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Canetti (Neumann Elias Canneti in Seiner Zeit')
Canetti (Neumann Elias Canneti in Seiner Zeit')
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung................................................................................................... 1
1 Kultur: Der Autobiograf Europas und seine Assimilation ..................... 21
1.1 Canetti und das Schreiben: Zur Ausgangssituation ....................... 21
1.2 Ein disparates Werk, so meinungstark wie facettenreich ............. 23
1.3 Die Dramen, die Autobiografie und das aufgeklärte Europa ........ 28
1.4 Eine sephardische Jugend an der Donau ...................................... 38
1.5 Ein Roman als Vorspiel zur Selbstbiografie ................................... 45
1.6 Judentum, Verwandlung und Menschenfresserei ........................ 52
1.7 ‚Dichtung‘ neben der ‚Wahrheit‘................................................... 58
1.8 Canettis großes Vorbild und seine Nachfolger .............................. 64
1.9 Augustinus Confessiones: Ein Gründungsdokument ..................... 70
2 Wissenschaft: Dichtung, Utopie und Verwandlung ............................. 85
2.1 Das Utopismus-Konzept ................................................................ 86
2.2 Das antiaristotelische Wissenschaftsverständnis ......................... 93
2.3 Masse- und Macht-Phänomene .................................................. 101
2.4 Canettis Geschichtsverständnis .................................................. 109
2.5 ‚Hüter der Verwandlung‘ ............................................................. 124
2.6 Instrumentalisierung von Wissenschaft und Technik ................. 138
3 Politik: Biologische Anthropologie und Nationalismus ...................... 141
3.1 Die ‚deutsche‘ Form der westlichen Subjektkrise ....................... 141
3.2 Kien, der jüdische Sündenbock ................................................... 178
3.3 Literarische Verarbeitung von Masse-Symbolen ........................ 191
3.4 Der ökonomische Faktor der Geldwertschwankungen ............... 200
VI Inhaltsverzeichnis
Canetti hat sich zur Bedeutung der Gemälde, die seine dichterische Ent-
wicklung beeinflussten, wiederholt geäußert. Neben Pieter Bruegels d. Ä.
„Triumph des Todes“ und „Blindensturz“ nennt er im zweiten Teil der vier-
teiligen Autobiografie, in Die Fackel im Ohr, der seine Jahre von 1921 bis
1931 beschreibt, auch ein Gemälde Rembrandt van Rijns. Während ihn
Bruegels Todesszenerie an die Endlichkeit des Menschseins gemahnte,
und damit zu einem „Kampf“ (FO 113) gegen den Tod inspirierte, erklärt
er die Bedeutung von Rembrandts „Die Blendung Simsons“ wie folgt: „An
diesem Bild, vor dem ich oft stand, habe ich erlernt, was Haß ist.“ (FO 114)
Die Darstellung einer unsittlichen Tat, die auf einem Hinterhalt von Delila,
der Geliebten des Opfers, gründet, erregte Canettis Zorn. Der israelitische
Held diente ihm als ethnisch wie ethisch relevanter Repräsentant, mit
dem er sich verbunden fühlte. Martin Bollacher erkennt, dass der „Auto-
biograph“ darin die „Matrix eines antisemitischen Hasses“ ausmacht.1 Die
‚Empathie‘-Perspektive wird durch den Roman bestätigt, der an eine jüdi-
sche Opferthematik gebunden ist. Gleichzeitig weist der Roman eine Dop-
pelbödigkeit auf, weil das Leid eines Einzelnen bzw. einer bestimmten
Ethnie konzeptionell auf einen wirtschaftlich-politischen Komplex bezo-
gen ist. Auch liegen mit der Blendung autobiografische Einschläge vor, die
den Text zu einem fiktionalen Zeugnis der Zeitumstände erheben.
Trotz seines anthropologischen Zuganges, der sich an Macht und Masse
orientiert, zeigt Canetti Gemeinsamkeiten mit ideologischen Positionen
auf dem Feld der Politik.2 Seine frühen politischen Affinitäten bestim-
mend, verweist Göbel auf Übersetzungen von größeren Prosaarbeiten
des Upton Sinclair, die zwischen 1928 und 1932 erschienen (Malik Verlag),
1 Vgl. Martin Bollacher: Canetti und das Judentum. In: „Ein Dichter braucht Ahnen“. Elias
Canetti und die europäische Tradition (= Jahrbuch für Internationale Germanistik:
Reihe A – Kongressberichte; 44). Hg. von Gerald Stieg und Jean-Marie Valentin. Bern
[u.a.]: Lang 1997, S. 37–47, hier: S. 44.
2 Der Begriff der Ideologie wird in einem geweiteten etymologischen Sinn gebraucht,
als adaptierte Ableitung vom Altgriechischen.
sowie auf zwei „kleinere Arbeiten“, einen Essay zu dessen 50. Geburtstag
und die Übersetzung von Mein alter Freund, die in der „Jubiläumsnummer
der ‚Mitteilungen der Sektion Favoriten des Verbandes der sozialistischen
Studenten Österreichs 1928‘“ veröffentlicht wurde.3 Überzeugend
schließt Göbel aus dem Umstand, dass Canetti in dieser Zeitschrift „publi-
ziert“, auf eine „Sympathie mit der österreichischen Sozialdemokratie“.4
Beiläufig, doch treffend, erklärt Sigrid Schmid-Bortenschlager, dass bei
Canetti „trotz seiner kommunistischen Verbindungen (Fischer in Wien,
Herzfeld-Kreis in Berlin)“ die „sozialistische Komponente“ „eher unterbe-
wertet“ wird.5
Die Forschung hat die politischen Verbindungen, die er in seiner Autobio-
grafie marginalisierte – vor allem die Wiener Zeit ist davon betroffen –,
bislang nicht erschöpfend untersucht, wie auch Deborah Holmes zu be-
denken gibt. Sie spricht davon, dass Canettis Beziehung zu den österrei-
chischen Sozialisten vergleichsweise wenig Beachtung zuteilgeworden
sei: „Comparatively little attention has been given to Elias Canetti’s rela-
tionship to the Austrian Social Democrats […].“6 Holmes erklärt sich diese
Leerstelle mit einer intentionalen Verschleierung, mit der Canetti einer
Reduktion auf die sozialistische Haltung vorbeugen wollte: „He wanted to
avoid over-identification with any one political camp – the limitations of
which, even so long after the event, are demonstrated in Veza Canetti’s
3 Vgl. Helmut Göbel: Elias Canetti (= rowohlts monographien; 50585). Reinbek bei Ham-
burg: Rowohlt Taschenbuchverlag 2005, S. 67–69.
4 Vgl. ebenda, S. 69.
5 Vgl. Sigrid Schmid-Bortenschlager: Der Einzelne und seine Masse. Massentheorie und
Literaturkonzeption bei Elias Canetti und Hermann Broch. In: Experte der Macht. Elias
Canetti. Hg. von Kurt Bartsch und dems. Graz: Droschl 1985, S. 116–132, hier: S.
132/Fn. 29.
6 Deborah Holmes: Elias Canetti in Red Vienna. In: The worlds of Elias Canetti. Centenary
essays. Hg. von William C. Donahue und Julian Preece. Newcastle, UK: Cambridge
Scholars Publishing 2007, S. 83–105, hier: S. 83. – Übersetzungen wurden in den je-
weiligen Kapiteln von den Verfassern vorgenommen.
Einleitung 3
reception […].“7 Holmes erkennt darin eine rezeptive Strategie, die Ca-
netti in dem Ansinnen verfolgte, seine weltanschauliche Eigenständigkeit
zu betonen.
Ökonomisch steht Canetti dem marxistischen Theorem nahe, auch wenn
der Ausgangspunkt seiner Anthropologie ein biologischer ist. Geld wird
bei ihm zu einem Machtfaktor, dem zwar jeder Mensch von Natur aus zu-
spricht, der sich aber in Zeiten der Hochmoderne noch verstärkt. Gleiches
gilt für die Massenphänomene, die er im Zeichen der industriemodernen
Zeit stehen sieht. Der grundsätzlichen Unfreiheit des Menschen, die Ca-
netti vielfältig beschreibt, hält er einen innovativen kognitiven Zugang
entgegen, der auf ‚Verwandlung‘, eine Art von ‚Empathie‘, setzt.8 Im Fall
einer Realisierung des vollen utopischen Gehaltes bedeutete dies eine
Rückkehr ins Vorzivilisatorische, in jenem einer moderaten Einsetzung da-
gegen eine Abspaltung vom zweckrationalen Ordnungssystem, das Ca-
netti am Wirken sah. Bereits das soziale Umfeld des Kien, wie auch später
er selbst, wird zum Träger einer Verblendung, die politisch die späte fran-
zisko-josephinische Ära einschließt, im Sinn eines imperialistischen Vor-
laufes, sowie ökonomisch die ‚instrumentelle‘ Ratio.9 So liegen die Para-
meter jener Subjektkrise, die mit dem Protagonisten als ‚deutsche‘ erfahr-
bar wird, in den Bereichen der Staats- und Wirtschaftsform. Erst in Masse
und Macht greift Canetti die zugehörigen Stichworte ‚Versaille‘ und ‚Iden-
titätsentwertung‘ auf – und zwar im nationalistischen Zusammenhang –,
die seinem Dafürhalten nach in der ‚deutschen‘ Zwischenkriegs-Mentali-
tät eine zentrale Position besetzten.
7 Ebenda, S. 104.
8 Der Begriff der Kognition wird im Folgenden in einem weiten Verständnis verwendet,
das nicht ausschließlich den reflexiven Modus der Bewusstwerdung bezeichnet, son-
dern Bewusstes wie Nichtbewusstes umfasst.
9 Siehe hierzu Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Aus den Vor-
trägen und Aufzeichnungen seit Kriegsende. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1967.
4 Einleitung
Was den religiös-ideologischen Einfluss betrifft, ist ein Gespräch von 1992
aufschlussreich, in dem sich Canetti als „Atheist[en]“ bezeichnete.10 Denn
der erwachsene Canetti war, was Religionspraxis und -ideologie betrifft,
weder gläubiger Jude noch Christ. Das wirft die Frage auf, inwieweit er
sich als mythenaffiner Autor zu einem Vertreter eines neu-religiösen Zu-
ganges wandelte. Angesichts seiner Weltsicht, die eine ‚subjektivistische‘
Qualität eignete – wie mit dem Buschmänner-Mythos deutlich wird –, ist
durchaus von einem Irrationalismus zu sprechen. Auch beschwört Canetti
in einer Aufzeichnung von 1943 eine „neue Religion“, die sich eine Über-
windung des Todes zum Ziel setzt, indem sie diesem seine Selbstverständ-
lichkeit nimmt: „Das Wissen kann seine Tödlichkeit erst durch eine neue
Religion verlieren, die den Tod nicht anerkennt.“ (A 66) Thomas Lappe
setzt daher eine „Privat-Eschatologie“ an und eine „Religion“, der er das
Ziel einer „gewünschten – paradoxen – Unsterblichkeit im Leben“ zu-
schreibt.11 Daneben spricht Sven Hanuschek von „Literaturreligion“12 und
Edgar Piel von Canettis Werk als einem „Unternehmen zu einem neuen
Glauben, der den Tod besiegen soll“13. Doch eine klassische Metaphysik,
die vorgibt, naturgesetzliche Prinzipien außer Kraft zu setzen, liegt bei ihm
nicht vor. Selbst die Verwandlungen der australischen Buschmänner, die
etwa das Nahen von Beute emotional erspüren, werden als Resultat einer
archaisch-sinnlichen ‚Empathie‘ beschrieben, die im zivilisierten Men-
14 Rürup spricht davon, dass sich für „Österreich bis 1870 keine ähnlich eindeutig ab-
grenzbare Phase einer ‚Industriellen Revolution‘ wie für das spätere Deutsche Reich
feststellen“ lasse; Reinhard Rürup, Bd. 8: Deutschland im 19. Jahrhundert. 1815–1871.
In: Deutsche Geschichte. Hg. von Joachim Leuschner. 10 Bde. 2., durchges. u. bibliogr.
erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1992, S. 63. Weiter bezeichnet er die
„Industrialisierung“ im Habsburgerreich als einen „ausgeprägt regionale[n] Vorgang“;
ebenda, S. 63.
15 Der Mythos-Begriff stellt in der Canetti-Forschung ein diffuses Bedeutungsfeld dar. In
dieser Studie realisiert sich insofern eine Präzisierung, als eine Anbindung an die bei-
den Utopie-Varianten des Autors erfolgt.
16 Freud verwendete den Begriff zur Beschreibung eines psychischen Materials, das ori-
ginär dem Unbewussten zugehört, aber ein erhöhtes Potential zur reflexiven Durch-
dringung aufweist. Übertragen auf das Bewusstseinsvermögen der Menschenaffen
6 Einleitung
ger Autor befürwortet, zeigt sich notwendig an einen Zustand des Wah-
nes gebunden, der erst eine derartige Realitätsflucht ermöglicht. Die kog-
nitive Initialzündung tritt bei Individuen in Erscheinung, in denen die
„Masse“, verstanden als „Bestie“, „besonders stark ist und keine Befriedi-
gung findet“ (B 450). Bei dieser Opferschaft, die verstärkt in der moder-
nen Zeit auftritt, ist eine Abkehr von der Industriewirklichkeit per Wahn
zu beobachten. Zugleich hält er kritisch zu dem Kollektiv-„Gedanken“ fest,
dass es „[v]ielleicht“ „noch gar nicht sicher“ ist, „daß er gedacht werden
wird“ (A 187). Wiewohl sich der utopische Wert durch das Vorhaben einer
Todes-Bezwingung definiert, das an das Maximalziel gebunden ist, weist
die zugehörige kognitive Re-Evolution ebenso ein irreales Wesen auf.
Seine Mythenaffinität, die sich gegen Fortschritt und Verstand richtet, ist
bereits in der Strömung der Romantik zu finden. Heike Knoll gibt zu be-
denken, dass der „Mythos als Antipode zu Vernunft, entfremdeter Wirk-
lichkeit und einer in die Legitimationskrise geratenen Kunst“ „seit den An-
fängen der Romantik“ existiert, und betont zugleich Canettis „Anspruch
auf Originalität“.17
Zuweilen hat man Canettis Werk, und nicht nur den Roman Die Blendung,
mit einer Odyssee verglichen. Dieser Vergleich wird auch im Nachfolgen-
den aufgenommen, modifiziert und präzisiert, zudem in den Kontext der
aktuellen Methodendiskussion gestellt. Die Odyssee ist dabei ein durch
europäische Tradition überliefertes Bild, eine zentrale Metapher. Ein der-
artiger Versuch zur Lesbarmachung der (post-postmodernen) Welt kann
sich, sozusagen mit empirischem Fug, auf faktisch Aktuelles stützen: auf
(Gorilla), das Canetti zur Exemplifizierung wählt, wird mit diesem Begriff die Nachran-
gigkeit der Ratio, wie sie den neu-mythischen Menschen kennzeichnet, symbolisch be-
schrieben; Sigmund Freud, Bd. 13: Das Ich und das Es. In: Jenseits des Lustprinzips.
Massenpsychologie und Ich-Analyse. Das Ich und das Es (= Gesammelte Werke. Hg.
von Anna Freud und Edward Bibring [u.a.]. 18 Bde.). London: Imago Publishing Co.
1940, S. 235–289, hier: u.a. S. 241.
17 Vgl. Heike Knoll: Das System Canetti. Zur Rekonstruktion eines Wirklichkeitsentwurfes.
Diss. Frankfurt a. M. 1992. Stuttgart: M und P, Verlag für Wissenschaft und Forschung
1993, S. 156.
Einleitung 7
18 Siehe Daniel Mendelsohn: Eine Odyssee. Mein Vater, ein Epos und ich. München: Sied-
ler 2019, S. 43.
19 Vgl. Ralf Schnell: Autobiographisches Erzählen: Die siebziger Jahre. In: Geschichte des
deutschsprachigen Romans. Hg. von Volker Meid. Stuttgart: Reclam 2013, S. 680–704,
hier: S. 699.
8 Einleitung
20 Ovids Werk bezeichnet Canetti als „beinahe systematische Versammlung aller damals
bekannten, mythischen, ‚höheren‘ Verwandlungen“ (GW 365). Den Gilgamesch-Epos
rechnet er als „ältere[n]“ (GW 365) ebenso zu diesem Ur-Kanon. – Siehe zu Verwand-
lung und ‚Hüterschaft‘, die auch bei Jacob Burckhardt und Franz B. Steiner zu finden
sind: Michael Mack: Anthropology as memory. Elias Canetti’s and Franz Baermann
Steiner’s responses to the Shoah (= Conditio Judaica; 34). Diss. Oxford. Tübingen: Nie-
meyer 2001, S. 41–42.
Einleitung 9
21 Eine Kritik am Warencharakter der Sprache formuliert Canetti in der Münchner Rede,
in der er zu bedenken gibt, dass eine „Überzahl der Menschen heute“ des „Sprechens
nicht mehr mächtig“ ist: „sie äußern sich in den Phrasen der Zeitungen und öffentli-
chen Medien“ (GW 367).
10 Einleitung
Dieses endet damit, dass Kien und Therese „einander zum erstenmal rich-
tig verstanden“ (B 151), also die Erbschaftsabsichten des jeweils anderen
erfassten.
Wie Knoll erkennt, wird bei Canetti die „Sprache zum Paradigma miss-
glückter Welterfassung“.24 Ihrer Ansicht nach handelt es sich um eine
„Einschätzung, die Canetti jedoch nicht der Sprache selbst anlastet, son-
dern die sich gegen die Sprecher richtet“.25 Bedenkt man, dass Sprache
ein auf Ratio basierendes Konstrukt ist, sieht Canetti Sprecher wie Spra-
che gleichermaßen determiniert, durch eine Entwicklung, die in der Mo-
derne zusehends an Dynamik gewinne. Einzig ein von der ‚instrumentel-
len‘ Ratio ‚abgespaltener‘ Zukunftszweig vermöge der Sprache, respek-
tive ihren Sprechern, wie Canettis Überzeugung ab 1945 lautet, ein em-
pathisches Wesen zu verleihen. Am anderen Ende der Utopie steht Canet-
tis Zivilisationsflucht, mit der die semiotische Verbindung überflüssig
würde.26
Zur Funktion jener Sprachmaske, mit der sich Canettis anthropologische
Kategorien in ihrer sozialen Ausstrahlung zeigen, schreibt Manfred
Durzak, dass der „Satiriker“ sein „moralisches Urteil“ „spricht“, „indem er
27 Vgl. Manfred Durzak: Elias Canettis Weg ins Exil. Vom Dialektstück zur philosophischen
Parabel. In: Zu Elias Canetti (= Literaturwissenschaft – Gesellschaftswissenschaft; 63).
Hg. von dems. Stuttgart: Klett 1983, S. 121–137, hier: S. 129.
28 Vgl. Canetti/Durzak, akustische Maske und Maskensprung, S. 24.
29 Ebenda.
Einleitung 13
Alles, was einen zeitlichen Ablauf im Sinne von Entwicklung ins Drama hin-
einbringt, ist für mich undramatisch. Die Veränderungen von Figuren er-
eignen sich für mich in Sprüngen. Das ist, was ich den Maskensprung
nenne. […] Es gibt also Mehrfach-Masken, das, was ich den Maskensprung
nenne.30
Davon ausgehend, spricht Durzak von einer Mimesis-Funktion, die sich bei
Canetti „nicht“ auf eine „Wirklichkeit“ bezieht, „die zur Darstellung ge-
bracht wird“, „sondern“ auf die „Sprache“.31 Fraglich ist, ob eine derartige
Engführung auf eine sprachliche Form der Nachahmung sinnvoll ist. Hin-
gewiesen sei etwa auf die sozialkritische Substanz, die handlungsmorali-
sches Fehlverhalten in Zeiten der Hochmoderne vorführt. In diesem Sinn
wäre von einer aristotelischen Form der Mimesis zu sprechen: Der Autor
zeigt, welches Verhalten es zu vermeiden gälte. Deshalb zeichnet sich Ca-
nettis Dramentheorie auch durch eine Art von Katharsis aus, zu der er er-
klärt, dass seine „Auffassung des Dramas“ unter anderem der „Brecht-
schen entgegengesetzt“ ist, weil er keine „Kluft“ will, sondern „Erschütte-
rung“, „Grauen, eine offen anerkannte Teilnahme, wie sie im antiken
Drama schon da war“.32
Während die Rückkehr in die Vorzivilisation das Medium der Sprache zu
einem der ‚inneren‘ Geräusche und lautlichen Wechselhaftigkeit herab-
stufte, sei der Sprachgebrauch, wie er in Zeiten der Hochmoderne erfolgt,
empathisch zu korrigieren. Der maßgebliche Dichter ist dazu berufen, den
verkümmerten Verwandlungs-Sinn zu aktivieren, auch ex negativo, indem
er das Misslingen der Kommunikationsakte beschreibt. Nach Canettis mi-
nimalutopischer Konzeption bedeutete dies einen einfühlsamen Sprach-
gebrauch, der auf Verstehen und Verständnis abzielte. Einsinnig spricht
Lappe in seiner Studie von „‚Sprachmystik‘“ als „Reduzierung auf lautliche
30 Ebenda, S. 29.
31 Vgl. ebenda, S. 21.
32 Vgl. ebenda.
14 Einleitung
36 Die Oralität als Wesensmerkmal beschreibt bereits Lappe, der den „Ursprung“ der My-
then im „Mündlichen“ ausmacht; Lappe, Aufzeichnungen 1942–1985, S. 49.
16 Einleitung
„extremen Sinn“ zu „fühlen, was ein Mensch hinter seinen Worten ist“
(GW 367), wie es in der Münchner Rede heißt. Gerhard Melzer fasst die-
sen Sachverhalt in die Worte, dass in den „marokkanischen Aufzeichnun-
gen“ die „Zeichen und Chiffren nicht feste, sondern abgewandelte Bedeu-
tungen“ haben.37
Die fremden Lautspiele, die seinem touristischen Gehör semiotisch nicht
zugänglich sind, nutzt Canetti zur Verklärung einer zivilisationskritischen
Haltung, die im extremsten Fall zu einer Zeit führte, die vor der Zeit liegt.
Sprache brächte im neu-mythischen Fall keinen festgelegten Inhalt mehr
hervor, sondern entstünde lautlich aus dem jeweiligen Empfinden des
„Sprechers“. Da Canetti in jener Reise, die in den 50er-Jahren erfolgte,
bereits das Konzept der Zukunfts-Gabelung vertrat, als moderate Utopie,
die mit der Aufzeichnung von 1945 aufscheint (s. A 93–94), ist vom Vor-
haben einer bloßen Entschärfung der Moderne auszugehen. Abgeleitet
wird diese Misere bei Canetti von einem Fortschritt, der zusehends
zweckrationale Formen annimmt und in eine Zergliederung der Wirklich-
keit mündet. Was Canetti hierin beschwört, ist ein zweck-entfremdeter
Sprachgebrauch, den er, wenn auch nicht zum neu-mythischen Heil, so
zum kleineren zivilisatorischen Übel erhebt.
Neben diesem kritischen Verfahren mit der Sprache, das sich vom ‚west-
lichen‘ Verständnis abhebt, nimmt der Autor auch die Technisierung,
samt dem zugehörigen Wirtschaftssystem, ins Visier, indem er Zeugen der
kolonial-imperialen Herrschaft zu Wort kommen lässt. In einem seiner Ge-
spräche klagt ein Kamelhändler, der nach eigener Aussage im Ersten Welt-
krieg an der Seite von Engländern kämpfte, mit denen er sich „nicht gut“
verstand: „‚Aber heute ist der Krieg kein Krieg mehr. Es ist nicht mehr der
Mann, der zählt, die Maschine ist alles.‘“ (SM 12) Zudem macht sich Ca-
netti Gedanken zur modernen Produktion, die als maschinelle das traditi-
onelle Handwerk ablöst. In modernistischer Manier wird jenen Objekten,
37 Vgl. Gerhard Melzer: Am Rande des Schweigens. Das [Zum] „Geheimnis“ im Werk Elias
Canettis. In: Die verschwiegenen Engel. Aufsätze zur österreichischen Literatur. Graz
[u.a.]: Droschl 1998, S. 101–117, hier: S. 111.
Einleitung 17
Was er in den Stimmen von Marrakesch schildert, sind nicht magische Au-
genblicke der Rückkunft zum Ursprung des Selbst, die dessen Rätsel ein
für allemal lösen, die letzte Verwandlung des Selbst in alle anderen. Es
sind vielmehr Augenblicke einer ‚woanders‘ gemachten sozialen Erfah-
rung des nicht weniger magischen Rätsels der Ankunft, des Selbst als des
39 Dagmar Barnouw: Elias Canetti zur Einführung (= Zur Einführung; 133). Hamburg: Ju-
nius 1996, S. 229.
1 Kultur: Der Autobiograf Europas und seine Assimilation
40 Arthur Schnitzler: Der Weg ins Freie. Hg. von Konstanze Fliedl. Salzburg [u.a.]: Residenz
1995, S. 274.
41 Vgl. Franz Kafka: Tagebücher, hg. von Hans-Gerd Koch und Michael Müller [u.a.]. In:
Schriften, Tagebücher. Hg. von Jürgen Born und Gerhard Neumann [u.a.]. 15 Bde.
Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag 2002, S. 878.
1 Kultur: Der Autobiograf Europas und seine Assimilation 23
42 Sven Hanuschek: Elias Canetti. Biographie. München [u.a.]: Hanser 2005, S. 19.
24 1.2 Ein disparates Werk, so meinungstark wie facettenreich
„Eine Lebensgeschichte ist geheim, wie das Leben, von dem es [sic!]
spricht. Erklärte Leben sind keine gewesen“ (A2 442) – das hat dieser Au-
tor, der vor allem ein Selbstbiograf gewesen ist, einmal dekretiert. Der
grammatikalische Fehler darin verrät uns: Sprechen soll hier das Leben
selbst und nicht eine fiktionale Lebensgeschichte. Wie zu sehen sein
wird, spricht Canettis Roman Die Blendung von einer schrecklich-realis-
tisch variierten Lebensgeschichte, die sich erst im Vergleich mit Canettis
Hauptwerk, der Autobiografie, in all ihren Teilen erschließt. Das besaß
seine Logik: Canetti, der als Fortführer des überhaupt ältesten Epos ins
literarische Leben getreten war, daraus die strikte Opposition gegen den
Tod ableitend, konnte gar nicht anders, als eine fast noch schamanen-
hafte Allzuständigkeit zu behaupten. Darin wäre Elias Canettis besondere
Statur als, wenn man so will, Selbstbiograf der (gesamten, aber doch eu-
ropäisch bestimmten) Menschheit zu sehen. Darunter machte es dieser
kauzig-geniale Großschriftsteller nicht, der lange vor seinem Berühmt-
werden bereits als ein „Geheim-Genie“43 (Robert Neumann) galt.
Beim Aufzählen der Gebrechen der Menschheit musste er sich geradezu
als ein Beschwörer der Merseburger Zaubersprüche begreifen. Das galt
für einen, der Leben zuallererst als Verwandlung begriff, realisiert unter
anderem in der Wahl identifikatorischer Menschen, die von den Züricher
Lehrern Eugen Müller und Friedrich Witz bis hin zu Karl Kraus, Abraham
Sonne, Hermann Broch und natürlich – Franz Kafka reichte. Seinen spä-
teren Berlin-Aufenthalt begriff Canetti, trotz aller damit verbundenen
Desillusionierungen, als eine Art von Beseitigung der Vorbilder, was er
43 Vgl. Robert Neumann, Bd. 6: Ein leichtes Leben. Bericht über mich selbst und Zeitge-
nossen. In: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. 15 Bde. München [u.a.]: Desch
1963, S. 112. – Neumann war Canettis allererstes Hass-Objekt, weil er in nahezu allem
sein Gegenteil verkörperte. Während Canetti es gewiss war, für die Nachwelt berühmt
zu werden, wollte Neumann „lebenden Ruhm“, wie Ersterer es selbst niedergeschrie-
ben hat; 20.06.1943, ZB 7; zitiert nach: Hanuschek, Biografie, S. 343.
1 Kultur: Der Autobiograf Europas und seine Assimilation 25
47 Siehe Anna Sebastian [d. i. Friedl Benedikt]: Das Monster. Hg. von Thomas B. Schu-
mann. Hürth bei Köln [u.a.]: Edition Memoria 2004 (engl. EA 1944).
1 Kultur: Der Autobiograf Europas und seine Assimilation 27
Initiiert wurde seine Studie ausgerechnet durch das Erlebnis eines sozia-
listischen Arbeiteraufmarsches, der noch in Canettis Vorkriegs-Wien er-
folgte (und gar nicht frei war von der Lust der Ich-Auslöschung, die zu-
gleich unter Konservativen zu finden war). Ergänzend wie auch kontras-
tierend dazu stehen die einzelnen Autobiografie-Teile mit ihren Stich-
worten ‚Zunge‘, ‚Ohr‘ und ‚Auge‘, die mehrere Jahrzehnte seiner Lebens-
zeit umfassen: von der Geburt in Bulgarien, am Donaustrand, bis zum
Tod der Mutter in Paris, unweit der Seine. Dies alles steht unter dem As-
pekt eines assimilatorischen Hineinwachsens in Europas Kultur.
Mit Blick auf diesen Tatbestand lässt sich begründen, warum gerade die
beiden ersten Bände dieser Lebensbeschreibung das konzentrierte Inte-
resse der Leser wie auch der Literaturwissenschaft auf sich gezogen ha-
ben. Die Autobiografie gilt nicht nur als Bestseller des Autors, sondern
sie war auch entscheidend für die Vergabe des Literatur-Nobelpreises,
wie sie im Jahr 1981 erfolgte. Die Lebenserinnerungen, zu denen ebenso
die Englischen Jahre zählen, wurden begründet (und werden ergänzt)
durch die bislang noch nicht vollständig publizierten Aufzeichnungs-
Bände, die ihrerseits ein Universum bilden, – ein immer noch weithin un-
erschlossenes. So sicherte er sich als Spezialist für das europäische Kul-
turleben schon zu Lebzeiten das Interesse, das sein Nachleben zu verbür-
gen scheint: durch eine Fülle des Disparaten, gebündelt gegen den
Hauptfeind des mythischen Gilgamesch in Stellung gebracht.
Zwischen diesem autobiografischen Universum aber und Canettis einzi-
gem Roman Die Blendung (der als Auftakt für eine achtteilige Romanse-
rie gedacht war) liegen mannigfache Querverweise vor. Sie werden uns
verraten, wo das Herzstück dieses europäisch verbindlichen autobiogra-
fischen Erzählens bei Canetti aufzufinden ist: nämlich in der komplizier-
ten freudianischen Dynamik einer ödipal geprägten Mutter-Sohn-Bezie-
hung, also im Wiener Vermächtnis Freuds. Zu dieser Beziehung gehört
ganz wesentlich die in ihr ausbuchstabierte jüdische Assimilation, die als
bedeutende Leistung der europäischen Kultur gelten darf. Wie aber diese
Psychomechanik in das Canetti’sche Erzählen hineingeriet, als jener Mo-
28 1.3 Die Dramen, die Autobiografie und das aufgeklärte Europa
tor, der das Erzählen erst ins Laufen brachte, auch dies gilt es darzustel-
len. Die Blendung ist dementsprechend, so fühlt man sich versucht zu
formulieren, eine schreckliche (und zugleich komische) Fratze des Unter-
gangs aller Vernunft, entnommen der damals aufschießenden Feuerlohe
totalitär-faschistischer Regression. Die cartesianische Raison, wie sie
einstmals in den Büchern zugegen war, ging darin in Feuer auf; bis sie zu
Asche verbrannt war und verstreut wurde. Das geschah zeitgeschichtlich
im ersten Vorlauf der NS-Herrschaft, und dann wissenschaftlich-metho-
disch im Vollzug der Postmoderne. Canettis Romanheld sollte ursprüng-
lich „Kant“ und nicht „Kien“ heißen und im Untergang ‚Feuer fangen‘ (so
wie die europäische Theorie der Autobiografie, überliefert aus der Auf-
klärung, in de Mans postmoderner Theorie).
48 Vgl. Horst Bienek: Die Zeit entläßt uns nicht. Elias Canetti. In: Der Blinde in der Biblio-
thek. Literarische Portraits. München [u.a.]: Hanser 1986, S. 93–103, hier: S. 101.
1 Kultur: Der Autobiograf Europas und seine Assimilation 29
Clustern vorliegen sah. Auch Canettis eigenes Schreiben sollte dazu die-
nen, sich das literarische Erbe der Menschheit erneut und variiert anzu-
eignen, als eine Tradition, die ihrerseits an Verwandlungen reich ist. Auf
die zahlreichen Schnittpunkte, an denen sie mit der Bildung des mensch-
lichen Selbst zu schaffen hat, zielte also seine Dichtung. Das war keines-
wegs als bloßes ‚Maskenspiel‘ gemeint, sondern, und im genauen Gegen-
teil dazu, als ein Rückgriff auf das Göttliche in der Literatur selbst.
Darin war Canetti von einem kauzig-verstiegenen (vielleicht auch „spani-
schen“) Stolz getrieben, auch als er in seinem famosen Brief an Gott, der
als Hommage an des Herrn Verwandlungspotential gedacht war, doch
tatsächlich formulierte:
Lieber Gott, verzeih mir, dass du nicht auf der Welt bist […][.] Du warst
abwechselnd böse und gut, herrisch und bescheiden, starr und geschmei-
dig; […] du bist auch hungrig; deine Nahrung gibt es nicht; sie ist zu oft in
Fleisch und Blut verwandelt worden […].49
Das erinnert an den von Canetti bewunderten Kafka, an dessen späte Er-
zählung über die musizierenden Hunde aus Forschungen eines Hundes,
oder eben auch an den Hungerkünstler. In jener Gottesentzogenheit ge-
langt Canetti, der Selber-Menschenbildner, zu sich selbst: „[…] ich könnte
sie [die ‚Nahrung‘] dir reichen; von mir nimmst du keine.“50 Das mochte
so gewesen sein; doch zu ergänzen ist an dieser Stelle, dass es geraume
Zeit, über drei Jahrzehnte, brauchte, bis dieser Elias Canetti, der Brief-
schreiber an den Allmächtigen, selbst gottgleich berühmt geworden war,
am Lebensende und im biblischen Alter. Das wurde ausgerechnet er, der
den zweiten Band zu Masse und Macht wiederholt versprach und nie ge-
schrieben hat; er, der acht Romane schreiben wollte als neue ‚menschli-
che Komödie‘, diesmal der Irren, und der dann tatsächlich einen einzigen
vollendet hat; er, der nach den Befristeten keine Dramen mehr fertigstel-
len konnte, dann aber, mit den Stimmen von Marrakesch, einen eher tou-
ristischen Bestseller schuf. Das war jener ebenso eurozentrische wie
selbstbezogene Canetti, der dann noch ein ganzes System von Aufzeich-
nungen und eine der letzten gültigen Autobiografien Europas schreiben
sollte. Das alles geschah zu Zeiten, in denen ein ehemaliger Nationalso-
zialist, ein Todes-Diener, die vormals Goethe’sche Substanz in der selbst-
biografischen Entelechie schlankweg, doch fremdwortreich zum ‚Mas-
kenspiel‘ erklärte, – was für Canetti selbstverständlich Teufelswerk sein
musste. Denn nicht erst der Nobelpreisträger perhorreszierte den Tod als
den Erzfeind des Menschen. Das erfolgte anfänglich als neuer Gilga-
mesch und dann als neuer Odysseus, womit durchaus ein Fortschritt vor-
liegt, wie zu sehen sein wird.
Dass Canettis europäisches Jahrhundertleben, in seine mehrbändige Au-
tobiografie gefasst und von der Mythen-Erzählung Masse und Macht
flankiert, Werke hervorbrachte, die eine sehr lange Entstehungszeit auf-
wiesen, hing womöglich auch mit seiner sephardischen Herkunft zusam-
men. Aus der Distanz von gut 70 Jahren zeichnete er, in diesem Lebens-
lauf im engeren Sinn, eine exemplarische europäische Autobiografie
nach. Darin zeigen sich die immanenten, europäisch hergebrachten Ge-
setzmäßigkeiten, die er als solche reflektierte. Sein Verfahren beruhte
auf Herkunft wie Erlebnis gleichermaßen, und eben auf der literarischen
Reflexion beider Einflüsse im selbstbiografischen Rückblick.
Gegenüber der orthodoxen Religiosität seiner Herkunftswelt hatte sich
der Denker Canetti seine Unabhängigkeit durch Anschluss an die europä-
ische Vernunft, die von Erasmus über Descartes bis hin zu Kant reichte,
gesichert. Die eschatologische und messianische Dimension des jüdi-
schen Glaubens verlor für ihn früh ihre Gültigkeit. Die endgültige Absage
an sie erfolgte dann aus jener Bannmeile heraus, die Canettis alles über-
schattender Kampf gegen den Tod in ihm errichtete: „Die Menschen kön-
nen nur einander erlösen. Darum verkleidet sich Gott als Mensch.“ (A 52)
Der Komplex wird literarisch beglaubigt durch das neu errichtete Tö-
tungsverbot, das der – mythisch auftretende – sephardische Großvater
1 Kultur: Der Autobiograf Europas und seine Assimilation 31
aussprach. Der Anlass dazu war, dass Canetti in Rustschuk jenes Mäd-
chen totschlagen wollte, das ihm den Zugang zur Schrift verweigerte.
Seine frühe kritische Haltung gegenüber den Religionen „bestätigt“ sich,
„wenn er in ‚Die Fackel im Ohr‘ schildert, mit welcher Empörung er als
Kind im Religionsunterricht in Manchester auf die Geschichte von Abra-
hams Opferung des eigenen Sohnes reagierte: Die Anmaßung Gottes,
sich im Verhältnis zu den Menschen eines Todesbefehls zu bedienen,
hielt Canetti für immer davon ab, ‚zum gläubigen Juden zu werden‘
[…].“51 Nun war es freilich in der Glaubenswirklichkeit der Bibel so gewe-
sen, dass der (jüdische) Gott seinen Opferungsbefehl widerrief – und da-
rin Religionsgeschichte schrieb. Der Aufrührer Canetti aber verzeihte kei-
nem Gott, egal welcher religiöser Provenienz, dass der Mensch zu ster-
ben hat. Geradezu empört wies er alle Tröstungen darüber zurück.
Früh reduzierte er die jüdische Offenbarungs- und Verkündigungstheolo-
gie, die ihn als Knaben noch erreicht hatte, auf diesseitige, im Wesentli-
chen soziale Beziehungen. Für diesen von der europäischen Aufklärung
geprägten Geist hatten die eschatologischen und messianischen Dimen-
sionen des jüdischen Glaubens so ihre Gültigkeit verloren. Was Canettis
Selberlebensbeschreibung zu einer für die Aufklärung repräsentativen,
und damit zu einer paradigmatisch europäischen, Schrift erhob, war
nicht zuletzt sein Glaube an das Weiterleben des Autors in seinem Text
auf Erden, statt in einem von Gott lizensierten Jenseits. Davon lebt die
Emphase jenes berühmt gewordenen Beginns der Geretteten Zunge, wo
das Sprechwerkzeug des Knaben vor der balkanischen Gewalt eines ty-
rannischen Erwachsenen gerettet werden muss – um dann in der be-
wahrten Erinnerung seinen Ewigkeitsraum zu finden.
Der sephardische Jude, an einen katholisch-österreichischen Kulturbe-
griff assimiliert, ging hier in die Tradition der europäischen Aufklärung
ein. Auch Canettis großes Vorbild Kafka war auf seine Art ein Kind der
51 Vgl. Martin Bollacher: „Spaniole“ und „deutscher Dichter“. Elias Canettis Verhältnis
zum Judentum. In: Elias Canetti (Text + Kritik; 28). Hg. von Heinz L. Arnold. 4. Aufl.
München: Edition Text und Kritik 2005, S. 92–103, hier: S. 93.
32 1.3 Die Dramen, die Autobiografie und das aufgeklärte Europa
52 Siehe hierzu das Kapitel „Habsburg und die ‚Emancipation der Jüden‘ im Jahr 1883: Ein
für Franz Kafka zentraler Diskurs“ bei: Bernd Neumann: Der andere Franz Kafka. Ein
Prager Dandy zwischen Einsteins Relativitätstheorie und Mozarts Musik. Würzburg:
Königshausen und Neumann 2018, S. 155–159.
53 In Luthers Kirchenlied „Eine feste Burg ist unser Gott“ lautet der erste Vers der vierten
Strophe: „Das wort Sie sollen laßen stan“; Philipp Wackernagel (Hg.): Martin Luthers
geistliche Lieder. Mit den zu seinen Lebzeiten gebräuchlichen Singweisen. Stuttgart:
Samuel G. Liesching 1848, S. 56.
54 Durzak, Elias Canettis Weg ins Exil, S. 123.
1 Kultur: Der Autobiograf Europas und seine Assimilation 33
55 Siehe hierzu Bernd Neumann: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiogra-
phie (= Athenäum-Paperbacks Germanistik; 3). Diss. Frankfurt a. M. Frankfurt a. M.:
Athenäum 1970, S. 33 u. 52.
56 Hanuschek, Biografie, S. 56.
34 1.3 Die Dramen, die Autobiografie und das aufgeklärte Europa
die Tatsache, dass Canettis Eltern, die zeitweise in Wien zur Schule ge-
gangen waren, das Wiener Deutsch zur Sprache ihrer Liebe erklärten und
darin ein kulturelles Kraftfeld schufen. In jenem sich entfaltenden Gesell-
schaftsraum war auch der Buch- und Drucksektor zunehmend auf die
Habsburger Monarchie ausgerichtet. So überrascht es nicht, dass Wien,
wie Hanuschek schreibt, der „Mittelpunkt des bulgarischen Buchdrucks“
war: „Die kulturelle Elite des Landes studierte vor allem in Wien und in
München, parallel zur Entwicklung der bulgarischen Literatur wurde die
deutsche in Übersetzungen gelesen – Wieland, Lessing, Goethe, Schiller
und Heine waren gewissermaßen auch bulgarische Kanonautoren.“57 Die
Stadt Rustschuk europäisierte sich. Der osmanische Balkan verschwand
sukzessive unter dieser neuen Welthaltigkeit – und dennoch ist die do-
minierende Farbe der Canetti’schen Jugend das „Rot“ (GZ 9) der Leiden-
schaft.
Anderes kam hinzu: Canetti wurde von der Mutter nicht nur das Bewusst-
sein vermittelt, einer reichen Familie anzugehören (in der noch eine ar-
chaisch anmutende, „osmanische“ Sippengehorsamkeit herrschte). Auch
hielten sich die Sepharden für Juden ganz besonderer Art: für ein auser-
wähltes Volk innerhalb des auserwählten Volkes, was jede Assimilation
noch einmal zur besonderen Aufgabe geraten ließ. Canetti freilich eman-
zipierte sich im Sinn der mitteleuropäischen Aufklärung schon bald vom
Glauben seiner Väter. Noch die Spottfigur Fischerle in der Blendung de-
monstriert dies auf ihre Weise.
Nach dem „Anschluss“ Österreichs an Hitlers Deutschland musste Ca-
netti, der Religionskritiker, dann realisieren, dass von allen alten wie
neuen Religionen offenbar nur die der Macht übriggeblieben war. Das
war jene Macht, die nicht zuletzt als antisemitisch ausgerichtete den Tod
in sich barg und deshalb bedingungslos zu bekämpfen war. Die Macht der
Masse wiederum, Canettis anderes Leitthema, hatte der Autor in Wien
kennengelernt. Anlässlich des Brandes des Justizpalastes vom 15. Juli
1927 geschah dies. Er erlebte die Masse und die Macht in gleichermaßen
57 Ebenda, S. 34.
1 Kultur: Der Autobiograf Europas und seine Assimilation 35
musste. Dieser sah sich nun ausschließlich auf sich als Individuum gewor-
fen, womit sich das Ziel des Weiterlebens in der schriftlichen Erinnerung
verband. Damit aktualisierte sich mithin die Innerlichkeit des europäi-
schen Menschen, wie Canetti sie unter anderem bei dem Denker Michel
de Montaigne vorgebildet gefunden hatte: „Das Jenseits ist in uns: eine
schwerwiegende Erkenntnis […]. Dies ist die große und unlösbare Zer-
klüftung des modernen Menschen. Denn in uns ist auch das Massengrab
der Geschöpfe.“ (A 220)
Seit seiner Bekanntschaft mit dem Gilgamesch-Mythos führte dieser Au-
tor einen monomanisch-grandiosen Feldzug gegen den Tod. Der Bleistift,
ein Schreibgerät, das zu Dutzenden gespitzt auf dem Schreibtisch vorrä-
tig gehalten wurde, gab das Schwert dieses Mythomanen ab. Die tägliche
Literaturproduktion fungierte als seine Unsterblichkeitsdroge, der er al-
les andere unterordnete, selbst seine mythisch-faunischen Liebesbezie-
hungen. Seine bedingungslose Abneigung gegen Krieg und Gewalt erhielt
er vom gütigen, belesenen Vater vermacht (worin ihn später die Mutter
bestätigte). All das steht für ein prägendes kulturgeschichtliches Rhizom,
entsprach damals auch der Zeit und der Umgebung. Die „meisten Ver-
wandten lebten schließlich noch auf dem Balkan, der Krieg würde für Bul-
garien fatale Folgen haben und den Ersten Weltkrieg einläuten, an des-
sen Ende das Land wirtschaftlich und politisch zerrüttet war“.60
Dennoch ist die Canetti’sche Erzählung vom Herztod des Vaters, der
durch den Beginn der Balkankriege ausgelöst worden sei, eine bloße
Mutmaßung (s. GZ 78). Sie ist mithin ‚Dichtung‘, aber auch ‚Wahrheit‘.
Also könnte man Platons Verdikt nach schlussfolgern, dass die Dichter,
allein indem sie lügen, die Wahrheit ans Licht bringen? Was dieser Schrei-
ber als Mensch erfuhr, ging stets in seine Literatur ein. Selbst Canettis
notorische ‚Menschenfresserei‘, jene intensiven Gespräche mit teils un-
bekannten Personen, die sich ihm gegenüber seelisch entblößten – wie
unter Zwang geschah dies –, fallen darunter. Seine lauschfreudigen Café-
haus-Besuche dienten dem Herstellen der ‚akustischen Masken‘ für die
61 Vgl. Ruth von Mayenburg: Blaues Blut und rote Fahnen. Ein Leben unter vielen Namen.
Wien [u.a.]: Molden 1969, S. 110.
62 Vgl. ebenda, S. 111.
38 1.4 Eine sephardische Jugend an der Donau
Anders verhielt es sich darin mit seinem Antipoden de Man, der sich, un-
ter deutscher Besatzung im Zweiten Weltkrieg, durch das Aufspüren jü-
discher Elemente in der belgischen Literatur darauf vorbereitete, die
klassische Autobiografie in ‚Maskenspiele‘ aufzulösen. Dagegen entstand
Canettis Literatur noch aus einer strikten Resistenz gegenüber dem To-
talitär-Faschistischen (gegen das der Masse und Macht-Autor keines-
wegs von vornherein gefeit zu sein schien). Im Gegensatz zu dem belgi-
schen Kollaborateur war Canetti das entelechische Prinzip durch den gü-
tigen Vater und eine medusenhaft werdende Mutter eingesenkt worden.
Beide Bezugspersonen hatten mit der Welt der Bücher, der österreich-
deutschen Sprache und Kultur zu tun als dem Telos einer Verwandlungs-
Entelechie, einer vollständigen kulturellen Metamorphose. Während de
Man sich ins Rhetorische flüchtete und seine Identität modegerecht um-
montierte, hielt Canetti (das Pathetische war immer schon seine Positur)
tapfer an seinem renaissancehaften Allzuständigkeitsgedanken fest:
Mein ganzes Leben ist nichts als ein verzweifelter Versuch, die Arbeitstei-
lung aufzuheben und alles selbst zu bedenken, damit es sich in einem Kopf
zusammenfindet und darüber wieder Eines wird. […] Es ist beinahe sicher,
daß ein solches Unternehmen nicht gelingen kann. Aber die sehr geringe
Aussicht, daß es gelingen könnte, ist an sich schon jede Mühe wert. (A 52)
Das war nicht nur transdisziplinäre Deklamation, denn Canetti löste das
Deklamierte später auch in seiner Selbstbiografie ein: eben weil er in ihr
die Verwandlung gegen das ‚Maskenspiel‘ setzte, darin eine Konzeption
vom ‚ganzen Menschen‘ bewahrend, wie sie Europas Autobiografie von
ihren Anfängen her eingesenkt war.
Als Geschichte einer Jugend erschien die ‚Errettung der Zunge‘ 1977.
Weitere wesentliche Organe des Kopfes gaben ihrerseits den Nachfolge-
bänden ihre Titel: den Büchern Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte
1921–1931 und Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931–1937, die dann
1980 bzw. 1985 (ebenfalls in München) erschienen. Mithin vollendete
Canetti den zweiten und dritten Band seiner Autobiografie im achten Le-
bensjahrzehnt. Aber dürfen sie auch als Literaturbeleg für erreichte Le-
bensweisheit gelten? Immerhin kann man Canettis Lebenserinnerungen
allgemein bescheinigen, ein klassisches Alterswerk zu sein in ihrer heik-
len Balance zwischen Intimität und Distanz sowie in dem Bestreben, den
Aufbau des Textes ganz auszurichten auf die zu erreichende Einheit von
Leben und Schreiben. Damit strebte er ein europäisches Ideal an, das seit
den Zeiten der Griechen und Römer bestand, sich aber erst wesentlich
ausbildete mit der mitteleuropäischen Renaissance.63
Elias Canetti strebte durchaus ein integrales Erinnerungsschreiben an,
ohne betonte Selbstanalyse, Erzählexperimente, ideologische Fixierung64
oder bohemische Provokation. So stand er der sich damals konstituieren-
den Moderne mit ihrem desillusionierenden Erzählen entgegen. Er hin-
gegen praktizierte ein pointiertes wie beiläufiges, aber blick- und tiefen-
scharfes Erzählen, das zuweilen sarkastisch war und stets temperament-
voll im Rückblick auf ein langes Leben. Daraus ging der berühmt gewor-
dene Auftakt der Geretteten Zunge hervor, wo der zweijährige Knabe ein
Trauma erfährt, als ihm der Liebhaber eines Dienstmädchens mit dem
Herausschneiden der Zunge droht, damit beider Verhältnis nicht bekannt
werde. Das früh von Sprache und Schrift faszinierte Kind verschwieg das
(eher erahnend wahrgenommene) Verhältnis dann auch.
Es wuchs auf im fast noch orientalischen Milieu einer sich rasant am ös-
terreichisch-ungarischen Modell modernisierenden Donau-Kleinstadt.
Der Knabe sprach noch das altertümliche Spanisch seiner sephardischen
Herkunft. Er wurde – in diesem Idiom – schon früh mit dem archaischen,
teils osmanischen Gewaltcharakter, der innerhalb des Familienverbun-
des herrschte, vertraut gemacht. Der verfügte zwar über Besitz und in-
ternationale Verbindungen, aber die europäische Kultur nahm darin eine
geringere Bedeutung ein. Gegen dessen archaische Bindungsgewalt hat-
ten bereits die Eltern ihren geschilderten Burgtheater-Kultus eingerich-
tet, stets auf das Deutsche als Geheimsprache ihrer Liebesentscheidung
bedacht. Canettis Assimilationswahl erfolgte aus einem anderen Anlass
als bei (dem von ihm hochverehrten) Franz Kafka, der einem ernormen
Sozialdruck ausgesetzt war. Entscheidend war der Wunsch des sephardi-
schen Knaben, untrennbar der deutschsprechenden Liebes- und Kultur-
welt seiner Eltern anzugehören. Das ferne, leuchtende, klingende Wien
erschien darin, westlich donauaufwärts gelegen, sozusagen als das
Schloss des „Grafen West-West“ aus Franz Kafkas letztem Roman, – beim
frühen Canetti war dies ein mythischer Ort, der aus Opernkultur und Psy-
choanalyse bestand.
Wien jedenfalls wurde zum Magnetpol eines exemplarischen europäi-
schen Assimilantenlebens. Entsprechend fand diese Lebenssehnsucht
die einzig angemessene Darstellungsweise im Muster der europäischen
Autobiografie, mit deren Elementen des Bildungsromans. Dem war in der
Thematisierung des lebensgeschichtlich Kennzeichnenden die freiere
Form seines Romans, mit der Blendung, vorausgegangen. Der Sachver-
halt bestätigt lediglich die, hier angesprochene, notorisch enge Verbin-
dung zwischen (deutschem) Bildungsroman und europäischer Autobio-
grafie.
Auch von daher erscheint es als kein Zufall, dass Canettis späterer Durch-
bruch zum Weltschriftsteller (zu dem er in der Zuerkennung des Nobel-
42 1.4 Eine sephardische Jugend an der Donau
Auch der Tod des Vaters, der zeitlich zusammenfällt mit dem Beginn des
Balkankrieges und damit der Herrschaft von Macht, Massengehorsam und
Tod, verschmilzt in der kindlichen Psyche mit dem Glauben an die lebens-
erhaltende Magie der Sprache; durch das Erzählen von Geschichten
kämpft das phantasiebegabte Kind gegen den Einbruch von Krankheit,
Krieg und Vernichtung in seine Welt an.65
65 Cornelia Fischer, Bd. 3: Elias Canetti: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. In:
Bp–Ck (= Kindlers Neues Literaturlexikon. Hg. von Walter Jens. 20 Bde.). München:
Kindler 1989, S. 575–577, hier: S. 576.
1 Kultur: Der Autobiograf Europas und seine Assimilation 43
einer Vorliebe, die für die deutschsprachige Kultur bestand. Durch die
psychoanalytische Prägung im balkanischen Rustschuk geriet Canettis Le-
bensthema in eine besondere, eben sephardische, Ontogenese hinein. In
der Folge ergibt sich eine erstaunliche Modellierung des Bildungsverlaufs
durch freudianische Mächte: Als später die Mutter ihren Ehepartner ver-
loren hatte, übertrug sie ihre Bindungslust ganz auf den Sohn. Mit einer
Gewaltkur, gegen alle Regeln einer humanen Pädagogik, führte sie ihn in
das Deutsch als ihre Sprache ein. So wurde er zwangsverbunden mit die-
sem bereits heimlich geliebten Idiom. Derart erfolgte der entscheidende
Spracherwerb für diesen kommenden ‚Dichter deutscher Zunge‘; es tat
sich ein freudianisch zutiefst kontaminiertes Be- und Erziehungsfeld auf,
das von einer nun megärenhaften Mutterfigur beherrscht wurde. Canet-
tis Mutter zwangsassimilierte den Sohn mit der archaischen Gewalt einer
neurotisierten Liebe auch an die Kulturwelt der Literatur und des Thea-
ters. Das geschah vorzugsweise auf dem österreichisch-deutschen Sek-
tor, wie er zu Rustschuker Zeiten für die Eltern noch die ‚Welt bedeutete‘.
Nicht nur hierin scheinen charakteristische Reflexe einer exemplarischen
europäischen Autobiografie auf, die der eines Aurelius Augustinus ent-
spricht (auch im Verhältnis zu einer bereits christlich überzeugten Mut-
ter). Denn der heranwachsende Elias Canetti trat nun die musterhafte
Lebensentwicklung eines assimilierten Juden im deutschsprachigen Be-
reich an (und schrieb, dank seiner literarisch-kulturellen Begabung, am
Ende auch eine musterhaft-kollektive Selbstbiografie). Als kommender
Selbstbiograf nahm Canetti die Geschichte einer Kulturentwicklung in
sich auf, wie sie ausschließlich in Europa auf ihren Gipfelpunkt getrieben
werden konnte.
Dabei hatte der Frauenliebhaber Canetti auch einen Vorläufer in Casa-
nova, der ebenso ein bedeutender Selbstbiograf gewesen ist. In der Lite-
raturgeschichte, deren Überschrift lauten kann „Von Franzos zu Canetti.
Jüdische Autoren aus Österreich“,66 stellt sich Canettis Autobiografie
66 Siehe Mark H. Gelber (Hg.): Von Franzos zu Canetti. Jüdische Autoren aus Österreich
(= Conditio Judaica; 14). Tübingen: Niemeyer 1996.
44 1.4 Eine sephardische Jugend an der Donau
67 Johannes Pankau (Hg.): Nachwort. In: Arthur Schnitzler, Casanovas Heimfahrt (= Rec-
lams Universal-Bibliothek; 18160). Stuttgart: Reclam 2003, S. 135–156, hier: S. 139.
68 Edgar Piel: Der Gewalt den Garaus machen. Archaische Szenerie und neuer Mythos
bei Canetti. In: Hüter der Verwandlung. Beiträge zum Werk von Elias Canetti. München
[u.a.]: Hanser 1985, S. 148–166, hier: S. 163.
69 Johann W. von Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil (= Reclams Universal-Biblio-
thek; 2). Stuttgart: Reclam 1999, S. 49/V. 6287–6288.
1 Kultur: Der Autobiograf Europas und seine Assimilation 45
In all solch erfundene Szenerie spielt Erlebtes dadurch hinein, dass neben
Canettis Wien auch die Eindrücke aus der Großstadt Berlin zur Geltung
gelangen. In deren Chaos der 20er-Jahre musste er erleben, wie gegen-
über dem dominanten und revolutionären Brecht selbst sein Idol Kraus
zum servilen Plauderer herabsank. Auch der bereits prä-nationalsozialis-
tische Brand des Wiener Justizpalastes aus dem Jahr 1927 samt dem er-
lebten Aufgehen des Individuums in der Masse (und andererseits die be-
sinnungslos ausgeübte Gewalt des Staates), – sie sind beklemmend zu-
gegen und gelangen breit ins Bild. Alle diese Elemente verliehen dem
Text die Canetti’sche Signatur.
Sie entstammen der konstruktivistischen Technik von ‚Sprechmasken‘,
also Dialekt sprechenden Personen, und keineswegs einer harmonischen
Figurenzeichnung. Die Wiener Alltags-Monstren erinnern in manchem an
Kraus’ Letzte Tage der Menschheit, und die ‚akustischen Masken‘ späte-
rer Theaterstücke sind in der romanhaften Gestaltungsweise bereits
sichtbar. Angesiedelt sind diese in einem bereits Dollfuß’schen Öster-
reich, wo das Habsburgische gespenstisch ins Klerikalfaschistische um-
schlägt. Während der Krüppel Fischerle jüdischen Selbsthass und wahn-
hafte Selbstüberschätzung figuriert, gleicht der Hausmeister, in seiner
vorgeblichen Gemütlichkeit, bereits einem SA-Schläger. Das Buch ist da-
rin von einer beklemmenden politisch-zeitgeschichtlichen Hellsichtig-
keit. Es stellt eben nicht nur die Demontage des idealisierten bürgerli-
chen Individuums dar, das Gegenstand der klassischen Selbstbiografie
wie des Bildungsromans war, wie Mechthild Curtius erkannt hat,70 son-
dern überdies dessen Übergang in das NS-Kleinbürgertum.71
70 Curtius spricht davon, dass der Roman „viele Sadismen und andere Pervertierungen
belegt“ und „Menschen dieser psychischen Struktur“ für den „Faschismus anfällig“
sein müssen; Mechthild Curtius: Kritik der Verdinglichung in Canettis Roman Die Blen-
dung. Eine sozialpsychologische Literaturanalyse (= Abhandlungen zur Kunst-, Musik-
und Literaturwissenschaft; 142). Diss. Marburg 1971. Bonn: Bouvier 1973, S. 75.
71 Siehe hierzu Elemér Tarján: Wirklichkeitsdarstellung in Elias Canettis Roman Die Blen-
dung. In: Die österreichische Nation (Salzburg) 25 1973, S. 50–54, hier: S. 52.
1 Kultur: Der Autobiograf Europas und seine Assimilation 47
72 Barbara Meili: Erinnerung und Vision. Der lebensgeschichtliche Hintergrund von Elias
Canettis Roman Die Blendung (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik;
115). Diss. Zürich 1984/85. Bonn: Bouvier 1985, S. 52.
48 1.5 Ein Roman als Vorspiel zur Selbstbiografie
Figur des Siegfried Fischerle. Auch darin ist das, was Canettis Autobiogra-
fie sozusagen in geheiligter Erinnerung abhandeln wird, in der Romanfik-
tion ins Grotesk-Böse verhext. Fischerle wird in der Selbstbiografie dann
als weiser Krüppel mit Schachspielkenntnissen gezeichnet, als ein Aus-
nahmestudent namens Thomas Marek, der von seinem Philosophieleh-
rer mit Liebesdienerinnen versorgt wurde, womit Wien zum Ort einer
speziellen Menschenliebe wird. Dieser Stachel im Fleisch der ‚kakani-
schen‘ Humanität wurde in der Blendung zugespitzt und schneidend ver-
schärft. Es entsteht eine durch und durch paradoxale Erzählwelt. Sie ge-
mahnt in dieser Eigenschaft tatsächlich an Kafkas Assimilations-Romane.
Auf den Proceß hat sich Canetti später auch explizit berufen, mit bedeu-
tenden Folgen für die Kafka-Forschung. Gerade deshalb hat der Roman-
autor Canetti seine Lebenserfahrung zu einer Diagnose der Epoche aus-
zufalten vermocht; und das nicht nur darin, dass das einsame Gelehrten-
leben Kiens in einem selbstzerstörerischen Akt endet. Das nämliche eu-
ropäisch-autobiografische Prinzip, wonach das, was man erlebt hat, ei-
nen auch lebenstüchtiger machte, wird ins karikierte Negativum einer
ganz modern gehaltenen Romanfiktion hinübergespielt. In der Forschung
hat man diesen Sachverhalt überzeugend entfaltet, zumal es sich keines-
wegs so verhält, dass „[a]ugenfällige Analogien zwischen Fischerle und
Canetti“ „ganz“ „fehlen“ würden,73 was übrigens der Text selbst weiß.
Canetti war zwar ein stolzer und kompromissloser spaniolischer Jude, ein
verführerischer Faun in der europäischen Künstler-Szene, der bereits er-
folgreich ‚seinen Mann gestanden‘ hatte – in Wien, Zürich, London und
Paris. Doch aus ihm, dem am Ende die Identitätsverwandlung in den
‚Dichter deutscher Zunge‘ und international gefeierten Nobelpreisträger
triumphal gelang, hätte durchaus auch der ‚getriebene‘ und hässliche Fi-
scherle werden können. Dabei hätte es sich um einen Charakter gehan-
delt, der seine Assimilationskarriere mit einer Schachweltmeisterschaft
76 Siehe Siegbert Tarrasch: Das Schachspiel. Systematisches Lehrbuch für Anfänger und
Geübte. Berlin: Deutsche Buch-Gemeinschaft 1931.
1 Kultur: Der Autobiograf Europas und seine Assimilation 51
77 Siehe hierzu Ritchie Robertson: The ‚Jewish question‘ in German literature. 1749–
1939. Oxford University Press: Oxford 1999 (Reprint 2002), S. 341.
78 Meili, Erinnerung und Vision, S. 115.
52 1.6 Judentum, Verwandlung und Menschenfresserei
letztes Wort. Denn in Canetti, dem Romancier, der durch kritische Ein-
sichten selbst einen Stefan Zweig überstrahlte, war eben auch einer der
letzten Autobiografen Europas verborgen. Nur als solcher vermochte der
assimilierte Sepharde die Wahrheit dessen aufleuchten zu lassen, was
Walter Benjamin vor ihm gewusst hat: „Glücklich sein heißt ohne Schre-
cken seiner selbst innewerden können.“79 Kann man sich den Autobio-
grafen Canetti in diesem Sinn als einen glücklichen Menschen vorstellen
– und als einen modernen Nachfolger des Odysseus? Tatsächlich hatte
sich Canetti (eben als ein Odysseus redivivus) bereits 1933 die Maxime
notiert: „[A]lles aufnehmen und nichts hergeben und im Alter die Welt
mit seiner Endgültigkeit überschütten.“80 In solchen Zeilen scheint die
endliche Heimkehr nach Ithaka bereits im Voraus imaginiert gewesen zu
sein. Das ist dem Autobiografen gelungen, weil seine Selbstbiografie den
Roman (wie auch seine Theaterstücke) unter anderem dadurch korri-
giert, dass er mit Dr. Sonne den exemplarisch weisen Juden abkonter-
feite.
Das zentrale Prinzip der Autobiografie, wie auch das allen Dichter-Seins,
besteht laut Canettis Poetologie in der Verwandlung, also in einer Meta-
morphose. Die ist jedoch, wie schon bei Ovid, nicht lediglich Verstellung
oder gar ‚Maske‘ gewesen. Sie war vor allem ein Weg, zu sich selbst zu
gelangen, mit sich selbst identisch zu werden. So sah Canetti den „Ur-
sprung des Menschen in seiner Fähigkeit zur Verwandlung“ (ARG 260),
wie eine Äußerung gegenüber Joachim Schickel lautete. Deren womög-
lich anthropologische Wahrheit ist hier nicht zu diskutieren. Sie hat viel-
mehr als wesentlicher Baustein für die Canetti’sche Vorstellung vom Au-
tobiografischen zu interessieren. Wurde doch Vieles in seiner Anthropo-
logie apodiktisch, eindimensional, aus einem Opponieren gegen die an-
erkannten Autoritäten heraus formuliert. ‚Akustische Masken‘ bestim-
men die Theaterstücke Canettis, und funktional zusammengeschraubte
Selbst wer die Verwandlung als Basis aller Werke Canettis […] anerkennte,
würde wohl mit Vehemenz auf e i n e r Ausnahme bestehen: der Autobio-
graphie. […] Und doch behaupte ich, dass das Geheimnis von Canettis Au-
tobiographie darin zu suchen ist, dass es ihm gelingt, sich in sich selbst zu
verwandeln. […] Die eidetische Erinnerung, welche vor allem die „Geret-
tete Zunge“ konstituiert, ist die Erfahrung der eigenen Person als eines
historischen Wesens, aber nicht mit vorgegebenen Methoden, […] son-
dern von innen her, eben mit dem künstlerischen Akt der Verwandlung. 83
Was diese Schrift betrifft, sieht auch Jeremy Adler eine Selbstbezüglich-
keit der Verwandlung: „Die Figuren in der Selbstbiographie sind Canettis
(GZ 120) zu einem „eigentümlichen Vorbild“, „das sich in vielen Verwandlungen prä-
sentierte“ (GZ 119).
83 Meili, Erinnerung und Vision, S. 138–139.
56 1.6 Judentum, Verwandlung und Menschenfresserei
eigene Verwandlungen, er selbst ist die Person, die er liebt und haßt.“84
Deshalb sei es zwar „leicht, ihn zu tadeln“, doch ihn zu „begreifen dürfte
ein schwierigeres Unterfangen sein“.85
Mit dem poetischen Arsenal des alten Europa, ausgehend von dem Kriegs-
ende im Jahr 1918, das für die jüdische Assimilation so verheerend war,
verfertigte Canetti in seiner Lebensbeschreibung einerseits ‚Dichtung‘, die
andererseits einen erheblichen ‚Wahrheits‘-Gehalt aufwies.86 Das war
eine Neuinszenierung, aber eine, die die Aktualität des Themas nicht im
Geringsten verfehlte, wie es im Untergang dieses alten (und nicht zuletzt
deutschsprachigen) Mittel-Europa vorgegeben war. Er formulierte den
Protest gegen das Abtreten jenes Kontinents, eines Europas, das die
exemplarische, und dabei humanistisch beglaubigte, Verwandlung erst
ermöglicht hatte (im Rahmen der jüdischen Assimilation und im Gefolge
der Aufklärung). So ist es kein Zufall, dass gerade hierin die strategische
Verbindung zwischen Thomas Marek (alias Fischerle) und dem Autobio-
grafen Canetti aufscheint, indem er daranging, die kollektive Geschichte
der Assimilation in Mitteleuropa zu schreiben. Im Roman wird die ge-
wünschte assimilatorische Verwandlung, wie dargestellt, karikiert und zy-
nischer Entwertung preisgegeben. Der Roman erzählt von der Infragestel-
lung jener zentralen Kategorie, die als Zentrum mitteleuropäischer Huma-
nität gelten muss, – und die Canetti zu einem der letzten europäischen
Selbstbiografen bestimmte.
Das wurde Wirklichkeit, weil Canetti sich immer gegen die Bewunderung
der großen Tatmenschen ausgesprochen hatte; gegen die Caesars und die
Napoleons, den asiatischen Dschingis Khan (s. A 221). Darin gründete das
84 Jeremy Adler: Nachwort. In: Elias Canetti, Party im Blitz. Die englischen Jahre. Hg. von
Kristian Wachinger. München [u.a.]: Hanser 2003, S. 211–228, hier: S. 224.
85 Vgl. ebenda.
86 Stieg bezieht zum faktualen Gehalt seiner Autobiografie dagegen wie folgt Stellung:
„Ich zweifle nicht an der Wirklichkeit dieser Geschichte. Poetische Intensität ist kein
Argument gegen Wahrhaftigkeit.“; Gerald Stieg: Betrachtungen zu Elias Canettis Au-
tobiographie. In: Zu Elias Canetti (= Literaturwissenschaft – Gesellschaftswissenschaft;
63). Hg. von Manfred Durzak. Stuttgart: Klett 1983, S. 158–170, hier: S. 161.
1 Kultur: Der Autobiograf Europas und seine Assimilation 57
Der Verführer, der sich den kleinen Mann mit falschen Verheissungen ge-
fügig macht, ist über die poetologische Ebene hinaus eine hochpolitische
Metapher. Es fehlte den ersten Dekaden unseres Jahrhunderts nicht an
Verwandlungskünstlern, die von den Sehnsüchten des Volkes genaueste
Kenntnis besassen. Der junge Canetti hat sie in Deutschland beobachten
können und schärfer noch in Oesterreich, das in der Zwischenkriegszeit
einen grösseren Facettenreichtum an Ideologien aufwies als die Weimarer
Republik.88
hat, mit dem man die Toten wiederzuerwecken vermochte.89 Was auf
den ersten Blick banal anmutet, enthielt die Botschaft: Nur authentische
autobiografische Wiederbelebung des Vergangenen war zulässig, nicht
aber bloße Erinnerungskosmetik.
89 Siehe zur zeitgeschichtlichen Inszenierung des Autors Michael Rohrwasser, der signi-
fikante Stränge der Rezeptionssteuerung offenlegt: Der Prophet Elias. Canettis Selbst-
inszenierung als Autor der Blendung. In: Der Überlebende und sein Doppel. Kulturwis-
senschaftliche Analysen zum Werk Elias Canettis (= Rombach Wissenschaften: Reihe
Litterae; 150). Hg. von Susanne Lüdemann. Rombach: Freiburg i. Br. [u.a.] 2008, S. 19–
37. – Siehe zur zeitgeschichtlichen Beeinflussung Canettis u. a. die Autobiografiestel-
len: „Entzündbarkeit der Welt“ (FO 344) und „Bombennächten des erst kommenden
Weltkriegs“ (Au 11).
90 Vgl. Hanuschek, Biografie, S. 93. – Siehe zu diesem Problemkomplex und zu dem des
Autobiografen als Machthaber u.a.: Eigler, autobiografisches Werk, S. 61–77 u. S. 158–
175.
1 Kultur: Der Autobiograf Europas und seine Assimilation 59
sollte sie auf die andere, die hadesdunkle und sonnenabgewandte Seite
geschoben werden, nicht ohne rhetorische ‚Tricksterlogik‘. Albrecht Ko-
schorke hält treffend fest, dass es „schwierig“ ist, eine „‚Gegenposition‘
zur Dekonstruktion zu formulieren, weil diese […] sich […] keiner einfa-
chen Logik des Widerspruchs stellt“.91 Dieser von Koschorke formulierte
Tatbestand ist ein Erbe der Sophisten, was im Weiteren von Relevanz
sein wird. Hat man doch versucht, Canetti, der Europas Assimilations-Au-
tobiografie geschrieben hat, mit de Man und seinen Theorien gleichzu-
setzen.
Der durchaus luzid gehaltene Essay, in dem eine solche Zuordnung un-
ternommen wurde, ist ein tragender Bestandteil des Text+Kritik-Heftes
zu Canetti. In ihm scheitert, im übertragenen Sinn gesprochen, die Heim-
kehr Odysseus. Dagegen verschwindet er in der Höhlenwelt des damals
allermodernsten philologischen Unterhaltungsbetriebes, wo man die
problematische Ansicht vertreten findet: Selbst das „scheinbar authenti-
sche autobiografische Ich […] ist das Resultat einer literarischen Kon-
struktion, die aus dem hehren Bereich der Wahrheit in den außermorali-
schen Bereich der Lüge führt“.92 Von „Lüge“ ist hier die Rede, nicht etwa
von ‚Verwandlung‘, wie es zu vermerken gilt. Wieso das so sein soll, wird
nicht dargelegt, sondern dies wird mit dem Gestus des – hoch überlege-
nen – „Modernen“ verfügt. Indem man Canettis Unterscheidung zwi-
schen ‚Verstellung‘ und ‚Verwandlung‘ schleift, löst sich die Goethe’sche
Balance programmatisch auf.93 Im genauen Gegensatz dazu hat Canetti
91 Vgl. Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, S. 343. – Siehe hierzu auch Jacques
Derrida, der einen „einfachen Gegensatz zwischen dem Akoluth und dem Anakoluth“
zu bestreiten imstande war („there is no simple opposition between the acolyte, or
the ‚acoluthon‘ and the ‚anacoluthon‘“); Michael Payne und John Schad (Hg.): Life.
after. theory. London [u.a.]: Continuum 2003, S. 7.
92 Vgl. Achim Geisenhanslüke: Macht, Autorität und Verstellung. Über Elias Canettis Au-
tobiografie. In: Elias Canetti (Text + Kritik; 28). Hg. von Heinz L. Arnold. 4. Aufl. Mün-
chen: Edition Text und Kritik 2005, S. 31–43, hier: S. 32.
93 Canetti merkt hierzu in Masse und Macht an: „Eine Übergangsform, von der Nachah-
mung zur Verwandlung, die bewußt auf halbem Wege stehenbleibt, ist die Verstel-
lung.“ (MM 438)
60 1.7 ‚Dichtung‘ neben der ‚Wahrheit‘
selbst strikt darauf bestanden, dass nur dem Machthaber die ‚Verstel-
lung‘ wichtig und zugänglich sei, mit kundigen Hinweisen auf deren Stel-
lenwert in der politischen Theorie des Machiavelli, also im Ränkespiel der
italienischen Stadtstaaten im 15. und 16. Jahrhundert. Während jenes
‚Maskenspiel‘ das Überleben sichert, durch das zynische Macht-Konzept
der Machiavelli-Renaissance, bestand gerade der Autobiograf Canetti
beharrlich auf der wahren Gabe der ‚Verwandlung‘. Sie wird gegen die
Starrheit jener Totenmasken gestellt, denen in der Geretteten Zunge ge-
wichtige Passagen gewidmet sind. Auch Geisenhanslüke vermag nicht zu
leugnen, dass, selbst im beschriebenen Chaos des ‚linken‘ und ‚revoluti-
onären‘ Berlin, immer noch jenes althergebrachte Aufrichtigkeits-Pathos
bestimmend zugegen ist, das Canetti’sche Zu-sich-selbst-Stehen (etwa in
den ergreifenden Passagen über Isaak Babel). Nicht zuletzt in der Erfah-
rung der literarisch-gesellschaftlichen Liebedienerei, die selbst durch
Kraus in Berlin erfolgte, kommt dies zum Ausdruck. Die geschah gegen-
über einem Brecht als dem Mann der damaligen kulturrevolutionären
Stunde, der auch nach Canettis scharfem Urteil als der Lyriker des Jahr-
hunderts erscheinen darf, seinen chic-proletarischen Verkleidungen zum
Trotz.
Gewiss nimmt selbst Odysseus an der Figur des „Trickster[s]“ Anleihen
(MM 452). Als „Meisterverwandler“ (MM 452) legt er schon einmal
selbst Masken an, – aber immer nur, um zu überleben und am Ende zu
seiner eigentlichen Gestalt und Ausgangsstätte zurückzukehren. Nur so
gewinnt der Held Substanz. Er repräsentiert, wie ausgeführt, auch die
Gegenfigur zu dem selbst noch griechisch-antiken Achill. Und damit bil-
det er die erste Verkörperung eines bereits modernen Ichs, das im spä-
teren Entwicklungs-Roman seine Gestalt gewann. Kein anderer als Odys-
seus ist schließlich als der Eine und Erste in der Literaturgeschichte Euro-
pas anzuerkennen, den nicht nur Zorn oder Enttäuschung, sondern die
Erinnerung selbst zum Weinen bringt. Alle Verwandlungen bringen ihn
immer nur näher zu sich selbst, nach Ithaka zurück. Der Meerfahrer ist in
seinen passionierten Erzählungen der erste europäische Autobiograf, ne-
ben dem Platon des Siebenten Briefs, denn es gelingt ihm – im genauen
1 Kultur: Der Autobiograf Europas und seine Assimilation 61
97 Siehe Sven Hanuschek: „Alle grossen Beziehungen sind mir ein Rätsel“. Paarverweige-
rungsstrategien bei Elias Canetti. In: Elias Canetti (Text + Kritik; 28). Hg. von Heinz L.
Arnold. 4. Aufl. München: Edition Text und Kritik 2005, S. 110–117, hier: S. 116.
98 12.09.1965, ZB 22a; zitiert nach: Hanuschek, Biografie, S. 501.
1 Kultur: Der Autobiograf Europas und seine Assimilation 63
Zum Schluss ist es die sterbende Mathilde Canetti, der der Autobiograf
großzügig alles zuzusprechen vermochte, was ihn als Bildungsbürger aus-
zeichnete: die unterschiedlichen Sprachen, das Erbe der europäischen
Kultur in Literatur und Philosophie. Anlässlich ihres Begräbnisses ver-
fasste der Sohn daher die Notiz: „Für kurze Zeit beherrscht meine Mutter
die Stadt Paris.“99 Paris war die Stadt, wo Canettis Mediziner-Bruder ge-
lebt und praktiziert hatte, er, dessen fiktionales Abbild in der Blendung
vergeblich versucht, den psychisch kranken Titelhelden zu heilen. Erst
Elias selbst, als Vorbild des Kien, gelang auf autobiografischem Weg die
Heilung. In Zürich, wo er sich als Jude letztlich behütet fühlte, lebten Ca-
netti und seine zweite, junge Frau, – bis dann, wie schon im Fall der hei-
ter-erotischen Friedl aus Wien, der tragische Krebstod ihn in seiner To-
des-Feindschaft bestärkte. So scheint es, als wollte der Tod den innersten
Antrieb des europäischen Autobiografen – das Lebensbewahrende – in
Canetti ein letztes Mal rechtfertigen.
So wenig wie schon Achill war sein Nachfolger Odysseus ein ‚Masken-
spieler‘ – selbst da nicht, wo er sich gegenüber dem Polyphem lebensret-
tend in einen Niemand verwandelte. Auch der Autor, der seine Autobio-
grafie angeblich als ein solcher verfasste, hatte sich zuvor als seine origi-
näre Wirklichkeit ausdrücklich und ausdrucksstark notiert: „Im Lesen und
Schreiben bin ich nur deutsch am Leben. Es ist nicht wahr, dass ich meh-
rere Sprachen habe, in anderen Sprachen bin ich nur dasselbe wie alle
Anderen.“100 Diese Maxime ist ebenso wenig nationalistisch wie etwa
Mozarts Deutschsein gegenüber Salieri.101 Zudem hatte er bei seiner
Heimkunft zu Hera, dem vielfältigen Meer der europäischen Nationen
entstiegen, seine deutschsprachig-europäische Identitätsherkunft bestä-
tigt wie überwunden. In Canettis Aufzeichnungen steht weiter geschrie-
ben: „Ich liebe sie [Hera Buschor] als Kafka und als Robert Walser und als
alles, was ich nicht bin. Ich liebe sie als Griechin, als Göttin und als Deut-
sche.“102 Eine tiefsinnigere wie übernationalistischere Haltung ist nicht
denkbar. Vor solchem Ausdruck, vor solcher Einsicht zerplatzt jeder post-
moderne Basilisk.
Überall, überall, selbst bei Kafka neuplatonische Spuren. Ich aber mag
nicht die Reden vom Gefängnis des Leibs. Der Leib meiner Geliebten ist
die Freiheit, und über der Sonne. Wenn sie mich umfängt, wenn ich in sie
eingehe, ist ihr mein Leib kein Gefängnis […].
Wenn ich an Kafka denke, komm ich mir vor wie ein Springinsfeld oder wie
ein Student […].103
Das war ein Zelebrieren des neu gewonnenen erotischen Lebens, ironi-
scherweise auch eine Übernahme der (‚ostjüdischen‘) Kennzeichnung
Kafkas als Sexualneurotiker. Auch auf diesem Hintergrund wird deutlich:
Wer mit Blick auf Canettis Leben und dessen schriftlicher Fixierung von
Canettis Selbstbiographie, die in drei Bänden sein Leben vom Jahre 1905
bis 1935 erzählt, überraschte beim Erscheinen in den späten siebziger Jah-
ren durch die Klarheit ihrer Sprache, durch die Vollendung ihrer Form.
Zum Erfolg des Werkes trug wesentlich die an Goethe und Stendhal ge-
schulte Klassizität bei. Wie in einem Bildungsroman wird der Werdegang
104 Eine Belegstelle hierzu konnte nicht aufgefunden werden, so dass Mauthner schreibt:
„Ich weiß nicht gleich, ob der Scherz mehr als ein Scherz ist, der oft erzählt wird. Je-
mand habe behauptet, die Natur stimme nicht ganz mit Hegels Naturphilosophie zu-
sammen; Hegel habe geantwortet: ‚Desto schlimmer für die Natur.‘“; Fritz Mauthner,
Bd. 1: Geist. In: Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache.
2 Bde. München [u.a.]: Georg Müller 1910, S. 373–393, hier: S. 390.
105 Vgl. Hanuschek, Biografie, S. 173.
66 1.8 Canettis großes Vorbild und seine Nachfolger
des Autors durch die Wirrnisse der Zeit verfolgt, wobei er eine Fülle be-
deutender Persönlichkeiten schildert, deren Porträts eine literarische Ga-
lerie ergeben, die ihresgleichen sucht.106
108 Vgl. Hanuschek, Biografie, S. 600. – Siehe hierzu die Geschichte von Canettis erfolgrei-
chem Durchbruch als Autor bei Hanser: ebenda, S. 481–486.
68 1.8 Canettis großes Vorbild und seine Nachfolger
Der extreme Individualist, der Canetti war, haßte das Individuum als das
dem Tode Verfallene, durch seine Geburt den Tod in die Welt Bringende.
Das Individuum mußte daher […] bis zu dem entblößt werden, was zu ver-
hüllen es trachtete durch seine sich spreizende Eitelkeit, durch die Bruta-
lität des Zertretens, Zermalmens, Zerquetschens, durch wütende, unflä-
tige, die Beute zerfleischende Sexualität, durch die Grimasse des grinsen-
den, treuherzigen, edelmütigen Menschenfressers, das Individuum als
Produzent und Vollzugsorgan des Todes. 109
109 Ernst Fischer: Erinnerungen und Reflexionen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1969,
S. 238.
110 02.12.1970, ZB 23; zitiert nach: Hanuschek, Biografie, S. 556.
111 02.12.1970, ZB 23; zitiert nach: ebenda.
1 Kultur: Der Autobiograf Europas und seine Assimilation 69
115 Vgl. hierzu B. Neumann, Identität und Rollenzwang, S. 33. – Siehe zum Stellenwert und
Profil dieser Arbeit innerhalb der Autobiografie-Theorie: Wagner-Egelhaaf, Autobio-
grafie, u.a. S. 29–37.
116 [Aurelius] Augustinus: Confessiones/Bekenntnisse. Lateinisch und deutsch. 3. Aufl.
München: Kösel 1966, S. 845.
117 Siehe zur theoretischen Basis der neuen Form der Autobiografie Bernd Neumann: Die
Verunmöglichung der Autobiographie und das „außengeleitete“ Facebook-Individu-
um. In: Von Augustinus zu Facebook. Zur Geschichte und Theorie der Autobiographie.
Würzburg: Königshausen und Neumann 2013, S. 208–215.
1 Kultur: Der Autobiograf Europas und seine Assimilation 71
118 Vgl. Marius Gudmand-Høyer und Sverre Raffnsøe [u.a.]: Foucault. Studienhandbuch
(= UTB; 8452). Paderborn: Fink 2011, S. 255.
1 Kultur: Der Autobiograf Europas und seine Assimilation 73
119 Georg Misch, Bd. 1.2: Das Altertum. In: Geschichte der Autobiographie. 4 Bde. 3., stark
verm. Aufl. Frankfurt a. M.: Schulte-Bulmke 1950, S. 641.
74 1.9 Augustinus Confessiones: Ein Gründungsdokument
121 Siehe hierzu Georg Misch, Bd. 1.1: Das Altertum. In: Geschichte der Autobiographie.
4 Bde. 4. Aufl. Frankfurt a. M.: Schulte-Bulmke 1976, S. 114–158, bes. S. 157–158.
76 1.9 Augustinus Confessiones: Ein Gründungsdokument
Wie sich noch zeigen wird, meinte Foucault also einen gewissen Umbruch
zwischen der klassischen Antike und dem frühen Christentum feststellen
zu können. Das berühmte Diktum ‚Kenne dich selbst‘ (gnōthi seauton) war
in der klassischen Antike der weniger bekannten Devise der ‚Selbstsorge‘
(epimeleia heautou) im Dienste der konkreten Lebensführung unterge-
ordnet gewesen. Das sollte sich im frühen Christentum ändern, als die
Kenntnis des Selbst allmählich in das Bekenntnis integriert wurde, indem
das Individuum einem spirituellen Führer und Ratgeber die intimsten De-
tails seiner sündigen Gedanken und Handlungen offenbarte. 122
123 Vgl. Friedrich Nietzsche, Abt. 6/Bd. 2: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der
Moral, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. In: Werke. Kritische Gesamtaus-
gabe. Hg. von dens. [u.a.]. Berlin [u.a.]: de Gruyter 1968, S. 102/Aph. 168.
124 Misch, Bd. 1.2, Altertum, S. 640.
78 1.9 Augustinus Confessiones: Ein Gründungsdokument
in dich selber kehr ein, denn im innern Menschen wohnt die Wahrheit
[…][.]“125
Diese geistesgeschichtliche Wende führte dazu, dass in der Renaissance
selbstbiografische Schilderungen von vollgültiger Individualität entstan-
den, in denen die Erinnerung die Reflexion durchdrang, die Phantasie ge-
steigert und das eigene Lebensmuster in den allgemeinen Zusammen-
hang menschlichen Daseins gestellt wurde. Auch Foucault war sich dessen
bewusst, so dass es bei ihm heißt:
In dem […] Band […], der sich auf das Christentum bezieht! – versuche ich
zu zeigen, wie sich diese gesamte [griechisch-römische] Moral verändert
hat. Dass sich das telos selbst verändert hat: Jetzt ist damit die Unsterb-
lichkeit, die Reinheit, usw. gemeint. Die Form der Askese hat sich ebenfalls
verändert, denn von nun an nimmt die Selbstprüfung die Form einer
Selbstentzifferung an.126
Erst jetzt entstand eine Hermeneutik des Selbst, was auch dadurch be-
dingt war, dass das Begehren nicht mehr als von außen kommend gese-
hen wurde, als Gottesgabe, sondern aus einem Inneren, das als dämoni-
sche Gefahr und zugleich als erkenntnis- wie glücksverheißende Tiefe er-
lebt wurde. Jenes Thema faszinierte auch Canetti, den Autor von Masse
und Macht. Vor dieser Ich-Hermeneutik kann kein ‚Maskenspiel‘ mehr Be-
stand haben, kann aber auch kein Hermes als Verwandlungskünstler die
Selbsterkenntnis ersetzen, wie das in Thomas Manns Bekenntnisse des
Hochstaplers Felix Krull erfolgt. Indem Augustin den Willen zur Bekehrung
in den Mittelpunkt rückte, wurde ein zentrales menschliches Vermögen
aktiviert. Nun wurde der Eros beschrieben, wie er sich unwillkürlich Bahn
bricht, aus einem eben auch Lust hervorbringenden Inneren heraus, voll
von unregierbarem Eigenwillen. Der freudianische Mensch trat damals ins
125 Joseph Bernhart: Zur Biographie: In: Augustinus, Confessiones, S. 943–1007, hier:
S. 979.
126 Michel Foucault, Bd. 4: Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über die laufende Ar-
beit. In: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Hg. von Daniel Defert und François
Ewald. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 461–498, hier: S. 482–483.
1 Kultur: Der Autobiograf Europas und seine Assimilation 79
130 Vgl. Gerhard Schulz (Hg.): Novalis Werke. 4. Aufl. auf der Grundlage der 2., neubearb.
Aufl. München: Beck 2001, S. 326.
131 Augustinus, Confessiones, S. 509.
1 Kultur: Der Autobiograf Europas und seine Assimilation 81
Es ist kaum übertrieben zu sagen, dass Augustin derjenige war, der die
Innerlichkeit der radikalen Reflexivität ins Spiel gebracht und sie dann der
abendländischen Denktradition vermacht hat. Das war ein schicksalhafter
Schritt, denn inzwischen haben wir zweifelsohne dafür gesorgt, daß sich
der Standpunkt der ersten Person zu einer Sache von enormer Bedeutung
ausgewachsen hat. […] Auf diese Weise ist sogar die Anschauung hervor-
gebracht worden, es gebe einen speziellen Bereich ‚innerer‘ Gegenstände,
die nur von diesem Standpunkt aus zugänglich seien. Ein weiteres Resultat
ist die Vorstellung, der Ausgangspunkt des ‚Ich denke‘ liege irgendwie au-
ßerhalb der Welt der Dinge, die wir erfahren. 133
Entscheidend ist, dass von nun an das Eigentliche als verborgen gesehen
wurde: dass es, wie Foucault auch an überzeugenden Fallbeispielen ge-
zeigt hat, seit der christlichen Fixierung der Libido auf die Frau seinen Sie-
geszug durch die Identitätskonzepte Europas hielt. Bei Canetti kehrte es
noch einmal zu Odysseus inselspringender Erotik zurück, bevor er nach
Ithaka heimfand.
134 Johann G. von Herder, Bd. 12: Über Müllers Bekenntnisse merkwürdiger Männer von
sich selbst. Leibnitz Weissagung. In: Briefe zu Beförderung der Humanität. Schluß
(= Werke. Zur Philosophie und Geschichte. Hg. von Johann von Müller. 16 Bde.). Wien:
Grund 1813, S. 18–45, hier: S. 38.
135 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Bekenntnisse. Unverkürzt aus dem Französischen über-
tragen von Ernst Hardt. Berlin: Wiegandt und Grieben 1907, S. 548.
1 Kultur: Der Autobiograf Europas und seine Assimilation 83
von Form und Inhalt, Innen und Außen, Individuum und Gesellschaft, son-
dern in jenen Zügen, in denen die Diskrepanz erscheint […].“136 Adorno
und Canetti: Seinen Gesprächspartner schätzte der Frankfurter Sozialphi-
losoph womöglich mehr als dieser ihn. In diesen Zusammenhang fügt sich
eine frühe Skizze Canettis von 1941 zu der zu schreibenden Autobiografie,
die ein Entwurf für ein großes Lebens-Buch ist: „Die Erinnerungen an
meine ersten sechs Jahre will ich so niederschreiben, wie Jugenderinne-
rungen noch nie geschrieben worden sind. Alles soll darin enthalten sein;
mein eigenes Leben; aber auch das Leben der ganzen Welt. Jedes Omen
soll darin verzeichnet werden.“137 Jenes wahrhafte „Orakel-Buch“138
sollte, unter anderem, heißen: „Die Gurgel der Kindheit“.139 Von hier aus
war es nicht mehr weit zu den beiden Langzeit-Schreibprojekten des ‚un-
sterblichen‘ Elias Canetti, zu der autobiografischen Selbsterfassung und
zu Masse und Macht.
136 Theodor W. Adorno und Max Horkheimer: Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbe-
trug. In: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M.: S. Fischer
1969, S. 128–176, hier: S. 139.
137 07.02.1948, ZB 10; zitiert nach: Hanuschek, Biografie, S. 576.
138 07.02.1948, ZB 10; zitiert nach: ebenda.
139 22.08.1976, ZB 58; zitiert nach: ebenda.
2 Wissenschaft: Dichtung, Utopie und Verwandlung
140 Siehe Elias Canetti: Über die Darstellung des Tertiärbutylcarbinols. Diss. Wien 1929,
Titelblatt [Kopie].
141 Vgl. Canetti/Hartung, Schriftsteller im Gespräch, S. 29.
142 Honneth nennt ihn einen „kruden Behavioristen“ und spricht davon, dass es bei ihm
„kein Ereignis in der Interaktion zwischen Menschen“ gibt, „das nicht in irgendeiner
Weise auf archaische Antriebe des menschlichen Körpers zurückgeführt werden
müßte“; Axel Honneth: Die unendliche Perpetuierung des Naturzustandes. Zum theo-
retischen Erkenntnisgehalt von Canettis Masse und Macht. In: Einladung zur Verwand-
lung. Essays zu Elias Canettis Masse und Macht. Hg. von Michael Krüger. München
[u.a.]: Hanser 1995, S. 105–127, hier: S. 105 u. 111. – Vaas wiederum spricht unspezi-
fisch von einem „philosophische[n]“ Zugang; Rüdiger Vaas: Masse, Macht und der Ver-
lust der Einheit. Aspekte einer Anthropologie. In: Einladung zur Verwandlung. Essays
zu Elias Canettis Masse und Macht. Hg. von Michael Krüger. Hanser: München [u.a.]
1995, S. 219–260, hier: S. 222. – Robertson dagegen beschreibt Masse und Macht ver-
engend als „Sozialanthropologie“; Ritchie Robertson: Canetti als Anthropologe. In:
ebenda, S. 190–206, hier: S. 192.
143 Vgl. Adorno und Horkheimer: Vorrede. In: Dialektik der Aufklärung, S. 1–7, hier: S. 1 u.
3.
2 Wissenschaft: Dichtung, Utopie und Verwandlung 87
Frankfurter Schule, die von einer „Besinnung auf das Destruktive des Fort-
schritts“ sprechen,144 ist offensichtlich. Im Gespräch mit Theodor W.
Adorno betont Canettis Gesprächspartner denn auch ausdrücklich die
„Übereinstimmung“, die im Punkt einer „wildgewordenen Selbsterhal-
tung“ besteht (ARG 141–142).
Als Kritiker einer ‚instrumentellen‘ Vernunft glaubt der gereifte Canetti
insofern an Aufklärung, als er dem maßgeblichen Dichter die Gabe zu-
schreibt, die anthropologischen Gesetzmäßigkeiten zu erfassen und sei-
nen Zeitgenossen vor Augen zu führen. Das utopische Maximalziel wiede-
rum läge in einem vor-urzeitlichen Dasein, das re-evolutionär sich von der
hochmodernen, differenzierten Lebensrealität ablöste. Der kognitive Mo-
dus dieses Wandels ist der klinische Wahn, der sich gehäuft beim Men-
schen der modernen Zeit einstellt und der willentlich nicht zu initiieren
ist. Eine Gefühlsdominanz ist dazu auserkoren, den Menschen an seine
archaischen Anfänge zurückzuführen, unter fast vollständiger Aufgabe
der Vernunftbegabung. Wie Canetti behauptet, zöge dies das Ergebnis ei-
ner Neukreation der Lebensordnung nach sich, in Form eines Übertrittes
in ein Vorbewusstsein. Sofern es sich um den Modus der Rück-Verwand-
lung in einen neuen Mythos handelt, findet der Leser jedoch keine prak-
tikable Handlungs- und Lebens-Anleitung vor.
Ein Hoffnungshorizont fehlt auch seiner Universalschrift, in ihrer minimal-
utopischen Anlage, über die er in einer späten Aufzeichnung von 1982 die
ungeschönten Wörter schreibt: „So wie es jetzt ist, zwingst du die Leser
dazu, ihre Hoffnungen zu suchen.“ (A 495) Canetti evoziert damit, dass
seine Schrift eines praktikablen Heilskonzeptes entbehre und für Irritati-
onen in der Erwartungshaltung der Rezipienten sorge. Wiewohl ein sol-
cher Erwartungshorizont beim informierten Lesenden, der mit Canettis
Utopismus vertraut ist, nur bedingt vorliegen kann, erteilt er mit dem No-
tat jeglicher Hoffnung auf kollektive Praktikabilität, die in einer Synthese
qua Verwandlung läge, eine Absage. Denn was für den Neu-Mythos und
145 Canetti erklärt zu seinem Interesse an den „Mythen“, dass er „nichts lieber“ „lese“ als
ebendiese: „Der wichtigste Teil meiner Bibliothek besteht daraus, es mögen an die 300
Bände sein. Die meisten stammen von den sogenannten Naturvölkern.“; Elias Ca-
netti/Horst Bienek: „Die Wirklichkeit wie mit Scheinwerfern von außen her ableuch-
ten“. Ein Gespräch. In: Zu Elias Canetti (= Literaturwissenschaft – Gesellschaftswissen-
schaft; 63). Hg. von Manfred Durzak. Stuttgart: Klett 1983, S. 9–16, hier: S. 11.
146 Lappe hält zu Canetti und seinen Aufzeichnungen fest, dass es „falsch“ ist, ihn zu den
„Aphoristikern zu zählen“, denn: „Ihm zählt die Last des Tages und nicht die Schönheit
der Worte.“; Lappe, Aufzeichnungen 1942–1985, S. 75. – Zum Werkcharakter der Auf-
zeichnungen hält Strucken fest, dass sie „[t]rotz der Spontaneität ihrer Entstehung“
„eigenständige Werke“ bilden; Stefan Strucken: Masse und Macht im fiktionalen Werk
von Elias Canetti (= Düsseldorfer Schriften zur Literatur- und Kulturwissenschaft; 3).
Diss. Düsseldorf 2004/2005. Essen: Klartext 2007, S. 92. – Canetti selbst vesieht seine
Aufzeichnungen mit den Prädikaten der „Gegensätzlichkeit und Spontaneität“, weil sie
2 Wissenschaft: Dichtung, Utopie und Verwandlung 89
150 Kuhnau vertritt die abweichende Meinung eines Kausalitätsdenkens und betont mit
Blick auf die Rezeption, dass „erst bei Zapotoczky angedeutet“ wird, dass mit der „Ver-
wendung naturwissenschaftlicher Terminologien und Methoden auch deren Inhalte
transferiert werden“, doch bei diesem die „Auswirkungen des Erkenntnismodus auf
die Darstellung des Phänomens“ ausgeklammert bleiben; Petra Kuhnau: Masse und
Macht in der Geschichte. Zur Konzeption anthropologischer Konstanten in Elias Canet-
tis Werk Masse und Macht (= Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft; 195). Diss. Bo-
chum 1995. Würzburg: Königshausen und Neumann 1996, S. 36. – Siehe hierzu Hans
G. Zapotoczky: Canettis Massentheorie zwischen Adler und Broch. In: Canettis Masse
und Macht oder Die Aufgabe des gegenwärtigen Denkens. Hg. von John Pattillo-Hess.
Wien: Bundesverlag 1988, S. 120–131, hier: S. 126.
92 2.1 Das Utopismus-Konzept
151 In Zu ‚Masse und Macht‘ spricht Canetti im Rückblick auf seine Zeit, die er in Frankfurt
am Main verbrachte, die ökonomische Problematik an: „Es war die turbulente Zeit der
deutschen Inflation, 1921–1924.“ (ARG 61) Jenes Elend der breiten Masse hatte sich
ihm eingeprägt und wirkte sich auf sein Schaffen aus.
152 Zu Canettis Geld-Aversion, so sie die Fackel im Ohr betrifft, bemerkt Widdig treffend,
dass es „auffällig“ ist, „daß sich durch seine gesamte Lebensgeschichte der zwanziger
Jahre jene Dichotomie zwischen ‚Geld‘ und ‚Geist‘ zieht“; Bernd Widdig: Tägliche
Sprengungen: Elias Canetti und die Inflation. In: Einladung zur Verwandlung. Essays zu
Elias Canettis Masse und Macht. Hg. von Michael Krüger. Hanser: München [u.a.]
1995, S. 128–150, hier: S. 134.
2 Wissenschaft: Dichtung, Utopie und Verwandlung 93
Frankfurt formte der Justizpalastbrand von 1927 in Wien sein Denken. Ei-
nen gesonderten Stellenwert nimmt das ideelle Klima ein, dessen Zeuge
er später, Ende der 20er-Jahre, in Berlin wurde. Selbiges gilt für den
Machtaspekt, der im Fall von Canetti ebenso untrennbar mit den politi-
schen Umbrüchen jener Zeit verbunden ist und aus der Exilperspektive
noch an Relevanz zu gewinnen hatte. Der Abgleich mit dem Blendungs-
Roman wird eine Gewichtung zutage fördern, die – in jenem literarischen
Fall – jüdisch-ethnisch und empathisch fundiert ist, während die spätere
Masse-Macht-Schrift sich einer deterministischen Universalmethodik be-
dient, unter besonderer Bezugnahme auf die jüngere Zeitgeschichte.
Kuhnau gibt hinsichtlich der Rezeption von Masse und Macht zu beden-
ken, dass, während die „erste Phase“ „vorwiegend“ durch eine „Ableh-
nung“ der Verstöße gegen die „wissenschaftlichen Konventionen“ „ge-
prägt“ war, es in der „neueren Forschung vor allem als ein multiperspek-
tivisches, bewußt gegen wissenschaftliche Traditionen, Systeme und Be-
grifflichkeiten angeschriebenes und somit aufklärungskritisches Werk be-
griffen“ wird.153 Die neuere Rezeptionstendenz sieht Kuhnau aus der
„Wissenschaftsdiskussion der späten 80er Jahre und ihrer Forderung nach
einer holistischen Betrachtung der Welt“ hervorgehen.154 Dazu ist in ei-
nem weiteren Sinn etwa John Pattillo-Hess zu zählen, der in einem Ein-
führungsaufsatz zu seiner Herausgeberschrift, die anlässlich des 1. Inter-
nationalen kulturanthropologisch-philosophischen Canetti-Symposions
von 1987 entstand, Canettis Kulturstudie als „erste[s] Werk in der abend-
ländisch-alphabetisch-horizontalen Kultur nach Homer“ klassifiziert,
„dessen Aussagen auf mythologisch-partizipierendem Denken beru-
hen“.155 So, wie in der Wiener Spätmoderne einzelne Vertreter zu finden
sind,156 die eine Synthese von simplifizierter Ratio und somatisch wirken-
dem Gefühl befürworten, vertritt auch der gereifte Canetti einen kogniti-
ven Dualismus, der beiden Konstituenten eine Funktion zuweist. Dafür,
dass die Ganzheitlichkeit dezidiert erkenntniskritisch angelegt ist, kann
auf der Basis seiner Mythengebundenheit ein gesicherter textpraktischer
Nachweis erbracht werden. Lediglich sein vor-prähistorischer Zugang, den
er in jungen Jahren befürwortete, hebt ihn von jenen Mitstreitern ab.
Denn mit der weitgehenden Ausschaltung der Ratio, die er vor 1945 be-
„gewiß“ keine „Wiederkehr einer Herrschaft des Mythos“ anstrebt, doch hält er an-
hand eines Beispieles fest, dass sich der „wissenschaftliche[] Diskurs mit dem radikal
fremden Reden des phantastischen Aphorismus vermischt“; ebenda, S. 79 u. 87. Was
Matt hier beschreibt, trifft auch auf die Masse-Macht-Schrift zu, die den Boden me-
thodisch gesicherter wissenschaftlicher Arbeit verlässt, zumal der minimalutopische
Anspruch sich ab 1945 nachweisen lässt.
166 Adorno/Horkheimer sprechen davon, dass der „Verstand“ die „Verständlichkeit“
„prägt“ und andernfalls „kein Eindruck zum Begriff“ „paßte“, „keine Kategorie zum
Exemplar“, und „nicht einmal die Einheit des Denkens, geschweige des Systems“
„herrschte“; Adorno und Horkheimer: Exkurs II. Juliette oder Aufklärung und Moral.
In: Dialektik der Aufklärung, S. 88–127, hier: S. 89.
2 Wissenschaft: Dichtung, Utopie und Verwandlung 99
‚Forschen‘] will, daß der Körper nicht merkt, was die Fingerspitzen trei-
ben.“ (A 48) Diese Stelle aus den Aufzeichnungen gehört zu den wenigen,
mit der es zu einer Art von ‚Maskensprengung‘ kommt und der Idealfall
vorliegt, dass das wahre Gesicht eines argumentativen Labyrinthikers
sichtbar wird. Wenngleich Canetti nicht das Streben nach Wissen und Ver-
stehen abzusprechen ist, wird er doch erkennbar als ein Utopist, dessen
Antworten vorrangig der Irratio verpflichtet sind. Diese Haltung mündet
in die Erklärung, dass dem „einen Aristoteles“ eine „ganze moderne Uni-
versität“ „entspricht“ (A 48). Darüber hinaus sieht Canetti von einer logi-
schen Beweisführung ab, weil jeder „Beweis“ eine „zerstör[ende]“ Wir-
kung entfaltet, wie er in einem Notat von 1970 erklärt: „Selbst das
Wahrste zerstört der Beweis.“ (A 336)
Die Zersplitterung der professionellen Verstehensbemühungen in Metho-
den – mit der ein Bedeutungsverlust der philosophischen Disziplin einher-
ging – wird von Canetti als Verlust der Möglichkeit einer umfassenden
Wirklichkeitserfassung verstanden. Sein Anliegen ist ab 1945 die Aktivie-
rung einer somatisch relevanten Empfindung, die den Logozentrismus zu
erweitern habe. Der maßgebliche ‚Hüter‘ weist daher eine rationale Aus-
nahmestellung auf, als Initiator jenes Konzeptes, und zugleich einen ge-
fühlsmäßigen Überhang. Handelt es sich doch um einen zivilisatorischen
Zukunftsweg, der per Verwandlung ‚abzuspalten‘ und zu beschreiten sei.
Jener neue Fortschrittsweg setzt eine Synthese des Denkens und Gewah-
rens voraus. Davon hebt sich der frühe Canetti ab, der einen Rückbau der
Kognition voraussagt, weil die Industriemoderne für mehr und mehr Men-
schen unerträglich würde. Das System der Sprache etwa, das auf einem
logischen Fundament gründet, stünde nun für eine scheinbare phoneti-
sche Beliebigkeit, die sich vom ‚Inneren‘ her bestimmt.
Wie sich der angepeilte Zustand des Vorbewusstseins mit einer nachran-
gigen Ratio vereinbaren ließe, ist eine der Kernfragen, die Canettis Maxi-
malutopie betreffen. Mit Blick auf die vorzivilisatorische Re-Evolution, die
als Verfallsform vorausgesagt wird, drängt sich die Annahme einer natur-
nahen, archaischen Gefühlsdirektion auf. So, wie er die Modernisierung
100 2.2 Das antiaristotelische Wissenschaftsverständnis
Sie ist die einzige Situation, in der diese Furcht in ihr Gegenteil umschlägt.
[…] In ihrem idealen Falle sind sich alle gleich. Keine Verschiedenheit zählt,
nicht einmal die der Geschlechter. Wer immer einen bedrängt, ist das glei-
che wie man selbst. Man spürt ihn, wie man sich selber spürt. Es geht dann
alles plötzlich wie innerhalb eines Körpers vor sich. (MM 14)
167 Curtius, die von einer „psychische[n] Verelendung der Individuen“ spricht, konstatiert
theoretische Übereinstimmungen mit Karl Marx und Georg Lukács; Curtius, Kritik der
Verdinglichung, S. 17.
2 Wissenschaft: Dichtung, Utopie und Verwandlung 103
von der Massenerscheinung als Phänomen unserer Zeit spricht, sieht den
modernen Menschen, durch seine Erfahrungen von urbaner Anonymität
und technischer Entmenschlichung, als prädestiniert für jene körperliche
„Furcht“ (MM 14).
Indem die ‚Berührungsfurcht‘ auch als Machtimplikator gewertet wird,
weil sie symptomatisch für ein angeborenes Gefühl der Bedrohung steht,
zielt der gereifte Canetti auf einen abzweigenden Zukunftsweg, dem ein
synthetisiertes neues Denken und Erfahren zugrunde liegt. Das Vorbe-
wusstsein wiederum, wie es die Maximalutopie kennt, machte sogar Vor-
gänge der potentiell gefährlichen Massenbildung überflüssig und ließe le-
diglich Meuten zu.168 In der Blendung wird die Bruderfigur des Georg, in-
dem sie die Zerstörung eines Termitenbaues beschreibt, die von den In-
sekten selbst ausgeht, diesen Prozess des kollektiven Wahnes in gleich-
nishafte Worte fassen. Bei diesem Umkippen der sozialen Ordnung, wie
es im Insektenstaat erfolgt, kommt es insofern zu einem Masseereignis,
als dieses einen Abfall von einem hochorganisierten Rang bedeutet.
Im zugehörigen Unterkapitel „Offene und geschlossene Masse“ heißt es
zu den Umständen, unter denen die erstere Form der Massenbildung ein-
setzt:
Eine ebenso rätselhafte wie universale Erscheinung ist die Masse, die
plötzlich da ist, wo vorher nichts war. Einige wenige Leute mögen beisam-
men gestanden haben, fünf oder zehn oder zwölf, nicht mehr. Nichts ist
angekündigt, nichts erwartet worden. Plötzlich ist alles schwarz von Men-
schen. Von allen Seiten strömen andere zu, es ist, als hätten Straßen nur
eine Richtung. (MM 14)
Die Motivation, die Unbeteiligte dazu veranlasst, sich zu einem Teil der
offenen Masse zu machen – was im zeitgenössischen Wien und Berlin
nicht zuletzt auf öffentlichen Plätzen geschah –, wird von Canetti mit dem
168 Der „Ausdruck[] ‚Meute‘ für diese ältere und begrenztere Form von Masse soll daran
erinnern, daß auch sie ihre Entstehung bei den Menschen einem tierischen Vorbild
verdankt“ (MM 113). Diese Meuten existierten „schon“, „bevor es menschliche Mas-
sen in unserem modernen Sinne gab“ (MM 111).
104 2.3 Masse- und Macht-Phänomene
Die Masse selbst aber zerfällt. Sie fühlt, daß sie zerfallen wird. Sie fürchtet
den Zerfall. Sie kann nur bestehen bleiben, wenn der Prozeß der Entla-
dung fortgesetzt wird, an neuen Menschen, die zu ihr stoßen. Nur der Zu-
wachs der Masse verhindert die ihr Angehörigen daran, unter ihre priva-
ten Lasten zurückzukriechen. (MM 18)
Mit dieser Darlegung löst Canetti zwar die Frage, wodurch das offene
Masseereignis fortbesteht – mittels eines Wachstumsprozesses –, doch
hält sein Modell den empirischen Ansprüchen nicht stand. Denn trotz der
169 Kuhnau macht im Entladungsprozess ein physikalisches Modell aus: „Der Moment der
Entladung als Entstehungsdatum der Masse […] wird von Canetti als psychischer Vor-
gang gekennzeichnet, kann jedoch im Hinblick auf den physikalischen Prozeß der Ent-
ladung als Phänomen der Elektrizität weitaus deutlicher entschlüsselt werden.“;
Kuhnau, Masse und Macht in der Geschichte, S. 59.
2 Wissenschaft: Dichtung, Utopie und Verwandlung 105
170 Siehe zu den Unterschieden, die zu Hermann Broch bestehen, u.a.: Schmid-Borten-
schlager, der Einzelne und die Masse, S. 116–132.
171 Vgl. Mack, anthropology as memory, S. 62.
106 2.3 Masse- und Macht-Phänomene
Wirken der „Gravitation“ denken ließ (FO 80), ohne darin aber ein befrie-
digende Erklärung zu finden. Kuhnau betont, dessen ungeachtet, dass Ca-
netti die „Masse durch ihr Wachstum und ihre Dichte bestimmt und damit
der Newtonschen Definition der physikalischen Masse (‚quantitas mate-
riae‘) als dem Produkt von Dichte und Volumen eines Körpers ent-
spricht“.172 Kuhnau erweitert den physikalischen Hintergrund noch, wenn
sie erklärt, dass Canetti „[s]owohl mit der Definition der Masse als auch
der Bestimmung ihrer Haupteigenschaften“ „grundlegende physikalische
Gegebenheiten und ihre Modellvorstellungen in der Newtonschen Mas-
sen- und Gravitationstheorie“ verwendet.173
Dem Lesenden, dem sich ein physikalischer Wachstumsprozess sugge-
riert, im Zusammenspiel mit dem Entladungs-Begriff, zeigen sich alle Vor-
gänge auf einen singulären, psychologischen Ausgangspunkt bezogen: die
Furcht vor körperlicher Nähe. Und obwohl Canetti insgesamt zivilisato-
risch-biologische Determinismen ausmacht, fühlt er sich einem Kausali-
täts-Denken nicht verpflichtet. Der Canetti’sche Utopismus zielt darauf,
den modernen Hang zur Massenbildung zu überwinden und in eine neue
Einheit des Denkens und Erfahrens umzuleiten. Seine grundsätzliche Mo-
derneskepsis beschwört einen Überlebenstrieb, der sich deterministisch
nicht reduzieren lässt und weiter gefasst ist.
Canetti fährt mit der Beschreibung fort und erklärt, dass die „offene Mas-
se“ die „natürliche Masse“ ist:
Es wird manches über diese extreme Form der spontanen Masse zu sagen
sein. Sie ist dort, wo sie entsteht, in ihrem eigentlichen Kern, nicht ganz so
spontan, wie es den Anschein hat. Aber überall sonst, wenn man von den
fünf oder zehn oder zwölf Leuten absieht, von denen sie ihren Ausgang
nahm, ist sie es wirklich. Sobald sie besteht, will sie aus mehr bestehen.
Der Drang zu wachsen ist die erste und oberste Eigenschaft der Masse. Sie
will jeden erfassen, der ihr erreichbar ist. Wer immer wie ein Mensch ge-
staltet ist, kann zu ihr stoßen. Die natürliche Masse ist die offene Masse:
ihrem Wachstum ist überhaupt keine Grenze gesetzt. […] Die offene
Masse besteht, solange sie wächst. Ihr Zerfall setzt ein, sobald sie zu wach-
sen aufhört. (MM 15)
Da die Masse „jeden erfassen“ will, „der ihr erreichbar ist“, ist auch jeder,
der sich im öffentlichen bzw. offenen Raum bewegt, ihr potentielles Op-
fer. Obgleich der Mensch einen anthropologischen Hang zur sozialen
Gleichwerdung aufweise, wertet Canetti das Phänomen der Massenbil-
dung – wie ausgeführt – als soziokulturell beeinflusstes. Als solches er-
fährt es zum Ersten im urbanen Raum und zum Zweiten in Inflationszeiten
eine charakteristische Verschärfung. Das Motiv der zeittypischen Erschei-
nung greift Canetti wenig später wieder auf, wenn er schreibt, dass die
„Geschichte der letzten 150 Jahre“ sich zu einer „raschen Vermehrung
solcher Ausbrüche zugespitzt“ hat (MM 22). Demnach hätte der Faktor
Zeit auch einen qualitativen Wandel bewirkt, was die offene Form und
deren Auftreten betrifft.
Grundsätzlich bleibt festzustellen, dass der Schauplatz der großen sozia-
len und politischen Konflikte der öffentliche Raum war, so dass Canettis
theoretische Abhandlung vor allem auf dieser Massen-Form basiert – ge-
mäß seiner Zeitzeugenschaft zu den historischen Massendemonstratio-
nen. Canetti unterscheidet von der offenen Masse, „die ins Unendliche
wachsen kann, die überall ist und eben darum ein universelles Interesse
beansprucht“ (MM 15), die geschlossene. Diese Form, die das „Hauptau-
genmerk auf Bestand“ „legt“, „schafft sich ihren Ort, indem sie sich be-
grenzt“: „der Raum, den sie erfüllen wird, ist ihr zugewiesen“
(MM 15). Zu beachten ist der ‚Verzicht‘ auf stetiges „Wachstum“, das für
die hermetische Masse charakteristisch ist, auf eine Voraussetzung, die
sich bei der offenen Form auf den „Prozeß der Entladung“ bezieht
(MM 15 u. 18).
In Bezug auf Canettis Bestandslogik stellt sich unweigerlich die Frage,
wodurch der Zusammenhalt der geschlossenen Masse gewährleistet ist,
wenn der prozessuale Faktor der Entladung wegfällt. Deutlich zeigt sich
darin der Schwachpunkt seiner Massentheorie, die sich zwecks bildhafter
108 2.3 Masse- und Macht-Phänomene
174 In seiner Schrift vom Menschen betont er daher, dass es beim Redner auf die rhetori-
sche Gewalt, die zugleich eine des „Befehl[s]“ sei, ankommt: „Die Kunst des Redners
besteht darin, daß er alles, was er bezweckt, in Schlagworten zusammenfaßt und kräf-
tig vorbringt, die der Masse zu Entstehung und Bestand verhelfen.“ (MM 367) Denn
er „erzeugt die Masse und hält sie durch einen übergeordneten Befehl am Leben“
(MM 367).
2 Wissenschaft: Dichtung, Utopie und Verwandlung 109
so weitgehend freigemacht hat, ist es uns seither leichter, sie nackt, man
möchte sagen, biologisch zu sehen, ohne die transzendenten Sinngebun-
gen und Ziele, die sie sich früher einimpfen ließ.“ (MM 22) Auf die Frage,
was Canetti unter den eigentlichen religiösen Massenphänomenen ver-
steht, können die Kreuzzüge als „Fall“ einer „bewußten Massenbildung“
genannt werden (MM 186).
175 In Bezug auf Leopold von Rankes Objektivität hält Canetti fest, dass für diesen die „Er-
füllung durch Macht“ „Geschichte“ sei: „[…] er ist ein Polytheist der Macht.“ (A 167)
176 Vgl. Penka Angelova: Über die Dekonstruktion des Begriffes der Nationen bei Canetti.
In: Pulverfass Balkan. Mythos oder Realität. Internationales Symposium Russe, Okto-
ber 1998 (= Schriftenreihe der Elias-Canetti-Gesellschaft; 3). Hg. von ders. und Judith
Veichtlbauer. St. Ingbert: Röhrig 2001, S. 19–40, hier: S. 27.
110 2.4 Canettis Geschichtsverständnis
heilig, diese brechen […] aus der Sphäre des Übernatürlichen in den
selbstverständlichen und erklärten Lauf der Welt ein.“ (A 41) Die überir-
dische Korrektur, von der im übertragenen Sinn die Rede ist, bezieht sich
auf eine Überzeugung, die dem Kriegsleid zweckrational einen Sinn abzu-
gewinnen trachtet. Jene Rechtfertigung von Gewalt leitet sich von dem
Glauben an einen Zukunftshorizont ab, der durch die Gewaltexzesse erst
geschaffen würde: „Keine Vergangenheit kann abstoßend und verhaßt
genug gewesen sein, daß sich nicht irgendein Historiker irgendeine Zu-
kunft nach ihr vorstellen würde.“ (A 41) Den Objektivitäts- wie Kausalan-
spruch eint die Überzeugung von einer strikt rational zu erfassenden Ge-
schichte.
Weiter zeigen sich mit jener Objektivität, die sich zuweilen mit vermeint-
lichen Fakten tarnt, ideelle Voreingenommenheiten. Canetti zielt so auf
eine Geschichtsschreibung, die in vorauseilendem, institutionellem bzw.
ideologischem Gehorsam Mythen stiftet. Letztere Problematik zeigt sich
als nationale Ergebenheit, die den Blick auf die faktischen Zusammen-
hänge verstellt. Kuhnau schreibt zu Canettis Historismus-Kritik, dass er
seinen „Ideologievorwurf an die Historiker“ in Form von „unreflektierte[r]
Affirmation von Herrschaft und grundlegende[r] Naivität“ zwar artikuliert,
doch der „Begriff der ‚Ideologie‘“ in seiner „Komplexität“ „nicht erkannt“
wird.177 Als Grund dafür erklärt Kuhnau, dass die „Ebene der rezeptiven –
oder gar die Ideologie mitverursachenden – Historikerschaft nicht von der
Ebene der Akteure der Nationen, d. h. ihrer Politiker und Regierungen,
unterschieden wird“.178 Im Kapitel zur politischen Prägung seiner Literatur
wird ersichtlich, dass Canetti selbst als Vertreter nationalistischer Vorge-
fasstheiten auftrat. Die ideologischen Denkmuster des totalitären
Deutschland erkennt er zwar an, wenn es sich um die Universalschrift
handelt. Doch zieht er die moderne Zeit zur Schuldentlastung der Täter
heran und darüber hinaus für eine Umkehr der Verantwortlichkeiten.
Dazu fügt sich eine Aufzeichnung von 1981, die suggeriert, dass die sieg-
reichen Namen als Profiteure von Macht- bzw. Gewaltmissbrauch zu gel-
ten hätten. Dem stellt Canetti eine alternative Historiografie gegenüber,
nach der die Unterlegenen eine Sache des „Recht[s]“ vertreten hätten:
„Eine Geschichtsschreibung, nach der die Verlierer immer im Recht gewe-
sen wären.“ (A 467) Mit diesem Gedankenspiel erklärt er jene Opfer von
Gewalt und Tot, die die unterlegene Partei bilden, konjunktivisch zu mo-
ralischen Siegern. Er begründet dies mit einem Fortschrittsdiktat, das die
historischen Fakten einseitig erfasst und insofern die Sieger zu Vertretern
einer gerechten Sache macht. Sein Verfahren mit den Akteuren, die in Ge-
waltkonflikte involviert sind, bezweckt ein gedankliches Aufbrechen der
Machtproblematik, also ein Beschreiten alternativer Denkwege.
Die historischen Vorgänge gründen bei Canetti auf biologischen Konstan-
ten, die er mit den Modellen zu Masse und Macht deterministisch, und
zwar in keinem strikten Sinn, bestimmt hat. Beide Modelle, die er auf die
Weltgeschichte und ihre Vertreter überträgt, führen zu einer fatalisti-
schen Weltsicht, die den Geschichtsverlauf zu einem Kreislauf des Allzeit-
Bösen degradiert. Dadurch wird nicht nur der Machthaber, sondern der
Mensch an sich zum Spielball biologischer Gesetzmäßigkeiten, die auf den
Einfluss von Masse und Macht zurückgehen. Besonders verschärfend
trete, als Teil des zivilisatorischen Fortschrittes, das industriemoderne
Wesen hinzu, das für eine Dynamisierung der Gewaltspirale sorge. Dem-
nach seien die historischen Akteure in ein deterministisches Handlungs-
Korsett gepresst, das diesen keine nennenswerte Wahlmöglichkeit biete
und keine substantielle Möglichkeit der Einbeziehung ethisch-moralischer
Überlegungen.179
Ein strenger Determinismus liegt insofern nicht vor, als zahlreiche Strate-
gien der Modifikation möglich seien, um den Determinanten nicht auf di-
179 Vgl. hierzu Kuhnau, die erklärt, „daß der Intellekt als Faktor einer Ethik per definitio-
nem ausgeschlossen wird, wenn Canetti die Funktionalisierung von Wissenschaft und
Technik durch ein mechanisches Modell erklärt, das den Körper vom Geist trennt,
ohne letzteren als übergeordnete Instanz und Korrektiv zu aktivieren“; ebenda, S. 302.
112 2.4 Canettis Geschichtsverständnis
rektem Weg entsprechen zu müssen. Ein Notat von 1950 setzt daher Al-
ternativen des Handelns an, indem einleitend die Feststellung erfolgt,
dass die „Geschichte“ „alles so“ „dar“-„stellt“, „als hätte es nicht anders
kommen können“: „Es hätte aber auf hundert Arten kommen können.“
(A 166) Im variablen Ereignishorizont drückt sich keineswegs Canettis
neu-mythisches Verständnis aus, wie es seinem frühen Utopismus vor-
steht. Denn mit derartigen Wahlmöglichkeiten zeigen sich zwar keine of-
fene Stellen in seinem Determinismus, doch immerhin parallel laufende
Alternativpfade, wenn es sich um die zu treffenden Entscheidungen han-
delt. So erreicht das Determinantenpaar zwar ebenfalls sein Ziel, aber auf
mitunter verschlungenen Wegen. Dessen Zielpunkt steht zwar wesenhaft
fest, doch den Verlauf vermag der einzelne Mensch unwillkürlich oder wil-
lentlich zu beeinflussen.
Canetti kritisiert eine Faktenhörigkeit, die historische Ereignisse tenden-
ziell für zweckdienlich erachtet, und schließt die Aufzeichnung von 1950
mit den Worten: „So wirkt die Geschichte immer, als ob sie fürs Stärkere
wäre, nämlich fürs wirklich Geschehene: es hätte nicht ungeschehen blei-
ben können, es mußte geschehen.“ (A 166) Bei den geschichtlichen Alter-
nativereignissen handelt es sich, wenn man sich Canettis Verständnis von
Masse und Macht in Erinnerung ruft, um eine Kritik an einer verengten
historiografischen Sicht, die den Einflussfaktor der Modifikationen noto-
risch außer Acht lässt. Das ‚Es‘ steht dabei für einen Grundzustand von
kollektiver Gewalt, die vielfältige Erscheinungsformen annehmen kann.
Obwohl das Handeln jedes Einzelnen stets im Zeichen von Masse und
Macht steht, erlaubt die Ratio einen bedingt reflektierten Zugriff darauf.
Eine Aufzeichnung aus der Fliegenpein zieht folglich die Möglichkeit einer
‚Beeinflussbarkeit‘ – und zwar der Zeit- oder Weltgeschichte – in Betracht:
„Eines zeigt sich, das unwiderlegbar ist: es gibt keinen voraussehbaren
Gang der Geschichte.“ (A2 103) Die Vor-Prägeschichte behöbe zwar das
Existential-Dilemma, schlösse darin jedoch geschichtliche Vorgänge nach
tradiertem Verständnis aus. Unter der konjunktivischen Annahme, dass
sie „immer offen“ ist, sorgt Canetti zugleich für eine Relativierung: „Das
würde bedeuten, daß sie in ihrer Offenheit immer beeinflußbar ist […].“
2 Wissenschaft: Dichtung, Utopie und Verwandlung 113
Zu beachten ist im Fall seiner Studie zum Menschen, dass er sich in seiner
Theoriebildung erstens an chemisch-physikalische Modelle rhetorisch an-
lehnt (z. B. im Fall des Entladungseffektes), zweitens die zugehörigen Vor-
gänge begrifflich meist unbenannt lässt und drittens sie den vielfältigen
180 Vgl. Dagmar Barnouw: Masse, Macht und Tod im Werk Elias Canettis. In: Zu Elias Ca-
netti (= Literaturwissenschaft – Gesellschaftswissenschaft; 63). Hg. von Manfred
Durzak. Stuttgart: Klett 1983, S. 72–91, hier: S. 88.
181 Vgl. Eigler, autobiografisches Werk, S. 95.
182 Vgl. ebenda.
183 Kuhnau, Masse und Macht in der Geschichte, S. 401.
114 2.4 Canettis Geschichtsverständnis
185 Von den Hierarchien leitet sich sein Befehls-Verständnis ab, das darauf beruht, dass
unter „jedem Befehle“ das „Todesurteil“ durchscheint (MM 358). Er ist der Überzeu-
gung, dass die „Handlung, die unter Befehl ausgeführt ist“ sich von „allen anderen
Handlungen“ unterscheidet, weil ebendiese als „etwas Fremdes“ „empfunden“ wird
(MM 359). Daher spricht er von einem ‚Befehlsstachels‘, der beim Befehlsempfänger
zurückbleibe: „dieser muß ihn herausziehen und weitergeben, um sich von seiner Dro-
hung zu befreien“ (MM 363). Dagegen sei im Fall des Henkers, der entweder töte oder
getötet würde, für die „Bildung eines Stachels“ „keine Zeit“ (MM 390). – Das Verhalten
des Henkers, bei dem das implizite „Todesurteil“ mit dem expliziten zusammenfällt,
sieht Eigler als im „höchsten Grad deterministisch“ angelegt; ebenda, S. 95. Eigler, die
Canettis „Schlußfolgerung, der Henker könne also niemals Schuldgefühle entwickeln“,
zeitgeschichtlich betrachtet, kommt zu dem Schluss, dass „diejenigen, die direkt am
Massenmord in den KZs beteiligt waren, selbst Opfer des nationalsozialistischen Sys-
tems waren“; ebenda. Damit stellt sich, in Bezug auf diese Gruppe der Lager-Henker,
eine Parallele zu den beiden Zeitgeschichts-Kasus (von Shoa und NSDAP-Gründung)
her.
186 Uwe Schweikert: Der Weg durch das Labyrinth. Versuch über Elias Canettis Aufzeich-
nungen. In: Zu Elias Canetti (= Literaturwissenschaft – Gesellschaftswissenschaft; 63).
Hg. von Manfred Durzak. Stuttgart: Klett 1983, S. 92–101, hier: S. 95.
116 2.4 Canettis Geschichtsverständnis
187 Annemarie Auer: Elias Canettis Essays. In: Zu Elias Canetti (= Literaturwissenschaft –
Gesellschaftswissenschaft; 63). Hg. von Manfred Durzak. Stuttgart: Klett 1983, S. 151–
157, hier: S. 153.
188 Siehe Strucken, Masse und Macht, S. 91.
189 Vgl. Barnouw, Einführung zu Canetti, S. 8 u. 206.
190 Ebenda, S. 204.
2 Wissenschaft: Dichtung, Utopie und Verwandlung 117
191 In Realismus und neue Wirklichkeit, einem Text aus 1965, spricht er erneut davon, dass
sich die „Wirklichkeit des Kommenden“ „gespalten“ habe: „auf der einen Seite die
Vernichtung, auf der anderen das gute Leben“ (GW 162). Ganz bewusst spricht er nun
von „mannigfaltigste[n]“ „Utopien“ und beschwört deren „Stoßkraft“ (GW 163).
2 Wissenschaft: Dichtung, Utopie und Verwandlung 119
Narr.“ (A 115) Einzig jenem Auserwählten, dem Dichter, sei ein exempla-
risches Ausbrechen aus dem Masse-Macht-Kontinuum möglich. Canetti
trägt ihm unter anderem die Aufgabe zu, mit seiner Dichtung als Ver-
wandlungs-Vorbild in Erscheinung zu treten.
In der Diktion von Masse und Macht spricht Canetti davon – hier in Bezug
auf den zweiten Faktor –, dass es „[k]ein unbefangener Mensch“ „als Un-
freiheit“ „empfindet“, „seinen eigenen Trieben zu folgen“ (MM 361). Da-
gegen „wendet sich jeder in sich gegen den Befehl, der ihm von außen
zugesandt worden ist“ (MM 361). Deshalb habe das, vom ‚Hüter‘ beför-
derte, Ziel darin zu liegen, den „Befehl ohne Scheu ins Auge“ zu „fassen“
und die „Mittel“ zu „finden, ihn seines Stachels zu berauben“ (MM 559).
In seiner Broch-Rede von 1936, die sich am frühen Weltzugang orientiert,
spricht Canetti von der „Mission einer totalitätserfassenden Erkenntnis,
die über jeder empirischen oder sozialen Bedingtheit steht“ (GW 104).192
Mit dem zugehörigen kognitiven Auftrag versieht er in der Broch-Rede,
die das Motto „Die Zeit entläßt dich nicht“ trägt, den „repräsentativen“
Dichter (GW 102). Dessen Aufgabe besteht in der Beförderung einer
nicht-bewussten Lebens- und Weltordnung. Ein neu-mythischer Modus,
der zur Überwindung der ‚empirisch-sozialen‘ Determinanten dient, wird
so sichtbar. Erst mit der Masse-Macht-Schrift und der Münchner Rede von
1976 beschreibt Canetti einen Verwandlungs-Modus, dessen ‚Hüter‘ der
Dichter ist.
Ein Nebenziel der Verwandlung/Empathie liegt darin, sich einerseits
selbst, in Form der Kanonisierung, literarische Unsterblichkeit zu ver-
schaffen („noch ist es nicht sicher, ob auch du sterben mußt“, GW 99) so-
wie andererseits den im Werk genannten und beschriebenen Personen.
Der kognitive Modus ist mit ‚Voreinfühlung‘ alias Verwandlung zu be-
zeichnen. Im Fall der zweiten Gruppe soll dieses Ziel, wenn nicht über Cha-
rakterisierung, so zumindest durch Nennung von Namen erreicht werden.
Im Idealfall hat dieses Verfahren zur Folge, wie aus einer Notiz von 1980
hervorgeht, dass man „urplötzlich“ „wieder alles über“ die „Toten“
192 Canetti zitiert dabei aus Brochs Rede „James Joyce und die Gegenwart“ (1932).
120 2.4 Canettis Geschichtsverständnis
Es sind nur mächtige Namen, die anderen sterben. – Am Namen ist also
einmal die Kraft des Überlebens zu messen. Es ist bis heute die einzige
wirkliche Form des Überlebens. (A 210)
Angewandt auf seine polymythische Schrift vom Menschen, ist davon aus-
zugehen, dass Canetti im Menschen ein nicht von komplexer Vernunft be-
stimmbares, sondern von Macht bzw. Entfremdung ‚getriebenes‘ Wesen
sah – sei es der Machthaber oder der Geknechtete. Als solches sei er erst
ab einem gewissen Grad eines allgemeinen Bedrohungspotentials zu ei-
193 Dass Canetti einzig die Dichtung zum Vermittlungsmedium erkürt, betont den moder-
nekritischen Zugang. – Stocker macht bereits in der Blendung einen Mediendiskurs
aus, der die „Wissenskrise“ der „Schriftkultur“ beschreibt; Günther Stocker: Eine an-
dere Welt – Die Bibliothek in Canettis Blendung. In: Bibliotheken in der literarischen
Darstellung. Libraries in literature (= Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des
Buchwesens; 33). Hg. von Graham Jefcoate und Peter Vodosek. Wiesbaden: Harrasso-
witz 1999, S. 65–88, hier: S. 77.
2 Wissenschaft: Dichtung, Utopie und Verwandlung 121
Mit dem Verweis auf seine Anthropologie wird der Mensch der Möglich-
keit vernunftgeleiteten ethischen Handelns in der Geschichte beraubt, die
sich mit der Überführung der geschichtlichen Phänomene von Masse und
Macht in Natur (Physik der Masse, Physiologie der Macht) nur noch als
Wiederholung des Immergleichen und als Theorie von Zuständen darstellt
[…].194
195 Vgl. Penka Angelova: Elias Canetti. Spuren zum mythischen Denken. Wien: Zsolnay
2005, S. 60.
196 Vgl. Eigler, autobiografisches Werk, S. 80.
197 Neben dem Menschen zählen zur Familie der (Großen) Menschenaffen die Gattungen
Gorilla, Schimpanse und Orang-Utan; Winfried Henke und Hartmut Rothe: Stammes-
geschichte des Menschen. Eine Einführung. Berlin [u.a.]: Springer 1998, S. 22. Der
Mensch grenzt sich unter anderem „als aufrecht gehende[r], großhirnige[r], vernunft-
und sprachbegabte[r] Affe[]“ von den „nicht-menschlichen Primaten“ ab; ebenda, S.
23.
2 Wissenschaft: Dichtung, Utopie und Verwandlung 123
198 In der Blendung spricht Georg Kien folgende Worte, die Aufschluss über Canettis ge-
weitetes Menschheits-Konzept geben: „‚Die Menschheit‘ bestand schon lange, bevor
sie begrifflich erfunden und verwässert wurde, als Masse.“ (B 449) Die Anführungszei-
chen, in die der Menschheits-Begriff gesetzt ist, weisen auf ein im biologischen Sinn
nicht klassisches Verständnis.
124 2.5 ‚Hüter der Verwandlung‘
199 Es handelt sich im Wesentlichen um einen einzigen Mythos, den der Buschmänner,
den er als Beispiel für jene empathische Kognition anführt, und zwar deren „Ansätze“
(MM 400). Die „Ursprungslegenden“ der Australier (MM 128), die von den Ahnen han-
deln, sind dagegen den Vorstellungsformen von Verwandlung gewidmet.
200 Vgl. Witte, Erzähler als Tod-Feind, S. 65.
2 Wissenschaft: Dichtung, Utopie und Verwandlung 125
dar. Dies ist der „wunde“ bzw. offene Punkt in Canettis Konzept, der sich
konzeptionell nicht schließen lässt – eben weil er wesenhaft bedingt ist.
Andererseits kann ihn dieser Makel nur darin bestärkt haben, sich gegen
Systematik und Klassifizierung aufzulehnen und rationale Engführungen
als unzulänglich darzustellen. Davon abgesehen, bekennt Canetti, dass
das Phänomen der Verwandlung bei ihm ein vielfältiges ist, dem man sich
von „verschiedenen Seiten nähern“ müsse (MM 397).
Das spätere Konzept der Verwandlung wird in der Münchner Rede, die
der Rolle des ‚Hüters‘ gewidmet ist, mit wichtigen Charakteristika verse-
hen. Deren Beschreibung als „älteste, vorwissenschaftliche Weise“ der
Wahrnehmung wendet sich gegen ein aristotelisches Ideensystem: „[…]
denn er sammelt Menschen nicht, er legt sie nicht ordentlich beiseite, er
[…] nimmt sie lebend auf, – da er von ihnen heftige Stöße erfährt, ist es
sehr wohl möglich, daß die plötzliche Hinwendung zu einem neuen Wis-
senszweig auch von solchen Begegnungen bestimmt ist.“ (GW 368) Die
„Begegnungen“ vermöchten so für einen ‚Anstoß‘ zu sorgen, etwa zu ei-
ner neuen Methode oder gar einem „neuen Wissenszweig“. Die Wirkung
wird am Beispiel der Masse-Macht-Schrift deutlich, in der Canetti als Mo-
dus Operandi eine Universalmethode wählte. Von der Öffnung der zweck-
rationalen Verengung versprach sich Canetti ein nicht-atomisiertes Ver-
fahren, das dazu prädestiniert sei, einen erhellenden Blick auf die Masse-
und Macht-Phänomene zu eröffnen. Canetti sieht den auserwählten Dich-
ter als ‚Hüter‘ der Verwandlung und für diesen die Notwendigkeit, sich
einem unkonventionellen „Chaos“ auszusetzen, dem durch ‚hoffnungs-
frohe‘ Versuche der Überwindung (GW 369) zu begegnen sei. Das „tau-
sendfältige Leben“ sieht er als eine Quelle, die ihm die „Kraft“ „gibt“, „sich
dem Tod entgegenzustellen“ (GW 371).205
205 Die Korrelation zwischen dem ‚Empathie‘-Modus und dem denkerischen Niederschlag
zeigt, dass bei einer derartigen ‚Hüterschaft‘ auch die Gattungsgrenzen zu verschwim-
men haben. Tatsächlich weist seine Masse-Macht-Schrift zwar keinen wesentlichen
Anteil an Erfundenheit auf, doch ein mimetischer Umgang mit Quellen (Eigler) wie ein
entsprechender Argumentationsaufbau machen neben dem Dichter auch den Denker
zum Verwandlungs-‚Hüter‘; Eigler, autobiografisches Werk, S. 91.
130 2.5 ‚Hüter der Verwandlung‘
Hinter seinem paradoxen Ziel steht die Aussicht auf eine ‚kraftspendende‘
Einheit des Seins, die sich nicht auf eine (Zweck-)Ratio reduzieren lasse.
Aufgewertet wird als deren Gegenpart das Gefühl bzw. die Emotion, mit
dem sich qua Synthese eine Ganzheitlichkeit des Denkens und Handelns
herstellte. Im Gegensatz zum Ziel der Vorzivilisation behält nun die Ratio,
der Aufwertung des Empfindens zum Trotz, ihre Leitfunktion bei. Dass es
sich für den Dichter darum zu handeln hat, die Determinismen von Masse
und Macht zu erfassen und einen (Lebens-)Kreis des Bösen zu durchbre-
chen, wird an einer späteren Stelle der Rede deutlich: „Daß man das
Nichts nur aufsucht, um den Weg aus ihm zu finden, und den Weg für
jeden bezeichnet.“ (GW 371) Mit dem Begriff des „Nichts“ klingt ein trieb-
teleologisches Verhängnis an, das Canetti, der sich als ‚Hüter‘ begreift,
durch eine Synthese von Erkenntnis und Wahrnehmung zu beheben ver-
sucht – eine ‚abgespaltene‘ Zukunft.
Der Mythos der australischen Buschmänner nimmt, wenn es um Konzep-
tion und Verständnis seines Verwandlungs-Modells geht, eine zentrale
Bedeutung ein. In Masse und Macht bezieht sich Canetti auf das Buch Spe-
cimens of Bushman Folklore von Wilhelm H. Bleek und Lucy C. Lloyd, das
1911 in London (Allen Verlag) erschien. Auch wenn in diesem Fall von kei-
nem vor-prähistorischen Beispiel zu sprechen ist, und von einem Mythos
nur in einem weiten Sinn, diente ihm die besondere Fähigkeit des Einfüh-
lens, die er darin beschrieben fand, als Beleg wie Vorbild für eine dem
Menschen angeborene, doch im Fortschrittsverlauf verkümmerte Grund-
anlage206: „Aus einem dieser Bücher über die Buschmänner habe ich mehr
gelernt als aus manchen der bedeutendsten Werke der Weltliteratur.“207
Im Unterkapitel „Vorgefühl und Verwandlung bei den Buschmännern“ be-
schreibt er ein gleichnamiges Sinnesvermögen, das sich mit schulmedizi-
nischen Mitteln nicht erklären lässt. Canetti spricht bei diesen „Vorge-
206 Unter Wahrung einer kritischen Distanz mutmaßt Canetti, dass die Buschmänner „Fä-
higkeiten ausgebildet“ haben, „die uns abhanden gekommen sind“ (MM 400).
207 Canetti/Bienek, ‚die Wirklichkeit ableuchten‘, S. 11.
2 Wissenschaft: Dichtung, Utopie und Verwandlung 131
In seinem Abgleich führt er weiter aus, dass „auch die Verwandlung hand-
lungstheoretisch genau in der Mitte zwischen strategischer List und ge-
stalterischem Spiel“ angesiedelt ist: „Dieser zweiten Seite der menschli-
chen Verwandlungsfähigkeit größtmöglichen Raum zu geben, stellt den
Kern der Vorstellung dar, in der Canetti sein Bild einer befreiten Gesell-
schaft umreißt […].“210 Wie der Buschmann-Mythos exemplifiziert, ver-
tritt Canetti ein ‚Vorgefühls‘-Konzept, das von Adornos/Horkheimers Mi-
mesis-Begriff durch erwähnte „Subjektivität“ abweicht (ARG 142). Zudem
ist zu sagen, dass etwa die Zukunftsspaltung eine „strategische[] List“ dar-
stellt, die der maßgebliche Dichter verfolgt – und zwar unter Anwendung
der Verwandlung –, so dass bei Canetti beide Konzeptionsaspekte vorlie-
gen.
Kuhnau kommt in ihrem Vergleich mit der Dialektik der Aufklärung zu
dem einseitigen Schluss, dass Canetti die „Entstehung und Entwicklung
von Wissenschaft und Technik mit ihren destruktiven Folgen als Ergebnis
eines vom Intellekt völlig abgelösten“ „‚Zerstörungstriebs‘“ der „Hände“
sieht, während Horkheimer/Adorno die „Entwicklung der Vernunft zur
Wissenschaft des technisch Machbaren als Pervertierung der Aufklärung
im geschichtlichen Prozeß erkennen“, die „aber im Moment der Reflexion
dieses Prozesses zugleich das Mittel, sich daraus zu lösen, enthält“.211 Was
Canetti betrifft, verkennt Kuhnau den neu-aufklärerischen Zug, der das
mimetische Erbe aller Praxis dem Vergessen überantwortet“ wird; Adorno und Hork-
heimer: Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung. In: Dialektik der Auf-
klärung, S. 177–217, hier: S. 190.
210 Honneth, theoretische Erkenntnis in Masse und Macht, S. 124. Honneth gibt überdies
zu bedenken, dass die „Übereinstimmungen mit der Lehre“ von Helmuth Plessner in
diesem Punkt „noch“ „stärker“ sind, und lässt dazu einen kurzen Vergleich folgen;
ebenda, S. 124.
211 Vgl. Kuhnau, Masse und Macht in der Geschichte, S. 384. – Adorno/Horkheimer spre-
chen davon, dass die zur „Gewalt werdende Aufklärung selbst vermöchte die Grenzen
der Aufklärung zu durchbrechen“; Adorno und Horkheimer, Elemente des Antisemi-
tismus, S. 217.
2 Wissenschaft: Dichtung, Utopie und Verwandlung 133
217 Vgl. Gerhard Melzer: Der einzige Satz und sein Eigentümer. Versuch über den symbo-
lischen Machthaber Elias Canetti. In: Experte der Macht. Elias Canetti. Hg. von Kurt
Bartsch und dems. Graz: Droschl 1985, S. 58–72, hier: S. 68.
218 Vgl. ebenda. – Canetti sieht tatsächlich Gemeinsamkeiten zwischen dem „Ruhmsüch-
tigen“ einerseits und dem „Reiche[n]“ und „Machthaber“ andererseits (MM 470 u.
471). Übertragen auf den Dichter, lässt sich daher vom egoistischen Ziel der Unsterb-
lichkeit qua Literatur sprechen. Auch Eigler hält in Bezug auf den Macht-Aspekt fest,
dass im Gegensatz zu den Stimmen von Marrakesch, wo es dem Autor „gelingt, sein
Leben ‚in Sprüngen‘ zu verzeichnen“, der „Versuch“ in der Autobiografie, „die eigene
Lebensgeschichte als kontinuierlichen und sinnvollen Werdegang ein für alle Mal fest-
zuschreiben“, „machtvolle Züge“ „trägt“; Eigler, autobiografisches Werk, S. 190. In die-
sem Punkt bleibt festzuhalten, dass eine poetologische Differenz zwischen seiner Le-
bensgeschichte und seiner Literatur im engeren Sinn besteht. Während sich die „Ver-
änderungen von Figuren“ für ihn in „Sprüngen“ vollziehen, sieht er sich selbst nicht an
diese unharmonische Form der Entwicklung gebunden; Canetti/Durzak, akustische
Maske und Maskensprung, S. 29.
219 Vgl. Eigler, autobiografisches Werk, S. 83.
136 2.5 ‚Hüter der Verwandlung‘
(GW 106). Im Jahr 1942 verfasste er eine Aufzeichnung, mit der das Irreale
dieser Regression zum Ausdruck gelangt: „Mein größter Wunsch ist es zu
sehen, wie eine Maus eine Katze bei lebendem Leibe frißt.“ (A 13) Später
stellt er das Gleichnis, das nun unter verkehrten Vorzeichen ein von der
Katze inszeniertes Spiel beschreibt, in den Dienst der Beschreibung des
„Macht“-Dilemmas (MM 333). Uwe Schweikert erkennt die utopische
Substanz dieser Aufzeichnung, wenn er unter minimalutopischem Be-
griffsgebrauch erklärt, dass die „Verwandlung“ dem „Dichter eine Frei-
heit“ gibt, die ihn das „Prinzip der Kausalität auf den Kopf stellen, eben
umkehren läßt“.223 Wiewohl der junge Canetti darauf aus war, eine neue
Vor-Vor-Historie zu kreieren, darf daraus, wenn auch kein humanistisches
Ansinnen, so zumindest ein solches Sinnen abgeleitet werden. Denn da-
hingestellt hat zu bleiben, ob mit einer Flucht, deren kognitives Vehikel
der Wahn ist, jenem Anspruch tatsächlich Genüge getan wäre. Gerald
Stieg, der sich auf Masse und Macht bezieht, spricht von einer der „gro-
ßen Ethiken unserer Epoche“.224 An anderer Stelle schreibt Stieg auch,
dass Canetti „vielleicht der letzte Humanist“ ist.225 Knoll spricht ebenso
vom „Humanen“ und „Humanitäre[n]“ bei Canetti.226 Auer konstatiert,
dass das „Menschheitsmotiv aller großen Revolutionen“, „wie es uns als
Marxisten tief vertraut ist“, zu „erkennen“ ist: „Es bildet das Herzstück
auch des realen Humanismus.“227 Ob es sich nun um seine Schrift vom
Menschen oder seine Literatur zum zivilisatorisch verhärmten Dasein
Wie ausgeführt, ginge man fehl in der Annahme, dass es sich bei Canetti
um einen Kausalitäts-Deterministen handelt, als der er jenseits seiner
Utopien erscheinen würde. Der naturwissenschaftliche Modellgebrauch
gehorcht einer rhetorischen Regel und hebt sich auch von einem strikten
Polydeterminismus ab. Von diesem fällt ausgerechnet die Klärung der
Frage der NSDAP-Gründung wie jene der Shoa-Vernichtung ab, indem er
in diesen beiden Fällen tatsächlich ein Ursache-Wirkungs-Prinzip am Wir-
ken sieht.
Da seine Universalanthropologie insgesamt in keinem Einklang mit den
akademischen Gepflogenheiten steht, trägt seine Beschreibung zu Masse
und Macht in facto mythisch-mimetische Züge. Kuhnau gibt zu bedenken,
dass die „Gefahr, daß Wissenschaft zum Mythos wird, die im Bereich der
Verwandlung durch die Gleichberechtigung verschiedener Sichtweisen
der Welt in der Regel vermieden wird“, „immer dann“ „hervor“-„tritt“,
„wenn Canetti sich naturwissenschaftlicher Erklärungsmodelle be-
dient“.228 Wie ausgeführt, erhebt Canetti den antizivilisatorischen An-
spruch, den anthropologischen Kreis, in dessen Zentrum er das Grundübel
des Todes wähnt – ab 1945 zunehmend seine soziale Dimension –, zu
durchbrechen. Das zugehörige Instrument der Verwandlung/Empathie
schreibt dem Dichter eine Führungsrolle zu, doch lediglich im Fall des mi-
nimalutopischen Zuganges ist dieses für den alltagspraktischen Einsatz ge-
dacht.
Die Hauptfigur seines Romans Die Blendung, die anfänglich mit dem Na-
men B. (für Büchermensch) versehen worden war, dann mit Brand und
letztlich mit Kant, vertritt als Sinologe den Bereich der Kulturwissenschaf-
ten. Zur Klärung der Frage, welchem weltanschaulichen Zugang der Ge-
lehrte vorsteht, trägt ein Blick auf den Erstnamen bei. Ursprünglich sollte
der Büchermensch eine modernetypische Entfremdung und Zersplitte-
rung figurieren, im Sinn einer ‚deutschen‘ Subjektkrise. Doch wiewohl Ca-
netti vom literarischen Gesamtunternehmen einer „Comédie humaine an
Irren“ gesprochen hat,229 und einem entsprechenden Figureninventar,
wurde mit dem Erlebnis des Justizpalastbrandes das „Gleichgewicht unter
den Figuren“ „zerstört“ (FO 342). Aus diesem Reigen blieb ein einzelner
Protagonist übrig, der sich als Abtrünniger gegen eine Gesellschaft stellt,
die erstens in eine irrationale Ratio abgeglitten ist und zweitens eine
‚deutsche‘ Krisendynamik durchlebt.
230 Vgl. Salman Rushdie: Die Schlange der Gelehrsamkeit windet sich, verschlingt ihren
Schwanz und beißt sich selbst entzwei. In: Hüter der Verwandlung. Beiträge zum Werk
von Elias Canetti. München [u.a.]: Hanser 1985, S. 85–89, hier: S. 87.
231 Bereits Stieg spricht verallgemeinernd von „‚Sublimierung‘“, „die nach dem Vorbild
eines Säulenheiligen alle natürlichen Grenzen überschritten hat“; Gerald Stieg: Frucht
des Feuers. Canetti, Doderer, Kraus und der Justizpalastbrand. Wien: Edition Falter im
ÖBV 1990, S. 144.
3 Politik: Biologische Anthropologie und Nationalismus 143
232 Dieter Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn. Elias Canettis Roman Die Blendung
(= Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik; 11). Diss. Bristol 1969. Bonn:
Bouvier 1971, S. 171.
233 Ebenda. – Stieg streicht ebenso die grundsätzliche Vorbildwirkung Stendhals für den
Autor hervor, indem er von „Figuren der Erinnerung“ spricht, die jene „Stendhalsche
Maschine zur Besiegung des Todes und des Vergessens“ „beherrschen“; Stieg, Be-
trachtungen zu Canettis Autobiografie, S. 162.
144 3.1 Die ‚deutsche‘ Form der westlichen Subjektkrise
234 Vgl. Joseph P. Strelka: Elias Canettis Roman Die Blendung. In: Ist Wahrheit ein Meer
von Grashalmen? Zum Werk Elias Canettis (= New Yorker Studien zur Neueren Deut-
schen Literaturgeschichte; 9). Hg. von dems. und Zsuzsa Széll. Bern [u.a.]: Lang 1993,
S. 35–52, hier: S. 33 u. 36.
3 Politik: Biologische Anthropologie und Nationalismus 145
235 Diese Gedanken gehen der Kien-Figur anlässlich ihrer Begegnung mit dem „Junge[n]“
namens Franz Metzger (B 8) durch den Kopf.
146 3.1 Die ‚deutsche‘ Form der westlichen Subjektkrise
die sich in einen Positivismus gewandelt habe und Kien zu einem Positi-
visten macht („Canetti’s novel Auto Da Fé should be read as a critique of
a kind of Enlightenment that has turned into positivism“/„the positivist
Kien“).236 Weiter sieht Mack in Kien ein Spiegelbild einer zersplitterten
Gesellschaft, die in einen totalitären Massenstaat abgleite, in dem die Ra-
tio irrationalen Zwecken diene, so dass eine Differenz zwischen Canetti
und der Figur anzusetzen sei („Kien […] mirrors an atomized society that
drifts towards a totalitarian mass-state […] in which rationality serves ir-
rational ends“/„differences between Canetti and Kien“).237
Mit dem Kien’schen Sinologen, der unter anderen den Namen Kant trug,
erfolgt eine Abwendung vom Logozentrismus, die in zwei Phasen verläuft.
So, wie Canetti in Masse und Macht eine ‚instrumentelle‘ Vernunftpraxis
ins Visier nimmt, führt sein Roman – anhand der Zentralfigur – die Unzu-
länglichkeit einer Fortschrittsratio vor, die als intellektuell eindimensional
abzulehnen sei. Indem Kien in der Wissenschaftspraxis ein Symptom der
modernen Zeit erblickt, hat er auch im Wirtschaftssystem eine zweckbe-
dingte Verformung der Vernunft vorzufinden. Wenn auch nicht in metho-
discher Hinsicht, so darf man ihn zumindest durch seine uneingeschränk-
ten Interessen als den Universalisten bezeichnen, als der Canetti mit sei-
ner Schrift vom Menschen in Erscheinung tritt. Die von Kien gewahrte De-
formation der Aufklärung macht deutlich, warum er, neben allen Unter-
schieden, weitere Gemeinsamkeiten mit der historischen Person Imma-
nuel Kants aufweist,238 die etwa für ihren rigorosen Arbeitsstil bekannt
war. Kien ist der verehrte Forscher, der er ist, ebenso erst durch den „Fleiß
und die Geduld von Jahrzehnten“ geworden (B 175): „Punkt acht begann
die Arbeit, sein Dienst an der Wahrheit.“ (B 13)239 Dass diesen Arbeitsstil
wiederum Canetti pflog,240 vereint die fiktionale Gelehrtenpraxis mit der
(indessen gedoppelten) biografischen.241
Elias Canetti selbst erscheint in seinem Gelehrtenhabitus als der weltbe-
rühmte Sinologe, jener weltabgewandte Geistesmensch, als den ihn be-
reits Horst Bienek erkannte, als er ihn 1965 in London besuchte:
Ich hatte gerade erneut Die Blendung gelesen, und als ich ihn sah, wie er
mich vor seinem Haus in Hampstead empfing, ging es mir plötzlich durch
den Kopf: Das ist doch der Herr Doktor Kien, seine Gestalt, sein Kopf, seine
Gesten, seine Ausrufe … Und als ich in das Haus hineinging, eine schmale,
enge Treppe hoch, an schweren, alten Möbeln vorbei, an Zeitungs- und
Bücherstapeln, da trat ich in die Bibliothek und zugleich in den Roman ein,
ja, hier war Kien zu Hause […].242
Zwar greift Canetti seiner Bibliophilie dadurch voraus, dass er sich sein
Reich aus Büchern vorerst fiktional erschafft, doch unverkennbar be-
schreibt er sich mit dem Hüter eines Bücherschatzes selbst. Auf unmittel-
bare Weise zeigt sich Lebensgeschichtliches darin, dass er die Vorhaltun-
gen der Mutter, die ihn als Stubengelehrten kritisierte (s. u.a. GZ 324–325
u. FO 109), im Roman in einer ironischen Übersteigerung aufgriff.243 Eigler
sieht insofern die „Vorwürfe der Mutter in dem ‚Büchermenschen‘ Peter
239 Stieg spricht von einem an „Kant gemahnenden Stundenplan[]“; Stieg, Frucht des Feu-
ers, S. 192.
240 Canetti erklärt in seiner Autobiografie, dass beim Abfassen seines Romans „strenge
Gesetze herrschten“ (FO 343).
241 Dissinger erklärt, dass „[s]owohl der Name Kien wie der ursprüngliche Name Kant“ auf
„versteckte Weise den Namen Canetti anklingen“ „lassen“: „Aus Canetti wird durch
Kontraktion Kant.“; Dissinger, Vereinzelung und Massenwahn, S. 129.
242 Horst Bienek: Elias Canetti. In: Werkstattgespräche mit Schriftstellern (= dtv; 291). 3.,
vom Autor durchges. u. erw. Ausg. München: DTV 1976, S. 273–285, hier: S. 273.
243 Mathilde Canetti, die in dem hehren Anspruch ihres Sohnes, „[a]lles lernen“ zu wollen,
eine Gefahr für den Erwerb von Lebenstüchtigkeit sah, leitete deshalb die Übersied-
lung nach Deutschland, in ein vom „Krieg gezeichnet[es]“ „Land“, in die Wege (GZ 324
u. 330).
148 3.1 Die ‚deutsche‘ Form der westlichen Subjektkrise
Kien verarbeitet“, als er mit dieser „Figur ein Gegenbild entworfen“ hätte:
„Kiens Verhältnis zu Büchern und Texten ist in der Autobiographie das Li-
teraturverständnis des Autors dezidiert entgegengesetzt: Ein lebendiges
Verhältnis zur (Bücher-)Welt, das in den Augenblicken existentiellen Er-
faßtwerdens kulminiert.“244 Wiewohl die Unterschiede fiktionaler und bi-
ografischer Natur unverkennbar sind, ist statt von einem „Gegenbild“ von
einem Zerrbild zu sprechen. Zu substantiell sind die Überschneidungen,
was Bibliophilie und Bildungsdrang betrifft, als dass man von gegensätzli-
chen Anlagen sprechen könnte.
Eine zweite Parallele, die mit den Umständen der Romanentstehung vor-
liegt, ist ein zusätzlicher Beleg für eine enge autobiografische Matrix. Eig-
ler selbst spricht davon, dass die einjährige Arbeit am Roman in der Auto-
biografie keine Beschreibung findet. Daher sieht sie sich zu der Mutma-
ßung veranlasst, dass diese „Konstellation“ den „Eindruck“ „erweckt“,
„als sei dieses ausgesparte Lebensjahr ganz in den Roman eingesogen und
nur von seinen Rändern her erzählbar“.245 Tatsächlich spiegelt sich im
weltfremden Dasein des Sinologen die menschenferne Schreibtätigkeit
Canettis, durch die in Wien sein Roman entstand.
Die Krise, die er künstlerisch zu bewältigen suchte, ist die Folge einer Irri-
tation, die aus der Konfrontation mit der ‚deutschen‘ Moderne hervor-
ging. Der Autor sieht, nach seiner Rückkehr aus Berlin, „viele Wirklichkei-
ten“ und eine „zentrifugale“ Kraft am Wirken (FO 296). In einer Aufzeich-
nung aus dem Nachlass, die vom 10.04.1963 stammt, erklärt Canetti, dass
er mit der Figur des Sinologen seine eigenen Irritationen in Worte fasste.
Von Kien, „der ich damals war“, habe er sich gelöst, wie er mit Bezug auf
Hera Buschor schreibt: „Wird sie verstehen, dass ich Kien so gar nicht
mehr bin, nicht zuletzt durch sie, auf meine Erlösung von Kien hat sie das
letzte Siegel gedrückt.“246 Was der Autor der Blendung hiermit offenlegt,
in ihm selbst“ ist (B 449). Durch den Kien der ersten Phase wird jene ‚Fes-
tung‘ auf unkonventionelle Weise errichtet, durch einen Studienalltag,
der ihn einerseits vom profanen wie krisenhaften Leben trennt und ande-
rerseits von den Institutionen und Praktiken, die dem aristotelischen Prin-
zip gehorchen. Auch dem ersten Faktor vermag Kien erst ab dem Zeit-
punkt, als es zur Vermählung kommt, nicht mehr zu entsprechen. So, wie
er mit dem Hinauswurf aus der Wohnung seine Arbeit einstellt, so schutz-
los ist er nun einer Sozietät ausgeliefert, die ihn bald in das Reich der
Schattenexistenzen führt.
Die Regression setze ein, wenn die „Masse über uns“ „kommt“, „ein brül-
lendes Gewitter, ein einziger tosender Ozean, in dem jeder Tropfen lebt
und dasselbe will“ (B 449). Laut Georg Kien führt sie zu Massenvorgängen,
deren Ursprung im Archaischen liegt: „In der Erinnerung fassen wir es
nicht, daß wir je so viel und so groß und so eins waren.“ (B 450) Während
der mit „Verstand Geschlagene[]“ von einer „‚Krankheit‘“ spreche, setze
das „Lamm der Demut“ eine „Bestie im Menschen“ an (B 450). Doch be-
schreibt Georg die Massenbildungen deshalb nicht als Phänomen der mo-
dernen Zeit, weil er sie nicht auf die ‚Berührungsfurcht‘ rückführt. Im Ge-
genteil sind sie für ihn Ereignisse, die unberechenbar wie unerklärlich vor
allem über ungebildete Menschen hereinbrechen. Allerdings scheint den
modernen Menschen eine zivilisatorische Verweichlichung dafür anfälli-
ger zu machen. Seine Voraussage, dass sie „[e]inmal“ „nicht zerfallen“
wird, „vielleicht in einem Land erst, und von diesem aus um sich fressen“
(B 450), deutet auf eine neu-mythische Zeit. Der Vorgang meint hier nicht
die Erschaffung einer neuen modernen Realität, sondern tatsächlich eine
‚innere‘ Masseneinheit, die sich kollektiv herstellt und von der Massenge-
sellschaft unterscheidet, „weil es kein Ich, Du, Er mehr gibt, sondern nur
noch sie, die Masse“ (B 450). Was Georg hier voraussagt, ist, dass der zi-
vilisatorisch verfeinerte Mensch den Anforderungen der archaischen, ‚in-
neren‘ „Bestie“, trotz seines Bildungsstrebens, auf Dauer nicht zu genü-
gen vermag. Dieser Vorgang der Masse wäre deswegen unvermeidlich, da
sie „trotz ihrem Alter das jüngste Tier, das wesentliche Geschöpf der Erde,
ihr Ziel und ihre Zukunft“ ist (B 450). Daher lägen die Vertreter der ersten
3 Politik: Biologische Anthropologie und Nationalismus 151
247 Vgl. Alexander Schüller: Namensmythologie. Studien zu den Aufzeichnungen und po-
etischen Werken Elias Canettis (= Conditio Judaica; 91). [EPub], Diss. Aachen 2016.
Berlin [u.a.]: de Gruyter 2017, S. 475.
152 3.1 Die ‚deutsche‘ Form der westlichen Subjektkrise
werden, „weil die Masse in ihnen besonders stark ist und keine Befriedi-
gung findet“ (B 450).
Wenn nun beim Sinologen ein geistiger Verfall einsetzt, dann hängt dies
erstens mit den grundsätzlich problematischen Lebensbedingungen zu-
sammen, die in irrational rationalen Krisenzeiten für Moderneopfer be-
stehen. Zum Zweiten bewirkt ein allgemeines politisch-wirtschaftliches
Krisenmoment eine Verschärfung, die bei Kien zu einer Steigerung der Ir-
ritation führt. Ausgehend von seinen Kenntnissen zur frühen chinesischen
Kultur im Speziellen und dem Weltwissen im Allgemeinen, entwickelt Kien
eine Belesenheit, die vom neuzeitlichen Akademiebetrieb (der Spezialisie-
rung) abfällt und ob ihrer Interessenfelder die ‚instrumentelle‘ Ordnung
aufbricht.
Sein Bruder Georg dagegen, der eine ähnliche Verwandlung durchläuft,
die ihn von der Hochmoderne wegführt, nimmt sich auf aktive Weise des
kognitiven Modus an, den der Dichter bei Canetti vor 1945 zu aktivieren
hat. Ihm ist es gelungen, sich vom akademisch anerkannten Betrieb (der
Psychiatrie) zu lösen und darin zu einem führenden Vertreter seines Fa-
ches aufzusteigen. Behandlungsmethodisch praktiziert er einen vorbe-
wussten Modus, in dessen Zentrum eine Art von ‚Empathie‘ steht.
Daneben erfindet er als Arzt einen neuen, ebenfalls empathischen Heil-
modus. Dieser ermöglicht es ihm zwar, die Opfer der modernen Parzellie-
rung, die zu einer der Psyche führt, zu heilen, indem er deren Ichs wieder
zu einem vereint: „[i]n seinem eigenen Bewußtsein näherte er die ge-
trennten Teile des Kranken […] und fügte sie langsam aneinander“
(B 435). Doch dient dies der medizinischen Wiederherstellung, der Rück-
kehr in die Hochmoderne, also einem Ziel, mit dem er sich nicht zu iden-
tifizieren vermag. Folglich ist er nicht vor der Versuchung gefeit, eine em-
pathische Re-Evolution zu befürworten, wenn er innerlich den „festen
Vorsatz“ verfolgt, „keinen zu heilen“ (B 441) und die Kranken in ihrer Irre-
alität zu belassen.
Bereits die Begegnung mit der Gorilla-Existenz, die seinen Wandel von der
Gynäkologie zur Psychiatrie einleitet, legt offen, dass er ob der „Großar-
3 Politik: Biologische Anthropologie und Nationalismus 153
tigkeit der Irren“ (B 441) vor einer Heilung zurückschreckt. Der Möglich-
keit, die von der Produktionsmoderne abgefallenen Individuen zu heilen
und mit der Zeit zu versöhnen, stehen seine Einsichten entgegen. Wie Ca-
netti, sein Schöpfer, ist auch er kein Vertreter eines Kausalitätsdetermi-
nismus. In seiner am Menschen orientierten Heil- wie Behandlungsme-
thode sieht er die „Wissenschaft“, die ihren Vertretern, den „Scheuklap-
penherzen“, den „Glauben an Gründe eingetrichtert“ hatte (B 449), kri-
tisch.
Einzig die Personen, die seine „empfindliche Liebe“ „kränkten“ (B 441),
„führte“ er aus Rache nach „Ägypten zurück“ (B 442). Bezeichnend für den
neu-mythischen Berührungspunkt ist, dass die ehemaligen „Gäste“, an
denen er seine Heilmethode anwendet, nun auch den „Tod“ „wieder als
natürlich hinnahmen“ (B 442). Denn die Flucht der Patienten vor der Ra-
tio, die hin zu einer der Gefühle führt, entspricht tendenziell der kogniti-
ven Wegrichtung, die Canetti zur zweifachen Todesbekämpfung vorgibt.
Durzak hingegen ist der Ansicht, dass Georg seine Berufung keineswegs
darin sieht, sich mitsamt seinen Patienten von der Zivilisation abzuwen-
den, sondern in dem Ziel, „den Verstand wieder zu jenen archetypischen
Schichten des Menschen in Beziehung zu setzen, die zu seiner Existenz
unverlierbar gehören“, was eine neue „Erkenntnisform“ erschüfe.248 Da-
gegen sieht Doppler in Georg einen „verwandlungsunfähige[n] Machtha-
ber“, der als solcher auch „keine Gegenfigur“ zu Peter Kien darstellt.249
Ebenso sieht Bischof bei Georg keine „pure[] Leidenschaft für die Ver-
wandlung“, denn in „Wirklichkeit läßt auch er sich nur von der Macht
blenden, die ihm allein schon aufgrund seiner sozialen Position an der
Spitze der Irrenanstalt zufließt“.250
248 Vgl. Manfred Durzak: Elias Canetti. In: Deutsche Dichter der Gegenwart. Ihr Leben und
Werk. Hg. von Benno von Wiese. Berlin: Erich Schmidt 1973, S. 195–209, hier: S. 208.
249 Vgl. Doppler, Hüter der Verwandlungen, S. 53.
250 Vgl. Rita Bischof: Kien oder die Implosion des Geistes. In: Canettis Aufstand gegen
Macht und Tod. Hg. von John Pattillo-Hess und Mario R. Smole. Wien: Löcker 1996, S.
9–29, hier: S. 25.
154 3.1 Die ‚deutsche‘ Form der westlichen Subjektkrise
Dass Peter Kiens Fähigkeiten der ‚Empathie‘ stark verkümmert sind, er-
klärt sich im Roman mit den ökonomischen und politischen Bedingungen
einerseits und einer charakterlichen Erbschaft andererseits. Doch ausge-
rechnet er wird der Ratio vollständig abschwören und einer kognitiven
Regression unterliegen. Wie ausgeführt, bilden die beiden Brüder einer-
seits die maximalutopische Fluchtvariante ab und andererseits die Spiel-
form eines empathischen Verwandlungs-Modus, der jedoch nicht zu einer
‚abgespaltenen‘ Zukunft, weg von der Industrieratio, führt. Geht es nach
Georgs Selbstverständnis, so sieht er seine Aufgabe darin, von einer Hei-
lung abzusehen und seine Patienten in ihrer seelischen Vorzivilisation zu
belassen. Damit zeigt sich die Funktion des Dichters, wie sie Canetti vor
1945 beschrieb. An Peter Kien vollzieht sich diese nur dadurch, dass sein
Selbsttod performativ von der Vernichtung der jüdischen Ethnie kündet.
Wenn Peter Kien sich das „Verstandesgedächtnis“ zuschreibt, und seinem
Bruder ein „Gefühlsgedächtnis“ (B 478), trifft dies in Bezug auf seine Per-
son vor allem auf die erste Phase zu. Seine Selbstwahrnehmung stellt ei-
nen Unterschied zu Georg heraus, der auf der Fähigkeit zur ‚Empathie‘
beruht: „Statt sich in die andern zu verteilen, maß er sie, wie er sie von
außen sah, an sich, den er auch nur von außen und vom Kopf her kannte.“
(B 454) Mitgefühl zeigt der Bruder im behandelnden wie heilenden Ver-
fahren, wobei sein Mitleid mit der industriemodernen Opferschaft sein
Tun bestimmt. Peter zeigt bloß insofern Einfühlung, als er das Schicksal
seiner ethnischen Gruppierung antizipiert. Georg wiederum erklärt sich
seine Liebe zur „Wissenschaft“ (B 468) mit Peters „vollendete[r] Selbstlo-
sigkeit“ (B 469). Daneben hat er sein „Interesse für die Probleme der Spra-
che“ „angeregt“, wie Georg ausführt (B 468). Dissinger schreibt seinem
Bruder Georg zu Recht „Fähigkeiten zu Verwandlungen“ zu und hält
grundsätzlich fest: „Bei den Brüdern Kien handelt es sich um Gelehrte, die
als solche mit dem Dichter Sprachprobleme gemein haben.“251 Die
sprachkritische Haltung, die der Kien der ersten Phase bei Georg geweckt
hat, entspricht einem ratiokritischen Zugang, der sich in Canettis Schriften
selbst früh nachweisen lässt. Schüller dagegen ist der Ansicht, „dass Ca-
netti in Gestalt der Gebrüder Kien nichts anderes darzustellen beabsich-
tigt als die Antinomie von Verwandlung und Spezialisierung, Vergangen-
heit und Gegenwart“.252
Von einem pseudo-aufklärerischen Anspruch hebt sich Kien dadurch ab,
dass er mit der Hochmoderne samt ihrem zweckdienlichen Wissensideal
bricht. Aus einer Aufzeichnung von 1943, in der Canetti sich auf das neue,
technisierte Zeitalter bezieht, geht seine Vernunftskepsis eindrücklich
hervor. Darin konstatiert er einen Selbst-‚Verrat‘ der „Wissenschaft“, der
dadurch erfolgt wäre, dass sie sich zum „Selbstzweck gemacht“ hätte: „Sie
ist zur Religion geworden, zur Religion des Tötens […].“ (A 36) Daher
spricht Claudio Magris mit Blick auf den Roman von einer „äußerst klar-
sichtige[n] Parabel des selbstzerstörerischen Deliriums, auf das in unse-
rem Jahrhundert die westliche Ratio zusteuert“.253 Weiter erklärt Magris,
dass Kien „gleichzeitig Quintessenz und Opfer der bürgerlichen Ratio“ ist,
weil er die vom „bürgerlichen Denken mit Nachdruck proklamierte Auto-
nomie der Kultur gegenüber der ökonomischen Realität“ „lebt“.254 Seine
kulturellen Bestrebungen, sofern sie einem bürgerlichen Bildungsideal
entsprechen, erstrecken sich in erster Linie auf seine akademisch-sinolo-
gische Phase, die bereits durch Distanzen gekennzeichnet ist. Auer sieht
in Canetti einseitig den Vertreter einer neuen, ‚abgespaltenen‘ Zeit des
Fortschrittsglaubens, wenn sie schreibt, dass mit der „Geschichte von
dem hirnverbrannten Sinologen“ die „Frage“ abgehandelt wird, „ob es ge-
lingen wird, die scheinbare Verselbständigung, nämlich den Mißbrauch
von Wissenschaft und Technik, aufzuhalten und sie unter eine humane
Kontrolle und Lenkung zu bringen“.255 Auch Stieg, der in Canetti einerseits
258 Manfred Durzak: Der Roman des abstrakten Idealismus als satirischer Roman. Elias
Canettis Die Blendung. In: Gespräche über den Roman. Formbestimmungen und Ana-
lysen (= Suhrkamp Taschenbuch; 318). Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976, S. 103–127,
hier: S. 124.
259 Vgl. Manfred Durzak: Einleitung: Anmerkungen zu einer Vaterfigur der deutschen Ge-
genwartsliteratur. In: Zu Elias Canetti (= Literaturwissenschaft – Gesellschaftswissen-
schaft; 63). Hg. von dems. Stuttgart: Klett 1983, S. 5–8, hier: S. 7.
3 Politik: Biologische Anthropologie und Nationalismus 159
Das geistige Klima Wiens zu Anfang dieses Jahrhunderts wurde vom Neo-
positivismus des Wiener Kreises, der Philosophen Carnap, Schlick, Mach
und anderer, bestimmt. Ihr Denken ist auf empirisch überprüfbare Ratio-
nalität ausgerichtet und weist jede Metaphysik als unphilosophisch zu-
rück. Durch reines Nachdenken zu Aufschlüssen über die Beschaffenheit
Die Kien-Figur nimmt deshalb eine Sonderstellung ein, weil sie sich dezi-
diert gegen die geistigen Verfallserscheinungen (Subjektkrise) auf eine
Weise abgrenzt, „als hätte sich jemand gegen die Erde verbarrikadiert“
(B 68). In einem ersten Schritt erfolgt der Abgrenzungsversuch – neben
einer generellen „Blindheit“ (B 73) – auf (sinologisch-)akademischem
Weg, der bereits eine teilweise Abwendung von einem aristotelischen
Wissenschaftsverständnis zeigt. Schon zu Beginn dieser Entwicklung, de-
ren Ansätze auf den Romananfang datieren, sind eine eigenwillige Dis-
kurs- und Studienpraxis sowie eine Abkehr von den offiziellen akademi-
schen Institutionen gegeben, was teils auf sein vererbtes Außenseitertum
zurückzuführen ist.270 Die soziale Außenseiterposition, die durch die
‚deutschen‘ Verfallsphänomene befördert wird, hat ihm die Distanzierung
vom etablierten Akademiebetrieb zu erleichtern.
In einem zweiten Schritt geht Kien dazu über, seine Abschottung von der
Realität durch eine innere wie äußere Lossagung von seinem Fach der Si-
nologie zu vollziehen. Nach dem physischen Angriff auf ihn, den Krumb-
holz ausführt, ist einleitend zu erfahren, dass Buddha ihn „schon vor Jahr-
zehnten“ das „Schweigen“ gelehrt und so die „entscheidende Wende in
seiner Entwicklung“ eingeleitet hat (B 99). Ist Buddha einst sein Vorbild
gewesen, distanziert er sich jetzt von diesem „arme[n] Geist“, indem er
die „primitive Logik“ und dessen „Kausalitätsreihe“ beanstandet (B 100).
Darüber hinaus „kehrte“ er der „phantastischen Hölle der deutschen Phi-
losophie den Rücken“ (B 100), neben der französischen und englischen.
Gleichzeitig wendet er sich von der „konservative[n] Form der Evolutions-
theorie“ ab, um mit „flatternden Blättern ins Lager der Revolutionäre“ zu
wechseln (B 146). Insgesamt zeichnet sich mit Kien ein Wandel ab, der ihn
vom Prinzip der Vernunft mehr und mehr entfernt. Krumbholz gelingt es
nämlich, durch ‚Verstellung‘ (B 48) den Sinologen für sich zu gewinnen.
Gebieterisch dringt sie, die der ‚deutschen‘ Verformung der ‚westlichen‘
Krise ein Gesicht gibt, in die Intimität seines Bücherlebens ein.
Folglich erklärt er im „Prügel“-Kapitel, auch seine wissenschaftliche Arbeit
einzustellen, „da seine aufklärende Mission ja erledigt war“ (B 153). Dem
entspricht, dass er auf ein „begonnene[s] Manuskript“ – „ganz gegen sei-
ne Gewohnheit“ – „Zeichen“ „malte“, „die keinen Sinn ergaben“ (B 153).
Auf ein beeinträchtigtes Verhältnis zur Büchersammlung, die seine wis-
senschaftliche Arbeit erst ermöglicht hat, weist sein Traum von einem „gi-
gantischen Bibliotheksgebäude“, das an einem „Krater des Vesuvs er-
baut“ war (B 153). Schließlich „empfand“ er „[n]ur für Bücher, die er nicht
besaß“, „Zärtlichkeit“ (B 156). Erst als er auf der „Straße lag“, erwacht sein
„Interesse für seine Abhandlungen zu Hause“ wieder (B 182 u. 183). Nach-
dem er die Bekanntschaft von Fischerle gemacht hat, „hoffte“ er auch,
„sich bald wieder ganz in sein wissenschaftliches Leben zurückzuziehen“
(B 294). An anderer Stelle „gedenkt“ er, seine „wissenschaftliche Leis-
tung“ „bald fortzusetzen“ (B 345). Doch welche Züge seine Forschung in-
nerhalb der zweiten Phase annimmt, wird mit der Guckloch-Episode deut-
lich, in der er als Folge „gedankliche[r]“ und „empirische[r]“ „Argu-
mente[]“ die Ansicht vertritt: „Blau ist eine Erfindung der Physik.“ (B 427)
Durch die Erfahrungen mit Krumbholz, die ihren blauen Rock wie eine Uni-
form trägt, verzerrt sich seine Wahrnehmung ins Wahnhafte. Dem Kien
der zweiten Phase dient die Wissenschaft allein dazu, sich seiner Ängste
zu entledigen. Wenn Kien im Zuge seiner Guckloch-Expertise erklärt, dass
das „Übersehen“ einem „Gelehrten im Blut“ „liegt“ (B 423), macht sich
auch gegen Handlungsende eine kritisch-ironische Distanz zur empiri-
schen, zweckorientierten Wissenschaftspraxis bemerkbar. Doch führt
dies zu keiner Fortsetzung seiner universalgelehrten Existenz, die auf eine
Ganzheitlichkeit des Wissens zielt, sondern zu einer unentwegten Be-
schäftigung mit der Farbe Blau, der Farbe von Krumbholz’ Rock, und der
Leugnung ihrer Existenz.
3 Politik: Biologische Anthropologie und Nationalismus 163
In diesem Sinn spricht Knoll treffend von einer ‚Verhöhnung‘ der „empiri-
schen Wissenschaften“ durch Canetti, die sich anhand eines Protagonis-
ten vollzieht, der „Wissenschaft“ dem angleicht, „was er als ihr Gegenteil
begreift: dem Aberglauben“.271 Dissinger gibt zu bedenken, dass es sich
um einen Gelehrtentypus handelt, in dessen Verhalten sich, als Folge der
modernen Krisenerfahrung, der Wahnsinn von Beginn an abzeichnet: „[…]
Kien hat nie seinen Verstand an der Realität ausgerichtet, sondern umge-
kehrt immer erwartet, daß sich die Realität seinem Verstand füge.“272 Dis-
singers Blickwinkel ist dadurch verengt, dass er den neu-mythischen Zu-
gang in seiner prozessualen Ausformung verkennt: Wissenschafter und Ir-
rationalist werden zwar durch ein und dieselbe Figur personifiziert, sind
voneinander jedoch zu trennen. Während der Sinologe sich zwangsläufig
an Mindeststandards der wissenschaftlichen Gepflogenheiten zu halten
hat – und damit der Ratio verpflichtet ist –, um die Anerkennung der Fach-
kollegen zu erlangen, beschreitet der Realitätsabtrünnige einen davon ab-
zweigenden Weg. Die „Blindheit“ (B 73), die er sich früh angeeignet hat,
dient ihm nun dazu, die westliche Subjektkrise ‚deutscher‘ Prägung er-
träglich werden zu lassen, ist jedoch nicht mit seinem Modus Operandi
einer Universalität des Wissens zu verwechseln.
Kien, der in einem imaginären Gespräch mit Konfuzius um Rat bittet –
„Das Rechte sehen und es nicht tun ist Mangel an Mut“ (B 48) –, lässt sich
von Krumbholz’ Sorge um die Bücher täuschen und in eine Heirat treiben.
Der traditionstreue Konfuzius, der in seinen Schriften einen moralischen
Anspruch vertritt, und der Transzendentalphilosoph Kant, der sich zu-
gleich der Vernunft verpflichtet fühlt, dienen ihm, neben anderen Den-
kern, als Lebensratgeber. Dennoch bleibt zu betonen, dass er sich ihren
Maximen in keinem engen Sinn verpflichtet fühlt, denn unter anderem
„gegen Laotse und alle Inder“ war er aus „Nüchternheit“ „gefeit“ (B 454–
ersichtlich wird, als Kien bei seinen Beobachtungen durch Pfaffs Guckloch
seine selektive Wahrnehmung „wissenschaftlich“ „begründet“.277
Aufschluss über Canettis Motiv, den Roman zu verfassen, geben seine Äu-
ßerungen zu den beiden Berlin-Aufenthalten, die er Ende der 20er-Jahre
absolvierte. Canetti siedelte einen eigenwilligen Gelehrten-Typus in einer
zeitgeschichtlich problematischen, ‚extremistischen‘ Zeit an, die der Au-
tor im Gespräch mit Durzak wie folgt beschrieb:
Ich hatte nie zuvor das Gefühl gehabt, der ganzen Welt an jeder ihrer Stel-
len zugleich so nah zu sein, und diese Welt, die ich in drei Monaten nicht
bewältigen konnte, schien mir eine Welt von Irren. […] Der zweite Aufent-
halt (im Sommer 1929), der wieder ungefähr drei Monate dauerte, war
etwas weniger fiebrig. […] Aber was mich nach meiner Rückkehr aus Berlin
am meisten beschäftigte, was mich nicht mehr losließ, waren die extre-
men und besessenen Menschen, die ich da kennengelernt hatte.278
die Funktion eines Schutzwalles hat. Erst als im übertragenen Sinn die Bü-
cherdämme brechen, mündet sein Rückzug in ein Gelehrtendasein in eine
pathologische Realitätsverrückung.
Die Konzeption des Roman-Projektes war das Resultat einer Berliner Em-
pirie, die Canetti verschreckte und verstörte. Der „Welt“-Geltungs-An-
spruch relativiert sich mit der Krisenerfahrung des ‚deutschen‘ Subjektes
nur insofern, als für dessen Lebensraum ein gesondertes Maß der Irrita-
tion galt:
Eines Tages kam mir der Gedanke, daß die Welt nicht mehr so darzustellen
war, wie in früheren Romanen, sozusagen vom Standpunkt eines Schrift-
stellers aus. Die Welt war zerfallen, und nur wenn man den Mut hatte, sie
in ihrer Zerfallenheit zu zeigen, war es noch möglich, eine wahrhafte Vor-
stellung von ihr zu geben. Das bedeutete aber nicht, daß man sich an ein
chaotisches Buch zu machen hatte, in dem nichts mehr zu verstehen war.
Im Gegenteil: man mußte mit strengster Konsequenz extreme Individuen
erfinden, so wie die, aus denen die Welt ja auch bestand, und diese auf
die Spitze getriebenen Individuen in ihrer Geschiedenheit nebeneinander-
stellen.281
Die Sache wurde ernst, als ich 1929 von meinem zweiten Berliner Besuch
nach Wien zurückkehrte. […] Berlin, seine grelle Lebendigkeit, hatte mich
sehr aufgewühlt. Ich beschloß, eine „Comédie humaine an Irren“ zu
schreiben und entwarf acht große Romane. Jeder von ihnen war um eine
extreme Figur angelegt, eine Figur am Rande des Irrsinns. Sie waren alle
Übersteigerungen, bestimmte Phänomene der Zeit. Es gab einen religiö-
sen Fanatiker darunter, einen technischen Phantasten, einen Sammler, ei-
nen Verschwender, einen Gegner des Todes, den ich den Todfeind nannte,
einen gelehrten Pedanten usw. Mit diesen Figuren und ihren sehr ab-
wechslungsreichen Schicksalen wollte ich die Wirklichkeit wie mit Schein-
werfern von außen her, vom Rande her, ableuchten.282
Dass von den „acht große[n] Romane[n]“, die jeweils „um eine extreme
Figur angelegt“ waren, ausgerechnet der „gelehrte[] Pedant[]“ seine Rea-
lisierung erfuhr, weist auf die genannte autobiografische Folie. Die Philo-
logen-Figur bot dem Autor die Möglichkeit, kontrastiv mit der Vernunft-
praxis einer fortschrittsgläubigen Zeit zu verfahren. Kiens irrationaler Zu-
gang, der sich allmählich von seiner, teils unkonventionellen, wissen-
schaftlichen Praxis abhebt, steht jenem Zweckfortschritt entgegen. Indem
er sich als Privatgelehrter gegen Gepflogenheiten des wissenschaftlichen
Arbeitens (Universalbildung) wie des akademischen Bereiches wendet
(Konferenzen, etc.), zeigt sich seine Sonderposition zur Ratio schon vor
Beginn der Wandlung.
Die Ausnahmestellung des Kien, der nicht bloß als „Figur am Rande des
Irrsinns“ zu gelten hat,283 sondern letztlich dessen Zentrum bildet, ist die
Folge einer krisenhaften Zeit. Die war in ihrem blinden Vernunftglauben
teils technisch, aber in den ‚deutschen‘ Landen auch politisch-ökono-
misch, aus den Fugen geraten. Der erste, ‚westliche‘ Faktor definiert sich
zudem durch die weltanschauliche Brüchigkeit, der das industriemoderne
Subjekt ausgesetzt war. Was Kien in den (klinischen) Wahnsinn treibt, in
Ich faßte jenen Plan einer Comédie Humaine an Irren und entwarf acht
Romane, um je eine Figur am Rande des Irrsinns angelegt, und jede Figur
war bis in ihre Sprache, bis in ihre geheimsten Gedanken hinein von allen
anderen verschieden. Was sie erlebte, war so, daß keine andere dasselbe
hätte erleben können. Nichts durfte austauschbar sein, und nichts durfte
sich vermischen. Ich sagte mir, daß ich acht Scheinwerfer baue, mit denen
ich die Welt von außen ableuchte. Ein Jahr lang schrieb ich an diesen acht
Figuren durcheinander, je nachdem, welche mich im Augenblick am meis-
ten reizte.285
Wenn die zeitliche Eingrenzung, was die Romanidee betrifft, die Berlin-
Besuche in den Jahren 1928 und 1929 (Sommer) zutage fördert, die kurz,
aber faktisch unbestreitbar, vor der Weltwirtschaftskrise von 1929 liegen,
spricht dies für eine kulturkritische Analyse als vorrangigen Schreibzweck.
Zwar sah er zwischen den Erfahrungen, die er in Wien und Berlin machte,
mitunter substantielle Unterschiede, wie aus seiner Erklärung hervorgeht,
dass die Blendung zum „Teil“ aus einem „merkwürdigen Konflikt“ der
„Wiener Eindrücke mit den Berliner Erlebnissen entstanden“ ist.286 Doch
unbestreitbar war das Krisengefühl in Wien wie Berlin, den ehemaligen
Residenzstädten, ein gleichgeschaltetes. Da es sich im Roman um ein Wie-
ner Milieu handelt – das des/der ‚kleinen Mannes/Frau‘ –, legt sich die
Annahme nahe, dass der Autor, ausgehend von den Parallelen in der Ent-
wicklung, wahrsagerisch die Phänomene von Berlin aus auf Wien über-
greifen sah. Denn was Canetti mit einem ‚Extremismus‘ des Denkens und
287 Dem 1930/31 entstandenen Werk wurde vor der Veröffentlichung keine Überarbei-
tung im engeren Sinn mehr zuteil, wie Canetti in seiner Autobiografie betont
(s. FO 344).
288 Vgl. Peter Pabisch: Leben, Überleben, Weiterleben als literarisches Anliegen in Elias
Canettis Die Blendung. In: John Pattillo-Hess und Mario R. Smole (Hg.): Canettis Auf-
stand gegen Macht und Tod. Wien: Löcker 1996, S. 30–40, hier: S. 33.
289 Vgl. Dissinger, Vereinzelung und Massenwahn, S. 107 u. 108. – Die Klage seiner Ver-
mieterin, dass die „Kartoffeln“ „bereits das Doppelte kosteten“ (FO 219), deren Zeuge
er 1927 wurde, hat den Hintergrund einer Missernte, die zu einer „außergewöhnlichen
Verteuerung der ‚heurigen‘ Kartoffeln“ führte; Bundespressedienst (Hg.): Österreichi-
sches Jahrbuch 1927. Nach amtlichen Quellen. Wien: Verlag des Bundespressediens-
tes 1928, S. 64. Canetti weicht im Roman von den faktisch-empirischen Gegebenhei-
ten dadurch ab, dass er eine generelle Inflationsproblematik beschreibt, die zu dieser
Zeit nicht (mehr) vorlag.
170 3.1 Die ‚deutsche‘ Form der westlichen Subjektkrise
294 Vgl. Peter Russell: The vision of man in Elias Canetti’s Die Blendung. In: German Life &
Letters 28 (1974/75), S. 24–35, hier: S. 30.
172 3.1 Die ‚deutsche‘ Form der westlichen Subjektkrise
296 Nach dem tätlichen Übergriff auf Kien folgen Überlegungen, die nicht nur von einer
Flucht vor der Realität zeugen, sondern überdies von der Idee einer Vorzivilisation.
Denn Kien überlegt, dass am „Anfang“ das „Wort“ war: „aber es war, also war die
Vergangenheit vor dem Wort“ (B 169). So hegt er die Hoffnung nach einer „Zeit“, „da
die Menschen ihre Sinne zu Erinnerung und alle Zeit zu Vergangenheit umschmieden
werden“ (B 169). Wenn er kurz vor dem Rauswurf noch der Meinung ist, dass er seine
wissenschaftlichen „Notizen“ für „später“ „braucht“ und die „Arbeit“ auf ihn „wartet“
3 Politik: Biologische Anthropologie und Nationalismus 175
Gleichwohl ist dieser Büchermensch der Beweis dafür, dass in einer ext-
remen Zeit den von Macht- und Massegelüsten getriebenen Normalbür-
gern mittels herkömmlicher Bildung nicht beizukommen ist. Verfällt Kien
doch selbst, er, der sich von den akuten Zeitsymptomen abgekapselt hält,
jener Irratio, die bei ihm obendrein zu einem klinischen Wahn wird. Aus-
gerechnet Kien, dem die Verfallssymptome von historischen Sozietäten
vertraut sind, scheitert an seiner „Dummheit“ (B 220),297 an seinem Bil-
dungs-Anspruch.
Seine Bücherwelten, in denen er lebt, bieten zum einen Schutz, machen
ihn zum anderen aber auch anfällig für sittliches (Fehl-)Verhalten, das ihm
zwar von seinen Büchern her bekannt ist, das er an seinen Mitmenschen
der ‚deutschen‘ Hochzivilisation jedoch nur bedingt zu erkennen vermag.
Sein Narrentum erscheint darin, dass der weltabgewandte Gelehrte in
Konflikt mit deren Verderbtheit gerät, ohne dem eine Attitüde der Reali-
tätsnähe und Lebenstüchtigkeit entgegenzusetzen, sondern allein welt-
fremde Rationalisierungen oder Verklärungen. Hervorgerufen wird seine
Flucht vor der Realität, die zuerst närrische und später, nach der Heirat,
pathologische Züge trägt, durch eine verhängnisvolle Massendynamik,
die ihn in den Feuertod treibt.
Zwar setzt ein „wahre[s]“ Dichten (GW 101), das Canetti in der Broch-
Rede beschreibt, eine Loslösung von „jeder empirischen oder sozialen Be-
dingtheit“ voraus (GW 104), doch gleichzeitig gilt ihm der Dichter als
„Hund seiner Zeit“ (GW 102). Jene Zeit-‚Verfallenheit‘ trifft, neben dem
Dichter, auch auf Kien zu, der mit seiner Zeit auf das „engste verhaftet“
ist (GW 101). Allerdings zeigt sich mit der Entfremdung, die schon in der
ersten Phase einsetzt, kein ‚dichterischer‘ Mehrwert. Zieht man seine
Existenz als Vorform der Dichter-Instanz, der Canetti huldigt, in Betracht,
liegt keine aktive ‚Zeitknechtschaft‘ vor. Dennoch ist ihm eine antizipato-
rische Leistung, die das jüdische Schicksal betrifft, nicht abzusprechen.
Wenn Kien in den Flammen seiner Bücher aufzugehen wünscht, geht dies
auf das gesellschaftliche Krisenmoment zurück. Mit seiner Selbstauslö-
schung stellt er dar, was die jüdische Ethnie in jener ‚deutschen‘ Krisenzeit
zu erwarten hatte. Insofern handelt es sich um eine extreme Form von
‚Knechtschaft‘, die performativ das Unheil, das den Juden in der NS-Zeit
drohte, zum Ausdruck bringt. Mit Kiens Flammentod, der das Ergebnis der
Zeitumstände ist, erscheint die eingeforderte Empathie somit als selbst-
bezügliche.
Daneben finden sich im Roman Figuren-Belege für jenen Abfall von der
Industriemoderne, den Canetti als Massenphänomen voraussagte. So
zeigt das Beispiel des am Gorilla-Wahn Erkrankten, dessen Bekanntschaft
Georg in Paris macht, dass dieser ein ähnliches Existential-Dilemma zu
verarbeiten sucht wie Peter. Jener Opferschaft entspricht, dass der Sino-
loge, nach seinem Hinauswurf aus der Wohnung, Station im sogenannten
„ideale[n] Himmel“ macht (B 189). Dieses gleichnishafte Lokal, in dem
überaus zwielichtige Existenzen verkehren („Was waren das für Ge-
schöpfe?“, B 189), erscheint als jene „Vor-Prähistorie“, mit der sich der
Mensch in ein vorbewusstes Affenwesen wandelte. Der einführende Ab-
satz, der die Szenerie in den Rang eines Gleichnisses erhebt, spricht von
„haarige[n] Geselle[n]“ mit „Affengesicht[ern]“, die jeweils an einem ei-
genen „Tisch[]“ saßen (B 189). Während die prekären räumlichen Verhält-
nisse definieren, wie lebenswert jene Vorzivilisation wäre – als einziger
Ausweg aus der Moderne –, bildet sich mit dem Umstand, dass „[j]edes
Marmortischchen“ ein „gesondertes Planetendasein“ „führte“
(B 189), der Aspekt der Meute ab. Analog dazu ist zur Welt des Gorilla-
mannes zu erfahren, dass Georg auf seinem „Planeten gelandet war“
(B 441). In dessen Verhältnis zur Sekretärin bildet sich ein Beziehungsver-
hältnis zwischen Mann und Frau ab, das für den jungen Canetti paradig-
matische Bedeutung hatte. Georg Kiens Wahrnehmung dazu lautet, dass
das „Bild“ die „Vereinigung zweier affenartiger Menschen“ zeigt (B 438)
und es sich um ein „mythisches Liebesabenteuer“ handelt (B 439).
3 Politik: Biologische Anthropologie und Nationalismus 177
Fischerle machte eine ganz kleine Pause, um die Wirkung des Wortes ‚jü-
disch‘ auf sein Visavis zu beobachten. Kann man wissen? Die Welt wim-
melt von Antisemiten. Ein Jude ist immer auf der Hut vor Todfeinden.
Bucklige Zwerge und gar solche, die es trotzdem zum Zuhälter gebracht
300 Vgl. Gernot Wimmer: Enteignung, Vertreibung und Vernichtung. Elias Canettis Die
Blendung als Antizipation der Judenpolitik im NS-Totalitarismus. In: Traditionen, Her-
ausforderungen und Perspektiven in der germanistischen Lehre und Forschung. 90
Jahre Germanistik an der St.-Kliment-Ochridski-Universität Sofia. Hg. von Emilia Dent-
schewa und Maja Frateva [u.a.]. Universitätsverlag Sofia: Sofia 2015, S. 85–98, hier: S.
89.
3 Politik: Biologische Anthropologie und Nationalismus 179
haben, sind scharfe Beobachter. Das Schlucken des andern entging ihm
nicht. Er deutete es als Verlegenheit und hielt von diesem Augenblick an
Kien, der nichts weniger war, für einen Juden. (B 196)
Die Attribuierung, dass Kien „nichts weniger“ als ein Jude war, die Fischer-
le vornimmt, erlaubt entweder die strenge sprachlogische Deutung einer
Verneinung oder die sprachkonventionelle einer Bestätigung (im Sinn von
‚nichts anderes‘). Für letztere Auslegung spricht die konzeptionelle Anlage
des Romans. Denn der Gebrauch einer uneindeutigen Wendung fügt sich
zur hintergründigen Dezenz, mit der Canetti die späte ‚deutsche‘ Zwi-
schenkriegsgesellschaft in ihrer Opferrolle beschreibt. Die missverständli-
che Phraseologie führt zu einer Verschleierung der jüdischen Verweis-
struktur und zur Notwendigkeit einer umsichtigen Rekonstruktion. Sigurd
P. Scheichl dagegen geht von einer Verneinung aus, die vonseiten des Er-
zählers aus Gründen einer breiter angelegten Gesellschaftskritik erfolgt
(„not wanting him to appear (only) as a Jew at the expense of more gene-
ral levels of meaning“): „In saying that Kien is not a Jew, Canetti admits
that he could be taken as such.“301 Die ableitbare Frage, ob figurensprach-
liche Bezugnahmen abwertender Natur auf Kien als Juden deshalb unter-
bleiben, weil damit hermeneutisch labyrinthisch das Grundkonzept ver-
schleiert werden sollte und die Exegese erschwert, ist daher zu bejahen.
Gleichzeitig spiegelt sich in jener Verwischung der jüdischen Identität die
erfolgreiche Assimilationsleistung des Kien, die zu einem Schwund an jü-
disch-kulturellem Einschlag führt.302
301
Sigurd P. Scheichl: Is Peter Kien a Jew? A reading of Elias Canetti’s Auto-da-fé in its
historical context. In: The Jewish self-portrait in European and American literature
(= Conditio Judaica; 15). Hg. von. Hans-Jürgen Schrader und Elliott M. Simon [u.a.].
Tübingen: Niemeyer 1996, S. 159–170, hier: S. 170.
302 Stieg spricht davon, dass ein „zweiter Blick, der nicht zuletzt jener Fischerles ist“, „ver-
muten“ „läßt“, „daß Kien doch auch das Schicksal der jüdischen Assimilation repräsen-
tiert“; Stieg, Frucht des Feuers, S. 127. – Trotz der vollzogenen Assimilationsleistung
ist ein ethnisch einschlägiges Sichidentifizieren auszumachen, wie der Abschnitt zur
„Mobilmachung“ zeigt (B 97). Siehe hierzu Fußnote 323.
180 3.2 Kien, der jüdische Sündenbock
303 Curtius ist der weitgehenden Ansicht, dass er unter „anderen sozialen Verhältnissen“
„Wissenschaftler“ geworden wäre; Curtius, Kritik der Verdinglichung, S. 52.
304 In Bezug auf Fischerle erkennt Stieg, dass dieser von der „Assimilation“ „träumt“;
Stieg, Frucht des Feuers, S. 128.
305 Vgl. Bollacher, Canetti und das Judentum, S. 41.
3 Politik: Biologische Anthropologie und Nationalismus 181
306 Die industrielle Revolution, die Gewinner wie Verlierer hervorbrachte, war einer jener
Umbruchsmomente, die eine Aktivierung des antisemitischen Sentiments bewirkten:
„In Europe, some revived old stereotypes of ‚the Jews‘ as exploiters of the poor and
usurers who get rich from the financial misfortunes of others.“; Phyllis Goldstein: A
convenient hatred: The history of antisemitism. Brookline, MA: Facing History and
Ourselves National Foundation 2012, S. 207.
307 Stieg spricht verallgemeinernd davon, dass mit Kien die „Gefahr“ „germanische[r]
Weltbrandphantasien“ zum Ausdruck gelangt, als „‚Wiederkehr‘ des Massentriebs“;
Stieg, Frucht des Feuers, S. 144.
182 3.2 Kien, der jüdische Sündenbock
zufolge man „dort“, „wo man Bücher / Verbrennt“, „auch am Ende Men-
schen“ „verbrennt“.308 Heines Lehrsatz, der sich auf eine historische Bü-
cherverbrennung bezieht, die im Rahmen der Zwangsbekehrung der Mau-
ren erfolgte – und von der Koranexemplare betroffen waren –, ist in der
Folgezeit als dichterische Prophetie der Shoa gedeutet worden. So nimmt
Canetti mit dem Sinologen das Schicksal vorweg, das seiner Ethnie im Ge-
samten beschieden war: eine rational wie rationell geplante Vernichtung,
vollzogen in einer extremistischen modernen Zeit, deren Opfer dem deut-
schen Volk noch über den Tod hinaus zur materiellen Bereicherung die-
nen sollten. Damit erweist sich der Gelehrte als stummer Wahrsager des
zivilisatorischen Niederganges.309 Barnouw ist der ambivalenten Ansicht,
dass mit Kiens „Selbstverbrennung“ einerseits hellsichtig die „Bücherver-
brennungen im Nazideutschland“ antizipiert werden und andererseits der
Lesende zugleich ins „China des dritten vorchristlichen Jahrhunderts“ zu-
rückgewiesen wird.310 Treffend schreibt Auer zur zeitgeschichtlichen Be-
deutung, dass der Romanautor der „Geschichte ihre Irrsinnsbilder dort
entlockte, wo sie am modernsten ist“: „Im Jahre der Nazi-Bücherverbren-
nungen und des Reichstagsbrandes war sein Roman abgeschlossen. Kris-
tallnacht, Krieg und KZs standen noch bevor.“311 Die historische Prophetie
lässt sich, binnenfiktional gesprochen, auf Kiens neu-mythische Wandlung
zurückführen. Er zielt zwar nicht darauf ab, für die ‚Käfig‘-„Insassen“
(GW 107) eine Fluchtempfehlung zu formulieren, doch stellt sein Wahn,
dem er verfällt, den maximalutopischen Ausweg dar. Dass sich Kien damit
nicht zufrieden gibt, im Gegensatz zum Gorillamann, ist die Folge der zeit-
geschichtlichen Pression. Seinem Abdriften ins klinisch Pathologische
liegt, wie ausgeführt, eine politisch-wirtschaftliche Krise zugrunde. Bloß
308 Vgl. Heinrich Heine: Tragödien. Nebst einem lyrischen Intermezzo. Berlin: Ferdinand
Dümmler 1823, S. 148. – Auf Heine hat in diesem Punkt bereits Rushdie verwiesen;
Rushdie, Schlange der Gelehrsamkeit, S. 87.
309 Siehe zum Motiv der Bücherverbrennung den Aufsatz des Vf.s: Enteignung, Vertrei-
bung und Vernichtung, S. 93–96.
310 Vgl. Barnouw, Einführung zu Canetti, S. 152.
311 Auer, Genie und Sonderling, S. 71.
3 Politik: Biologische Anthropologie und Nationalismus 183
auf den ersten Blick stellt sich Kiens Schicksal, seine „Blendung“, als
exemplarisches „Gegenteil von Verwandlung“ dar.312 Kien erfährt durch
das soziale Umfeld jene „Stöße“ (GW 368), die in der Münchner Rede im
Zeichen der Verwandlung stehen. In der Rede von 1936 wird allgemeiner
eine ‚Zeitknechtschaft‘ angesetzt.
Die Bruderfigur des Georg, der in Paris tätige Psychiater, erkennt den
‚deutsch-westlichen‘ Wahn von Krumbholz und Pfaff, den er unter An-
wendung seiner Professionskünste zu bändigen versteht. In seinem Bru-
der, den er auf den rechten Weg gebracht sieht, täuscht er sich allerdings.
In seiner Emigrantenperspektive wäre vor allem er dazu berufen, das Un-
heil, das sich mit Peter verbindet, als jenes des verfolgten Juden zu erah-
nen. Dass er dieser Berufung tatsächlich gerecht wird, doch in Form einer
unbewussten Antizipation, wie sie mit dem Termiten-Gleichnis vorliegt,
weist auf ein Verdrängen der Erstsymptome der großen jüdischen Kata-
strophe hin. Bischof sieht den Mediziner am ‚Empathie‘-Modus scheitern,
wenn sie undifferenziert erklärt, dass er den „Wahnsinn seines Bruders“
„nicht“ „erkennt“.313 Und Auer spricht, die diffizile Motivstruktur verein-
fachend, von der Abwandlung eines Befehles: „Kien wird dem Überre-
dungskünstler [‚Psychiater‘] aufs Wort folgen – jedoch anders, als jener
sich’s träumen läßt.“314 Dies ist die politisch-zeitgenössische Seite, die an-
tizipativ an Georg Kien gebunden ist.
Doch nicht nur ein derartiger Massenvorgang spiegelt sich im Schicksal
des Kien, sondern auch eine kollektive Realitätsumkehr nach der Art der
Maximalutopie. Diese realisiert sich dann, wenn es der ‚inneren‘ Masse
gelingt, den Bildungswall zu überwinden. Georg Kiens Ausführungen zum
Zerfall einer Termiten-Kolonie erinnern eindringlich an gesellschaftliche
Dynamiken, die insofern aus dem Gleichgewicht geraten, als sich die ein-
zelnen Mitglieder nun von ihrer Funktion als Rädchen im politisch-wirt-
Nicht überzeugend ist die Ansicht des Bruders, dass ein Einbruch der ‚in-
neren‘ Masse, gedacht als Erosirritation, bei Peter der fehlenden Ge-
schlechtsrelevanz wegen ausscheidet.315 Tatsächlich repräsentiert der un-
orthodoxe Psychiater, in seinen Sympathien für den Gorillamann, selbst
die neu-mythische Utopie. Seine variierte Funktion als ‚Hüter‘, die ihm so-
zial zugeschrieben ist, würde dagegen nur dazu taugen, sie zum Schaden
der Kranken einzusetzen – zur Heilung.
Dissinger weicht von dieser Deutung ab; er setzt unter dem Hinweis da-
rauf, dass Kien sich auch von seiner „‚Geschlechtlichkeit‘“ „befreit“ hat –
worin er eine Parallele zum Gleichnis ausmacht –, eine neue Form der
Massenbewegung an: „Sie führt ganz zwangsläufig zum ‚Wahn‘, zum
‚Massenwahn‘.“316 Kiens Asexualität ist als Folge seiner biologisch-sozia-
len Erbschaften zu betrachten und hat als solche keine Funktion, wenn es
um die Initiierung seines „Wahn[s]“ geht (B 474),317 der ihn aus der ‚deut-
schen‘ Zwischenkriegsmoderne führt. Der Gelehrte wird in eine Psychose
fallen, die industriekapitalistisch bedingt ist und eine politische Dimension
mit einschließt. Kiens Wandel ist das Ergebnis einer Haltung, die der all-
gemeinen irrationalen Ratio, die eine ‚deutsche‘ Verschärfung erfährt,
eine Abkehr entgegenstellt. Sein Scheitern resultiert aus der Konfronta-
tion mit einer Umwelt, die sich einem ökonomischen Druck wie einem
ressentimenthaften Drang ausgesetzt sieht. So setzt im Fall des Sinologen
315 Was die Beherrschung jener Masse anbelangt, bildet Kien in Bezug auf seine Ge-
schlechtslosigkeit, die laut Georg „beinahe“ vorliegt (B 455), lange Zeit eine vorbildli-
che Ausnahme. Selbst in der zweiten Phase, nach Einbruch der ‚inneren‘ Masse, wird
er „geschlechtslos[]“ bleiben (B 455).
316 Dissinger, Vereinzelung und Massenwahn, S. 99. – In einem von Canetti an Dissinger
gerichteten Brief vom 03.09.1969 schreibt Ersterer anerkennend, wie es scheint, über
dessen Studie: „Sehr originell und noch von niemand erkannt ist z. B. die tiefere Be-
deutung des Gleichnisses vom Termitenstock.“; ebenda, S. VIII.
317 Dies lässt jedoch nicht den Umkehrschluss zu, dass der Wahn, der „nichts Verächtli-
ches sei“ (Au 19), zwangsläufig zu einer Überwindung der Masse-Macht-Determina-
tion führt. Das Beispiel Schrebers, das Canetti in der gleichnamigen Schrift gibt, ist ein
eindrücklicher Beleg für die typologische Nähe zum Machthaber (s. MM 526). Demge-
mäß erklärt Georg zum „Paranoiker“, dass er „mehr Scharfsinn“ aufbietet, „seine Bahn
zu erklären und zu schützen, als wir alle zusammengenommen an die unsre“ (B 444).
186 3.2 Kien, der jüdische Sündenbock
auf, so dass der Wahn des „Privatmythus“ wiederum auf die sozialen Um-
stände zurückverweist.323 Vereinigung wie Neu-Mythos fallen in ihrer
Funktion insofern ineinander, als in beiden Fällen die Realisierung miss-
lingt.
Mit Georg Kien korreliert der Gorillamann. Mit dieser Form der Realitäts-
abkehr, die der Bruder eines Bankiers zeigt, liegt das Ziel in einer Entsa-
gung von den biologisch-sozialen Determinanten. Die Abkehr von der
Masse-Macht-Spirale realisiert sich durch eine Scheinrealität, die auf dem
kognitiven Weg des Wahnes erfolgt. Zwar ist der Hintergangene sprich-
wörtlich dem Irrsinn verfallen, doch geht damit seine Errettung einher.
Sein Sprechen ist „stärker, mehr aus der Tiefe“ und „hinter seinen Lauten
lauerten Affekte“ (B 438). Die semiotische Verbindung ist aufgelöst, denn
die „Namen hingen von der Gebärde ab, mit der er hinwies“ (B 439).
Durzak spricht von einer „mythischen Wirklichkeitsganzheit“ und einer
‚synthetischen‘ Abkehr von der „konventionellen Wirklichkeit“, die „Züge
der Utopie tragen[]“.324 Weiter ist er der Ansicht, „daß die Reflexion zu
diesem mythischen Zustand gehört: Sie erscheint verwandelt in der neu-
erschaffenen magischen Sprache.“325 Mit Durzak bleibt die These, dass
sich der Mensch in einen vorbewussten Zustand zurückzuverwandeln
hätte, ausgeschlossen, denn der „Mensch wird nicht zum Tier, sondern
erscheint in der Verkleidung des Tieres verwandelt, die ihm die Freiheit
323 Wenn er sich im Zuge der „Mobilmachung“ mit „mein Volk“ an seine Bücher wendet,
und von deren „Kraft“, „Größe“ und „Weisheit der Jahrtausende“ spricht sowie von
einem „Heiligen Krieg“ (B 97), wird eine ethnisch begründete Massenrelevanz deut-
lich. Für eine jüdische Dimension der Rede steht auch der vorangehende Abschnitt
(„Wollt ihr aus eurer Heimat in alle Welt zerstreut werden, als Sklaven“, B 97) sowie
ein noch früherer („An eure uralte und stolze Leidensgeschichte brauche ich euch […]
nicht zu erinnern“, B 94). Eingeleitet wird die Ansprache von Ausführungen zu dem
Autodafé, dem im China des Jahres 213 v. Chr. „sämtliche Bücher“ (B 94) zum Opfer
fielen. Auf die Relevanz der ‚inneren‘ wie äußeren Masse für die Mobilmachung deutet
der Hinweis, der sich dem „großen Meister“ Mong verdankt, dass die „Leute[] der
Masse“ „gefährlich“ sind, „weil sie keine Bildung, also keinen Verstand“ haben (B 96).
324 Vgl. Durzak, Dichter der Gegenwart, S. 202.
325 Ebenda, S. 203.
3 Politik: Biologische Anthropologie und Nationalismus 189
zum Selbstsein ermöglicht“.326 Durzak, der die andere Seite der Utopie
beleuchtet, geht zwar von einer tierrelevanten Verwandlung aus, die den
Existential-Status des Menschen betrifft, setzt gleichzeitig aber einen Zu-
stand des Bewusstseins an: „Nicht Verherrlichung eines reflexionslosen
Elementaren ist also bei Canetti beabsichtigt.“327 Mit dem Gorillamann
zeigt sich jene Maximalutopie verwirklicht, der der gereifte Canetti
schließlich einen neuen Pfad der Zivilisation entgegensetzt. Knoll beleuch-
tet die Bedeutung des ‚westlichen‘ Logozentrismus, wenn sie zu beden-
ken gibt, dass die gesellschaftliche Klassifizierung als Wahn von diesem
einseitig beeinflusst ist: „Die […] Einheit mit der Welt […] ist im eigentli-
chen Wortsinn a-normal und daher von der rationalistisch bestimmten Zi-
vilisation mit dem Stigma der Devianz belegt.“328 Penka Angelova vertritt
die Ansicht, dass das irrationale Wesen durch den psychotischen Zustand
definiert ist. Denn diese „Gestalt stellt die Entgrenzung zum Tierischen,
zum Göttlichen, zum Abnormalen als erlebte Welt dar – eine Freiheit par
excellence, die nur im Sinne des Wahns erlebbar und darstellbar ist“.329
Indem Canetti einen Wahrnehmungsmodus des Vorbewusstseins befür-
wortet, stellen sich fließende Grenzen zur Tierexistenz ein. Der Gorilla-
mensch, der durch einen vorbewussten Status geprägt ist, stellt eindrück-
lich dar, was Canetti unter Vor-Prägeschichte und Neu-Mythos versteht.
Das Logikprinzip des Sprachgebrauches wird durch den Gorilla untermi-
niert und gegen eine ‚sprachmystizistische‘ Form ersetzt, wie Knoll mit ih-
rem Verweis auf die „subjektive, diskontinuierliche Sprache“ betont.330
Wenn Canetti sich in einer Aufzeichnung von 1982 eingesteht, dass er die
„neue Lebensform nicht sieh[]t“ (A 479), deutet das auch auf das para-
doxe Unternehmen hin, eine Vorzivilisation zu befördern.
333 Kien vertritt den Anspruch einer „Möbelreinheit seines Arbeitszimmers“ (B 68): „Alles,
was ihn von der Arbeit ablenkte, war im Grunde Verrat.“ (B 71) Die antimaterielle At-
titüde, die in erster Instanz sichtbar wird, verweist in zweiter auf eine antikapitalisti-
sche.
192 3.3 Literarische Verarbeitung von Masse-Symbolen
Die Masse, die Feuer legt, hält sich für unwiderstehlich. Alles wird zu ihr
stoßen, während es um sich greift. Alles Feindliche wird von ihm vernich-
tet werden. Es ist, wie man noch sehen wird, das kräftigste Symbol, das es
für die Masse gibt. Nach aller Zerstörung muß es wie sie erlöschen.
(MM 20)
3 Politik: Biologische Anthropologie und Nationalismus 193
the isolated Jew and the gentile majority around him into which he wants
to be integrated but which brutally refuses this integration.“334
Ein Beispiel für das Phänomen des Feuers, das sich auf geschlossene
Räume bezieht, wird gegeben, wenn es im Unterkapitel „Panik“ heißt,
dass im „Theater hingegen“ die „Masse auf die gewaltsamste Weise zer-
fallen“ muss (MM 27). Beschrieben ist damit die Perspektive von Opfern,
die sich einer Naturgewalt gegenübersehen: „Jenes nachdrückliche Tram-
peln auf Menschen aber, das so häufig bei Paniken beobachtet wird […],
ist nichts anderes als das Austreten von Feuer.“ (MM 28) Wird das ‚sym-
bolische‘ Feuer als Gefahr wahrgenommen, wirkt es als „feindliche Mas-
se“, die zu „Paniken“ führt (MM 28).
In Entsprechung zu seinen Macht- und Masse-Theoremen, die er Jahre
später formulierte, ereignen sich im Lauf der Romanhandlung mehrere
Episoden, die Canettis Lehrsätze zur ‚offenen‘ und ‚geschlossenen‘ Masse
exemplifizieren.335 Obwohl Kien nicht nachweislich ethnisch motivierten
Anfeindungen zum Opfer fällt, sondern ökonomischen und sadistischen
Gelüsten, fungiert dieser für die Täter erkennbar als Subjekt, das sie in
ihrem brutalen Selbstverständnis, das eines des ‚Rechtes des Stärkeren‘
ist, festigt und eint. In der Blendung, die sich durch einen diffusen Diskri-
minierungs-Reigen auszeichnet, sind die Entwürdigungs-Vorgänge und
damit die einheitsstiftenden Ereignisse zahlreich. Der Autor zeichnet ein
aufschlussreiches Wiener Massenbildnis nach Berliner Vorbild, angefan-
gen bei den polizeilichen Herabwürdigungen, die Kien zuteilwerden, über
die materielle Ausbeutung, die Fischerle (in seinem jüdischen Selbsthass)
einleitet, bis hin zu der kriminellen Enteignung durch seine Haushälterin
und ihren brutalen Übergriffen, die schließlich im Zusammenwirken mit
dem Hausbesorger Pfaff erfolgen. Wiewohl damit keine eigentliche Be-
336 Undifferenziert erklärt Kuhnau zur „Berührungsfurcht“ als Faktor für die „Entstehung
der Masse“, dass diese neben einem offensichtlichen ‚psychologischen‘ Faktor auf ei-
nem „physikalisch[en]“ Kasus beruht; Kuhnau, Masse und Macht in der Geschichte, S.
56.
337 Stieg spricht in Bezug auf Pfaff davon, dass der „‚gute Vater‘“ „demaskiert“ wird als
das, „was er wirklich ist, eine ‚Polizeibestie‘“; Stieg, Frucht des Feuers, S. 108.
3 Politik: Biologische Anthropologie und Nationalismus 197
Wenn er schließlich „so laut“ „lacht“, „wie er in seinem ganzen Leben nie
gelacht hat“, erfolgt ein Verweis auf die Erlösung, die als maximalutopi-
sche einzig im Wahn zu erlangen sei. Allerdings ist selbst diese Existenz-
form für ihn – als einzig mögliche – der sozialen Bedingungen wegen nicht
lebenswert. Und da die jüdische Bücher-Masse indes als akut bedrohlich
ausgemacht wird – durch eine Art von ethnischem Selbsthass –, fallen
„Privatmythus“339 und Maximalutopie auf verquere Weise zusammen. Zur
Bedrohung des jüdischen Lebens tritt eine kulturell selbstbezügliche Ge-
walt hinzu. Von Deckungsgleichheit ist nur insofern zu sprechen, als in bei-
den Fällen das Erreichen des eigentlichen Zieles misslingt. Sowohl die kog-
nitive Regression, die – im idealen Fall – in ein vorbewusstes Affen-Dasein
mündete, als auch die Verschmelzung mit der Bücher-Masse, die von Kien
als Destruktion vollzogen wird, lassen sich nicht realisieren. So hat sich die
klinische Irratio im letzten Lebensmoment noch zu verstärken, was durch
sein singuläres Lachen zum Ausdruck kommt. Wäre es seinem Bruder
möglich gewesen, das wahre Ausmaß der Irritationen zu erkennen, hätte
Peter Kien, befreit vom ‚deutschen‘ Umfeld, seiner Realitätsflucht huldi-
gen können.
So, wie der frühe Canetti die Industriemoderne ablehnt, um im Gegenzug
die Vorzivilisation zu verklären, ist auch seine Figur des Kien dabei, einer
Kognition zu huldigen, die Massengesellschaften zu Meuten zurückver-
wandelte. Nachdem er eine Vorform einer Gorilla-Existenz bereits gelebt
hat, verschafft ihm aus besagten Gründen einzig der physische Nieder-
gang Erlösung. Die Vernichtung der Bücher ist zugleich als Absage an die
Dichter-Funktion zu verstehen, die der Beförderung einer neu-mythi-
schen Rückkehr dient. Die entscheidende Wahrnehmung, die mit der
Übergabe des einen, tätlichen Buches an das Feuer einhergeht, lautet:
„Mit gewaltiger Kraft packt er das Buch und klappt es zu. Da hat er die
Buchstaben gefangen, alle, und läßt sie gewiß nicht mehr frei. Nie! Er ist
frei.“ (B 508–509) Dadurch vermittelt sich die Aussage, dass den jüdischen
340 Vgl. Felix Ph. Ingold: Bis zum letzten Atemzug. Zu Elias Canetti. In: Im Namen des Au-
tors. München: Fink 2004, S. 83–115, hier: S. 90.
341 Vgl. den Aufsatz des Vf.s, in dem auf diesen Punkt verwiesen wird: Enteignung, Ver-
treibung und Vernichtung, S. 97.
342 Scheichl, Canetti’s Auto-da-fé in its historical context, S. 170.
343 Vgl. Rushdie, Schlange der Gelehrsamkeit, S. 86.
200 3.4 Der ökonomische Faktor der Geldwertschwankungen
institutionell bedingtes ist, als Juden als Menschen zweiter Klasse behan-
delt wurden.
Der Deflation, die erst ab 1929 einsetzte und zum Aufstieg des National-
sozialismus beitrug,346 kommt in diesem Kontext deshalb keine Bedeu-
tung zu, weil dem Autor nach eigener Aussage allein das Berlin der Jahre
1928 bzw. 1929 (mit seiner Inflations-Geschichte) als Inspiration gedient
hat. Da die Handlung noch vor der ökonomischen Katastrophe der Welt-
wirtschaftskrise von 1929 angesiedelt ist (wenn man Canettis glaubhafte
Ausführungen gelten lässt), schlägt in seinem Roman dagegen die Inflati-
ons-Problematik und die Entwürdigung durch, die die mehrheitlich christ-
lich geprägte Gesellschaft zu durchleben hatte. Jenem zeitlichen Kontext
entsprechend, bezieht sich Canetti auch in Masse und Macht allein auf die
Wirkung der Inflation, hier der galoppierenden, der die ‚deutschen‘ Re-
publiken ausgesetzt waren.
Ausgehend von den desaströsen Folgen, die maßgeblich als wirtschaftli-
che einwirkten, beschreibt er die Suche der Nationalsozialisten nach Sün-
denböcken wie folgt:
Als Objekt für diese Tendenz [der Entwertung] fand Hitler während der
deutschen Inflation die Juden. Sie waren dafür wie geschaffen: ihre alte
Verbindung mit dem Geld, für dessen Bewegungen und Wertveränderun-
gen sie etwas wie ein traditionelles Verständnis hatten; ihre Geschicklich-
keit in Aktivitäten der Spekulation; ihr Zusammenströmen auf Börsen, wo
ihre Art sehr grell von dem militärischen Verhaltensideal der Deutschen
abstach, das alles mußte sie in einer Zeit, die von der Fragwürdigkeit, La-
bilität und Feindseligkeit des Geldes erfüllt war, besonders fragwürdig und
feindselig erscheinen lassen. (MM 219)
Demnach hob sie ihre monetäre Attitüde, „ihre alte Verbindung mit dem
Geld“, wie seine Bestätigung des Klischees lautet, „sehr grell von dem mi-
litärischen Verhaltensideal der Deutschen“ ab. Dass das Phänomen des
346 Siehe zu den globalen Auswirkungen der Deflation wie zu jenen auf Deutschland Jan-
Otmar Hesse und Roman Köster [u.a.]: Die Große Depression. Die Weltwirtschaftskrise
1929–1939. Frankfurt a. M. [u.a.]: Campus 2014.
202 3.4 Der ökonomische Faktor der Geldwertschwankungen
In der Behandlung der Juden hat der Nationalsozialismus den Prozeß der
Inflation auf das genaueste wiederholt. Erst wurden sie als schlecht und
gefährlich, als Feinde angegriffen; dann entwertete man sie mehr und
mehr; da man ihrer selber nicht genug hatte, sammelte man sie in den
eroberten Ländern; zum Schluß galten sie buchstäblich als Ungeziefer, das
man ungestraft in Millionen vernichten durfte. (MM 219)
347 Juden waren lange Zeit nicht zum Handwerk und Gewerbe zugelassen und mussten
daher auf kreative Weise, etwa durch Geldleihgeschäfte, ihren Lebensunterhalt be-
streiten. In der franzisko-josephinischen Ära wurde die liberale Politik gegenüber der
jüdischen Minderheit fortgeführt.
3 Politik: Biologische Anthropologie und Nationalismus 203
Demnach bildete das Ereignis der Hyperinflation die Ursache für die fol-
gende biologisch-existentielle Vernichtung der Juden – die Shoa. Deren
Wurzel wäre in der großen Inflation (1923) gelegen, die eine Kette an Fol-
geereignissen nach sich gezogen hätte. Die Kausalität nimmt ihren Anfang
in der Einsetzung der Juden zum Feindbild, führt über deren sukzessive
Entwertung („entwertete man sie mehr und mehr“) und mündet in einer
millionenfachen Vernichtung. Kennzeichnend für diesen Vorgang sei, dass
die vom deutschen Volk durchlittene Existenzgefahr sich in die Auslö-
schung einer Ethnie steigerte. Obwohl sich die ökonomische Not bei Ca-
netti einzig auf den Vorgang der Inflation bezieht, kann in dieser eine
Chiffre gesehen werden, unter der die Volatilität im Gesamten subsumier-
bar ist.
Bei der Klärung der Ursache, die zu dem Massenmord der NSDAP an den
Juden führte, bedient sich Canetti einer psychologischen Kausalität:
Man ist noch heute fassungslos darüber, daß Deutsche so weit gegangen
sind, daß sie ein Verbrechen von solchen Ausmaßen, sei es mitgemacht,
sei es geduldet oder übersehen haben. Man hätte sie schwerlich so weit
bringen können, wenn sie nicht wenige Jahre zuvor eine Inflation erlebt
hätten, bei der die Mark bis auf ein Billionstel ihres Wertes sank.
(MM 219–220)
348 Bei diesem Inflationsphänomen erlangt die ‚Berührungsfurcht‘ keine Bedeutung, wie
noch zu sehen ist.
204 3.4 Der ökonomische Faktor der Geldwertschwankungen
Angesichts der Unausweichlichkeit des Vorganges sei die Wahl der Opfer-
gruppe, entgegen einem moderaten Determinismus, auch nicht steuerbar
gewesen. Mit dieser Darlegung zum NS-Antisemitismus liegt ein Ursache-
Wirkungs-Prinzip vor – als Übereinstimmung von Bildlichkeit und Modell.
Die scheinbare Naturgesetzlichkeit fungiert in der Regel als Platzhalter für
eine biologisch-soziale, doch keineswegs strikte Determination. In der Be-
wertung der Umstände, die zur Shoa führten, weicht Canetti von diesem
Muster allerdings ab. Die chemisch-physikalische Modellhaftigkeit ist da-
für prädestiniert, die behauptete Unabwendbarkeit der Vorgänge darzu-
stellen.
Problematisch ist die Reduktion zeitgeschichtlicher Vorgänge auf Biologi-
sches deshalb, weil damit – auf der gesellschaftlichen Massenebene – ei-
ner deterministischen Notwendigkeit das Wort gesprochen wird. Wäh-
rend mit der Shoa eine abweichende Handlungsweise ausgeschlossen
bleibt, sieht Canetti in der Regel einen eng bemessenen Entfaltungsraum
gegeben. Das ermöglicht es ihm, in der Fliegenpein den Schluss zu ziehen,
dass sich „[e]ines zeigt“, „das unwiderlegbar ist: es gibt keinen vorausseh-
baren Gang der Geschichte“ (A2 103). Bezogen auf die Shoa, folgt hinge-
gen, dass ein Identitätsverlust, wie ihn die Deutschen in den frühen 20er-
Jahren erlebten, zwangsläufig zu Schuldprojektionen auf die Juden zu füh-
ren hatte.
Kuhnau spricht treffend vom Vorliegen einer Kausalität, die Canetti da-
durch konstruiert, dass er die „Ermordung der Juden als einen aus dem
Massenhaushalt der Deutschen unvermeidbar resultierenden Prozeß“
wertet.349 Weiter behauptet Kuhnau, dass in Bezug auf die Täterschaft
zwar von einem kausalen, doch zugleich moderierbaren, nicht vollständig
geschlossenen System auszugehen ist, wenn sie erklärt, dass „Entste-
hungszeitpunkt und Objekt der Erniedrigung“ „gesteuert“ werden kön-
nen.350 Damit vertritt sie die problematische These, dass in Canetti ein
Vertreter einer geöffneten Kausalität zu sehen ist, eines Modells, das als
solches gegen Ursache und Wirkung steht. Tatsächlich sind Canettis mo-
derater Determinismus und die Einzelfälle, die Kausalitäten darstellen –
als wechselseitiges Determinantenspiel –, prozessual nicht voneinander
zu trennen. Dennoch schließt das bei ihm kausale Doppelgleisigkeiten aus,
wie die beschriebenen Umstände zeigen, die zur Shoa und zum Aufstieg
der NSDAP geführt hätten. Wie Kuhnau, die in Bezug auf die Shoa grund-
sätzlich einen Kasus ansetzt, sprechen Bernd Widdig von „monokausalen
Erklärungsmodellen“351 und Bollacher von einer „seltsam monokausalen
Bahn“352.
Während es sich bei der Shoa-Kompensation, die allgemein eine Sünden-
bock-Ursache bezeichnet, um das zweite Glied einer Kausalitäts-Kette zur
jüngeren Geschichte handelt, wird das andere – zeitlich vorausgehende –
im Umfeld von Weltkrieg, Zerfall der ‚deutschen‘ Monarchien und der
Friedensverträge gebildet. Die grundsätzliche Begeisterung für den Mili-
tarismus, die in der deutschen Monarchie bestand, erklärt Canetti natio-
nal-deterministisch mit der „geschlossenen Masse der Armee“ (MM 211).
Diese Masse bestehe deshalb, und wirke darin als „Massenkristall“, weil
die deutsche „Nation“ das Massensymbol des „‚Wald-Heer[s]‘“ in sich
trage (MM 210 u. 211). Und wenn auch „nur bestimmte Jahrgänge von
jungen Männern“ in der Armee „dienten“, „ging“ „jeder Mann“ „einmal
durch sie durch“ und „blieb“ „innerlich“ an sie „gebunden“ (MM 210). Da-
her sei, von „vereinzelte[n]“ Ausnahmen (MM 210) abgesehen, diese
massensymbolische Attitüde für den einzelnen deutschen Staatsbürger
zwingend anzunehmen.
Wenngleich das Phänomen der Armeeaffinität noch keine kausale Dimen-
sion impliziert, wird es mit der Bewertung der Gründe, die zur NSDAP-
Gründung führten, wieder aufgenommen. Canetti wertet die vertraglich
angesetzte Bestimmung von Versailles, die eine signifikante Reduktion
der deutschen Armee vorsah, als Ursache für den Aufstieg der National-
sozialisten. Während die „ersten Augusttage des Jahres 1914“ ein „Zeu-
gungs-Moment“ der NSDAP waren, weil Hitler darin den „einzige[n] Au-
genblick“ erlebte, „in dem er selber redlich Masse war“, ‚sprang‘ nach
1918 die „Partei“ für das „Heer“ ‚ein‘ (MM 211). Deswegen sei das „Ver-
bot der allgemeinen Wehrpflicht“ die „Geburt des Nationalsozialismus“
(MM 211). Der Geburtsakt der NSDAP, der daraus folgt, bildet das erste
Glied in einer Kausalitäts-Kette, deren zweites und letztes mit der Klärung
der Sündenbock-Opferschaft vorliegt. So, wie von einem kausaldetermi-
nistischen ‚Zeugungs‘-‚Geburts‘-Komplex im Punkt des Aufstieges der
NSDA-Partei auszugehen sei, habe man eine Ursache auch im Fall der
Shoa anzusetzen.
Die politische Rede vom „‚Versailler Diktat‘“ (MM 213) habe eine vielfäl-
tige propagandistische Symptomatik nach sich gezogen und die Rezipien-
ten mit einschlägigen nationalistischen Affekten aufgeladen: „Man kann
ohne Übertreibung sagen, daß alle wichtigen Schlagworte der National-
sozialisten, mit Ausnahme derer, die den Juden galten, sich aus dem einen
Wort vom ‚Versailler Diktat‘ durch Spaltung ableiten lassen: ‚Das Dritte
Reich‘, ‚Sieg-Heil‘ und so weiter.“ (MM 213) Denn im Sinn des „natio-
nale[n] Massensymbol[s]“ gilt, dass, „[w]er das Wort vom ‚Versailler Dik-
tat‘ hörte oder las“, auf das „tiefste“ „empfand“, „was ihm weggenom-
men war: die deutsche Armee“ (MM 212).
Wie im Fall der Sündenbock-Opferschaft zeigt sich auch in dem der
NSDAP-Geburt ein kausales Gesicht, das moralisch schuldentlastend
wirkt. Daher hat der an Canetti gerichtete Vorwurf wiederholt gelautet,
dass er eine problematische Simplifizierung komplexer Sachverhalte be-
treibt. Kuhnau greift den Gedanken von der Geschichtsklitterung auf,
wenn sie ein „monokausale[s] Erklärungsmodell des Versailler Vertrags“
sieht und von „physikalische[n] Gesetzmäßigkeiten in Verbindung mit
triebhaften und emotionalen Strukturen“ spricht.353 Angelova vertritt die
relativierende Ansicht, dass Canetti erstens eine „Kausalität der Ge-
Aber die Bedeutung der Golddeckung für eine gute Währung, die Tatsa-
che, daß überhaupt noch an einer Goldwährung festgehalten wird, be-
weist, daß der Schatz seine alte Bedeutung noch keineswegs verloren hat.
Der weitaus größte Teil der Menschen, auch in den technisch am höchsten
entwickelten Ländern, wird für seine Arbeit nach Stunden entlohnt, und
die Größe dieses Lohnes bewegt sich in einer Ordnung, die man sich fast
überall noch in Münzen vorstellt. Man bekommt noch Münzen auf Papier
heraus; das alte Gefühl für sie, die alte Einstellung zu ihnen sind jedem
vertraut […]. (MM 216)
Allerdings gibt Canetti zu bedenken, „daß sich neben dieser älteren eine
andere, moderne Beziehung zum Geld entwickelt hat“, wobei er eine Kor-
relation zwischen Geldvermehrung und Bevölkerungssteigerung konsta-
tiert: „Wenn die Münzen früher etwas von der strikten hierarchischen Or-
ganisation einer geschlossenen Gesellschaft an sich hatten, so geht es un-
ter dem Papiergeld mehr zu wie unter den Menschen der Großstadt.“
(MM 216) Unter anderem der Wertpapierhandel, der an den Börsen er-
folgt – und zwar exemplarisch innerhalb der kapitalorientierten Wirt-
schaftsform –, wird damit mittelbar verunglimpft, als ein Vermehrungs-
prozess des Geldes, der auf Spekulationsgeschäften basiert. Diese hätten
3 Politik: Biologische Anthropologie und Nationalismus 209
dazu beigetragen, dass die „Münzeinheit in jedem Land“ einen „mehr abs-
trakten Wert“ erhalten hat (MM 216).
Die ‚Abstrahierung‘, die die Lebensrealität des Einzelnen prägt, wird zum
Ersten auf den Umstand der Verbriefung zurückgeführt (der Geldschein
als Wertpapier im weiten Sinn) und zum Zweiten auf die gesteigerte Ka-
pitalhöhe („Größe“ des „Lohnes“, MM 216), die in Ansätzen bereits zu be-
obachten ist. Gleichzeitig erfolgt eine verdeckte Kritik am Nationalstaat-
gedanken, wenn die Ausdifferenzierung des Tauschhandels, die mit den
modernen Wachstumsprozessen einherging, auf die nunmehrige Vielzahl
der Länder übertragen wird („in jedem Land“), nämlich im Sinn eines glo-
balen Verfallsprozesses. Dass Canetti die „Hybris“ der Produktion auf die
„Vermehrungsmeute“ zurückführt (MM 224), tut der Vorreiterrolle, die
er das kapitalistische System einnehmen sieht, keinen Abbruch. In Sachen
„Vermehrung“ vertritt er zwar die Ansicht, dass für den Menschen, „[d]a-
mit er gedeihe und mehr werde“, „von allem da sein“ muss, „dessen er zu
seinem Leben bedarf“ (MM 128). Doch „[w]as früher eine Erzeugung und
Steigerung von Erwartung“ war, etwa auf „Regen, auf Korn“, „ist heute
zur unmittelbaren Erzeugung selbst geworden“ (MM 224). Der Hochmut
habe inzwischen „Vermehrungszentren“ gebildet und sich auf „verschie-
dene Sprachen und Kulturen verteilt“ (MM 554). Implizit schreibt er hier-
bei dem Kapitalismus eine federführende Position zu. Denn in den „‚kapi-
talistischen‘ Ländern“ sticht die „ungehemmte Vervielfältigung“ am
„meisten ins Auge“ (MM 225). Dadurch, dass so vorrangig angloamerika-
nische Phänomene ins Fadenkreuz geraten, weist sich der Autor in seiner
Weltanschauung ex negativo als dem Mythos der Habsburgermonarchie
zugehörig aus. In ökonomischer Hinsicht entspricht Canetti den gängigen
Klischees, wie sie ideologisch die Bewegung des Sozialismus bzw. Kommu-
nismus originär vertrat.356
356 Marx spricht vom ‚Wandel‘ von Geld in Kapital, der sich mit dem Produktionsprozess
vollzieht; Karl Marx, Bd. 1: Der Produktionsprocess des Kapitals. In: Das Kapital. 3 Bde.
Hamburg: Otto Meissner 1867, S. 160.
210 3.5 Die Inflations-Entwertung und Kapital-Ressentiments
Seine Kritik an der „Produktion“, die Canetti in Masse und Macht formu-
liert, sei auf den industriemodernen Staat im Allgemeinen bezogen zu se-
hen, zu dem sich auch Russland in Zeiten des Kommunismus gewandelt
habe:
357 Wenngleich Canetti an anderer Stelle davon spricht, dass, „[o]b man produziert, um
zu verkaufen, oder produziert, um zu verteilen, der Prozeß dieser Produktion“ „ver-
ehrt“ wird (MM 223), überzeugt dieser Versuch einer Verallgemeinerung nicht. Denn
gleichzeitig gesteht er ein, dass in den „Ländern“ des „‚Proletariat[s]‘“ „Probleme der
allgemeinen Verteilung theoretisch gleichwertig neben denen der Vermehrung“ „ste-
hen“ (MM 225 u. 226).
3 Politik: Biologische Anthropologie und Nationalismus 211
einer „Welt, die auf Leistung und Spezialisierung angelegt ist“, durch die
„Gabe der Verwandlung“ zu bekämpfen sei (GW 366). Canettis kritische
Bewertung der Industrialisierung, die er unter dem Taylor’schen Zwang
der Rentabilität stehen sieht, leitet sich von autodynamischen Wachs-
tumsprozessen ab. Nicht zuletzt gegen die Differenzierungen in Wissen-
schaft und Wirtschaft, in öffentlichem wie privatem Leben, wendet sich
Canetti, so dass die Phänomene der sozialen Entfremdung wie des Fach-
spezialistentums beanstandet werden.
Auffällig ist die Gegenüberstellung der Bedeutung der Münzen („Schatz“)
mit jener des Papiergeldes („Million“) aus dem Grund, weil sie auch kri-
tisch auf die Börsengeschäfte verweist und damit letztlich auf das indust-
riekapitalistische Modell:
Aus dem Schatz ist heute die Million geworden. Sie hat einen kosmopoli-
tischen Klang, die Bedeutung dieses Wortes erstreckt sich über die ganze
moderne Welt, es kann sich auf jede Währung beziehen. (MM 216)
358 Vgl. Strelka, Canettis Die Blendung, S. 44. – Bereits Dissinger spricht davon, dass hier-
mit ein „marxistischer Grundgedanke“ „an“-„klingt“; Dissinger, Vereinzelung und Mas-
senwahn, S. 93/Fn. 165.
359 Vgl. Strelka, Canettis Die Blendung, S. 50.
360 Vgl. ebenda.
3 Politik: Biologische Anthropologie und Nationalismus 213
[…] sie schwebt allen Menschen vor, deren Ehrgeiz auf Geld gerichtet ist.
Der Millionär hat einige der strahlendsten Eigenschaften des alten Mär-
chenkönigs übernommen. (MM 216)
Die Behauptung, dass jenes Symbol für Reichtum „allen Menschen“ „vor“-
„schwebt“, „deren Ehrgeiz auf Geld gerichtet ist“, bezichtigt implizit, doch
unmissverständlich, vor allem die Menschen des angloamerikanischen Le-
bensraumes der Geldgier. Curtius erkennt mit Blick auf den Roman, dass
Canetti mit der Million die „Faszination des Goldschatzes im Märchen“
beschreibt, „mit dessen Hilfe man dort auch die Prinzessin, Sexual-Status-
Symbol par excellence, erlangen konnte“.374 Mit Blick auf den Argumen-
tationspunkt zu den Geschäften, die an den Börsen getätigt werden, zeigt
Dieser doppelte Charakter des Wortes läßt sich in politischen Reden be-
sonders gut studieren. Die Wollust der springenden Zahl ist zum Beispiel
charakteristisch für Hitlers Reden. Sie bezieht sich dort gewöhnlich auf die
Millionen von Deutschen, die außerhalb des Reiches leben und noch zu
erlösen sind. Nach den ersten, unblutigen Siegen, vor Ausbruch seines
Krieges, hatte Hitler eine besondere Vorliebe für die steigenden Bevölke-
rungsziffern seines Reiches. Er konfrontierte sie mit denen aller Deut-
schen, die es überhaupt auf der Erde gibt. Sie alle in seiner Einflußsphäre
zu haben, war sein eingestandenes Ziel. (MM 216–217)
Den Aufstieg der NS-Partei ordnet er insofern der modernen Zeit zu, als
ein Hinweis darauf erfolgt, dass vor „Ausbruch“ des „Krieges“ eine verrä-
terische Rhetorik angewandt wurde. Dadurch legt er die Macht- und Mas-
sen-Besessenheit eines Diktators offen, der seine Geltungssucht mit dem
Wachstum der Reichsbevölkerung zu befriedigen suchte. Dessen Massen-
Wahn wird in Korrelation zu einem industriellen Vermehrungsdrang ge-
setzt, der selbstzerstörerische Züge trage.
Beachtenswert ist der Umstand, dass Canettis Kritik an der modernen
Wirtschafts- und Staatsform die politischen Wachstums-Motive Hitlers
berührt, was zu einer Aktualisierung der propagandistisch verbreiteten
Opferthese führt:
Aber der Gebrauch des Wortes hat zweifellos etwas Schillerndes bekom-
men. Die abstrakte Zahl ist von den Bevölkerungsziffern der Länder und
vor allem der Weltstädte, die überall in Millionen ausgedrückt werden,
mit einem Masseninhalt erfüllt worden, wie ihn keine andere Zahl heute
enthält. Da das Geld derselben „Million“ verpflichtet ist, sind sich Masse
und Geld heute näher als je. (MM 217)
Aber dieses Wachstum ist ins Negative gewendet: das Wachsende wird
schwächer und schwächer. Was früher eine Mark war, heißt jetzt 10 000,
dann 100 000, dann eine Million. Die Gleichsetzung des einzelnen Men-
schen mit seiner Mark ist dadurch unterbunden. […] Der Mensch, der ihr
früher vertraut hat, kann nicht umhin, ihre Erniedrigung als seine eigene
zu empfinden. […] Nicht nur gerät durch die Inflation alles äußerlich ins
Schwanken, nichts ist sicher, nichts bleibt eine Stunde am selben Fleck –
durch die Inflation wird er selber, der Mann, geringer. Er selbst oder was
er immer war, ist nichts, die Million, die er sich immer gewünscht hat, ist
nichts. Jeder hat sie. Aber jeder ist nichts. (MM 217)
sich der „Prozeß der Schatzbildung“, wie Canetti ausführt, in sein „Gegen-
teil“ (MM 217). Canetti resümiert, dass mit der „Inflation“ „etwas“ ein-
setzt, „was bestimmt nie bezweckt worden ist […]: eine doppelte Entwer-
tung, die aus einer doppelten Gleichsetzung entspringt“ (MM 218).
Bei dieser Gelegenheit verweist Canetti, der Industrialisierung und Kapi-
talismus als vermehrungsfreudige Einheit beschreibt, erneut auf den ur-
banen Raum als Ort der Massenphänomene: „Es ist gezeigt worden, wie
doppeldeutig der Gebrauch des Wortes Million ist; wie er für beides steht,
die hohe Summe Geld und die große Ansammlung von Menschen, ganz
besonders in der Vorstellung, die man sich von der modernen Großstadt
macht; wie ein Sinn in den anderen übergeht […].“ (MM 218) Bedenkt
man, dass Geld ein Machtmittel darstellt, und berücksichtigt man, dass
der Autor die Massenphänomene als für die moderne Zeit charakteris-
tisch betrachtet, wird der hohe Grad der Moderneskepsis einsichtig, der
seine anthropologische Schrift prägt. Es zeigt sich ein Skeptizismus, der
das größte Übel im Industriekapitalismus sieht, dem die technische Pro-
duktion und die Börsenspekulation als wesentliche Merkmale zugehören.
Zur Entwertung führt Canetti weiter aus, dass „[a]lle Massen, die sich in
Inflationszeiten bilden“, „unter dem Druck der entwerteten Million“ „ste-
hen“: „Wenn die Millionen in die Höhe klettern, wird ein ganzes Volk, das
aus Millionen besteht, zu nichts.“ (MM 218) Der Zusatz, dass sie sich „ge-
rade dann sehr häufig“ „bilden“ (MM 218), weist die Massenvorgänge als
typisches Phänomen der Inflationszeiten aus. Indem der Autor erklärt,
dass die Inflation die „Unterschiede zwischen Menschen“ nivelliert, „die
wie für die Ewigkeit geschaffen schienen“, wird zudem deutlich, dass Bil-
dung und Aufrechterhaltung der „Inflationsmasse“ keine Entladung vo-
raussetzen (MM 218). Mit dem Inflationsakzent relativiert sich die Bedeu-
tung der ‚Berührungsfurcht‘, die laut Canetti die offene Massen-Form auf-
rechterhält. Der Inflationsvorgang eignet aus dem Grund eine identitäts-
stiftende Massen-Funktion, weil das gemeinsame Leid zum Ersten ein Kol-
lektivgefühl schafft und zum Zweiten einen Hang zur Opfer-Kompensa-
tion.
222 3.5 Die Inflations-Entwertung und Kapital-Ressentiments
Da die Identität der Masse in einem nationalen Sinn gefährdet war, trach-
tete das deutsche Volk im Gesamten nach Sühne, wie die von ihm vertre-
tene Auffassung lautet. Dieses Eingedenk-Sein betrifft das Volk als Gan-
zes, das diese „Entwertung nicht“ „vergißt“, so dass daraus eine massen-
psychologische Kausaldetermination resultiert: „Die natürliche Tendenz
ist dann, etwas zu finden, das noch weniger gilt als man selbst, das man
so verachten kann, wie man selbst verachtet wurde.“ (MM 218–219) Für
Canetti ging aus der großen Inflation die Notwendigkeit eines „dynami-
sche[n] Vorgang[s] der Erniedrigung“ hervor (MM 219). Deshalb „genügt“
es „nicht“, die erlittene „Verachtung“ auf „demselben Niveau zu halten“:
„Es muß etwas so behandelt werden, daß es weniger und weniger gilt, wie
die Geldeinheit während der Inflation, und dieser Prozeß muß sich fort-
setzen, bis das Objekt in einem Zustand kompletter Wertlosigkeit ange-
langt ist.“ (MM 219) So legt Canetti dar, dass die nationale Identitätser-
schütterung der Deutschen, die zu Zeiten der Weimarer Republik eintrat,
notwendig die Shoa nach sich zog.
Jene Entwertung hat auch die Kien-Figur zu erfahren, die mit der Buchver-
brennung die Wertlosigkeit gelehrter Schriften in Hochzeiten der irratio-
nalen Ratio zum Ausdruck bringt sowie die seines gedemütigten Lebens,
das als jüdisches gesellschaftlich nullifiziert wird. Das „[Ü]bernehmen“ ei-
ner „vorgefunden[en]“ „Verachtung“ (MM 219), von dem Canetti spricht,
verweist auf das generell bestehende Problemfeld des Antisemitismus, so
dass im Massenmord lediglich eine Radikalisierung einer grundsätzlich
feindlichen Haltung zu sehen ist. Was Canetti in seiner Masse-Macht-
Schrift formuliert, trifft so auch auf Kiens Schicksal zu und führt zur Ein-
äscherung seiner selbst (samt den umsorgten Buchbeständen): „Dann
kann man es [das ‚Objekt‘] wegwerfen wie Papier oder einstampfen las-
sen.“ (MM 219) Hintergründig klingt mit dem Roman eine (politisch fun-
dierte) Ökonomieskepsis an, wie etwa das Inflationsexempel der Kartof-
feln und die Verortung der ‚deutschen‘ Form der Subjektkrise im ‚Welt-
haltigen‘ belegen.
3 Politik: Biologische Anthropologie und Nationalismus 223
375 Durzak schreibt zu jener ‚kakanischen‘ Assimilation: „Gewiß, die kulturelle und sprach-
liche Bindung an die k. u. k. Metropole Wien war schon für die Eltern Canettis konsti-
tutiv. Ihre Bedeutung für den Sohn wurde durch das Studium in Wien und die enge
Vertrautheit mit dem literarischen Leben dieses Kulturbereichs entscheidend gestei-
gert.“; Durzak, Anmerkungen zu einer Vaterfigur, S. 6.
3 Politik: Biologische Anthropologie und Nationalismus 225
den Umständen, die zum Zerfall des Kaiserreiches (und der K.-u.-k.-Mo-
narchie) führten, unberührt.376 Weil Canetti die Erste deutsche Republik
als Verfallssymptom der politischen Moderne (Demokratie) deutet, setzte
sich mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg das industriekapitalistische
Dilemma fort. Aus Canettis kausaldeterministischer Sicht hatte, in Anbe-
tracht des „‚Versailler Diktates‘“ und seiner Implikationen, die Wahl des
deutschen republikanischen Volkes zwangsläufig auf parteipolitischen
Extremismus zu fallen. Canettis Nationalismus verbot es ihm, eine demo-
kratische Unreife der Deutschen in Betracht zu ziehen, und gebot ihm da-
gegen, kausal simplifizierend die Wurzel im Versailler Vertrag auszu-
machen.
Insgesamt konstituiert sich eine Moderneskepsis, die neben einem nach-
frageorientierten Marktverständnis auch die politische Erneuerungsbe-
wegung mit einschließt (demokratische Selbstbestimmtheit). Zwar kom-
men die destabilisierenden Kräfte, die zum Beispiel auf die K.-u.-k.-Mo-
narchie einwirkten – in Form der Nationalitätenfrage etwa –, nicht explizit
zur Sprache, doch die Skepsis zu Finanzwirtschaft und Warenproduktion,
die Canetti artikuliert, entspringt einer modernistischen Attitüde. Das his-
torische Faktum, dass diese Voreingenommenheit das deutsche Volk zu
Zeiten des Monarchismus wie der Diktatur wesentlich prägte, und auch
im Interbellum fortbestand, machte ihn zu seinem Fürsprecher.
Canettis Schuldenthebung, die bis zu einer Täter-Opfer-Umkehr führt, ba-
siert auf einem einschlägigen Nationalismus, wie er nach dem verlorenen
Ersten Weltkrieg in Form der Legende vom ‚Dolchstoß‘ zutage trat.377 Ver-
gegenwärtigt man sich die vorgeblichen Schuldigen, die nach 1914 nicht
376 Die nationalistische Lage im Europa zu jener Zeit machte eine Eskalation zu einem Gro-
ßen Krieg wahrscheinlich. Der frühe Briefwechsel zwischen Zweig und Rolland doku-
mentiert, dass sich die europäische Gesellschaft selbst nach der Eskalation zum Welt-
krieg der Dimension dieser Auseinandersetzung nicht bewusst war. – Siehe hierzu Ro-
main Rolland und Stefan Zweig, Bd. 1: Briefwechsel. 1910–1940. Hg. von Waltraud
Schwarze. 2 Bde. Berlin: Rütten und Loening 1987.
377 Rosenthal fasst die Gesellschaftsgruppen, denen die Schuld an der Weltkriegsnieder-
lage zugewiesen wurde, sowie die rhetorische Strategie dahinter wie folgt zusammen:
„Durch diesen genialen Propagandazug war es der militärischen und politischen Elite
3 Politik: Biologische Anthropologie und Nationalismus 227
von 1914 gelungen, in aller Öffentlichkeit die Verantwortung für die Katastrophe von
sich auf die ‚Dolchstoßenden‘ abzuwälzen, d.h. auf die Sozialisten, die Pazifisten und
vor allem auf den ewigen Sündenbock – die Juden.“; Jacob Rosenthal: „Die Ehre des
jüdischen Soldaten“. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen (= Campus
Judaica, 24). Diss. Jerusalem, o. D. Frankfurt a. M. [u.a.]: Campus 2007, S. 130.
378 Das Ressentiment des ‚Geldjuden‘ („alte Verbindung mit dem Geld“, MM 219) steht
für eine ethnisch einschlägige Verantwortlichkeit.
228 3.6 Der verlängerte ‚Dolchstoß‘
379 Siehe zur Funktion der Motive von Kapital und Verstand, die an beide jüdische Figuren
gebunden sind: Wimmer, Enteignung, Vertreibung und Vernichtung, S. 88–96. – Siehe
zur zweifachen Figurencharakterisierung im Punkt der jüdischen Intellektualität auch:
Scheichl, Canetti’s Auto-da-fé in its historical context, S. 164 u. 166.
3 Politik: Biologische Anthropologie und Nationalismus 229
durchschlägt; dazu rufe man sich das modernekritische Wesen der Sub-
jektkrise, wie er es sah, in Erinnerung.
Konklusion
Den Anspruch einer universellen Gelehrsamkeit, den Canetti mit den The-
sen von Masse und Macht still erhebt, hatte er in seiner Beschreibung
konstanter wie modernetypischer Verhaltensmuster erfüllt zu sehen. Die
Methodenpluralität, mit der Canetti disziplinäre Schranken zu überwin-
den trachtete, zeigt sich in einem freien, am Menschen orientierten Ver-
fahren, das auf einer biologischen Ausrichtung basiert und überdies dem
sozialen Einfluss Rechnung trägt. Der psychologische Standpunkt, den er
in Bezug auf das Machtmodell vertritt, schlägt auch bei seiner Beschrei-
bung der Massenphänomene durch. In der Bewertung der Shoa kulmi-
niert ein deterministisches Schema, das die zeitgeschichtlichen Täter zu
Opfern wirtschaftlicher und politischer Vorgänge erklärt. In der vorgebli-
chen Klärung der Umstände, die zum zivilisatorischen Bruch führten, be-
schreibt er die politische Aktivierung der Entwertungserfahrung auf rati-
onalisierende Weise.
Wollte man für das Wesen seiner Schrift, die sich in erster Instanz gegen
die Wissenschaftspraxis wendet („Nichts zudecken mit der Vernunft“,
A 363), einen Titel formulieren, könnte dieser auch „Mythos und Mensch“
lauten.381 Sein Interesse gilt vornehmlich den ältesten Menschheitsmy-
then, die in die Frühzeit der Zivilisation reichen, so dass man neben Kul-
turpraktiken auch von Epen erfährt, die sich im Lauf von Jahrhunderten
und Jahrtausenden als fiktionale Sinngebilde bewährt haben. In diesen
Mythen, die unbestreitbar von ethnologischem Wert sind, sieht Canetti
zuweilen die von ihm geforderte Verwandlung/Empathie beschrieben. In
solchen Fällen gelangt der Dichter als ‚Hüter‘ ins deterministische Spiel,
aus diesem ein neu-aufklärerisches Unternehmen machend.
381 Wieprecht-Roth ist der Ansicht, dass, „[w]ährend das Aufklärerische im Roman und
den Dramen vorherrscht und auch in den eindimensionalen Charakterisierungen des
Ohrenzeugen auszumachen ist“, „Mythisches vorrangig in den dem Dichter zugewie-
senen Äußerungen und Schriften“ vorliegt; Wieprecht-Roth, Überleben bei Canetti,
S. 48.
Mit der Blendung beschreibt er instinktiv und darin empathisch ein Mo-
dell, das vordergründig nicht die christliche Gesellschaft deutsch-österrei-
chischer Provenienz in einen zeitgeschichtlichen Opferstatus einsetzt,
sondern die jüdische Ethnie, die in Deutschland vermehrt wie forciert ab
1933 dem antisemitischen Sentiment ausgesetzt war. Während aus der
zynischen Perspektive der Masse und Macht-Schrift die ermordeten und
um ihr Leben gebrachten Juden narrativ als Opfer von Opfern erscheinen
– als die des deutschen Machthabers und seines Volkes –, und konzeptio-
nell als Täter,382 beschreibt sein Blendungs-Roman die Ressentiments aus
der Perspektive der Betroffenen. Doch zugleich zeichnet sich mit der
Geldentwertung (Kartoffelpreise) und der ‚westlichen‘ Subjektkrise als
Anlassfall ein antimoderner Ressentimentkomplex ab, der den Verlust
etablierter Ideologien und eine rentabel ausgerichtete Marktwirtschaft
umfasst. Dass dies unter Bezugnahme auf eine Berliner wie Wiener Zeit-
verfasstheit geschah, mit der sich die Weltwirtschaftskrise noch nicht er-
eignet hatte, verengt den historischen Beschreibungskontext – auch im
Fall des Romans – auf die Erfahrung der Inflation.
Ein werkgenetischer Gegensatz liegt nur scheinbar darin, dass durch Ca-
nettis Massetheorem die vorgebliche Opfergemeinschaft der Deutschen
mit der Inflationserfahrung begründet wird, während der Roman als Spie-
gelbild antisemitischer Tendenzen die Krisenmentalität durch ein ‚einzel-
nes‘ Opfer beschreibt. Denn verdeckt zeigt bereits der Roman die kultu-
relle Zugehörigkeit eines jüdischen Autors zum Deutschtum an – und da-
mit einschlägige Rationalisierungen. Die Differenz in der Gewichtung un-
terscheidet den Roman, der die Realphänomene fokussiert, aber dadurch
382 In einer Aufzeichnung von 1945 kommt es zu einer weiteren ‚Maskensprengung‘, die
Canettis wahres Gesicht bloßlegt: „Gas ist in diesem Krieg verwendet worden, aber
nur gegen die Juden, und sie waren hilflos. Dagegen hat auch das Geld, das ihnen frü-
her Macht gab, nichts vermocht. Sie sind zu Sklaven, dann zu Vieh, dann zu Ungeziefer
degradiert worden. […] Die sehr alte Geschichte der Beziehung anderer Menschen zu
Juden hat sich grundlegend verändert. Man verabscheut sie nicht weniger; aber man
fürchtet sie nicht mehr. Aus diesem Grund können die Juden keinen größeren Fehler
begehen, als die Klagen fortzusetzen, in denen sie Meister waren und zu denen sie
jetzt mehr als je Anlaß haben.“ (A 99)
Konklusion 233
383 Siehe hierzu die ‚Rückverlegung‘ der „Verfolgungen“ in eine „ferne Vergangenheit“,
die die Mutter als Spaniolin vorlebte (GZ 252). – Siehe zu seinen Beschreibungen von
antisemitischen Erfahrungen: GZ 102–103, 252, 255–264 u. FO 28–32.
Konklusion 235
einer ‚deutschen‘ Subjektkrise ein Verfahren, das von politischer und öko-
nomischer Voreingenommenheit geprägt ist.
Literaturgeschichtlich besehen, findet man unter den bedeutenden Auto-
ren jener krisenhaften Zeit tatsächlich eine Reihe von Vertretern einer
Heimatverbundenheit, die aus heutiger, global orientierter Sicht senti-
mental und selbstquälerisch anmutet, in der frühen Hälfte des 20. Jahr-
hunderts aber mitunter ganz lebenspraktische Gründe hatte. Erinnert sei
in diesem Zusammenhang an Stefan Zweig, der in seinem brasilianischen
Exil sich vom intellektuellen Spannungsfeld Europas abgeschnitten fühlte
und leidvoll den Niedergang der ‚Alten Welt‘ beschrieb. Dass er zugleich
die reich befüllten Bibliotheken vermisste, die er aus seiner Heimatstadt
kannte, kam für diesen Geistes- und Büchermenschen erschwerend
hinzu. Diese ‚kakanischen‘ Schicksale bilden eine Momentaufnahme in-
nerhalb eines zivilisatorischen Wandels, der politisch die Staatsform be-
traf. Für den Altösterreicher Zweig hatte sich das damalige Krisengefühl
angstmäßig noch durch eine zweite Zeugenschaft zu verstärken: das ver-
hängnisvolle Scheitern der Weimarer bzw. Ersten Republik. Während be-
reits mit dem Zerfall der Donaumonarchie für die ‚Kakanier‘ die ihnen ver-
traute Welt unterging,389 akkumulierte sich das Krisenempfinden in der
labilen Zwischenkriegszeit nicht selten mit der Machtübernahme der
NSDAP, wie Zweigs Verzweiflung exemplarisch veranschaulicht.
Angesichts der methodisch-argumentativen Simplifizierung, zu der Ca-
netti in der Klärung der Fragen zu Masse und Macht neigte, ist zu bezwei-
feln, ob er mit seinem Werk einen Beitrag dazu leistete, jene Verwand-
lungskräfte zu aktivieren, die die Welt auf den Kopf stellen und einen
neuen Zeitabschnitt der Ganzheitlichkeit einleiten. Jedenfalls hat er das
Bewusstsein für einen sorgsamen Umgang mit dem Erbe der Aufklärung
389 Siehe hierzu die Faktenlage zum Weltgerichts- und Weltuntergangs-Roman Der Pro-
ceß, die mit dem Prager Franz Kafka und dem Schreibbeginn vorliegt: „Man wird also
den Beginn der ‚Proceß‘-Niederschrift auf die Zeit um den 11. August 1914 eingrenzen
können“; Franz Kafka: Der Proceß. Apparatband, hg. von Malcolm Pasley. In : Schrif-
ten, Tagebücher. Hg. von Jürgen Born und Gerhard Neumann [u.a.]. 15 Bde. Frankfurt
a. M.: Fischer Taschenbuchverlag 2002, S. 75.
238 Konklusion
das letztlich im Zeichen einer neuen Aufklärung steht. Der klassische Bil-
dungsbegriff, der sich vom Aufklärungshumanismus ableitet, findet sich
bei ihm durch den neu-aufklärerischen Verwandlungs-Anspruch ersetzt,
der mit einer als ‚instrumentell‘ gewahrten Vernunftpraxis unvereinbar
ist.
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