatte. Das rutschte erfreulich widerstandslos am Holz
entlang, als Livia die Fersen anhob. Sie kippelte vorsichtig mit dem
Stuhl nach hinten, bis die vorderen Stuhlbeine in der Luft schwebten.
Mit einer raschen Bewegung streifte sie das Kabel nach unten und
die Füße waren schon einmal frei. Als das geschafft war, ließ sie
ihren Blick durch das Zimmer gleiten – und frohlockte Sekunden
später, als ihr der auf dem Tisch verstreute Inhalt ihrer Handtasche
ins Auge sprang. Ziemlich am Rand lag ihr kleines Necessaire, und
darin befand sich unter anderem eine Schere. Ihre Chance, das hier
zu überleben.
Sie stand auf und lief mit dem Stuhl auf dem Rücken
vornübergebeugt zum Tisch. Dort setzte sie sich wieder, schlüpfte
aus den Pumps und hob die Beine an, bis sie die Zehen auf der
Tischplatte aufsetzen konnte. Wie in diesen Geschicklichkeitsspielen
ihrer Kindheit versuchte sie, das Necessaire mit den Füßen zu
greifen. Eine unglaublich anstrengende Übung. Sie war dankbar für
jede Stunde, die sie im Frühjahr mit Myra und Annie im Fitnessstudio
verbracht hatte. Nicht im Traum wäre ihr damals in den Sinn
gekommen, dass das Training einmal nicht nur für die Bikinifigur
wichtig sein könnte. Ihre Oberschenkel zitterten synchron zu den
Bauchmuskeln, als sie das rettende Etui endlich zwischen ihren
Fußsohlen eingeklemmt hatte und in Richtung Hand beförderte. Im
letzten Moment konnte sie zugreifen. Ein triumphierendes ›Ja‹
entschlüpfte ihr und sie lauschte angespannt in die Leere des Clubs,
doch zum Glück blieb alles ruhig. Still ermahnte sie sich zu mehr
Vorsicht. Für Triumphgeheul gab es ohnehin keinen Grund. Die
Schere hielt sie noch längst nicht in den Fingern, vom Durchtrennen
der Schnur ganz zu schweigen.
Das Herausfummeln des rettenden Werkzeugs funktionierte
erstaunlich problemlos, aber dann lag die eigentliche
Herausforderung vor ihr. Sie musste mit der Schneide die Fesseln
erreichen. Es kam ihr zu Gute, dass ihre Hände relativ frei waren.
Solange sie das schmerzhafte Einschneiden des Stricks am Gelenk
ignorierte, konnte sie die Finger ungehindert bewegen. Liv drehte die
Schere mit der leicht geöffneten Spitze in ihre Richtung, hoffte das
Beste und stieß aufs Geratewohl zu. Einen Wimpernschlag später
biss sie sich auf die Lippe, um nicht zu stöhnen. Sie hatte sich die
Schneide in die Haut gerammt. Nach zwei weiteren Schnitten hätte
sie vor Frustration am liebsten geschrien. Jede Minute, die sie nicht
weiterkam, würde Rey unaussprechliche Dinge mit Marisa anstellen.
Nicht daran zu denken, wenn sie sich nicht befreien konnte, bevor
Raul oder Rey wieder auftauchten. Mit jedem Versuch wurde sie
hektischer und je verzweifelter sie herumstocherte, desto erfolgloser
endeten ihre Bemühungen.
Als ihr die Schere beinahe aus der Hand rutschte, zwang sich
Livia zu einer Pause. Sie konzentrierte sich auf die Atmung. Ihr
Herzschlag beruhigte sich und mit ihm ließ auch das Zittern der
Hände nach, und als Livia es erneut probierte, spürte sie endlich
einen Widerstand, der nicht von einer Hautfalte herrührte. Behutsam
bewegte sie die Finger und hoffte, dass die scharfe Kante des
Scherenblatts die Schnur traf. Es dauerte eine Ewigkeit. Wieder und
wieder säbelte sie an dem Band, zerrte herum und betete still, es
würde endlich nachgeben, bis sie nach unzähligen Versuchen den
erlösenden Ruck spürte. Kurz darauf lockerten sich die Fesseln und
ihr Arm war frei. Augenblicke später fiel auch die linke Schnur zu
Boden und Livia nestelte ihr Smartphone unter ihrem Oberteil hervor.
Doch wen sollte sie anrufen?
Die Polizei? Greg? Wer war der Maulwurf? Fieberhaft überlegte
Livia. Wem konnte sie vertrauen? ›Greg!‹, entschied sofort der Teil in
ihr, der der Wärme in Gregs Augen mehr vertraute, als seinem Geld
zu misstrauen. Der Teil, der darauf hinwies, dass Rey von Freunden
bei den Cops, nicht von Freunden bei der Staatsanwaltschaft,
gesprochen hatte. Andererseits gab es da die andere, die skeptische
Stimme in ihr, die Liv warnte. Er hatte sie als Informantin
missbraucht, und sie hatte nichts davon gemerkt. Er konnte sie so
leicht manipulieren – er musste sie nur ansehen und sie vergaß alles
andere. Wollte sie wirklich ihr Leben auf seine Integrität verwetten?
Darauf setzen, dass er ihr nichts vormachte? Sie entsperrte das
Telefon, scrollte zögernd bis zu Gregs Nummer, und etwas hielt sie
noch immer davon ab, ihren zitternden Finger auf das Hörersymbol
neben seinem Namen zu legen.
Dann stieg ein Bild vor ihrem geistigen Auge auf. Das Bild eines
bestimmten Gesichtsausdrucks. Als er mit ihr geschlafen und sich in
seiner Lust verloren hatte, da hatte er nicht gespielt. Greg war in
diesem Moment er selbst gewesen, leidenschaftlich und zugleich
rücksichtsvoll und sie hatte sich bei ihm wohl und behütet gefühlt.
Die Argumente kreisten in ihrem Kopf umeinander wie
kampfbereite Hunde. Ihr lief die Zeit davon. Lange Abwägungen
konnte sie sich nicht erlauben. Wenn sie schon so viel riskieren
musste, dann würde sie Marisas und ihr Leben auf die Karte mit dem
warmen, grübchenumrahmten Lächeln setzen. Sie kniff die Augen
zusammen und drückte auf das grüne Hörersymbol.
Ein Freizeichen. Es tutete. Einmal, zweimal. Was, wenn er das
Gespräch nicht annahm? ›Geh ran!‹, beschwor sie ihn im Stillen.
»Livia, mit einem Anruf von dir hätte ich ja gar nicht gerechnet.«
Sein Tonfall war geeignet, Eiskristalle auf dem Telefon zu bilden.
»Greg.« Sie ignorierte die Kälte in seiner Stimme. »Ich brauche
Hilfe. Rey hat Marisa und mich. Er will uns umbringen.«
»Wo seid ihr?« Gregs Stimmung änderte sich schlagartig. Er klang
alarmiert, aber zum Glück auch ruhig und tatkräftig.
»Im RMagic. Oben in der Lounge. Ich konnte meine Fesseln
lösen. Marisa hat er mit sich gezerrt. Er sagte etwas von einem
Nebengebäude. Er hat gedroht, sie dort zu quälen.« Livias Stimme
kippte immer wieder. Sie hätte gerne etwas von Gregs Besonnenheit
gehabt.
»Ich komme mit Verstärkung. Halte durch.«
»Greg!«
»Ja?«
»Rey hat Freunde bei der Polizei. Das hat er selbst gesagt. Wenn
der Maulwurf erfährt, dass ich bei dir angerufen habe, ist Rey auf
jeden Fall schneller bei mir, als ihr uns retten könnt.«
»Ich verstehe.« Es wurde kurz still. »Ich alarmiere ein
Spezialkommando. Kannst du dich irgendwo verstecken?«
»Ich muss Marisa suchen. Jede Minute, die er mit ihr verbringt,
fügt er ihr neue Schmerzen zu.«
»Tu das nicht! Das ist zu riskant!«
»Greg, da ist noch etwas. Er hat Raul zu Leonard Meyers
geschickt. Ich glaube, um ihn zu töten.«
»Ich kümmere mich darum. Und jetzt versteck dich und warte auf
uns. Das ist mein Ernst!«
Greg legte auf und Livia schöpfte neue Hoffnung. Sie steckte das
Telefon zurück in den Fitnessgürtel, ihr Necessaire fand auch noch
Platz. Dann schlüpfte sie in ihre Pumps, um Marisa zu suchen. Egal
was Greg darüber dachte – sie würde sicher nicht untätig
herumsitzen, während ihre Cousine litt.
Nach wenigen Schritten hielt sie jedoch schon wieder inne. So
ging das nicht. Ihre Absätze knallten wie Hammerschläge auf den
Boden, auf diese Art könnte sie ihre Flucht gleich per Megaphon
verkünden. Sie ließ die Schuhe zurück und rannte barfuß die Treppe
hinunter. Immer auf Geräusche lauernd schlich sie eng an der Wand
entlang, bis sie die Hintertür erreichte. Vorsichtig drückte sie die
Klinke und atmete erleichtert auf, als sie die Tür aufstoßen konnte.
Rey war sich seiner Sache wohl sehr sicher.
Der Hinterhof lag in völliger Stille. Rey hatte von einem
Nebengebäude gesprochen, an den Hof grenzten zwei. Liv steuerte
das Nächstgelegene an. Bröckeliger Asphalt stach in ihre Fußsohle
und sie musste mehr als einmal die Zähne zusammenbeißen, wenn
sich ein spitzer Stein in ihre Haut bohrte. Eine dämmrige Halle
empfing sie hinter einem wuchtigen Tor. Eine alte Remise. Sie
befanden sich in einem Teil Savannahs, der aus einer Zeit stammte,
in der man in solchen Gebäuden Kutschen unterstellte. Mit einem
Blick erfasste sie, dass sich niemand im Inneren aufhielt. Frische
Reifenspuren im hinteren Bereich, dort wo ein weiteres Tor
offenstand, deuteten darauf hin, dass kürzlich jemand weggefahren
war. Vielleicht Raul auf dem Weg zu Leonard. Hoffentlich nicht Rey
mit Marisa.
Sie durchquerte die Halle und schlüpfte am anderen Ende hinaus.
Unkraut hatte sich durch den rissigen Asphalt gedrückt und reckte
sich überall dem Licht entgegen, wo nicht Unrat den Boden
bedeckte. Liv musste noch genauer darauf achten, wohin sie ihre
Füße setzte und sich gleichzeitig beeilen. Auf dem leeren Hof würde
sie nicht eine Sekunde unentdeckt bleiben, falls jemand zufällig
hinaussah. An der Längsseite des zweiten Gebäudes, das sich L-
förmig an die Remise anschloss, befand sich eine größtenteils
vernagelte Fensterfront. Dort, wo die Scheiben noch intakt waren,
verhinderte der Schmutz einen Blick ins Innere. Livia duckte sich
unter den Fenstern und lief in gebückter Haltung bis zur Ecke. Die
Schmalseite des Hauses bildete mit der Mauer des
Nachbargrundstücks eine Gasse. Eine windschiefe Tür hing in
rostigen Angeln. Nachdem sich Liv vergewissert hatte, dass die
schmale Zufahrt ebenso menschenleer war wie der Hof, huschte sie
zu dieser Tür. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Es gab nur zwei
Gebäude – Marisa musste also hier sein. Und Rey auch.
Die Türklinke war festgerostet und ließ sich keinen Millimeter
bewegen, doch zu Livias Überraschung konnte sie in die Lücke
zwischen vermoderndes Holz und Mauer greifen und die Tür mit
einem leisen Schaben aufziehen. Im Zeitlupentempo vergrößerte sie
den Spalt so weit, dass sie ins Innere spähen konnte. Hier herrschte
totale Stille.
Vor Anspannung zitterte sie am ganzen Körper, als sie sich in das
Gebäude schob. Ein Berg von Gerümpel versperrte den Weg, es
sah aus, als hätte über die Jahrzehnte jeder einfach alles, was nicht
mehr benötigt wurde, durch die Tür geworfen.
Die schmutzgrauen Scheiben ließen kaum Licht hinein und so
tastete Livia sich mehr vorwärts, als dass sie sah, wohin sie trat.
Mehrfach stöhnte sie verhalten auf, weil ihr Fuß auf eine scharfe
Kante oder etwas Spitzes traf. Einmal konnte sie einen Schrei nicht
unterdrücken, als ihr Fuß in einem knirschenden Haufen Scherben
landete, der sich vor einem eingeschlagenen Fenster gesammelt
hatte. Als sie den nächsten Schritt machte, durchzuckte sie ein
stechender Schmerz so heftig, dass ihr kurz schwarz vor Augen
wurde. Stöhnend lehnte sie sich an die Wand und hob ihren Fuß. Ein
Glassplitter ragte auf Höhe des Mittelfußes aus der verdreckten
Haut. Liv fluchte tonlos, biss sich auf die Lippe und zog die Scherbe
heraus. Sie humpelte weiter, kam jetzt jedoch noch langsamer
voran, da sie nur noch mit der Außenkante ihres Fußes auftreten
konnte. So würde sie Marisa nie finden. Kurzerhand zog sie ihr Shirt
über den Kopf, nestelte das Necessaire mit der Schere aus dem
Gurt und schnitt einen Streifen Stoff ab, bevor sie wieder in das
Kleidungsstück schlüpfte.
Der Gedanke durchzuckte sie, dass sie gerade ein 150-Dollar
Oberteil in Verbandsmaterial verwandelte. Marisa hatte das edle Teil
noch mit dem Preisschild aus dem Schrank gezogen und sicher
nicht geplant, dass es Stunden später in Fetzen geschnitten Livias
blutige Füße schützen musste. Doch die Idee erwies sich als
hervorragend. Liv konnte sich durch den provisorischen Verband
sicherer und rascher einen Weg durch das Gerümpel bahnen und
nachdem sie es umrundet hatte, fiel ihr eine Veränderung auf, die
Anlass zu neuer Hoffnung war: Die dem RMagic zugewandte Hälfte
des Gebäudes war wesentlich gepflegter, als der Teil, durch den sie
sich hindurchgekämpft hatte.
Jemand hatte in jüngerer Zeit Mauern hochgezogen und
Lagerräume geschaffen. Kleine Abteile, ein jedes mit einem Rolltor
verschlossen, doch keines verriet, ob sich Rey und Marisa hinter
einem davon verbargen. Sie nahm sämtliche Tore unter die Lupe,
lauschte hinein, versuchte durch Schlitze zu spähen. Einmal meinte
sie, Schritte zu hören, ein anderes Mal Stimmen. Dann wurde ihr
bewusst, dass die Straße nicht weit entfernt war. Die Geräusche
drangen von draußen zu ihr herein. Hier drinnen blieb es totenstill.
Sie war allein.
Am anderen Ende der Halle gab es ein Tor in Richtung Straße, ein
weiterer Durchgang führte zum RMagic. Sie befand sich offenbar im
Lager des Clubs, aber ein schallisoliertes Büro entdeckte sie nicht.
Sie hatte in jeden Gang gespäht, hatte das gesamte Gebäude
einmal durchquert, doch erfolglos. Liv lehnte den Kopf gegen die
kühlen Steine und schloss die Augen. Ihre Wangen brannten von
den Schlägen, hinter ihrer Stirn pochte es und die Enttäuschung
zehrte ihre letzten Kraftreserven auf. Wie gerne wäre sie einfach hier
sitzen geblieben und hätte auf das Eintreffen von Greg gewartet.
Wo blieb bloß das versprochene Rettungsteam? Sie ahnte, dass
es länger dauern würde, wenn Greg die örtliche Polizei umgehen
musste. Aber Greg wusste schließlich, dass Marisas Leben in akuter
Gefahr war. Hatte sie sich doch in ihm getäuscht? Hatte er sie
angelogen? Die alten Zweifel ätzten sich den Weg durch ihre
Gedanken, weckten jedoch auch neue Energie, als ihr klar wurde,
dass sie sich nicht auf Greg verlassen durfte. Sie musste Marisa
finden! Mit oder ohne Hilfe.
Entschlossen richtete sie sich auf und öffnete die Augen. Im
gleichen Moment registrierte sie zwei Dinge: Die Durchgangstür zum
RMagic stand jetzt offen. Und sie blickte in den Lauf einer
Maschinenpistole.
12.

Livia erstarrte. Auch wenn sie hätte weglaufen wollen, hätte sie es
nicht gekonnt, ihre Beine waren wie gelähmt. Selbst ihr
Schreckensschrei blieb in der Kehle stecken und heraus kam nur ein
seltsam erstickter Quieklaut.
Ein zweiter Mann trat aus dem Schatten des geöffneten
Durchgangs, ihm folgten lautlos weitere Personen, die in diverse
Richtungen ausschwärmten. Alle mit martialischem Aussehen,
schwarz gekleidet und bewaffnet. Erst allmählich sickerte Begreifen
in Livias Verstand. Das mussten die Spezialkräfte sein, ihre Rettung.
Vor Erleichterung wurde ihr schwindelig, haltsuchend lehnte sie sich
an die Wand.
»Schön langsam«, sagte der Mann, der die Halle an zweiter Stelle
betreten und der seine Waffe inzwischen weggesteckt hatte. Sein
Blick glitt über ihre verheulten Augen, die geschwollene Wange, das
abgerissene Shirt, und blieb schließlich an ihren dilettantisch
bandagierten Füßen hängen.
»Miss Riggs?«, schlussfolgerte er und meldete nach ihrem Nicken
in ein verstecktes Mikrofon: »Eine der Frauen haben wir.« Er
lauschte und fragte dann: »Livia oder Marisa?«
»Livia« flüsterte sie, räusperte sich, dann noch einmal lauter:
»Livia Riggs.«
Der Mann gab die Information weiter. »Können Sie laufen?«,
wandte er sich erneut an sie.
Wieder nickte Livia und ließ zu, dass er ihren Arm nahm, und sie
zum Ausgang führte. Jemand war inzwischen dabei, das große
Rolltor hochzufahren und vor Livia eröffnete sich eine Kulisse aus
Einsatzfahrzeugen, blinkenden Lichtern und herumhuschenden
Menschen. Das Ganze spielte sich nahezu geräuschlos ab, sodass
sie einen Moment lang den Eindruck hatte, einen Stummfilm zu
betrachten. Der Mann dirigierte sie in Richtung einiger
Krankenwagen, die am äußeren Rand des Geschehens warteten,
doch Liv blieb auf halbem Weg stehen.
»Ich muss erst wissen, was mit meiner Cousine ist.«
»Während die Jungs Marisa suchen, kannst du dich durchchecken
lassen«, schlug jemand mit einer warmen Stimme hinter ihr vor.
Livia wirbelte herum und wurde sofort an eine muskulöse Brust
gezogen. Selbst wenn sie die Stimme nicht erkannt hätte – Gregs
Duft war unverwechselbar. Sie presste sich an ihn, als wollte sie mit
ihm verschmelzen. Seine Arme, die sie umschlangen, gaben
Sicherheit, während sein Herz beruhigend gleichmäßig – wenngleich
vielleicht etwas schnell, aber stark und verlässlich – schlug. Und als
er immer wieder heiser »Liv« flüsterte und Küsse auf ihren Scheitel
drückte, kamen Livia, von Gefühlen überwältigt, nun doch die
Tränen, die sie die ganze Zeit über unterdrückt hatte.
»Du bist gekommen«, schluchzte sie. »Du bist wirklich
gekommen.«
»Natürlich bin ich das.« Greg klang befremdet. Er schob sie eine
Armlänge von sich weg, um ihr in die Augen zu sehen. »Hast du nur
einen Augenblick gedacht, ich würde dich in dieser Situation im Stich
lassen?«
Er sah so erstaunt und auch gekränkt aus, dass Livia der
Gedanke mit einem Mal selbst absurd erschien. Als er seine Hände
um ihr Gesicht legte und sie mit seinen Augen liebkoste, wusste
Livia nicht, wie sie je an ihm hatte zweifeln können.
Sanft strich er mit seinem Daumen über ihre Lippe. »Du hast
geblutet«, stellte er stirnrunzelnd fest. »Und deine Wange ist
geschwollen.«
»Rey hat mich geschlagen«, erklärte Liv, woraufhin sich Gregs
Miene verfinsterte.
»Der soll froh sein, wenn ich ihn nicht in die Finger bekomme«,
knurrte er, dann fiel sein Blick auf Livs Füße. An einer Seite war der
getrocknete Blutrand auf dem geknoteten Stofffetzen deutlich
sichtbar. »Was ist da passiert?«
»In Glas getreten.«
Greg runzelte die Stirn. »Barfuß?«
»Schon mal versucht, mit Pumps zu schleichen?«, erwiderte Livia
mit dem Anflug eines Grinsens.
»Nein«, lachte Greg, »solches Schuhwerk trage ich nur selten.«
Dann legte er ohne weitere Ankündigung einen Arm unter ihre
Beine, einen in ihren Rücken und hob sie hoch. »Das wird sich jetzt
ein Arzt ansehen«, bestimmte er.
»Aber Marisa!«, protestierte Liv.
»Ich erkundige mich, während du dich untersuchen lässt.«

»Risa!« Nichts konnte Livia mehr aufhalten, als ihre Cousine nach
einer endlosen Zeit bangen Wartens auf einer Rolltrage zu einem
der wartenden Krankenwagen geschoben wurde. Sie stürzte an dem
verdutzten Sanitäter und Greg vorbei auf Marisa zu.
Ihre Cousine sah erbarmungswürdig aus, ein Auge war
zugeschwollen, die Wange darunter knallrot und die Lippe an
mehreren Stellen aufgeplatzt. Dennoch lächelte Marisa tapfer. Ihr
Blick blieb an Livias ramponiertem Shirt hängen. »Erinnere mich
daran, dir nie wieder Klamotten zu leihen«, sagte sie und versuchte
ein missglücktes Grinsen.
Liv sah das Blitzen in ihren Augen, zumindest soweit das unter der
Schwellung zu erkennen war. Sie grinste zurück. »Schon mal selbst
in den Spiegel geschaut? Du siehst auch nicht besser aus. Blut lässt
sich verdammt schlecht herauswaschen.« Sie liebte ihre Cousine in
diesem Moment für dieses Geplänkel. Das Signal an sie, sich keine
Sorgen zu machen. Erleichtert lehnte sie sich mit ihrem Rücken an
Greg, der hinter sie getreten war und jetzt seine Arme um sie legte.
»Pass auf sie auf«, sagte Marisa zu Greg, während sie an den
beiden vorbeigerollt und in den Krankenwagen geschoben wurde.
Sie wirkte nicht überrascht, den Staatsanwalt so vertraut mit ihrer
Cousine zu sehen. Zum Glück schien sie auch nichts mehr gegen
die Beziehung zu haben, nun da die Sache hoffentlich ausgestanden
war. Apropos …
»Was ist mit Leonard Meyers?«, fragte Liv und drehte sich in
Gregs Armen, sodass sie ihm ins Gesicht schauen konnte.
»Darum kümmere ich mich, wenn du im Krankenhaus bist.« Mit
diesen Worten hob er sie erneut auf den Arm und setzte sie erst im
Krankenwagen wieder ab. »Warten Sie bitte noch einen Moment«,
bat er die Sanitäter und warf Livia einen strengen Blick zu. »Du
bleibst jetzt da drin sitzen.« Einige Augenblicke später kam er
wieder. »Mein Wagen wird zum Krankenhaus gebracht, ich kann bei
dir mitfahren. Während du verarztet wirst, regle ich den Rest.«

Livia spähte in die Anmeldung der Notaufnahme. Sie saß in einem


kleinen Behandlungsraum, aber weil ständig irgendeine
Krankenschwester oder ein Pfleger herein- und wieder hinauseilte,
während sich ein junger Arzt an ihrem Fuß zu schaffen machte, blieb
die Tür geöffnet. So konnte sie Greg ungehindert beobachten, der
vor dem Wartebereich auf und ab lief, eine Freisprecheinrichtung im
Ohr und eine Hand am Hinterkopf. Aufgeregt fuhr er sich
unaufhörlich über den Nacken. Ihn so zu sehen, weckte in Livia den
Impuls, dass sie es sein wollte, die ihre Finger in seinen Haaren
versenkte und verstrubbelte.
Als hätte er ihre Blicke gespürt, drehte er sich in diesem
Augenblick um. Selbst auf diese Distanz erkannte Liv, wie
beunruhigt er war. Dennoch lächelte er sie an, als der Arzt ihm ein
Zeichen gab, dass er zu ihr durfte.
»Na, wieder zusammengeflickt?«, neckte er sie, während er
zärtlich und sehr behutsam über ihre Wange strich. Das leichte
Kitzeln ließ Livia wohlig erschauern. Vergessen waren die
Schmerzen. Sie wollte ihr Gesicht in diese kräftigen Hände
schmiegen, von ihnen berührt, liebkost und beschützt werden. Das
Verlangen nach ihm flammte so jäh in ihr auf, dass sie Greg nur
anstarren konnte. Wenn sie Gregs Miene richtig deutete, standen ihr
die überwältigenden Emotionen allzu deutlich ins Gesicht
geschrieben. Seine Mundwinkel zuckten erst amüsiert, dann wurde
sein Ausdruck so liebevoll, dass sich ein großes Knäuel aus Wärme
und Glück hinter Livias Brustbein ausbreitete. Ihre Blicke verwoben
sich, bis sie ein belustigtes Räuspern wieder in die Realität
zurückholte.
»Ich würde die Patientin jetzt nach Hause entlassen können,
sofern sichergestellt ist, dass sie das Bein nicht belastet«,
unterbrach der Arzt ihren stummen Dialog, in dem Greg ihr
versicherte, auf sie achtzugeben und Liv ihn dafür ein kleines Stück
weiter in ihr Herz ließ.
»Ich habe den Schnitt desinfiziert, geklebt und vorsichtshalber
zusätzlich genäht«, fuhr der Arzt fort, »jetzt darf sie ein paar Tage
nur mit der Ferse auftreten, am besten aber gar nicht laufen.
Schwimmen und Baden sind streng verboten, beim Duschen
wasserfest verpacken.« Er sah von Livia zu Greg und wieder zurück.
»Kann sich jemand um Miss Riggs kümmern?«
»Und wie ich mich kümmern werde.« Der Blick, den Greg ihr
zuwarf, traf Livia mitten ins Herz und erstickte jeden aufkeimenden
Widerstand. Der ohnehin gering ausgefallen wäre, denn Livia graute
davor, nachher allein in Marisas Haus zurückzukehren. Ihre Cousine
wurde noch untersucht, sie war gerade im CT, wie Greg wusste,
doch bereits jetzt konnten die Ärzte sagen, dass Marisa einige Tage
im Krankenhaus verbringen würde.
»Ich werde mich aber nicht von der Stelle rühren, bevor ich nicht
weiß, was mit Marisa ist«, sagte Livia mit entschlossener Stimme
und zu ihrer Überraschung versuchte Greg nicht einmal, sie
umzustimmen. Wenige Augenblicke später hatte der junge Arzt
einen Rollstuhl für Livia organisiert und Greg herausgefunden,
welches Zimmer für Marisa vorgesehen war. Dorthin schob er Liv
nun.
Während Greg sich auf die Suche nach Kaffee und etwas zu
Essen machte, griff Livia nach ihrem Smartphone, holte tief Luft und
brachte ihrer Tante schonend bei, dass Marisa im Krankenhaus war.
Obwohl Livia die erschreckendsten Details verschwieg und nur vage
etwas von »Opfer eines Angriffs« sagte, reagierte Trisha
erwartungsgemäß geschockt und versprach, sofort zu kommen.
Livia überlegte kurz, ob Marisa besonders glücklich über Trishas
Erscheinen sein würde, aber Trishas Ärger – und schlimmer noch
den ihrer Eltern – den sie sich zugezogen hätte, wenn sie Marisas
Mutter nicht informiert hätte, wollte sie keinesfalls riskieren.
Außerdem hatte Marisa angekündigt, ihr Leben ändern zu wollen.
Bei Trisha reinen Tisch zu machen, schien da ein guter Anfang. Und
Livia würde ihre Cousine ohnehin keinen Tag länger decken, das
stand nach alldem fest. Hätte sie von Beginn an anders reagiert und
den absurden Plan, sich bei Rey als Marisa auszugeben, gleich
abgelehnt, wäre das alles nicht passiert. Wie hatte sie nur so
jämmerlich klein beigeben können?
»Was guckst du denn so gequält?« Greg stellte ein Papptablett
mit zwei großen Kaffeebechern, einer Tüte voller Donuts und einer
Wasserflasche neben Liv auf den Tisch.
»Ich könnte mich ohrfeigen für meine Schwäche.« Liv schüttelte
traurig den Kopf. »Wenn ich mich stärker gegen Marisa aufgelehnt
hätte, wäre das alles nicht passiert.«
»Livia Riggs.« Greg klang mit einem Mal sehr bestimmt. Er ging
neben dem Rollstuhl in die Hocke und sah ihr tief in die Augen. »Du
hast es heute mit einem der skrupellosesten Verbrecher
aufgenommen. Das würde ich nicht schwach nennen. Abgesehen
davon …«, er hob die Hand und strich hauchzart über ihre Wange,
»bist du heute schon genug geohrfeigt worden, denke ich.«
Livia lächelte matt. »Trotzdem. Ich fühle mich schuldig.« Sie ließ
den Kopf hängen.
»Na, da hast du ja Glück, einen ausgewiesenen Experten für
Schuld vor dir sitzen zu haben.« Er legte den Kopf schräg und
bedachte sie mit einem Lausbubengrinsen, das ihr Herz ein paar
Takte schneller schlagen ließ. »Und deshalb erzählst du mir jetzt,
was heute geschehen ist. Vor allem würde mich brennend
interessieren, was ihr beiden schon wieder mit Rey zu schaffen
hattet. Wo du wusstest, wie gefährlich er ist.«
»Nicht zu gehen, wäre weitaus gefährlicher gewesen.«
»Wie meinst du das?«
Livia war klar, dass sie ihm diesmal alles offenlegen musste. Sie
begann stockend, suchte zunächst die richtigen Worte, Erklärungen
für Dinge, die sie selbst nicht ganz verstand, doch je länger sie
sprach, desto flüssiger wurde ihr Bericht. Sie beschönigte nichts und
schützte niemanden.
Greg hörte konzentriert zu. Er ließ sie reden, unterbrach sie nicht
und stellte erst am Ende Fragen. Zwischendurch, wenn es um Livia
und Rey ging, zogen sich seine Augenbrauen einige Male
bedenklich zusammen, darüber hinaus war seine Miene
undurchdringlich.
Livia wusste, dass sie gerade mit dem Staatsanwalt redete, aber
heute störte es sie nicht, im Gegenteil. Sie wünschte sich im
Augenblick kaum etwas sehnlicher, als dass Rey, Leonard und wer
immer noch in die Sache verwickelt war, geschnappt und verurteilt
würden und dieser Albtraum endlich ein Ende nahm. Irgendwann
konnte sie auf all seine Fragen nur noch mit einem erschöpften
Schulterzucken oder Kopfschütteln antworten. Stille senkte sich über
den Raum. Vom Gang klangen typische Krankenhausgeräusche zu
ihnen herein. Eilige Schritte, das Quietschen eines schlecht geölten
Rades, als ein Bett vorbeigeschoben wurde, irgendwo läutete ein
Telefon. Greg saß auf der anderen Seite des Tisches und schien mit
seinen Gedanken weit fort zu sein. Schließlich räusperte er sich.
»Lass uns später über den Rest reden«, sagte er. »Nur so viel
vorweg: Die Sache mit den Wanzen habe ich nicht abgesegnet. Wir
hatten im Team lediglich darüber gesprochen, über Leonard Meyers
oder seine Mädchen« – hier warf er Livia einen entschuldigenden
Blick zu – »an Simmons heranzukommen. Zumindest aber hofften
wir zu erfahren, wer der Maulwurf ist. Der Scheißkerl ist uns immer
einen Schritt voraus. Durchsuchen wir sein Lager – das wo du heute
auf die Einsatzkräfte gestoßen bist – finden wir darin nichts als
Bierfässer und andere Vorräte für das RMagic, obwohl jeder sehen
kann, dass diese Abteile geradezu danach schreien, anderen
Zwecken zu dienen. Wir wissen, dass er Waffen hat, Drogen
verkauft und Bargeld bunkert – doch wenn wir in sein Haus stürmen,
gibt es nicht einen einzigen Hinweis auf solche Dinge.«
»Mindestens eine Waffe findest du im Savannah River«, warf Livia
ein, die den Freitagabend bislang ausgespart hatte. Gregs
Augenbrauen schossen in die Höhe und Livia erzählte von dem
Zusammentreffen mit Rey.
»Warum erfahre ich davon erst jetzt?« Die steile Falte auf Gregs
Stirn versprach Ärger.
»Genau deshalb«, entgegnete Livia besänftigend. »Mir fehlt
einfach die Kraft, jetzt mit dir zu streiten und ich ahnte, dass du nicht
besonders fröhlich reagieren würdest, wenn ich den Freitagabend
erwähne.«
»Du hast recht, entschuldige.« Greg fuhr sich mit den Händen
durch das Gesicht. »Ich lasse gerade meine Frustration an dir aus,
das ist nicht fair. Meine Frustration und vielleicht auch ein kleines
bisschen meine Eifersucht.« Er stand auf, kam zu ihr und drückte ihr
einen Kuss auf die Lippen. »Sag mir, dass dir dieser Kerl nichts
bedeutet«, verlangte er und zupfte an ihrer Unterlippe.
»Wer? Rey?« Livia legte die Stirn in Falten.
»Unsinn. Der Typ von Freitag.«
Livia lachte auf. »Natürlich nicht. Ronan ist ein Freund von Myra
und Cole, deshalb war er dabei.«
»Wahrscheinlich sollte ich dankbar sein, dass er in der Nähe war.
Wer weiß, was Simmons sonst mit dir gemacht hätte.« Greg fuhr mit
seinem Daumen die Konturen ihrer Lippen nach. »Tut es sehr
weh?«, fragte er, als er vor der aufgeplatzten Stelle innehielt.
»Nein, es geht schon«, lächelte Liv. »Mach ruhig weiter.«
»Ich möchte etwas ganz anderes machen«, erwiderte Greg,
vergrub seine Hände in ihren Haaren und gab Livia einen
leidenschaftlichen Kuss. Seine Zunge drängte sich an ihre Lippen,
die Livia für ihn öffnete, um begierig auf seine Zärtlichkeiten
einzugehen. Sie vergaß alle Schmerzen und versank in seinen
Liebkosungen, bis die Tür aufgestoßen wurde und die muntere
Stimme einer Krankenschwester erklang: »So, hier bringe ich Ihnen
Ihre Cousine.«
Greg löste sich nicht sofort von ihr, sondern flüsterte: »Vergiss
nicht, wo wir waren – da machen wir nachher weiter. Und in Zukunft
beschütze ich dich.« Bei den letzten Worten blickte er Livia tief in die
Augen, dann richtete er sich auf, verschränkte jedoch seine Finger
mit ihren.
Marisa war inzwischen aus ihrem Rollstuhl ins Bett geklettert. Die
Krankenschwester kontrollierte den Tropf. »Wenn etwas ist, klingeln
Sie«, erklärte sie Marisa, nickte in die Runde und verließ den Raum.
Liv wollte aufspringen und zu Marisa eilen, doch Greg hielt sie an
der Schulter zurück. »Sitzenbleiben«, ordnete er an und schob sie
im Rollstuhl bis zum Bett.
Marisa verzog das Gesicht zu einem kläglichen Lächeln. »Schön,
euch zwei zu sehen.« Sie war leichenblass unter den Prellungen.
»Wie geht es dir?«, fragte Livia, den Tränen nah, als sie ihre
Cousine in diesem Zustand sah. »Was haben die Ärzte gesagt?«
»Joch- und Nasenbein sind angebrochen, aber nicht durch. Das
heilt von selbst wieder. Außerdem eine Gehirnerschütterung und
eine Rippenprellung. Kurz gesagt: Ich sehe aus, als sei ich mit
einem Containerschiff im Savannah River kollidiert und genauso
fühle ich mich irgendwie auch.« Sie versuchte erneut ein Lächeln,
das misslang.
»Es tut mir so leid.« Eine einzelne Träne fand nun doch den Weg
über Livias Wange und sie schluckte, damit keine zweite folgte.
»Kann ich irgendetwas für dich tun?«
»Es reichte mir schon, zu wissen, dass dieses Arschloch Rey aus
dem Verkehr gezogen wurde. Ist er doch?« Marisas Augen
wanderten hoffnungsvoll zu Greg. »Und Leonard Meyers auch?«
Der Staatsanwalt nickte. »Rey haben wir festgenommen. Und nun
kennen wir auch sein geheimes Büro. Da es auf dem
Nachbargrundstück liegt und in keinen Papieren auftaucht, hatte
niemand auf dem Schirm, dass es zu Simmons gehörte, deshalb hat
sich dort nie jemand umgesehen. Das wird gerade gründlich
nachgeholt, ich habe die entsprechenden Beschlüsse vorhin
beantragt und sofort erhalten. Nun werden wir endlich genügend
Beweise zusammentragen.« Er kratzte sich am Hinterkopf. »Zu
Meyers kann ich leider nicht viel sagen. Er ist noch nicht
vernehmungsfähig. Raul hat ihn ganz schön bearbeitet. Er sollte
wohl aus ihm herausprügeln, wie viel er der Polizei verraten hat.
Aber er wird überleben.«
Marisa verzog das Gesicht. »Also stecke ich immer noch in der
Sch… ich meine in der Klemme.«
Greg warf Marisa einen ernsten Blick zu. »Wirst du gegen Meyers
aussagen?«
»Das Problem ist ein anderes – keines von uns Mädchen kann
etwas sagen.« Marisa zupfte an ihrer Bettdecke herum, bevor sie
aufsah und Greg einen gequälten Blick zuwarf. »Leonard hält sich
stets bedeckt. Droht er uns? Ja, unterschwellig schon, aber niemals
vor Zeugen oder so direkt, dass ihn ein guter Anwalt da nicht sofort
wieder herausquatscht. Nimmt er Drogen? Nach allem, was man
hört, ja. Aber selbst gesehen habe ich es noch nie.« Sie biss sich auf
die Lippe und stöhnte auf. »Glaube mir, ich würde dir wirklich alles
sagen, was ich weiß. Ich wünsche mir nichts mehr, als auszusteigen
und von vorne beginnen zu können.« Ihre Stimme klang dünn und
brüchig.
Livia beugte sich vor und streichelte ihrer Cousine über das
Gesicht. »Irgendetwas fällt uns ein.«
Greg nickte grimmig. »Wir werden Meyers ebenfalls zur Strecke
bringen.« Er trat hinter Liv und legte ihr die Hände auf die Schultern.
»Jetzt muss ich mich um Rey und Raul kümmern. Da wartet ein
Berg Arbeit auf mich. Raul ist noch auf freiem Fuß, er ist entwischt,
als die Einsatzkräfte bei Meyers auftauchten. Und die Sache mit
dem Maulwurf ist auch nicht geklärt.« Er beugte sich nach unten und
drückte Livia einen Kuss aufs Haar. »Ich bin eine Weile im Büro. Soll
ich dich vorher zu mir fahren, oder möchtest du hier auf mich
warten?«
»Ich bleibe hier, bis Risas Mutter da ist«, entschied Livia. »Du
musst mich nicht chauffieren, du hast genug zu tun. Fang du die
fiesen Kerle und ich nehme mir ein Taxi.«
Greg drehte Liv in ihrem Rollstuhl zu sich herum und ging vor ihr
in die Hocke. Seine Augen glänzten warm, als er ihr Gesicht
zwischen seine Hände nahm und sie eindringlich ansah. »Ich habe
dir gerade versprochen, auf dich achtzugeben«, sagte er mit fester
Stimme. »Ich meine das völlig ernst. Solange Raul auf freiem Fuß
ist, möchte ich nicht, dass du allein durch die Gegend humpelst.
Zumal der Arzt dir das ohnehin verboten hat. Du wirst also schön
brav bei deiner Cousine warten. Hier im Krankenhaus sind viele
Menschen, da seid ihr sicher.« Er drückte Livia einen Kuss auf den
Mund. »Ich beeile mich.«
»Da hat es aber jemanden erwischt«, feixte Marisa, nachdem
Greg sichtlich widerstrebend das Krankenzimmer verlassen hatte.
»Meinst du wirklich?« Livia konnte nicht leugnen, dass ein
Schwarm von Schmetterlingen bei diesem Gedanken begeistert in
der Magengegend aufstob.
»Oh Livi«, kicherte ihre Cousine. »Wenn du das nicht siehst,
musst du noch eine Menge über Männer lernen.«

Als jemand seine Hand auf ihre Schulter legte, schreckte Livia hoch.
Die Cousinen hatten über die Geschehnisse des Abends reden
wollen, jedoch waren beide, benommen von den Schmerzmitteln,
eingeschlafen und Livias Kopf war auf Marisas Matratze gesackt. Ihr
Rücken schmerzte von der unbequemen Haltung. Mit einem
unterdrückten Stöhnen setzte sie sich auf und drehte sich um, in der
Erwartung, Greg wäre zurückgekehrt. Doch es war Tim, Drews
Partner, der sie anlächelte.
»Hi Livia«, grüßte er. »Entschuldige, ich wollte dich nicht
erschrecken. Wie geht es euch beiden?«
»Hi. Danke, es geht. Wir hatten ziemliches Glück.«
»Das kann man wohl sagen.« Er sah sorgenvoll aus. »Aber noch
ist nicht alles ausgestanden. Raul ist weiterhin nicht gefasst.
Deshalb kann Greg dich nicht wie versprochen abholen. Ich soll das
für ihn übernehmen.«
Livia rollte mit den Augen. »Als ob du nichts anderes zu tun
hättest. Ich habe Greg doch gesagt, ich kann ein Taxi nehmen.«
Tim grinste. »Du kennst ihn doch. Immer besorgt. Ich mache das
gerne. Kommst du?« Er drehte sich auffordernd zur Tür.
Livia zögerte. Sie wollte eigentlich auf ihre Tante warten.
Andererseits schlief Marisa. Sie hatte sich kaum gerührt, als Tim und
sie sich unterhalten hatten. Und Livia sehnte sich nach einer Dusche
und einem Bett. Also nickte sie. Den Rollstuhl mussten sie auf der
Station zurücklassen, aber mit Tims Hilfe, der sie stützte, konnte sie
leidlich gut laufen. Das Krankenhaus hatte ihr Schlappen zur
Verfügung gestellt, darin watschelte sie zwar wie eine Ente, aber sie
kam von der Stelle. Er führte sie an der Haltebucht für
Dienstfahrzeuge vorbei auf den hinteren Teil des Parkplatzes.
»Entschuldige, ich habe nicht dran gedacht. Ich hätte mich ja auch
hier vorne hinstellen können«, sagte Tim.
»Geht schon.« Bevor es zu anstrengend wurde, standen sie zum
Glück vor Tims Auto. Es war offenbar sein Privatfahrzeug. Livia
rümpfte heimlich die Nase, als sie den kalten Rauch einatmete, der
sich in die Polster gefressen hatte, doch sie ließ sich nichts
anmerken. Immerhin spielte Tim für sie den Chauffeur. Liv lehnte
sich lächelnd zurück, während sich Tim in den abendlichen Verkehr
einfädelte. Sie freute sich auf Gregs Wohnung. Endlich würde sie die
Aussicht auf den Fluss beim Frühstück bewundern können. Sie
achtete erst wieder auf die Gegend, als sie über
schlaglochdurchsetztes Kopfsteinpflaster holperten und seitlich der
Straße heruntergekommene Lagerhallen und vernagelte
Fensteröffnungen das Bild prägten.
»Wo sind wir?« Sie richtete sich abrupt auf. »Hier geht es doch
nicht zu Greg!« Ein ungutes Gefühl breitete sich jäh in ihr aus, aber
Tim lächelte beruhigend.
»Keine Sorge. Ich bin bei dir, um auf dich aufzupassen, schon
vergessen?« Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Kein Wunder, dass
du nach einem solchen Tag nervös bist, doch dir passiert hier nichts.
Ich nehm dich mit auf mein Boot, da kann ich besser auf dich
achtgeben.«
»Aber Greg hat doch gesagt …«
»Greg hat gesagt, ich soll dafür sorgen, dass Raul dich nicht in die
Finger bekommt und das mache ich auf meine Weise.«
Tim klang ungeduldig und Livia verkniff sich eine weitere
Diskussion, völlig überzeugt war sie allerdings nicht. Dennoch hatte
sie keine Wahl als auf Tims Boot zu humpeln, während er sie vor
sich herschob. Es war ein alter Kutter und Livia war froh, dass er fest
vertäut im hinteren Bereich des Hafens dümpelte. An seiner
Seetüchtigkeit hatte sie erhebliche Zweifel.
»Setz dich doch«, sagte Tim und deutete auf eine
durchgesessene Bank in der kleinen Kajüte. »Möchtest du etwas
trinken?«
Livia zog es vor, dieses Angebot auszuschlagen. Das Schiff war
im Inneren genauso ungepflegt wie außen und sie hatte Bedenken,
ob Tassen und Gläser auch nur einen Deut sauberer wären.
Tim angelte sich eine Bierflasche aus einer Kühltruhe und setzte
sich dann rittlings auf einen Stuhl. Das Kinn auf die Lehne gestützt,
sah er sie forschend an. »Nun erzähl mal, was heute passiert ist.«
Livia hatte eigentlich keine Lust, schon wieder darüber zu reden,
aber wollte nicht unhöflich sein. Also gab sie eine knappe
Zusammenfassung.
»Ich verstehe nur nicht, warum Greg uns komplett außen vor
gelassen hat«, sagte Tim hörbar gekränkt. »Wir arbeiten seit
Monaten als Team. Greg, Drew und ich gegen die Unterwelt.« Er
lachte, als hätte er einen großartigen Witz gemacht. »Und nun zieht
er es auf der Zielgeraden allein durch. Hast du eine Ahnung
warum?«
Die hatte Liv, aber sie würde den Teufel tun, ihm das zu verraten.
Ihr missfiel der lauernde Unterton, der sich in Tims Stimme
geschlichen hatte. Seine lässige Haltung täuschte nur ungenügend
darüber hinweg, dass er angespannt wie eine Bogensehne auf ihre
Antwort wartete. Ihr Unwohlsein stieg. Gerade als sie entschieden
hatte, sich ein Taxi zu rufen und nach Hause zu fahren, erklangen
Schritte auf der Holzplanke.
»Tim?«, ertönte eine gedämpfte Stimme. »Bist du da?«
»Fuck!«, fluchte Tim. »Rühr dich nicht von der Stelle«, befahl er
Livia und stürzte nach draußen. Livia saß mit rasendem Herzen in
ihrer Ecke. Sie verstand nicht, was die Männer dort aufgeregt
miteinander tuschelten, doch eines hatte sie begriffen: Sie saß
gewaltig in der Klemme. Denn die Stimme des unerwarteten
Besuchers hatte sie erkannt. Es war Raul.
13.

Livias Puls rauschte in den Ohren, während sie fieberhaft


nachdachte. Wie konnte es sein, dass Raul sie hier aufspürte? Nicht
einmal Greg wusste vermutlich genau, wo sie sich befand.
Was, wenn Tim ihn nicht aufhalten konnte? Viel schlimmer: Was,
wenn er ihn gar nicht aufhalten wollte? Immer klarer drängte sich ein
Gedanke vom Rande ihres Bewusstseins in den Mittelpunkt: Rauls
Auftauchen hatte Tim eindeutig erschreckt, doch hatte sich Rauls
Tonfall nach einer gewöhnlichen Frage und keineswegs nach
Drohung angehört. Livia sah die Männer draußen im Zwielicht der
Kaibeleuchtung miteinander reden. Es wirkte aufgeregt, aber nicht
feindselig. Ihr wurde schlecht, als sie endlich begriff, was sie besser
schon vor einer Stunde hätte begreifen sollen. Der Maulwurf war
jemand aus Gregs Team. Jemand wie Tim.
Hektisch fummelte sie ihr Smartphone aus dem Fitnessgurt.
Vorhin im Krankenhaus hatte sie ihn ablegen wollen, jetzt war sie
froh, es nicht getan zu haben. Sie wählte Gregs Nummer – und
stöhnte auf, als nur seine Mailbox antwortete. Gerade wollte sie
draufsprechen, da sah Tim in ihre Richtung. Schnell nahm sie das
Telefon unter den Tisch. Bevor Tim etwas mitbekam, musste sie
Greg irgendwie informieren. Mit fliehenden Fingern tippte sie eine
Nachricht. ›Tim hat mich auf sein Boot gebracht. Maulwurf? Raul ist
hier. Hilfe!‹
Sie drückte auf Senden, stellte das Handy lautlos und wollte es
unter ihrem Shirt verschwinden lassen, als Tim in die Kabine
zurückkam.
»Alles klar«, sagte er leichthin. »Das war nur ein Kumpel, der ein
Bier mit mir trinken wollte. Ich habe ihn weggeschickt.«
»Ja, dann«, gab Livia sich arglos. Ahnte er tatsächlich nicht, dass
sie Raul erkannt hatte?
»Möchtest du nicht doch etwas trinken?«, erkundigte sich Tim.
»Meinst du denn, es dauert noch länger bei Greg? Vielleicht
kannst du mal nachfragen?«
»Nein, wenn er in seine Arbeit vertieft ist, darf man ihn nicht
stören. Wir können später … Hey, was hast du da?« Tim hatte das
Telefon entdeckt, das neben Liv auf der Bank lag. Sie hatte es nicht
weit genug hinter sich geschoben und nun zeigte ein blinkendes
Licht den Eingang einer Nachricht an.
»Gib das mal her!« Auffordernd streckte Tim den Arm aus.
»Warum?« Livia spielte noch immer die Ahnungslose.
»Gib schon her!« Tims freundliche Fassade begann zu bröckeln,
seine Gesichtszüge verhärteten sich, als er einen Schritt auf Livia
zutrat.
Sie griff nach ihrem Handy, ließ es dabei jedoch scheinbar
ungeschickt unter den Tisch fallen. Tim stieß eine leise
Verwünschung aus und bückte sich, um es aufzuheben. In diesem
Augenblick trat Livia, so fest wie sie konnte, gegen seinen Kopf. Mit
einem Aufschrei taumelte Tim zurück, ging allerdings nicht zu
Boden. Aber die gewonnenen Sekunden reichten Livia, um sich über
den Tisch zu stemmen und aus der Kajüte zu stürmen. Am Ende der
Gangway wartete noch immer Raul, hinter ihr tauchte Tim in der Tür
auf. Livia überlegte nicht lange und hechtete mit einem Kopfsprung
über Bord.
Die Wellen klatschten über ihr zusammen und die Kälte raubte ihr
für einen Augenblick den Atem, doch sie war Tim und Raul für
diesen Moment entkommen. Allerdings glaubte sie nicht daran, dass
die beiden einfach aufgeben würden. Zu viel stand auf dem Spiel
und ihre Position war wenig komfortabel. Der Savannah River
umspülte sie kalt und schwarz und Livia wusste, dass die
Unterströmung gefährlich war. Ewig würde sie es so nicht aushalten.
Sie versuchte, so lange wie möglich zu tauchen. Fast rechnete sie
damit, dass ihr wie in einem Krimi die Kugeln um die Ohren fliegen
würden, doch alles blieb still. Als sie den Kopf vorsichtig aus dem
Wasser hob, sah sie eine starke Taschenlampe über die wellige
Oberfläche des Flusses huschen. Die waren nicht dumm genug,
wahllos zu schießen, sondern suchten gezielt. Tim vom Boot aus
und Raul entlang des Ufers an Land, wie Liv zu ihrem großen
Schrecken feststellte, als nun ein zweiter Lichtstrahl über das
gluckernde Schwarz irrte.
Sie trat lautlos Wasser, mit ausladenden Bewegungen zu
schwimmen traute sie sich nicht, da der Fluss nur leise gegen die
Spundwände gurgelte und jedes Geräusch durch die Stille der Nacht
verstärkt wurde. Einmal kam der Lichtkegel gefährlich nah und Liv
tauchte ab, bis der Schein über sie hinweg gestrichen war. Die Kälte
kroch allmählich unter die Haut und der auslaugende Tag forderte
zusätzlich seinen Tribut. Hoffentlich gaben die Kerle auf, ehe ihre
Kraft gänzlich verbraucht war. Danach sah es allerdings nicht aus.
Im Gegenteil – soeben ging die Deckbeleuchtung auf Tims Kutter an
und Livia konnte mit wachsendem Entsetzen dabei zusehen, wie Tim
an einem Schlauchboot hantierte, das er offenbar zu Wasser lassen
wollte.
In diesem Augenblick ertönten die Sirenen sich nähernder
Polizeifahrzeuge. Das Tuckern eines Motors kündigte ein Boot an,
das sich einen Moment später in Livias Sichtfeld schob. Sie hätte vor
Erleichterung weinen können, als sie die Polizisten darauf erkannte.
Dem Gebrüll nach zu urteilen, gab Raul nicht widerstandslos auf,
als es plötzlich von Uniformierten auf dem Pier wimmelte. Tim nahm
dagegen sofort die Hände über den Kopf und wartete, bis ihm
Handschellen angelegt wurden. Mit den Polizisten war ein großer
Mann auf das Boot geeilt, nun packte er Tim am Revers und
schüttelte ihn, fragte offenbar etwas und schubste ihn dann in die
Arme eines der Umstehenden, der ihn abführte. Die Gestalt fuhr sich
durch die Haare und Livias Herz machte einen Satz, als sie die
vertraute Geste erkannte. Greg! Er trat an die Reling und beugte
sich so weit hinüber, dass Livia für einen Moment befürchtete, er
würde sich in die Fluten stürzen, während sein verzweifelter Ruf
»Livia« durch die Nacht schallte.
»Hier!« Endlich löste sich Livia aus der Erstarrung und konnte auf
sich aufmerksam machen. Sie hob einen Arm, winkte und rief noch
einmal.
Greg gestikulierte einen Augenblick, wies in ihre Richtung, und
das sich nähernde Tuckern zeigte, dass die Polizisten Livia entdeckt
hatten. Dann rannte Greg von Bord, sprintete am Ufer entlang und
wartete schon am Anleger, als das Polizeiboot Livia dort absetzte,
die – obgleich dick in eine Decke gewickelt – am ganzen Körper
bebte. Nicht nur Kälte, auch Erschöpfung und Müdigkeit setzten ihr
zu. Sie konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten, als Greg sie
in die Arme schloss.
»Bring mich zu dir«, war das Einzige, was sie an Gregs Brust
gelehnt von sich gab, während er ihr über den Rücken strich, bis ihr
Zittern ein wenig abebbte.
»Meinst du nicht, du solltest ins Krankenhaus?«, erwiderte er
besorgt.
»Nein.« Liv sah zähneklappernd zu ihm auf. »Ich brauche heute
Nacht dich und deine Umarmung.«
Sein Lächeln ließ sie die Kälte vergessen. »Das sollst du haben.«

Sie hätte nicht sagen können, wie sie in Gregs Wohnung kam. Er
hatte sie getragen, das wusste sie noch und er hatte sie trotz ihres
gemurmelten Protests »ich bin ganz nass und dreckig« in sein
teures Auto gesetzt. An die Fahrt konnte sie sich nicht mehr
erinnern.
Sie wurde erst wieder wach, als Greg begann, sie auszuziehen.
Als seine warmen Hände sanft ihren BH und gleich darauf ihren Slip
abstreiften, blinzelte sie ihn an. Sie hatte nichts gegen seine
Berührungen, im Gegenteil, ein wohliges Gefühl hatte sofort von ihr
Besitz ergriffen, doch sie war zu erschöpft, um sich heute noch ihrer
Lust hinzugeben.
»Greg?«
»Ja?«
»Ich bin zu müde für Sex.«
Er schwieg einen Moment sichtlich verblüfft. Dann lachte er leise
auf. »Du glaubst, ich verführe dich gerade?«
»Nun, du hast dafür gesorgt, dass ich jetzt nackt bin.«
»Weil du halb erfroren und völlig durchnässt bist. Ich stecke dich
in die Badewanne und danach ins Bett.« Er beugte sich zu ihr und
küsste sie auf die Nasenspitze. »Den Teil mit dem Verführen hebe
ich mir für morgen auf.«
Ein seltsames Ziehen breite sich in der Magengegend aus, doch
zu Livias Überraschung wanderte es bei seiner Ankündigung nicht
Richtung Schoß, sondern erstrahlte in ihrer Brust. Der Klang seiner
liebevollen Stimme, die Wärme seiner Augen, all das war plötzlich
wichtiger, als die lustvollen Stunden, die er ihr in Aussicht stellte.
Obwohl sie nicht verleugnen konnte, wie sehr sie sich auch darauf
freute. Trotz ihrer Erschöpfung warf Livia ihm das sündigste Lächeln
zu, das sie noch fertigbrachte und erntete … ein breites Grinsen.
Gregs Mundwinkel zuckten.
»Machst du dich über mich lustig, du Schuft?« Livia kräuselte ihre
Stirn.
»Käme mir nie in den Sinn«, erwiderte Greg, drückte ihr einen
Kuss auf den Scheitel, hob sie hoch und trug sie ins Bad. »Ich habe
nur noch nie eine so hübsche Grimasse gesehen.«
Livia schmiegte sich an ihn und vergrub ihre Nase in seiner
Halsbeuge. Sie war glücklich, dass es nach all den üblen Gestalten
um sie herum jetzt nur noch nach Greg roch.
»Das sollte keine Grimasse sein«, nuschelte sie, während ihre
Augenlider immer wieder zufallen wollten. »Ich hatte vor, dir ein
verführerisches Lächeln zu schenken, damit du dein Versprechen
nicht vergisst.«
Er lachte laut auf, bevor sein Blick intensiver und seine Miene
ernster wurde. »Das werde ich nicht, Liv. Versprochen.«
Livia blickte zögernd auf das Badewasser, als er sie vor der
Wanne absetzte. »Meinst du, das ist okay mit dem Fuß?«
»Nicht schlimmer als ein Bad im Savannah River«, entgegnete
Greg trocken. »Wir lassen morgen einen Arzt draufgucken, wenn wir
Marisa besuchen.«
Die Selbstverständlichkeit mit der er das sagte, sandte eine
wohlige Wärme direkt in Livias Herz. Nie zuvor hatte sie sich so
behütet und umsorgt gefühlt. Statt in die Wanne zu steigen, legte sie
ihre Hände um Gregs Nacken und presste ihre Lippen auf seine. Es
störte sie nicht, nackt vor ihm zu stehen. Vergessen war, dass so
vieles zwischen ihnen ungeklärt war. Momentan gab es nur ihren
Wunsch, bei ihm zu sein. Sie brauchte die Geborgenheit seiner
Umarmung in diesem Augenblick mehr als alles andere auf der Welt.
Greg wirkte einen Moment überrumpelt, dann ging er auf das
fordernde Spiel ihrer Lippen ein. Er knabberte leicht an ihrer
Unterlippe und als sie den Mund für ihn öffnete, streichelte er sie zart
mit seiner Zungenspitze.
Liv klammerte sich an ihn, hielt die Hände hinter seinem Nacken
verschränkt, als würde ihn loszulassen einen Fall in ein tiefes Loch
bedeuten. Als Greg seine Lippen atemlos von ihr löste, sah er sie
durchdringend an. »Wofür war das?«
»Für das ›Wir‹. Weil du da warst, als ich nicht sicher war, ob du
kommen würdest. Weil du mich zweimal gerettet hast. Einfach, weil
ich deinen Körper an meinem spüren möchte.«
Greg sah sie ernst an. »Verstehe.« Dann nahm er behutsam ihre
Hände aus seinem Nacken, sah sie jedoch unverwandt an. Sein
Blick brachte ihr die Wärme zurück, die verschwunden war, als er
sich aus ihrer Umarmung löste. Noch immer hielt er sie mit den
Augen fest, während er sie bis zum Wannenrand schob und die
Wassertemperatur prüfte. »Angenehm. Leg Dich rein.«
Livia zögerte.
»Vertraue mir, ich weiß, was dir heute guttut.« Greg trat hinter sie,
platzierte einen Kuss in ihren Nacken, bevor er sie einfach hochhob
und ins Wasser gleiten ließ. Kaum lag Livia in der umhüllenden
Wärme, musste sie wieder gegen den Schlaf kämpfen. Sie
schmiegte ihre Wange in Gregs kräftige Hand, der sie vorsichtig mit
dem Daumen streichelte. Dort schmerzten noch die Folgen von
Reys Schlägen, dennoch genoss sie das Gefühl, wie Greg ihren
immer schwereren Kopf stützte.
»Du schläfst ja schon«, kommentierte Greg. »Ab mit dir ins Bett.«
Kurz darauf lag sie unter Gregs Bettdecke und wenig später legte
sich Greg zu ihr. Sie seufzte zufrieden, als er seinen Arm um sie
schlang und sie dicht an sich heranzog. »Du trägst ja ein T-Shirt«,
stellte sie vorwurfsvoll fest.
»Ja?« Gregs Mundwinkel kräuselten sich schon wieder.
»Das ist nicht fair, ich habe auch nichts an.«
Er lachte leise auf. »Das stimmt natürlich.« Mit einer
geschmeidigen Bewegung zog er das T-Shirt über den Kopf und
warf es aus dem Bett. »Besser?«
Trotz ihrer Müdigkeit konnte Livia dem Drang nicht widerstehen,
die Konturen seiner Muskeln mit den Fingerspitzen nachzuzeichnen.
Gregs Lächeln vertiefte sich, die Zärtlichkeit darin raubte Livia für
einen Moment den Atem. Zu ihrem Erstaunen unternahm Greg
keinerlei Versuche, ihren Körper zu erkunden. Er genoss sichtlich
ihre Berührungen, doch hielt er Livia einfach nur fest umschlungen
und streichelte sie beiläufig mit seinem Daumen.
»Was ist?«, fragte Greg nach einer Weile.
»Willst du nicht mit mir schlafen?«, fragte Livia. »Ich dachte, nach
dem Kuss gerade im Bad …«
»Nach dem Kuss gerade im Bad gebe ich dir das, was du jetzt
brauchst. Du brauchst heute Nähe, keinen Sex.« Er lächelte über
ihre entgeisterte Miene. »Ich will dich. Aber nicht heute Nacht. Uns
bleiben noch so viele weitere Nächte.«
Als sie in das dunkle Blau seiner Augen sah, war der Gedanke an
Liebe plötzlich in ihrem Kopf. Kurz galoppierte ihr Herz vor Schreck
los, doch wenn sie tief in sich hineinhorchte, fand sie die Vorstellung
gar nicht mehr so abwegig. Mit einem Lächeln schlief sie in Gregs
Armen ein.

Am nächsten Morgen lag ihr Kopf auf Gregs Brust. Sie hörte seinen
Herzschlag, sog seinen Geruch tief ein und spürte die Vibration
seines Oberkörpers, als er leise lachte, weil sie behaglich schnurrte,
während seine Finger sanft über ihren Rücken glitten.
»Guten Morgen.« Sie hob den Kopf, um ihn anzusehen, und seine
Lippen streiften ihre Stirn.
»Gut geschlafen?«
»Und wie.« Erstaunlicherweise hatte sie nicht einen Albtraum
gehabt. Sie strahlte ihn an. »Und du?« Ihr Blick fiel auf den Arm, der
noch immer unter ihr lag. »Oh, vermutlich weniger gut. Tut dein Arm
weh?«
»Ich weiß nicht, ich glaube, er ist vor Stunden abgestorben.«
Übertrieben gequält verzog Greg das Gesicht. »Das kannst du nur
mit einem langen Kuss wieder gutmachen.« Er packte Liv an den
Hüften und schob sie in Richtung Kopfende, bis ihre Gesichter auf
gleicher Höhe waren.
»Du kannst den Arm ja bewegen« grinste Livia. »Aus welchem
Grund sollte ich dich jetzt noch küssen?«
»Lass mich überlegen.« Er legte die Stirn in Falten. »Vielleicht weil
es sich unglaublich gut anfühlt«, erwiderte Greg und zog ihren Kopf
mit beiden Händen zu sich. Als ihre Lippen und kurz darauf die
Zungenspitzen sich berührten, musste Livia ihm recht geben. Seine
Hände wanderten an ihrer Wirbelsäule entlang und kamen auf ihren
Pobacken zum Liegen. Während er Livia immer wieder küsste, zog
er ihre Beine etwas auseinander und grinste an ihrem Mund, als er
die Innenseite von Livias Oberschenkeln kaum spürbar streichelte
und sie unwillkürlich aufseufzte. Die Bewegungen seiner Muskeln
rieben an ihrer nackten Haut und ihre Burstwarzen richteten sich
sofort auf. Es war unglaublich, wie stark sie auf diesen Mann
reagierte.
»Alles okay?« Greg hatte selbstverständlich gemerkt, dass Livia
kurz abgelenkt war. Wie machte er das bloß?
»Ja, natürlich«, versicherte sie schnell.
Er legte seine Hände um ihr Gesicht. »Dann ist es in Ordnung,
wenn ich weitermache? Wenn wir weitermachen? Denk an dein
Versprechen, mir sofort zu sagen, wenn du dich unwohl fühlst. Das
gilt immer noch und sollte ich irgendwann feststellen, dass du in
diesem Punkt unehrlich zu mir bist, werde ich sauer.«
»Du suchst ja nur einen Grund, mir den Hintern zu versohlen«,
neckte Livia ihn, der der unvermittelte Ernst in seiner Stimme nicht
geheuer war.
»Den habe ich schon längst.« Zum Glück klang er wieder lockerer.
»Nämlich?«
»Hatte ich dir gestern nicht befohlen, dich irgendwo im RMagic zu
verstecken? Als dich das Einsatzteam aufgelesen hat, hattest du
dich da versteckt?«
»N… Nein«, hauchte Livia atemlos und wunderte sich immer
mehr, über ihre Reaktionen. Wieso kribbelte ihr Unterleib plötzlich
bei der Strenge seiner Worte?
»Meinst du nicht, du hättest dafür ein paar Klapse verdient?« Er
legte eine Hand besitzergreifend auf ihren Po und massierte
bedächtig. Seine Stimme sank eine Nuance tiefer und sein Blick
bohrte sich in sie.
Livias Herz raste. War das sein Ernst? Sie schluckte trocken.
»Würde dir das Spaß machen?«, fragte sie mit zitteriger Stimme.
»Mir würde es Spaß machen, dir Lust zu bereiten«, antwortete
Greg sofort. »Würde es dir Lust bereiten?«
»Ich weiß nicht.« Livia biss sich auf die Unterlippe. »Ich hatte doch
noch keine Gelegenheit, herauszufinden, was mir Lust bereitet.«
»Na, mindestens eine Sache weiß ich schon, die dir gut gefallen
hat.« Er lachte leise.
»Es hat mir alles gefallen«, gestand Livia. »Das ist doch das
Verrückte. Es ist egal, wie du mich berührst, mein Körper reagiert
sofort.« Sie sah zur Seite. Wieso nur kam sie sich so linkisch vor, so
hilflos in solch einer intimen Situation? Was sagte man, während
man nackt auf einem Mann lag, den anzusehen schon reichte, um
Verlangen auszulösen? Vermutlich hatte sie allergrößten Unsinn
geredet und Greg würde sie nun für ein naives Dummchen halten.
Sie schämte sich plötzlich, bis sie mit einem Mal seinen Mund an
ihrem Ohr spürte.
»Das war das verflixt nochmal Schönste, das je ein Mensch zu mir
gesagt hat«, raunte er und seine Stimme klang eigentümlich belegt.
Liv traute sich, ihm ins Gesicht zu blicken. Seine glänzenden
Augen ruhten liebevoll auf ihr. Zaghaft lächelte sie.
»Dann fandest du es nicht blöd, was ich …«
»Psst.« Er legte seinen Zeigefinger auf ihre Lippen. »Mach es
nicht kaputt.«
Er vergrub eine Hand in ihren Haaren und drückte sie sanft wieder
an seine Brust. »Mal sehen, was dir noch alles gefallen könnte«,
sagte er mit rauer Stimme und begann, sie abermals zu streicheln.
Livia kuschelte sich an ihn, legte einen Arm über seinen trainierten
Bauch, an dem sie sich nicht sattsehen konnte, und wollte gerade
anfangen, genüsslich die Linien seiner Muskeln mit den Fingern
nachzufahren, als Gregs Smartphone mit einem unangenehmen
Klingeln auf sich aufmerksam machte.
»Das ist dienstlich« stöhnte Greg genervt, »da muss ich
rangehen.«
Mit einem unterdrückt gefluchten »Hat man denn wirklich nie seine
Ruhe« tastete er nach seinem Telefon und machte sich nicht die
Mühe, höflich zu klingen.
»Was gibt’s?«, blaffte er, lauschte dann kurz und antwortete: »Ja,
ich arbeite von zuhause aus. Komm halt vorbei, wenn es so
dringend ist.« Und nach einer weiteren Pause: »Bring mit. Sie ist hier
und sie bleibt auch hier.« Er warf Livia dabei einen durchdringenden
Blick zu und beendete das Gespräch. Seufzend legte er das Handy
weg und drehte sich zu Livia um. »Du hast es gehört, Drew kommt
gleich. Die Erkundung deiner Lust muss warten.« Er beugte sich
über sie und zupfte zart an ihrer Unterlippe, dann grinste er sie leicht
verwegen an. »Aber glaub’ nicht, dass du mir entkommst.« Er
richtete sich auf. »Ich nehme das andere Bad, du kannst in meins.
Wir frühstücken dann endlich mal zusammen auf der Dachterrasse.«
Er wandte sich zum Gehen, hielt jedoch noch einmal inne. »Liv?«
»Ja?«
»Könntest du heute ausnahmsweise einmal darauf verzichten,
kopflos aus meiner Wohnung zu stürzen?«

Beim Anblick des Dachs blieb Livia einen Augenblick ehrfürchtig


stehen. Die Aussicht war umwerfend, die Baumwipfel am Horizont
gehörten bestimmt schon zu South Carolina, das auf der anderen
Seite des Savannah River lag.
Hölzerne Flächen bildeten kleine Inseln auf dem mit hellem Kies
bedeckten Flachdach. Dazwischen platzierte Kübelpflanzen
schafften auf natürliche Art gemütliche Nischen. Als Livias Augen
den Pool und den Whirlpool streiften, stand ihr endgültig der Mund
offen.
»Das ist deine Terrasse? Für dich allein?«, brachte sie schließlich
heraus, während Greg auf sie zueilte, um sie zum gedeckten
Frühstückstisch zu führen. Er musste sich im Bad ziemlich beeilt
haben, denn auf dem von einem Baldachin beschatteten Tisch
warteten bereits Orangensaft, Toast, mehrere Sorten Aufstrich und
ein Stapel Pancakes darauf, auf die Teller geladen zu werden.
»Ja, meine Terrasse«, erklärte er schlicht, freute sich jedoch
sichtlich über ihre Bewunderung. »Bin gleich wieder da, einen
Moment.« Greg verschwand durch die Tür und Liv zwang sich, mit
nicht allzu großen Augen umherzublicken. Die Wohnung hatte ihr
bereits die Sprache verschlagen, doch das hier übertraf diesen
Eindruck bei Weitem.
Unwohlsein mischte sich in ihr Staunen. Noch immer hatte sie
keine Erklärung für Gregs unübersehbaren Wohlstand. So etwas
konnte er sich keinesfalls von seinem Gehalt leisten. Er war nicht
Reynolds Maulwurf gewesen, das wusste sie jetzt. Ihr Misstrauen
war gewichen, es hatte jedoch dem fast ebenso schmerzlichen
Gefühl Platz gemacht, dass sie Greg trotz allem, was sie für ihn
empfand, nicht kannte. Sie musste eine Möglichkeit finden, ihn
taktvoll danach zu fragen, woher …
»So nachdenklich?«, neckte er sie und sie zuckte zusammen.
Sie hatte seine Rückkehr nicht bemerkt, dabei hätte der starke
Kaffeeduft schon von weitem ihre Nase kitzeln sollen. Dankbar nahm
sie eine Tasse vom Tablett, auf dem sich auch eine Platte mit einer
riesigen Portion Rührei befand, und stürzte sich gierig auf all die
Köstlichkeiten. Sie hatte seit gestern Mittag nur einen Donut
gegessen und merkte mit einem Mal, wie ausgehungert sie war. Als
sie gerade ihren zweiten Pancake mit Sirup beträufelte, läutete es
entfernt in der Wohnung.
»Das wird Drew sein«, erklärte Greg mit wenig Begeisterung.
»Entschuldige. Ich verspreche dir, irgendwann werden wir zwei
ungestört hier oben frühstücken und wenn ich dafür kündigen
muss.« Er ging ins Haus und kam kurz darauf in Begleitung von
Drew zurück.
Der musterte mit einem amüsierten Augenzwinkern Livias
seltsamen Aufzug – Greg hatte ihr Shorts und ein T-Shirt von sich
herausgelegt – und grinste. »Ich sehe, er passt gut auf dich auf«,
war glücklicherweise alles, was er dazu sagte, bevor er sich einen
Pancake vom schrumpfenden Stapel klaute. »Ich habe noch nichts
gegessen«, erläuterte er kauend seinen Appetit. »Auf dem Revier ist
seit den Verhaftungen gestern der Teufel los. Man kommt zu nichts,
nicht einmal zum Kaffeetrinken.«
»Interpretiere ich diesen subtilen Hinweis etwa so, dass du einen
möchtest?«, lachte Greg und erhob sich, kaum, dass er die
rhetorische Frage geäußert hatte.
Drew setzte sich an die Stirnseite des Tischs, angelte einen
weiteren Pancake und wandte sich an Livia: »Hast du die Aufregung
des gestrigen Abends gut überstanden?«
Liv nickte. »Ja, einigermaßen. Mein Fuß wird mich wohl noch
einige Tage ärgern.«
Drew sah auf den Verband, den Greg zwar am Vorabend nach
ihrem Bad erneuert hatte, der jedoch schon wieder schmutzig braun
war.
»Ziehst du manchmal eigentlich auch Schuhe an, oder trägst du
die nur mit dir herum, um sie irgendwo abzustellen?«, fragte er
grinsend. »Das gestrige Paar steht übrigens im Wohnzimmer. Ich
habe es dir zusammen mit deinem Handy vorbeigebracht. Die
Schuhe waren im RMagic, das Telefon auf dem Boot. Hast du sonst
noch Sachen liegenlassen, von denen ich wissen sollte?« Er lachte
gutmütig und Liv stimmte mit ein. Er war sympathisch und sie war
froh, dass er nicht der Maulwurf war. Sein Gesichtsausdruck
wandelte sich plötzlich. »Es tut mir sehr leid«, sagte er ernst.
»Was denn?«
»Was dir gestern passiert ist.« Er wirkte bedrückt. »Glaube mir
bitte, das wollte ich nicht.«
»Ich kann dir nicht ganz folgen. Was hast du denn damit zu tun?«
»Hat Greg es dir noch nicht erzählt? Er ist ziemlich sauer auf
mich, weil die Sache mit den Wanzen auf mein Konto geht.«
»Du meinst …«
» … dass er es war, der Leonard Meyers ohne mein Wissen unter
Druck gesetzt hat, damit der dich mit den Wanzen zu Simmons
schickt, ja.« Greg war mit dem Kaffee für Drew zurück und knallte
ihm die Tasse auf den Tisch.
»Aber wie hätte ich denn wissen können, dass so etwas
passiert?«, verteidigte sich Drew, klang jedoch selbst nicht
überzeugt.
»Eben weil du die Folgen nicht abschätzen konntest, hättest du
diesen Stein nie ins Rollen bringen dürfen«, entgegnete Greg scharf.
»Zumal wir ohnehin nichts von dem hätten verwerten dürfen, was wir
auf diese Weise erfahren hätten. ›Fruit of the poisonous tree‹. Schon
mal gehört?« Kalt musterte er den Polizisten. »Die Früchte des
vergifteten Baums sind Beweise für die ein Verwertungsverbot
besteht, weil sie illegal gewonnen wurden«, rezitierte er im
Lehrbuchstil, während Drew sichtlich auf seinem Stuhl schrumpfte.
»Hör zu, es tut mir leid. Ich gebe zu, rückwirkend war es eine
extrem dumme Idee, aber nenne es einen Akt der Verzweiflung. Es
hat mich verrückt gemacht, dass Simmons so unantastbar erschien.
Immer war er uns einen Schritt voraus.«
»Das hat mich genauso fertig gemacht wie dich«, sagte Greg und
hörte sich etwas versöhnter an. »Sei beruhigt, von Seiten der
Staatsanwaltschaft werde ich deinen Ausrutscher nicht an die große
Glocke hängen. Aber mach solche Alleingänge nie wieder. Wir sind
so lange befreundet, rede doch einfach mit mir, wenn du das
nächste Mal eine wahnwitzige Idee hast.«
»Reden ist gut«, brummte Drew. »Das hat man ja gesehen, wie
sehr du mir vertraust, Freund.«
Beide Männer warfen sich finstere Blicke zu.
»Wusstest du, dass Tim auf Simmons’ Gehaltsliste steht?«,
konterte Greg ruhig.
»Bist du irre?« Drew fuhr hoch. »Wie hätte ich das ahnen sollen?
Dass er seine Raucherpausen gerne mal nutzte, um Simmons eine
Nachricht zu schicken, habe ich wie alle anderen heute Morgen
erfahren, als die ersten Ergebnisse seiner Vernehmung die Runde
machten. Die Interne nimmt ihn gerade auseinander.« Er verzog
gequält das Gesicht. »Und mich gleich mit« fügte er hinzu, »als sein
Partner war das ja nicht anders zu erwarten.«
»Wenn du als sein Kollege ihm nicht auf die Schliche gekommen
bist, wie hätte ich es wissen sollen? Ich wusste nur, dass es
irgendjemand von euch sein muss.« Greg hob die Stimme. »Sollte
ich wirklich das Leben der beiden Frauen riskieren, wohlwissend,
dass irgendwer aus deiner Truppe sofort aktiv werden würde? Wir
haben gestern erlebt, wie gefährlich es für Liv wurde, sobald Tim
Bescheid wusste.« Er warf einen um Verzeihung bittenden Blick zu
Livia. »Das habe ich völlig unterschätzt.« Dann fuhr er an Drew
gerichtet fort: »Stell dir vor, wenn der Dreckskerl sich entschieden
hätte, Liv direkt zu beseitigen. Gut, dass er erst herausfinden wollte,
ob sein Name überhaupt gefallen war.«
»Du hast ja recht.« Drew nickte bedrückt und leerte den Rest in
seiner Kaffeetasse mit einem einzigen Schluck. Er schüttelte den
Kopf. »Wie konnte er nur.« Dann streckte er Greg die Hand hin.
»Wieder alles gut zwischen uns?«
Greg schlug ein. »Alles gut.«
Drew lächelte erleichtert und erhob sich. Greg stand mit ihm auf.
»Ich bringe dich zu Tür.«
»Bringst du mir mein Handy mit, wenn du wiederkommst?«, rief
Livia hinterher, als die beiden Männer die Terrasse verließen und
widmete sich dem restlichen Frühstück, bis Gregs schneidender
Tonfall sie aus der angenehmen Stimmung riss.
»Kannst du mir das hier erklären?« Er fuchtelte mit Livias
Smartphone vor ihrem Gesicht herum.
Verständnislos sah Livia von ihrem Toast auf. Greg war nicht
einfach nur verärgert, er sah aus, als stünde er kurz vor einer
Explosion.
»Das ist mein Handy. Was soll damit sein?« Livia wollte Greg nicht
reizen, doch hatte sie nicht die geringste Ahnung, worauf er
hinauswollte.
Greg schnaubte und drückte den Home-Button. Der
Sperrbildschirm wurde hell und in Livia stieg ein schrecklicher
Verdacht auf, als sie die Schrift sah, die über den Bildschirm
wanderte. Ihre App, die alle eingehenden Nachrichten ohne weitere
Bestätigung direkt über den Start- oder Sperrbildschirm laufen ließ.
Unverzichtbar, um bei der Stallarbeit mit dreckigen Fingern mal eben
die neuesten Mitteilungen von Myra und Annie zu lesen; eine
Katastrophe, wenn es dabei um den Mann ging, der das Telefon mit
zornesrotem Gesicht in Händen hielt.
›Greg ist okay‹, schrieb Myra. ›Ronan konnte nichts Belastendes
herausfinden. Seine Familie hat Geld, daher Loft und Auto. Details
später, wenn wir sprechen.‹
›Falls ich dann noch den Kopf auf den Schultern habe‹, dachte
Livia, als sie in Gregs Miene blickte.
»Also?« Der Staatsanwalt schlug einen barschen Verhörton an.
Ob sie sich damit wehren sollte, dass man schließlich keine
fremden Nachrichten einfach liest? Andererseits: Wer würde das
nicht machen, wenn der eigene Name groß auf dem Display
erscheint? Liv seufzte. Greg lehnte sich an den Terrassentisch,
verschränkte die Arme und starrte sie an. Die Zornesfalte zwischen
den Augenbrauen ermunterte Livia nicht unbedingt, zu antworten.
Trotzig hielt sie seinem Blick stand, dann siegte sein eisiges
Schweigen.
»Du wusstest also nicht, dass Tim der Maulwurf war. Und du warst
dir nicht sicher, ob nicht Drew korrupt ist?«
Gregs Stirnrunzeln vertiefte sich. »Nein, das wusste ich nicht.
Aber was hat …«
Livia hob Einhalt gebietend die Hand. »Und woher sollte ich dann
wissen, dass du es nicht bist? Das hier« – sie machte eine
ausholende Armbewegung über die Terrasse – »leistest du dir doch
wohl kaum vom Gehalt eines Staatsanwalts. Und als ich dich am
Freitag im selben Club wie Rey verschwinden sah …«
»Du bist mir gefolgt?«
»Ich habe gesehen, wohin du gelaufen bist.«
»Ich habe Simmons beschattet. Inoffiziell, weil ich allmählich nicht
mehr wusste, wem ich noch trauen konnte. Immer wieder ging bei
den Ermittlungen etwas schief, also habe ich die Sache in die eigene
Hand genommen. Ich wusste, dass er sich an dem Abend dort mit
DiMarco treffen wollte.«
»Es hätte auch ein Treffen eines korrupten Staatsanwalts« – Greg
zuckte bei diesen Worten zusammen – »mit dem großen Boss der
Unterwelt sein können. Und da hat Ronan versprochen, sich etwas
umzuhören. Immerhin warst du die ganze Zeit über unehrlich und
manipulativ, da kannst du wohl keinen großen Vertrauensvorschuss
von mir erwarten.«
Greg öffnete den Mund, schloss ihn wieder und rieb sich
nachdenklich mit der Hand über sein Kinn. »Hast du schon mal
daran gedacht, Juristin zu werden? Du wärst eine verteufelt gute
Strafverteidigerin.« Er lächelte matt. »Es kommt mir so vor, als
hätten wir soeben die Plätze getauscht. Sitze ich jetzt auf der
Anklagebank?«
»Sitzt du da richtig?«
»Kommt darauf an, was du mir vorwirfst.«
Genau das war die Frage. Was verlangte sie von Greg, was war
es, das nahezu unbemerkt wie ein Giftstachel in ihr arbeitete und
sich langsam einen Weg an die Oberfläche suchte, als sich beide
anfunkelten?
»Das gehörte alles zu einem Plan, oder?«, fragte Livia mit
belegter Stimme und wunderte sich, woher diese Worte kamen. »Mit
mir zu schlafen, meine ich. Weil du dachtest, ich gehöre zu Leonard
Meyers.«
Sie hatte das gar nicht fragen wollen, nicht den Vorwurf erheben,
dass er es nicht ehrlich mit ihr meinte. Wo sie es doch selbst nur als
ein Abenteuer sehen wollte. Eine heiße Nacht, in der die neue Livia
Erfahrungen sammeln konnte. So war der Plan. Und dennoch legte
die Furcht vor seiner Antwort mit einem Mal ihre eisige Klaue um
ihren Magen. Warum ersehnte sie plötzlich mit nagender Intensität,
dass Greg mehr in ihr sah, als eine flüchtige Bettgeschichte?
Sie hatte nicht mit dem Schmerz gerechnet, den Gregs Schweigen
auslöste, mit dem er die Anschuldigungen unkommentiert ließ. Kein
Dementi, keine Erklärung. Nur ein kurzes freudloses Lächeln,
entschuldigend auf eine gewisse Weise, aber mehr noch mit einem
Ausdruck der Unvermeidbarkeit.
Livia schluckte. Sie hatte es gewusst. Marisa hatte sie gewarnt,
sie hatte die Anzeichen erkannt und dennoch erwischte sie die
Enttäuschung kalt, den Gregs stumme Geste auslöste. Sie öffnete
den Mund, um etwas zu erwidern. Etwas in der Art, dass er sich
deshalb über ihr Misstrauen nicht zu wundern brauchte. Doch dann
erschien ihr das Gespräch sinnlos. Also presste sie die Lippen
aufeinander und stand auf.
»Ich muss eine Weile allein sein«, sagte Livia, obwohl es das
Letzte war, was sie jetzt tatsächlich wollte. Als sie sich umdrehte,
kreuzten sich für einen Moment ihre Blicke. Greg hatte sich
verschlossen. Seine Mundwinkel umspielte ein trauriger Zug,
trotzdem ließ er sie regungslos passieren.
Als sie das Innere des Hauses beinahe erreicht hatte, hielten
seine Worte sie zurück. »Du hast mich gestern angerufen. Obwohl
du erst heute von deiner Freundin erfahren hast, dass ich ›okay‹
bin.«
Livia verharrte vor der Tür. Sie drehte sich nicht zu ihm um, doch
sie hörte, dass er sich näherte.
»Liv, bitte.« Seine drängende Stimme war nun direkt hinter ihr, so
nah, dass sie seine Körperwärme spürte und ihr der Geruch seines
herben Duschgels in die Nase stieg. Sie rührte sich noch immer
nicht, denn sie wusste, er war viel zu nah, um ihm zu widerstehen.
Er hatte sie benutzt, er hatte sie manipuliert, das Ganze nicht einmal
abgestritten und machte sie dennoch jedes Mal in derselben
Sekunde willensschwach, in der er vor ihr stand. Wenn sie sich
umdrehen und etwas Warmes, Liebevolles in seinem Blick
entdecken würde, wäre es erneut um ihren Widerstand geschehen.
Zögernd gab sie dem Druck seiner Hand auf ihrer Schulter nach und
wandte sich ihm zu. Seine Augen verrieten keinerlei Emotionen.
»Warum hast du mir vertraut?« Er hob ihr Kinn und fixierte sie.
»Ich muss es wissen.«
Und da war es doch, gut versteckt, aber sie sah es. Da war etwas
Inniges, voller Gefühl, das er aus irgendeinem Grund nicht zeigen
wollte, aber ausreichte, um in Liv einen warmen Funken zu
entzünden. Sie versank in seinem Blick, während sie mit sich
kämpfte. Sie wäre schutzlos, der Lächerlichkeit preisgegeben, wenn
sie für ihn nur Teil eines Plans gewesen war. Und dennoch – da war
dieses Funkeln in seinen Augen. Sie räusperte sich. »Ich wusste
nicht, wem ich vertrauen sollte.« Sie gab ihrer Erklärung mit einem
Achselzucken etwas Beiläufiges. »Ich hatte keine Zeit, lange zu
analysieren, und musste auf mein Bauchgefühl hören. Das entschied
sich für dich.«
Ein erleichtertes Lächeln huschte über Gregs Gesicht. »Hat sich
nicht vielleicht auch dein Herz ein kleines bisschen für mich
entschieden?«, flüsterte er zärtlich.
Livia kämpfte mit sich. Doch wie konnte sie Offenheit von ihm
verlangen, während sie selbst nicht aufrichtig war. Vorsichtig nickte
sie und als Greg sie daraufhin an sich zog und ihr einen Kuss
schenkte, der ihr den Atem raubte, wusste sie, dass sie richtig
gehandelt hatte. Greg hielt sie fest umklammert, als hätte er auch
jetzt noch Sorge, sie könnte weglaufen. Dabei hätten ihre weichen
Knie das gar nicht zugelassen, die sich sofort einstellten, als seine
Zuge sanft zwischen ihre Lippen fuhr.
14.

Der Savannah River reflektierte das Licht der tiefstehenden Sonne,


die Wellen kräuselten sich glitzernd. Ein leichter Wind spielte in
Livias Locken, die sie Greg zuliebe trotz der noch immer heißen
dreißig Grad offen trug. Er revanchierte sich, indem er spielerisch mit
seinen Händen hindurchfuhr und ihr einen wohligen Schauer nach
dem anderen bescherte. Livia nippte an ihrem gekühlten Rosé und
seufzte glücklich. Der Tag war perfekt gewesen. Greg hatte sie bei
Marisa im Krankenhaus abgesetzt. Unterwegs hatte er ihr von seiner
Familie erzählt, von seinen Eltern und von seinen Brüdern, die wie
sein Vater in der Law-Firm tätig waren, die seiner Familie gehörte.
Livia hatte gespürt, wie ungewohnt es für Greg war, über diese
Dinge zu reden und hatte seine Offenheit als das verstanden, was
es war – ein besonderer Vertrauensbeweis.
Auf dem Weg hatten sie angehalten, um ein paar Sachen für Livia
einzupacken. Greg hatte darauf bestanden, dass sie für einige Tage
zu ihm zog. »Wegen des Fußes«, hatte er mit ernsthafter Miene
erklärt, »das haben wir dem Arzt schließlich zugesichert.« Nur ein
winziges Funkeln in seinen Augen hatte verraten, dass es vielleicht
nicht nur um Livias Fuß ging, der glücklicherweise das Bad im
Savannah River ohne weiteren Schaden überstanden hatte, wie der
Arzt nach seiner Untersuchung bestätigte.
Auch Marisa war auf dem Wege der Besserung und strahlte Livia
glücklich an. Sie hatte sich mit ihrer Mutter ausgesprochen und
würde für eine Weile mit Trisha nach Hause zurückkehren.
Nachdem Liv es dann noch geschafft hatte, ihrer Tante das
Versprechen abzunehmen, vorerst nichts ihren Eltern zu erzählen,
damit Livia das zu einem geeigneten Zeitpunkt selbst machen
konnte, war sie ihre größten Sorgen los. Und solange Greg in der
Nähe war, wirkten die Geschehnisse des Vortags erstaunlich weit
weg. Liv ahnte, dass sie sich dem Erlebten irgendwann würde
stellen müssen. Der ein oder andere Albtraum stand ihr gewiss
bevor. Doch angekuschelt an Greg hatte sie sich letzte Nacht sicher
und behütet gefühlt. Auch jetzt zehrte sie von der Ruhe und
Besonnenheit, die er ausstrahlte.
In Gregs Armen fühlte sie sich geschützt. Ihr graute nur vor dem
Moment, an dem dieses Band reißen würde. Der Zeitpunkt, an dem
sie wieder allein wäre. Sie machte sich nichts vor – ihre Tage in
Savannah waren gezählt und ohnehin würde es schwierig, nun da
sie wusste, dass ihr Herz mit einem Mal sehnsüchtig mehr forderte,
als der Kopf erlaubte. Sie schalt sich still für so viel Unvernunft. Gut,
dass Greg ihre verrückten Ideen nicht ahnte.
»Was ist?« Greg hatte ihre plötzliche Anspannung unter seinen
streichelnden Fingerkuppen gespürt.
»Nichts.« Sie würde stark sein, jede Minute an seiner Seite
genießen, doch niemals ihre romantischen Gefühle beichten.
»Hatten wir uns nicht heute Morgen versprochen, ehrlich
zueinander zu sein?«
Ja, das hatten sie. Nachdem Greg Liv einfach hochgehoben und
zum Frühstückstisch zurückgetragen hatte. Er hatte sie angesehen.
»Ich leugne nicht, dass ich dich damals angesprochen habe, weil ich
dachte, du gehörtest zu Meyers’ Mädchen. Es schien mir ein guter
Plan zu sein, auf diesem Weg etwas über Meyers und Simmons
herauszufinden. Aber Dinge ändern sich.« Er hatte sich vorgebeugt,
all ihre Bedenken weggeküsst und ihr sein Wort darauf gegeben,
keine Spielchen mit ihr zu treiben. Im Gegenzug hatte er auch von
ihr Ehrlichkeit verlangt. Die er nun einforderte.
»Ich habe über uns nachgedacht«, blieb Livia so nah wie möglich
bei der Wahrheit. »Wie es wohl weitergeht.«
Greg umschlang sie von hinten, nahm ihr das Weinglas ab und
zog sie eng an seinen muskulösen Körper. Er zupfte an ihrem
Ohrläppchen, während er kaum hörbar raunte: »Ich dachte, ich
bereite dir jetzt unvorstellbare Lust, dann essen wir zu Abend,
woraufhin ich dich zum Dessert vernasche und nachher haben wir
heißen Sex, bevor du erschöpft, befriedigt und vor allem glücklich in
meinen Armen einschläfst.«
Liv spürte, wie er leise lachte.
»Wie klingt das?« Er küsste die sensible Stelle unterhalb des
Ohres und Liv erschauerte.
»So, als sollte ich morgen keine längeren Strecken laufen wollen«,
entgegnete Liv schmunzelnd, bemüht, dem Gespräch eine
scherzhafte Note zu geben, um nicht weiter über ihre unsinnigen
Wünsche nachzudenken oder zu genau auf das warme Ziehen
zwischen ihren Beinen zu achten.
»Du darfst ohnehin nicht viel gehen«, erwiderte Greg ungerührt.
»Ärztliche Anweisung.« Sie hörte das Grinsen in seiner Stimme.
»Was mir einen Grund liefert, dich morgen den ganzen Tag bei mir
im Bett zu behalten.«
Die Wärme in ihrer Mitte verwandelte sich in Hitze. Unmöglich, sie
länger zu ignorieren. Livia drehte sich in seiner Umarmung um und
legte ihre Arme um seinen Nacken. »Dann kann ich mich ja glücklich
schätzen, dass mein Fuß verletzt ist.«
»Und du einen so fürsorglichen Mann an deiner Seite hast, der
genauestens darauf achtet, dass du die ärztlichen Anordnungen
befolgst.« Greg drückte ihr einen Kuss auf die Nasenspitze.
Die Hitze breitete sich aus, stieg kribbelnd empor und füllte als
glühender Ball ihre Brust. Der Mann an ihrer Seite. Wie gut sich das
anhörte. Auch wenn es nur eine Momentaufnahme war. Die Glut
erlosch bei diesem Gedanken wie unter einem Schwall eisigen
Wassers.
Greg hatte ihr Mienenspiel verfolgt, nicht eine Regung war ihm
offenbar entgangen, denn er verlangte in einem Ton, der keinen
Widerspruch duldete: »Und nun sag mir, was dich wirklich
beschäftigt.«
Livia druckste herum. Sie erntete für ihr Zögern einen Blick, der an
aussageunwilligen Schwerverbrechern erprobt worden war – und
diese zweifelsohne sofort in die Knie gehen ließ. Livias Mauer des
Schweigens stürzte jedenfalls auf der Stelle ein, allerdings warf sie
vorsichtshalber all ihre guten Vorsätze in puncto Ehrlichkeit über
Bord.
»Marisa«, improvisierte sie. »Sie kommt endlich von Meyers weg.
Ein Polizist war heute bei ihr. Meyers hat umfangreich ausgepackt
und wandert zumindest für seine Drogengeschichten ins Gefängnis.
Marisa wird Savannah für eine Weile verlassen und vor allem nie
wieder für einen Escortservice arbeiten. Anders gesagt: Sie gibt das
Haus auf und ich bin bald obdachlos. Keine Ahnung, ob es mir
gelingt, ein Zimmer zu finden, das ich mir leisten kann.
Schlimmstenfalls hat sich mein Traum von dem Schreibkurs damit
erledigt.« Das war nicht gelogen und auch die Trauer, die sie dabei
verspürte, war echt. Nur beschäftigte sie das aus irgendeinem Grund
nicht halb so sehr, wie die völlig unvernünftige Frage nach einer
Zukunft mit Greg.
Der sah sie an, als habe sie etwas komplett Unsinniges von sich
gegeben. »Warum um alles in der Welt willst du dir ein Zimmer
suchen? Was stimmt mit meiner Wohnung nicht?«
»Deine Wohnung ist toll, aber was hat …« Sie stutzte. »Bietest du
mir etwa gerade an, zu dir zu ziehen?«
»Natürlich.« Greg lächelte. »Das ist doch die einfachste Lösung.
Mein Schreibtisch ist riesig und meist ungenutzt, weil ich selten
zuhause arbeite. Du könntest mit Blick auf den Savannah River
schreiben. Wenn das nicht inspirierend ist.«
Livia strahlte, während in ihrem Magen Schmetterlinge tanzten.
Die Aussicht, ein paar Wochen mit Greg zu verbringen, war mehr,
als sie sich vor einigen Minuten noch erträumt hatte. Doch würde es
den Abschied am Ende ihrer Zeit in Savannah nicht noch
schmerzhafter machen? Bereits jetzt brach ihr die Vorstellung das
Herz, diesen Mann zu verlieren, der ihr soeben ein Lächeln
schenkte, das alle Bedenken vom Tisch fegte. »Aber warum?«
»Warum was?«
»Warum möchtest du, dass ich bei dir wohne?«
»Weil ich nicht will, dass du weggehst.«
Sie durfte nicht zu viel in diese Worte hineininterpretieren,
beschwichtigte Livia die immer aufgeregtere Schar an
Schmetterlingen in ihrer Magengegend.
»In wenigen Wochen werde ich so oder so weggehen müssen«,
entgegnete sie, bemüht, nicht zu euphorisch zu klingen. »Aber bis
dahin nehme ich dein Angebot gerne an.«
Sein grimmig entschlossenes ›Abwarten‹ ließ sie erneut stutzen.
Greg schmunzelte, als er ihren fragenden Blick auffing. »Ich bin
mir nicht sicher, ob ich dich überhaupt jemals wieder gehen lasse«,
erklärte er schlicht, in einem beinahe sachlichen Tonfall, als hätte er
sie lediglich über die Wetteraussichten informiert.
Und diesmal konnte Livia die Schmetterlinge nicht mehr bändigen.
Seine Worte schossen mitten in ihr Herz, setzten unterwegs die
Magengegend unter Strom und entfachten einen Flächenbrand im
Unterleib. »W… wie … wie meinst du das?«, krächzte sie mit einer
Stimme, die ihr nicht gehorchen wollte.
»Nun«, er sah sie mit schräg gelegtem Kopf aufmerksam an,
»würde dich das Geständnis sehr verschrecken, dass ich mich in
dich verliebt habe?«
»Mich verschrecken? Doch wohl eher dich!« Sie schickte ihrer
Spöttelei ein leises Lachen hinterher, um ihr etwas von der
unbeabsichtigten Schärfe zu nehmen. Doch sie musste sich
schützen, musste erst überzeugt sein, dass er es ehrlich meinte,
bevor sie seinen Worten erlaubte, ihr Herz verrückt zu machen.
»Das, was ich für dich fühle, macht mir tatsächlich ein bisschen
Angst.« Jetzt zuckten Gregs Mundwinkel. »So intensiv kenne ich das
nicht von mir.« Er wurde wieder ernst und blickte ihr tief in die
Augen. »Aber ich habe auch noch keine Frau wie dich getroffen.«
Mit einer Hand fuhr er sich über den Hinterkopf, dann lächelte er
schief. »Das war anders geplant, als ich dich im RMagic ansprach.
Ich habe nicht damit gerechnet, dass Gefühle ins Spiel kommen. Als
ich gemerkt habe, dass du noch Jungfrau warst, habe ich mich
wegen meines Vorhabens in Grund und Boden geschämt. Nie im
Leben habe ich mich so verachtet. Ich wusste nicht, wie ich das
jemals wieder gutmachen sollte.«
»Deshalb hast du gleich wieder mit mir geschlafen?« Livia zog
eine Augenbraue hoch und unterdrückte ein Schmunzeln.
»Ich habe gleich wieder mit dir geschlafen, weil ich dich diesmal
richtig verwöhnen wollte.« Greg schenkte ihr ein sündiges Lächeln
und Livias Unterleib reagierte prompt mit einem Kribbeln auf die
Erinnerung an diesen Abend.
»Aber vielmehr«, fuhr Greg fort, »wollte ich mit dir schlafen, weil
ich dich zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr verlieren wollte. Da
war etwas zwischen uns, von Beginn an. Du hast es ebenfalls
gespürt, das habe ich dir angesehen. Abstreiten ist zwecklos.«
»Möglich.« Livias Skepsis wich langsam. Dann grinste sie. »Trotz
des Hemdes.«
Gregs Augenbrauen schossen abrupt in die Höhe.
»Das Outfit eines Aufreißertyps«, erklärte sie. »Viel zu weit
geöffnetes Hemd, selbstsicheres Grinsen, eine Aura von Geld und
Macht. Alles in mir warnte mich vor dir.«
Greg lachte laut auf. »Ich hoffe, du konntest dich inzwischen
davon überzeugen, dass ich mich normalerweise anständig kleide
und zu benehmen weiß.« Er zwinkerte ihr zu. »Na ja, fast immer. Ich
musste im RMagic den wohlhabenden Playboy mimen, um an die
Mädels von Meyers heranzukommen. Diese Art von Frau steht für
gewöhnlich auf diesen Typ Mann.« Er legte den Kopf schief und sein
Grinsen vertiefte sich. »Zum Glück bist du jetzt trotz des Hemdes
hier, und wartest darauf, dass ich dir gleich lustvolle Stunden
bereite.«
War es eine Frage oder eine Feststellung? Liv konnte seiner
Miene nichts entnehmen. Seine Mundwinkel kräuselten sich und
sein Blick hielt sie gefangen, aber sein Ausdruck war
undurchdringlich.
»Ich will es von dir hören«, verlangte er plötzlich und seine
Stimme klang tief, eindringlich und befehlend.
»Was denn?« Livia schluckte. Dieser Tonfall, zusammen mit der
strengen Miene – das traf definitiv einen Nerv bei ihr. Und Greg
wusste das, sie erkannte es in seinen Augen. Noch immer war seine
Mimik unbewegt, doch glomm da ein Funke.
Ein kurzes Zucken des Mundwinkels, ein knappes Heben einer
Augenbraue. »Wieso bist du hier, Liv?« Greg war sich der Macht
bewusst, die er gerade über sie ausübte. Und wie sehr es sie
anmachte.
»Etwas in mir ist wohl empfänglich für Brustmuskulatur unter
aufgeknöpften Hemden.« Es sollte locker klingen, mehr als dieses
eher atemlose Geständnis brachte sie allerdings nicht zustande.
»Mein Verstand hat mich gewarnt, doch eine unvernünftige Stelle
reagiert jedes Mal auf dich.« Sie leckte sich über die Lippen. So viel
Offenheit war ungewohnt. Aber auch erregend, vor allem, als sie das
Aufblitzen in Gregs Augen bemerkte. Er verließ seine gestrenge
Rolle, lächelte sie warmherzig an, dann hob er sie auf den Arm und
trug sie zum Whirlpool. Dort setzte er sie ab und begann, ihre Shorts
aufzuknöpfen.
»Was tust du?«
»Stehenbleiben und genießen«, ordnete er an, wieder autoritärer.
Livia gehorchte, während das Pulsieren in ihrem Schritt zunahm.
Ein bisschen unbehaglich blickte sie umher.
»Man kann uns nicht sehen.« Greg war wirklich ein guter
Beobachter. Seelenruhig zog er ihr die Hose von den Beinen und
den Slip gleich mit, bevor er sich daran machte, die Shirtbluse
aufzuknöpfen und ihr von den Schultern zu streifen. Der BH folgte.
Sie stand nackt vor ihm.
»Soll ich …«, begann sie und deutete mit einer Kopfbewegung in
den Whirlpool, als es ihr unerträglich lang erschien, wie Greg sie
einfach nur musterte.
»Stehenbleiben«, knurrte er. Dann entkleidete er sich ebenfalls.
Livia stellte verwundert fest, wie sehr es sie in Flammen setzte, so
vor diesem Mann zu stehen. Er berührte sie nicht einmal, streichelte
sie nur mit seinen Blicken, doch das Pochen zwischen ihren Beinen
nahm mit jeder Sekunde zu, die er sie einfach nur ansah. Das
Begehren in seiner Miene reichte, um den Wunsch nach seinen
Berührungen zu einem beinahe schon qualvollen Verlangen zu
steigern.
Nachdem Greg einige Tasten auf dem Bedienfeld gedrückt hatte,
blubberte der Whirlpool los. Beide stiegen hinein und Greg zog sie
so an sich, dass sie seine kräftigen Bauchmuskeln an ihrem Rücken
spürte. Er umschlang sie mit seinen Armen und sie kuschelte sich
genüsslich an ihn. Über ihr war ein perfekt blauer Himmel, in dem
grünblätterigen Sichtschutz neben ihr raschelte leise der Wind.
Gregs Finger zeichneten zärtliche Linien um ihren Bauchnabel.
Wohlig seufzte sie auf.
»Na, zufrieden?« Sie hörte das Lächeln in seiner Stimme.
»Ja.« Livia nickte.
»Aber?«
Verflixt, wie gut verstand sich Greg eigentlich darin, Zwischentöne
herauszuhören? Sie hatte doch selbst kaum bemerkt, dass ihr noch
immer etwas auf der Seele lastete.
»Rede mit mir.« Er drehte sie halb zu sich um und sah ihr tief in
die Augen. »Ich will nie wieder Heimlichkeiten zwischen uns. Was ist
los?«
Livia biss sich auf die Lippe. Erneut wusste sie nicht, wie weit sie
sich öffnen sollte. Wie peinlich wäre es, wenn er mitbekäme, wie
sehr ihr Herz in seiner Nähe Purzelbäume schlug, während er sie
nur irgendwie mochte. »Hast du das vorhin ernst gemeint?« Die
Worte schlüpften über ihre Lippen, bevor sie sie aufhalten konnte.
»Was denn?« Greg legte die Stirn in Falten.
»Dass du dich in mich verliebt hast.«
Greg atmete tief ein und wieder aus. Liv versteifte sich, bis sie den
liebevollen Ausdruck in seinen Augen bemerkte.
»Ist das so unvorstellbar für dich?«, fragte er ernst und strich ihr
eine Locke über die Schulter. »Du bist witzig, klug, charmant, hast
das Aussehen eines Models – und bist dir all dessen nicht einmal
bewusst, sondern natürlich und warmherzig.« Er hielt inne und legte
den Kopf schief. »Wenn ich es mir recht überlege, habe ich mich
geirrt.«
Liv blieb das Herz stehen.
Dann kräuselten sich Gregs Lippen. »Ich bin nicht nur in dich
verliebt. Das geht tiefer. Ich glaube, ich liebe dich.«
Livias Herz nahm die Arbeit wieder auf und galoppierte los, als
wollte es die ausgelassenen Schläge aufholen. Diesmal glaubte sie
ihm. Sein Ausdruck war so voller Emotionen, dass sie keine
Sekunde mehr an ihm zweifelte. Sie merkte, wie ihre Augen feucht
wurden, aber dass sie von Gefühlen überwältigt weinte, realisierte
sie erst, als Greg eine Träne von der Wange strich und sie
sorgenvoll musterte.
»Sollte dich so ein Geständnis nicht eigentlich glücklich machen?«
Er betrachtete sie aufmerksam. »Oder überrumple ich dich damit?
Liv, wenn du nicht das Gleiche empfindest, dann ist …«
Sie würde nie erfahren, wie das Ende des Satzes gelautet hätte,
weil sie sich auf ihn stürzte und hungrig küsste. »Und wie sehr ich
das Gleiche fühle«, murmelte sie zwischendurch.
Einige Monate später

Livias Kopf ruhte an Gregs Schulter, mit den Fingern der rechten
Hand zeichnete sie träge die Wölbungen seiner Bauchmuskeln
nach. Sie grinste, als sein Penis sich daraufhin schon wieder regte.
»Noch nicht genug?«, neckte sie ihn.
Er antwortete mit einem Kuss, auf den ihr Unterleib unerwartet
schnell reagierte. Dabei hatte er sie gerade zweimal hintereinander
so heftig kommen lassen, dass sie hätte schwören können, für die
nächsten Tage befriedigt zu sein.
»Von dir bekomme ich nie genug«, sagte Greg und die Wärme in
seiner Stimme ließ Livia glücklich lächeln. Sie wusste, dass er es
ernst meinte und ihr ging es ebenso. Sie wohnten jetzt seit einigen
Monaten zusammen und noch immer war ihr Sex so schön und
aufregend wie zu Beginn. Nein, er war besser, korrigierte sie sich
sofort. Greg und sie hatten gemeinsam ihre Lust erforscht, er hatte
jeden Zentimeter ihres Körpers erkundet und in Besitz genommen
und wenn er sie berührte, war sie Wachs in seinen Händen.
Nach und nach hatte sie auch seine Vorlieben herausgefunden
und wusste inzwischen, wie sie sich bei ihm revanchieren konnte –
für lustvolle Qualen ebenso, wie für nicht endenwollende Orgasmen.
Er streichelte ihren Rücken und drückte ihr einen Kuss auf den
Scheitel. »Ich fürchte, wir müssen langsam aus den Federn. Falls du
Cole nicht noch rasch überreden kannst, uns seinen Privatjet zu
schicken, müssen wir den Wagen nehmen und das bedeutet gute
200 Meilen, bis wir in Elliottville sind. Also komm.« Er schob sie sanft
von sich und stand auf.
Auch Livia kletterte widerstrebend aus dem Bett. »Vielleicht hätten
wir doch gestern schon fahren und bei meinen Eltern übernachten
sollen.« Sie grinste Greg an. »Oder ist dir mein Vater noch immer
unheimlich?«
Greg verzog das Gesicht. »Dass mich deine Eltern mit offenen
Armen empfangen hätten, kann man ja nun wirklich nicht
behaupten.«
»Du musst das positiv sehen«, sie lächelte ihn entschuldigend an,
»immerhin hat mein Vater die Schrotflinte im Schrank gelassen.«
Greg lachte trocken auf. »Dann bin ich wohl ein richtiger
Glückspilz.«
»Sie müssen sich erst an den Gedanken gewöhnen«, sagte Liv.
»Das war ein bisschen viel auf einmal: Erst erfahren sie, dass sich
ihre immer brave und jungfräuliche Tochter nicht nur für Männer
interessiert, sondern gleich mit einem zusammenzieht. Dann eröffne
ich ihnen auch noch, dass ich studieren werde und zu guter Letzt
müssen sie sich damit abfinden, dass ich die Farm nicht
übernehmen möchte.«
Angesichts der Menge an Veränderungen, die ihre Eltern
verdauen mussten, hatten diese eigentlich recht gefasst reagiert,
fand Livia. Sie hatte nach Ende des Schreibseminars ein
Teilstipendium erhalten und beschlossen, die Chance nicht
ungenutzt verstreichen zu lassen.
Greg unterstützte ihre Pläne und wollte sogar die Kosten
übernehmen, die nicht durch das Stipendium abgedeckt wurden.
Livia mochte sich jedoch nicht von ihm oder seinem Geld abhängig
machen und Greg hatte zähneknirschend nachgegeben, nachdem
Liv zumindest eingewilligt hatte, dass er den gemeinsamen
Lebensunterhalt bestritt.
»Gib ihnen etwas Zeit«, bat Liv. »Wenn sie all das verarbeitet
haben, werden sie dich in ihr Herz schließen. So wie ihre Tochter es
bereits getan hat.« Sie zwinkerte ihm zu.
»Meine kluge und verständnisvolle Liv.« Greg zog Livia an sich
und gab ihr einen hingebungsvollen Kuss. »Ich hoffe wirklich, dass
sie mich irgendwann akzeptieren.«
»Da bin ich mir sicher.« Liv schmiegte sich an ihn. »Meinem Vater
hat es imponiert, dass du Staatsanwalt geworden bist, anstatt dich
ins gemachte Nest zu setzen und in die Law-Firm deiner Familie
einzusteigen.«
Greg grunzte. »Damit hat er meinem Dad etwas voraus. Der hat
meine Entscheidung heute noch nicht verwunden und hat sie nur
deshalb widerwillig akzeptiert, weil ich die Option offengelassen
habe, eines Tages doch noch das Familienerbe anzutreten.«
»Könntest du dir denn vorstellen, als Anwalt zu arbeiten?«
»Das habe ich mein ganzes Leben gewollt.« Er zuckte mit den
Achseln. »Oder es wurde mir mein ganzes Leben lang eingetrichtert,
dass ich das zu wollen hätte. Wenn Clay nicht damals bei der
Schießerei umgekommen wäre, hätte ich mich wohl nicht
umentschieden.«
»Hast du deinem Vater jemals erklärt, dass der Tod deines besten
Freundes der Grund ist, aus dem du heute Kerle wie Reynold
Simmons jagst?« Seit Greg ihr erzählt hatte, unter welch tragischen
Umständen sein Verbindungsbruder ums Leben gekommen war,
verstand Livia, warum Greg geradezu davon besessen gewesen
war, Rey zur Strecke zu bringen.
Greg presste die Lippen zusammen. »Damit er erfährt, dass mein
Freund Meth konsumierte, um dem Leistungsdruck an der Uni
standzuhalten?« Er schüttelte den Kopf. »Er weiß nur, dass Clay in
eine Schießerei rivalisierender Drogenbanden geraten ist, nicht aber,
dass Clay dort war, um sich mit Stoff zu versorgen.« Er zuckte
erneut mit den Schultern. »Im Moment ist es gut, wie es ist. Solange
mein Vater die Zügel in der Hand hält, steht mein Eintritt ins
Unternehmen überhaupt nicht zur Debatte. Wenn er sich eines
Tages zur Ruhe setzt, werde ich sehen, ob ich bis dahin das Gefühl
habe, ausreichend Kerlen wie Simmons das Handwerk gelegt zu
haben, dann entscheide ich vielleicht, die Firmenleitung zu
übernehmen. Und nun genug geredet.« Er schob Livia nachdrücklich
in Richtung Dusche. »Wenn wir nicht bald losfahren, kommen wir
wirklich zu spät zu Myras und Coles Verlobungsfeier.« Er warf Livia
einen durchdringenden Blick zu. »Und ich muss mir doch ansehen,
wie das mit dem Sich-Verloben funktioniert.«
Er grinste noch immer über Livias verblüfften Gesichtsausdruck,
als beide schon längst unter der Dusche standen.

ENDE
Nachwort

›Ein Sommer in Savannah‹ ist Band 2 der Elliottville-Reihe. Jeder


Band ist abgeschlossen, aus sich heraus verständlich und kann
unabhängig von den anderen gelesen werden.

Band 3 der Elliottville-Reihe dreht sich um die dritte der


Freundinnen, Annabelle Cunningham. Während Myra und Livia ihr
privates Glück gefunden haben, kriselt es in Annies Beziehung
zunehmend. Ausgerechnet in dieser ohnehin schon schwierigen
Situation gerät sie in das Visier eines Stalkers.

Die Geschehnisse sowie die handelnden Personen sind frei


erfunden. Jede Übereinstimmung mit realen Personen oder
Schauplätzen ist zufällig und nicht beabsichtigt.

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