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DIFFERENZEN UND AFFIRMATIONEN

queer/feministische Positionen
zur Medialität

herausgegeben von
Julia Bee und Nicole Kandioler

b_books
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.


Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie.
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Gestaltung: p=press

ISBN 978-3-942214-34-6
Erste Auflage 2020 © b_books Verlag, Berlin 2020
www.bbooks.de

Dank an die Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar


für die Druckkostenförderung
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INHALTSVERZEICHNIS

Julia Bee und Nicole Kandioler seite 9


Einleitung

Sarah Horn seite 37


Testosteron queeren –
FtM trans* Vlogs auf YouTube

Ulrike Bergermann seite 63


Test und Testosteron.
Medien des Selbstversuchs

Isabell Lorey seite 91


Schulden queeren

Brigitta Kuster seite 113


Notizen zu einer affektischen
Philologie der Grenze

Marc Siegel seite 133


and
MY LEVITATING BUTT
Other Queer Abstractions
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Peter Rehberg seite 157


Beyond Butch: Materialität und
Männlichkeit im Fanzine Butt

Gerko Egert seite 181


Affirmieren affirmieren.
Existenzielle Bejahung, Performance
und die Welt anderer Möglichkeiten

Mireille Rosello seite 205


Staying with the trouble in
Anne Le Ny’s LES INVITÉS DE MON PÈRE

Sudeep Dasgupta seite 227


Identity, Resistances and Difference

Die Autor_innen seite 248


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Julia Bee und Nicole Kandioler


Queer/feministische
Differenzen und Affirmationen.
Zur Einleitung.
Gender Media Studies
Feminismus wird heute stark mit Medientechnologien ver-
knüpft wahrgenommen. Durch #metoo und die Reaktionen
in den sozialen Medien, Printmedien und im TV scheint das
Thema in der Wahrnehmung stark mit einer neuen Öffent-
lichkeit verknüpft zu sein. In der Social media-Sphäre werden
geschlechtlich codierte Subjektivitäten eng mit ihrem digita-
len Milieu entwickelt, umgearbeitet, aber auch zerstört.
Gender Media Studies beschreiben diese Verknüpfungen von
Geschlecht und Medientechnologien seit ca. 40 Jahren.
Anschließend an Laura Mulveys Filmtheorie,Teresa de Lauretis‘
Technologies of Gender und Judith Butlers sprachliche Per-
formativitätstheorie hat Andrea Seier schon Mitte der Nuller
Jahre im deutschsprachigen Raum die performativen Intra-
Aktionen von Geschlecht und Medien konzeptuell
vorgelegt.1 Anknüpfend an dieses Paradigma arbeiten sich
auch die Texte in diesem Band ab.

1 Andrea Seier: Remediatisierung. Die performative Konstruktion von


Gender und Medien. Münster: LIT Verlag 2007.
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10 Julia Bee und Nicole Kandioler

Die Verknüpfung von Medien und Geschlecht liegt aber


gerade auch heute der Umkämpftheit des Feminismus
zugrunde, wie sie diesen seit der ersten Welle Anfang des 20.
Jahrhunderts begleitet hat. Bereits im Kolonialismus, im Vor-
lauf der ersten Welle des Feminismus, wurden Gedanken der
bürgerlichen Emanzipation benutzt, um Frauen zu ‚befreien‛
– häufig, um lokale Strukturen zu zerstören und andere Sys-
teme der Herrschaft zu errichten. Schon um 1900 wurde
Feminismus mit einer linearen, europäischen Geschichts-
schreibung gleichgesetzt, die für das europäische Projekt
mobilisiert werden konnte. Auch heute wird ein Fortschritts-
denken des (vor allem west-)europäischen und nordamerika-
nischen Queer/Feminismus benutzt, um fort- und rück-
schrittliche Kulturen zu konstruieren bzw. den eigenen patri-
archalen Gestus als überwunden darzustellen. Und auch heute
gilt es, sich an der Schnittstelle von Queer/Feminismus, anti-
rassistischer Theorie und Dekolonisierung für komplexe Zeit-
lichkeiten und Zeiträumlichkeiten zu interessieren, um diese
höchst problematische Fortschreibung von Feminismus und
linearer Moderne zu hinterfragen.2
Feminismus scheint heute stärker medial präsent und
reflektiert zu werden, was man in der Film-, Pop- und Serien-
kultur seit den Nullerjahren beobachten und als Breiten-
wirkung, Popularisierung und Kommerzialisierung des Femi-
nismus verstehen kann.3 Gleichzeitig sind gesellschaftlich

2 Vgl. Sabine Hark, Paula Irene Villa: Unterscheiden und Herrschen. Ein
Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und
Feminismus in der Gegenwart. Bielefeld: transcript 2017.
3 Diese Reflektion wurde dennoch nicht rein als emanzipativ verstanden,
sondern auch als Abwehr einer tiefergehenden Auseinandersetzung und als
Vermischung „feministischer und postfeministischer Diskurse“, wie Rosalind
Gill schreibt: „In der postfeministischen Medienkultur hat sich Ironie zu
einem Modus entwickelt, in dem sexistische und homophobe Äußerungen
ausgedrückt werden können, ohne ‚es eigentlich so zu meinen‘“, Rosalind
Gill: „Postfeministische Medienkultur. Elemente einer Sensibilität“, in:
Kathrin Peters und Andrea Seier (Hrsg.): Gender & Medien Reader. Berlin,
Zürich 2016, S. 541–556, hier, S. 555 und 552.
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Einleitung 11

gesehen wieder Rückschritte zu verzeichnen, ein neuer Kon-


servatismus bäumt sich auf, Grundsatzfragen der Aneignung
des eigenen Körpers (Kriminalisierung der sogenannten
Werbung für Abtreibung, Rückgang der praktizierenden
Ärzt*innen, schwache Aufklärungsrate und Strafverfolgung
von sexueller Gewalt u.v.m.) und die Aneignung von Femi-
nismen von rechts durch die Fremdheitszuschreibung anderer
Geschlechtersysteme und Zeichen, anderer Aufteilungen von
privat und öffentlich, sind (wieder) hoch relevant.
Die Umkämpftheit des Feminismus begleitet diesen seit
seinen ‚Gründungsjahren‛ und macht es notwendig, die Dif-
ferenzen zwischen Körpern nicht auf negative Weise, als
abweichend von einer Norm (nicht nur des Patriarchalisch-
Männlichen, sondern auch des Feministisch-Weiblichen),
sondern als differenzierend, prozessual, im Werden zu verste-
hen. Damit ist jedoch nicht eine harmonistische, relativistische
Position gemeint. Die Umkämpftheit des „Subjektes des
Feminismus“ (Butler) hat tiefe Wunden geschlagen: Mehr-
fachoppressionen, Herkunftsmilieu und rassistische Gewalt
wurden und werden durch anhaltende Kämpfe in den Femi-
nismus eingetragen. Heute können wir Geschlecht und
Queer/Feminismus nicht jenseits dieser Differenzen beschrei-
ben – und diese sind ihrerseits eingelassen in komplexe Prak-
tiken, sich selbst zu verorten, zu subjektivieren und zu de-
subjektivieren, die auch mit Intersektionalität nur mehr unge-
nügend zu beschreiben sind, wenn letztere die Addition
bereits bestehender Differenzen meint. Auch die aktuelle
Konjunktur von hate speech nimmt daran Anteil, situativ
Allianzen und Differenzierungen als mit Medien verbunden
zu verstehen. Daran anknüpfend beschreibt Jennifer Eickel-
mann hate speech als „medientechnologisch bedingte
Anredeszenarien, innerhalb derer Subjektivitäten erst ausge-
handelt werden, existenziell bedeutsam sind“4. Mit der
4 Jennifer Eickelmann: Hate Speech und Verletzbarkeit im digitalen
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12 Julia Bee und Nicole Kandioler

Perspektive der Gender Media Studies lassen sich diese Dif-


ferenzierungen als quer zu Apparaten, Gefügen, Infrastruk-
turen verlaufend beschreiben, die popkulturelle Praktiken,
filmische Medien, Kleidung, Sprache, Verletzung, Werden,
Gesten, Bewegungen, Affekte und vieles mehr als produzie-
rende Netzwerke der Differenzierung denken. Medienprak-
tiken wiederholen und mediatisieren Medien und Körper tun
das Ihrige – beides existiert einander verknüpfend. In diesen
Wiederholungen entstehen Differenzen. Differenzen, die über
Körper hinaus wuchern, Differenzierungen, die Neues her-
vorbringen können, indem sie die „Frage unserer Zeit“5
(Irigaray) dramatisieren, den Dissens in die Medien (ein)tragen
und damit neue co-konstitutive Weisen von gendermedialen
Existenzweisen leben, wie es aktuell global geschieht.
Irene Lusztig wirft diese Fragen in ihrem Film YOURS IN
SISTERHOOD (2018) auf, in welchem sie Frauen* bittet, on
camera Leser*innenbriefe an das Ms Magazin aus den 70er
Jahren vorzulesen und zu kommentieren. Dadurch inszeniert
sie, wie aktuell feministische Alltage und Medienpraktiken
sowie Probleme und Fragestellungen der 70er Jahre auch
heute noch sind. Fast unheimlich scheint es, wie sich Fragen
des öffentlichen Raumes, von Gender Pay Gap, häuslicher
Gewalt, Homophobie und interkulturellen und interethni-
schen Beziehungen immer noch als relevant erweisen. Gleich-
zeitig bietet sie hier Frauen* die Möglichkeit, den Dialog fort-
zuführen und diese dringend benötigten Räume des Dissens
zu nutzen: eine performativ erzeugte Infrastruktur produkti-
ver Differenzierungen.6
Zeitalter. Phänomene mediatisierter Missachtung aus Perspektive der Gender
Media Studies. Bielefeld: transcript 2017, S. 23.
5 Die sexuelle Differenz stellt eine der Fragen oder die Frage unserer Zeit
dar, die in unserer Epoche zu bedenken ist. Jede Epoche hat – Heidegger
zufolge – eine Sache zu ‚bedenken‘. Nur eine. Die sexuelle Differenz ist
wahrscheinlich diejenige unserer Zeit.“ Luce Irigaray: Ethik der sexuellen
Differenz. Aus dem Französischen von Xenia Rajewski. Frankfurt a.M.:
Suhrkamp 1991, S. 11.
6 Vgl. Julia Bee: „Filmische Trans/Individuationen. Ansprache, Affekte und
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Einleitung 13

Schon Teresa de Lauretis, eine Vordenkerin der Gender


Media Studies, hat die Differenzen zwischen Frauen als viel
bedeutsamer benannt als jene zwischen Frauen und Männern.
De Lauretis hat gezeigt, dass das „sex-gender-system“ ver-
schiedene soziale Verhältnisse umfasst, auch solche der Rasse
und Klasse.7 Denn women in der Mehrzahl formen Kollek-
tive in ihrer Differenz, nicht in der Einheit, während das Bild
der Frau (woman) immer auf oppressive Weise Eigenschaften
mit Körpern verknüpft und festschreibt.8 Differenzen sind
jedoch nicht an Körper geknüpft: Körper emergieren aus Dif-
ferenzierungsprozessen. Diese werden medial verankert, her-
vorgebracht, erhalten und auch zerstört. Sie sind existentiell
mit Geschlechterdifferenzen verwoben.

Differenzen
Im Folgenden möchten wir daher Differenzierungen affir-
mativ als Thema der Gender Media Studies verstehen und
betonen, wie unabgeschlossen das Projekt des Feminismus aus
medialer Sicht ist – und wie relevant und wichtig dies ist, um
zeitgenössische Medienpraktiken zu verstehen. Die Affirma-
tion bejaht nicht etwa den Status quo, sondern die offene
Differenzierung. Affirmation spricht sich als queere Zeitlich-
keit und situierende Methode für die Differenz aus, die
gleichzeitig Geschlecht und Medien de-essentialisiert.9 Denn
beide, Geschlecht und Medium, sind im Werden und entfalten
keine Substanz.

die Konstitution von feministischen Kollektiven in Long Story Short und


Yours in Sisterhood“, in: nachdemfilm.de 17, Feminismus und Film (2019).
7 Vgl. Teresa De Lauretis: Die Technologie des Geschlechts, in: Elvira
Scheich (Hrsg): Vermittelte Weiblichkeit. Feministische Wissenschafts- und
Gesellschaftstheorie. Hamburg: Hamburger Edition 1996, S. 52-94.
8 Andrea Seier und Kathrin Peters: „Gender Studies“, in: Jens Schröter
(Hrsg.): Handbuch Medienwissenschaft, Metzler: Stuttgart und Weimar 2014,
S. 528–536, hier, S. 531.
9 Vgl. Seier: Remediatisierung, S. 11.
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14 Julia Bee und Nicole Kandioler

Der vorliegende Band versammelt aktuelle Positionen und


Diskussionen der Gender- und Queer Studies unter einer
medienwissenschaftlichen Perspektive. Die Gender Media
Studies gehen davon aus, dass Gender und Differenz nicht nur
in Medien repräsentiert werden, sondern sich vielmehr als
vielfältige performative Relationen zwischen Medien und
Differenzen ereignen.10 Gender Media Studies denken heute
nicht nur von den Genderrepräsentationen, sondern auch von
den Praktiken, Öffentlichkeiten und Infrastrukturen her, die
vergeschlechtlicht und vergeschlechtlichend sind. Geschlecht
und Medialität artikulieren sich dabei gegenseitig: Geschlecht,
Begehren und Medien bringen sich als machtvolle Dispositive
hervor. Neben klassischen Medien und Diskursfeldern der
letzten Jahre aus diesem Bereich, möchte der Band die Per-
spektive auf aktuelle Entwicklungen in den Medien und der
Medien erweitern, etwa in Bereichen der Pharmakologie und
Hormone (siehe die Texte von Sarah Horn und Ulrike
Bergermann in diesem Band), von Trans*Vlogs, queerer
Onlinepostpornographie (siehe den Text von Peter Rehberg
in diesem Band), Schulden (siehe den Text von Isabell Lorey
in diesem Band) sowie der Performance des Alltags (siehe den
Text von Gerko Egert in diesem Band). Darüber hinaus
kommen Fragen von Vulnerabilität und filmischer Erzählung
in den Blick (siehe den Text von Mireille Rosello), die „affek-
tischen“ Gefügen der Harraga-Videos (siehe der Text von
Brigitta Kuster), Test Drives (siehe den Beitrag von Ulrike
Bergermann) sowie queere Abstraktionen im experimentellen
Film (siehe den Beitrag von Marc Siegel).
Die unterschiedlichen disziplinären Situierungen der
Autor*innen – Film-, Medien-, Literatur-, Sozial-, Theater-
wissenschaft – geben einen Eindruck der Bandbreite des
10 Andrea Seier und Kathrin Peters haben die Entnaturalisierungsbewe-
gung der Gender Media Studies in zwei Richtungen definiert und vorge-
schlagen zu fragen: „Wo und wie sind Geschlechtervorstellungen in Medien
wirksam und umgekehrt: wie strukturieren Medien Geschlechtervorstellun-
gen?“, Kathrin Peters und Andrea Seier: „Gender und Medien. Einleitung“,
in: diess.: Gender & Medien Reader. Berlin, Zürich 2016, S. 9–19, hier, S. 14.
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Einleitung 15

Forschungsfelds der Gender Media Studies aus den letzten


Jahren. Dabei werden intersektionale Differenzen diskutiert,
die im Verhältnis mit Gender- und Queer Studies stehen, z.B.
kulturelle Differenz und antirassistische Theorie sowie Trans*
theorie (siehe den Beitrag von Sarah Horn).
Das Verhältnis von Kritik und Affirmation ist für den Band
leitend und stellt eine doppelte Perspektive dar, indem beide
Bewegungen mit Prozessen der Differenzbildung verbunden
werden.11 Differenzen werden nicht als Differenzen zwischen
Männern* und Frauen* oder überhaupt als abgeschlossene
Körper bezeichnend verstanden, sondern als fortlaufende Dif-
ferenzierung quer zu Körpern. So schlägt auch Sudeep Das-
gupta in diesem Band vor, Identität nicht als von einer
Anderen abgegrenzt, sondern als durchwirkt von Andersheit
zu verstehen – als Affirmation von Differenz in der Identität.
Differenz schafft weniger Identität als Begehren und
Anders-Werden. Differenz wird nicht repräsentiert, die Affir-
mation ihrer Differenzierung sieht sie als Prozess.12 Affirma-
tion ist eine Bejahung der kreativen Kraft der sexuellen Dif-
ferenzierung,13 eine genuine Eigenschaft der Dauer, jedoch
nichts Originäres oder Ursprüngliches.
Differenz als Nicht-Übereinstimmen mit dem Gegebenen
ist mit Affirmation verknüpft: der Affirmation von Veränder-
barkeit. Kritik und Affirmation werden unter der Perspektive
der Differenz daher verbunden und nicht dichotom gedacht,
sodass Veränderung und Affirmation immer Hand in Hand
gehen. Affirmation ist nicht das Übereinstimmen mit den
gegebenen Umständen, vielmehr ist Affirmation eine Technik
der Differenzierung;14 so wie Geschlecht Gegenstand von
11 Vgl. Gilles Deleuze: Nietzsche und die Philosophie. Aus dem Franzö-
sischen von Bernd Schwibs. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2008, S. 14.
12 Diese affirmative Sichtweise auf Geschlecht und Begehren wurde von
Feminist_innen wie Luce Irigaray, aber auch von durch Deleuze inspirierte
Feminist_innen wie Claire Colebrook, Elizabeth Grosz, Rosi Braidotti,
Kathrin Thiele und anderen entwickelt.
13 Vgl. Elizabeth Grosz: „The Force of Sexual Difference“, in dies.: Time
Travels. Feminism, Nature, Power, S. 171-183.
14 Die Differenzierung zu bejahen heißt auch, das Nicht-Eins-Sein
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16 Julia Bee und Nicole Kandioler

Technologien und Technologie selbst sein kann. Nicht nur


Negation kann also das Nicht-Übereinstimmen mit dem
Gegebenen kennzeichnen und ein kritisches Denken initi-
ieren. Affirmation operiert situativ, von innen heraus und
nicht von außen, über den Dingen stehend und damit poten-
tiell objektivierend.15 Es gilt also nicht, per se für Affirmation
zu sein, sondern den Versuch zu wagen, mit ihr zu beginnen,
um aus dem Bestehenden das Neue für eine nichtidentische
Zukunft zu öffnen.

Vom Hier und Jetzt zum Dort und Dann


Zeit ist nie eins mit sich. Die Zeit ist nie nur eine Gegen-
wart als Ansammlung von Momenten, sondern immer auch
schon von der Zukunft (und Vergangenheit) durchwirkt. Die
Wiederholung macht Zukünftigkeit als Ereignis im Jetzt mög-
lich. In einem veränderten Verständnis von Zeit setzt Affirma-
tion an, denn sie intensiviert die Differenzen und versteht sich
als Schaffung offener Zukunft. Diese ist nicht nur nicht linear,
Zeit ist hier im doppelten Sinne im Werden: Sie wird herge-
stellt durch Praktiken, Medien und ästhetische Formen.16
Maßgeblich für ein Denken von Affirmation und Differenz
ist eine Konzeption von Zeit, die sich nicht als lineare, repro-
duktive „straight time“17 versteht. In der Wiederholung liegt

(Irigaray), den Dissens (Rancière) zu bejahen. Vgl. Luce Irigaray: Das


Geschlecht, das nicht eins ist. Berlin: Merve 1979; Jacques Rancière: Das
Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002.
15 Brian Massumi: „On Critique.“ Inflexions 4 Transversal Fields of Ex-
perience (December 2010), S. 337-340. Online einsehbar http://www. infle-
xions.org/n4_Brian-Massumi-on-Critique.pdf.
16 Vgl. zur Herstellung von Zeitlichkeit und der produktiven Dimension
der Dauer in Bezug auf Medienpraktiken im Anschluss an Deleuze, Julia Bee:
Gefüge des Zuschauens. Begehren, Differenz und Macht in Film- und Fern-
sehwahrnehmung. Bielefeld: transcript 2018, S. 315–355.
17 „One of my central assertions has been that queer temporality disrupts
the normative narratives of time that form the base of nearly every definition
of the human in almost all of our modes of understanding, from the profes-
sions of psychoanalysis and medicine, to socioeconomic and demographic
studies on which every sort of state policy is based, to our understanding of
the affective and the aesthetic.“ Jack Halberstam: In a Queer Time and Place.
Transgender Bodies, Subcultural Lives. New York: NYU Press 2005, S. 152.
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Einleitung 17

die Differenz, die nicht nur reproduziert, sondern Fluchtwege


aus dem Hier und Jetzt anlegt. Darin liegt die Erkenntnis, dass
Herrschaftssysteme mit linearer Zeit und homogenen Räu-
men operieren – etwa eine Zeit des Fortschritts im Kolonia-
lismus oder eine Zeit der familialen Reproduktion. Von der
„Frage unserer Zeit“ (Irigaray), über reproduktive (Edelman)
und queere Zeitlichkeiten, sind Begehren, Geschlecht und
Zeit eng ineinander gefaltet und werden seit einiger Zeit ver-
schiedentlich diskutiert.18 Das Denken von Differenz und
Affirmation setzt „Chrononormativität“19 außer Kraft, weil
sie in der Zeit das Potential der Veränderung erkennt. Medien
sind mit diesen „spacetimematterings“20 verknüpft. Als
Apparate stellen sie queere und/oder straighte Zeitlichkeiten
her. Sie remediatisieren Geschlecht in der Wiederholung.21

Die Ringvorlesung „Differenzen und Affirmationen“ an


der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar aus der
dieser Band entstanden ist, war eine Veranstaltungsreihe im
WS 2017/18, die sich als Intervention in eine Zeit verstand,
die sich als vom Antigenderismus geprägt beschreiben lässt –
in der medialen Öffentlichkeit, auf der Straße, aber auch an
der Universität. Sie hat uns einmal mehr auf schmerzhafte
Weise gezeigt, dass Geschichte keine lineare Fortschritts-
18 „Zeit“ wurde in der Queer/Feministischen Theoriebildung zuneh-
mend politisiert.Während José Esteban Muñoz im Gegensatz zu Lee Edelman
Zukunft bejaht, jedoch Gegenwart als Nichtutopisch ablehnt, geht es uns
hier um ein Denken, welches Zukunft in der Gegenwart aufsucht – wie im
Folgenden durch die Situierung der Affirmation deutlich werden soll. Dabei
handelt es sich um eine Verschiebung, denn die Gegenwart selbst wird als
nicht gegeben gesehen.Vgl. José Esteban Muñoz: Cruising Utopia.The Then
and There of Queer Futurity. New York und London: New York UP 2009;
Lee Edelman: No Future. Queer Theory and the Death Drive. Durham und
London: Duke UP: 2004.Vgl. auch den Beitrag von Gerko Egert in diesem
Band.
19 Elizabeth Freeman: Time Binds. Queer Temporalities, Queer Histories.
Durham und London: Duke UP, 2010, S. 22 und bes. Kapitel 1 „Bad Timing,
Junk Inheritance”.
20 Karen Barad: Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and
the Entanglement of Matter and Meaning. Duke UP: Durham und London
2007, S. 182.
21 Vgl. Seier: Remediatisierung.
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18 Julia Bee und Nicole Kandioler

geschichte ist, die zu einer immer weitergehenden Ausbrei-


tung emanzipativen Denkens und der Anerkennung der
gesellschaftlichen, psychischen und kulturellen Gewordenheit
von Geschlechtern führt.
Diese Zeit ist paradox, findet dabei heute doch eine gleich-
zeitige Bewegung statt: eine Aufwertung der ‚Rolle‛ der Frau
durch völkische Bewegungen bis hin zu einem selbsternann-
ten Feminismus bei gleichzeitiger Bekämpfung und Befra-
gung der Gender- und Queer Studies durch rechte Parteien
in verschiedenen europäischen Ländern, Kürzungen öffentli-
cher Zuwendungen etc.. Trans- und homophobe Gewalt
nimmt in Europa, Südamerika und den USA rasant zu und
auch Forschende der Gender Studies stehen zunehmend in
der Schusslinie.22 Ein Verbot der Gender Studies wird immer
mehr zu einem verbindenden Element im impliziten oder
expliziten Parteiprogramm europäischer rechter Parteien.
Wie kann in diesem Klima mit den Begriffen Differenzen
oder Affirmationen operiert werden, die so leicht als Zustim-
mung zu diesen Entwicklungen aufgefasst werden könnten
oder als Entlastung gegenüber dem P.C.-Vorwurf, den sich
der Queer/Feminismus oft gefallen lassen muss: „Kontrolle“
von als frei empfundenen Bereichen homosozialer männlicher
Räume, Sprachpolizei, etc.. Dann doch lieber FUN-Feminis-
mus oder jener Postfeminismus, der Karriere und Emanzipa-
tion gleichsetzt – die konsensorientierte Alternative des zeit-
genössischen Queer/Feminismus.23 Hier scheint sich das Paar
Differenz und Affirmation zu leicht, gleichsam als pink was-
hing anzubiedern und damit einem Entlastungsdiskurs das
Wort zu reden.Während an verschiedenen Punkten Akademiker*

22 Vgl. „Es geht darum Genderforschung mundtot zu machen“, Interview


von Patrica Hecht mit David Paternotte Taz vom 5.7.2018:, S. 11, online
erschienen als : „Soziologe über Gender Studies: Attacken haben eine neue
Qualität“: https://www.taz.de/Soziologe-ueber-Hass-auf-Gender-Studies/
!5515801/ (27.02.2019).
23 Vgl. zum neoliberalen Feminismus: Angela McRobbie: Top Girls. Neo-
liberalismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechteregimes. Wiesba-
den: Springer VS 2010.
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Einleitung 19

innen, Aktivist*innen, Geflüchtete und andere kämpfen, um


den Status quo der Menschen- und Bürgerrechte aufrecht zu
erhalten, die immer weiter gehende Loslösung der Exekutive
von der Legislative (G 20 in Hamburg, nichtrechtliche Abschie-
bungen) einzudämmen und sprachliche Extrementgleisungen
und Verletzungen à la „Asyltourismus“ als das zu markieren,
was sie sind – sprachliche Verletzungen, die existenzielle Folgen
haben und zugleich Grenzverschiebungsarbeit in der öffentli-
chen Entmenschlichung – , wie können wir da überhaupt
„Affirmation“ denken? Geben wir damit unsere dringend
benötigte kritische Haltung auf? Und ist Differenz nicht ver-
schrien als eine Feier der Vielstimmigkeit, die die Grundfesten
des Reinheitsgedankens von Geschlecht und Nation nur
genussfähig macht, tarnt und an ihrer Vermarktung teilnimmt?
Wir folgen dagegen einem Verständnis von Affirmation als
radikal kritischer wissenschaftlicher Praxis, die unabschließbar
Veränderung einfordert und das Anders-Werden bejaht und
Kritik nicht als Affirmation (Adorno), sondern vielmehr Affir-
mation als Methode der Kritik versteht. Das aktive Denken
der Differenzierung, die Differenzierung des Denkens, ist eine
bejahende Intensivierung24 (siehe auch den Text von Gerko
Egert in diesem Band), und der Versuch, aus dem Vorhandenen
etwas Neues zu entfalten. Dies ist durchaus kritisch zu ver-
stehen, hatte Nietzsche doch das aktive Denken nicht als
Kehrseite des Negativen eingefordert, sondern als eigene Kraft
verstanden: „Die von Nietzsche denunzierte ,Mitttelmäßig-
keit‘ des Denkens verweist immer auf die Manie, die Phäno-
mene von reaktiven Kräften aus zu interpretieren und zu
schätzen, wobei jede Weise nationalen Denkens die ihren aus-
wählt.“25

24 Deleuze: Nietzsche, S. 86–88; ders.: „Die Methode der Dramatisie-


rung“, in: ders. Die einsame Insel. Texte und Gespräche 1953-1974. Hrsg.
von David Lapoujade. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Frank-
furt a.M.: Suhrkamp, S. 139-170; Differenz und Wiederholung. Aus dem
Französischen von Joseph Vogl. München: Fink 2007, S. 271–280.
25 Deleuze: Nietzsche, S. 63. Man kann das „nationale[n]“ durchaus als
„nationalistisch[en]“ verstehen.
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20 Julia Bee und Nicole Kandioler

Der Ausgangspunkt lautet, Affirmation als eine emanzipa-


tive kreative Kraft zu verstehen, und nicht als sekundäre
Zustimmung zum bereits Gegebenen. Eine kreative Kraft ist
auch ihre Schwester, die Differenz, wie sie hier im Titel
erscheint: Differenz ist, Deleuze zufolge, nicht etwas, was Enti-
täten scheidet, was Unterschiede von etwas zu etwas markiert:
Differenz ist selbst ein Prozess, sie zu durchlaufen, bedeutet Ja
sagen zum Wandel der Welt. Und das macht Affirmation
gerade heute so nötig: eine Kraft der Differenzierung zu beja-
hen, die Begehren und Geschlechter im Werden denkt und
erkennt, dass das Ressentiment gegen das Denken mit und
durch Geschlecht, wie es Gender Media Studies praktizieren,
immer zugleich biopolitische, rassistische und antifeministi-
sche Impulse mit Medientechniken verbindet, die die (soziale)
Existenz durchwirken. Das Andere und Unbekannte zu beja-
hen und Medien als Infrastrukturen dieses Werdens zu denken,
macht Gender Studies momentan zu einem der Hauptan-
griffsziele neurechter Bewegungen. Es gilt, weder das vielge-
staltige und kreative Denken von Geschlecht, noch jenes der
Medialität dem Ressentiment zu überlassen.

Kritik diesseits der Affirmation


Gender Studies prägen heute verstärkt ein neues Verständ-
nis von Methoden, wie es in den Medienwissenschaften und
darüber hinaus intensiv debattiert wird. Darin spielt die
Aktualität von Kritik eine entscheidende Rolle. Situiertes
Wissen und distanzierte Neutralität bilden dabei immer
wieder Pole der Debatte zwischen Kritik und Affirmation.26
Nicht aber kritisches Denken soll hier infrage gestellt werden,
sondern ein Modus, der dazu dient, sich die Welt vom Hals
zu halten, der als Spielart des zeitgenössischen akademischen
Habitus problematisch wird, weil er nur reproduziert und

26 Andrea Seier: „Plädoyer für notwendige Illusionen. Kritik neu erfin-


den“, in: Jens Schröter und Till A. Heilman (Hrsg.): Navigationen. Medien-
wissenschaft und Kapitalismuskritik, 16, 2 (2016), S. 125–143.
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Einleitung 21

seine eigene Position repräsentiert: reaktive Kritik mit


Nietzsches Begriff.27
Fred Moten und Stefano Harney deuten zeitgenössische
Kritikformate als integralen Teil der Persönlichkeit der Aka-
demiker*in, die/den die neoliberale (nordamerikanische)
Universität produziert: die „academy of misery“28. Kritik ist
ein Produkt geworden, welches Universitäten auf dem Weg
zur professionellen Persona verkaufen, ihr ist die affirmative
Kraft genommen worden, so schreibt z.B. auch Erin Manning:
„For negative critique can only be for or against. For-against
is the gesture of the either-or.The stakes are clear.This makes
negative critique deeply complicit with the way things are. It
is in this sense that negation remains, always, in the it is, even
when its stance may be heard as the it is not.“29 Denn Kritik
kann nicht nur affirmativ wirken, wovor Adorno warnte –
vielmehr ist Affirmation heute häufig kritischer als (negative)
Kritik.

Prekäre Ontologien
Es mag überraschen, aber Affirmation geht mit einer Posi-
tion der Anerkennung grundlegender Prekarität einher, wie
sie in der sozialen Ontologie Judith Butlers konzeptualisiert
wurde, die scheinbar, da auf dem hegelschen Prinzip der
Anerkennung beruhend, häufig als Gegenposition eines Femi-
nismus in der Folge von Deleuze/Guattari genannt wird.30

27 In diesem Konflikt scheint sich die Dialektik der Aufklärung – Nähe


und Distanz, Affekt und Ratio – zu wiederholen. Jedoch wäre es zu einfach,
diese Pole gegeneinander auszuspielen, als hätte es keinen Poststrukturalismus
gegebenen – und keine Gender Studies, die diese wirkmächtigen Dichoto-
mien dekonstruiert haben und dekonstruieren. Nicht zufällig gilt es als kind-
lich und weiblich, affirmativ zu sein, als erwachsen und männlich, sich von
den Dingen zu distanzieren.
28 Stefano Harney und Fred Moten: Undercommons. Fugitive Planning
and Black Study. Wivenhoe, New York und Port Watson: Minor Compositi-
ons 2013, S. 118.
29 Erin Manning: The Minor Gesture. Duke UP: Durham und London
2016, S. 203.
30 Vgl. u.a. Judith Butler: Krieg und Affekt. Hrsg. und aus dem Amerika-
nischen übersetzt von Judith Mohrmann, Juliane Rebentisch und Eva von
GM differenzen juli_divid 31.07.2020 00:48 Seite 22

22 Julia Bee und Nicole Kandioler

Die Gewordenheit und die damit einhergehende, poten-


tielle Verletzung eines souveränen Subjekts destabilisiert nicht
nur Machtsysteme, sondern löst auch Affekte des Ressenti-
ments aus. Nicht zuletzt spiegeln diese die Angst, markiert,
gesehen, endlich zu sein, einen Platz in der sozialen Welt zu
haben – eben nicht weiß, heterosexuell, männlich und damit
scheinbar ungesehenes Maß der Dinge zu sein. Sich umge-
kehrt mit seiner eigenen Unterdrückung und Verletzung aus-
einanderzusetzen, kann ebenso in Angst versetzen. Potentiell
äußert sich so auch die Kontingenz der sozialen Welt, in der
Dinge im Werden und Körper volatil und sterblich sind. Dies
macht eine gemeinsame Reflektion oft so schwierig, da diese
häufig als Anrufung und implizit als Verbesserung eines per-
sönlichen Versagens verstanden wird. Die Erinnerung an die
Gewordenheit und die Verortung in der Sozialität des Seins,
erinnert an die Kontingenz menschlichen Daseins und kann
souveräne Positionen sowie solche der Verleugnung eigener
Verletzungen unterminieren.
Es gilt, Verletzbarkeit nicht abzustreifen, sondern eingedenk
ihrer affirmativ zu handeln. Nur so lassen sich Geschlecht und
Begehren auch als in Teilen unbekannt denken, was einer
rechten Aneignung feministischer Diskurse, die Zweige-
schlechtlichkeit zu einem ihrer Grundpfeiler erklärt, entge-
gengehalten werden kann. Geschlecht ist eben nicht das
Bekannte, es insistiert und lässt sich weder wegreflektieren
noch ein für alle Mal auflösen.31 Es bezeichnet mehr als
Männlichkeit und Weiblichkeit, mehr als das bereits bekannte

Redecker. Zürich und Berlin: Diaphanes 2009; Die Macht der Geschlech-
ternormen. Aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann und Martin
Stempfhuber. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009; „Außer sich: Über die Gren-
zen sexueller Autonomie“, in: dies.: Die Macht der Geschlechternormen.
Aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann und Martin Stempfhuber.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 35–69.
31 Vgl. Luce Irigaray: Ethik der Sexuellen Differenz. Aus dem Französi-
schen von Xenia Rajesky. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991; Judith Butler:
„Das Ende der Geschlechterdifferenz?“, in: dies.: Die Macht der Geschlech-
ternormen. Aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann und Martin
Stempfhuber. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 281-324.
GM differenzen juli_divid 31.07.2020 00:48 Seite 23

Einleitung 23

Begehren. Diese Frage kann Ausgangspunkt eines Denkens


der Affirmation sein, das Geschlecht nicht auflösen oder über-
winden, sondern vervielfältigen will, bzw. es als Vehikel der
Zukünftigkeit versteht.32
Deleuze’ Nietzsche Interpretation zufolge erzeugt die Beja-
hung Differenz. „Derart verdoppelt sich die Bejahung: als
Objekt der zweiten Bejahung ist sie selbst bejahte Bejahung,
doppelte Bejahung, die zu ihrer höchsten Macht aufgestie-
gene Differenz.“33 Sie stimmt nur mit dem eigenen Anders-
Werden überein. Sie akzeptiert das Leben in der Wiederho-
lung, erkennt sich als Technik der Existenz an und bejaht
Kontingenz und Ursprungslosigkeit. Die „doppelte Beja-
hung“ macht das Sein zum Werden: Die Bejahung der
Wiederholung bedeutet die Bejahung der Verwiesenheit auf
die Wiederholung, wie – in einer ganz anderen Denkarchi-
tektur – Judith Butler aus der Performativität eine ontologi-
sche Prekarität herleitet.34 Aber daraus folgt eben auch nicht
nur die Veränderbarkeit der Körper und Geschlechterverhält-
nisse, sondern auch eine Handlungsmacht in der Volatilität des
Seins: keine Affirmation des Seins, des souveränen Ich und
der souveränistischen Lust an der Manipulation,35 sondern
Bejahen von Relationalität. Darin läge, Butler und Athena
Athanassiou zufolge, die „Macht der Enteigneten“36: Die
Anerkennung der Verwiesenheit auf andere, auf einen unper-
32 Claire Colebrook: „Is Sexual Difference a Problem?“, in: Claire Cole-
brook (Hrsg.): Deleuze and Feminist Theory. Edinburgh: Edinburgh UP
2000, S. 110–127; Muñoz: Cruising Utopia, S. 1.
33 Deleuze: Nietzsche, S. 204.
34 Vgl. Judith Butler: From Performativity to Precarity: https://vimeo.com/
11521534, (14.8.18).
35 Aus der Anerkennung der Notwendigkeit einer bejahenden, verwirk-
lichenden Kraft nach Nietzsche wurde in der Vergangenheit auch häufig die
bekannte Kritik an diesem abgeleitet, eine Haltung zu goutieren oder vorbe-
reitet zu haben, sich als Souverän in reiner Selbstaffirmation als überlegen zu
stilisieren. Dies lässt sich bis in aktuelle Debatten um Fake News in verschie-
denen Kontexten fortführen. Diesem proto-faschistoiden Denken, welches
sich für einige Kritiker_innen über das Denken von Nietzsche herleiten lässt,
soll hier in jeglicher Hinsicht entgegengedacht und -geschrieben werden.
36 Athena Athanassiou und Judith Butler: Die Macht der Enteigneten. Aus
dem Englischen von Thomas Atzert. Zürich und Berlin 2014.
GM differenzen juli_divid 31.07.2020 00:48 Seite 24

24 Julia Bee und Nicole Kandioler

sönlichen Teil unserer Existenz, der uns vorausgeht, lässt Sorge


füreinander entstehen oder genauer: eine Existenzform der
Sorge und ein vektorielles Werden in der Gerichtetheit auf
andere. Die Öffnung des Körpers nach außen ist kein Mangel,
gedacht vom abgeschlossenen Körper her, sondern erzeugt
eine eigene Form der Existenz.
In dieser simultanen Lektüre der Ausgesetztheit und der
Affirmation der sexuellen und Genderdifferenzierung liegt
eine wesentliche Differenz zu Braidottis Interpretation des
Überkommens negativer Gefühle in ihrer Politik der Affir-
mation, die auch die Beiträge in diesem Band im Spannungs-
feld von Verletzbarkeit und Prekarität prägt:

“the qualitative leap through pain, across the mournful landscapes


of nostalgic yearning, is the gesture of active creation of affirmative
ways of belonging. It is a fundamental reconfiguration of our way of
being in the world, which acknowledges the pain of loss but moves
further. This is the defining moment for the process of becoming­
ethical: the move across and beyond pain, loss, and negative passi­
ons. Taking suffering into account is the starting point; the real aim
of the process, however, is the quest for ways of overcoming the
stultifying effects of passivity, brought about by pain.” 37

Die Anerkennung der Prekarität, die hier gemeint ist, setzt


die Anerkennung der Uneinholbarkeit der Vorgängigkeit der
Welt voraus und erreicht sie nicht erst, wenn Trauer und Leid
überwunden werden, wie es in Braidottis Zitat erscheint. Es
gibt auch eine Affirmation in der Trauer und im geteilten
Leid, können die daraus resultierenden Proteste doch, und das
zeigen die Beispiele Butlers seit den frühen 90er Jahren – die
ins, kiss ins,38 die aktuellen Proteste gegen Austeritätspolitik
37 Rosi Braidotti: „Affirmation versus Vulnerability: On Contemporary
Ethical Debates“, in: Symposium: Canadian Journal of Continental Philoso-
phy, vol. 10, no. 1, Spring / Printemps 2006, S. 235–254, hier, S. 8.
38 Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des
Geschlechts. Aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann. Frankfurt
a.M.: Suhrkamp 1995.
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Einleitung 25

in Griechenland –, eine Sozialität in der Performativität und


im Anerkennen der Gewordenheit und des Werdens erzeugen,
die Ja sagen zur Verbundenheit mit einer Anderen, die ich
womöglich noch gar nicht kenne – die mir unähnlich ist, die
different zu mir ist. Darin liegt die Anerkennung des prekären
Zustands und damit nimmt ein Denken der Verflochtenheit
von Welt und Körpern seinen Ausgang.
Es ist Braidotti jedoch darin zuzustimmen, dass in der Affir-
mation39 eine Politik liegt und das Unpolitisch-Sein eben
nicht die Chiffre der Affirmation ist. Jener Affirmation, die
immer schon zustimmt, einfach, weil die Dinge sind (wie
etwa Pierre Bourdieu so luzide die praktische Übereinstim-
mung in der Hexis beschrieben hat, in der Körper und Welt
einander Spiegel bilden und so die Natürlichkeit der „männ-
lichen Herrschaft“ und jene der sozialen Welt sichern).40
Indem die Dinge sind, beharren sie qua Existenz bereits auf
ihrer Richtigkeit: In ihrem insistierenden Realismus verhin-
dern sie Alternativen. Zwei Beispiele: Weil Autos sich den
Raum der Radfahrer*innen und Fußgänger*innen aneignen,
einfach, weil sie in der Mehrzahl sind, weil die Produkte in
den Supermarktregalen stehen und man denken könnte, sie
seien nahrhaft, einfach, weil sie da sind. Jenes zutiefst reaktive
Spiegel-Dasein, das vermittelt, dass die Welt im Recht ist, weil
sie ist, weigert sich, die Bejahung anzuerkennen. Sie erkennt
das Potential des Anders-Werdens, welches uns immer schon
vorausgeht, nicht an.
Differentielle Affirmation beginnt im Hier und Jetzt und
intensiviert Potentiale, die zu einem „Then and There“41
führen. Dazu ist es notwendig, zur Volatilität des Begehrens
Ja zu sagen und auch unbekannte Kräfte zu bejahen, wie
Deleuze/Guattari schreiben. Die Produktivität des Begehrens

39 Vgl. Rosi Braidotti: Politik der Affirmation. Aus dem Englischen von
Elisa Barth. Merve: Berlin 2018.
40 Vgl. z.B. Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft. Aus dem Fran-
zösischen von Jürgen Bolder. Suhrkamp: Frankfurt 2005, S. 43ff.
41 Muñoz: Cruising Utopia.
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26 Julia Bee und Nicole Kandioler

– „tausend kleine Geschlechter“42 statt die „anthropomorphe


Repräsentation“43 – ist grundlegend für dieses Denken: dass
Begehren also nicht nur entsteht, sondern produziert (wird).
So müsste es darum gehen, nicht nur vergeschlechtlichte, son-
dern Gefüge des Begehrens als Technik der Existenzweise zu
erfinden. Statt der Affirmation des neoliberalen selbstverant-
wortlichen Subjekts werden Existenzweisen affirmiert, in
unserem Kontext: co-konstitutive Weisen des Werdens mit
Medien als Infrastrukturen des Begehrens.44
Affirmation ist nicht gegeben, von keiner Differenz aus
beschreibbar: Sie beschreibt nichts außer der Veränderbarkeit
selbst. Sie macht das Sein zu einer Sache der Praxis. Ihre Kraft
ist Bestand im Anders-Werden: Indem die Pflanze wächst,
erhält sie sich – sie bleibt anders. Dies ist praktische Bejahung,
wie Deleuze schreibt: „Die Differenz ist der Gegenstand einer
praktischen Bejahung, die vom Wesen nicht zu trennen und
der Existenz konstitutiv ist.“45
Weil die Welt in jedem Moment die Möglichkeit hat, neu
zu werden, ist die Unterbrechung, die Differenz,Teil der Affir-
mation. Nicht kontinuierlich, diskontinuierlich wird die Welt,
und auch das Werden wird, wie es bei Alfred North White-
head in seinem Kommentar zu Henri Bergson heißt. Hier
heißt das Werden Ja sagen zur Existenz, in der sich eine Dif-
ferenzierung artikuliert. Bei Gilles Deleuze heißt es: „Der

42 Vgl. zu den „tausend kleine[n] Geschlechter[n]“ Gilles Deleuze und Félix Guat-
tari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II.Aus dem Französischen von
Gabriele Ricke und RonaldVoullié. Berlin: Merve 1992, S. 291 sowie Elisabeth Grosz:
„A Thousand Tiny Sexes. Feminism and Rhizomatics“, in: Constantin Boundas und
Dorothea Olkowski (Hrsg.): Deleuze and the Theatre of Philosophy. New York und
London: Routledge 1994, S. 187-210, hier, S. 196.
43 „So sind die Wunschmaschinen, ist das unmenschliche Geschlecht also
nicht ein, nicht zwei, sondern n... Geschlechter in einem Subjekt, jenseits der
anthropomorphen Repräsentation, die die Gesellschaft ihm aufzwingt“. Gilles
Deleuze und Félix Guattari: Anti-Ödipus, Kapitalismus und Schizophrenie I.Aus
dem Französischen von Bernd Schwibs. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 381.
44 Wie bereits Teresa de Lauretis in Technologies of Gender dachte, ist
nicht nur Geschlecht Inhalt der Medien, sondern auch Technologie dieser;
vgl. Seier: Remediatisierung, S. 25–32, Teresa de Lauretis: Technologies of
Gender. Essays on Theory, Film, and Fiction. Indiana UP Bloomington 1987.
45 Deleuze: Nietzsche, S. 14.
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Einleitung 27

Wille zur Macht als differentielles Element ist es, der die Dif-
ferenz in der Bejahung erzeugt und entfaltet, der die Differenz
in der Bejahung der Bejahung reflektiert, der sie in die selbst
bejahte Bejahung zurückkehren lässt.“46

Affekt und Kritik


Häufig wurden in den letzten Jahren Affekt und Geschlecht
als verbunden gelesen. Nicht mehr nur Sprache, auch Phäno-
mene jenseits der Sprache haben angesichts der komplexen
atmosphärischen und körperlichen Machttechniken gerade in
der Medienwissenschaft eine Aufwertung erfahren. Affekt, das
hat sich herumgesprochen, ist, anders, als zunächst häufig ein-
geklagt wurde, nicht unpolitisch. Ähnlich wie Negativität, hat
auch Rationalität nicht ein alleiniges Anrecht auf kritisches
Leben.Affekte haben in den letzten Jahren zu einer Debatte um
die Bedingungen kritischen Denkens beigetragen, dem Milieu
des Denkens. Dies bezieht Medien zentral mit ein.Affekte kön-
nen Machtverhältnisse verstärken, etwa durch ihr Emotion-Wer-
den in Form von Scham oder Angst, sie können aber auch eine
Veränderung herbeiführen, indem sie die affektiven Bedingun-
gen für Kritik bereitstellen.Trauer wird etwa politisch reguliert,
weil sie markiert, wer betrauerbar ist und damit Menschliches
von als nichtmenschlich Markiertem unterscheidet.47
Nicht nur Emotionen, auch Affekte sind also politisch:48
Was wir bejahen, sind Tendenzen und Intensitäten, die erst zu
Differenzen werden. Dies sind Affekte, noch keine Emotio-
nen. Differenzen sind daher mit Affekten verflochten.
Affekte können öffentlich und damit politisiert (Ann
Cvetkovichs „politische Gefühle“)49, angeeignet (Didier

46 Deleuze: Nietzsche, S. 204.


47 Judith Butler: Raster des Krieges,Warum wir nicht jedes Leid beklagen.
Aus dem Englischen von Reiner Ansén Berlin: Campus 2010.
48 Brian Massumi: The Politics of Affect. Cambridge: Polity Press: 2015.
49 Ann Cvetkovich: „Depression ist etwas Alltägliches: Öffentliche Gefühle
und Saidiya Hartmanns Lose your Mother“, in: Angelika Baier, Christa Bins-
wanger, Jana Häberlein,Yv Eveline Nay, Andrea Zimmermann (Hrsg.): Affekt
und Geschlecht. Eine einführende Anthologie.Wien: Zaglossus 2014, S. 57–85.
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28 Julia Bee und Nicole Kandioler

Eribons Schreibtechniken) und auch intensiviert werden, und


damit als ontogenetische Macht („Ontomacht“)50 wirken, die
Affekte zu einer materialisierenden Praxis machen. Affekt-
politik ist nicht nur in Bildern und Übertragungstechnologien
virulent, sie spielt auch für die Bewegungen, z.B. der Migra-
tion (siehe den Beitrag zur Affektik von Brigitta Kuster in
diesem Band) eine Rolle, oder aber in den Politiken der
Formen (Marc Siegel in diesem Band) und der Medien (Sarah
Horn in diesem Band). Affekte können also kritisch sein, und
zwar nicht nur in ihrer reflektierten Form. Sie setzen Bewe-
gung frei, sie zeigen Zustände des Nicht-Übereinstimmens
an – sie bilden die Voraussetzung für ein körperliches Denken
und Experimentieren (Ulrike Bergermann in diesem Band).
Affektpolitik zu denken, bedeutet auch, die äußere Ausge-
setztheit des Körpers zu akzeptieren, der sich nicht von, son-
dern vielmehr durch seine affektive Bedingtheit emanzipieren
kann.

Affirmation als Situierung


Geoffroy de Lagasnerie hat jüngst in seinem Buch Denken
in einer schlechten Welt (2018) argumentiert, dass jede For-
schung politisch sei, selbst noch die, die bloß repräsentieren
wolle.51 Auch, wenn sich Forschung aktiv entscheidet, unpo-
litisch zu sein, sei dies eine politische Entscheidung. Die
gleichsam aus dem Produkt der wissenschaftlichen Ergebnisse
verdrängte Arbeit der vermeintlichen Neutralität wird damit
in einer Weise repolitisiert, wie eine feministische Wissen-
schaftskritik es schon seit Dekaden einfordert zu denken: als
situierte Praxis.52 Wenn Lagasnerie schreibt, dass wir für eine
50 Brian Massumi: Ontomacht. Kunst, Affekt und das Ereignis des Politi-
schen. Aus dem Amerikanischen von Claudia Weigel. Berlin: Merve 2010.
51 Geoffroy de Lagasnerie: Denken in einer schlechten Welt. Aus dem
Französischen von Felix Kurz. Berlin: Matthes und Seitz 2018.
52 Donna Haraway: „Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Femi-
nismus und das Privileg einer partialen Perspektive“, aus dem Amerikanischen
von Helga Kelle, in: Elvira Scheich (Hrsg.): Vermittelte Weiblichkeit.
Feministische Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie. Hamburg: Hamburger
Edition 1996, S. 217–248.
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Einleitung 29

politische Wissenschaft Systeme des Denkens brauchen und


nicht nur Empirie, dann ist ihm jedoch nur halb zuzustimmen
– brauchen wir doch neben dem systematischen Nachweis
struktureller Unterdrückung, Benachteiligung und Gewalt
auch Lebenswirklichkeiten, die nicht einfach aus sich heraus
abbildbar sind, sondern eine feministische, empirische Praxis
der Annäherung an eine gelebte Realität fordern: Mikro-
praktiken, die subversiv und abweichend sein und Neues in
die Welt eintragen können. Dabei entsteht immer ein lokales
und perspektivisches Wissen, welches sich als relational be-
zeichnen lässt, also seine Situierung in die Forschung einträgt
und diese aus der Notwendigkeit einer politisierten Wissen-
schaft entfaltet. Dieses Wissen zu affirmieren, heißt, das Situ-
ierte des Wissens nicht nur in Kauf zu nehmen, sondern aktiv
aufzusuchen: wiederum nicht reaktiv auf unliebsame Einmi-
schungen aus der sozialen Welt zu reagieren, sondern diese als
Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit
Welt zu betrachten, in die Ich, ein Ich im Anders-Werden,
aktiv verwoben ist. Affirmation bezeichnet etwa auch Schreib-
weisen als Techniken des Anders-Werdens, die gleichzeitig ein-
gedenk der sozialen Situierung und affirmativ gegenüber
ihrem eigenen Anders-Werden sind: Affirmation eröffnet eine
Sicht auf die Existenzweisen als Techniken des Werdens; Gen-
der Media Studies werden hier ein Feld des Experiments, wie
es Didier Eribon im Anschluss an Michel Foucault praktiziert:
Rückkehr nach Reims (2016) ist nicht nur eine biographische
Erläuterung des Machtsystems Bildung und der Machtspiele
der sozialen Welt in Frankreich, sondern eine „Methode“53.
Hier wird das Schreiben zu einer Existenzweise, zu einem
Werden. Durch die Bejahung der sozialen Gebundenheit, nicht
aber der Reproduktion der Machtverhältnisse – und Bejahung
ist hier alles andere als fern von Schmerz, Scham, Demütigung
und Leid zu verstehen – wird das Reaktive zum Aktiven:

53 Didier Eribon: Grundlagen eines kritischen Denkens. Aus dem Fran-


zösischen von Oliver Precht. Wien: Turia und Kant 2018, S. 93.
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30 Julia Bee und Nicole Kandioler

„Die Scham und die Schmach waren lediglich die Stütze und der
Ausgangspunkt für eine Neubestimmung des Selbst, für eine Ästhe­
tik des Selbst. […] Die Scham und die Schmach werden zu Werkzeu­
gen für die transformativen Praktiken. Es sind Wege, die irgendwo­
hin führen, auch wenn man nicht genau weiß, wohin.“54

Nicht entgegen, sondern durch die Situierung von Begeh-


ren und Geschlecht, durch die eigene Biographie hindurch
wird hier eine Forschung am Selbst hervorgebracht. Denken
findet bei Eribon durch komplexe soziale Szenen hindurch
statt, die das eigene Ich involvieren, statt sich davon zu dis-
tanzieren – denken mit statt nachdenken über.
Dies bedeutet, die prekäre, vorläufige Position des Ichs zu
bejahen – nicht auf der Repräsentation der Position zu behar-
ren, und dennoch die Situierung als Ausgangspunkt eines
Werdens zu sehen. Deleuze und Guattari haben dies als Spiel
von Re- und Deterritorialisierung beschrieben: Jedes Begeh-
ren, welches eine kleine Maschine des Neuen sein kann, ist
immanent behaftet mit Mikrofaschismen, die es in eine reak-
tive Macht umkehren können.55 Es gilt also nicht, Schöpfung
und Zerstörung oder positive und negative Gefühle gegenei-
nander auszuspielen – ja, nicht einmal Kritik und Affirmation.
So wie Michel Foucault das produktive Moment zeitgenös-
sischer Machtformen erkannte, gilt es Werden und Vergehen
als simultane Prozesse zu denken. Nur aber, wenn man das
Anders-Werden bejaht, kann eine Flucht geschehen. Aller-
dings ist die Flucht nicht als eskapistischer Akt zu verstehen,
sondern als Flucht nach vorne, Flucht aus den Verhältnissen,
bzw. durch die Verhältnisse hindurch. Dies streitet die eman-
zipatorische Kraft des Denkens nicht ab, sondern ergänzt es
um eine kritisch-affirmative Politik der Affekte. Eine Politik,
die Denken und Fühlen und damit Körper und Geist nicht

54 Eribon: Grundlagen eines kritischen Denkens, S. 245.


55 „Denn der Wunsch wünscht/begehrt auch ihn, den Tod [...].“, er ist
auch Produktion von „[...] Ängsten und Schmerzen [...]“. Deleuze/Guattari:
Anti-Ödipus, S. 10 und 14.
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Einleitung 31

dichotom denkt/fühlt. Man kann kritisch und affirmativ füh-


len, so wie man kritisch und affirmativ denken kann. Didier
Eribon formuliert es so:

„Ja, ein Gefühl! Denn wenn das kritische Denken sich nicht auslö­
schen lässt, so liegt das daran, dass es nicht darauf beschränkt ist,
Analysen zu produzieren und dadurch die objektive Realität offen­
zulegen. Es vermittelt auch die Affekte, die uns in die Lage verset­
zen, die Kraft der in diesen Analysen enthaltenen Wahrheit unmit­
telbar zu begreifen und uns –im Namen dieser Affekte, die unser
Verstehen und Begreifen ermöglichen – dem Versuch zu widerset­
zen, all jene Konzepte der sozialen Welt auszulöschen, die von Klas­
sen, Herrschaft und Gewalt handeln“.56

Zu den Beiträgen
Das differenzierende Gefüge der Affirmation, wie wir sie
in unserer Vortragsreihe gedacht haben, geht über das Modell
der Intersektionalität hinaus. In der Verfugung von Körpern
und Medien werden auch neue Differenzen produziert. Und
dies zu affirmieren, bringt Neues hervor – nicht, weil das
Neue automatisch gut ist, sondern weil es Flucht aus dem
Bestehenden sein kann und damit potentiell die Möglichkeit
des Anders-Werdens impliziert.
Gender Media Studies sind unmittelbar mit dieser Denk-
weise verbunden, da sie das Gefüge aus Geschlecht und
Medium konzeptualisieren und transversale Praktiken studieren,
die Menschen und Medien durchlaufen und hervorbringen.
Die Affirmation einer relationalen Ontologie bedeutet,
auch Infrastrukturen der Sorge zu denken. Hier sind wie-
derum Fragen der Gender Media Studies relevant, die die
Verwiesenheit auf Über/Lebensbedingungen durch Apparate
denken.57 Und sie denken diese als Praxis und Prozess, der
Kontinuitäten zwischen sozialen Praktiken und materiellen
56 Eribon: Grundlagen eines kritischen Denkens, S. 140.
57 Judith Butler: Notes Toward a Performative Theory of Assembly.
Cambridge: Harvard UP 2015.
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32 Julia Bee und Nicole Kandioler

Infrastrukturen erkennt. Eine soziale Praxis bringt Infrastruk-


tur hervor und umgekehrt ermöglicht Infrastruktur soziales
Leben. Gender Media Studies zeigen die existenzielle Dimen-
sion von Medialität, die Gefügecharakter von Subjekt und
Medien als psychosoziale und kulturelle Techniken,58 die sich
je situativ artikulieren. So zeigt Sarah Horn in diesem Band
anhand von Trans*Vlogs auf YouTube, wie die Dokumenta-
tion der Hormoneinnahme zu einer affektiven und medialen
Praxis wird, die eine andere Zeitlichkeit eröffnet, die das Wer-
den als offenen Prozess voller Ereignisse denkt, anstatt
Geschlecht als Position zu reproduzieren: „Das ermächtigende
Potenzial von trans* Vlogs besteht folglich nicht in der Doku-
mentation einer individuellen Souveränität über den eigenen
Körper sowie über die Medien und Techniken der Transition,
sondern in einer kollektiven Affirmation der Unsicherheit
und Offenheit dieses Werdens,“ heißt es bei Horn (S. 61).
Ulrike Bergermann betrachtet ebenfalls unter Rückgriff
auf Paul Preciados Testo Junkie hormonelle Experimente und
fokussiert dabei auf den Experimentalcharakter körperlicher
Transformationen, der dadurch politisiert hat, indem sie_er
„T“ „gehackt hat“. Im Dialog mit Alan Turings gleichnami-
gen „Turing Test“, der die Frage stellte, ob Maschinen denken
können, wird diese Frage allerdings zu jener verschoben, ob
Geschlechtsunterschiede erkannt werden können: „Eine
Maschine kann denken, wenn ein Mensch denkt, dass es ein
anderer Mensch sei, der die Antworten gibt; eine Transgender-
person ist im Geschlecht angekommen, wenn sie oder er die
gewünschte Toilette aufsuchen kann, ohne daran gehindert
zu werden. (...) In den ,Imitationsspielen‘ geht es um das Per-
formen, bei Turing um den schriftlichen Output der
Maschine, der in der Art seiner Kommunikation menschlich
wirken kann oder nicht, und auch die Geschlechterperfor-
manz ist ja bekanntlich immer eine Kopie ohne Original.
Können Computer den Imitationstest bestehen und als

58 Vgl. Jennifer Eickelmann: Hate Speech, S. 23.


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Einleitung 33

Mensch durchgehen, kann eine Transperson den Test bestehen


und passen? Noch besser als passen wäre es, eine Welt zu schaf-
fen, in der die Frage keine Rolle mehr spielt – inklusive der
Desorientierung“ (S. 84).
Affirmation schafft eine offene Zukunft, indem sie von der
Gebundenheit des Hier und Jetzt aus denkt. Für Isabell
Lorey steht dieses Denken einer finanzialisierbaren, kalku-
lierbaren Zukunft entgegen. Sie fordert ein Prekär-Werden
mit anderen zusammen, das sich gegen ein kapitalistisches und
eurozentrisches Zeitverständnis wendet und das Paradigma
des Sozialen queer-feministisch liest. Lorey schreibt: „Das
erfordert ein Aufgeben von Zukunftsfantasien im Dienste
eurozentrischer kapitalistischer Zeitverständnisse, ein anderes
Verständnis von Gegenwart, eine queer-feministische Les-
weise des Paradigmas des Sozialen [...] Prekär-Werden mit
anderen zusammen. Eine gemeinsame Fähigkeit, in der
Gegenwart aufzubrechen und etwas Neues zu beginnen [...],
als Affirmation der Verbundenheit und des Prekärseins.“ (S. 106)
Ähnlich argumentiert Brigitta Kuster für eine postsou-
veränistische und postnationale Haltung, der sie im Dialog
von Bild und Text begegnet. Die Grenze, ein Begriff, über
den Kuster in ihrem Text nachdenkt, gilt es ihr zufolge nicht
zu überwinden, sondern zu durchqueren. Nicht Differenzen
abschaffen, indem die Grenzüberwindung als entgrenzend
verstanden wird, sondern das Überschreiten als Tätigkeit
schlägt Kuster vor: „Mir scheint, heute und hier geht es
darum, in der Vorstellungswelt Europas Platz zu machen für
eine Grenzarbeit, die weder im Ent- noch im Ver-Grenzen
liegt, sondern im Sich-darüber-hinwegsetzen, im Überschrei-
ten, nicht einfach im Beseitigen.“ (S. 130)
Marc Siegels Text affirmiert das Begehren (an) der Form.
So setzt er Abstraktion und Begehren zueinander in Bezug
und schreibt formalistische Experimente in die Geschichte
des Queer Cinema ein. Nicht nur der Impuls, queere Sub-
jekte zu repräsentieren, sondern eine grundlegende Queer-
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34 Julia Bee und Nicole Kandioler

ness der Form prägt seinen Gegenstand My Levitating Butt:


„I argue for a concept of queer cinema in which the repre-
sentation of non-normative or defamed desire is dependent
on radical aesthetic and narrative experimentation“. (S. 139)
Peter Rehberg untersucht in seinem Beitrag zu diesem
Band das online-pornographische Magazin Butt, das ihn zu
einem Nachdenken über Männlichkeit inspiriert, welches der
„Rätselhaftigkeit“ des männlichen Körpers affirmativ nach-
spürt und anhand nichtphallischer Männlichkeiten eine post-
konstruktivistische Haltung gegenüber der Materialität von
Körpern vertritt: „Butt Magazine und sein post-psychoana-
lytisches Verständnis sexueller Subjektivität und sexueller
Sozialität dient mir hier als vorrangiges Beispiel, das ein Nach-
denken über Sexualität und Gender jenseits der Paradigmen
der Gender- und Queer Studies der letzten 30 Jahre nötig
und möglich macht.“ (S. 158)
Gerko Egert setzt sich mit dem Zusammenhang von Per-
formance als affirmativer Praxis des „Welten_machens“ aus-
einander: „In der Performance wird die Welt zum Verb.“
(S. 187) Anhand von Eileen Myles’ Gedichten, die Alltag und
Utopie verbinden, zeigt er unter Bezugnahme von Jose Muñoz
Disidentifications und Félix Guattaris Begriff der „existenziel-
len Affirmation“, wie eine Welt anderer Möglichkeiten im
Hier und Jetzt entsteht: „In den schöpferischen Handlungen
der Performance zeigt sich eine Kraft, die für die Entstehung
von Welten und ihren Gefügen der Existenz von zentraler
Bedeutung ist: die Bejahung bzw. die Affirmation.“ (S. 182)
Mireille Rosello bespricht anhand von LES INVITÉS DE
MON PÈRE (MY FATHER’S GUESTS) die zahlreichen interferie-
renden Differenzen der Personen in diesem Film wie Alter,
geographische und soziale Herkunft und Sexualität, die einan-
der einerseits mobilisieren, andererseits auch in einen Impasse
führen: „Class and gender, high culture and low culture, legal
and emotional belonging, the historical past and the present
are all mixed up with sexuality and money. Care, generosity,
GM differenzen juli_divid 31.07.2020 00:48 Seite 35

Einleitung 35

self-interest and cynicism are so inextricably linked that sus-


pending judgment is not enough: it is clear that we are invited
to consider that decisions, in the film, are made on grounds
that remain, till the end, morally and ethnically untenable“.
(S. 222) Diesen Impasse nimmt die Autorin affirmativ im
Sinne von Donna Haraways „staying with the trouble“ auf
und bezieht auch sich selbst darin mit ein: “My attempts to
validate differences will continue to look like mission impos-
sible as long as I do not find an affirmative strategy to confront
the daunting task of thinking through my fear of forgetting
(i.e. excluding) communities or individuals whose vulnerabi-
lity I care about – also because I belong to them.” (S. 206)
Sudeep Dasgupta schlägt vor, Affirmation nicht als Affir-
mation von Identität, noch von absoluter Andersheit zu den-
ken, sondern als Relationalität, die Andersheit im Eigenen
denkt, ohne das Andere als Außen zu affirmieren, ohne aber
auch Differenz also solche zu affirmieren, die wiederum nur
Gleichheit bedeutet, da das Andere ganz verschieden ausge-
hend vom Selbst gedacht wird. Dabei denkt er über die Mög-
lichkeit nach, wie Differenz und Affirmation eine politische
Subjektivität hervorbringen können: „The politics of resis-
tance moves from the affirmation of difference to difference
as the affirmation of relationality“ (S. 242).
Weimar, Sommer 2018

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