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Kommentar: Warum ist schöne Literatur heute so hässlich?

„Er fühlte ein leichtes Jucken oben auf dem Bauch ; schob sich auf dem Rücken langsam näher zum
Bettpfosten, um den Kopf besser heben zu könne, fand die juckende Stelle, die mit lauter kleinen
5 weißen Pünktchen besetzt war [...]“. Spaß zum Lesen macht das nicht, was Franz Kafka hier in
„[d]ie Verwandlung“ beschreibt. Ja es schüttelt einen gar fast vor Ekel. Trotzdem finden sich Motive
wie Ekel und vor allem Hässlichkeit heutzutage in vielen literarischen Werken wider. Da kann man
sich schon fragen, ob die Gesellschaft nun endgültig verdorben ist und ihren Sinn für wahre Kunst
komplett verloren hat. Denn das Darstellen von hässlichen Dingen in der Kunst, also etwas
10 Schönem erscheint zunächst etwas absurd und nicht verbindbar.

Betrachtet man die Entwicklung des Schönheitsbegriff kommt einem das auch zuerst sehr logisch
vor. Denn von der Antike bis zur Moderne sei das Schöne als etwas Naturgegebenes definiert
worden, zum Beispiel als die Leuchtkraft nach Homer oder die Symmetrie nach Aristoteles. Auch
15 Platon behauptete, dass menschliches Tun keine vollendete Schönheit hervorbringen könnte, da
die Kunst als Abbild der Natur nur eine Nachahmung der natürlichen Schönheit sein könnte. Auch
als sich im 18. und 19. Jahrhundert laut Ubaldo Nicola Schönheit als Ergebnis kreativer Arbeit
etablierte, hätte trotzdem noch gegolten, dass die natürliche Hässlichkeit in etwas ästhetisch
Schönes verwandelt wurde. Von Hässlichkeit also hier noch keine Spur. Erst durch die Avantgarden
20 seien dann die unschönen Seiten der Wirklichkeit und Hässlichkeit ohne künstlerische
Beschönigung aufgetreten. Stellt sich die Frage nach dem „warum“.

Weil „das Ekelhafte als Bestandteil des Lebens [gezeigt]“ werden soll meint beispielsweise
Hellmuth Kiesel. Im Interesse einer schärferen und wahrhaftigeren Wahrnehmung des Lebens (vgl.
25 Kiesel) soll die Wirklichkeit in ihrer ganzen Brutalität gezeigt werden (vgl. Nicola). Dieser Fokus auf
die Wahrheit entstand im Expressionismus. Im Hässlichen sollte dort eben diese Wahrheit gezeigt
werden, wodurch Themen wie Desorientierung oder Ich-Spaltung zu zentralen Aspekten der Kunst
wurden.
Im Leben der Menschen gibt es wahrhaftig viel „Hässliches“: Betrug, Gewalt, Eifersucht, Leid, Neid
30 oder vieles mehr. Wenn all dies in der Literatur dargestellt wird fällt zum einen die Identifizierung
mit dem Protagonisten um einiges leichter und zum anderen fühlt sich der Leser wohl auch um
einiges besser über seine eigenen Probleme und Abgründe. Aber um den Menschen nicht generell
eine böse Absicht vorzuwerfen, könnte man auch sagen, dass in der heutigen Welt der Erfolg von
hässlicher Literatur an den hohen Idealen in der Gesellschaft liegt. Egal wo man hinschaut, überall
35 sieht man perfekte Gesichter, perfekt Leben, die so ganz in Kontrast zum eigenen Leben zu stehen
scheinen. Werden dann in der Literatur mal die unschönen Seiten des Lebens beschrieben, ist dies
eine willkommene Abwechslung zum perfekten Schein, der alle Bekannten umgeben zu scheint.

Zudem Ekel schon seit jeher etwas sei, dass die Menschen insgeheim bewege und interessiere und
40 durch Fernsehen schon fester Bestandteil unseres Leben sei (vgl. Kiesel). Hier kommt man also
doch nicht um die möglicherweise selbstsüchtigen Absichten der Menschen herum. Freut sich
nicht jeder ein bisschen am Leid der anderen, um sein eigenes Elend und die Probleme wenigstens
etwas zu lindern? Schadenfreude existiert auf jeden Fall in unserer Gesellschaft und jeder trägt sie
in sich. Und auch wenn es nicht jedem bewusst ist, freut man sich nicht ein bisschen, wenn in der
45 Reality- Sendung jemand in das gleiche Fettnäpfchen tritt, wie man selbst einen Tag zuvor? Ganz
klar verneinen kann das wohl keiner.

Doch nun zu einer Frage, die ich bis jetzt gar nicht betrachtet habe: Ist das überhaupt noch Kunst,
wenn die hässlichen Seiten des Lebens dargestellt werden, gerade in Bezug auf die vorher
50 erwähnte Geschichte der Kunst in Zusammenhang mit Schönheit?
Manche verneinen das. Die „Ekelkunst“ (vgl.Kiesel) sei eben keine Kunst, sondern eher als
Versagen aufzufassen (vgl. Kiesel). Aber Kunst zu machen, heißt doch eigentlich das
wiederzugeben, was die Menschen bewegt. Und dass das auch das Hässliche und Eklige sein kann
haben wir ja schon gelernt. Also das heißt: Ekelkunst ist Kunst. Ob sie wünschenswert ist, ist eine
55 andere Frage. Denn manchmal will ich auch einfach nur in eine schöne heile Welt flüchten, um den
Alltag mit all seinen Hürden für einen kurzen Moment zu vergessen. Begegnen mir meine
Probleme dann auch noch in meinem Zufluchtsort, gibt es ja gar kein Entkommen mehr.
Außerdem ist Hässlichkeit ja nicht gleich Hässlichkeit. Es kommt immer noch darauf an, ein gutes
Maß zu finden, weil zu viel des Guten ist eben nicht gut, sondern schlecht. Das heißt konkret:
60 Realität, also die negativen Seiten des Lebens, ja, weil manchmal braucht man eben ein bisschen
Abwechslung, aber Hässlichkeit nein danke. Ich will sicherlich nicht die ganze Zeit über Käfer lesen,
sondern wenn dann über hässliches Verhalten. Das ist eher tragbar. Und auch meinen Ekel will ich
beim Lesen von Literatur nicht überwinden wie Hellmuth Kiesel es vorschlägt. Das Wichtigste beim
Lesen ist zuallererst die Unterhaltung und das Auslösen von Gefühlen und Gedanken. Wenn ich
65 meinen Ekel überwinden will, dann miste ich meinetwegen den einen Pferdestall aus, aber ich lese
sicherlich kein Buch.

Zum Grund für die Existenz der „hässlichen“ Literatur kann man also sagen, dass der Fokus der
Menschen auf einer realistischeren Darstellung des Lebens liegt, vielleicht auch, weil wir nach
70 jahrzehntelangem Darstellen des Schönen einfach genug davon haben. Wie extrem und in welcher
Häufigkeit man solche Literatur genießen will, muss jeder selbst entscheiden. Ich habe nur eine
Bitte: Treiben wir es nicht zu weit. Literatur ist immer noch Literatur und somit eine Form der
Kunst.

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